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Café Speciale

von

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Hinfallen & Aufstehen

"Balu?!", rief Lukas überrascht. Jetzt hielt ihn nichts mehr auf seinem Platz am Brunnen. Er stand auf und ging Ben und Balu entgegen.

"Hallo", begrüßte Ben Lukas, der ihm gut gelaunt zunickte.

"Ich dachte schon, du kommst nicht."

"Ich hätte sogar noch zehn Minuten Zeit", wies Ben Lukas auf die Uhrzeit hin.

Lukas ging in die Knie und wandte sich dem grauen Hund zu, der neben Ben einhergetapst kam. Begrüßend hielt er seine Hand Balu hin, der sie neugierig beschnupperte.

"Das ist ja wirklich Balu." Lukas strich dem Hund über das struppige Fell.

"Ich ohne Balu? Hast du das mal erlebt?"

"Kann mich nicht daran erinnern." Ungläubig betrachtete sich Lukas den Hund ganz genau. Dass es Balu noch gab... Er war alt, klar, und ein bisschen dicker um die Hüften, aber eindeutig Bens Balu.

"Er hat etwas zugelegt", erklärte Ben und klopfte Balu auf den sichtbar fülliger gewordenen Bauch. "Er sieht auch nicht mehr ganz so gut und ist etwas lahm, aber sonst noch ganz fit", fügte Ben optimistisch hinzu. "Nur zum Laufen muss man ihn öfter drängen. Das ist dann mehr ein Spazierenziehen, als ein Spaziergehen."

"Ja, das konnte ich eben sehen."

Balu hatte unterdessen sein Kinn in Lukas' Hand gelegt und ließ sich dort kraulen. Seine Augenlider schlossen sich immer weiter und sein Kopf sank schwer in Lukas' Hand. Ob er am Einschlafen war, dachte Lukas schmunzelnd.

"Was machst du mit Balu, wenn du im Café arbeitest?"

"Ich nehme ihn mit. Er hat im Hausflur seine Decke liegen und schläft dort, bis ich fertig bin." Ben zuckte mit den Schultern. "Balu verschläft eigentlich zwanzig Stunden am Tag, von daher ist es auch kein Problem ihn mitzunehmen."
 

Balu zuliebe gingen Ben und Lukas nicht wie abgemacht um den See herum. Sie setzten sich auf eine der Bänke, die den Brunnen umrandeten und ließen Balu im Schatten schlafen, während sie, nachdem sie sich erst eine Weile angeschwiegen hatten, eine zögerliche Unterhaltung miteinander begannen.

Lukas war einfach nur glücklich, Ben wiederzusehen. Und das ließ er Ben auch merken, der sich noch nicht leicht damit tat, die Begegnung mit dem Kinderfreund richtig einzuordnen. Lukas am Telefon zu haben, auf der anderen Seite des Hörers, war das eine, ein Treffen von Angesicht zu Angesicht, wiederum etwas anderes. Hier konnte man seine Stimme nicht so fest und selbstsicher klingen lassen, wie man die Worte, die man sprach, gerne gesagt hätte. Die widersprüchliche Mimik verriet unweigerlich alles, was man lieber für sich behalten hätte.

So schwer es Lukas auch fiel, um Bens Willen verzichtete er jedoch darauf, diesen allzu sehr mit Fragen zu dessen momentanem Leben zu bestürmen. Leicht fiel es Lukas nicht, denn in den Jahren, die sie sich nicht gesehen hatten, war sicher einiges vorgefallen, um das sich Lukas in einer Weise betrogen fühlte. Aber Ben sollte von alleine zu erzählen beginnen, wenn er wollte. So lange konnte Lukas jetzt auch noch warten.

In der Zwischenzeit erzählte Lukas seinem wieder gefundenen Freund lieber von vielleicht belanglosen, aber nicht ganz so persönlichen Dingen, die Ben mehr Möglichkeit ließen, etwas zu sagen, ohne sich dazu genötigt zu fühlen.

Stumm dankte Ben Lukas dafür, dass dieser ihm die erste Begegnung und die erste, ernsthafte Auseinandersetzung mit seiner Kindheit überhaupt, mit seinem Humor etwas leichter machte und er selbst nicht so viel reden musste. Ben hatte wegen des Treffens mit seinem früheren besten Freund regelrechte Bauchschmerzen gehabt, so dass er öfter als einmal ernsthaft überlegt hatte, die Verabredung mit Lukas wieder abzusagen. Zum Glück hatte er es nicht getan...
 

Den ganzen Nachmittag verbrachten die Drei im Park. Zu erzählen hatten sie eine Menge, wovon Lukas den Großteil übernahm, obwohl Ben langsam etwas auftaute und sich unbekümmerter am Gespräch beteiligte, aber die Stunden reichten selbst für einen Bruchteil davon bei weitem nicht aus.

"Du scheinst ja noch wie früher zu sein. Bis auf die Pflaster jedenfalls", bemerkte Lukas anerkennend. "Vermute ich einfach mal...", fügte Lukas noch stockend hinzu, als er merkte, was er da gerade gesagt hatte.

Aber Ben lachte. "Ich klettere ja auch nicht mehr so viel auf Bäume, wie damals." Ben schwieg kurz. "Du bist aber auch wie früher", gab er dann zu.

"Stimmt, im Kartenspielen bin ich auch noch immer besser", zog Lukas Ben grinsend auf. "Und im Billard, Dart, und so weiter..."

"Das musst du erst mal beweisen", verlangte Ben prompt.

"Ja, kann ich gerne tun", nahm Lukas die Herausforderung seines Freundes an.

Ben kniff die Augen zusammen. "Und mit was?"

"Egal", tat Lukas großzügig. "Mir geht es nur ums Prinzip."

Ben fing an zu lachen und weckte damit Balu, der zu den beiden jungen Männern kam und verwirrt von einem zum anderen trottete.

Dann erhob sich Ben. Er hakte die Leine an Balus Halsband fest und wandte sich an Lukas, der nun ebenfalls aufgestanden war. "Wir gehen dann jetzt. Aber bilde dir bloß nicht ein, ich würde vergessen, dass du mir noch einen Beweis schuldest", warnte Ben Lukas. "Beim nächsten Mal erinnere ich dich daran."

Lukas nickte. "So lange wir uns wiedersehen, kann ich damit leben."

"Abwarten", bremste Ben Lukas grinsend, dann gingen er und Balu.
 

Nachdenklich sah Lukas Ben und Balu nach, wie sie gemeinsam auf den Ausgang des Parks zustrebten und ihn verließen.

Seit Bens Auszug hatte sich einiges geändert, sinnierte Lukas, so viel Zeit war vergangen, aber Ben war immer noch Ben.

Es schien als hätten sie in der Kindheit einfach nur eine Tür geschlossen und beim nächsten Öffnen waren sie beide zwar erwachsen, aber vom Charakter her noch fast wie früher.

Ob er Ben davon auch hatte überzeugen können?

 
 

Ihr nächstes Treffen fand zu Hause bei Lukas statt.

"Hast du an die Karten gedacht?", fragte Ben, kaum dass er mit Balu Lukas' Wohnung betreten hatte.

"Natürlich", erwiderte Lukas. Er deutete hinter sich ins Wohnzimmer. "Komm rein und setz dich."

Ben sah zu dem niedrigen Tisch, der einsam und verlassen in der Mitte des großen Raumes stand. Außer einem dreibeinigen Hocker gab es im ganzen Zimmer keine weiteren Sitzmöglichkeiten.

Lukas, der den ratlosen Blicken seines Freundes gefolgt war, sah sich gezwungen, die peinliche Situation mit einem Scherz aufzulockern. "Such dir aus, wo du sitzen möchtest."

Ben lachte auf. "Platz ist ja genug." Er ließ Balu von der Leine, der sich sofort daran machte, die unbekannte Wohnung zu erkunden. Sein Ausflug dauerte allerdings nicht lange und Balu machte es sich bald auf dem Teppich unter dem Wohnzimmertisch bequem, wo er die Beine von sich streckte und einschlief.

"Fehlen hier ein paar Möbel oder sollen es so wenige sein?", erkundigte sich Ben verdutzt, während er sich auf den einsamen Hocker setzte.

Lukas stand im Türrahmen und grinste beschämt. "Es waren einmal mehr", antwortete er. 'Viel mehr', fügte er bitter in Gedanken hinzu.

Die meisten Möbel hatte Tino mitgenommen. Die, die ihm gehörten und die Möbel, von denen er bei seinem letzten Besuch hier in der Wohnung spontan beschlossen hatte, dass sie ab sofort ihm gehörten, ärgerte sich Lukas stumm. Wenn er das gewusst hätte, wäre er nicht jedes mal so feige abgehauen als Tino auszog...
 

Ben sah Lukas' zerknirschtes Gesicht. "Die Wohnung ist trotzdem nicht schlecht. Groß und hell."

"Deswegen ziehe ich auch bald aus", seufzte Lukas. "Mir alleine ist sie zu groß."

"Warum bist du dann eingezogen?", rief Ben Lukas nach, der eben das Wohnzimmer Richtung Küche verließ.

Lukas war froh, dass ihm noch Zeit blieb, darauf zu antworten. So einfach war das für Ben. Wenn du nicht nass werden willst, dann bleib vom Wasser weg.

"Ich habe ja nicht alleine hier gewohnt", beantwortete Lukas die Frage, als er wieder zurück ins Wohnzimmer kam. Er brachte ein paar Flaschen und Snacktüten mit und stellte alles auf dem niedrigen Tisch ab. Dann nahm er gegenüber Ben auf dem Boden Platz, öffnete die Flaschen und Tüten und kippte den Inhalt Letzterer in eine Schüssel.

"Mein Ex ist auch für den ganzen Möbelschwund verantwortlich", fuhr Lukas so locker wie möglich fort.

Ben nickte langsam. "Aha", meinte er knapp. "Dann hat sich ja doch mehr geändert als ich dachte."

Lukas hob eine Augenbraue und sah fragend hinüber zu seinem Freund. "Und was?"

Bens Mundwinkel bogen sich zu einem breiten Lächeln. "Ich kann mir irgendwie kaum vorstellen, dass jemand freiwillig mit dir zusammenwohnen wollte."

Lukas, der erst dachte, Ben spiele auf die Tatsache hin an, dass er mit einem Mann zusammengelebt hatte, kratzte sich verlegen am Kopf. "Genau genommen wollte ja auch niemand freiwillig mit mir zusammenwohnen, sonst stünden hier mehr Möbel als jetzt..."

Bens Grinsen war mit einem mal wie aus seinem Gesicht gewischt. "Tut mir leid, so war das nicht gemeint", entschuldigte er sich betreten für seinen achtlos dahingesagten Satz.

"Kein Problem", wiegelte Lukas ab. "Du musst auch nicht so tun, als ob du wirklich Mitleid mit mir hättest", zahlte es Lukas Ben scherzend zurück.

"Wenigstens habe ich mittlerweile so viel Anstand, dass ich dir nicht mehr auf die Nase schlage, wenn du mich ärgerst", konterte Ben.

Lukas pfiff respektvoll. "Darüber bin ich auch echt froh. So mickrig wie früher siehst du nicht mehr aus. Jetzt tut ein Schlag von dir sicher weh."

"Als ob sie das früher nicht getan hätten", schnaubte Ben entrüstet.

"Klar." Lukas lächelte mild. "So weh halt der Schlag einer Mücke tut..."

Sie kabbelten sich noch eine Weile weiter, versuchten den anderen mit großspurigen Übertreibungen zu übertreffen und lachten hinterher darüber.

Da Lukas, während sie aßen oder sich unterhielten immer zu Ben aufsehen musste, stand dieser schließlich von seinem Hocker auf und nahm ebenfalls auf dem Boden Platz.

"Du hast meinetwegen mehr als einmal auf dem Boden gesessen. Jetzt bin ich dran", erklärte Ben sein Tun.

Lukas freute sich still über diese kameradschaftliche Geste. Ben bewies mal wieder Größe; ohne falsches Mitgefühl.
 

Ben blieb, bis Balu gegen Mitternacht aufwachte und zur Haustür trottete.

"Das heißt wohl, dass ich gehen muss." Ben nickte zum wartenden Balu hinüber.

"Soll ich euch nach Hause bringen?", bot Lukas an.

Ben nahm dankend an, da es ihm eine zwanzigminütige S-Bahnfahrt ersparte. Und nachdem Lukas endlich seine Autoschlüssel gefunden hatte, saßen sie bald alle im Wagen.

Auf der Fahrt schwiegen Lukas und Ben. Jeder dachte für sich darüber nach, was der vergangene Abend ab jetzt zu bedeuten hatte.

Der vor sich hinstotternde Motor des Wagens und Balus leises Schnarchen von der Rückbank her waren fast die einzigen Geräusche, die das Schweigen der beiden jungen Männer nicht ganz so peinlich erscheinen ließ.

Belustigt beobachtete Ben Lukas, der öfter einen Blick in den Rückspiegel warf und sich über den schlafenden Balu amüsierte, der alle Viere von sich gestreckt hatte und wie ein Schwein grunzte.
 

Als das Auto vor Bens Wohnung hielt, saßen die jungen Männer noch einige Minuten lang still da.

Schließlich wandte sich Ben zur Rückbank. Er pfiff einmal kurz und rief nach Balu, der lediglich faul ein Auge öffnete und es gleich wieder schloss, um selig weiterzuschlafen.

Lukas und Ben mussten beide lachen. Die zwanzig Stunden Schlaf, die Ben bei ihrem Treffen im Park erwähnte hatte, waren nicht übertrieben.

"Wie es aussieht, darf ich Balu jetzt hochtragen", seufzte Ben. "Der wird frühestens dann richtig wach, wenn er Hunger bekommt." Ben wandte sich zu Lukas um, der schien als wolle er noch etwas sagen, es aber dann doch nicht tat.

"Also bis dann", verabschiedete sich Ben. Die kleine Lampe an der Wagendecke flammte auf, als er die Beifahrertür öffnete und ausstieg.

Die Tür schloss sich und Lukas saß wieder im Dunkeln.

Von Lukas nervös beobachtet, ging Ben zur hinteren Wagentür, um Balu herauszulassen.

Lukas wollte Ben gerne nach einem neuerlichen Treffen fragen, war aber mit einem mal ungewohnt gehemmt. Als wären sie daran festgewachsen, umklammerten seine Finger das Lenkrad. Wenn er nicht bald was sagte, war Ben weg.

Das zweite Mal flackerte die Deckenlampe auf.

Im schummerigen Licht sah Lukas zu, wie sich der wachgewordene Balu von der Rückbank mühte und behäbig auf die Straße stakte. Lukas räusperte sich, aber noch ehe er seine Zunge, die ihm trocken am Gaumen klebte, zum Sprechen bewegen konnte, schloss Ben die Tür und das Licht erlosch erneut.

Lukas wollte den Wagen anlassen, als sich die Beifahrertür noch einmal öffnete.

Ben beugte sich bis auf Lukas' Augenhöhe hinunter. "Wir haben die Karten vergessen."

"Vergessen? Ich wollte nur nicht verlieren", witzelte Lukas unbeholfen.

Ben schmunzelte über Lukas. "Ich ruf dich an", nahm er unbewusst Lukas die Frage nach einem weiteren Treffen ab. "Du kommst um den Beweis nicht herum."

 
 

Doch Ben blieb Lukas den Beweis vorerst schuldig. Sie trafen sich zwar so oft es ging, mussten einander nicht einmal mehr nach einer Uhrzeit fragen, und nach einer Weile schlichen sich erste winzige Gewohnheiten bei ihnen ein. Balu fing damit an. Er reservierte sich in Lukas' Wohnung das sonnigste und bequemste Plätzchen. Lukas kaufte Balu eine Decke für sein in Beschlag genommenes Fleckchen und auch Ben schien regelrecht darauf versessen zu sein, sich mit Lukas zu treffen.

Und dann wiederholte sich das, von dem Lukas sich nach all den Besuchen so sicher war, dass es in Zukunft ausbleiben würde. Ben meldete sich nicht mehr. Er reagierte weder auf Telefonanrufe, noch E-Mails und blieb selbst seiner Arbeit im Café fern.

 

Als Lukas es einmal geschafft hatte, Ben ans Telefon zu bekommen, wimmelte dieser ihn ohne einen Grund zu nennen knapp ab.

Lukas dachte nach. Hatte er trotz aller Vorsicht doch etwas aus der von Ben so gerne gemiedenen Vergangenheit angeschnitten, was Ben hatte vermeiden wollen? Oder war Ben Lukas einfach nur überdrüssig geworden? Wahrscheinlich resultierte das eine aus dem anderen...

Lukas nahm sich vor, Ben zu besuchen. Er setzte sich in seinen Wagen und fuhr los; ohne zu wissen, was ihn an seinem Ziel erwartete. Ben? Eine leere Wohnung, wo Ben gewohnt hatte?

Lukas bog mit seinem Wagen in die Straße ein, in der Ben wohnte.
 

Hundert Meter noch, dann wusste er, wie Bens Benehmen der letzten Zeit zu deuten war.

Fünfzig Meter. Lukas' schwitzende Hände machten es ihm fast unmöglich, das Lenkrad festzuhalten.

Zwanzig Meter. Langsam sollte er mal bremsen, wenn er halten wollte.

Zehn Meter und Lukas' Fuß wich noch immer keinen Millimeter vom Gaspedal.

Dann lag Bens Wohnung hinter ihm. Lukas hatte nicht anhalten können. Er fuhr einfach weiter, bog in die nächste Straße ein und fand sich Minuten später wieder auf dem Weg zu Bens Wohnung.

Eine knappe halbe Stunde verging, in der Lukas noch etwa acht Mal an Bens Haus vorbeifuhr und sich mit jedem mal vornahm, auch wirklich anzuhalten.

Mittlerweile war er schon zum vierten Mal an ein und dem selben Spaziergänger vorbeigekommen, der nach der fünften Runde stehen blieb und Lukas mehr als befremdlich nachsah.

Jetzt hielt er an, beschwor sich Lukas in Gedanken. Jetzt hielt er an, oder er konnte sicher gehen, dass der Spaziergänger von eben die Polizei rief - und spätestens dann musste er den Wagen stoppen...
 

Entschlossen trat Lukas auf die Bremse und schaffte es, das Auto vorschriftsmäßig am Straßenrand zu parken, und das, obwohl seine Hände zitterten und ihm das Lenkrad zu entgleiten drohte.

Lukas stieg aus. Während er auf das Gebäude zuschritt, wanderten seine Blicke die helle Hausfront hinauf, bis hin zu den Jalousienverschlossenen Rechtecken; Bens Wohnungsfenstern.

Wäre es dunkel, könnte er sehen, ob jemand in der Wohnung war, aber es war helllichter Tag und keine einzige eingeschaltete Lampe verriet etwas über eine eventuelle Anwesenheit des Bewohners.
 

Lukas stand vor der Eingangstür des Mietshauses.

Abgeplatzte Farbe. Ein spinnennetzförmiger Riss im Glas. Quietschende Angeln. Der muffige, düstere Flur mit den ausgetretenen Holzstufen.

Lukas schüttelte den Kopf.

Nein, das hier war nicht das Haus, in dem sie vor fast zehn Jahren gewohnt hatten. Dieses Haus hatte eine große Glastür, die genug Licht in den sauberen, nach Putzmittel riechenden Eingangsbereich ließ. Die Flurwände waren frisch gestrichen. Es gab keine Treppe, deren Stufen mit jedem Schritt knarrten. Stattdessen ging Lukas die graue, spiegelnde Marmortreppe nach oben. Jede Stufe hatte in anderes Muster, und keines glich dem vorangegangenen.

Dann stand Lukas vor Bens Wohnungstür. Er wollte klingeln; sein Finger schwebte schon dicht über dem kleinen weißen Klingelknopf. Doch schlagartig war die Ameisenhorde wieder in Lukas Magen und führte dort eine muntere Polka auf.

Gleich wusste er, ob sich die Vergangenheit tatsächlich wiederholt hatte.

Aber er wollte es eigentlich gar nicht wissen.

Lukas setzte sich auf die oberste Treppenstufe.

Er könnte einfach gehen. Das ersparte ihm einiges. Ben wollte ihn ja nicht sehen oder mit ihm sprechen. Ein sauberer Schnitt. Nie würde er wissen, warum sich Ben so benahm. Und er kam um das zweite Mal herum, in einer leeren Wohnung stehen zu müssen. Er musste nur aufstehen und gehen.

Andererseits - wenn er ging und Ben war noch da?

Lukas erhob sich voller Tatendrang. Keine fünf Sekunden später stand er wieder vor Bens Tür und drückte auf die Klingel.

 

Die Schritte waren kaum zu hören. Die Tür wurde aufgezogen und im Rahmen stand der, den Lukas nicht mehr erwartet hatte. Ben.

Ben verdrehte die Augen, als er seinen Besucher sah. Schließlich winkte er Lukas in die Wohnung.
 

Ein Lukas sehr vertrautes Klingeln ertönte. Das Klingeln einer kleinen Steuermarke, die gegen ein messingfarbenes Namensschild schlug.

Balu kam um die Ecke getrottet. Schwanzwedelnd watschelte er um Lukas herum und begrüßte den jungen Mann, indem er ihm einen abgenagten Kauknochen vor die Füße warf.

"Vielen Dank." Lukas wuschelte Balu über den grauen Strubbelkopf.

"Verräter", murmelte Ben, verschwieg aber, wen er damit gemeint hatte. Balu oder Lukas?

Balu kümmerte es nicht. Er dackelte zu seinem Körbchen und schleppte eine ziemlich verschlissene Decke an. Einen bunten Deckenzipfel im Maul folgte Balu Lukas und Ben mitsamt seiner Fracht ins Wohnzimmer. Ganz in der Nähe des Sofas ließ Balu die Decke fallen, scharrte noch eine Weile darauf herum, bis sie seiner Meinung nach die bequemste Position eingenommen hatte, und legte sich schließlich darauf.
 

Lukas setzte sich auf das Sofa und wartete, bis Ben, der seit seiner Ankunft noch kein einziges Wort an Lukas gerichtet hatte, es ihm gleichgetan hatte.

Ben ließ sich in den Sessel gegenüber von Lukas sinken. Er verschränkte die Arme im Nacken und sah Lukas stumm an. Dabei machte er ein Gesicht, als wäre nicht er es, der etwas zu erklären hätte, sondern Lukas.

"Und -?", machte Lukas den Anfang. Einen ziemlich kläglichen Anfang. Aber mehr kam ihm beim besten Willen gerade nicht über die Lippen.

Ben hob die Schultern. "Hatte keinen Grund."

Lukas nickte. Seine Blicke wanderten zu Balu, der ausnahmsweise mal nicht schlief.

"Es hatte einen Grund."

Lukas hob den Kopf und sah Ben an.

"Es hatte einen Grund, warum ich wieder bin hier in die Stadt gezogen bin." Ben atmete tief ein, dann sprach er weiter und jeder folgende Satz sprudelte nur so aus ihm heraus. "Eigentlich war ich heilfroh, so bald wie möglich von zu Hause ausziehen zu können. Und wohin? Wieder dort hin, wo ich nie mehr hin wollte. Ich habe mir eine Arbeit gesucht, die Wohnung hier und nur, weil ich dachte, dass ich diese Scheißerinnerungen durch neue ersetzen könnte." Ben verstummte Minutenlang, in denen Lukas geduldig wartete. "Ich habe mir eingebildet, dass ich mich an die Angst gewöhnen könnte, wenn ich sie wiederhole; dass ich für das, was war, nur einen Lappen und Wasser bräuchte, als wäre es einfach nur ein schmutziges Fenster."

"Dann habe ich wohl auch zu deinem Therapieprogramm gehört, oder?", fragte Lukas. Er klang bitter. Nicht verärgert. Nur enttäuscht.

"Ja, wahrscheinlich schon", murmelte Ben.
 

Betreten sah Lukas vor sich hin. Bens Antwort war zwar abzusehen gewesen, tat aber dennoch nicht weniger weh.

"Warst du schon dort?"

Ohne dass Lukas es aussprach, wusste Ben, was er meinte. Ihr altes Haus.

Ben nickte. "Ein paar Mal schon."

Lukas Mund bog sich zu einem leichten Lächeln. "Komisch, dass wir uns da nicht schon über den Weg gelaufen sind."

Ben horchte auf. Hatte ihn Lukas' Grinsen erst irritiert, fiel gleich darauf bei ihm der Groschen. Lukas hatte ebenfalls ihr altes Haus besucht. Mehrmals.

"Wirklich komisch", bestätigte Ben Lukas' Worte. Er schwieg, ging etwas in Gedanken durch. "Es ist, als ob ich davon angezogen werde", fuhr er dann leise fort. "Ich wollte andere Erinnerungen an das Haus haben, als die, die ich noch hatte, aber es hat sich dort nichts verändert. Es ist der gleiche, hässliche Kasten von früher."

"Was soll sich denn dort auch großartig verändern, es ist ein Haus", wandte Lukas ein. "Oder hat es dir was gebracht, die Vergangenheit mit heute zu vergleichen?"

Bens, auf Lukas' scheinbar ignorante Worte hin verärgerte Miene, entspannte sich, als ihm klar wurde, dass Lukas recht hatte. "Wo ist dir denn diese göttliche Eingebung gekommen?", spottete Ben.

"Im Treppenhaus", antwortete Lukas betont ernsthaft.

Ben entglitten die Gesichtszüge. Dann brach er in lautes Lachen aus.

 

~ Ende ~



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