Zum Inhalt der Seite

Wege des Schattens

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

„Levin, was ist los?“ Ich zuckte zusammen, als ich meinen Namen vernahm. Als ich den Kopf zur Seite drehte, schaute ich in das besorgte Gesicht meiner Kindheitsfreundin. Ihre Stirn war in Falten gelegt und ihre sonst so lebendigen, grünen Augen glänzten unsicher. „Du bist so nachdenklich in letzter Zeit. Ist irgendetwas passiert?“ Zögerlich schüttelte ich den Kopf, ohne etwas dazu zu sagen. Ich schwieg einfach vor mich hin. Wie hätte ich ihr erklären können, was in mir vorging, wenn ich es selbst nicht einmal begriff? Irgendwie tat es mir Leid. Alesia warf mir diesen durchdringenden Blick zu, mit dem sie mich sonst sofort durchschaute. Seit kurzem jedoch war ich für sie ein einziges Rätsel. Denn ich hatte etwas, was sie nicht besaß. Ich hätte nur vergeblich versuchen können, es ihr zu erklären.

Mein Schweigen ließ den Glanz in ihren Augen erlöschen. Enttäuscht schaute sie wieder nach vorn zur Tafel, wo unser Lehrer ein Zitat von Immanuel Kant an die Tafel schrieb: „Ich kann, weil ich will, was ich muss.“ Was wollte ich eigentlich? Und was musste ich? Wenn ich nicht wusste, was ich muss, würde ich dann überhaupt etwas tun können? Irgendwie fühlte ich mich auf einmal leer. Es schien so, als gäbe es gar keinen Grund für mich, irgendetwas zu tun, um mit meiner Umwelt zu interagieren. Warum sollte ich den Stift vor mir in die Hand nehmen? Warum sollte ich dieses Zitat in meinen Block schreiben? Welchen Nutzen hätte das für die Welt? Ich könnte mich einfach hinlegen und in einen ewigen Schlaf fallen – es würde nichts verändern.

Die Klingel läutete das Ende der ersten Stunde ein. Vor dem nächsten Unterricht hatten wir fünf Minuten Pause. Ich schob meinen Stuhl zurück und wollte gerade aufstehen, als Alesia mich aufhielt. „Wohin gehst du?“ Ihr Blick versuchte mich zu durchbohren, doch wieder gelang es ihr nicht.

„Nur kurz raus“, antwortete ich und versuchte, so gelassen und aufrichtig wie möglich zu klingen. Doch Alesia wusste bereits, dass es eine Lüge war. Egal wie sehr ich meine Gedanken auch vor ihr verstecken mochte, eine Lüge enttarnte sie sofort. Ich erwartete, dass sie ebenfalls aufstehen und mir folgen würde. Dass sie sagen würde, sie käme mit. Es geschah nichts dergleichen. Ihre Augen blickten schlagartig traurig zu mir herüber. Dabei strich sie sich eine braune Haarsträhne hinters Ohr, wie sie es so oft tat, wenn sie sich über etwas unsicher war. „Alles klar. Ich warte solange. Komm schnell wieder, in Ordnung?“ Ich nickte. Und wieder wusste sie, dass ich gelogen hatte.

Tatsächlich ging ich erst mal nach draußen und schlenderte dann auf dem Schulhof umher. Um mich herum rannten die Knirpse aus der fünften Klasse, die keine Gelegenheit ausließen, um draußen herumzutoben. Hatte ich früher auch so vor Energie gestrotzt? Irgendwie kam es mir so vor, als ob ich mich die letzten Tage beinahe apathisch benahm. Um genau zu sein, seit ich den Stein gefunden hatte. An ihn erinnert bewegte sich meine Hand wie von selbst zu meiner Hostentasche. Ich spürte die leichte Beule von außen, strich zwei, drei Mal darüber und holte ihn schließlich hervor. Er wog schwer in meiner Hand, obwohl er recht klein war. An der Seite glänzte er grünlich, er hatte nichts von seiner Anmut verloren.

Ich wusste wieder, warum ich mich verändert hatte. Ich fühlte mich besser. Ich war glücklich. Ja, es musste an diesem Stein liegen. Irgendwie gehörte er zu mir und um nichts um alles in der Welt würde ich ihn wieder hergeben. Niemals. Er gehörte zu mir. Zu mir und zu niemandem sonst. Ich war glücklich. Alesia hatte keine Ahnung. Sie schaute mich so bemitleidend an, dabei hatte sie keine Ahnung! Selbst wenn sie mich noch so sehr anflehen würde, ich würde den Stein niemals hergeben! Er war meins! Ganz allein meins!

Ich merkte, wie ich anfing zu keuchen. Ein kleiner Junge ging an mir vorbei und warf mir einen merkwürdigen Blick zu. Konnte es sein…? Er starrte auf meinen Stein. Wollte er ihn haben? Er wollte ihn mir wegnehmen! Er wollte ihn für sich haben! Aber ohne ihn kann ich nicht leben, warum ist er so egoistisch? Er soll weggehen, bloß weg. „Was guckst du so?!“, fauchte ich ihn an, „Hau ab! Geh weiter!“ Der Kleine zuckte fürchterlich zusammen und ich sah, wie Tränen in seine Augen aufstiegen. Dann drehte er sich um und rannte weg, rannte ins Gebäude, wo es für ihn sicherer war. Plötzlich versammelten sich immer mehr Kinder um mich herum. Sie starrten mich an, erbarmungslos, zerbohrten mich unter ihren Blicken. „Lasst mich in Ruhe!“, brüllte ich und schlug nach dem Kind neben mir. Es wich meiner Faust mit Leichtigkeit aus, ohne sich großartig zu bewegen. Die Augen waren groß und leer, wie ein Zombie starrte mich das Kind an. Und nicht nur das eine. Die anderen fixierten mich ebenfalls mit ihren kalten Blicken, ihre Gesichtszüge reglos. Wie Puppen kreisten sie mich ein, umzingelten mich, wollten mir mein Juwel stehlen. Gleichzeitig machten alle einen Schritt weiter nach vorn, blieben stehen, starrten mich an, dann wieder einen Schritt. Sie kamen immer näher, sie schienen mich zu erdrücken. „Weg! Geht weg! Verschwindet!“ Panisch schlug ich um mich und versuchte, sie zurück zu drängen. Als es mir nicht gelang, sackte ich zusammen und krümmte mich vor Schmerz. Das letzte, was ich wahrnahm, war wie eine vertraute Stimme nach mir rief und mich jemand am Arm packte…
 

-:¦:-
 

Ich habe schon oft Menschen beobachtet. Es wird einfach nie langweilig. Wie in Apathie gehen sie ihrem Alltag nach, ohne sich jemals zu fragen warum. Hin und wieder streift der Gedanke nach dem Sinn des Lebens den Kopf eines Menschen, doch er verfliegt jedes Mal genauso schnell, wie er gekommen war. Die schlichte Akzeptanz des Lebendig-Seins ist nicht nur für die Menschen typisch; Tiere verhalten sich nicht anders. Trotzdem unterscheidet sich der Mensch von anderen Lebewesen: Er lebt nicht nur nach Instinkt. Wenn er einen Weg einschlägt, so tut er dies bewusst und in vollem Bewusstsein der Konsequenz, die seine Entscheidung und sein Handeln für ihn mit sich ziehen könnte. Man könnte sich fragen, warum die Menschen dennoch so leben, wie sie es tun. So unglücklich. Ich frage mich dies jeden Tag. Im Laufe der Zeit habe ich eines gelernt: Die Wege der Schatten sind unergründlich. Sie handeln nicht nach Logik. Sie haben keinen Verstand und kennen kein Gesetz. Ich denke, ein Fehlen der Seele macht den Menschen zu dem, was er jetzt ist. Es gibt ihm das Bewusstsein für Unglück. Wenn es kein Unglück gibt, kann man auch kein Glück empfinden. Ich frage mich, ob es für die Menschen nicht etwas Gutes bedeutete, die Seele zu verlieren…



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück