Wege des Schattens von Riyuri ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Ich kann dieses Gefühl kaum beschreiben. Es ist so einzigartig, dass die meisten es wohl noch niemals in ihrem Leben verspürt haben, geschweige denn jemals spüren werden. Es fühlt sich an, als hätte schon immer ein Teil von mir gefehlt. Doch wenn man es nicht anders kennt, akzeptiert man diese Leere als Normalität. Erst jetzt, wo mir das letzte Puzzlestück erschienen ist, fühle ich mich komplett. Eine innere Ruhe überkommt mich und plötzlich ist es egal, dass ich mich schon längst im Klassenzimmer hätte befinden sollen. Alles war egal. Es existierte nur noch diese tiefe Stille, die wie Nebel meine Gedanken von der Außenwelt abschirmten. Ich hockte auf dem steinigen Boden und starrte auf das kleine Ding in meiner Hand. Eigentlich war es so unscheinbar, dass ich daran hätte vorbeilaufen müssen. Aber als ich wie immer diesen Weg entlang lief, fiel er mir auf. Ein kleiner Stein. Sein Äußeres war grau und kantig, wie man es von rauem Fels erwartete. Er unterschied sich auf den ersten Blick nicht von den unzähligen anderen Steinen, denen man im Laufe des Tages begegnete. Ich hätte ihn einfach wegkicken und nie wieder sehen können, tatsächlich hatte ich das zunächst sogar vor. Aber etwas hinderte mich daran, ja zwang mich sogar dazu, ihn aufzuheben. In diesem Augenblick wurde mir bewusst, dass es kein gewöhnlicher Stein war. Er gehörte zu mir. Eindeutig. Beim zweiten Blick war der Stein auf einmal nicht mehr so normal, wie ich am Anfang dachte. Jemand anders hätte ihn jedoch womöglich gar nicht eingehend genug betrachtet, um das zu sehen, was ich sah. An einer Stelle war das kalte Grau abgespalten und eine grünblaue Farbe wie die eines Aquamarins stach hervor. Sie war höchstens einen halben Quadratzentimeter groß, besaß aber die Schönheit eines ganzen Edelsteins. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis ich meinen Blick von ihm abwenden konnte. Natürlich steckte ich den Stein ein; um nichts in aller Welt hätte ich ihn dort liegen lassen. Doch es wurde langsam Zeit, mich zurück zum Unterricht zu begeben. Ich berührte mit den Händen die beiden Steinwände, die sich zu beiden Seiten zwei Meter in die Höhe erstreckten. Dieser Ort war in einem Spalt auf einem unscheinbaren Hügel gelegen, der sich hinter der Schule nur leicht in die Höhe reckte. Außer mir war bisher kein Mensch auf die Idee gekommen, in dieses Loch hinab zu klettern. Von oben konnte man nichts außer Dunkelheit erkennen, doch im Spalt selbst reflektierte das Sonnenlicht zwischen den Felswänden und reichte aus, um die Schönheit dieses Ortes zu erkennen. Außerdem zog sich die Spalte länger durch den Hügel, als es von oben den Anschein machte. Mehrere Meter war der unterirdische Gang lang, anstatt nur eines einzigen. Was ich besonders mochte, waren die paar natürlichen Sitzecken aus Stein. Ich kam oft in meinen Pausen her, wenn ich mich von der Außenwelt etwas abschotten wollte. Das lag nicht daran, dass ich etwa unbeliebt war. Ich genoss einfach manchmal gern die Stille und war für mich allein. Nirgends ging das besser als hier. Der Spalt war gerade so breit, dass ich mittig hochkraxeln konnte, indem ich mich mit meinen Füßen hochstemmte. Oben angekommen klopfte ich mir den Staub von der Hose. Es war nicht weit von hier bis zum Schuldgebäude, doch fünf Minuten würde ich schon brauchen. Auf dem Weg zurück kreisten meine Gedanken nur noch um den Stein. Es war nicht so, als ob ich über etwas Spezifisches nachdachte. Es war nur ein einziger Gedanke, wie ein Bild, der mein Bewusstsein übermannte. Ich bekam nur am Rande mit, wie der Lehrer mit mir schimpfte. Es war seltsam. Wenn man dieses Etwas, das immer fehlte, plötzlich wiederfand, war alles andere egal. Nichts zählte mehr. Benommen setzte ich mich auf meinen Platz, doch die Worte, die mein Ohr erreichten, prallten daran ab und drangen niemals in meinen Kopf vor. In dem Moment dachte ich, dass für die Menschen wahrscheinlich nicht vorgesehen war, das verlorene Stück ihres Herzens zu finden. Doch ich hatte es wieder. Jetzt war mir alles klar. Ich war glücklich - und es fühlte sich an, als wäre ich dies niemals zuvor tatsächlich gewesen. -:¦:- Es ist merkwürdig, wie die Menschen funktionieren. Wenn sie etwas gewinnen, sagen sie, sie hätten Glück. Wenn sie einen schweren Unfall überleben, bedanken sie sich bei ihrem Schutzengel. Dabei ist es genau umgekehrt. Als Ebenbild Gottes sind die Menschen dafür gemacht, perfekte Wesen zu sein. Noch besser als unsereins. Doch dieses Schicksal hat man ihnen geraubt. Man nahm ihnen etwas, etwas sehr wichtiges. Man nahm ihnen die Seele und zurück blieb nur ein Schatten ihrer selbst. Ihr Denken ist eingeschränkt durch die schlechte Sicherheitskopie ihres Seins. Sie haben kein Glück oder einen Schutzengel. Das Leben eines einzelnen wird von Gott nicht mehr beschützt als das der anderen. So sollte es schlichtweg sein. Der Mensch ist nicht dafür gemacht, dass ihm Unglück widerfährt. Doch durch den Diebstahl ihrer Kräfte sind sie für Fehler anfällig geworden. Das, was Menschen gemeinhin als „Glück“ bezeichnen, ist eine kurze Berührung mit sich selbst, in dem der Schatten die Seele zufällig berührt. Denn man hat ihnen zwar die Seele geraubt, sie aber keineswegs ausgelöscht. Sie wabert als unvollständiges Etwas im Raum, bis der Mensch stirbt und mit ihr seine Seele, so fern sie auch sein mag. Wer weiß, woher die Menschen ihre eigenartigen Neigungen zu fernen Ländern haben, selbst wenn sie noch nie zuvor dort gewesen sind. Womöglich spürt der Schatten, wo sich die Seele gerade aufhält. Doch selbst wenn sie einander finden, ist das Treffen nur von kurzer Dauer. Getrennte Dinge können nie wieder vereint werden. Eine solche Wunde lässt sich nicht heilen. Heutzutage ist der Mensch dazu bestimmt, unglücklich zu sein. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Seelen gänzlich aufhören zu existieren. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)