Unter den Schwingen des Horusfalken von Hotepneith ================================================================================ Kapitel 2: Die Augen und Ohren des Falken ----------------------------------------- Sobeknacht, als tjati der erste Beamte und der zweitmächtigste Mann des Landes, schritt durch die Gänge des Palastes in Ibenu-hedj, ohne den bunten Matten an den Wänden oder der Decke einen Blick zuzuwerfen. Nun trug er eine gelockte Perücke, den üblichen kurzen, weißen, Schurz, und einen Stab als Zeichen seiner Würde in der Hand. Um seinen Hals lagen in drei Reihen Schmuckketten aus Gold und wertvollen Steinen, ebenso um Oberarme und Handgelenke, damit seinen Status deutlich zeigend. Aber er hatte es eilig und warf einen Blick in einen anderen Gang, wo ein fast ebenso gekleideter Mann seines Alters herankam. Das Leben im Palast war streng geregelt und gerade die Zeitabläufe mussten strikt eingehalten werden. Der Horus auf dem Thron der Lebenden sorgte dafür, dass morgens die Sonne aufging, die jährliche Überschwemmung kam und gute Ernten hervorbrachte. Jeder Schritt dieses Garanten der Weltordnung musste überwacht und geschützt werden. So fand der Herr der beiden Länder auch morgens stets nur eine Viertelstunde Zeit, sich mit seinem ersten Beamten und dem Siegler des Königs, dem Mann, dem alle Einkünfte und Ausgaben des Staates unterlagen, ohne weitere Personen zu bereden. Natürlich, später, im kleinen Hofrat würden sie ihn ebenso sehen, aber ohne jene Vertraulichkeit, die aufgrund der Blutsverwandtschaft möglich und nützlich war. Die beiden höchsten Beamten kemets waren die älteren Halbbrüder des lebenden Gottes Ägyptens, und nur aufgrund dieser Verwandtschaft in der Lage die Nähe des Mächtigen dauernd ohne Schaden zu überstehen. Sobeknacht blieb stehen. „Guten Morgen, Hekaptah. Etwas Ungewöhnliches?“ „Nicht wirklich.“ Der Siegler beschleunigte kurz seinen Schritt, ehe die Halbbrüder Seite an Seite weiter gingen, sich rasch austauschten. „Ich habe nur bereits das Fest der Sopdet angewiesen. Die Flut dürfte bald auch hier eintreffen.“ „Ja, natürlich.“ Dabei wurden auch große Mengen an Essen für die Bevölkerung und die Opfergaben benötigt. „Gut. Dafür habe ich etwas, womit ich allerdings den Herrn der beiden Länder nicht behelligen möchte, solange im Schatzhaus alles in Ordnung ist.“ Die dunklen Augen des dritten Mannes des Landes glitten rasch seitwärts. Das war sein Aufgabenbereich. „Sollte es etwa das nicht sein?“ „Du kennst Chnummose?“ „Natürlich. Einer der Großen von Oberägypten, Sprecher von Nechen, der Stadt des Horus. Ich bitte dich, wie sollte ich ihn nicht kennen.“ Gewöhnlich lebte dieser auch hier in der Residenz. „Er schrieb mir einen Brief, der auch an mich persönlich gebracht wurde. Er ist schließlich nicht irgendwer. Und er schrieb, sein Totengutverwalter, ein junger Mann, der die Steuern nach Ibenu-hedj bringen sollte, sei hier spurlos verschwunden, nachdem er die Abgaben abgeliefert hat.“ Hekaptah umklammerte für einen Augenblick den Stab in sein Hand. „Ich vermute, du ließt das überprüfen.“ „Ja. Der Vermisste war ein gewisser Menmire, ein junger, aufstrebender, Schreiber, den Chnummose neu zum Verwalter seines Totengutes befördert hatte. Er kam mit einem Schiff, das anteilig die Steuern aus Nechen enthielt, hier an, er ging mit dem Kapitän zu den Schreibern der Doppelscheune, der Kapitän erhielt die Bestätigung. Dann trennten sie sich, der Kapitän kehrte zum Hafen zurück. Da Menmire am nächsten Tag nicht erschien und auch am übernächsten Tag nicht, fuhr der Kapitän zurück, um seinem Herrn Bericht zu erstatten. Chnummose blieb in Nechen, um einiges für den Umbau des Horus-Tempels zu erledigen, wollte aber demnächst mit der Flut hier erscheinen. - Ich übergab die Angelegenheit einem sab-Beamten, der herausfinden konnte, dass die Angaben soweit stimmten. Nur Menmire blieb verschwunden. Überdies wissen die Hofärzte nichts von ihm, er wurde nicht als verletzt gemeldet, niemand tot aufgefunden.“ „Merkwürdig. Womöglich hatte er einen Unfall und hat sein Gedächnis verloren?“ „Möglich. Aber wenn, so hat er es bislang nicht wieder gefunden. Ich möchte, dass du überprüfst, ob die Steuer tatsächlich eingegangen ist.“ „Der sab-Beamte fand sicher die Bestätigung.“ Hekaptah klang unwillkürlich etwas abwehrend. „Sei nicht ärgerlich. Es wäre ja nur möglich, dass ein Schreiber … sich irrte, als er eintrug, dass die Steuer gezahlt wurde. Es wären immerhin fünfunddreißig Säcke Gerste und vor allem Kupfer aus der östlichen Wüste.“ Damit hatte er angedeutet, dass der Schreiber und der Vermisste die Steuern unterschlagen hatten. Hekaptah dachte kurz nach. „Nun, das lässt sich überprüfen. Sei doch so nett, und schicke mir nachher diesen Brief zu, damit ich Namen und Zeitpunkt weitergeben kann,“ sagte er dann ruhig. Sobeknacht war erfreut, dass das so glatt lief, er eine weitere Überprüfung durch sich selbst erst einmal verhindert hatte. Die Aufgaben eines tjati und einige mehr ließen ihn kaum schlafen. Und es war besser, nicht den Lebenden Horus von einer Nachlässigkeit seiner Beamten in Kenntnis setzen zu müssen. Ein Wort und auch ein tjati und Königsbruder wurde zum hörigen Bauern in irgendeinem neuen Hofgut. „Natürlich. Da das unter uns bleiben sollte, werde ich Anchnefer zu dir schicken.“ „Ja.“ Die beiden Beamten schwiegen nun, da vor ihnen von bewaffneten Wächtern die Holztüren geöffnet wurden, die den privaten Bereich des Herrn der beiden Länder abgrenzten. Höflinge schlugen die folgenden Türflügel beiseite.   Horus Quahedjet erwartete seine beiden obersten Beamten wie jeden Morgen zur ersten Besprechung in seinem Ankleidezimmer, wie alles hier weiß gekalkt und bunt bemalt. Er war bereits gebadet, gesalbt und angekleidet worden, trug die übliche Schminke, und saß nun aufrecht auf seinem Hocker. Nur, bis zwei besondere Priester ihm die Kronen der beiden Länder brachten und aufsetzten, hatte er für seine Halbbrüder Zeit. Danach würde er bereits in das Kronenheiligtum und anschließend in den Götterpalast gebracht, wie die Tempel der zwei Kronengöttinen und der anderen Götter lauteten, um ihnen die ihnen morgendlich zustehende Huldigung darzubringen. Selbstverständlich vermochte er dies nur in seiner göttlichen Form, nicht als sterblicher Mensch, aber als eben solcher und Herr der beiden Länder sah er nun auf, als sich die Beiden vor ihm niederknieten, nicht auf den Bauch warfen, wie später das Zeremoniell forderte. „Nun?“ Sobeknacht, der nur zwei Stunden später im Hofrat den hölzernen Satz sagen musste: „Alles im Lande befindet sich wohl“, sah etwas auf. „Man möge beruhigt sein. Es gibt nichts zu berichten.“ „Man“ war die Höflichkeitsanrede. Niemand sprach einen lebenden Gott direkt an. Hekaptah ergänzte: „Das Fest der Sopdet kann stattfinden, sobald der Stern am Horizont erscheint.“ Horus Quahedjet nickte, durchaus angetan, dass nicht, wie schon manchmal, eine schlechte Nachricht erfolgte. Sandleute, die Dörfer überfielen, waren dabei noch das geringere Problem. Bis die Botschaft hier ankam, waren oft die Bürgermeister oder Domänenverwalter mit bewaffneten Bauern der Bedrohung schon Herr geworden. Eine zu hohe oder zu geringe Flut konnte dagegen wahrlich Katastrophen bedeuten, Hungersnot auslösen oder auch ganze Dörfer niederreißen. Aber seit Jahren schon schwankte der Fluss mehr oder weniger gleichmäßig und er bemühte sich, dass dies auch so blieb. So hatte er erst kürzlich den Bau eines Palastes auf Abu, tief im Süden, angeordnet, um den für die Überschwemmung zuständigen Göttern zumindest alle zwei Jahre persönlich seine Aufwartung zu machen. Nun ja, auch, um ein Auge auf die stets unruhigen Nachbarn in Kusch und Wawat zu haben. Beides gehörte zu seinen Aufgaben. Die Doppelrolle als göttlicher Herrscher und menschlicher Regent war nicht immer einfach, in jedem Fall zeitaufwendig.   Der königliche Siegler wurde erst am Nachmittag wieder an die Bitte des tjati, genauer, die Anweisung, erinnert, als ihm Anchnefer gemeldet wurde. Dieser war nicht nur ein Mann in seinem Alter, sondern auch mit Sobeknacht und ihm fast befreundet, seit sie gemeinsam in die Palastschule gingen. Der Vorsteher der Schreiber des tjati ließ sich auf seinen Wink vor ihm nieder. „Ah, der Brief von Chnummose.“ „Ja.“ Anchnefer überreichte ihn und ergänzte: „Sobeknacht ließ es natürlich auf den Prüfstand stellen. Hier ist der Bericht des sab-Beamten. Allerdings gibt es etwas, das du womöglich ebenfalls überprüfen solltest. - Hier. Mir fiel es ein, da ich zufällig den Bericht des sab-Beamten vor vier Monaten las. Und ließ ihn mir bringen. Auch damals verschwand ein Domänenvorsteher. Er stammte allerdings aus dem Delta, aus der Gegend Sau, und lieferte hier wohl Wein ab.“ „Was?“ Hekaptah nahm die Papyrusrollen. „Gab es noch andere derartige Zwischenfälle?“ „Das weiß ich nicht. Möglich. Aber gewöhnlich kommen solche Anfragen nicht bis zu mir oder dem tjati. Sobeknacht hat viel zu tun. So etwas wird vom Büro der Petitionen oder eben auch sab-Beamten selbstständig geregelt. Wir sind für ganz kemet zuständig.“ „Das ist mir klar.“ Und es wäre schwierig im Haus der Bücher, wie das königliche Archiv genannt wurde, alle diese Berichte zu finden. Nun, es wäre in jedem Fall ziemlich zeitaufwendig. „Kannst du das dennoch nachsehen lassen?“ Anchnefer dachte nach. „Nun ja, ich habe da einen jungen Schreiber, der ein wenig vorlaut war. Eine nette Strafaufgabe, findest du nicht?“ „Zumindest für das vergangene Jahr. - Wir sollten Sobeknacht einstweilen nichts davon sagen. Er hat genug im Kopf. Und wenn die Steuer bezahlt wurde, kann ich ihm das mitteilen, dann können die Fälle soweit abgelegt werden.“ „Soweit.“ Der Vorsteher des Wesirbüros lächelte ein wenig. „Nein, ich frage nicht einmal. - Wirst du Briefe oder Siegel benötigen?“ „Das weiß ich noch nicht. Danke, Anchnefer.“ „Im Dienste des mächtigen Horus.“ Der alte Schreiber erhob sich. Der Herr der beiden Länder höchstselbst hatte ihm unter vier Augen von einer Mission namens „Die Augen und Ohren des Falken“ erzählt, die Hekaptah für ihn erledigte, und ihm strengste Vertraulichkeit gegenüber allen anderen, selbst dem tjati, anbefohlen. Undenkbar, nicht zu gehorchen, zumal damals Sobeknacht sehr unter seiner privaten Tragödie litt. Das war vermutlich auch der Grund dieser Anweisung gewesen.   Sobald sein Besucher verschwunden war, ließ der Siegler einen seiner Schreiber zu sich kommen. Dieser war verschwiegen, und besaß das Talent, überaus schnell schreiben zu können. „Hier, kopiere unverzüglich diese Briefe und Berichte. - Und jemand soll in das Büro der königlichen Schreiber gehen. Ich möchte Meruka sehen, wenn ihn der mächtige Horus nicht selbst benötigt.“ Niemand wunderte sich. Meruka war der Sohn der zweiten Ehefrau des Sieglers und diente als einer der königlichen Privatsekretäre. Natürlich bevorzugte dieser seinen Stiefsohn, wenn es um Aufgaben ging.   Nur wenig später betrat ein junger Mann das Arbeitszimmer Hekaptahs, der irgendetwas zwischen zwanzig und fünfundzwanzig schien. Er trug die gewöhnliche Hofperücke, um seinen Hals lagen die modischen drei Schmuckketten. An der untersten verriet eine kleine Staue der Göttin Seschat, der Herrin der Schreibkunst, was sein Beruf war. Nur ein genauer Beobachter hätte sich vielleicht gewundert, warum sich mit Karneol verzierte, kupferne, Reifen um Oberarme spannten, deren Form kaum vom Umgang mit Schreibbinsen erzeugt worden war. Hekaptah winkte. „Ich freue mich, dass du so rasch gekommen bist, Meruka. Bitte, nimm Platz.“ „Danke. Hast du etwas Neues über ... Anchka?“ Etwas wie ein Zögern lag vor dem Namen. „Ja. Gutes und Schlechtes. Auch die kundigen Hofärzte mussten aufgeben. Er wird nie wieder gehen können. Allerdings wird Anweisung ergehen, dass er als Gerichtsschreiber in den Palast des harpunierenden Horus im Delta gebracht wird. Anchka hat die Schreiberlehre und ist so wohl versorgt.“ „Das ist gut.“ Meruka atmete sichtlich durch. „Der Dolch traf ihn sehr unglücklich und ich mache mir noch immer Vorwürfe nicht besser aufgepasst zu haben.“ „Unfehlbar ist nur ein Gott, das weißt du. - Ich habe vielleicht eine Nachfolgerin für Anchka“ „Eine Frau.“ „Nefertari ist meines Wissens auch eine.“ „Ja, aber Nefer ist … besonders.“ Der Gast betrachtete den Älteren. „Ich werde jedoch nicht an deinem Urteil zweifeln, Hekaptah. Was kannst du mir über sie schon sagen?“ „Sie ist achtzehn, ist sehr zierlich und wirkt dadurch jünger. Sie lebte bislang im ipet ...“ Dem den königlichen Frauen vorbehaltenen Teil des Palastes und dessen Wirtschaftsanlagen. „Trotz ihrer Jugend war sie eine Schreiberin der Königinmutter.“ Das war ein hohes Vertrauensamt, das Diskretion und Diplomatie erforderte. Meruka nickte. „Ich verstehe. Die Königinmutter ging vor wenigen Wochen in die Schilffelder des Westens ein ...“ Die feierliche Beerdigung war erst letzte Woche erfolgt. „Ja. Ich gebe zu, dass das erst meine Aufmerksamkeit auf sie lenkte. Ihr Name ist Meresanch. Sie kam als Waise in den ipet und wurde dort aufgezogen. Ihr Vater war ein Milchbruder des Herrn der beiden Länder. Und für dich und deine Gruppe würde das Zugang zu allen Informationen im ipet bedeuten.“ Sie hatte folglich die gleiche Ausbildung bekommen wie die Königskinder und der Söhne der Beamten – nicht schlecht, dachte Meruka unwillkürlich, schwieg jedoch. Es ziemte sich nicht, seinen Vorgesetzten zu unterbrechen. „Ich werde mit ihr reden. Sie wird sicher sich dem Befehl beugen zu schweigen, falls sie sich nicht für eure Arbeit interessiert. Das Leben im ipet ist ruhiger und sicherer als das, was ihr führt. Ihr lebt gefährlich.“ Um Merukas Mund zuckte ein Lächeln, das verriet, warum ihn Frauen so attraktiv fanden, manchmal zu ihrem Nachteil, denn er liebte nur seine Arbeit für den König. „Ja, aber das wissen wir beide. Wann kann ich mit ihr sprechen?“ „Ich werde morgen mit ihr reden. Treffen wir uns morgen im hinteren Garten, rückseitig, am Teich unter den Sykomoren. Ich werde nach dir schicken. Je eher du einen Nachfolger für Anchka in deiner Gruppe hast, umso eher kannst du ihn oder sie anlernen, und umso besser den neuen Auftrag lösen. Du wirst wenig Zeit haben sie auszubilden.“ „Wie lange?“ Hekaptah überlegte kurz, wie lange der unselige Schreiber für seine Strafarbeit im Archiv benötigen würde. „Drei Tage.“ Meruka hob die Augenbrauen, erwiderte jedoch nur höflich: „Im Auftrag des Horus.“   So ging der königliche Schreiber am folgenden Tag zu dem angegebenen Platz im Palastgarten. Unter einer Sykomore hatte es sich Hekaptah bequem gemacht, zumindest zum Schein einige Papyrusrollen neben sich. Neben ihm saß ein sehr junges, zierliches, Mädchen mit langen schwarzen Haaren, einer Perücke, die sie nach höfischer Mode dreigeteilt trug. Auch ihr Kleid zeigte, wie das aller Höflinge, dass es in den herausragenden Webereien des ipet hergestellt worden war. Meruka musterte sie und bemerkte, wie sie sofort verlegen zu Boden blickte. Sie sah in der Tat wie kaum dreizehn aus, gerade so in das heiratsfähige Alter gekommen. Aber sie war älter, hatte sich wohl im Frauenhaus nicht schlecht geschlagen – und sie wusste sicher, dass es von ihm abhing ob er sie haben wollte. Er ließ sich ihr gegenüber nieder, nachdem Hekaptah ihm winkte. „Ich darf euch vorstellen. - Meresanch, das ist Meruka, der Leiter der Gruppe.“   Meresanch hob den Kopf und betrachtete den ihr doch Unbekannten, der ein wenig überrascht schien. Wie alt er wohl war? Nicht unter fünfundzwanzig, nicht über dreißig Jahre, schätzte sie. Seine dunklen Augen schienen sie ausforschen zu wollen, und sie senkte erneut den Kopf. Er war kein Schreiber, jedenfalls nicht nur. Er war attraktiv, ohne Zweifel, aber etwas an ihm war angsteinflößend. Sie kannte so etwas eigentlich nur von der verstorbenen Königinmutter oder auch der maat-hor, der Gemahlin des Königs: Dominanz, eine unbewusste Arroganz, die eine Drohung war – und nie ausgesprochen werden musste. Aber was der Siegler ihr da angedeutet hatte, lockte sie: eine selbständige Arbeit, ohne Ehemann, außerhalb des ipet – und dennoch im Auftrag des Herrn der beiden Länder und in allen Ehren. Meruka meinte langsam: „Hekaptah sagte, worum es geht.“ „Ja. Im Auftrag des Horus Dinge herauszufinden, die gewöhnlichen Beamten verborgen bleiben müssen.“ Wie hatte es der Siegler genannt: die Augen und Ohren des Falken. „Dich interessiert diese Arbeit? Es ist ungewöhnlich für ein Mädchen.“ „Ja, zu beidem. - Interessiere ich dich?“ „Dein Wissen scheint dich zu qualifizieren, denn ich vertraue dem Siegler des Königs. Dennoch: eine Prüfung ist unausweichlich, denn bei dieser Arbeit hängt unser aller Leben aneinander.“ „Das verstehe ich.“ Meresanch sah erneut zu Boden. Sie spürte, dass er sie zweifelnd betrachtete. Lebenslange Erfahrung im Umgang mit den Intrigen unter hundert Frauen verschiedenster Herkunft, und auch einiger Männer, hatte sie gelehrt Nichtausgesprochenes zu erraten. Er wusste, wen und was er in seiner Gruppe benötigte – und sie bot ihm das wohl nicht. So erklärte sie: „Eine Prüfung macht nur Sinn, wenn es die Aussicht auf Bestehen gibt. Falls ich nicht das bin, was du benötigst, sage es. Es ist nicht erforderlich mich zu schonen. Im ipet finde ich stets Arbeit.“ Meruka war überrascht. Sie hatte begriffen, dass er sie mit gewissem Widerstand betrachtete – und nahm ihm die Entscheidung ab. War er etwa von der selbstbewusst auftretenden Nefertari so beeinflusst, dass er äußere Schüchternheit für innere Unselbstständigkeit gehalten hatte? Denn letztere konnte er bei ihrer gefährlichen Arbeit nicht brauchen. So erwiderte er, gewohnt an rasche Erklärungen und Entscheidungen: „Du bist im ipet aufgezogen worden und ich vermute, dass das eine sehr gute Ausbildung ist. Dennoch weißt du dadurch sicher wenig über das Leben in kemet, dass der Bauern, Schiffer .... Da wir für unsere Aufträge auch die verschiedensten Rollen spielen, musst du das auch können. Ich werde es dir erklären und dann sehen, wie du dich stellst. Das meinte ich mit Prüfung.“ Meresanch neigte höflich den Kopf. „Ich verstehe, entschuldige.“ „Dann wärst du bereit es zu versuchen?“ „Ja.“ Meresanch nahm sich in diesem Moment vor, so rasch und aufmerksam zu lernen wie in der Schreiberlehre der Palastschule, wo sie sich bemüht hatte, besser als die Jungen zu sein. Schreiberin war eine gute Position im ipet, vor allem, da es nicht so viele davon gab. Natürlich die Königstöchter und -schwestern, aber die waren ja in eben diese Schule gegangen, wie sie auch, und sie wusste dieses Privileg für ein Mädchen durchaus zu schätzen. „Aber, bitte, nenne mich Merit.“ „Gut.“ Hekaptah war angetan, dass dieser Punkt abgehakt schien. „Dann lass uns allein, Merit. Die maat-hor wird vom Herrn der beiden Länder selbst erfahren, dass du eine neue Aufgabe hast, aber sonst niemand. Aber, wenn ein Auftrag des mächtigen Horus kommt, wird die Königsgemahlin dich offiziell fortschicken, auf eine Domäne, oder ähnliches.“ Alleingelassen fügte er hinzu: „Meruka, du solltest deinen Leuten sagen, dass sie sich vorbereiten sollen. Spätestens morgen bereits werde ich euch alle benötigen.“ „Ein Auftrag?“ Meruka zog ein wenig die Brauen zusammen. „Mit Merit?“ „Ich denke.. Es ist sicher hier in Ibenu-hedj, und vermutlich nicht so gefährlich wie euer letzter. Ich warte allerdings noch auf Aktenüberprüfung.“ „Das schätze ich an dir.“ Sie bekamen nie Aufträge, ohne dass alle bürokratischen Dinge bereits überprüft waren. Und sie erhielten stets volle Rückendeckung.     Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)