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Journey to Evolution

Mit jedem Schritt wirst du stärker
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Es tut mir so leid, dass ich euch wirklich jahrelang habe warten lassen, aber nun geht es endlich, endlich weiter! Ich brauche momentan einfach das Schreiben wieder, so ging es mir lange nicht mehr.
Dieses Kapitel ist recht kurz, da ich an der Stelle einen guten Schnitt machen konnte, aber es wird bald weitergehen, das verspreche ich. So langsam geht es auch auf das Ende zu. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Jetzt habe ich euch wieder so lange warten lassen... Es tut mir leid! Aber bis zum Beginn des nächsten Semesters möchte ich fertig werden, damit ich mich der Uni (und neuen Projekten) widmen kann, also habt bitte noch etwas Geduld mit mir! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Es tut mir leid, dass es wieder so lange gedauert hat, aber jetzt werde ich die Serie wirklich bald beenden. Ein Nachfolger schwirrt mir auch schon im Kopf herum, aber da möchte ich erst sehen, wie beschäftigt ich nächstes Semester sein werde. Komplett anzeigen

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Prolog

Es war spät in der Nacht in Dukatia City, und weit vom niemals stillstehenden Stadtkern dieser gigantischen Metropole schliefen die meisten Menschen schon lange. Nichtsdestotrotz saß ein junges Mädchen immer noch hellwach auf ihrem Bett und blickte sehnsüchtig aus dem Fenster.

Neben ihr saß ein kleines Pokémon, das sie gedankenabwesend streichelte, während sie einen Seufzer ausstieß. „Ich wünschte, ich könnte alles unter diesem unendlichen Himmel mit meinen eigenen Augen sehen, Evoli.“ Sie nahm ihren kleinen Freund auf den Arm und hielt ihn so, dass er aus dem Fenster sehen konnte. Dann kuschelte sie ihr Gesicht in sein weiches Fell und seufzte erneut.

Am nächsten Tag würde sie zwölf werden, und noch immer war sie nicht unterwegs auf Reisen, wie all die anderen Kinder schon mit zehn. Seit zwei Jahren hatte sie mit Evoli hier in Dukatia City gewartet, war zur Trainerschule gegangen, hatte ihrer Schwester zu Hause geholfen...

Es war nicht so, als wollte sie dies alles zurücklassen. Sie liebte ihre Schwester, die sich so gut um sie kümmerte und sich ins Zeug legte, damit es ihnen nie an etwas fehlte, und sie liebte auch ihr Zuhause hier in der Stadt voller Möglichkeiten und so vielen Dingen zu sehen. Durch verschiedene Regionen zu reisen und möglicherweise draußen übernachten zu müssen sagte ihr ehrlich gesagt wenig zu, aber trotzdem wollte sie es gern. Sie wollte etwas allein tun. Auch wenn es vielleicht unbequem war oder sogar gefährlich, wusste sie doch, dass sie es tun musste, um selbstständig werden zu können.

Aber es war eh sinnlos, darüber nachzudenken. Ihre Schwester würde sie die nächsten Jahre nicht ziehen lassen. Ein Teil von ihr hasste sie dafür, aber der größere und vernünftigere Teil wusste, dass sie es nur gut meinte. Selbst mit einem Pokémon an ihrer Seite war die Welt ein gefährlicher Ort für ein alleinreisendes junges Mädchen.

Sie war so in Gedanken versunken, dass sie nicht hörte, wie die Tür aufging, sodass die Stimme ihrer Schwester sie aufschreckte. „Musst du mich am Abend vor meinem Geburtstag so erschrecken?“

Ihre Schwester lächelte, wurde aber sogleich wieder ernst. „Dein Geburtstag ist der Grund, aus dem ich mit dir reden wollte.“ Sie ließ sich ebenfalls auf dem Bett nieder, mit ihrem Psiana, das hinter ihr den Raum betreten hatte, zu ihren Füßen.

„Ich weiß, es war hart für dich, dass alle deine Freunde zu ihrer Pokémonreise aufgebrochen sind und du hier bleiben musstest, Lily“, begann sie. „Ich weiß auch, dass du verstehst, wieso ich dich nicht ziehen lassen habe.“

Lily nickte. „Du hast Angst, dass mir etwas zustößt.“

„Genau. Ich könnte es nicht ertragen, dich auch noch zu verlieren...“ Sie räusperte sich und hielt einen Moment inne. „Aber mir ist klargeworden, dass ich dich nicht ewig hier behalten kann. Natürlich machen sich alle Eltern und Geschwister Sorgen um diejenigen, von denen sie sich trennen müssen, aber irgendwann muss man einfach loslassen. Du und Evoli, ihr habt in den letzten zwei Jahren viel trainiert, und da ich weiß, dass du dich nicht Hals über Kopf in Abenteuer stürzt, habe ich beschlossen, dass du ab morgen nicht mehr hier zu bleiben brauchst – wenn du willst, versteht sich.“

Lily starrte ihre Schwester ungläubig an. „Soll das heißen... ich darf meine Reise antreten?“

„Genau das soll es heißen. Allerdings nur unter diesen Bedingungen: Du reist nicht alleine im Dunkeln, und auf gefährlichen Strecken nimmst du Bus, Schiff oder sonstige Transportmittel. Außerdem rufst du mich jeden Tag an, damit ich mich vergewissern kann, dass es dir gut geht, und ab und zu werde ich vorbeikommen und dich besuchen. Kannst du damit leben?“

„Natürlich kann ich! Ich tu alles, was du willst, damit ich nur reisen kann!“ Sie sprang von ihrem Bett, warf ihr Evoli in die Luft und tanzte im Zimmer herum wie ein wild gewordenes Eneco. „Oh, danke, Rose, danke, danke, danke!“ Sie legte eine kurze Tanzpause ein, um ihre Schwester zu umarmen, machte aber sofort weiter.

Rose saß auf ihrem Bett und beobachtete ihre kleine Schwester lächelnd. Sie strich ihrem Psiana, das dem ganzen Aufruhr etwas skeptisch zusah, beruhigend über den Kopf.

Als Lily sich etwas beruhigt hatte, sagte sie: „Ich brauche eine Ausrüstung für meine Reise, Essen, Reiseführer...“

„Weiß ich doch“, unterbrach Rose sie grinsend. „Morgen gehen wir einkaufen, schließlich haben wir Johtos größtes Kaufhaus praktischerweise fast vor der Haustür. Aber jetzt solltest du erst mal schlafen gehen, Shoppingtouren erfordern Kraft. Mach’s einfach wie Evoli.“

Lily erblickte ihr kleines Pokémon, welches – vermutlich von der anstrengenden Tanzerei – schon tief und fest schlief. „Na gut, ich versuch’s. Aber morgen...“

„Morgen ist dein großer Tag, da kannst du alles tun, was du willst.“ Mit einem Lächeln und einem „gute Nacht“ schloss Rose die Tür und begab sich in ihr eigenes Zimmer, nicht ohne eine kleine Träne aus dem Augenwinkel zu wischen.

Morgen würde etwas altes zu Ende gehen, aber etwas neues würde beginnen.

Auf ins Abenteuer!

Die Sonne war noch nicht einmal vollständig aufgegangen, als ein gewisses Geburtstagskind schon voller Energie durch das Haus wirbelte. Wie am Vorabend auch schon, warf sie dabei ihr Evoli in die Luft, sang aber diesmal auch dazu, „Ich geh auf eine Reise, ich geh auf eine Reise“.

„Es ist ja nett, dass du mich weckst, aber hättest du damit nicht noch ein paar Stunden warten können?“, beschwerte sich Rose, die gern noch etwas geschlafen hätte, bei ihrer kleinen Schwester.

Die einzige Antwort, die sie bekam, war jedoch: „Oh, guten Morgen! Wann gehen wir einkaufen?“

„Ich sollte ihr nicht so viel Zucker zu essen geben“, murmelte Rose auf dem Weg in die Küche. „Zieh dich wenigstens schon mal an!“, rief sie über die Schulter zurück zu Lily.

„Ja, ja.“ Unwillig unterbrach das Mädchen sein Rumgehopse und ging ins Bad, um zu duschen. Danach holte sie ihren liebsten braunen Faltenrock und eine weiße Bluse aus ihrem Schrank, zog sich an und band ihre langen, welligen braunen Haare zu zwei tiefen Zöpfen zusammen, bevor sie sich wieder in die Küche begab. Evoli folgte ihr wie immer auf dem Fuße.

Der Esstisch war beladen mit lauter leckeren Speisen wie Pancakes mit Ahornsirup, Rührei auf frischen Brötchen, Obstsalat, frisch gepresstem Orangensaft, Kakao...

„Gefällt dir dein Geburtstagsfrühstück? Iss auf, wer weiß, wann du das nächste Mal was anständiges in den Magen bekommen wirst“, forderte Rose sie auf.

„Schon dabei“, nuschelte Lily mit vollem Mund. Neben ihr schlug Evoli sich den Bauch mit Pokémonfutter voll, und gegenüber am Tisch bedienten sich Rose und Psiana etwas stillvoller an Tee und Toast.

„Gibt es einen Grund, wieso du so schlingst?“, erkundigte sich Rose mit gerunzelter Stirn. Auch Psiana warf ihr einen missbilligenden Blick zu.

„Muss Geschenke auspacken.“ Lily verschluckte sich beinahe an ihrem hastig getrunkenen Kakao.

Als sie nach wenigen Minuten, die ihr viel länger vorgekommen waren, endlich satt war, stand Lily auf und wandte sich dem Tisch mit Geschenken in einer Ecke des Wohnzimmers zu. Ihre Verwandten hatten ihr alle nützliche Geschenke für die Reise gemacht.

„Ich hab ein paar Hinweise bei der Familie fallen lassen – alle sagen, du musst unbedingt bei ihnen vorbei kommen“, erklärte Rose. „Ach so, das Päckchen da hinten ist von mir.“

Aus buntem Geschenkpapier wickelte Lily einen PokéNav, den sie eine Weile fasziniert betrachtete, dann mit Blick auf die voranschreitende Zeit jedoch erst einmal zu ihrem PokéCom in ihre Rocktasche steckte. „Vielen Dank!“ Sie umarmte ihre Schwester.

„Gern geschehen. Ich dachte, für eine zukünftige Koordinatorin ist das sicher nützlich. Und jetzt sollten wir einkaufen gehen, damit du heute noch loskommst. Und damit du eine Tasche hast, in die du deine ganzen Geschenke tun kannst“, fügte sie mit Seitenblick auf den Berg von Items und Lilys ausgebeulte Rocktasche hinzu.

„Okay, ich hol nur meine Schuhe. Komm, Evoli.“ Lily und ihr Pokémon machten sich auf den Weg zur Garderobe, wo Lily sich weiße Sportschuhe anzog und eine weiße Mütze aufsetzte.

Auch Rose stieg in ihre Ballerinas und griff nach ihrer Handtasche. „Also dann, auf geht’s!“

Die zwei Mädchen und ihre beiden Pokémon verließen das Haus und gingen die Allee als Aprikokobäumen zur Bushaltestelle hinunter, wo auch schon bald der Bus kam und sie im Stadtzentrum direkt vor dem Kaufhaus absetzte.

Drinnen kauften sie erst einen hübschen, stabilen Rucksack in weiß und pink, einen passenden Schlafsack und ein Set aus Trinkflasche und Lunchbox. Nachdem sie auch Futter für Evoli und einige Notfallkonserven für Lily selbst gekauft hatten, machten sie eine kurze Verschnaufpause auf dem Dach, wo sie sich eine Limonade aus einem der Automaten zogen und durch die Ferngläser über die Stadt blickten. Danach besorgten sie noch einige nützliche Kleinigkeiten, und Lily kaufte außerdem ein rosa Band für ihr Evoli, das sie dem kleinen Pokémon gleich umband.

„Hier, ich hab eine TM für dich gekauft“, meldete sich Rose zu Wort. „Diese TM enthält die Attacke Schutzschild, damit fühle ich mich ein bisschen sicherer mit euch beiden allein auf Reise.“

„Danke, ich bringe sie Evoli später bei.“ Lily verstaute die TM in ihrem neuen Rucksack.

„Und jetzt sollten wir vielleicht kurz zu Mittag essen und dann zurück nach Hause fahren, um zu packen“, schlug Rose vor.

Sie genehmigten sich leckere Pasta und ein Dessert im Kaufhausrestaurant und nahmen dann den Bus zurück heim, wo sie zusätzlich zu den eben gekauften Dingen auch Kleidung und natürlich sämtliche Geschenke in den Rucksack packten.

„Wo möchtest du überhaupt zuerst hin?“, erkundigte Rose sich nebenbei.

Lily überlegte. „Hm, gute Frage. Ich glaube, ich reise erst einmal etwas durch Johto und versuche, mir ein zweites Pokémon zu fangen.“

„Willst du nicht Girafarig mitnehmen?“, fragte Rose.

„Girafarig? Aber das ist ja gar nicht mein Pokémon“, erwiderte Lily.

„Du musst es ja nicht in Wettbewerben einsetzen, aber mir wäre wohler, wenn du ein erfahrenes Psychopokémon dabei hättest. Nur, bis du mehr Pokémon gefangen hast.“

„Na gut, wieso nicht. Aber wirst du es nicht vermissen?“

Rose lächelte. „Dich werde ich auch vermissen, und trotzdem lasse ich dich gehen.“

Lily umarmte ihre Schwester. „Ich melde mich ganz oft, versprochen. Aber vielleicht bist du doch ganz froh, dass du jetzt mal wieder deine Ruhe hast. Wer weiß, vielleicht haust du ja richtig auf den Putz, sobald ich weg bin.“

„Das werden wir ja sehen.“ Rose lachte.

Als sie alles verstaut hatten, Girafarigs Pokéball inklusive, machten sich beide Schwestern wieder auf den Weg zur Bushaltestelle. Lily warf einen vorläufig letzten Blick auf ihr Haus, bevor der Bus eintraf, der sie zum Stadtrand brachte. Von dort würde sie dann in Richtung Norden weitergehen, hatte Lily fürs Erste beschlossen.

„Lass dich nicht von komischen Typen anquatschen, und schlaf immer in Pokémon Centern, wenn du kannst, ja? Und iss ordentlich, nicht immer nur Süßes“, ermahnte Rose ihre kleine Schwester, als der Bus um die Ecke kam.

„Ja, mach ich“, antwortete diese.

„Also dann, gute Reise!“ Ein letztes Mal umarmten die Schwestern sich, bevor Lily den Bus betrat. Dort ließ sie Girafarig aus seinem Ball und nahm Evoli auf den Arm, und sie winkten Rose zu, bis sie um die nächste Kurve fuhren.

Als sie nicht mehr zu sehen war, wischte Lily sich die Tränen ab und holte ihren Reiseführer aus der Tasche. Nun ging also ihre große Reise los. Sie musste zugeben, dass sie sich etwas fürchtete, doch gleichzeitig konnte sie es kaum erwarten, endlich all die neuen Orte zu sehen, und sie fragte sich aufgeregt, wohin ihre Reise sie führen würde.
 

„Tja, da wären wir nun“, stellte Lily fest. Sie standen am nördlichen Ausgang von Dukatia City, nur wenige Schritte vom großen Abenteuer entfernt. Es fühlte sich komisch an, zwar noch in der Heimat zu sein, nur einige Busminuten entfernt von zu Hause, und sich gleichzeitig am Beginn einer Reise ins Ungewisse zu befinden.

„Bist du bereit?“, fragte Lily ihr Evoli, auch wenn sie eigentlich mehr zu sich selbst sprach.

„Evo!“, bejahte ihr Pokémon energisch. Wenigstens eine von ihnen war sich also sicher, was Lily etwas beruhigte.

„Na dann, auf ins Abenteuer!!“

Begegnungen

Da standen sie nun also, Lily und Evoli, auf Route 35, mit Dukatia City im Rücken und dem Nationalpark vor sich. Diesen sollten sie vielleicht erst einmal durchqueren, um dann entweder östlich nach Viola City oder nördlich nach Teak City zu gehen.

„Evoli!“ Ihr Evoli preschte fröhlich voran Richtung Nationalparkeingang – es kannte den Weg schon von früheren Besuchen, die Lily zusammen mit Rose gemacht hatte. Bisher hatte sie ihre Reise also noch nicht in unbekannte Gebiete geführt, aber zumindest war sie zum ersten Mal allein außerhalb der Stadt unterwegs.

„Hey, warte auf mich!“ Lily spurtete ihrem Evoli hinterher, um es nicht im hohen Gras aus den Augen zu verlieren. In einer Kurve holte sie es ein und wollte es gerade auf den Arm nehmen, damit es nicht wieder weglaufen konnte, als sie angesprochen wurde.

„Ey, du da! Die Kleine mit dem Fellknäuel! Wie wär’s mit einem Kampf?“

„Nein, danke“, antwortete Lily. Auf einen Kampf hatte sie nun wirklich keine Lust, schon gar nicht mit jemandem, der sicher kurzen Prozess mit ihrem unerfahrenen Evoli machen würde. Zwar hatte sie schon ein paar Mal Trainingskämpfe gegen ihre Cousine ausgetragen, aber eigentlich lagen ihre Stärken eher woanders.

„Ach, stell dich nicht so an! Vielleicht wird aus deinem unentwickelten Winzling so mal ein richtiges Pokémon.“ Der Junge befreite ein Granbull aus dem Pokéball, woraufhin dieses sich vor Evoli aufbaute und bedrohlich knurrte.

„Lass mein Evoli in Ruhe!“, forderte Lily den unbekannten Jungen auf.

Dieser lachte bloß. „Aus dem mach ich mir ne Pelzmütze für den Winter! Granbull, setz Biss ein!“

Dabei hatte sie doch bloß vorgehabt, in Ruhe bis zur nächsten Stadt zu gehen, dachte Lily. Kämpfen war wirklich nicht ihr Ding, aber sie musste sich jetzt um Evolis Willen zusammenreißen. „Evoli, weiche aus mit Ruckzuckhieb!“

Es gelang dem kleinen Pokémon, rechtzeitig auszuweichen, doch Granbull war schon zum nächsten Angriff bereit. Sein Trainer grinste hämisch. „Du bist ein leichtes Opfer. Granbull, Donnerzahn, jetzt!“

Der Donnerzahn traf Evoli mit voller Wucht und paralysierte es, sodass es wimmernd zu Boden ging. „Oh nein, Evoli!“ Lily kniete sich nieder zu ihrem kleinen Freund, während Granbull sich wieder zum Angriff bereit machte.

„Schluss damit!“, rief plötzlich eine kräftige Stimme. Sie gehörte zu einem jungen Mann, der plötzlich um die Kurve gekommen war und nun dem Rabauken einen wütenden Blick zuwarf.

„Pokémon sind keine Spielzeuge, und vor allem dürfen sie nicht mutwillig verletzt werden! Wenn du dich nicht mal an den einfachsten Grundsatz des Trainerkodex halten kannst, sollte man dir deine Lizenz wegnehmen!“

Der Junge sah ihn herausfordernd an. „Ich amüsiere mich nur etwas mit den beiden. Geht’s dich was an?“

„Und ob es das tut. Vielleicht sollte ich dir ein paar Manieren beibringen, oder was meinst du, Glurak?“ Das Glurak, welches er beiläufig aus dem Pokéball ließ, starrte den Jungen böse an. Es war deutlich zu sehen, dass dieser es mit der Angst zu tun bekommen hatte, und so murmelte er nur paar Beleidigungen und zog mürrisch mit Granbull in Schlepptau ab.

„Ich bin noch nicht fertig mit dir!“, rief der junge Mann und wollte ihm folgen, doch als Evoli wimmerte, ließ er von dem Rabauken ab und wandte sich Lily zu. Neben Evoli kniete er sich auf den Boden und strich ihm beruhigend über den Kopf, bevor er einen Trank aus der Tasche nahm und ihn dem kleinem Pokémon einflößte.

„Keine Sorge, deinem Evoli geht es bald wieder besser.“ Tatsächlich hörte Evoli nach einigen Augenblicken auf zu wimmern und schlief in Lilys Armen ein.

„Lass es eine Nacht ausruhen und morgen ist es wieder fit“, erklärte er, nachdem er sich erhoben hatte und nun Lily eine Hand entgegenstreckte, um ihr ebenfalls aufzuhelfen.

„Vielen Dank“, erwiderte diese, noch immer etwas benommen von den plötzlichen Geschehnissen, und nun auch leicht verlegen. „Ich weiß gar nicht, was ich ohne Sie gemacht hätte...“

„Du kannst ruhig du sagen. Mein Name ist Aidan.“ Er lächelte.

„Ich heiße Lily“, brachte sie hervor.

„Es freut mich, dich kennen zu lernen, Lily. Bist du auf Reisen?“

„Ähm, na ja...“ stammelte sie. „Also eigentlich bin ich gerade erst von Dukatia City aus zu meiner Reise aufgebrochen.“ Kaum war sie einige Schritte allein unterwegs, musste ihr so etwas passieren. Vielleicht war sie ja einfach noch nicht so weit.

„Verstehe.“ Aidan nickte verständnisvoll. „Da hast du ja gleich mal einen Schreck wegbekommen, hm? Wo wolltest du denn hin?“

„Ich dachte an Viola City“, antwortete Lily unsicher. Sie hatte noch gar keinen konkreten Plan gehabt – zwar gab es in Viola City eine Wettbewerbshalle, aber ohne ein zweites Pokémon nützte diese ihr wenig.

Aidan lächelte. „Das trifft sich gut, da wollte ich auch nämlich auch hin. Am besten, ich nehme dich bis zum Pokémon Center mit. Steig auf!“ Er deutete auf Glurak.

„Kann es mich denn auch noch tragen?“, fragte Lily, der nicht ganz wohl war bei dem Gedanken, auf dem Feuerdrachen zu reiten.

„Ach, klar, du siehst leicht aus. Hier, ich helfe dir auf.“ Bevor sie protestieren konnte, saß Lily auch schon auf Glurak und Aidan schwang sich vor ihr auf dessen Rücken. „Immer schön festhalten!“, ermahnte er sie noch, bevor sie auch schon durch die Luft flogen.

Als sie sich erst einmal daran gewöhnt hatte, musste Lily zugeben, dass es gar nicht so schlecht war. Mit eine Arm ihr Evoli stützend, mit dem anderen an Aidan geklammert – was leichte Schmetterlinge in ihrem Bauch hervorrief-, wagte sie einen Blick nach unten und war beeindruckt. Unter ihr lag ihre Heimat, wie sie sie noch nie gesehen hatte. Der Nationalpark hatte von oben betrachtet wirklich die Form eines Pokéballs, wie sie einmal gelesen, aber noch nie selbst hatte überprüfen können. Vielleicht würde diese Reise ihr ja wirklich ungeahnte Perspektiven eröffnen. Genau, sie durfte noch nicht aufgeben, das war sie sich, ihrem Pokémon und auch ihrer Schwester schuldig.

In erstaunlich kurzer Zeit schon erreichten sie Viola City, und wenig später setzte Glurak zum Landeflug direkt vor dem Pokémon Center an.

„Also, junges Fräulein, lass am besten dein Evoli noch einmal hier durchchecken, und ansonsten wünsche ich dir viel Erfolg auf der weiteren Reise. Du hattest vorhin einfach Pech, nicht alle Trainer sind gemein.“ Er lächelte ihr aufmunternd zu.

„Das habe ich gemerkt“, erwiderte Lily. „Vielen Dank fürs Mitnehmen und alles, ich weiß wirklich nicht, was ich allein getan hätte.“

„Also allein bist du ja nun wirklich nicht“, meinte Aidan und deutete auf Evoli. „Halt die Ohren steif!“ Und schon war er wieder auf Glurak gestiegen und gen Himmel verschwunden.

Da stand sie nun also, zwar nicht allein, sondern mit ihrem immer noch schlafenden Evoli auf dem Arm, aber ohne einen Plan, was sie als nächstes tun sollte. Zuerst einmal begab sich Lily jedoch ins Pokémon Center, um Schwester Joy dort von Evolis Situation zu berichten. Diese nickte verständnisvoll, machte ein wütendes Gesicht, als sie von dem rücksichtslosen Trainer hörte, untersuchte Evoli gründlich und bot Lily ein Zimmer für die Nacht an, welches diese dankend annahm.

Während Evoli im Untersuchungsraum war, brachte Lily ihre Sachen aufs Zimmer und trank einen Saft in der Cafeteria des Centers. Dann ging sie wieder in den Krankentrakt, um nach ihrem Evoli zu sehen. Nicht nur machte sie sich Sorgen, es bereitete ihr auch Unbehagen, von ihrem einzigen Begleiter auf dieser Reise getrennt zu sein. Überhaupt war sie seit dem Tag, an dem sie Evoli bekommen hatte, noch nie wirklich ohne es gewesen.

„Ach, Evoli“, sagte Lily leise zu dem kleinen Pokémon, das immer noch friedlich schlief.

„Wenn ich nur stärker wäre, dann wärst du nicht verletzt worden.“

Lily sah sich um. Irgendwer hatte ihr gerade die Worte aus dem Mund genommen, nur wer?

Auf einem Bett weiter hinten im Raum saß ein Bisasam mit einem Verband um den Kopf, dessen Trainer schuldbewusst den Kopf gesenkt hatte. Das Bisasam gab aufmunternde Laute von sich und strich dem Jungen mit einer Ranke über den Arm. Dieser hob daraufhin den Kopf und lächelte sein Pokémon an. „Du bist einfach der Beste, Bisasam. Aber nächstes Mal passen wir auf, dass du nicht wieder verletzt wirst, in Ordnung?“

Bisasam strahlte seinen Trainer an und nickte. Unwillkürlich musste Lily lächeln. In diesem Moment traf ihr Blick den des Jungen.

„Entschuldige, ich wollte nicht lauschen. Es ist nur so, dass ich gerade genau dasselbe zu meinem Evoli sagen wollte.“ Lily errötete leicht.

„Hast du auch gegen Falk gekämpft?“ Er musterte sie prüfend aus seinen grünen Augen.

„Nein, ich hab... noch gar nicht richtig gekämpft. Ein Trainer hat uns angegriffen, kurz nachdem ich aufgebrochen war.“ Oh je, jetzt hielt er sie sicher für eine absolute Anfängerin.

„Solchen Trainern sollte man die Lizenzen wegnehmen“, entgegnete er jedoch. „Ich bin Alex, und du?“

„Lily. Bist du schon länger Trainer?“

Alex nickte. „Durch Kanto bin ich schon gereist, und jetzt bin ich hier, um die Johto-Orden zu gewinnen. Falk war ein ziemlich harter Brocken, und Bisasam musste ganz schön was einstecken.“

„Aber es sieht so aus, als wärt ihr ein gutes Team“, meinte Lily mit Blick auf das Pflanzenpokémon, welches seinen Trainer liebevoll anblickte.

„Klar, ohne Bisasam hätte ich keinen einzigen Kampf gewinnen können.“ Er streichelte seinem Pokémon stolz über Kopf.

In diesem Moment betrat Schwester Joy den Raum, um Alex mitzuteilen, dass sein Bisasam vorsichtshalber noch die Nacht über im Pokémon Center bleiben sollte, und ihm daher den Schlüssel zu einem der Zimmer überreichte. „Und du, Liebes, kannst dein Evoli ruhig hier allein lassen, Chaneira kümmert sich schon um es“, wandte sie sich dann an Lily. „Das heutige Abendmenü in der Cafeteria ist besonders gut, also geh und iss etwas, es nützt einem Pokémon nichts, wenn sein Trainer verhungert“, fügte sie mit Blick auf Lilys unsicheren Gesichtsausdruck hinzu.

„Na gut...“ Wenig begeistert stand Lily auf und warf einen letzten Blick auf Evoli, bevor sie den Raum verließ und hinter Alex in die Cafeteria ging. Sie musste zugeben, dass der Nudelauflauf wirklich fantastisch aussah, und sie merkte nun auch, dass ihr Magen etwas grummelte.

Mit einem großen Teller Auflauf und einem Glas Eistee auf ihrem Tablett machte sie sich also auf die Suche nach einem Tisch. Das Center war inzwischen gut gefüllt und es gab kaum noch einen freien Platz, sodass sie schließlich auf Alex zusteuerte, der allein an einem kleinen Tisch saß. „Darf ich mich zu dir setzen?“

„Klar.“ Er nickte ihr nur kurz zu und widmete sich dann wieder seinem Essen.

Lily hingegen stocherte trotz ihres leeren Magens nur in ihrem Essen herum. Ihr Versagen als Trainerin – nichts anderes war in ihren Augen die Ursache für Evolis Zustand – hatte ihr den Appetit verdorben.

„Dein Evoli will sicher nicht, dass du verhungerst“, kommentierte Alex, der von seinem inzwischen leeren Teller aufsah.

„Das weiß ich doch, aber... Macht es dir denn gar nichts aus, dass dein Pokémon verletzt ist?“

„Sicher. Aber Schwester Joy hat Recht, dein Evoli ist in besten Händen, und tun kannst du eh nichts.“ Er stand auf. „Na ja, man sieht sich.“ Dann war er weg.

Lily seufzte. Er war ihr eigentlich nicht wie ein kaltherziger Trainer vorgekommen, im Gegenteil, sein Bisasam schien ihm sehr viel zu bedeuten. Vielleicht hatte er ja Recht, und sie musste sich mehr Mühe geben, mit solchen Situationen fertig zu werden. Etwas entschlossener als zuvor griff sie nach ihrer Gabel und aß letztendlich fast die ganze Portion auf, bevor sie ebenfalls die Cafeteria verließ, um wieder nach Evoli zu sehen.

Als sie sich dem Raum näherte, wurde sie jedoch von Schwester Joy abgefangen. „Wir haben die Pokémon gerade gefüttert, komm doch in einer halben Stunde wieder und setz dich so lange vielleicht zu den anderen Trainern.“

Da ihr gerade nicht der Sinn nach Gesellschaft stand, verließ Lily stattdessen das Center und spazierte etwas durch das nächtlich erleuchtete Viola City. Im Norden der Stadt ragte der Knofensaturm auf, den sie schon von einem früheren Besuch mit ihrer Schwester kannte. Bei diesem Anblick fiel ihr ein, dass sie ja versprochen hatte, daheim anzurufen, also nahm sie ihren PokéCom aus der Rocktasche und wählte „zu Hause“ an.

„Lily?“ Rose meldete sich schon beim ersten Klingeln.

„Ja. Ich bin jetzt in Viola City.“ Die Details ihrer Reise verschwieg sie vorsichtshalber.

„Bist du im Pokémon Center? Warum benutzt du nicht eins der Bildtelefone?“, erkundigte sich Rose.

„Ach, da war es so voll...“ Sie hatte gar nicht an die Möglichkeit eines Videotelefonats gedacht, war aber im Nachhinein froh darüber, da es ihr schon schwer genug fiel, nur die Stimme ihrer Schwester zu hören. Würde sie nun auch noch ihr Gesicht sehen, bekäme sie sicher Heimweh, ganz zu schweigen davon, dass Rose sicher bemerken würde, dass es nicht besonders gut lief. „Ich bin ziemlich kaputt von der Reise und gehe sicher gleich ins Bett.“ Das war nicht einmal gelogen, sie fühlte sich wirklich erschöpft, obwohl sie ja dank Aidan bequem hergeflogen war.

„Dann schlaf gut, und melde dich morgen wieder“, verabschiedete Rose sich.

„Mach ich. Gute Nacht!“ Lily schluckte ihr Heimweh und ihr schlechtes Gewissen herunter, doch ein unangenehmer Nachgeschmack blieb auch noch, nachdem sie aufgelegt hatte. Es gefiel ihr nicht, Rose anzulügen, aber wenn sie ihr erzählte, dass gleich am ersten Tag praktisch alles schiefgegangen war, würde sie sich nur unnötige Sorgen machen oder sie womöglich sogar bitten, zurück nach Hause zu kommen.

Zur Beruhigung drehte sie noch eine Runde um den Block, bevor sie wieder ins Pokémon Center ging, um nach Evoli zu sehen. Bevor sie die Eingangstür durchschritt, hatte sie für einen Moment das Gefühl, jemand würde sie beobachten, doch als sie sich umdrehte, war niemand zu sehen. Vielleicht spielten ihre Nerven ihr nach der ganzen Aufregung einen Streich, dachte Lily.

Sie durchquerte die etwas leerer gewordene Lobby und öffnete vorsichtig die Tür zum Krankenzimmer, um keine eventuell schlafenden Pokémon zu wecken. Zwischen den Pokémon entdeckte sie Alex, der mit dem Oberkörper auf Bisasams Bett lag und ebenfalls zu schlafen schien.

Lily lächelte, zog sich einen Stuhl heran und machte es sich, seinem Beispiel folgend, an Evolis Seite bequem. Sie war wirklich nicht allein, dachte sie, bevor sie einschlief.

Ein neues Mitglied im Team!

Am Morgen wurde Lily geweckt, als ihr Evoli sie mit seiner Nase anstupste. „Guten Morgen“, gähnte sie und streckte ihre von der unbequemen Schlafposition schmerzenden Glieder.

„Evo!“ Das braune Pokémon hüpfte fröhlich auf dem Bett umher.

Lily umarmte ihre kleine Freundin glücklich. „Bin ich froh, dass es dir wieder gut geht!“ Sie musste an Alex und sein Bisasam denken, doch mit einem Blick auf das Bett weiter hinten im Raum stellte sie fest, dass die beiden nicht mehr da waren.

Nachdem das Aufsicht führende Chaneira ihr signalisiert hatte, dass es in Ordnung war, hob Lily ihr Pokémon vom Bett und, nachdem sie es behutsam auf dem Boden abgesetzt hatte, machte sich auf den Weg zur Cafeteria, um ausgiebig zu frühstücken. Beide langten kräftig zu, wobei Lily mehr von ihren Pfannkuchen an Evoli verfütterte, als sie selbst aß.

Wieder war das Center voll mit Trainern, und Lily erkundigte sich bei Schwester Joy, die Evolis Nachkontrolle machte, ob es einen besonderen Grund dafür gab.

„Morgen findet hier ein Pokémonwettbewerb statt, deshalb sind viele Teilnehmer schon früh angereist, um sich die Halle anzusehen und ihre Pokémon an die Umgebung zu gewöhnen. Komisch, ich hatte gedacht, du wärst vielleicht auch eine Koordinatorin.“

„Ach so, ich, na ja... Ich würde gern mitmachen, aber ich hab nur ein Pokémon und für den Wettbewerb bräuchte ich ja zwei...“ Zu dumm, da war sie rechtzeitig in der Stadt und verpasste trotzdem ihre erste Chance.

Schwester Joy lächelte verschwörerisch. „Vielleicht kann ich dir da helfen.“

Sie bedeutete Lily, ihr zu folgen, und führte sie in den kleinen Wintergarten des Centers. „Letztens hat ein Trainer sein Startpokémon hier gelassen, weil es sich geweigert hat, an Arenakämpfen teilzunehmen, und ich habe es solange hier aufgenommen, aber vielleicht wäre es ja glücklich, mit dir an Wettbewerben teilnehmen zu können.“ Sie drückte Lily ein Bündel frischer Kräuter in die Hand und bedeutete ihr, damit zu wedeln. Als Lily tat, wie ihr geheißen wurde, kam zwischen zwei Büschen ein Endivie heraus und näherte sich ihr vorsichtig. Evoli machte ein paar Schritte auf es zu und stupste es freundlich an, woraufhin das Endivie zurückstupste und schließlich auf Lily zuging, um ihr die Kräuter aus der Hand zu fressen.

„Na bitte, das ist doch ein guter Anfang! Am besten, ihr trainiert etwas zusammen, um euch anzufreunden, und dann meldest du dich für den Wettbewerb an.“ Schwester Joy nickte zufrieden und ließ Lily dann mit den beiden Pokémon allein. Diese beschloss, sie noch etwas zusammen spielen zu lassen, sodass sie sich anfreunden konnten, und dann zum Training nach draußen zu gehen und zu sehen, was für Attacken Endivie beherrschte.

Während sie ihrem Evoli und dem kleinen Pflanzenpokémon beim Spielen zusah, fragte Lily sich, welcher Trainer wohl seinen Starter verstieß, nur weil dieser sich zu kämpfen weigerte. Sicher brauchte jemand, der an der Liga teilnehmen wollte, Arenaorden und dafür nun einmal kampfbereite Pokémon, aber selbst wenn derjenige irgendwann Champion werden sollte, hätte er diesen Titel dann verdient?

„Na dann, lasst uns mal nach draußen gehen“, forderte sie ihre inzwischen zwei Pokémon auf, worauf Evoli ihr sofort nachlief und Endivie etwas langsamer folgte. Es schien Vertrauen zu Evoli gefasst zu haben, gegenüber Lily selbst verhielt es sich jedoch noch etwas schüchtern. Verständlich, dachte das Mädchen, sie hoffte aber, dass das kleine grüne Pokémon sich bald an sie gewöhnen würde.

Nun standen sie also draußen auf einer Wiese, das hieß, Lily stand etwas ratlos herum, während Evoli herumtobte und Endivie an den bunten Blumen roch. Im Wettbewerb musste sie in der ersten Runde mit einer schönen Darstellung glänzen, um dann in der zweiten Runde mit einem anderen Pokémon Kämpfe zu bestreiten. Mit Evoli könnte sie jederzeit eine schöne Darbietung hinlegen, dafür hatten sie schließlich jahrelang trainiert, aber dann müsste sie mit Endivie kämpfen, was diesem sicher nicht gefallen würde. Andersrum würde Evoli sich sicher anstrengen, hatte aber kaum Chancen, einen Kampf zu gewinnen, falls sie überhaupt innerhalb eines Tages mit Endivie so weit kommen sollte, dass sie nicht nach der ersten Runde rausflogen. Wie man es auch drehte und wendete, Lily hatte ein Problem.

„Evo?“ Das kleine Pokémon hatte sein Spiel unterbrochen, um Lily am Bein zu stupsen. Diese bückte sich und streichelte es gedankenverloren. Plötzlich spürte sie an ihrem anderen Bein ebenfalls ein Stupsen. Endivie war zu ihr gekommen und sah sie fragend aus seinen großen roten Augen an. Als Lily sich ihm zuwandte, um es ebenfalls zu liebkosen, bemerkte sie den angenehm süßen Geruch, der aus dem Blatt auf seinem Kopf zu ihr aufzusteigen schien. Dabei kam ihr eine Idee für den Wettbewerb, und sie lächelte zufrieden in sich hinein.
 

Nach einigen Stunden Training und einer kurzen Besichtigung der Wettbewerbshalle kehrte Lily erst am frühen Abend ins Pokémon Center zurück, wo sie ihren Pokémon eine wohl verdiente lange Pause gönnte und sich selbst endlich etwas zu essen. Auf dem großen Bildschirm in der Cafeteria lief eine Reportage des Lokalsenders über die spektakulärsten Wettbewerbe, die bisher in Viola City abgehalten worden waren. Als eine Aufnahme von Rose gezeigt wurde, verschluckte Lily sich vor Überraschung fast an ihrem Salat. Aber natürlich, eigentlich hatte sie damit rechnen müssen, schließlich hatte ihre ältere Schwester vor einigen Jahren das Große Festival gewonnen und war einigen Wettbewerbsfans sicher noch in guter Erinnerung.

Während der Moderator sich begeistert über ihre grandiose Darbietung ausließ, musste Lily schwer schlucken. Ihr war vorher nie so richtig bewusst gewesen, in welche großen Fußstapfen sie da treten wollte. Was, wenn jemand sie als Roses Schwester erkannte und sofort auch von ihr überragende Leistungen erwartete? Was, wenn sie sich selbst und ihre Schwester blamierte?

„Ist bei dir noch frei?“, riss eine Stimme sie aus ihren sich überschlagenden Gedanken. Vor ihr standen Alex und sein Bisasam, die sie beide gleichermaßen fragend ansahen.

„Ja, bitte.“ Die beiden nahmen gegenüber von ihr Platz und Alex widmete sich schweigend seinem Essen, während Bisasam über dem Pokémonfutter eine Konversation mit Evoli und Endivie führte.

„Dein Bisasam ist irgendwie gesprächiger als du“, versuchte Lily sich an einem Scherz. Sie hätte gern mal wieder ein Gespräch mit einem Menschen geführt, außerdem war sie es nicht gewohnt, schweigend zu essen.

Alex blickte von seinem Teller auf. „Sorry, miesen Tag gehabt. Aber du hast ein neues Pokémon, wie ich sehe.“

„Ja.“ Lily erklärte kurz, wie sie Endivie von Schwester Joy bekommen hatte. „Und wieso hattest du einen miesen Tag?“, fragte sie vorsichtig nach.

„Ach, nicht so wichtig. Mein großer Bruder hat mir nur mal wieder gezeigt, wie viel besser als ich er doch ist.“ Mit genervter Miene spießte Alex eine Boulette auf seine Gabel.

Also hatte er ebenfalls jemanden, in dessen Schatten er seinen Platz finden musste, dachte Lily. Wenigstens hatte sie insofern Glück, dass ihre Schwester ihr niemals willentlich das Gefühl gab, überlegen zu sein.

„Sollte dein Bruder dich nicht eher unterstützen, damit du besser wirst?“ So kannte sie das von zu Hause.

Alex stocherte weiterhin verärgert in seinem Essen herum. „Ja, das behauptet er ja auch immer, aber auf sein Getue kann ich echt verzichten, und dann sein ständiges plötzliches Auftauchen und Verschwinden durch die Luft... Für wen hält der sich denn, Siegfried?“ Damit spielte er natürlich auf den Champion der Indigo-Liga und berühmten Drachentrainer an.

„Klingt ja wenig sympathisch...“ Mehr fiel Lily als Kommentar dazu nicht ein. „Und, kämpfst du noch einmal gegen Falk?“

„Ja, morgen. Deshalb hab ich heute den ganzen Tag trainiert und gehe gleich ins Bett, damit ich morgen fit bin.“ Alex verspeiste die letzten Bissen seines Essens und forderte Bisasam, welches sich augenscheinlich nur schwer von Endivie trennen konnte, zum Gehen auf.

Auch Lily leerte ihren Teller und verließ die Cafeteria, um eins der Bildtelefone in der Lobby zu benutzen. Dieses Mal hatte sie gute Neuigkeiten und keinen Grund, ihrer Schwester etwas zu verheimlichen.

„Sieh dir mal mein neues Endivie an!“, war deshalb auch das erste, das aus ihr herausplatze, sobald Rose sich meldete.

„Erst mal guten Abend, Lily“, tadelte Rose sie mit einem nachsichtigen Lächeln. „Ein wirklich niedliches Pokémon, wie hast du es bekommen?“

Erneut erzählte Lily die Geschichte, dieses Mal jedoch deutlich ausführlicher. „Und morgen werde ich an meinem ersten Wettbewerb teilnehmen! Übrigens haben sie vorhin im Fernsehen einen Bericht über dich gebracht.“

„Ach herrje.“ Rose lachte verlegen. „Diese ganzen alten Aufnahmen will doch niemand mehr sehen.“

„Aber du warst so gut!“ Die Tatsache, dass Rose ihretwegen ihre Karriere, ihren Traum aufgegeben hatte, beschäftigte Lily schon lange. Aber sie traute sich nicht, ihre Schwester zu fragen, ob sie nicht wieder an Wettbewerben teilnehmen wollte, jetzt wo sie aus dem Haus war. Jedes Mal, wenn sie früher gefragt hatte, ob Rose ihr altes Leben nicht vermisste, hatte sie nur eine ausweichende Antwort bekommen. Ihr Leben jetzt mit Lily sei wunderbar, das hatte sie jedes Mal gesagt, sodass sie das Fragen irgendwann aufgab.

„Wenn du morgen einen Wettbewerb hast, solltest du versuchen, früh ins Bett zu gehen“, riet ihre ältere Schwester ihr.

„Ja, das mache ich. Auch wenn ich sicher vor Aufregung nicht gut schlafen kann. Aber warte mal kurz, jetzt wo ich zwei Pokémon habe, willst du doch sicher Girafarig zurück?“

„Ach so. Nein, behalte es ruhig noch eine Weile, bis dein neues Pokémon stärker geworden ist. Sicher ist sicher.“ Diese Aussage war typisch Rose, und Lily musste lächeln.

„Okay, dann tu ich das. Gute Nacht!“

„Gute Nacht! Und berichte mir morgen von deinem Wettbewerb, ja? Denk dran, auch wenn du kein Band gewinnen solltest...“

„... gewinne ich trotzdem Erfahrung, schon klar. Ich hab dich lieb.“

„Ich hab dich auch lieb, Lily. Schlaf schön.“

Lily legte auf und stieg mit Evoli und Endivie im Schlepptau die Treppe in den ersten Stock hinauf, wo sie ins Bad ging und sich dann ins Bett legte. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie endlich einschlafen konnte, schließlich lag ein wichtiger Tag vor ihr. Sie rechnete sich keine reellen Chancen auf einen Sieg aus, aber sie war aufgeregt und glücklich, endlich an ihrem ersten Wettbewerb teilzunehmen. „Morgen geben wir unser Bestes!“, flüstere sie, doch Evoli und Endivie schliefen schon lange tief und fest. Lily lächelte, drehte sich auf die Seite und machte ebenfalls die Augen zu.

Der erste Wettbewerb

Der nächste Morgen verging wie im Flug mit den letzten Vorbereitungen wie dem Kämmen von Evolis Fell oder der Suche nach Endivie, welches sich zwischenzeitlich in den Garten geschlichen hatte. Nach einem hastig verschlungenen Frühstück stand Lily schneller, als es ihr lieb war, vor der Wettbewerbshalle von Viola City und holte noch einmal tief Luft, bevor sie eintrat.

Im Inneren der Halle herrschte reges Treiben. Zuschauer stürmten auf die Tribünen zu, vorbei an Koordinatoren und ihren Pokémon, die ein letztes Mal ihre Kombinationen durchgingen. Hin und wieder konnte man Fans beobachten, die sich auf ihre bevorzugten Kandidaten stürzten, um ein Autogramm oder einen Trainingstipp zu erbeuten. Außerdem versuchten einige Reporter, vor Beginn des Wettbewerbs noch einige Kommentare vielversprechender Teilnehmer zu erhaschen.

Zwar ging Lily nicht davon aus, dass jemand mit ihr sprechen wollen würde, aber sicherheitshalber ging sie so schnell und unauffällig wie möglich in den Raum hinter der Bühne, der für die Koordinatoren reserviert war.

Angemeldet hatte sie sich schon am Vortag, und umgezogen war sie ebenfalls schon, also blieb ihr nichts anderes übrig, als auf den Beginn des Wettbewerbs und ihren Auftritt zu warten. Um sich abzulenken, kämmte sie noch einmal Evolis „Pelzkragen“, redete Endivie gut zu, betrachtete ihre Frisur im Spiegel. Gerade als sie zum dritten Mal das Badezimmer aufsuchen wollte, signalisierte ihr PokéCom den Eingang einer Textnachricht. Rose hatte ihr ein „Ich glaube an dich“ mit einem aufmunterndem Smiley geschickt. Es machte Lily glücklich, dass ihre Schwester an sie gedacht hatte; gleichzeitig fühlte sich irgendwie unter Druck gesetzt. Natürlich würde Rose nicht von ihr erwarten, dass sie ihren allerersten Wettbewerb gewann, aber wenigstens musste sie es in die zweite Runde schaffen.
 

Endlich wurde der Beginn des Wettbewerbs eingeläutet, und nach einer kurzen Anmoderation ging der erste Kandidat auf die Bühne. Lily selbst hatte eine Nummer im hinteren Drittel und verfolgte nervös die anderen Auftritte, die auf dem großen Bildschirm im Warteraum übertragen wurden, und wusste nicht, ob sie ihren eigenen möglichst schnell herbeiwünschte oder eher hoffte, sie müsste nie auf da oben stehen.

Irgendwann war es jedoch so weit, und mit klopfendem Herzen durchschritt sie den Vorhang zur Bühne.

„Begrüßen Sie nun mit mir Lily aus Dukatia City! Heute ist Lilys erster Wettbewerb, also lasst uns einmal kräftig für sie applaudieren!“ Die Moderatorin machte ihre Ansage, es folgte mäßiger Applaus, und nun musste Lily zeigen, was sie drauf hatte.

„Los, Endivie, zeig ihnen, was du kannst!“ Das kleine grüne Pokémon betrat etwas zögerlich die Bühne und drehte sich fragend zu Lily um, welche ihm aufmunternd zunickte. Daraufhin stellte Endivie sich wie geübt in der Mitte der Bühne auf und ließ eine Rasierblattattacke los. Anstatt jedoch auf ein Ziel zu feuern, ließ es die Blätter durch die Luft wirbeln, sodass sie eine Blütenform bildeten. Auf Lilys „jetzt!“ begann es außerdem, aus dem Blatt auf seinem Kopf einen süßen, wohlriechenden Duft zu verströmen.

„Oh, Endivie setzt sein aromatisches Blatt ein, um die Zuschauer milde zu stimmen!“, kommentierte die Moderatorin. Dieses Mal fiel der Applaus des Publikums etwas großzügiger aus als zuvor.

Lily verbeugte sich und verließ zusammen mit Endivie die Bühne. Hinter dem Vorhang wurde sie schon von Evoli erwartet, welches Lily fröhlich in die Arme sprang. Zusammen gingen sie zurück in den Aufenthaltsraum, um auf die Verkündung der Ergebnisse zu warten.

Während Evoli um ihre Füße herumscharwenzelte, rutschte Lily nervös auf der Bank herum, bis Endivie neben sie sprang und wie kurz davor auch einen Duft aus seinem Blatt strömen ließ. Tatsächlich spürte Lily, wie sie sich daraufhin beruhigte, und sie streichelte Endivie dankbar über den Rücken. In der kurzen Zeit, die sie erst zusammen verbracht hatten, hatten sie sich schon ganz gut angefreundet, fand sie.

Nachdem alle Vorführungen beendet waren, zog die Jury sich kurz zurück, und wenig später wurden auf dem Bildschirm die Porträts der Kandidaten gezeigt, die es in die nächste Runde geschafft hatten. Nach dem Bild eines Mädchens etwa in Lilys Alter, welches eine beeindruckende Vorführung mit seinem Ledyba gegeben hatte, eines jungen Mannes, einer älteren Frau und eines weiteren Mädchens folgte endlich ihr eigenes Konterfei.

Bevor Lily selbst realisiert hatte, dass sie es geschafft hatte, waren ihre Pokémon schon aufgesprungen und tanzten aufgeregt um sie herum. Gerade als Lily sich mit ihnen freuen wollte, sprang der Bildschirm um und zeigte nun die Konstellation für die erste Kampfrunde. Lilys Gegnerin war ein Mädchen etwas jünger als sie selbst, das in der ersten Runde mit einem Wiesor angetreten war.

Lily blickte sich im Raum um und entdeckte das Mädchen in der Nähe des Fensters. Ihre Pokémon schienen in ihren Bällen zu sein, sodass Lily nicht voraussagen konnte, welches sie in den Kampf schicken würde. Ihre Rivalin hingegen rechnete sicher damit, dass Evoli für sie ins Rennen gehen würde.

Die jüngere bemerkte ihren Blick und erwiderte ihn entschlossen. Beim Gedanken daran, dass dieses Mädchen sicher schon mehr Erfahrung hatte als sie selbst, musste Lily schlucken. Aber sie durfte sich nicht einschüchtern lassen, schließlich hatte sie einiges an theoretischem Wissen aus Büchern und natürlich durch Zusehen bei Rose erlernt.

Nach einer kurzen Unterbrechung gingen die Kampfrunden los, und Lily sah wieder über den Bildschirm im Zimmer den ersten beiden Duellen zu, bevor es Zeit für ihr eigenes war. Nervös, aber entschlossen stieg sie wieder auf die Bühne und nickte ihrer Kontrahentin zu, bevor sie Evoli aufs Kampffeld schickte. Das andere Mädchen hingegen entließ ein Hoppspross aus seinem Pokéball. Lily hatte Pokémon dieser Art schon öfter im Nationalpark gesehen und hielt sie für keine allzu schweren Gegner. Vielleicht hatten sie ja doch eine Chance, diesen Kampf zu gewinnen.

„Von jetzt an haben beide Kontrahenten fünf Minuten Zeit, die Punkte des Gegners zu reduzieren. Wer zuerst all seine Punkte verloren hat, verliert, ansonsten wird nach Ablauf der fünf Minuten der Punktestand verglichen“, erklärte die Moderatorin vor Kampfbeginn. „Und nun... los!“

Die Zeit begann zu laufen, und während Lily noch überlegte, welche Attacke sie am besten einsetzte, gab ihr Gegenüber schon den ersten Befehl. „Hoppspross, setz Tackle ein!“

Hoppspross schnellte auf Evoli zu, welches nach Lilys Befehl mit Ruckzuckhieb auswich. Die Punkte von Lilys Gegnerin verringerten sich etwas auf der Anzeige. „Und jetzt noch ein Ruckzuckhieb!“

Evoli hielt auf Hoppspross zu, das sich jedoch mit einem raschen Sprung in die Luft rettete. Evoli sprang hinterher, erwischte es aber natürlich nicht, wurde jedoch angestachelt von der Bewegung und begann, Hoppspross über das gesamte Kampffeld zu folgen. Dabei war es rasch so vertieft in sein „Spiel“, dass es nicht mehr auf Lilys Kommandos reagierte, sodass deren Punkte rapide weniger wurden.

Während Lily verzweifelt überlegte, was sie tun sollte, wurde es Hoppspross und vor allem dessen Trainerin augenscheinlich zu viel und eine Schlafpuderattacke des rosa Löwenzahn-Pokémon setzte Evoli außer Gefecht. Noch bevor die drei Schiedsrichter für ein Ende des Kampfes stimmen konnte, hob Lily ihr schlafendes Pokémon auf und trug es von der Bühne. Im Hinausgehen hörte sie noch den Kommentar der Moderatorin, dass Evoli wohl noch etwas mehr Disziplin brauchte.

Lily sammelte noch kurz Endivie im Aufenthaltsraum ein und machte sich dann auf den Weg zurück ins Pokémon Center. Schwester Joy war noch beim Wettbewerb, aber fürs Erste reichte es wohl, Evoli einfach nur schlafen zu lassen, also legte sie es in ihrem Zimmer aufs Bett und ließ sich selbst ebenfalls für einen Moment nieder, um über das soeben Geschehene nachzudenken.

Dass sie ihren ersten Wettbewerb nicht gewinnen würde, war ihr von Anfang an klar gewesen; dennoch war sie enttäuscht. Obwohl sie unerwarteterweise in die zweite Runde vorgerückt war, hatte sie dort einen dummen Fehler gemacht und sich so die Chance vermasselt. Von jetzt an würde sie viel trainieren müssen, damit ihr so etwas nicht noch einmal passierte.

Mit Endivie zusammen verließ sie das Zimmer und ging nach draußen, um dort etwas frische Luft zu schnappen und ihre Gedanken zu sortieren. Beim Verlassen des Centers stieß sie auf Alex, der glücklich lächelnd seinem Bisasam beim Spielen im Grünen zusah. Während Endivie sich sofort zu dem grünen Samenpokémon gesellte, setzte Lily sich zögerlich zu Alex auf die Bank.

Der Junge grinste und hielt Lily ein kleines Stück Metall unter die Nase. „Wir haben den Flügelorden!“ „Oh, Glückwunsch! Das freut mich für dich.“ Lily rang sich ein Lächeln ab.

„Beim zweiten Anlauf hat es geklappt. Kann ja nicht immer alles sofort perfekt sein“, sagte er und verstaute den Orden in seiner Ordenbox.

„Da hast du wohl Recht.“ Zwar hatte sie das selbst auch gesagt, aber es von jemand anderem zu hören erleichterte sie irgendwie, und sie fühlte sich schon etwas besser.

„Wo ist eigentlich dein Evoli?“, erkundigte sich Alex, während sie ihren beiden Pflanzenpokémon beim Spielen zusahen.

„Schläft in meinem Zimmer“, antwortete Lily knapp.

„Beim Spielen verausgabt?“, fragte Alex halb im Spaß.

„So ähnlich.“ Das war ja streng genommen nicht mal ganz gelogen.

Den Rest des Nachmittags verbrachte Lily auf der Bank, teils in Gedanken versunken, teils Alex beim Training mit Bisasam beobachtend. Zwischendurch meldete sie sich kurz per Textnachricht per Rose, die ihr dazu gratulierte, wenigstens in die zweite Runde gekommen zu sein, und ihr Mut zusprach, beim nächsten Mal würde es besser werden. Gegen Abend verabschiedete sie sich von Alex und sah in ihrem Zimmer nach Evoli, welches inzwischen aufgewacht war und wieder fit, bevor sie ein kurzes Abendessen zu sich nahm.

Im Bett las sie noch etwas in ihrem Reiseführer und beschloss, ihre Reise am nächsten Morgen in Richtung Alph-Ruinen fortzusetzen, dann fiel sie in einen unruhigen Schlaf.

Mysteriös

Am nächsten Morgen wachte Lily etwas gerädert auf, da sie ein bisschen zu viel von in der Luft umhersausenden rosa Kugeln geträumt hatte. Sie streckte sich ausgiebig, bevor sie sich eine lange Dusche gönnte, und mit der Aussicht auf ein leckeres Frühstück fühlte sie sich gleich besser.

In der Cafeteria rannte Endivie plötzlich auf einen der hinteren Tische zu, und als Lily ihrem Pokémon folgte, entdeckte sie dort Alex und sein Bisasam, die gerade beim Frühstück saßen. Neben ihnen stand ein gepackter Rucksack.

„Reist du heute ab?“, fragte Lily, die sich ebenfalls etwas zu essen geholt hatte und nun gegenüber Platz nahm.

„Ja, gleich nach dem Frühstück will ich los in Richtung Azalea City. Dort wartet schließlich schon der nächste Orden auf mich.“ Für den Moment war er allerdings noch damit beschäftigt, seinen voll beladenen Teller zu leeren.

„In die Richtung will ich auch.“ Lily gab Evoli, das auf ihrem Schoß saß und sich nicht weiter daran zu stören schien, von Endivie und Bisasam wenig beachtet zu werden, etwas von ihrem Frühstück ab.

„Wir können ja ein Stück zusammen reisen, da freuen sich die beiden sicher“, schlug Alex mit Blick auf ihre beiden Pflanzenpokémon vor.

Gesagt, getan, holte Lily nach dem Frühstück schnell ihre Sachen aus ihrem Zimmer, verabschiedete sich von Schwester Joy und machte sich dann mit Alex, der im Foyer auf sie gewartet hatte, auf den Weg.

Sie verließen die Stadt in Richtung Süden und befanden sich bald auf dem Weg zu den Alph-Ruinen. Zwar hatte Alex ursprünglich vorgehabt, direkt nach Azalea City zu reisen, aber wenn er schon einmal an einer historischen Stätte vorbeikam, wollte er auch einen Blick hineinwerfen und würde Lily deshalb begleiten.

Bisasam und Endivie liefen fröhlich vor ihnen her und schnupperten hier und da an ein paar Blumen am Wegrand, während Evoli voller Energie – geschlafen hatte es ja ausreichend am Vortag – Lily und Alex um die Beine sprang. Auch wenn die beiden nicht viel redeten, genoss Lily es doch, wieder in menschlicher Gesellschaft unterwegs zu sein, und die Radiofunktion ihres PokéComs sorgte dafür, dass ihr Schweigen nicht bedrückend wirkte.

Die Alph-Ruinen waren nur einen Mauzisprung von Viola City entfernt, und so erreichten sie in kurzer Zeit den Eingang, wo schon mehrere Schulklassen und Ausflugsgruppen versammelt waren. Nach einer kurzen Einführung durch einen wichtig aussehenden Mann im weißen Kittel und der Bitte, gefundene Fossilien abzugeben, wurden sie ins Innere der Ruinen entlassen und durften sich dort alleine umsehen, mit der Warnung im Hinterkopf, die antiken Stätten sorgfältig zu behandeln.

Lily nahm Evoli vorsichtshalber auf den Arm und folgte Alex in den Schatten der alten Gebäude. Hier war es kühler als in Viola City, und die mit jahrtausendealter Geschichte aufgeladene Atmosphäre ließ sie leicht schaudern. Selbst Evoli schien seinen Spieltrieb zu vergessen und stellte nervös die Ohren auf. Womöglich hörte es Geräusche, für die menschliche Ohren nicht fein genug waren.

Sie betraten eins der Gebäude und sahen staunend die alten Inschriften an den Wänden an. Viel konnten sie davon nicht entziffern, aber in der Broschüre, die sie am Eingang erhalten hatten, war einiges „übersetzt“.

Als sie eine Art Portal zum nächsten Gebäude durchquerten, erkundigte Alex sich: „Du kommst doch aus der Gegend, warst du vorher noch nie hier?“

„Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern. Eigentlich komisch...“

Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, ruckelte es in Lilys Tasche und Girafarig befreite sich aus seinem PokéBall und baute sich vor den beiden jungen Trainern auf, sodass ihnen der Durchgang versperrt war.

„Was ist denn los, Girafarig?“ Das Pokémon hatte sich noch nie so merkwürdig benommen.

„Farig, Girafarig!“ Immer noch stand das giraffenartige Wesen vor Lily und weigerte sich, sie durchzulassen. Auch Endivie, das versuchte, zwischen seinen Beinen hindurch das Portal zu verlassen, drängte es mit der Schnauze zurück und sah Lily dann eindringlich an.

„Spürst du irgendwas gefährliches hier, Girafarig?“, fragte Lily. Immerhin war es ja ein Psychotyp und bemerkte vielleicht Dinge, die den Menschen entgingen. „Jedenfalls willst du, dass wir hier nicht reingehen, richtig?“

Das Pokémon nickte.

„Tja, da kann man wohl nichts machen. Lass uns das Gebäude da hinten ansehen“, schlug Alex vor. Lily war ihm dankbar, dass er keine weitere Bemerkung zum Betragen ihres Pokémons machte und einfach über die Sache hinweg ging. Komisch war es trotzdem – diese Stätten waren schließlich für die allgemeine Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden und sollten deshalb nicht gefährlich sein. Aber vielleicht war man einfach nicht so gründlich vorgegangen, wie ein Psychopokémon es konnte.

„Geh schon mal vor, ich will noch jemandem Bescheid sagen, dass Girafarig vielleicht was gefährliches entdeckt hat.“ Sie ging zurück zur Information am Eingang und schilderte dem Mann, der sie zuvor eingeführt hatte, den Vorfall. Dieser machte ein ernstes Gesicht.

„In dem Gebäude ist vor etwa zwei Jahren eine Forscherin spurlos verschwunden. Wir wissen immer noch nicht wieso, aber nach gründlicher Untersuchung haben wir beschlossen, dass für die Allgemeinheit keine Gefahr besteht. Vielleicht überdenken wir das doch noch einmal... Jedenfalls danke für den Hinweis, junges Fräulein.“

Vor zwei Jahren... Mit dem Gefühl, dringend frische Luft zu brauchen, ging Lily nach draußen und setzte sich dort auf einen Stein. Evoli blickte sie fragend an, während Girafarig ihr beruhigend den Kopf auf die Schulter legte. So saßen sie eine Weile da, während Lily sich langsam beruhigte.

„Da bist du ja!“ Alex kam ihr entgegengelaufen, Bisasam und Endivie folgten ihm auf dem Fuße. „Ich hab mich gewundert, wieso du nicht nachkommst.“

„Entschuldige, ich musste mich kurz hinsetzen.“ Lily hatte völlig vergessen, dass Alex ja schon vorgegangen war.

Der Junge sah sie besorgt an. „Alles in Ordnung?“

„Ja, alles okay, es war nur so stickig in den Ruinen.“ Das war natürlich gelogen, aber die Wahrheit wäre zu kompliziert, und besonders gut kannte sie Alex schließlich auch noch nicht.

„Was hältst du dann davon, wenn wir uns gleich wieder auf den Weg machen? Dann sind wir noch heute Abend im Pokémon Center vor dem Einheitstunnel.“

„Ist gut.“ Lily erhob sich und folgte Alex zum Ausgang, wo sie sich nach rechts wandten und Richtung Süden gingen. Diesmal ließ sie ihr Radio aus und nur die sporadischen „Unterhaltungen“ ihrer Pokémon und die Geräusche, die aus dem hohen Gras kamen, begleiteten sie.

„Ist auch wirklich alles okay?“, erkundigte sich Alex, der sie zwischendurch immer wieder prüfend angesehen hatte.

„Ja, wirklich.“ Lily bemühte sich, ihn so glaubhaft wie möglich anzulächeln. „Vielleicht ist mein Blutzucker etwas unten, eine Mittagspause würde nicht schaden.“

„Da würde ich auch nicht nein zu sagen.“

Sie ließen sich an einer Stelle mit mehreren größeren Steinen nieder und packten ihre belegten Brote aus, die sie am Morgen in Viola City mitgenommen hatten. Den Pokémon gaben sie ebenfalls zu fressen und vertilgten dann schweigend ihre Brote, bevor sie sich wieder auf den Weg machten, der bald von Grasland zu Wasser wechselte, wo sie einen Steg überqueren mussten. Ab und zu düste ein Schnellzug über die Gleise zu ihren Köpfen hinweg.

Hier musste Lily sich endlich aus ihren Gedanken befreien, da Evoli beim Herumtollen fast ins Wasser fiel und nur noch durch blitzschnelles Schalten von Endivie und dessen Rankenhieb gerettet wurde. Daraufhin musste das Normalpokémon wieder auf Lilys Arm, bis sie nach einer Weile das Festland erreichten.

„Jetzt ist es laut meiner Karte nicht mehr weit“, meinte Alex, und tatsächlich tauchte nach einer knappen halben Stunde, pünktlich zur Abenddämmerung, das Pokémon Center von Route 32 vor ihnen auf. Dort ließen sie sich jeder ein Zimmer zuweisen und begaben sich dann in die Cafeteria, um nach dem langen Fußmarsch ein üppiges Abendessen zu genießen. Zumindest alle außer Lily, die sich immer noch aufgewühlt fühlte durch die Geschehnisse in den Alph-Ruinen.

Nach dem Essen ließ sie deshalb Endivie bei Alex und Evoli in ihrem Zimmer und begab sich nur mit Girafarig zu einem der Bildtelefone in der Lobby, um ihre Schwester anzurufen.

Nach den üblichen Begrüßungen und einem kurzen Standortbericht erwähnte Lily vorsichtig, wo sie gewesen war und dass Girafarig sich dort etwas merkwürdig verhalten hatte. „Außerdem hat mir jemand gesagt, dort wäre vor etwa zwei Jahren eine Forscherin verschwunden.“

Auf dem Bildschirm änderte sich Rose' sonst immer so kontrollierter Gesichtsausdruck, und es dauerte eine Weile, bis sie antwortete. „Ich nehme an, du hast schon zwei und zwei zusammengezählt. Aber Lily, das ist nichts, was man am Telefon besprechen sollte. Du bist gerade auf Route 32, morgen solltest du in Azalea City sein, und selbst wenn du dort sicher ein paar Tage bleiben und noch einen Tag für die Reise nach Hause brauchen wirst, sollten wir diese Unterhaltung doch bis dahin verschieben. Es tut mir Leid, du hast sicher unendlich viele Fragen, und ich hätte dir alles schon viel früher erzählen sollen, aber...“ Sie machte eine leicht gequälte Miene.

„Das ist schon in Ordnung.“ Eigentlich wollte Lily sofort auf alles Antworten haben, aber sie fand, dass es nun mal an ihr war, Rücksicht auf Rose zu nehmen. „Ich gehe erst einmal nach Azalea City und nehme dort am Wettbewerb teil, danach treffen wir uns daheim. Ich freue mich schon riesig darauf, dir Endivie vorzustellen. Also mach dir keine Sorgen um mich, ja?“

„Das tu ich doch immer.“ Trotz ihrer Worte sah Rose schon etwas beruhigter aus, als die beiden sich verabschiedeten.

Lily sammelte noch kurz Endivie bei Alex ein, dann gingen sie gemeinsam nach oben zu ihren nebeneinander liegenden Zimmern. „Ist wirklich alles okay bei dir?“, hakte der Junge noch einmal nach, als Lily gerade ihre Tür öffnete.

„Ja, wirklich. Danke.“ Sie lächelte ihn kurz an und wünschte ihm eine gute Nacht, bevor beide ihre jeweiligen Zimmer betraten. Evoli lag schlafend auf dem Bett, und Lily legte sich nach dem Zähneputzen dazu, während Endivie den Sessel und Girafarig den Teppich als Schlafgelegenheit nutzten.

Als das Mädchen sich nach einer ganzen Weile immer noch schlaflos im Bett wälzte, stand Girafarig wieder auf und stupste es freundlich mit seiner Schnauze an. Offenbar wollte es Lily sagen, sie solle sich keine Sorgen machen und beruhigt einschlafen. Lily streichelte das Pokémon dankbar und tatsächlich fühlte sie, wie sie langsam der Schlaf überkam.

Azalea City

Lily erwachte, als Evoli anfing, fröhlich auf dem Bett herumzuhüpfen. Trotz der Ereignisse des Vortages hatte sie dank Girafarig einigermaßen gut geschlafen, und nach einem kurzen Besuch im Bad begab sie sich nach unten zum Frühstück, wo sie Alex begrüßte und die beiden dann ein nahrhaftes, aber rasches Frühstück zu sich nahmen, da sie an diesem Tag noch den ganzen Einheitstunnel vor sich hatten.

Gestärkt und mit Proviant versorgt machten sie sich auf den kurzen Weg zum Höhleneingang, wie immer mit einem übermütig voraus laufenden Evoli und Bisasam und Endivie, die ab und an den Blumen am Weg schnupperten. Mit Girafarig ebenfalls im Schlepptau – Lily brachte es nicht übers Herz, es als einziges ihrer Pokémon in seinen Ball zu sperren – bildeten sie fast schon eine kleine Karawane.

So betraten sie auch den Einheitstunnel, der zu Lilys Erleichterung recht gut ausgeleuchtet war und demnach kaum gruselig. Außerdem war sie ja nicht allein, und abgesehen von einem kurzen Schreck, den ihr ein paar plötzlich aufflatternde Zubats einjagten, verlief die Durchquerung relativ ereignislos. Trotzdem war Lily froh, als sie endlich wieder das Tageslicht erblickten, auch wenn sie nach Verlassen der Höhle erst einmal ihren Regenschirm herausholen musste, denn auf Route 33 goss es, wie im Reiseführer angekündigt, wie aus Kübeln. Girafarig wanderte nun doch in seinen Ball, Evoli auf Lilys Arm, und Endivie tollte mit Bisasam im Regen herum.

„Bis Azalea City ist es nicht mehr weit, wenn wir am Flegmon-Brunnen ankommen, sind wir fast da“, sagte Alex mit Blick auf seine Karte, die er aber rasch wieder verstaute, denn im Gegensatz zu Lily hatte er statt eines Schirms nur eine Regenjacke.

Als sie an besagtem Flegmon-Brunnen ankamen, ließ sich die Sonne wieder blicken und als sie das Pokémon Center erreichten, war Alex' Jacke schon getrocknet. Wieder ließen beide sich jeweils ein Zimmer geben und genehmigten sich dann ein spätes Mittagessen.

„Willst du hier auch in der Arena antreten?“, fragte Lily über ihrem Curry.

„Klar, aber erst morgen, heute trainiere ich noch etwas und dann würde ich mich auch gern noch in der Stadt umsehen. Und du, nimmst du an dem Wettbewerb teil?“ Er zeigte mit dem Kinn auf ein Plakat, das einen Wettbewerb ankündigte.

„Der ist ja schon morgen! Und der Anmeldeschluss ist... in einer Stunde!“ Das würde knapp werden, außerdem stand ihr momentan nicht unbedingt der Sinn nach Wettbewerben, ganz abgesehen davon, dass sie vermutlich kaum besser abschneiden würde als beim letzten Mal. Andererseits konnte Erfahrung nie schaden, und Alex würde eh frühestens nach seinem Arenakampf weiterziehen, weshalb sie sowieso auf ihn warten musste, wenn sie nicht alleine durch den Steineichenwald gehen wollte.

„Ich weiß nicht, ob Evoli die Kämpfe packt...“ Unschlüssig rutschte Lily auf ihrem Stuhl hin und her.

„Wenn du willst, kannst du nachher mit mir trainieren“, bot Alex an, während er ungerührt weiter sein Curry in sich hineinschaufelte.

„Wirklich? Das wäre richtig nett!“ Mit Evoli und Endivie im Schlepptau flitzte Lily zu Schwester Joy, die ihr den Weg zur Wettbewerbshalle erklärte, und hastete dann durch die Straßen von Azalea City. Zehn Minuten vor Anmeldeschluss stand sie an der Rezeption und ließ sich registrieren, wie zuvor auch mit Endivie als erstem und Evoli als zweitem Pokémon. Dann machte sie sich eilig auf den Weg zurück zum Pokémon Center, schließlich wartete Alex dort, und sie hatte das Training wirklich dringend nötig.

Der Jungtrainer saß an einem Tisch in der Lobby und goss gerade mit einer Schiggykanne die Beerenpflanzen in einem tragbaren Gewächshaus. Lily erkannte diese Gegenstände, da sie in Dukatia City in einem recht bekannten Blumenladen verkauft wurden.

„Machst du daraus Beerensaft?“

Der Junge zuckte zusammen. „Gott, schleich dich doch nicht so von hinten an!“ Es schien ihm unangenehm zu sein, dass Lily ihn mit seinen Blumen erwischt hatte. „Die sind gut für Pokémon. Würde deinen vor dem Wettbewerb sicher auch nicht schaden“, grummelte er.

Da hatte er sicher nicht Unrecht, dachte Lily. Zwar gab sie ihnen nahrhaftes Futter, aber eine Extraportion Glanz im Fell würde vielleicht den einen oder anderen Punkt für sie wettmachen.

„Hier, gib das Endivie und das hier Evoli. Und jetzt lass uns trainieren gehen.“ Alex reichte ihr zwei kleine Saftfläschchen und packte dann sein Pflanzset wieder in seinem Rucksack, als Zeichen dafür, dass das Thema nun erledigt war.

„Danke!“ Sie strahlte ihn an, bevor beide Kinder das Pokémon Center verließen und sich ein Stück Wiese suchten, das von einigen Bäumen umrandet war. Für einen Moment hatte Lily wieder das Gefühl, sie würde beobachtet, aber bevor sie etwas sagen konnte, verschwand die Silhouette schon wieder. Vermutlich war es nur ein Käferpokémon gewesen oder ihre Fantasie spielte ihr einen Streich.

Indessen hatte Alex ein Noctuh aus seinem Pokéball gelassen. „Der Arenaleiter hier setzt Käferpokémon ein, dagegen ist ein Flugpokémon ideal.“

Über Typabstimmung wusste Lily Bescheid, schließlich hatte sie eine ganze Weile Fachliteratur gewälzt, bis sie sich endlich auf die Reise machen durfte. Dass es bei der Umsetzung ihres Wissens haperte, bereitete ihr Kopfzerbrechen.

„So, ein Kampf zwischen Noctuh und Evoli?“, schlug Alex vor.

Lily zögerte. Das Vogelpokémon sah nicht nur stark aus, sie fürchtete auch, dass Evoli wieder versuchen würde, es zu jagen. „Na gut, aber wir haben wirklich kaum Kampferfahrung...“

Alex zuckte mit den Schultern. „Irgendwann musst du ja mal anfangen. Ich lasse dir auch den Vortritt.“

Immer noch zögerlich schickte Lily also Evoli auf ihr provisorisches Kampffeld und befahl ihm, Schutzschild einzusetzen.

„Netter Trick, aber lange wird dir das nichts nützen!“, rief Alex ihr zu und befahl seinem Noctuh, mit Tackle anzugreifen. Tatsächlich gab das Schutzschild beim dritten Mal nach, und Evoli wurde von dem Angriff zurückgeschleudert.

„Also gut, Evoli, dann setz' jetzt Ruckzuckhieb ein!“ Lily hoffte inständig, dass dadurch nicht wieder Evolis Spieltrieb ausgelöst würde.

„Noctuh, kontere mit Schnabel!“, befahl Alex. Das eulenartige Pokémon stürzte sich nun seinerseits Evoli entgegen und pickte ihm in den Fellkragen. Dieses reagierte mit einem empörten Heuler, dann verbiss es sich in Noctuhs Gefieder.

„Sieht aus, als hätte Evoli Biss gelernt.“ Diese Tatsache freute Lily zwar ungemein, nichtsdestotrotz ließ ihr Kampfstil noch sehr zu wünschen übrig. Als sie Evoli befahl, noch einmal Biss einzusetzen, gehorchte es zwar, wurde dann aber von Noctuhs Konfusion außer Gefecht gesetzt.

„Oh je, geht es dir gut?“ Lily eilte aufs Kampffeld und nahm ihr Pokémon in den Arm. Dieses signalisierte ihr durch ein Stupsen mit der Nase, dass nichts passiert war.

„Na ja, wir steigern uns langsam. Sehr langsam.“ Sie versuchte, die Sache positiv zu sehen.

„Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen“, tröstete Alex sie.

Lily wusste, dass er Recht hatte, und tatsächlich war Evoli schon etwas besser geworden, aber für einen Sieg beim Wettbewerb reichte das noch bei Weitem nicht.

Sie brachte Evoli vorsichtshalber zu Schwester Joy, während Alex noch etwas trainierte – Endivie sah Bisasam dabei aufmerksam zu – und machte dann einen Bummel durch die Stadt.

„Nanu, Lily!“ Auf halbem Wege landete plötzlich ein Glurak vor ihr und dessen Trainer begrüßte sie überrascht.

„Aidan!“ Lily selbst war ebenso erstaunt, den jungen Mann wiederzusehen. „Ähm, nochmals vielen Dank für neulich...“ Sie spürte, wie ihre Wangen heiß wurden.

„Keine Ursache. Nimmst du am Wettbewerb teil?“

„Ja, aber ich rechne mir keine großen Chancen auf ein Band aus...“ Schon wieder stand sie vor ihm als absolute Anfängerin da, was wohl auch daran lag, dass er sie irgendwie nervös machte.

„Ach, jeder fängt mal klein an.“ Aidan lächelte ihr aufmunternd zu. „Gibt es in deiner Familie noch andere Koordinatoren?“

„Meine ältere Schwester hat viermal in Folge das Große Festival gewonnen. So gut möchte ich auch mal werden...“

„Und jetzt nimmt sie nicht mehr an Wettbewerben teil?“, fragte Aidan.

„Nein, sie hat vor etwa zwei Jahren aufgehört, weil... Äh, jedenfalls war sie sehr gut und ich muss mich anstrengen, um ihrem Namen gerecht zu werden.“ Es freute sie zwar, dass Aidan Interesse an ihr zeigte, aber was genau vor zwei Jahren passiert war, wollte sie nicht einmal ihm erzählen.

„Hat sie auch so einen schönen Blumennamen?“, erkundigte er sich.

Nun wurde Lilys Gesicht wirklich heiß, bestimmt war sie rot wie eine Tomate. „Sie heißt Rose“, brachte sie hervor und senkte vorsichtshalber den Blick.

„Verstehe“, kam es von dem jungen Mann. „Nun, Lily, es hat mich gefreut, dich wiederzusehen. Es war sicher nicht das letzte Mal.“ Mit diesen Worten stieg er wieder auf sein Glurak und verschwand, wie schon nach ihrer ersten Begegnung, und Lily starrte wieder einmal seiner kleiner werdenden Silhouette nach.

Das Klingeln ihres PokéComs riss sie aus ihrer Trance. „Hallo?“

„Hallo, Lily. Ich wollte nur mal nachfragen, wie es dir heute geht“, meldete sich, wie könnte es auch anders sein, die Stimme ihrer Schwester.

„Oh, äh, mir geht’s gut. Und dir?“ Wenn sie nicht wollte, dass Rose ihr nun unangenehme Fragen stellte, musste sie sich etwas zusammenreißen.

„Ebenfalls. Ich nehme an, du bist schon in Azalea City angekommen?“

„Ja, und morgen nehme ich am Wettbewerb teil. Auch wenn ich vermutlich auch dieses Mal nicht sehr weit kommen werde.“ Sie berichtete von ihrem Training und Evolis neuer Attacke Biss.

„Ach, das wird schon, Übung macht den Meister. Wenn du damals meine ersten Wettbewerbe gesehen hättest...“ Rose lachte und erzählte einige Anekdoten aus ihrer Anfängerzeit, bevor sie Lily viel Glück wünschte und sich dann verabschiedete, um zu Abend zu essen.

Da Lily inzwischen ebenfalls der Magen knurrte, begab sie sich zurück ins Pokémon Center und traf fast zeitgleich mit Alex ein. Die beiden packten sich ihre Tabletts voll und suchten sich dann einen Tisch am Fenster, wo Alex sich etwas gesprächiger zeigte und von seinem Training berichtete.

Nachdem jeder sich auf sein eigenes Zimmer zurückgezogen hatte, fiel Lily noch siedend heiß ein, dass sie gar keine neue Vorführung mit Endivie einstudiert hatte, entschied sich aber nach einigem Überlegen vor allem aufgrund des Zeitmangels dazu, es einfach noch einmal mit einer leicht abgeänderten Variante der ersten zu versuchen.

Bevor sie ins Bett ging, schmökerte sie noch etwas in dem Roman, den sie dabei hatte, und schlief mit dem Bild von Aidan ein, der auf seinem Glurak durch den Himmel flog.

Erfolge

Nach einem reichhaltigen Frühstück für Lily und Alex und noch einer Portion Beerensaft für ihre Pokémon, die der Junge ihr unter der Auflage, niemandem von seinem Hobby zu erzählen, gemixt hatte, verließ die Gruppe das Pokémon Center. Auf dem Wegabschnitt, den sie zusammen zurücklegten, war Lily geistesabwesend und bekam es nicht mit, als Alex sie ansprach.

„Erde an Lily: Ich habe gefragt, ob du mit dem Wettbewerb alles hier erledigt hast und wir morgen weiterreisen können.“

„Entschuldige. Klar, von mir aus schon.“ Wenn es nach ihr ging, konnte sie keinen Tag zu früh zu Hause sein und von Rose die Erklärung zu den mysteriösen Ereignissen in den Alph-Ruinen hören.

Alex musterte sie prüfend. „Wenn du so nervös bist, merken deine Pokémon das.“

„Weiß ich doch...“ Zwar sprang Evoli wie immer fröhlich umher und Endivie trottete hinter dem Fels in der Brandung Bisasam hinterher, aber nachher im Wettbewerb konnte sie das trotzdem Kopf und Kragen kosten.

„Na dann, ich muss hier lang zur Arena, viel Erfolg!“

„Danke, dir auch!“ Lily winkte Alex zu, bevor er um die nächste Ecke verschwand. Zu Endivie, das Bisasam etwas traurig hinterherblickte, sagte sie: „Na komm, wir treffen es ja nachher wieder. Jetzt müssen wir uns im Wettbewerb anstrengen, damit wir nachher auch einen Erfolg vorweisen können.“ Auch wenn ihre Chancen auf ein Band gering waren, so durfte sie nicht von vornherein aufgeben.

Wieder wartete sie im Umkleideraum auf ihren Auftritt – dieses Mal hatte sie die letzte Startnummer -, aber anders als bei ihrem ersten Wettbewerb bemühte sie sich, möglichst ruhig zu bleiben. Als sie aufgerufen wurde, betrat sie mit Endivie die Bühne und gab das Kommando zum Start. Wie beim letzten Wettbewerb auch ließ das Pflanzenpokémon Rasierblätter durch die Luft wirbeln, aber nun bildeten sie zu Lilys Überraschung eine Herzform, und zusätzlich setzte Endivie seine Ranke ein, um über dem Kopf ein Herz zu formen. Auch der Duft aus seinem Blatt erschien Lily lieblicher als zuvor. Es beunruhigte sie zwar, dass Endivie eigenhändig seinen Auftritt abgewandelt hatte, aber der Applaus des Publikums ließ sie aufatmen. Trotzdem tadelte sie das Pokémon kurz, als sie wieder hinter der Bühne waren. Dieses ließ sich davon jedoch nicht aus der Ruhe bringen und flitze durch den Raum zur Tür.

„Das war doch gar nicht so schlecht.“ In der Tür stand Alex mit seinem Bisasam, womit Endivies Verhalten erklärt war.

„Bist du schon fertig in der Arena?“ Das konnte eigentlich nicht sein, wenn man den Weg mit einrechnete, es sei denn, er hatte unwahrscheinlicherweise alle gegnerischen Pokémon mit einer Attacke besiegt.

„Ach so, na ja, Bisasam hat sich Sorgen um dein Endivie gemacht, also haben wir den Kampf auf morgen verschoben.“ Alex wich ihrem Blick aus und sah sich stattdessen nach den Pokémon um.

„Das ist nett von Bisasam.“ Lily lächelte und wandte sich dann ebenfalls zu den beiden glücklich aussehenden Pflanzenpokémon um.

In der Zwischenzeit waren auf dem Bildschirm die Teilnehmer eingeblendet worden, die es in die nächste Runde geschafft hatten, und Lily machte einen kleinen Hüpfer, als sie ihr Bild sah.

Während sie auf ihren Kampf wartete, nahm sie mit Alex einen Snack zu sich und ließ sich noch ein paar Tipps von ihm geben, sodass die Wartezeit um war, bevor sie wieder nervös werden konnte.

„Na los, zeig ihnen, was du kannst!“, ermutigte er sie dann, als sie aufgerufen wurde.

Dieses Mal war ihr Gegner ein Mauzi, dessen Trainerin Lily einen hochmütigen Blick zuwarf, bevor die Schiedsrichter das Startsignal gaben.

Lily ließ sich nicht einschüchtern und ging zum Angriff über. „Evoli, Ruckzuckhieb!“

Mauzi konterte mit einem Kratzer, dem Evoli mit einem weiteren Ruckzuckhieb auswich. Es mochte zwar nicht viel Kampferfahrung haben, aber durch jahrelanges Herumtollen war es durchaus flink.

Die gegnerische Trainerin machte ein wütendes Gesicht, als ihre Punkte auf der Anzeige schwanden. „Kratzfurie, Mauzi!“

Das Katzenpokémon attackierte mit seinen Krallen, und wie schon im Kampf mit Noctuh am Vortag reagierte Evoli darauf mit einem wütenden Biss und ließ nicht mehr los. Wieder verringerten sich die gegnerischen Punkte.

„Das darf ja wohl nicht wahr sein! Mauzi, noch einmal Kratzfurie!“ So langsam verlor das andere Mädchen offensichtlich die Geduld.

Lily verkniff sich ein Grinsen. „Evoli, jetzt Schutzschild!“ Mauzis Attacke prallte wirkungslos von Evoli ab, und bevor es einen weiteren Versuch starten konnte, ertönte ein Gong – das Zeitlimit war abgelaufen und Lily hatte mehr Punkte als ihre Gegnerin, was bedeutete, dass sie eine Runde weiterrücken würde.

„Pah, Anfängerglück! Wenn die Zeit nicht abgelaufen wäre, hätte ich dich geschlagen“, kommentierte ihr Gegenüber, bevor sie von der Bühne ging.

„Hör nicht auf die, wenn sie so gut wäre, hätte sie dich innerhalb des Zeitlimits geschlagen“, meinte Alex, der von der Tribüne gekommen war, um ihr zu gratulieren.

Wenn Lily ehrlich war, interessierte sie das herzlich wenig – sie hatte ihren allerersten Kampf gewonnen und freute sich einfach darüber. Sogar Endivie, das mit Alex auf der Tribune zugesehen hatte, riss sich von Bisasam los und tanzte mit Evoli um seine Trainerin herum.

Zwar hatte Lily gehofft, ihre Glückssträhne würde anhalten, aber ihr nächster Gegner war ein Junge mit einem Muschas, an dem Evoli sich die Zähne ausbiss, und so schied sie aus dem Wettbewerb aus. Trotzdem war sie nicht enttäuscht, sondern freute sich weiterhin über ihren Sieg in der ersten Runde.

„Willst du weiter zuschauen, oder gehst du mit mir zur Arena?“, fragte Alex. Es war erst früher Nachmittag, und wenn Alex den Orden gewinnen sollte, könnten sie am nächsten Tag weiterreisen und abends in Dukatia City sein, was ganz in Lilys Interesse war.

„Lass uns zur Arena gehen!“, antwortete sie deshalb. Gut gelaunt folgte sie Alex durch die Straßen bis zum Arenagebäude, das einem großen Gewächshaus ähnelte, und nahm ihrerseits auf der Tribüne platz.

Die ersten beiden Pokémon des Arenaleiters Kai, Safcon und Kokuna, stellten kein großes Problem für Noctuh dar, aber der letzte Gegner, ein Sichlor, war flink und bereitete dem Eulenpokémon einige Schwierigkeiten, zumal es schon etwas erschöpft zu sein schien. Als es sich geschlagen geben musste, zog Alex es mit lobenden Worten zurück in seinen Ball und schickte ein Riolu in den Kampf.

Lily wunderte sich, wieso er ein Kampfpokémon einsetzte, obwohl Kampfattacken gegen Sichlor nicht viel ausrichten würden, aber bald wurde ihr klar, dass er Riolu wohl wegen seiner Schnelligkeit gewählt hatte. Obwohl es kaum halb so groß war wie der Gegner, hatte es Sichlor schon bald in die Ecke gedrängt und mit einem Feuerfeger kampfunfähig gemacht.

Kai zog sein Pokémon zurück und überreichte Alex den Insektorden. „Das war ein ziemlich kurzer Kampf, du bist wirklich gut.“

„Allerdings“, kommentierte Lily, die von der Tribüne herabgekommen war, erstaunt.

„Danke.“ Alex ginste verlegen und verstaute seinen Orden. „Nächstes Mal bist du wieder dran, Bisasam.“

„Bisa!“ Das Pflanzenpokémon nickte fröhlich und klopfte Riolu dann mit seiner Ranke anerkennend auf die Schulter.

Da Alex gern Noctuh zu Schwester Joy bringen wollte und sich außerdem das ausgelassene Mittagessen bemerkbar machte, begaben sie sich wieder ins Pokémon Center. Zur Feier ihrer Siege – Lily betrachtete sich ebenfalls als Siegerin – gönnten sie sich ein frühes Abendessen und gingen dann auch recht früh ins Bett, da sie am nächsten Tag den gesamten Weg durch den Steineichenwald und Route 34 zurücklegen mussten, wenn sie nicht unterwegs campieren wollten.

Wieder einmal fiel es Lily schwer, zur Ruhe zu kommen. Nicht nur ließ sie ihren allerersten gewonnenen Pokémon-Kampf im Kopf Revue passieren, sie versuchte auch, sich auszumalen, was Rose ihr erzählen würde, sobald sie zu Hause ankam. Es würde sie nicht wundern, wenn einige unangenehme Entdeckungen zu Hause auf sie warteten.

Wieder daheim

Früh am Morgen klingelte Lilys Wecker, und nach einem kurzen Aufenthalt im Bad weckte sie ihre Pokémon und ging nach unten in die Cafeteria, wo Alex sich wenig später zu ihnen an den Tisch gesellte. Die beiden frühstückten reichlich und nahmen ein Lunchpaket mit, da sie nicht vor dem Abend in Dukatia City ankommen würden. Dann verabschiedeten sie sich von Schwester Joy und brachen an einigen gähnenden Flegmon vorbei zum Steineichenwald auf.

Obwohl die Dämmerung inzwischen dem Tageslicht gewichen war, herrschte im Steineichenwald Dunkelheit, an die ihre Augen sich erst einmal gewöhnen mussten, bevor sie wenigstens wieder ein bisschen erkennen konnten. Alex entließ sein Noctuh, das sich inzwischen von dem Arenakampf erholt hatte, sowie ein Lampi aus ihren Pokébällen. Ersteres flog voraus und half ihnen, sich im dunklen Wald zurechtzufinden, während letzteres ihnen den Weg erleuchtete, sodass sie nicht über einen der vielen heruntergefallenen Äste stolperten. Trotzdem nahm Lily ihr Evoli lieber auf den Arm, denn wenn es in diesem Wald herumtollte, konnte es unter Umständen verloren gehen. Endivie trottete brav hinter Bisasam hinterher und half ab und zu, einige Äste aus dem Weg zu räumen. Am Schrein des Waldwächters hielten sie kurz inne und verneigten sich vor dem Abbild Celebis, bevor sie sich weiter durchs Dickicht kämpften.

„Irgendwie fühle ich mich beobachtet“, raunte Lily Alex zu.

„Das sind bestimmt nur die vielen Käferpokémon hier“, erwiderte der Junge.

Lily zuckte etwas zusammen. „Nicht wirklich beruhigend...“

„Ich pass schon auf, dass sie dich nicht beißen.“ In diesem Moment flog ein großer Schatten über sie hinweg, und Evoli entwand sich den Armen seiner Trainerin.

„Evoli, komm zurück!“ Verzweifelt versuchte Lily, das Pokémon wieder einzufangen, aber es war flink und schon bald im Dickicht verschwunden. „Evoli, wo rennst du denn hin? Komm zurück zu mir!“ Lily war den Tränen nahe.

„Wir finden es schon wieder, keine Sorge“, versuchte Alex sie zu beruhigen. „Noctuh, sieh nach, ob du Evoli aus der Luft erkennen kannst. Lampi, kannst du etwas heller leuchten, damit es zu uns zurückfindet?“ Beide Pokémon taten wie geheißen, und die Kinder liefen ebenfalls den Weg entlang in die ungefähre Richtung, die Evoli eingeschlagen haben musste.

Nachdem sie eine Weile vergeblich gesucht hatten und Lily nun wirklich kurz davor war, weinend zusammenzubrechen, kam Noctuh zurück und wies sie an, ihm zu folgen. An einem kleinen See rannte Evoli mit dem Kopf gegen einen der umstehenden Bäume, während ein älterer Mann ihm amüsiert dabei zusah.

„Ich hab mich schon gefragt, wann ihr wohl auftauchen würdet. Ein heiteres kleines Bürschchen!“

„Evoli!“ Lily rannte auf ihr Pokémon zu und drückte es fest an sich. „Tu so etwas nie wieder, hörst du?“ Dann wischte sie ihre Tränen ab und wandte sich dem Mann zu. „Es tut mir Leid, wenn mein Evoli Ihnen Schwierigkeiten bereitet haben sollte.“

Dieser lachte bloß. „Ach was, überhaupt nicht. Ich dachte, bis ihr Kinder herkommt, bring ich ihm mal eben Kopfnuss bei, das hat uns beiden Spaß gemacht.“

Evoli nickte begeistert und attackierte den nächsten Baum, aus dem ein Raupi fiel und Evoli genervt ansah, bevor es sich trollte.

„Äh... vielen Dank.“ Lily fand zwar nicht, dass man ihrem Pokémon noch mehr Flausen in den Kopf setzen sollte, aber sie war zu froh, dass Evoli wohlauf und wieder bei ihr war, um sich darum zu kümmern.

„Kommt, ich setze euch mit meinem Boot über den See, dann müsst ihr nicht den ganzen Weg außen herum laufen. Halt du bloß dein Evoli gut fest, junges Fräulein!“

Dieses Angebot schlugen die beiden natürlich nicht aus, und so gelangten sie trotz der Suche nach Evoli schneller durch den Wald, als sie gehofft hatten.

„Vielen Dank für Ihre Hilfe“, bedankten sich Alex und vor allem Lily bei dem alten Mann, bevor sie die letzten paar Meter durch den Wald zurücklegten und endlich wieder ans Tageslicht traten.

Inzwischen war es Mittag und so setzten sie sich auf ein paar umgefallene Baumstämme am Waldrand und verspeisten ihre mitgebrachten Lunchpakete. „Bald sind wir wieder zu Hause, Evoli“, teilte sie ihrem Pokémon aufgeregt mit, bevor sie sich an Endivie wandte. „Mal sehen, wie es dir gefallen wird.“ Sie war zwar keine Woche von zu Hause weg gewesen, aber in dieser kurzen Zeit hatte sie so viel erlebt, dass sie ihr wie eine kleine Ewigkeit vorkam. Auch Evoli schien zu spüren, dass es in Richtung Heimat ging, und rannte wieder einmal fröhlich vorneweg.

„Woher genau kommst du eigentlich?“, erkundigte sie sich bei Alex, als sie über die sonnige Route 34 liefen. Zwar hatte er erwähnt, dass er schon durch Kanto gereist war, aber das hieß nicht, dass er auch von dort stammte, und sein Heimatort interessierte sie.

„Aus Prismania City.“ Alex blieb kurz stehen, als er sein Bisasam plötzlich doppelt sah, aber eines von beiden stellte sich rasch als Ditto heraus, nachdem es sich auch in Endivie verwandelt hatte. Die Kinder lachten, als ihre Pokémon sich verwirrt ansahen.

„Die Stadt ist Dukatia City gar nicht so unähnlich, zumindest gibt es einige Gemeinsamkeiten wie ein berühmtes Kaufhaus“, fuhr Alex fort, als Ditto sich wieder ins hohe Gras verzogen hatte.

„Ich war erst einmal in Kanto, und auch nur in Saffronia City.“ Dort war sie als Kind mit ihrer Mutter hingefahren, mit dem Magnetzug war man ja in kürzester Zeit dort. Von dort aus war es dann nur noch ein kurzer Weg bis Prismania City, das sie aber trotzdem noch nie besucht hatte.

„Kanto ist wirklich schön, und Prismania hat einige tolle Grünanlagen.“ Alex erzählte ein bisschen von seiner Heimat und der Arena der Stadt, in der mit Pflanzenpokémon gekämpft wurde, und Lily berichtete, was sie von Dukatia City und vor allem dessen Arenaleiterin wusste.

„Wieso hast du eigentlich nicht schon gegen Bianka gekämpft, als du aus Kanto hergekommen bist?“, fragte sie, nun da sie wusste, dass er mit dem Magnetzug über Saffronia City gekommen war.

„Die Arena war kurzzeitig geschlossen, deshalb bin ich erst mal weiter nach Viola City gegangen. Hoffentlich hat sie jetzt wieder geöffnet.“

„Oh je, dann war sie wohl mal wieder aus, um sich zu amüsieren. Bianka ist bekannt dafür, öfter im Kaufhaus oder beim Pokéathlon zu sein als in ihrer Arena“, erklärte Lily.

„Warst du da eigentlich schon mal? Ich bin vor ein paar Jahren mal mit meinen Eltern hingefahren, aber nur zum Zuschauen.“

„Zugeschaut haben meine Schwester und ich ein paar Mal, aber teilgenommen nie. Eigentlich schade, es sah immer nach viel Spaß aus.“

„Dann lass uns doch nach meinem Arenakampf hingehen und mal mitmachen!“, schlug Alex vor.

Lily klatschte aufgeregt in die Hände. „Oh, das ist eine tolle Idee! Für Evoli wäre das sicher was, um überschüssige Energie loszuwerden.“

Für den Rest des Weges bastelten sie an verschiedenen Strategien für den Pokéathlon, bis ihre Wege sich am Stadttor trennten. Lily zeigte Alex den Weg ins Stadtinnere, wo das Pokémon Center lag, und versprach, ihn am nächsten Tag dort zu treffen und mit ihm zur Arena zu gehen. Für den Fall der Fälle tauschten sie Nummern aus, und dann verabschiedete sich Lily und wandte sich in Richtung Westen, wo ihr Haus lag. Von der südlichen Stadtgrenze aus waren es etwa dreißig Minuten Fußweg nordwestlich auf die Küste zu, und kurz vor Beginn ihres Viertels zog sie das Tempo an. Evoli, das seine Heimat erkannt hatte, rannte fast vorweg, während Lily ihm hinterher joggte, Endivie auf dem Arm tragend.

„Da bin ich wieder!“, rief sie glücklich, als sie vor ihrer Haustür stand, wo Rose schon auf sie wartete. Die beiden Schwestern umarmten sich überschwänglich.

„Gerade rechtzeitig zum Abendessen“, sagte Rose, die Lily natürlich im Voraus per PokéCom informiert hatte.

„Prima, ich hab dein Essen vermisst! Und dich auch! Wie findest du jetzt eigentlich mein Endivie, nachdem du es live betrachten konntest?“ Lily überschlug sich fast vor Freude, wieder zu Hause zu sein.

„Ich hab dich auch vermisst.“ Rose lächelte sanft. „Und dein Endivie ist wirklich ganz entzückend. Willst du es nicht mit Girafarig in den Garten lassen, ich bin sicher, das würde ihm gefallen.“

„Gute Idee!“ Lily tat, wie ihr geheißen, dann wusch sie sich die Hände und setzte sich an den Tisch, wo Rose schon mehrere ihrer Lieblingsspeisen aufgetragen hatte. Sie schaufelte sich ein Stück selbstgemachte Pizza und Kartoffelgratin auf den Teller, dann einen Nachschlag frittiertes Gemüse und schließlich zum Dessert Beerenmus. Wie immer schaute Psiana ihrer Fressorgie missbilligend zu.

„Hier hat sich wohl nichts geändert“, kommentierte Lily und tätschelte dem Pokémon ihrer Schwester den Kopf.

Rose lachte. „Du warst ja kaum eine Woche weg!“

„Es kommt mir aber viel länger vor. Jedenfalls habe ich eine ganze Menge erlebt und fühle mich um hundert Jahre gereift.“ Sie wurde ernst. „Ich denke, du kannst mir nun die Wahrheit über die Alph-Ruinen erzählen.“

Rose machte ebenfalls eine ernste Miene. „Du hast Recht. Und da gibt es wirklich einiges, das ich dir erzählen muss.“

Sie trank einen Schluck Wasser und räusperte sich, um zu einer langen Erklärung anzusetzen, als es an der Tür klingelte.

„Wer kann das sein?“ Verwundert blickten die Schwestern sich an, dann stand Rose auf und ging in den Flur.

Lily hörte, wie die Tür geöffnet wurde. Rose klang schockiert, als sie den Besucher beim Namen nannte.

„Aidan?!“

Enthüllungen

Lily glaubte, sich verhört zu haben. Dann schalt sie sich innerlich selbst für ihren dummen ersten Gedanken - es gab ja wohl nicht bloß einen Aidan auf der Welt. Da hatte ihr Wunschdenken sie wohl von der Realität abschweifen lassen. Nur weil sie ihn gern wiedersehen wollte – auch wenn sie in letzter Zeit eher mit Gedanken an ihre Mutter beschäftigt gewesen war -, würde er ja wohl kaum plötzlich vor ihrer Tür stehen.

Sie stand auf und ging in den Flur, um nach Rose zu sehen und um sich zu vergewissern, dass sie wirklich nur für einen Moment Blödsinn gedacht hatte. Doch im Flur traf sie fast der Schlag. Es war tatsächlich der Aidan, der sie am ersten Tag ihrer Reise gerettet hatte und für den die seitdem eine kleine Schwärmerei entwickelt hatte.

Von ihm und Rose unbemerkt lugte sie um die Ecke und versuchte herauszufinden, wieso er plötzlich bei ihr zu Hause auftauchte und vor allem, wieso Rose ihn kannte.

„Was machst du denn hier?“ Zwar konnte Lily ihr Gesicht nicht sehen, aber ihre Schwester klang immer noch völlig fassungslos.

„Was glaubst du denn? Ich bin hier, weil ich dich sehen wollte!“ Auch Aidan wirkte aufgebracht. Er fuhr sich durch die dunklen Haare und streckte dann die Arme aus, um nach Rose zu greifen, die sich ihm jedoch entzog. Stattdessen ging sie nach draußen und schloss die Tür hinter sich, sodass Lily nicht mehr verstehen konnte, was die beiden sagten. Nach kurzer Zeit kam sie wieder ins Haus, schloss die Tür und lehnte sich für einen Moment dagegen, als hätte sie der Akt unheimlich viel Kraft gekostet.

Lily huschte rasch zurück ins Wohnzimmer und setzte sich wieder auf ihren Stuhl. In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie fühlte sich schlecht, weil sie gelauscht hatte, und unheimlich verwirrt zugleich, hatte aber das Gefühl, sie sollte Rose gegenüber besser nicht erwähnen, dass sie Aidan ebenfalls kannte. Also fragte sie nur beiläufig: „Wer war denn das?“

„Nur ein Schatten der Vergangenheit.“ Rose ließ sich ebenfalls wieder auf ihrem Stuhl nieder und nahm einen großen Schluck Wasser. „Ein Fan von früher, der kein Nein verstehen konnte“, fügte sie hinzu und lächelte Lily an, aber diese wusste, dass ihre Schwester ihr etwas vorspielte. Sicher war Aidan nicht bloß ein Fan von ihr gewesen, und so gelassen, wie sie sich gab, war sie bestimmt auch nicht. Aber sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte, und während sie noch darüber nachdachte, begann Rose schon mit der Erklärung, zu der sie vor ihrer Unterbrechung angesetzt hatte.

„Es war vor etwa zwei Jahren, du erinnerst dich sicher? Ich habe gesagt, es hätte einen Unfall gegeben und Mum würde nicht mehr nach Hause kommen. Damals warst du ja noch nicht mal zehn und ich wollte dir einfach nicht die ganze Wahrheit zumuten. Was ich damals gesagt habe, stimmt natürlich, aber die Dinge sind ein bisschen anders, als du angenommen hast.“

„Ich habe angenommen, du wolltest nicht direkt sagen, dass sie... tot ist.“ Lily schluckte.

Für einen Moment spiegelte sich in Rose' tiefblauen Augen die gleiche Traurigkeit wieder, die Lily in diesem Moment – nein, schon seit damals immer irgendwie im Hintergrund- auch spürte. „Das solltest du auch annehmen. In Wahrheit ist es aber so, dass wir gar nicht genau wissen, ob sie tatsächlich tot ist.“

„Der Mann in den Alph-Ruinen hat was von spurlos verschwunden gesagt.“ War Girafarig, das Pokémon ihrer Mutter, deshalb dagegen gewesen, dass sie weitergingen?

„Natürlich war ich damals nicht dabei, aber die anderen Forscher haben etwas von einer starken psychischen Kraft und einer Explosion erzählt. Deshalb kann es gut sein, dass Mum... nicht überlebt hat, aber da nie irgendwelche... Überreste von ihr gefunden wurden, hat Tante Darcy die Theorie, dass diese psychische Energie sie an einen anderen Ort transportiert hat.“ Wie immer war Rose um Fassung bemüht, doch Lily konnte sehen, dass es ihr schwer fiel, über all dies zu sprechen.

„Tante Darcy aus Teak City?“ Lily hatte Mühe, alles aufzunehmen, was Rose ihr gerade erzählt hatte. Nicht nur geriet ihre Welt ins Wanken – schon wieder -, sie musste sich auch auf einmal mit einer Flut neuer Informationen arrangieren.

Rose nickte. „Genau. Sie und Mum haben ja zusammen in den Alph-Ruinen geforscht und von ihr habe ich all das erfahren. Lily, es tut mir Leid, dass ich dir das vorenthalten habe, aber du warst noch so jung und ich wollte dir keinen unnötigen Kummer bereiten, indem ich dir falsche Hoffnungen mache. Auch wenn Mum vielleicht nicht tot ist, gefunden haben wir sie noch nicht.“ Ihre Schwester blickte sie bittend an, sprach jedoch nicht weiter, um ihr Zeit zum Nachdenken zu geben.

„Hast du nach ihr gesucht?“ Das war die erste Frage, die Lily einfiel, als sie alles halbwegs verdaut hatte. Dass Rose ihr wichtige Informationen verschwiegen hatte, störte sie zwar, aber sie kannte sie gut genug, um zu wissen, wieso sie es getan hatte.

Rose schüttelte den Kopf. „Ich nicht, ich war ja hier mit dir. Aber Tante Darcy sucht seit damals nach ihr, nur leider bisher ohne Erfolg. Eigentlich habe ich dir die Reise zum Teil auch deshalb erlaubt, damit ich mich ebenfalls auf die Suche machen kann, ohne dass du es merkst. Der Plan ist jetzt wohl leider fehlgeschlagen...“

„Ich will mit dir gehen!“ Jetzt, wo sie wusste, wie die Dinge standen, wollte Lily sich ebenfalls nützlich machen – schließlich wollte sie ihre Mutter wieder haben. Auch wenn ihre Suche vielleicht erfolglos ausfallen sollte, wollte sie es wenigstens versuchen.

Doch Rose widersprach ihr. „Nein. Du gehst weiter auf deine Reise.“ Sie hob die Hand, um Lily zum Schweigen zu bringen, als diese protestieren wollte. „Wir haben eh kaum Anhaltspunkte, nicht einmal Tante Darcy, die sich mit der Materie auskennt und zudem noch dabei war, weiß genau, wo sie suchen soll. Und selbst wenn könnte es unter Umständen gefährlich werden. Ich will dich unter keinen Umständen auch noch verlieren, also wirst du schön deine Reise fortsetzen und dein junges Leben leben, haben wir uns verstanden?“

„Aber ich kann doch nicht einfach so tun, als wäre alles gut.“ Lily wollte sich nicht so einfach überzeugen lassen.

„Doch, das kannst du. Ich verlange nicht von dir, dass du alles vergisst oder dass du nicht traurig bist. Aber Mum würde sicher nicht wollen, dass du dich ihretwegen in Gefahr bringst. Sie würde wollen, dass du deine Pokémonreise genießen kannst, so wie die anderen Kinder in deinem Alter. Was glaubst du, wieso ihr Girafarig dich nicht in die Ruine lassen wollte? Verlass dich auf Tante Darcy und mich; wenn es irgendeine Chance gibt, sie wiederzufinden, dann werden wir das auch schaffen.“ Rose legte ihre Hand auf Lilys und lächelte sie aufmunternd an.

Diese war immer noch nicht ganz überzeugt, seufzte dann jedoch ergeben. Dem Argument, ihre Mutter hätte es so gewollt, konnte sie sich nicht entziehen. „Du hältst mich aber auf dem Laufenden, ja? Und begibst dich auch nicht in Gefahr.“

„Natürlich.“ Rose drückte ihre Hand kurz, dann stand sie auf und begann, das Geschirr aufzuräumen. Lily half ihr dabei, und während sie ungewöhnlich still den Abwasch erledigten, hing jede ihren eigenen Gedanken nach.

Nachdem sie auch ihre Pokémon gefüttert hatten, setzten sie sich im Wohnzimmer vor dem Fernseher, wo eine Lehrsendung mit Professor Eich lief, doch Lily achtete kaum darauf, was er erzählte. Während sie geistesabwesend ihr Evoli streichelte – Endivie hatte es sich unter einer großen Topfpflanze bequem gemacht -, warf sie ab und zu einen Blick zu Rose, die vorgab, fernzusehen. Ob es in ihrem Kopf auch so wirr aussah wie in Lilys? Sie hatte zwar die Details schon die ganze Zeit gekannt, aber es musste schwer für sie gewesen sein, sie vor Lily geheimzuhalten. Andererseits hatte sie wegen Aidan ebenfalls gelogen, auch wenn Lily sich nicht ausmalen konnte, welchen Grund sie dafür haben könnte. Wieso hatte er vorhin plötzlich vor ihrer Tür gestanden? Darauf konnte sie sich einfach keinen Reim machen.

Auch als sie später den Fernseher ausschalteten und schlafen gingen, fand Lily trotz des Komforts ihres eigenen Bettes einfach keine Ruhe und grübelte bis nach Mitternacht über die Zusammenhänge all dieser Ereignisse nach.

Harte Kämpfe und zarte Blumen

Lily erwachte vom Geruch frischer Pancakes, der durchs Haus bis in ihr Zimmer zog. Genüsslich drehte sie sich noch einmal in ihrem Bett um, das so viel gemütlicher war als die Betten im Pokémon Center, und stand dann auf, um die Vorhänge ihres Zimmers zurückzuziehen. Als sie durch das Fenster nach draußen blickte, breitete sich vor ihren Augen die vertraute Szenerie der Heimat aus. Noch einmal atmete sie durch, bevor sie im Schlafanzug nach unten in die Küche ging, wo Rose emsig werkelte.

„Guten Morgen“, wünschte sie ihrer Schwester, als sie eintrat. Wie immer war sie schon fertig angezogen und zurechtgemacht, an diesem Tag trug sie ihre langen violetten Haare in einem aufwändigen Zopf.

„Guten Morgen, Lily. Ausgeschlafen?“ Rose strahlte sie an, auch wenn ihre Fröhlichkeit leicht gezwungen wirkte – zumindest für jemanden, der sie so gut kannte wie Lily. „Ich dachte mir, dass du sicher länger schlafen wirst, deshalb gibt es heute einen Brunch. Evoli hat zumindest die Pancakes schon für gut befunden.“ Tatsächlich lauerte das Normalpokémon zu Rose' Füßen auf „Kostproben“, was von Psiana mit missbilligenden Blicken quittiert wurde.

Lily warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass es schon nach elf war. Um zwei Uhr war sie mit Alex in der Innenstadt verabredet.

„Das trifft sich gut, nachmittags muss ich nämlich in die Innenstadt,“ sagte sie und schaufelte sich Rührei und Schinken auf den Teller.

Rose stellte die Schüssel mit den Pancakes ebenfalls auf den Tisch und setzte sich. „Hast du etwas bestimmtes vor?“, erkundigte sie sich, während sie ihren Teller mit Obstsalat füllte.

„Ähm, na ja...“ Lily stocherte in ihrem Rührei herum. Jetzt wäre wohl der passende Zeitpunkt, ihrer Schwester zu beichten, dass sie nicht alleine reiste, aber sie wusste nicht, wie diese reagieren würde. „Ich hab so eine Art, hm, Reisebegleitung, jemand in meinem Alter – das war nicht meine Idee, Endivie hat sozusagen Gefallen an seinem Bisasam gefallen und deshalb sind wir ein Stück zusammen gereist...“ Sie sah zu ihrem Pokémon, als könnte dieses ihr Rückendeckung geben.

„Verstehe. Und heute willst du ihm die Stadt zeigen?“ Rose reagierte gelassener, als Lily es erwartet hatte.

„Vor allem die Arena“, antwortete Lily, immer noch auf die große Standpauke wartend.

„Ein Trainer also. Hauptsache, du bist bis zum Abendessen wieder hier.“ Rose nickte ihr zu und widmete sich dann wieder ihrem Obstsalat und der Morgenzeitung.

Zwar war Lily etwas verwundert, dass sie so glimpflich davongekommen war, aber beschweren würde sie sich nicht. Stattdessen genoss sie ihr Rührei mit Schinken und tat sich danach zwei Pancakes auf, von denen sie einen beinahe komplett an Evoli verfütterte, und eine große Schale Obstsalat, die sie mit Endivie teilte. Girafarig hatte Rose schon gefüttert, aber Lily ließ es sich trotzdem nicht nehmen, dem treuen Pokémon ihrer Mutter einen kleinen Leckerbissen nach draußen zu bringen. Dann war es auch schon an der Zeit, sich fertig zu machen.

Da ihr Reiseoutfit in der Wäsche war, zog Lily stattdessen ein sommerliches weißes Kleid mit rosa Blüten an und ließ ihre lockigen Haare offen. Beim Verlassen des Hauses schlüpfte sie in weiße Ballerinas und verzichtete auf ihre Mütze. „Bis nachher dann“, rief sie Rose zu, die ihr hinterwinkte. Evoli ließ sie ausnahmsweise daheim, damit es ein bisschen in seinem vertrauten Zuhause spielen konnte, bevor sie wieder abreisten, aber Endivie nahm sie mit, da Alex ja Bisasam in dem Kampf einsetzen wollte.

Sie nahm den Bus ins Stadtzentrum, der praktischerweise auch vor dem Pokémon Center hielt, und ging hinein. Sie war etwas zu früh, aber Alex saß schon in der Lobby und goss die Beerenpflanzen in seinem portablen Gewächshaus.

„Du hast einen grünen Daumen, oder?“, meinte sie und setzte sich ihm gegenüber in einen Sessel.

„Und du schleichst dich gern an Leute an, oder?“, erwiderte der Junge etwas grummelig, schenkte ihr dann aber wieder eine kleine Flasche frischen Beerensaft. „Damit werden unsere Pokémon im Pokéathlon wesentlich besser abschneiden.“

Auf der Fahrt hatte Lily sich überlegt, dass sie gern so schnell wie möglich nach Teak City gelangen wollte, aber Alex schien sich so auf die Teilnahme zu freuen, dass Lily einfach nicht darum bitten konnte, ohne Umwege weiterzureisen. Vielleicht hatte Rose ja wirklich Recht und Ablenkung täte ihr gut, und sie wollte ihn als Freund auch nicht enttäuschen.

Die beiden Kinder verließen das Pokémon Center und schlugen den Weg nach Osten und dann nach Norden durch gewaltige Hochhäuser ein, bis sie nach einiger Zeit die Arena erreichten. Bevor sie eintraten, warnte Lily Alex noch vor Biankas Miltank. „Denk dran, dass es schwer zu schlagen sein wird, wenn es einmal mit Walzer angefangen hat.“ Sie hatte einmal vor ein paar Jahren bei einem Kampf zugesehen, als sie noch zur Trainerschule gegangen war, und natürlich war Arenageschehen auch eine Art Stadtgespräch.

„Keine Sorge, ich hab da schon eine Idee.“ Alex grinste selbstbewusst und meldete sich dann für seinen Kampf an. „Oh Mann, hier sieht's ja aus wie in 'ner Bonbonschachtel“, raunte er Lily noch zu, bevor diese sich auf die Tribüne setzte. Die Schiedsrichterin erklärte, dass beide jeweils zwei Pokémon einsetzen durften, dann gab sie das Signal zum Kampfbeginn.

Bianka schickte ein Piepi in den Kampf und Alex ein Jugong. Bevor Piepi überhaupt mit Metronom starten konnte, hatte Jugong schon einen Aurorastrahl abgefeuert, der bei einem Wettbewerb sicher eine hohe Punktzahl gebracht hätte. Verängstigt flüchtete das rosafarbene Pokémon der Arenaleiterin aus dem Ring, womit Alex zum Sieger der ersten Runde erklärt wurde. Doch mit Miltank, das Bianka nun in den Kampf schickte, wurde es schwer, das wusste Lily.

Als das Kuhpokémon Walzer einsetzte und begann, sich durch die Arena zu drehen, grinste Alex und befahl seinem Jugong, Eissturm einzusetzen. Binnen kurzer Zeit war der Boden der Arena überfroren und Miltank, das Jugong deshalb mit seinem Walzer nicht treffen konnte, schlitterte haltlos über den Boden. Nun verstand Lily auch, wieso er dieses Pokémon eingesetzt hatte und nicht das typenmäßig überlegene Riolu. Mit einem weiteren Eissturm sorgte Jugong dafür, dass Miltanks Geschwindigkeit sich verringerte, bevor Alex es zurückrief und Bisasam in den Kampf schickte.

Wieder wunderte Lily sich über seine Wahl, da das Pflanzenpokémon auf dem glatten Boden ebenfalls nicht sehr gut kämpfen konnte, doch auch dieses Mal schien Alex einen Plan zu verfolgen. Bisasam ergriff das so verlangsamte Miltank mit seinen Ranken, sodass es nicht weiterrollen konnte, und gab dem desorientierten Pokémon dann mit Samenbomben, die es konstant auf seinen Gegner abfeuerte, den Rest.

Bianka schien den Tränen nahe, als sie ihr Miltank zurückzog, riss sich aber zusammen und überreichte Alex seinen Basisorden. Bisasam gab seinem Trainer und Endivie mit seiner Ranke High-Five, bevor sie die Arena verließen.

„Deine Technik mit dem Eis war ziemlich gut. Ich wusste nicht mal, dass du ein Jugong hast“, kommentierte Lily beeindruckt.

Alex fuhr sich etwas verlegen durch die dunklen Haare. „Danke. Jetzt hast du alle fünf Pokémon gesehen, die ich mit nach Johto genommen habe, zwei andere sind zu Hause bei meinen Eltern. Ich wollte nicht eins allein zurücklassen, und eigentlich hatte ich gehofft, mir bald noch ein neues Teammitglied fangen zu können“, erklärte Alex. „Sag mal, macht es dir was aus, wenn wir noch kurz beim Blumenladen vorbeischauen? Laut Stadtplan ist es nicht weit.“

„Nein, ist es auch nicht.“ Lily führte Alex gern zu seinem Zielort, auch wenn sie sich ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte. Während der Junge sorgfältig Samen und Dünger auswählte, vertrieb Lily sich vor den Zierpflanzen die Zeit. Als ihr Blick auf eine perfekte Rose fiel, musste sie wieder an die Enthüllungen vom Vortag denken und daran, was ihre Schwester alles getan hatte, um ihr das Leben so sorgenfrei wie möglich zu gestalten.

„Ich bin fertig, wir können los. Hier, für dich.“ Als wäre nichts weiter dabei, hielt Alex ihr eine einzelne Lilie unter die Nase. „Nur ein kleines Dankeschön fürs Rumführen und so.“ Dann schien er allerdings doch etwas peinlich berührt ob seiner eigenen Geste und inspizierte geschäftig den Inhalt seines Einkaufsbeutels.

„Danke!“ Gerührt betrachtete Lily die Blume. Wenn sie so darüber nachdachte, hatte sich aus dem Zufall, der sie zusammengeführt hatte – und ihren beiden Pflanzenpokémon -, in relativ kurzer Zeit eine Art Freundschaft entwickelt. Und wenn sie an den letzten Wettbewerb zurückdachte, war sie eigentlich diejenige, die sich bedanken musste. „Hey, hast du nicht Lust, zum Abendessen zu mir nach Hause zu kommen?“, fragte sie deshalb spontan.

Alex schien erfreut. „Gerne! Ich sage nicht nein zu einer Abwechslung vom Kantinenessen.“

Nachdem Lily daheim angerufen und den Gast angekündigt hatte, stiegen sie zusammen in den Bus in Richtung südwestlicher Stadtrand und liefen von der Haltestelle aus das kleine Stück zu Lilys Haus.

„Hier sieht es weniger nach Großstadt aus“, bemerkte Alex. „Na ja, meine Familie wohnt auch eher am Stadtrand von Prismania City. Im Grünen ist es doch am schönsten.“

Rose begrüßte Alex freundlich und bedankte sich bei ihm dafür, dass er Lily Gesellschaft leistete. Während sie noch einmal kurz in der Küche verschwand, führte Lily ihren Besucher noch kurz durch den Garten, bis Rose an den gedeckten Terrassentisch rief, auf dem sie Lilys Blume in der Mitte platziert hatte.

„Und du sammelst die Johto-Orden, ja?“, erkundigte sich Rose, als sie Alex eine Schüssel mit Nudelsalat reichte.

„Genau. Eigentlich komme ich aus Kanto und habe die Orden von dort schon, aber dieses Jahr wollte ich gern durch Johto reisen und trainieren“, antwortete dieser und tat sich Salat auf den Teller.

„Heute hat er Bianka in der Arena geschlagen – das hättest du sehen müssen!“ Lily berichtete von dem Kampf, dessen Zeugin sie geworden war, und wie Alex das rollende Miltank gestoppt hatte.

„Ach, na ja, du hast mir ja vorher erzählt, worauf ich mich gefasst machen muss, da konnte ich mir vorher eine Strategie zurechtlegen.“ Er kratzte sich etwas verlegen am Kopf.

„Eine Strategie zu haben, ist immer gut“, lobte Rose.

Als die letzte Reiseanekdote erzählt und der letzte Rest Miltank-Quark verputzt war, machte Alex sich wieder auf den Weg ins Pokémon Center, jedoch nicht ohne von den Schwestern zur Bushaltestelle begleitet zu werden. Nachdem für den nächsten Tag ein Besuch beim Pokéathlon verabredet und der Bus um die Ecke gefahren war, sodass auch Endivie das Winken mit seinen Ranken aufgab, hakte Lily sich bei Rose ein und sie gingen zurück ins Haus.

„Netter Junge“, kommentierte Rose und zwinkerte Lily zu.

„Er ist ein guter Trainer, und Endivie scheint sein Bisasam zu mögen“, antwortete diese etwas ausweichend.

„So, so.“ Rose schien ihr nicht ganz zu glauben, doch das störte sie nicht. Es war ihr sogar ganz recht, um ihre wahren Gedanken zu verbergen, von denen immer noch viel zu viele um Aidan kreisten.

Bevor Lily an diesem Abend schlafen ging, sog sie den Duft der Lilie ein, die Alex ihr geschenkt hatte. Es war ein schönes Gefühl, Freunde zu haben.

Pokéathlon

An diesem Morgen stand Lily außergewöhnlich früh auf, und in der Morgensonne schien die Lilie auf ihrem Fensterbrett rosa getönt. Noch im Schlafanzug verstaute Lily ihre Trainingshose, ein einfaches Shirt und eine Sweatjacke in ihrem Rucksack und ging dann leise nach unten, um ihre Turnschuhe aus dem Schuhschrank im Eingangsbereich zu holen. Danach machte sie in der Küche einige Sandwiches fertig und packte sie zusammen mit Obststücken, Pokémonfutter und einer großen Flasche Wasser ebenfalls ein.

Rose kam ihr auf dem Flur entgegen, als Lily mit ihrer Kleidung unter dem Arm ins Bad gehen wollte. „Guten Morgen, Lily, du bist aber früh auf! Ach ja, ihr wollt ja heute zum Pokéathlon gehen, richtig?“

„Morgen! Ja, das war der Plan...“ Sie verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen.

Rose zog eine Augenbraue hoch. „Aber?“

„Na ja, ich weiß einfach nicht, ob es richtig ist, sich zu amüsieren, wenn...“ Auf jeden Fall hatte es sich den ganzen Morgen über nicht richtig für sie angefühlt, wenn sie daran dachte, dass ihre Mutter vielleicht irgendwo in Gefahr oder sogar tot war.

Rose kam einen Schritt auf sie zu und legte ihre Hände auf Lilys Schultern. „Zu Hause zu sitzen und Trübsal zu blasen bringt Mum nicht zurück. Dass ich dich bei der Suche nicht dabei haben will, haben wir schon besprochen, richtig? Du hast jetzt vor allem deiner Verantwortung gegenüber deinen Pokémon nachzukommen, die von dir trainiert, gepflegt und unterhalten werden wollen. Außerdem hast du es deinem Freund Alex versprochen, und ich finde es wichtig, dass du auch mal etwas mit Freunden unternimmst. Also, du gehst heute zum Pokéathlon und amüsierst dich, alles klar?“

Lily seufzte. „Du hast ja Recht.“ Sie bemühte sich, ein heiteres Gesicht aufzusetzen, und Rose nickte zufrieden.

Im Bad wusch Lily sich, band ihre langen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und zog sich an, bevor sie wieder nach unten ging, wo Rose schon die Pokémon fütterte.

„Vergiss nicht, dich ordentlich einzucremen“, kommentierte Rose mit Blick auf Lilys Shorts und T-Shirt, und reichte ihr eine Tube mit Sonnencreme. Während Lily sich damit einschmierte - „Ohren nicht vergessen!“ -, schnippelte Rose ihr einen Teller voll mit nahrhaften Beeren und holte schon mal die Kuhmuh-Milch aus dem Kühlschrank.

„Danke!“ Mit noch leicht klebrigen Händen goss Lily die Milch über ihr Müsli und machte sich dann darüber her, wobei sie zwischendurch ab und zu ein Stück Obst mit der Gabel aufspießte.

„Hast du schon deine Sportsachen eingepackt?“, fragte Rose nach, während sie sich eine Scheibe Toast mit Marmelade bestrich.

Lily kaute und schluckte ihren vorletzten Bissen Müsli. „Sportsachen, Essen für mich und die Pokémon, Wasser... alles andere ist ja eh noch in meinem Rucksack.“ Sie nahm den letzten Bissen zu sich und stand auf. „Ich muss mich beeilen, um sieben treffe ich Alex vor dem Pokémon Center, damit wir rechtzeitig an den Hallen sind.“

„Dann solltest du dich tatsächlich langsam auf den Weg machen“, kommentierte Rose mit Blick auf die Uhr, welche viertel nach sechs anzeigte. Mit dem Bus brauchte man etwa eine halbe Stunde von ihrem Haus bis ins Stadtzentrum, und der nächste würde in zehn Minuten abfahren.

Hastig sammelte Lily ihr Evoli ein, das schon wieder durchs Haus tobte, und Endivie, welches sich hinter dem Haus die Morgensonne auf den Bauch scheinen ließ, schulterte dann ihren Rucksack und spurtete die hundert Meter zur Bushaltestelle, wo wenig später auch schon der Bus um die Ecke bog.

Vor dem Pokémon Center sah sie Alex schon an der Haltestelle stehen. Sie sprang aus dem haltenden Bus und lief auf ihn zu. „Entschuldige, hast du gewartet?“

„Nein, ich wollte nur nicht, dass du wieder reinkommst und mich erschreckst.“ Er grinste.

Während sie auf den Bus warteten, der sie zu den Pokéathlon-Hallen bringen sollten, verteilte Alex noch eine Portion Beerensaft an Evoli und Endivie, die sich über die Leckerei zu freuen schienen.

„Ich habe mir überlegt, dass wir uns wohl am besten für den Technik-Parcours anmelden“, meinte Alex, als sie im Bus saßen. Lily hatte ihm den Fensterplatz überlassen und saß selbst mit Evoli auf dem Schoß am Gang, während Endivie mit Bisasam den Sitz gegenüber beanspruchte. „Die Schneeschlacht wird unseren beiden Pflanzenpokémon zwar vielleicht etwas zu kalt sein, aber mit ihren Ranken haben sie gute Chancen, denke ich. Deinem Evoli macht es sicher auch Spaß, und beim Torschießen und Flaggenschnappen kann es sich mal so richtig austoben.“

„Das klingt super.“ Zwar fühlte es sich immer noch nicht ganz richtig an, sich zu amüsieren, aber sie musste zugeben, dass sie sich auf den Tag freute und hoffte, eine schöne Zeit mit Alex und den Pokémon zu verbringen.

Sie waren kurz nach halb acht an den Hallen und registrierten sich mit einem einfachen Formular, woraufhin sie auch schon in den Teilnehmerbereich gelassen wurden. Dort ließ Lily ihre beiden Pokémon kurz bei Alex, um in der Damenumkleide ihre Sportsachen anzuziehen, und löste ihn dann ab, damit er ebenfalls seine Kleidung wechseln konnte. Wenig später kam auch schon der Aufruf, sich in der Halle für die Schneeschlacht einzufinden, die mitten im Sommer natürlich nicht draußen abgehalten werden konnte und deshalb auf Kunstschnee angewiesen war. Als sie in die Halle traten, schlug ihnen auch sofort eine Welle kalter Luft entgegen, und Lily war froh, ihre Shorts gegen lange Trainingshosen eingetauscht zu haben. Sowohl Endivie als auch Bisasam rümpften etwas die Nasen, als sie mit dem kalten Untergrund in Berührung kamen, während Evoli sofort begann, im „Schnee“ herumzutollen.

Nach einer kurzen Vorstellung der Teilnehmer und der Erklärung der Spielregeln wurde um Punkt acht Uhr der Beginn des ersten Spiels eingeläutet. Die beiden Pflanzenpokémon warfen nun mit ihren Ranken Schneebälle auf die gegnerischen Teams, während Evoli vor ihnen auf und ab lief und ankommende Bälle mit seinem Schwanz entweder zurückschleuderte oder zerschmetterte. Auf diese Weise landeten sie viele Treffer, steckten selbst aber wenige ein, und landeten am Ende auf dem zweiten Platz knapp hinter einem Team von Eispokémon, welches sich offensichtlich in seinem Element befand.

„Gut gemacht!“, lobte Lily ihr Team, als sie vom Spielfeld kamen. Während Evoli weiterhin fröhlich herumtobte, drängten Endivie und Bisasam darauf, den kalten Ort rasch zu verlassen und atmeten auf, als sie wieder draußen im Sonnenlicht waren.

„Das war doch ziemlich gut für den Anfang“, meinte auch Alex, als sie zur Halle für den nächsten Teil, dem Torschießen, gingen.

Bei diesem Spiel hatte jedes der vier Teams sein eigenes Tor, das es zu beschützen galt, während man gleichzeitig Bälle in die Tore der Gegner befördern musste. Sie hatten vorab schon besprochen, dass Bisasam die Rolle als Torwart zukommen sollte, was Endivie und Evoli die Aufgabe überließ, Punkte zu machen.

Während des Spiels mussten sie jedoch relativ schnell feststellen, dass das Keifel aus dem vorher schon siegreichen Eisteam sein Tor so gut ausfüllte, dass kaum ein Ball hinein zu bekommen war, sodass sie trotz Bisasams guter Leistungen letztendlich nur auf einem dritten Platz landeten.

„Macht euch nichts draus, manchmal haben andere eben die besseren Voraussetzungen“, tröstete Lily die drei Pokémon, die etwas enttäuscht vom Spielfeld trotteten.

„Genau, beim nächsten Spiel werden wir vorne liegen!“, warf Alex ein.

Das nächste und letzte Spiel war das Flaggenschnappen, welches an einem künstlichen Strand abgehalten wurde. In dieser Halle fühlten Bisasam und Endivie sich auf Anhieb wohl – Evoli mochte sowieso jeden Ort, an dem es etwas zum Spielen finden konnte – und hatten einen klaren Vorteil gegenüber den Eispokémon, die hier sichtlich ins Schwitzen gerieten.

Als der Beginn des Spiels eingeläutet wurde, wurden die Vorzüge kleiner, flinker Pokémon rasch deutlich. Nicht nur konnten Endivie und Bisasam hier wieder ihre Ranken einsetzen, sie fädelten sich genau wie Evoli auch leicht um die Hindernisse und waren mit den Flaggen der Gegner verschwunden, bevor diese überhaupt etwas merkten. Alex nahm gerade Bisasam am Ausgang die Flaggen ab, die es nicht mehr tragen konnte, als Evoli in einem geschickten Manöver um einen Felsen kreiste, sich unter einem Sonnenschirm hindurch duckte und einem Rattikarl im Sprung seine Flaggen abnahm, als die Zeit ablief. Bei der anschließenden Zählung der Flaggen hatte das Team um Lily deutlich am meisten gesammelt und sich somit den ersten Platz gesichert.

Gemeinsam verließen sie die Halle und warteten im Foyer auf die Verkündung des Gesamtsiegers. Nach wenigen Minuten erschien ein Angestellter des Pokéathlons und gab die Ergebnisse bekannt – sie hatten den zweiten Platz gemacht.

Evoli sprang glücklich in die Arme seiner Trainerin, welche ihre freie Hand nutzte, um mit Alex einzuschlagen. Endivie und Bisasam taten es ihnen mit ihren Ranken gleich.

„Das war wirklich ziemlich gut für unsere erste Teilnahme.“ Lily hüpfte aufgekratzt mit Evoli um die Wette.

Alex grinste. „Finde ich auch. Und jetzt wäre ich ganz dringend dafür, uns irgendwo in den Schatten zu setzen und etwas zu essen.“

Sie zogen sich an einem Automaten jeweils eine Flasche mit kaltem Tee – Lilys Wasser hatten sie zwischen den Wettbewerben schon ausgetrunken – und beschlossen dann, sich in den nahen Nationalpark zu setzen, um ihre Lunchpakete zu vertilgen.

Es war inzwischen fast Mittag und schon fast unerträglich heiß geworden. Sie ließen sich auf einer Bank im Schatten nieder und Lily verteilte die Sandwiches, Beeren und Pokémon-Snacks.

Nach einem gemeinsam geäußerten „Guten Appetit!“ ließen sie es schmecken, wobei die beiden Kinder zwischen den Bissen das Turnier besprachen.

„Vielleicht kann ich etwas davon in meinen nächsten Wettbewerb einbauen“, überlegte Lily, bevor sie wieder von ihrem Sandwich abbiss.

Alex schluckte ein Stück Beere hinunter, bevor er antwortete. „Wieso nicht? Alles, was wir mit unseren Pokémon machen, ist eine Art von Training, die sich irgendwo bezahlt macht. Zumindest ist dein Evoli heute mal ausgelastet.“ Er nickte in Richtung des braunen Pokémons, welches sich zusammengerollt hatte und döste.

Lily lachte. „Das passiert nicht oft!“ Sie blickte das kleine Fellknäuel liebevoll an. „Ja, es war gut, heute hierher zu kommen“, murmelte sie leise.

„Hast du was gesagt?“, erkundigte Alex sich.

„Nein, nichts“, sagte Lily und lächelte.

Im Wald mit lauter Bäumen

„Hast du auch nichts vergessen?“, fragte Rose, als Lily am Morgen das Haus verließ.

„Ich glaube nicht, schließlich haben wir zusammen dreimal nachgesehen“, antwortete sie.

Rose wuschelte ihr über den Kopf. „Dann bist du ja jetzt bereit, dich wieder auf die Reise zu machen. Soll ich schon mal bei Tante Darcy anrufen und ihr Bescheid sagen, dass du abends bei ihr sein wirst?“

„Danke, aber ich werde wohl erst mal im Pokémon Center übernachten und sie morgen besuchen.“ Der Bus kam um die Ecke gefahren, und die Schwestern umarmten sich zum Abschied. „Ich werde dich vermissen.“ Lily hätte schwören können, in Rose' Augen Tränen glitzern zu sehen. Dabei gab sie sich selbst doch solche Mühe, stark zu sein. Nach ein paar Tagen daheim fiel es ihr umso schwerer, wieder aufzubrechen. Doch so sehr sie ihr Zuhause auch liebte, wollte sie doch noch viel mehr von der Welt sehen, und vor allem wollte sie Antworten, die sie in Teak City hoffentlich bekommen würde.

Sie stieg in den Bus und winkte mit dem rechten Arm. Auf dem linken hielt sie Evoli, welches aus Mangel an Armen mit wem Schwanz wedelte. Endivie hielt sich zurück, aber Lily hatte nicht damit gerechnet, dass es in der kurzen Zeit große Gefühle für ihr Zuhause entwickeln würde. Vermutlich freute es sich eher daraus, Bisasam wiederzusehen.

Dieses wartete schon mit seinem Trainer in der Lobby das Pokémon Centers, als Lily dort ankam. Ausnahmsweise war Alex mal nicht mit seinen Pflanzen beschäftigt, sondern las in einem Reiseführer über Johto. Als Lily ihn begrüßte, blickte er auf und lächelte. „Guten Morgen. Ich wollte schon mal ein paar Sehenswürdigkeiten in Teak City aussuchen, die ich mir auf jeden Fall anschauen muss.“

„Zeig mal her.“ Sie ließ sich in den Sitz neben ihn fallen und warf ebenfalls einen Blick in das Büchlein, das gerade bei der Beschreibung des Tanztheaters aufgeschlagen war. „Wusstest du, dass meine Großmutter ein Kimono-Girl war?“

Alex blickte sie überrascht an. „Nein, woher? Das ist aber ziemlich cool, dann musst du dich ja auskennen, oder?“

„Nicht wirklich. Ich erzähle dir aber gern alles, was ich weiß, im Bus.“ Sie erhoben sich und gingen zur Bushaltestelle, um wie zuvor auch den Bus in Richtung Nationalpark zu nehmen. Von dort aus würden sie über Route 36 und 37 zu Fuß weiter gehen.

„Also“, begann Lily, als sie im Bus saßen. Sie hatten einen Viererplatz ergattert und saßen beide jeweils am Gang, Lily in Fahrtrichtung, Alex rückwärts, sodass sie über ihre Pokémon hinweg aus aus dem Fenster sehen konnten. Etwas wehmütig betrachtete Lily die Hochhäuser von Dukatia City, die sie rasch hinter sich ließen, als der Nationalpark näher kam. „Meine Großmutter war, wie gesagt, früher ein Kimono-Girl. Mit ungefähr 20 hat sie dann aber das Tanztheater verlassen, um zu heiraten, und dann meine Tante und meine Mutter bekommen. Mein Großvater ist schon vor einigen Jahren gestorben, aber meine Großmutter lebt noch mit meiner Tante in Teak City.“

Alex musterte sie eingehend. „Vielleicht sollte ich das lieber nicht fragen, aber... wo ist denn deine Mutter?“

Lily streichelte Evoli, welches auf ihrem Schoß saß, und blickte aus dem Fenster auf die Randsiedlung ihrer Heimatstadt. „Ehrlich gesagt, wissen wir das nicht. Ich dachte bis letzte Woche, dass sie tot wäre, aber nun habe ich erfahren, dass sie in den Alph-Ruinen bei ihrer Forschungsarbeit verschwunden ist.“

Auf Alex' Gesicht spiegelte sich echtes Mitgefühl. „Das tut mir Leid. Ich hoffe wirklich für dich, dass ihr sie bald gesund wiederbekommt.“

„Danke.“ Lily rang sich ein Lächeln ab.

Den Rest der Fahrt verbrachten sie schweigend, bis der Bus sie vor dem Nationalpark absetzte. Dort beschlossen sie, nicht über Route 35 zu laufen, sondern durch den Park zu gehen. Lilys Stimmung besserte sich erheblich, als ein wildes Smettbo nur wenige Meter an ihren vorbei flog und dabei glitzernden Staub in der Luft hinterließ, den Evoli zu erhaschen versuchte. Als es danach aussah, als hätte es einen Kampf mit Lametta hinter sich, konnten die Kinder sich das Lachen einfach nicht verkneifen. Glücklicherweise war Evoli nicht nur verspielt, sondern auch gutmütig und nahm es ihnen nicht übel.

„Johto ist wirklich schön“, meinte Alex, der neben sein Bisasam getreten war und genau wie das Pflanzenpokémon eine seltene Blumenart in einem Beet betrachtete. „In Kanto ist die Erde nicht besonders fruchtbar, deshalb ist es auch schwer, Beeren und so anzupflanzen.“

„Bist du deshalb hergekommen?“, neckte Lily ihn.

„Unter anderem.“ Er grinste.

Sie verließen den Nationalpark in östliche Richtung und gingen ein gutes Stück im Schatten der Bäume, bis sie an eine Gabelung kamen. Bevor sie weiter nach Norden und somit nach Teak City gingen, beschlossen sie, eine Pause einzulegen, und ließen sich auf einem Baumstamm nieder.

„Ich gebe dir ein vegetarisches Reisbällchen gegen eins deiner Eiersandwiches“, schlug Alex vor.

„Abgemacht.“ Der Tausch war besiegelt und ermöglichte beiden mehr Vielfalt beim Mittagessen.

Während des Essens begannen die Pokémon plötzlich, unruhig zu werden. „Was ist denn los?“, fragte Alex verwundert.

„Vielleicht wollen sie einen Nachschlag, heute haben sie ja unheimlich schnell alles aufgegessen.“ Erstaunt blickte Lily auf die leeren Näpfe, zuckte dann aber mit den Schultern und füllte Futter nach. Als sie sich wieder gesetzt hatte, traf sie etwas am Hinterkopf. „Autsch!“ Sie blickte nach oben, konnte aber nichts entdecken. „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, jemand hat mit Steinchen nach mir geworfen.“

„Merkwürdig.“ Auch Alex blickte sich um. „Und das hier auch: So schnell können unsere Pokémon doch niemals gegessen haben.“ Tatsächlich waren die Futterschüsseln schon wieder leer.

Lily stand auf und ging zu ihren Pokémon. „Nicht einmal Evoli kann solche Mengen in der kurzen Zeit verdrücken.“ Als sie das kleine Wesen prüfend musterte, sprang es plötzlich auf und rammte seinen Kopf gegen einen nahestehenden Baum. Der schien jedoch härter zu sein als andere, die Evoli gewohnt war, denn es taumelte zurück und verzog das Gesicht. Lily eilte an seine Seite und nahm es tröstend in den Arm.

Alex runzelte die Stirn. „Bilde ich mir das ein, oder hat der Baum gerade getreten?“

„Ich glaube, Evoli hat es einfach nur mit der Kopfnuss übertrieben. Bäume treten doch nicht. Es sei denn...“

„Es sei denn, es handelt sich um einen speziellen Baum.“ Der Junge zuckte seinen PokéDex und hielt ihn auf die Baumgruppe.

„Mogelbaum. Das Imitations-Pokémon versteckt sich in Wäldern, um nicht gefangen zu werden“, ertönte die blecherne Stimme des Geräts.

„Das erklärt natürlich alles.“ Lily beobachtete, wie Alex in seinem Rucksack nach einem Pokéball kramte und dann Bisasam gegen Mogelbaum in den Kampf schickte. Offenbar hatte er vor, das Pokémon zu fangen. „Bisasam, setz Rasierblatt ein!“

Das Pflanzenpokémon gehorchte aufs Wort und schickte eine Ladung scharfer Blätter auf den Gegner. Dieser wurde getroffen, reagierte aber gleich mit einer Steinwurf-Attacke. Dann flüchtete es in den Wald und tarnte sich in einer Reihe Bäume. Alex grinste nur und folgte ihm mit Bisasam, Lily und ihre Pokémon auf dem Fuße.

„Wie willst du es denn jetzt wiederfinden?“, flüsterte Lily.

„Sieh zu und lerne.“ Alex nahm seine Wasserflasche und spritze etwas daraus auf die Baumreihe vor ihnen. Augenblicke später zuckte einer der „Bäume“ und wollte weglaufen, doch Bisasams Rankenhieb hielt ihn an Ort und Stelle. Noch ein Rasierblatt-Angriff und Mogelbaum war so weit geschwächt, dass der Junge versuchsweise den Pokéball warf. Es wackelte ein paar Mal, doch dann erlosch das Licht am Knopf und der Ball lag still. Alex hatte ein neues Mitglied im Team.

„Wow, Glückwunsch!“, gratulierte Lily.

„Danke! Ich glaube, ich lasse es aber erst später raus, lass uns jetzt erst mal unsere Pokémon in Ruhe füttern.“

Sie kamen nun endlich dazu, ihre Mittagspause in Ruhe fortzusetzen, und machten sich dann gestärkt und ohne weitere Zwischenfälle auf den Weg in Richtung Norden, wo sie am frühen Abend Teak City erreichten. Die Dämmerung brach gerade über die alte Stadt herein und tauchte die eh schon mysteriös anmutenden Bauten in ein noch geheimnisvolleres rötliches Licht. Die Luft flimmerte voll, und die Atmosphäre war voll von ungeklärten Mysterien.

Als sie die Stadt betrat, fragte Lily sich, ob sie hier die Antworten bekommen würde, die sie so dringend wollte.

Harte Wahrheiten

Am nächsten Morgen frühstückte Lily ausgiebig mit Alex, bevor sie vom Pokémon Center aus aufbrachen. Sie selbst wollte in Richtung Norden, wo das Haus ihrer Großmutter nicht weit weg vom Tanztheater lag, und Alex hatte vor, für den bevorstehenden Arenakampf zu trainieren und sein neues Teammitglied, Mogelbaum, ein wenig einzugewöhnen. Lily ließ ihr Endivie in seiner Obhut und machte sich allein mit Evoli auf den Weg zu ihren Verwandten.

Bevor sie die Klingel des im traditionell östlichen Stil gebauten Wohnhauses läutete, überprüfte sie in einem Taschenspiegel noch einmal ihr Aussehen. Ihre weiße Bluse war frisch und faltenfrei, ihr brauner Faltenrock fleckenlos, genau wie ihre Schuhe, und ihre Locken waren mit einer Spange gebändigt. Sie ermahnte Evoli noch einmal, sich zu benehmen, atmete tief durch und drückte auf den Klingelknopf.

Einige Augenblicke später wurde die Tür geöffnet und ihre Tante Darcy begrüßte sie freundlich, aber sichtlich gestresst. „Hallo, Lily, schön dich wiederzusehen. Es tut mir Leid, gerade heute früh ist eine Ladung neuer Artefakte eingetroffen, die ich durchsehen muss, bevor sie an das Museum von Marmoria City gehen können. Nachmittags sollte ich zurück sein, unterhalte dich doch solange mit deiner Großmutter. Deine Cousine Melanie ist auch gerade hier.“ Dann war sie auch schon an Lily vorbei zur Tür hinaus gestürmt.

Etwas perplex betrat diese nun allein das Haus und zog ihre Schuhe aus, bevor sie die einzelne Stufe hinaufkletterte, die ins Innere führte. Das Zimmer ihrer Großmutter lag rechts, und als sie klopfen wollte, öffnete sich auch schon die Tür von innen. „Lily, wie geht es dir? Lass dich erst mal ansehen!“ Die alte Dame im schlichten beigefarbenen Kimono und dem strengen Haarknoten kam auf sie zu und musterte sie von oben bis unten, bevor sie sie umarmte. „Groß bist du geworden, aber du siehst dünn aus. Kocht deine Schwester nicht ordentlich für dich?“

„Doch, sicher“, stotterte Lily, die sich von ihrer Großmutter immer etwas eingeschüchtert fühlte. „Rose sorgt sehr gut für mich, aber ich bin die letzten Tage sehr viel gelaufen.“

„Komm herein, lass uns erst einmal einen Tee trinken.“ Sie wurde ins Zimmer und auf ein Sitzkissen bugsiert und durfte ihrer Großmutter dabei zusehen, wie sie nach traditioneller Art mit äußerster Geschicklichkeit und minimalen Bewegungen Tee zubereitete. Überhaupt war alles im Zimmer auf das Minimale und Funktionale beschränkt; es gab nur einige Sitzkissen auf den Tatamimatten, einen niedrigen Tisch und einen Wandschrank, in dem vermutlich der Futon aufbewahrt wurde. Ihre Großmutter lebte immer noch wie zu ihren Zeiten als Kimono-Girl.

Auf Aufforderung trank sie den bitteren Tee, war aber froh, als sie danach eine ebenfalls traditionelle Süßigkeit bekam, die den Nachgeschmack aus ihrem Mund verbannte.

„So, und nun erzähle, mein Kind: Was treibt dich hierher, und das auch noch ganz allein?“

Lily rutschte etwas auf ihrem Kissen herum, was ihr einen mahnenden Blick einbrachte. „Ich weiß, was wirklich mit Mum geschehen ist.“

„Ich verstehe.“ Ihre Großmutter setzte ihren Teebecher ab und blickte Lily eindringlich an. „Rose konnte es also nicht länger vor dir geheimhalten. Nun, du bist inzwischen wohl alt genug für die Wahrheit. Und wieso ist deine Schwester nicht mit dir gekommen?“

„Sie wollte sich endlich selbst auf die Suche nach Hinweisen machen. Deshalb hat sie mich eigentlich auf eine Pokémonreise geschickt, aber genau dadurch habe ich in den Alph-Ruinen herausgefunden, dass Mum dort verschwunden ist.“

Ihre Großmutter hob die Augenbrauen. „Pokémonreise? Du auch noch? Sag nicht, du nimmst auch an diesen komischen Wettbewerben teil.“

„Doch, das tue ich“, erwiderte Lily kleinlaut. Sie hatte nicht daran gedacht, dass ihre Großmutter schon früher Pokémon-Wettbewerbe verabscheut hatte.

Diese schnalzte nun mit der Zunge, und ihr ohnehin schon strenger Gesichtsausdruck verfinsterte sich noch mehr. „Wozu hat nur meine Mutter euch allen vor ihrem Tod ein Evoli besorgt, in der Hoffnung, wenigstens eine von euch würde wieder ein Kimono-Girl werden, wenn ihr alle ihr Erbe mit Füßen tretet?“ Lilys Urgroßmutter war ebenfalls ein Kimono-Girl gewesen, für einige Jahre länger als ihre Tochter, und hatte vor ihrem Tod unter großen Mühen veranlasst, dass jede ihrer Urenkelinnen als Startpokémon ein Evoli bekam, weil dieses und seine Entwicklungen von den momentan aktiven Kimono-Girls bevorzugt wurde. Leider war noch keines der Mädchen bisher in ihre Fußstapfen getreten, was wohl auch an dem harten Training und der zurückgehenden Beliebtheit der traditionellen Künste im Vergleich zu den immer beliebter werdenden Pokémon-Wettbewerben lag.

Als Lily schon dachte, sie hätte sich den lebenslangen Zorn ihrer Großmutter zugezogen, seufzte diese nur und meinte: „Da kann man wohl nichts machen. Es ist trotzdem so eine Verschwendung, vor allem deine Schwester wäre ein fantastisches Kimono-Girl geworden, aber sie wollte ja lieber ins Rampenlicht und irgendwelchen Trainern den Kopf verdrehen.“

„Wie bitte? Rose ist nicht so!“ Egal wie sehr die alte Frau sie einschüchterte, auf ihre Schwester würde Lily nichts kommen lassen. „Sie hat ihren Traum aufgegeben, um mich großzuziehen.“

„Da ist sie nicht die Einzige.“ Für einen Moment huschte Bitterkeit über das Gesicht ihrer Großmutter, dann fing sie sich wieder und fuhr fort: „Ich kenne deine Schwester länger als du, Kind. Vielleicht ist sie jetzt ein Idealbild für dich, aber früher war sie fasziniert von schönen Dingen und lange nicht so selbstlos, wie sie dir erscheint. Ich sage ja nicht, dass sie ein schlechter Mensch war, und was sie für dich tut, ist großartig – abgesehen von den Flausen, die sie dir mit Wettbewerben in den Kopf gesetzt hat -, aber wir waren alle mal jung und selbstsüchtig.“

Lily nickte einfach halbherzig, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Rose war ihr großes Idol, ihre beste Freundin und die einzige richtige Familie, die ihr geblieben war. Ihre Schwester war unfehlbar, und sie wollte nichts gegenteiliges hören.

Zu ihrer Erleichterung ließ ihre Großmutter das Thema jedoch fallen und schlug Lily vor, zu ihrer Cousine nach oben zu gehen, während sie selbst das Mittagessen vorbereitete. Mehr als froh über diese Möglichkeit, weiteren unangenehmen Gesprächsthemen zu entgehen, stand das Mädchen auf und ging aus dem Zimmer, um durch den Wohnraum vorbei am offenen Atrium die Treppe hinaufzusteigen. An der letzten Tür im Obergeschoss klopfte sie vorsichtig und wartete, bis sie aus dem Inneren ein genervtes „Ja?“ hörte.

„Ich bin's, Lily. Darf ich reinkommen?“, fragte sie zögerlich.

„Von mir aus.“ Als Lily die Tür öffnete, lag Melanie auf ihrem Bett und blätterte in einer Zeitschrift. Sie hatten sich einige Jahre lang nicht gesehen, aber wenn Lily sich recht erinnerte, waren ihre schwarzen Haare bei ihrer letzten Begegnung noch nicht so fransig gewesen und vollkommen schwarze Kleidung hatte sie auch noch nicht getragen. Besonders gesprächig war Melanie damals auch nicht gewesen, aber die Überdrüssigkeit, die sie nun ausstrahlte, war neu.

Lily setzte sich vorsichtig auf den Schreibtischstuhl und Evoli, welches bisher tatsächlich mucksmäuschenstill gewesen war, trippelte in die Ecke, in der Melanies Nachtara lag und ein ebenso genervtes Gesicht machte wie seine Trainerin. Eingeschüchtert zog Evoli sich zurück und ließ sich zu Lilys Füßen nieder.

„Ich habe gehört, du wohnst jetzt in Hoenn bei deinem Vater?“, versuchte Lily, ein Gespräch anzufangen. Als Antwort bekam sie nur ein zustimmendes Geräusch, aber sie wollte noch nicht aufgeben. „Und jetzt bist du in den Ferien hier, um Tante Darcy zu sehen?“

„Hm. Nicht dass ich viel von ihr sehen würde.“ Melanie schnaubte verächtlich. Es sah nicht so aus, als hätte sie große Lust, sich mit Lily zu unterhalten, also beschloss diese, lieber zu schweigen und beschäftigte sich die restliche Zeit mit ihrem PokéCom, bis sie zum Essen gerufen wurden.

Lily beeilte sich, nach unten zu gehen, da sie ihre Großmutter lieber nicht warten lassen wollte. Melanie folgte ihr eher gemächlich und mit einem widerwilligen Gesichtsausdruck.

Passend zum heißen Wetter gab es kalte Buchweizennudeln, die ihre Großmutter servierte, während Tante Darcy, die von der Arbeit zurückgekehrt war, gekühlten Gerstentee eingoss. Nach einem kurzen Tischgebet begannen sie zu essen.

„Was waren das denn für Funde?“, erkundigte sich Lily bei ihrer Tante, um das unangenehme Schweigen am Tisch zu brechen.

„Teile einer alten Pokémonstatue, die jemand gefunden hat, als er in der Nähe der Turmruine den Boden aufgegraben hat. Eigentlich fällt das nicht unbedingt in meinen Kompetenzbereich, aber ich musste zumindest drüberschauen, bevor wir es an das Museum weiterleiten können.“ Sie strich sich die langen schwarzen Haare aus dem Gesicht, bevor sie einen Schluck von ihrem Tee nahm.

„Du kennst dich eher mit den Alph-Ruinen aus, oder?“, wagte Lily einen Vorstoß in das Thema, das sie eigentlich interessierte.

Ihre Tante blickte sie überrascht an. „Wie kommst du darauf?“

„Wie es aussieht, hat jemand dem Kind die Wahrheit gesagt“, schaltete ihre Großmutter sich ein. „Ich würde es aber vorziehen, nach dem Essen darüber zu sprechen.“ Somit verbrachten sie den Rest der Mahlzeit schweigend, auch wenn Lily es kaum aushalten konnte, nun da sie so nah an weiteren Informationen war. Andererseits fürchtete sie sich auch vor dem, was sie gleich hören würde, schließlich waren die Enthüllungen, die man in letzter Zeit vor ihr gemacht hatte, alle wenig erfreulich gewesen.

Nach dem Essen wurde Melanie zum Abwaschen verdonnert, während Lily sich mit ihrer Tante und Großmutter ins Wohnzimmer setzte. Dort erläuterte sie, wie sie in den Alph-Ruinen durch Girafarigs Verhalten erfahren hatte, dass dort eine Forscherin zwei Jahre zuvor spurlos verschwunden war, und darauf zwei und zwei zusammengezählt und von Rose die Wahrheit gefordert hatte.

„Ich verstehe.“ Darcy rückte ihre Brille zurecht. „Und nun willst du von mir wissen, ob eine Chance besteht, sie zurück zu bekommen.“ Als Lily nickte, fuhrt sie fort: „Ehrlich gestanden, ich weiß es nicht. Ich wünsche es mir, aber auch nach zwei Jahren intensiven Forschens in den Ruinen selbst und in dutzenden von Büchern zur Materie weiß ich es einfach nicht. Rose hat dir sicher erzählt, dass es eine plötzliche Explosion gab, als Eleanor allein in einer der Ruinen gearbeitet hat? Eine so heftige Explosion, dass sie wohl niemand überleben könnte, aber unter all den Trümmern haben wir einfach keine Überreste von ihr gefunden, deshalb gehe ich davon aus, dass irgendeine psychische Kraft freigesetzt wurde und sie womöglich in eine andere Dimension katapultiert hat. Es gab schon einmal einen ähnlichen Fall, in den Icognito involviert waren.“ Sie sprach sachlich, wissenschaftlich, ganz anders als Rose, doch wenn Lily genau hinsah, meinte sie, auch in den grauen Augen ihrer Tante einen Anflug von Trauer zu entdecken.

„Das ist doch Quatsch“, mischte sich Melanie ein, die inzwischen in der Küche fertig war und sich mit immer noch gelangweiltem Gesichtsausdruck zu ihnen gesellt hatte. „Andere Dimensionen gibt es nicht. Die Explosion war wohl einfach so heftig, dass nichts mehr von ihr übrig geblieben ist.“

Darcy keuchte auf. „Wie kannst du nur so etwas sagen, noch dazu vor deiner Cousine Lily?“, rief sie empört.

Ihre Tochter zuckte nur mit den Schultern. „Ganz einfach, so wie du über einer schwachsinnigen Hoffnung alles andere stehen und liegen lässt, sogar deine eigene Familie.“

„Eleanor ist auch ein Teil meiner Familie“, wies Darcy sie zurecht.

Melanie rollte nur mit den Augen. „Ach bitte, du mochtest sie doch nicht einmal. Das hat Dad mir zumindest erzählt, und dass er keine Lust mehr hatte, an zweiter Stelle zu stehen hinter deiner vergeblichen Suche nach ihr, nur damit du dir nicht eingestehen musst, dass deine kleine Schwester nie wiederkommt und du dich nie bei ihr dafür entschuldigen kannst, was du davor noch zu ihr gesagt hast.“

Dass Darcy ihre Tochter auf ihr Zimmer schickte, bemerkte Lily kaum, denn sie war verzweifelt damit beschäftigt, die Tränen zurückzukämpfen, die sich während der letzten Sätze in ihren Augen gebildet hatten. Dankbar streichelte sie Evoli, das nun doch von seiner Position neben ihren Füßen auf ihren Schoß sprang und sie mit der Nase anstupste. Ihre Großmutter reichte ihr ein Taschentuch und legte tröstend die Hand auf ihre Schulter, eine Geste, die Lily nicht von ihr erwartet hätte.

„Hör nicht auf das, was meine Tochter sagt“, meinte auch Darcy. „Sie ist nur wütend, weil ich sie über der ganzen Sache vernachlässigt habe, und ihren Vater auch, aber ich hatte nun mal keine Wahl. Wenn sie das nicht verstehen...“

„Aber stimmt es, dass du Mum nicht mochtest?“, fragte Lily schniefend.

Ihre Tante schluckte schwer. „Es stimmt, dass wir unsere Differenzen hatten. Eleanor und ich waren, nein, sind grundverschieden. Sie war schon immer fröhlich und offen, aber nicht sehr verantwortungsbewusst, deshalb sind wir oft aneinander geraten, auch wenn wir zusammen gearbeitet haben.“

„Um uns hat sie sich immer gut gekümmert.“ Lily konnte nun doch nicht verhindern, dass ihr Tränen über die Wangen liefen.

„Das glaube ich.“ Ihre Tante sah sie mitfühlend an. „Und sie war auch wirklich kein schlechter Mensch, im Gegenteil. Nur manchmal hat es mich rasend gemacht, wie sie so unbekümmert sein konnte und trotzdem von allen so geliebt wurde, und bevor sie verschwunden ist, habe ich eine Menge Frust an ihr ausgelassen. Das tut mir heute unendlich Leid.“

„Ihr zwei seid sehr verschieden, und daran bin ich sicher auch nicht unschuldig. Aber ihr habt beide eure Stärken und Schwächen und habt doch eigentlich gut zusammengearbeitet. Ich bin sicher, Eleanor ist dir sehr dankbar für das, was du tust, Darcy“, schaltete sich ihre Großmutter wieder ins Gespräch ein. „Und du, Lily, musst deiner Tante und deiner Schwester jetzt vertrauen, dass sie Eleanor bald wieder finden werden. Hast du mich verstanden?“

„Ja.“ Lily nickte und wischte sich die Tränen vom Gesicht. „Danke“, fügte sie an ihre Tante gewandt hinzu. Diese nickte nur und lächelte traurig.

Bevor sie das Haus verließ, warf Lily noch einen Blick auf die Bilder, die im Regal standen. Dort gab es ein Porträt ihrer Großmutter, als sie noch ein Kimono-Girl gewesen war. Sie lächelte und wirkte wesentlich freundlicher, als Lily sie je erlebt hatte, und man konnte nur erahnen, was für ein riesiger Unterschied zwischen ihrem damaligen und jetzigen Leben liegen musste.

Außerdem gab es ein Gruppenphoto, das ihre Tante mit Melanie und deren Vater zeigte, als sie noch zusammen gelebt hatten. Sie wirkten glücklich, und ihre Cousine lächelte mit einem Evoli, das nun wohl ihr Nachtara war, auf dem Arm. Es ließ Lily an ein Photo denken, das sie zu Hause hatte, auf dem sie selbst mit Rose und ihren Eltern zu sehen war. Natürlich war sie damals zu klein gewesen, um sich nun daran zu erinnern, doch auf dem Bild wirkten sie alle so glücklich, dass es sie beim Betrachten immer etwas traurig machte.

Das letzte Bild zeigte ihre Mutter als junge Frau. Ihre braunen Locken, die Lily geerbt hatte, umrahmten ihr hübsches Gesicht, und die blauen Augen – Rose' Augen – strahlten sie an. Es war ein wunderschönes Bild, und Lily fuhr andächtig mit dem Finger darüber.

„Du siehst ihr ähnlich“, ertönte die Stimme ihrer Großmutter hinter ihr. „Bist du noch eine Weile in der Stadt? Dann lasse ich dir einen Abzug zukommen.“

„Das wäre sehr nett. Ich werde sicher noch einige Tage lang im Pokémon Center sein.“

„Ich verstehe.“ Wieder einmal wurde sie prüfend gemustert, doch es kamen keine weiteren Fragen, wieso sie nicht im Haus übernachten wollte oder ob sie etwa an einem Wettbewerb teilnahm. „Grüß deine Schwester, wenn du mit ihr telefonierst.“

„Das werde ich tun. Danke.“ Lily umarmte ihre Großmutter und ihre Tante zum Abschied und machte sich dann wieder auf den Weg. Es war noch nicht einmal spät am Nachmittag, und doch fühlte sie sich so erschöpft, als wäre es weit nach Mitternacht. Evoli schien ihre Stimmung zu spüren und trottete brav hinter ihr her, wobei es ab und zu aufmunternd ihr Bein anstupste. „Du warst heute wunderbar, Evoli.“ Lily streichelte es dankbar und beschloss, ihm später eine besondere Leckerei zukommen zu lassen.

Im Pokémon Center war Alex nirgends zu sehen, was Lily ganz recht war. So konnte sie erst einmal nach oben gehen und sich das Gesicht waschen und musste sich keinen unangenehmen Fragen zu ihrem Tag stellen. Zwar war Alex bisher auf keinen Fall aufdringlich gewesen, sondern im Gegenteil sehr verständnisvoll, aber er würde sicher fragen, was passiert war, und es wäre ihr schwer gefallen, ihm dann zu sagen, dass sie nicht darüber sprechen wollte.

Mit einer Person wollte sie nun aber dringend reden, also zog sie ihren PokéCom aus der Tasche und wählte die Nummer ihrer Schwester.

„Lily, ist alles in Ordnung bei dir?“, meldete diese sich auch sofort.

Beim vertrauten Klang von Rose's Stimme atmete das Mädchen instinktiv auf. „Na ja, es geht. Wieso fragst du?“

„Weil du nicht das Bildtelefon benutzt. Ist etwas vorgefallen bei Großmutter?“ Wieder einmal hatte sie den Nagel auf den Kopf getroffen.

Lily berichtete in groben Zügen von den Dingen, die dort vorgefallen waren. Ihre Schwester seufzte. „Es tut mir Leid, dass du da durch musstest. Vielleicht wäre ich doch besser mitgegangen.“

„Du kannst mich ja nicht immer und vor allem beschützen“, erwiderte Lily. „Sag mal...“ Sie wusste nicht, ob sie es fragen konnte, doch wenn sie es nicht tat, würde ihr die Sache wohl ewig keine Ruhe lassen. „Hasst du mich eigentlich?“

„Wie bitte? Wie kommst du denn darauf? Hat deine Großmutter das etwa behauptet?“ Rose klang schockiert. „Natürlich hasse ich dich nicht, wie könnte ich denn!“

„Na ja, weil du doch auch alles für mich aufgegeben hast, deine Karriere als Koordinatorin und deine Freunde und...“

„Lily, hör mir jetzt ganz genau zu.“ Rose sprach in langsamem Ton auf sie ein. „Ich habe die Wettbewerbe aufgegeben und bin nach Hause zurückgekehrt, weil du mir wichtiger warst als all das. Ich wollte mit dir zusammenleben. Nicht aus Pflichtgefühl, sondern weil ich dich wirklich, ganz ehrlich sehr, sehr lieb habe. Daran darfst du niemals zweifeln, versprichst du mir das?“

„Versprochen.“ Zum zweiten Mal an diesem Tag wischte Lily sich die Tränen aus den Augen. „Ich hab dich auch sehr lieb.“

„Und lass dich nicht zu sehr von dem runterziehen, was deine Großmutter oder Melanie gesagt haben, ja? Weder ist eine von uns verpflichtet, ein Kimono-Girl zu werden, noch sind wir oder Mum schuld daran, dass Tante Darcy und ihr Mann sich getrennt haben.“

„Ist gut.“ Woher hatte ihre Schwester nur gewusst, dass diese Dinge ebenfalls an ihr nagten? Wie so oft verblüffte sie Lily. „Und danke, Rose.“

„Wofür bedankst du dich?“, fragte diese.

„Dafür, dass du mich nicht bei Großmutter leben lässt. Und... einfach für alles.“ Sie konnte nicht gut in Worte fassen, was sie fühlte, aber die Ereignisse des Tages hatten ihr gezeigt, wie viel sie ihrer Schwester doch verdankte.

„Hör auf, du machst mich ganz verlegen“, wehrte Rose ab, doch Lily konnte hören, wie sie lächelte. „Melde dich, wenn noch etwas sein sollte.“

„Das werde ich. Bis morgen dann.“ Sie legte auf ging ins Bad, wo sie versuchte, sich wieder halbwegs herzurichten, um Alex beim Abendessen keinen Schreck einzujagen. Die leichte Rötung ihrer Augen konnte sie nicht verschwinden lassen, aber davon abgesehen sah sie aus wie immer, als sie nach unten in die Kantine ging. Tatsächlich wartete der Junge dort schon und winkte sie zu einem Fensterplatz.

„Ich wollte dich gerade anklingeln und Bescheid sagen, dass wir wieder hier sind“, sagte der Junge. „Dein Endivie hat dich schon vermisst.“

Lily lächelte ihr Pokémon an. „Na, hattet ihr einen schönen Tag?“

„Zumindest einen erfolgreichen“, antwortete Alex stattdessen. „Das Training lief sehr gut, in ein paar Tagen würde ich gern Jens herausfordern. Bis dahin will ich noch mehr trainieren und etwas von der Stadt sehen. Nimmst du eigentlich am Wettbewerb teil?“ Er deutete auf das schwarze Brett am Eingang zur Kantine.

„Der ist in vier Tagen, oder? Klar, können wir morgen vorbeigehen, damit ich mich anmelden kann?“ Zwar stand ihr momentan überhaupt nicht der Sinn nach Wettbewerben, aber wenn sie diese Nacht über den Ereignissen schlief, würde das sicher am nächsten Tag schon ganz anders aussehen, und schließlich hatte sie Rose ja versprochen, ordentlich mit ihren Pokémon zu trainieren und kein Trübsal zu blasen.

„Können wir machen. Gehen wir dann auch zum Tanztheater? Deine Großmutter wäre nicht zufällig so nett, uns eine Führung zu geben?“

Lily verzog das Gesicht. „Das bezweifle ich.“

Alex musterte sie, und für einen Moment blieb sein Blick an ihren geröteten Augen hängen. Doch er sagte nichts dazu und schlug stattdessen vor, die Turmruine zu besuchen, wofür Lily ihm sehr dankbar war.

Nach dem Abendessen zog sie sich bald auf ihr Zimmer zurück, wo sie nach vielen wirren Gedankengängen und einigen weiteren Tränen völlig erschöpft einschlief.

Ruhepause

Wer richtig Action in Teak City lesen will, sollte mal in Kalliopes Fanserie "The Crystal Palace" reinschauen!
 


 

„Ein bisschen gruselig sieht es ja schon aus“, meinte Lily und ließ ihren Blick unsicher über die Turmruine schweifen. Zwar war sie vorher schon einige Male in Teak City gewesen und hatte dabei auch die Überreste des ehemaligen Monuments besucht, doch die Vorstellung, dieses Mal ohne Begleitung ihrer Mutter oder Schwester hineinzugehen, behagte ihr trotz der sengenden Vormittagshitze nicht unbedingt.

„Ach, er wäre kaum für Besucher offen, wenn es drinnen gefährlich wäre. Aber schön kühl dürfte es sein“, erwiderte Alex, der neben dem zögernden Mädchen stehen geblieben war. „Na los, du hast schließlich deine Pokémon dabei. Wobei ich Evoli vielleicht lieber auf den Arm nehmen würde, bevor es irgendwo hin verschwindet.“

Der Junge hatte Recht, und so folgte Lily seinem Rat und griff nach ihrem Normalpokémon, bevor sie hinter Alex, Bisasam und Endivie zögerlich die Ruine betrat.

Im Inneren war es tatsächlich kühl, aber auch nicht sehr hell, wodurch eine seltsame Stimmung entstand. Aus der Tür und durch das kaputte Dach scheinende Lichtstrahlen erinnerten daran, dass draußen helllichter Tag war, und das Zwielicht im Inneren wirkte so nur noch befremdlicher. Außerdem hätte sie schwören können, einige geistähnliche Silhouetten in der Ecke schweben gesehen zu haben, aber vielleicht waren das nur einige der Smogon, die im Reiseführer erwähnt wurden, und deren giftige Ausdünstungen verursachten das leichte Unwohlsein, das sie verspürte.

Lily umklammerte ihr Evoli etwas fester und schloss zu Endivie auf, das mit Bisasam dem forsch voranschreitenden Alex nachlief.

„Guck mal, hier unten sollen die drei legendären Biester gelebt haben.“ Alex lehnte sich ein Stück weit über eine Absperrung und deutete auf das untere Geschoss, welches durch den fehlenden Boden zu sehen war. Lily blickte auf die Stelle, die seine Hand anzeigte, und konnte nicht leugnen, dass sie beeindruckt war. Allein schon die Tatsache, dass sie sich an einem Ort befanden, der möglicherweise einmal Schauplatz von Ereignissen geworden war, die sie sich nicht einmal in ihren kühnsten Träumen vorstellen konnte, ließ ihr einen Schauer über den Rücken laufen. Gleichzeitig war ihr etwas mulmig zumute, nicht wegen der potenziell gefährlichen Pokémon, sondern weil das große Loch im Boden vor ihr sie daran erinnert hatte, wie morsch der Boden in der Ruine war.

„So langsam ist mir nach einem schönen Mittagessen, was sagst du?“, fragte sie deshalb ihren Begleiter, in der Hoffnung, er würde darauf eingehen und sie könnten die Ruine verlassen.

Dieser zuckte mit den Schultern. „Klar, wieso nicht? Viel zu sehen gibt es hier eh nicht mehr.“

Sie gingen also durch das Halbdunkel auf den Lichtfleck zu, der den Ausgang signalisierte, und als die wieder im Tageslicht stand, atmete Lily unwillkürlich etwas auf. Leider war es inzwischen auch Mittag und somit beinahe unerträglich heiß geworden, sodass die Kinder beschlossen, nicht groß zu suchen und sich gleich in einem nahe liegenden Restaurant jeweils eine Schüssel mit Gemüse und Tofu, einer der lokalen Spezialitäten, zu bestellen.

„Hast du schon eine Idee, wie du in der Arena vorgehen willst?“, erkundigte sich Lily, während sie auf ihr Essen warteten.

Alex nahm einen Schluck aus seinem Wasserglas. „Nun, Jens setzt ja Geistpokémon mit Gift als Zweittyp ein, also dachte ich, mit Noctuh stehen meine Chancen vielleicht nicht schlecht. Bisasam sollte ich eher nicht einsetzen. Tut mir Leid, Kumpel“, sagte er mit Blick auf sein Pflanzenpokémon, welches mit Endivie und Evoli um eine große Schüssel mit Wasser und Gemüse saß. „Mogelbaum machen Giftattacken nicht viel aus, und wenn wir noch etwas trainieren, lernt es vielleicht noch eine der Unlichtattacken, die es laut PokéDex könnte.“

„Das könnte funktionieren, ja. Wir werden auf jeden Fall dabei sein und dir die Daumen drücken, stimmt's, Endivie?“

„Das ist nett.“ Alex lächelte etwas verlegen. „Dieses Mal sehe ich mir auch deinen Wettbewerb an, ohne dass Bisasam mich hinschleifen muss. Weißt du schon, was du in der ersten Runde vorführen willst?“

„Ungefähr. Mir sind durch den Pokéathlon ein paar Ideen gekommen, aber wir müssen auf jeden Fall noch viel trainieren. Dieses Mal würde ich gern wieder ein bisschen weiter kommen als beim letzten Mal.“ Angemeldet hatte Lily sich schon auf dem Weg zur Turmruine. Zwar freute sie sich irgendwie auf den Wettbewerb, und auch das Training mit ihren Pokémon machte ihr natürlich Spaß, aber sie war im Herzen immer noch mit den Ereignissen des Vortages, nein, eigentlich der gesamten letzten Tage beschäftigt und fragte sich, ob sie momentan überhaupt in der Verfassung war, halbwegs gut abzuschneiden – ganz abgesehen davon, dass es ihr immer noch an Erfahrung vor allem im Kämpfen fehlte.

„Wir können gerne wieder zusammen trainieren“, schlug Alex vor, als hätte er ihre Gedanken gelesen.

„Das würde ich gern.“ Lily lächelte ihn dankbar an. „Heute würde ich gern mit Endivie allein üben, aber für morgen nehme ich das Angebot an.“

Ihr Essen wurde serviert, und so widmeten sie sich erst einmal der Aufgabe, ihre Mägen zu füllen. Allerdings nicht so voll, dass sie auf dem Rückweg zum Pokémon Center nicht noch ein Eis vertrugen, welches sie rasch aufessen mussten, damit es ihnen nicht aus der Hand schmolz. Die Sonne brannte so sehr vom Himmel, dass Lily überlegte, ob sie sich nicht einen Sonnenschirm zulegen sollte, als sie an einem entsprechenden Schaufenster vorbeikamen. Zumindest war sie froh, dass Rose ihr noch eine Tube Sonnenschutz eingepackt hatte.

Die Kinder verabredeten, sich gegen sieben Uhr wieder im Center zu treffen, dann ging Alex wie am Vortag auch wieder seinem Training nach, während Lily sich mit einer frischen Wasserflasche ebenfalls auf den Weg machte. Sie erinnerte sich an einen kleinen Park mit einem Teich, der nicht weit vom Glockenturm nahe der östlichen Stadtgrenze lag, und diesen wollte sie nun aufsuchen.

Nach einigem Herumirren fand sie mit Hilfe einer netten Passantin den Park auch tatsächlich wieder und ließ sich erst einmal auf einer Bank nieder, um einen großen Schluck aus ihrer Wasserflasche zu nehmen, bevor sie begann, mit Endivie eine Vorführung für den Wettbewerb einzuüben. Durch den Pokéathlon inspiriert, ließ sie das kleine grüne Pokémon erst mit einem, dann mit zwei Bällen jonglieren. Anfangs hatte es damit noch Schwierigkeiten, doch nach einer Weile wurde es geschickter im Einsatz seiner Ranken, und als es auch einen dritten Ball immerhin für kurze Zeit in der Luft halten konnte, beschloss Lily, für diesen Tag Schluss zu machen und ihnen allen den wohlverdienten Feierabend zu gönnen.

Sie selbst nahm wieder auf der Bank im Schatten platz, Evoli neben ihr und Endivie etwas weiter weg an einer sonnigen Stelle im Gras. Lily ließ ihre Gedanken baumeln und nahm sich Zeit, um ein bisschen Ordnung in ihre chaotischen Gefühle zu bringen. Am Vortag war sie einfach nur völlig erschöpft gewesen und in ihrem Kopf hatte sich alles gedreht, aber nun konnte sie endlich in Ruhe über einige Dinge nachdenken.

Nach einer Weile riss sie jedoch ein Geräusch aus ihren Gedanken. Lily blickte sich um, doch keines ihrer Pokémon schien etwas wie „mäh!“ von sich gegeben zu haben. Hatte sie vielleicht einen Hitzschlag abbekommen?

Doch dann hörte sie es wieder, diesmal näher. Nun sah sie auch, wie ein Voltilamm sich dem Teich näherte, um daraus zu trinken. Danach warf es einen skeptischen Blick auf Endivie, das in der Nähe lag und immer noch Photosynthese zu betreiben schien, und dann zu Lily.

„Keine Angst, ich tu dir nichts“, sagte diese freundlich. Ihr Evoli sprang jedoch von der Bank und rannte auf das blaue Elektroschaf zu, um es neugierig zu mustern. Voltilamm erwiderte den Blick mäßig interessiert und trottete dann in den Schatten, um sich nicht weit von Lily niederzulassen.

„Dir ist auch heiß, hm? Kein Wunder, bei dem dicken Fell.“ Bei solchen Temperaturen taten Pokémon wie Voltilamm oder auch Evoli dem Mädchen immer etwas Leid. „Ich wünschte ja, ich könnte dich scheren oder so, aber dazu fehlen mir das Können und die Ausrüstung.“ Außerdem waren wilde Pokémon bisher auch ganz gut ohne die Einmischung von Menschen ausgekommen.

Sie saß noch eine Weile schweigend auf ihrer Bank und ließ ihre Gedanken schweifen, bevor sie sich gegen halb sieben, als es langsam dämmerte, auf den Weg zurück ins Pokémon Center machte. Als sie sich von Voltilamm verabschiedete, hob es kurz den Kopf und es schien ihr fast, als sollte sein „mäh“ sie ebenfalls grüßen.

Selbstbeherrschung

„Denkt dran, dieses Mal spielen wir auf Sieg!“ Lily gab sich selbstsicherer, als sie sich fühlte, doch das sollten ihre Pokémon lieber nicht bemerken. Vielleicht konnte sie sich ja auch selbst einreden, dass sie es schaffen würde, wenn sie nur fest genug daran glaubte.

Evoli tänzelte jedoch wie immer fröhlich um sie herum, und auch Endivie blickte entschlossen drein, nachdem es einen aufmunternden Rankenklopfer von Bisasam bekommen hatte. Dessen Trainer nickte Lily aufmunternd zu und machte sich dann mit seinem Pokémon auf den Weg zur Zuschauertribüne, um sich schon einmal einen guten Platz zu sichern.

„Gehst du so auf die Bühne?“, wurde Lily plötzlich von hinten angesprochen, als sie sich ihrerseits auf den Weg zum Teilnehmerraum begeben wollte. Als sie herumfuhr, standen ihre Großmutter sowie ihre Tante und deren Tochter in der Lobby.

„Was macht ihr denn hier?“, fragte sie überrascht. Ihre Großmutter hasste doch Wettbewerbe, und Tante Darcy war immer beschäftigt. Melanie schien ebenfalls nicht so, als wäre sie gern gekommen, wenn man aus ihrer verdrießlichen Miene schloss.

„Ich wollte mir einmal ansehen, was du so machst. Schließlich bist du immer noch meine Enkelin, auch wenn diese Wettbewerbe mir widerstreben“, erklärte die alte Dame in einem selbstverständlichen Tonfall. „Viel Wert auf Eleganz wird ja hier anscheinend nicht gelegt“, fügte sie mit einem abschätzigen Blick auf Lilys Kleidung hinzu.

„Ich bin doch ordentlich angezogen...“ Für ihr Alter fand Lily sich angemessen gekleidet mit Faltenrock und frischer Bluse, vor allem wenn sie sich die anderen Koordinatoren ansah, von denen viele ihre normalen Reiseoutfits mit teilweise recht grellen, bunt kombinierten Kleidungsstücken trugen.

„Ich habe dir etwas mitgebracht.“ Ihre Großmutter ging gar nicht auf ihren Protest ein und öffnete eine große, längliche Schachtel, die Darcy bisher für sie getragen hatte. Gut verpackt kam ein leichter, rosafarbener Kimono hervor, der mit weißen Blüten verziert war.

„Den kann ich doch nicht anziehen“, protestierte Lily.

„Natürlich kannst du, wieso denn nicht? Teak City ist schließlich wie gemacht dafür, auch bei so einer... Veranstaltung im Kimono aufzutreten.“

„Mag ja sein, aber ich kann den wirklich nicht anziehen, ich weiß doch nicht wie.“ Schön war er schon, das musste Lily zugeben, aber sie würde sich etwas komisch vorkommen, wenn sie darin am Wettbewerb teilnehmen müsste. „Außerdem sind nur noch zehn Teilnehmer vor mir dran...“

„Ich helfe dir selbstverständlich – das wird eine Sache von wenigen Minuten.“ Ihre Großmutter ließ keine Widerrede zu und steuerte zielstrebig auf die Sanitäranlagen der Halle zu, wo sie Lily in eine Kabine drängte und ihr dort mit geübten Handgriffen den Kimono anzog. Mehrmals schnappte das Mädchen nach Luft, als der breite Gürtel fest um ihre Taille gezogen wurde. Ihre Pokémon beobachteten die Prozedur reichlich verwundert.

„So, und jetzt ab auf die Bühne mit dir. Vergiss nicht, kleine Schritte zu machen und gerade zu stehen!“

Da sie tatsächlich kaum mehr als trippeln konnte, erreichte Lily nur knapp vor Aufruf ihrer Nummer den Warteraum. „Denk daran, was wir trainiert haben, Endivie. Wir schaffen das!“, redete sie dem Pflanzenpokémon noch gut zu, bevor sie gemeinsam auf die Bühne gingen. Sie war froh, dass sie sich nicht viel bewegen, sondern nur das Kommando zum Start geben musste, auf welches Endivie begann, die Bälle, die Lily ihm zuwarf, mit seinen Ranken zu jonglieren. Nach einigen Runden beendete es die Vorführung dann damit, alle Bälle gleichzeitig in die Luft zu werfen und mit einer gezielten Rasierblattattacke zu zerschneiden, sodass ihre funkelnde Füllung - Lily hatte im Bastelgeschäft Glitzerstaub gekauft – sich über die Bühne ergoss.

Nachdem er Applaus des Publikums abgeklungen war, erfolgte die Bewertung durch die Jury. Die freundliche Schwester Joy bezeichnete Endivie als „bezaubernd“, und ein streng gekleideter älterer Herr lobte den Einsatz der Requisiten. Dann durften sie sich zurückziehen, wobei Lily darauf achten musste, nicht über den Saum ihres Kimonos zu stolpern.

Kaum war sie hinter der Bühne, klingelte ihr PokéCom, und eine Textnachricht von Alex erschien auf dem Bildschirm. „Tolle Vorführung, aber was soll die Verkleidung?“

Lily seufzte und tippte ebenfalls eine Nachricht. „Danke. Meine Großmutter ist hier, deshalb komm in der Pause besser nicht zu mir. Entschuldige, ich erkläre dir alles später.“

Dann ging sie in die Lobby, wo wie vermutet schon ihre Familie wartete. „Deine Haltung lässt wirklich zu wünschen übrig“, tadelte ihre Großmutter sie, noch bevor sie etwas zur Vorführung sagen konnte.

„Aber du warst wirklich gut“, sagte Darcy und lächelte ihr aufmunternd zu. Vermutlich war sie die gut gemeinten, aber nicht gerade freundlichen Kommentare ihrer Mutter gewöhnt.

Diese musterte sie immer noch kritisch. „Diese kringeligen Haare passen nicht ins Gesamtbild.“

Lily musste sich beherrschen, keinen Flunsch zu ziehen, denn ihre Haare waren nun einmal lockig, das brauchte man ihr nicht vorzuhalten.

„Ich glätte sie für dich“, bot überraschend Melanie an, die bisher mit teilnahmslosem Gesicht daneben gestanden hatte. Wieder wurde Lily ins Bad geschleift, wo ihre Cousine ein kleines Glätteisen aus der Tasche holte und anfing, Lilys Haare Strähne für Strähne hindurchzuziehen.

„Übrigens sollte, äh, wollte ich mich bei dir wegen neulich entschuldigen.“

„Oh.“ Überrascht blickte Lily das ältere Mädchen im Spiegel an. „Äh, ist schon gut.“

„Es war nicht nett, was ich gesagt habe über deine Mutter und so. Aber irgendwie hab ich über der ganzen Sache ja auch meine Mum verloren, sozusagen.“ Mit gleichgültiger Miene, die Lily nun als zumindest teilweise gespielt begriff, arbeitete sie weiter an ihren Haaren.

„Ich verstehe schon.“ Sie lächelte halbherzig, doch innerlich wollte sie ihre Cousine anschreien, sie solle ihre Situation nicht mit Lilys vergleichen. Wenn jemand das Recht hatte, traurig und wütend auf die Welt zu sein, war sie es, nicht Melanie. Stattdessen schwieg sie und betrachtete sich im Spiegel. Mit den glatten Haaren sah sie Rose etwas ähnlicher als sonst. Rose, die sich nach außen hin immer ruhig und freundlich gab, hielt sicher auch einiges an Gefühlen in ihrem Inneren zurück.

„Hübsch siehst du aus, Lily.“ Ihre Tante war hereingekommen und bedachte sie nun mit einem traurigen Lächeln. Ob sie an ihre eigene Schwester dachte, der Lily angeblich ähnelte? „Du bist übrigens in die nächste Runde aufgerückt, das wurde gerade angezeigt.“

„Danke.“ Sie konnte sich nicht so recht über die Mitteilung freuen, bemühte sich aber, fröhlich auszusehen, als sie zusammen in die Lobby zurückkehrten, wo ihre Großmutter in einem Sessel saß.

„Viel besser. Jetzt müsstest du nur noch etwas gerader stehen.“ Offenbar konnte die alte Dame nicht loben, ohne gleichzeitig zu kritisieren, jedenfalls arbeiteten sie, bis Lily wieder auf die Bühne musste, an ihrer Haltung.

Ihr erster Gegner stellte mit seinem Hoothoot keine große Herausforderung dar, da sie das Training mit Alex' Noctuh gewohnt war. Überhaupt hatten sie die letzten Tage viel mit dem Jungen geübt und war etwas sicherer im Kämpfen geworden, sodass sie auch den nächsten Gegner, ein Mädchen mit einem Quiekel, nach einigen Runden besiegen konnte. Bevor sie überhaupt wusste, wie ihr geschah, rückte Lily schließlich ins Finale des Wettbewerbs.

In der kurzen Pause vor dem letzten Kampf wollte sie sich und ihren Pokémon noch einen Schluck Wasser gönnen, als ihr PokéCom sich wieder meldete. „Ihr habt es fast geschafft! Bisasam und ich drücken euch die Daumen!“ Lily lächelte, als sie ihren Pokémon die Nachricht vorlas, und dachte dankbar an Alex, der nun sicher mit seinem Bisasam auf der Tribüne saß und mit ihr mitfieberte.

Sie betrat wieder die Bühne und versuchte, nicht an ihre Familie zu denken, die im Publikum saß. Stattdessen suchte sie unter den Zuschauern nach Alex, der ihren Blick bemerkte und ihr aufmunternd zuwinkte. Entschlossen schickte Lily nun ihr Evoli in den Kampf gegen das Forstellka eines Mädchens in ihrem Alter.

Der Countdown begann zu laufen, doch Lily wusste nicht, wie sie angreifen sollte. Das gegnerische Pokémon hatte keine Schwäche außer Feuer, und Evolis Attacken würden vermutlich nur dazu führen, dass ihr eigenes Pokémon verletzt wurde. Sie befahl Evoli, erst einmal Sandwirbel einzusetzen, um dem Gegner die Sicht zu erschweren, und ging im Kopf fieberhaft ihre Möglichkeiten durch. Tatsächlich verfehlte Forstellkas Angriff Evoli zunächst und verringerte die Punkte von Lilys Gegnerin, doch als sie daraufhin aus Mangel an Alternativen einen erneuten Sandwirbel startete, wirkte sich dies aufgrund der Wiederholung auch auf ihren eigenen Punkestand negativ aus.

Das andere Mädchen schien genervt zu sein und befahl Forstellka einen Käferbiss, der eigentlich nicht verfehlen konnte, doch Evoli schien wenig erbaut ob der Aussicht, zwischen den Panzer des Stahlkäfers zu geraten, und vergrub sich blitzschnell im Sand, der sich inzwischen auf dem Kampffeld türmte. In diesem Moment kam Lily eine Idee. „Evoli, setz Schaufler ein!“ Sie wusste, dass ihr Pokémon diese Attacke lernen konnte, aber bisher hatte es sie noch nie eingesetzt. Doch sie hatte Glück und das Normalpokémon grub sich tatsächlich durch die Sandhügel, bis es unter seinem Gegner war und ihm mit dem Bodenangriff zumindest mehr schaden konnte als mit Biss oder Kopfnuss, und die Punkte ihrer Kontrahentin verringerten sich sichtlich. Diese Prozedur wiederholten sie einige Male, wobei die gegnerischen Punkte weiter sanken, Lilys eigene jedoch ebenfalls, da die Wiederholung einer Attacke nicht unbedingt als elegant gewertet wurde. Doch sie hatte keine Wahl, ebenso wie ihre Gegnerin, sodass diese kurz vor Ablaufen der fünf Minuten und bei ungefährem Punktegleichstand einen verzweifelten Befehl erteilte: „Forstellka, Finale!“

Der runde Käfer begann in seiner Schale zu glühen, bis eine Explosion ausgelöst wurde. Lily konnte gerade noch „Evoli, Schutzschild!“ brüllen, bevor der Sand, den ihr Pokémon zuvor produziert und dann als Schutz benutzt hatte, aufgewirbelt wurde und ihr und allen Anwesenden in der Halle die Sicht nahm.

Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen

Der Sandsturm legte sich, doch es dauerte noch einige Momente, bis Lilys Augen sich vom grellen Lichtschein der Explosion erholt hatte. Sie hoffte, dass Evoli von sich aus Schutzschild eingesetzt hatte, doch als sie aufs Kampffeld blickte, lag ihr Pokémon ebenso besiegt da wie das ihrer Gegnerin.

Die Zeit war abgelaufen und beide Kontrahenten kampfunfähig, also musste die Jury entscheiden, wer den Wettbewerb gewonnen hatte. Während dort also diskutiert wurde, ging Lily zu ihrem Pokémon und nahm es vorsichtig auf den Arm. „Alles in Ordnung bei dir, Evoli?“

Das kleine braune Wesen nickte schwach und kuschelte sich dann an seine Trainerin, bevor es wieder die Augen schloss.

„Die Jury verkündet nun die Siegerin des Wettbewerbs“, meldete sich die Moderatorin zu Wort.

„Die Entscheidung ist uns nicht leicht gefallen, da beide Teilnehmerinnen so wunderbar gekämpft haben.“ Typisch für Schwester Joy wollte sie niemandes Gefühle verletzen.

Der ältere Mann neben ihr, dessen Namen Lily sich nie merken konnte, räusperte sich und sprach dann ebenfalls. „Der Kampf war bis zum Ende spannend, und es ist schade, dass wir keine zwei Siegerinnen küren können. Deshalb geht das Band an diejenige, die aus der Macht der Verzweiflung ein wunderschönes Lichtspiel gemacht hat. Herzlichen Glückwunsch, Dara aus Azalea City!“

Die Menge begann zu applaudieren, und Lily verließ die Bühne. Sie war enttäuscht, nicht einmal unbedingt, weil sie verloren hatte, und das auch noch so knapp, sondern weil sie ausgerechnet diesen Wettbewerb verloren hatte. Gerade dieses Mal, wo ihre Großmutter im Publikum saß, hätte sie so gern zeigen wollen, dass sie auch etwas konnte. Vielleicht hätte sie dann Wettbewerbe weniger als Zeitverschwendung angesehen, oder wäre zumindest stolz auf Lily gewesen.

Mit Evoli, das weiterhin in ihren Armen schlief, ging sie durch den Raum hinter der Bühne, um ihre Tasche und Endivie zu holen, und dann weiter in die Lobby. Eigentlich wollte sie am liebsten sofort ins Pokémon Center, um ihr Pokémon versorgen zu lassen, aber sie musste sich wenigstens kurz von ihrer Familie verabschieden.

Diese drängte sich schon bald mit den anderen Zuschauern durch den Ausgang und steuerte auf sie zu.

„Geht es deinem Evoli gut?“, erkundigte ihre Tante sich, sobald sie bei Lily angekommen waren.

„Das wird schon wieder, wenn ich es gleich behandeln lasse“, erwiderte Lily und warf dann ihrer Großmutter einen besorgten Blick zu.

„Es ist eben noch kein Meister vom Himmel gefallen“, meinte die alte Dame jedoch nur. Dabei wirkte sie weder besonders böse, noch schien es, als wollte sie Lily damit trösten. Es war einfach nur eine Feststellung, und das Mädchen wusste nicht genau, wie es darauf reagieren sollte.

„Ich sollte dann mal mit Evoli ins Pokémon Center gehen“, verabschiedete sie sich also. „Vielen Dank, dass ihr gekommen seid.“ Dann drehte sie sich um und wollte schon losgehen, als ihre Großmutter sie noch einmal zurück rief.

„Das hier wollte ich dir noch geben.“ Aus dem Gürtel ihres Kimono zog sie einen Umschlag und drückte ihn Lily in die Hand. „Das Bild deiner Mutter, das ich dir versprochen habe.“

„Danke.“ Gerührt nahm Lily den Umschlag entgegen und wollte ihn einstecken, als ihr auffiel, dass sie selbst ebenfalls noch im Kimono war. „Ähm... ist es okay, wenn ich dir den Kimono später wiedergebe? Ich würde jetzt wirklich gerne Evoli versorgen lassen.“ Ausziehen konnte sie das komplizierte Kleidungsstück auch alleine.

Die alte Dame musterte sie, dann sagte sie: „Behalte ihn. Er steht dir.“ Sie nickte Lily noch kurz zu und wandte sich dann zum Gehen. Darcy umarmte Lily zum Abschied und Melanie hob missmutig die Hand, bevor die beiden sie ebenfalls verließen. Eine Weile stand Lily da und sah ihnen nach, außerdem wollte sie ihnen einen Vorsprung geben, bevor sie sich selbst auf den Weg machte.

Im Pokémon Center gab sie Evoli in die Obhut von Chaneira und ging dann erst einmal zu den Bildtelefonen, um Rose anzurufen.

„Hallo, Lily, sag nicht, Großmutter war bei deinem Wettbewerb?“, meldete sich ihre Schwester und warf einen erstaunten Blick auf Lilys Kimono.

„Du hast es erraten. Leider bin ich aber nur Zweite geworden.“ Lily berichtete vom Finalkampf und dessen knappem Ausgang. „Na ja, da kann man eben nichts machen“, versuchte sie, es tapfer zu nehmen.

„Zweite zu sein heißt doch, dass nur ein Teilnehmer besser war als du“, sagte Rose aufmunternd. „Und nächstes Mal gewinnst du sicher, so weit, wie du jetzt schon gekommen bist.“

„Vor allem wenn ich mich dann wieder bewegen kann.“ Lily lachte. „So ein Kimono ist wirklich ziemlich unbequem.“

Ihre Schwester fiel in ihr Gelächter ein. „Wem sagst du das. In den Ferien, wenn ich bei Großmutter war, wurde ich immer in einen gesteckt und musste dann gerade laufen und sitzen üben.“

„Scheint doch funktioniert zu haben?“ Rose hatte wirklich einen sehr aufrechten Gang und eine elegante Art zu sitzen. „Vielleicht übe ich das jetzt auch öfter.“ Lily grinste.

„Tu, was du nicht lassen kannst.“ Sie plauderten noch eine Weile über dies und das, dann wollte Lily wieder nach ihrem Pokémon sehen und verabschiedete sich.

Inzwischen war Schwester Joy zurückgekehrt und untersuchte Evoli im Behandlungszimmer.

„Es ist nur erschöpft, ansonsten fehlt ihm nichts. Wenn du es bis morgen hier lässt, wird es wieder ganz fit werden.“ Sie zog ihre Handschuhe aus und bedeutete Chaneira, das braune Pokémon in den Ruheraum zu bringen. „Übrigens wart ihr sehr gut beim Wettbewerb heute. Ich habe für euch gestimmt, aber die beiden Herren aus der Jury waren mehr für Krawall und Explosionen. Mir wäre es natürlich lieber, wenn die Pokémon sich nicht in solche Gefahren bringen würden...“

Lily bedankte sich und stimmte ihr zu, dann ging sie wieder in die Lobby, um nach Alex Ausschau zu halten. Bevor sie ihn selbst sah, hatte Endivie jedoch schon sein Bisasam entdeckt und flitzte auf es zu. Während das Samenpokémon es freundlich begrüßte, ging Lily zu dessen Trainer.

„Tut mir Leid, dass ich ohne dich gegangen bin, aber ich wollte Evoli gern behandeln lassen, und ich hatte keine Hand frei, um den PokéCom zu bedienen.“

„Kein Problem.“ Alex winkte ab. „Ich hab mir schon so was gedacht, und du hast ja vorher gesagt, dass deine Familie da war. Geht es Evoli gut?“

„Ja, morgen soll es wieder ganz fit sein. Ach ja, danke fürs Daumendrücken vorhin.“

„Nichts zu danken. Es ist schade, dass du nicht gewonnen hast, du hättest es verdient. Aber was soll denn nun die Verkleidung?“ Der Junge grinste.

„Ach, der Kimono?“ Auch Lily konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Meine Großmutter hat mich da reingesteckt, damit ich ordentlich angezogen bin. Ziemlich schick, oder?“

„Absolut. So solltest du unbedingt durch die Stadt laufen“, scherzte Alex.

„Vielleicht tue ich das auch“, gab Lily gespielt gestelzt zurück. Es war gar keine so schlechte Idee – allein konnte sie den Kimono nicht anziehen, also sollte sie die Gelegenheit lieber nutzen, wenn sie darin gehen üben wollte. „Ich werde jetzt sofort zu einem Spaziergang aufbrechen. Endivie, komm, lass uns promenieren.“

Widerwillig trennte das Pflanzenpokémon sich von seinem Freund und folgte Lily. „Ich werde noch etwas trainieren, wir sehen uns dann beim Abendessen!“, rief Alex ihr noch nach.

Sie folgte wieder dem Weg zu dem kleinen Park, den sie schon zuvor besucht hatte und der Endivie so gut gefallen hatte. Als sie sich auf der Bank im Schatten niederließ, kam ihr Bekannter, das Voltilamm, auf sie zugetrottet und mähte zur Begrüßung. Gedankenverloren gab sie ihm ein Leckerli und streichelte es, während sie über die Worte ihrer Großmutter sinnierte. „Sollte das eine Aufmunterung sein? Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen...“

In diesem Moment landete etwas großes orangefarbenes vor ihr und ließ sie aufschrecken. „Hallo, Lily“, begrüßte Aidan sie, als er von seinem Glurak stieg.

„Hallo.“ Perplex grüßte das Mädchen zurück.

„Ist das dein Voltilamm?“ Er deutete auf das Schafpokémon, welches misstrauisch vor ihm zurückgewichen war, bevor er sich zu Lilys anderer Seite auf die Bank setzte.

„Nein, aber ich habe es schon einmal hier getroffen. Es ist ein ziemlicher Zufall, dass wir uns schon wieder über den Weg laufen, oder?“ Damit meinte sie nicht Voltilamm, sondern den jungen Mann. Eigentlich würde sie unglaublich gern fragen, was er bei ihr daheim in Dukatia City gewollt hatte, doch da sie Rose gegenüber so getan hatte, als wüsste sie nichts von der Sache, konnte sie das schlecht tun.

„Zufall...“, murmelte Aidan und blickte nachdenklich auf den Teich in der Mitte des Parks. Dann nahm er wieder seine übliche Haltung an und wechselte das Thema. „Wieso trägst du einen Kimono?“

„Ach, das...“ Lily lachte nervös. „Das ist wegen des Wettbewerbs vorhin.“

„Oh, wie ist es denn gelaufen?“ Er sah ehrlich interessiert aus, wie er sie so anblickte.

Lily merkte, wie sie wieder errötete, hoffte aber, dass es im Schatten nicht auffallen oder er es auf die Hitze schieben würde. „Leider bin ich nur Zweite geworden.“

„Das heißt doch, dass nur ein Teilnehmer besser war als du!“ Als Lily ihn daraufhin erstaunt ansah – den Spruch hatte sie doch vor Kurzem erst gehört -, fügte er hinzu. „Na ja, das hat mir zumindest mal eine sehr kluge Koordinatorin gesagt.“

Jetzt musste sie ihn einfach fragen, woher er und Rose sich kannten. Dass sie sich kannten, war ja offensichtlich. Zwar hatte Lily in ihrem Kopf einige Szenarien durchgespielt, in denen er ihretwegen zu ihnen nach Hause gekommen war, doch wenn sie objektiv darüber nachdachte, ergab das natürlich keinen Sinn. Rose' Reaktion und sein Verhalten ließen keinen anderen Schluss zu, als dass sie sich von früher kannten. Doch wie konnte sie ihre Frage am besten formulieren?

Bevor sie jedoch dazu kam, etwas zu sagen, stand der junge Mann auf. „Ich werde dann mal weiterziehen. Es hat mich gefreut, dich wiederzusehen, Lily.“ Er stieg auf sein Glurak und hatte schon fast abgehoben, als er noch hinzufügte: „Vielleicht solltest du es fangen.“ Mit dem Kopf deutete er auf Voltilamm, welches noch immer zu Lilys Füßen lag. Dann war er verschwunden.

Lily seufzte frustriert auf. Sie hatte ihre Chance verpasst, ihn nach seiner Beziehung zu ihrer Schwester zu fragen. Wer wusste schon, wann sie je wieder die Gelegenheit dazu bekommen würde?

„Mäh“, ertönte es aus dem Gras.

„Ja, ich weiß, sich hinterher zu ärgern bringt nicht viel.“ Sie tätschelte das flauschige Pokémon und dachte dabei über das nach, was Aidan gesagt hatte. „Hättest du vielleicht Lust, mit mir weiterzureisen?“

„Mäh!“ Voltilamm legte den Kopf schief und betrachtete Lily aufmerksam. Dann stupste es sie freundschaftlich an.

„Soll das ein Ja sein?“ Was tat ein Trainer in einem solchen Fall? Ach ja, er warf einen PokéBall. Das Mädchen kramte in seiner Tasche, bis es einen der rot-weißen Bälle gefunden hatte, und legte ihn dann vor Voltilamm auf den Boden. Wenn es wollte, könnte es sich ihr nun anschließen.

Das Pokémon sah sie noch einmal eingehend an, dann drückte es mit der Schnauze den Knopf des PokéBalls und wurde in einem roten Lichtstrahl eingesaugt. Besagter Knopf leuchtete kurz auf und erlosch dann, was bedeutete, dass Voltilamm nun zu ihrem Team gehörte.

Lily nahm den Ball behutsam auf und drückte ihn vorsichtig, aber glücklich lächelnd an ihre Brust.

Ein stahlharter Gegner

Willkommen zurück! Entschuldigt bitte die lange Pause - ich hoffe, ihr habt noch nicht alles vergessen und bleibt mir bis zum immer näher rückenden Ende der Serie treu!

Ich habe mich diesmal bemüht, den Arenakampf besser auszuschreiben, was ganz schön viel Arbeit war - und ich selbst überspringe solche Stellen beim Lesen anderer Serien immer gern. ^^;

Bevor es losgeht, möchte ich kurz darauf hinweisen, dass ich einige Charakterbilder ausgetauscht habe. Und jetzt habe ich genug geschwafelt!
 

„Ich bin immer noch beeindruckt davon, wie du Jens mit deinem Noctuh praktisch aus der Arena gefegt hast“, sagte Lily und vertilgte mit einem letzten großen Biss ihren köstlichen Hamburger.

„Ach, na ja, ich hatte nun mal einen Typenvorteil, und vielleicht hat Jens auch nicht mit jemandem gerechnet, der schon alle Kanto-Orden hat.“ Etwas verlegen schaute Alex aus dem Fenster des Cafés hinaus aufs Meer. Lily folgte seinem Blick und gemeinsam beobachteten sie, wie ein großes Passagierschiff aus dem Hafen auslief, um sich vermutlich in Richtung Kanto oder zu noch weiter entfernten Regionen aufzumachen. Sie hatten erst zwei Tage zuvor die Hafenstadt erreicht, nachdem Alex glorreich seinen vierten Johto-Orden in Teak City errungen hatte.

„Vermisst du deine Heimat?“, fragte das Mädchen.

Der Junge überlegte kurz. „Schon etwas, aber eigentlich bin ich gerade ganz froh, hier in Johto zu sein.“ Er lächelte Lily an, welche das Lächeln erwiderte. Sie wusste nicht, ob sie es zugeben konnte, aber auch sie war froh, dass Alex in Johto war.

Als sie kurz davor war nervös zu werden, weil die grünen Augen des Jungen noch immer auf ihrem Gesicht ruhten, schob eine Ranke sich auf ihren Teller und stibitzte dort einige der Pommes frites, die sie nicht mehr geschafft hatte. Als sie nachsah, saß Bisasam mit einem gespielt unschuldigen Gesichtsausdruck unter dem Tisch, während Endivie hastig versuchte, den noch nicht gekauten Bissen hinunterzuschlucken. Evoli gab sich nicht einmal Mühe, etwas zu vertuschen, und strahlte Lily bloß glücklich an.

„Ihr seid mir ja eine Rasselbande“, schimpfte diese in gespielt strengem Ton. „Ich hätte euch die Reste doch eh überlassen... Na ja, was soll's. Hier, bitte.“ Sie stellte ihnen den Teller hin, worauf sich alle drei eifrig über die fritterten Kartoffelstangen und ein paar Salatblätter hermachten.

„Mit denen wird es halt nie langweilig“, kommentierte Alex, und beide Kinder mussten lachen.

„Jasmin wird aber sicher nicht so leicht zu schlagen sein“, nahm Alex das vorige Thema wieder auf, als sie wenig später den Laden verlassen hatten und an der Strandpromenade entlang in Richtung Arena spazierten.

„Ihr schafft das schon, da bin ich mir ganz sicher“, sagte Lily zuversichtlich. Alex hatte bisher noch jeden Kampf gewonnen, den sie mit angesehen hatte, und sie hatte absolutes Vertrauen in seine Fähigkeiten als Trainer.

„Mehr als üben und sich fit halten kann man ja nicht, stimmt's?“, erwiderte er. Danach sagte er nichts mehr und ging vermutlich im Kopf ein letztes Mal seine Strategie durch, also schwieg Lily auch, bis sie vor der Arena angekommen waren. „Na dann, viel Glück. Wir drücken dir wie immer die Daumen.“ Sie lächelte ihm noch kurz zu und verzog sich dann mit ihren Pokémon auf die Zuschauertribüne.

Es dauerte nicht lange, da erschienen auch schon ein Schiedsrichter und kurz nach ihm die Arenaleiterin in der Halle. Natürlich kannte Lily alle wichtigen Persönlichkeiten Johtos zumindest aus den Medien, aber in Fleisch und Blut wirkte Jasmin noch viel zarter als auf Film gebannt, und es fiel ihr schwer, sich die zierliche junge Frau als Trainerin eines riesigen Stahlos vorzustellen. Aber dass man in Pokémonkämpfen sowohl bei den Trainern als auch bei den Pokémon selbst besser nicht nach dem Äußeren ging, war nicht nur ihr, sondern auch Alex sicherlich bewusst.

Nachdem Jasmin Alex begrüßt und der Schiedsrichter die Regeln erklärt hatte – jeder setzte drei Pokémon ein -, rief die Arenaleiterin ihr erstes Pokémon, ein Magnetilo, auf den Platz, woraufhin der Herausforderer sein Lampi aus dem Pokéball rief.

Beide Opponenten verloren keine Zeit. Jasmin befahl ihrem Magnetilo einen Superschall, um den Gegner gleich von Anfang zu verwirren, doch Alex konterte mit der gleichen Attacke. Für einen Moment trafen sich die Schallwellen in der Mitte des Kampffeldes, dann verhallten sie ohne Effekt. Offenbar waren beide Pokémon in etwa gleich stark, dachte Lily, was den Kampf sicher interessant machen würde. Dass Alex letztendlich als Sieger hervorging, bezweifelte sie dabei nicht. Die Aquaknarre, die er jetzt ausführen ließ, verfehlte ihr Ziel jedenfalls nicht, richtete aber aufgrund des Types keinen allzu großen Schaden an. Jasmin konterte auch sofort mit einem Ultraschall, der Lampi zumindest etwas schwächte. Alex setzte wieder auf Aquaknarre, die das Magnetpokémon direkt in die Mitte traf. Diesmal schien es schon etwas mitgenommener als zuvor, und Jasmin schien den Kampf langsam beenden zu wollen. Sie befahl energisch einen Donnerblitz, der mit voller Kraft auf Lampi niederging. Alex grinste jedoch nur, als sein Pokémon neue Kraft aus diesem Angriff zu schöpfen schien. „Mein Lampi besitzt die Fähigkeit Voltabsorber – vielen Dank also für diese Aufladung!“

Jasmin wirkte sichtlich verärgert, musste sich jetzt jedoch darauf konzentrieren, die verbleibenden Kräfte ihres Magnetilo zu nutzen, wenn sie das Blatt noch wenden wollte. Bevor sie jedoch erneut zum Angriff ansetzen konnte, hatte Lampi schon gehandelt und ihr Pokémon in einem Whirlpool aus Wasser gefangen. Jasmin konnte nur noch hilflos zusehen, wie es durch das umherwirbelnde Wasser geschleudert wurde und schließlich durch ein Blinken das Ende seiner Kräfte signalisierte. Alex gab den Befehl zum Beenden der Attacke und der Schiedsrichter hob seine Flagge: Die erste Runde ging an Alex.

Jasmin zog ihr besiegtes Pokémon zurück in seinen Ball und holte den nächsten hervor. „Glaub ja nicht, dass du schon gewonnen hast. Ich kenne nun deine Strategie, und mein nächstes Magnetilo wirst du nicht so leicht besiegen.“ Mit diesen Worten schickte sie tatsächlich ein weiteres Exemplar des Magnet-Pokémons in die Arena, woraufhin Alex sein Lampi zurückrief und Bisasam zunickte, welches daraufhin das Kampffeld betrat. Endivie, das zusammen mit Evoli auf Lilys Schoß saß, beugte sich gespannt nach vorne, um das Geschehen besser im Blick zu haben. „Schon gut, Endivie, Bisasam wird das schon machen, es hat ja Übung.“ Als das stärkste Pokémon im Team würde es auch ohne klaren Typenvorteil kurzen Prozess mit Magnetilo machen, vor allem da der Gegner ihm keine effektiven Attacken entgegenzusetzen hatte.

Bevor Jasmin einen Befehl geben konnte, hatte Bisasam schon – wie wahrscheinlich vorher mit seinem Trainer abgesprochen – Schlafpuder auf seinen Gegner geschossen, woraufhin Magnetilo zu Boden sank. Nach einem Zertrümmerer wachte es zwar wieder auf, doch bevor es wieder in die Luft schweben konnte, hatte Bisasam es mit seinen Ranken fixiert. Dabei kassierte es zwar einen Donnerschock, ging jedoch nach einer letzten Lehmschelle als Sieger aus dem Kampf hervor.

Alex rief seinen treuen Freund zu sich und tätschelte ihm lobend auf den Kopf, während Jasmin auch ihr zweites Magnetilo zurückrief. „Bis jetzt hast du dich gut geschlagen, aber an meinem Stahlos wirst du dir die Zähne ausbeißen“, verkündete Jasmin und ließ auch sogleich ihre riesige Stahlschlange, welche noch größer wirkte als im Fernsehen, aus dem Pokéball. Lily saugte gespannt Luft zwischen ihren Zähnen ein, denn sie wusste, dass es nun hart werden würde.

Auch Alex schien das zu wissen, denn er machte ein konzentriertes Gesicht, bevor er seinerseits nach einem Pokéball griff und sein Riolu aufs Feld entließ. Lily fragte sich zwar, ob das kleine Kampfpokémon viel gegen den riesigen Gegner ausrichten konnte, doch sie vertraute darauf, dass Alex eine Strategie hatte. Zumindest hatte er diesmal mehrere effektive Attacken vorzuweisen, ohne selbst anfällig für Stahl- oder Bodenangriffe zu sein.

Jasmin lächelte siegesgewiss, als sie ihrem Stahlos befahl, einen Steinwurf auf Riolu zu starten. Zwar war Alex' Pokémon flink und wich den großen Felsbrocken, die auf es hinunterprasselten, geschickt aus, doch es kam nicht dazu, selbst anzugreifen, und geriet nach einigen Runden ziemlich aus der Puste. Als Stahlos' Angriff endlich beendet war, befahl Alex sofort einen Fußkick. Da diese Attacke stärker wurde, je schwerer der Gegner war, hätte er sicher keine bessere Wahl treffen können, und tatsächlich richtete sie auch einiges an Schaden an – kostete aber auch Riolu wieder viel Kraft. Als das durch den Treffer entzürnte Stahlos es auf Jasmins Befehl in seinen Klammergriff nahm, konnte es nur ein paar mal müde zucken, bis es aufgeben und die Situation als hoffnungslos erkennen musste.

„Das reicht!“, rief Alex und zog Riolu aus dem Klammergriff zurück in seinen Ball.

„Laut Regeln kannst du Bisasam und Lampi noch einmal einsetzen, wenn du möchtest“, merkte Jasmin an.

Alex schüttelte den Kopf. „Danke, aber ich würde gern später noch einmal kämpfen, wenn das in Ordnung ist.“ Als Jasmin bejahte, bedankte er sich und kam auf Lily zu, die sich schon in Richtung Ausgang bewegt hatte. Endivie stürzte sofort zu Bisasam, um es auf etwaige Verletzungen zu prüfen.

„Es hätte keinen Sinn gehabt, Bisasam und Lampi auch noch in die Arena zu schicken. Keins von ihnen hätte effektiv gegen Stahlos angehen können, zumindest nicht ohne die richtige Strategie. Da werde ich wohl noch etwas grübeln und trainieren müssen – aber wir sind ja eh noch bis zu deinem Wettbewerb in der Stadt.“ Zu Lilys Erleichterung wirkte Alex nicht enttäuscht, sondern entschlossen wie eh und je.

„Wegen mir brauchst du dich nicht zu hetzen“, versicherte sie ihm und lächelte ihm aufmunternd zu. „Und wenn es hilft, stehe ich dir auch als Trainingspartnerin zur Verfügung.“

„Das hilft mir in der Tat.“ Er erwiderte ihr Lächeln, bevor sie sich durch die großen Flügeltüren auf den Weg nach draußen machten. Bevor sie sich jedoch einen Schritt von der Arena entfernen konnten, landete ein großer Schatten direkt vor ihren Füßen und versperrte ihnen so den Weg. Von einem imposanten Glurak stieg, wie könnte es auch anders sein, Aidan, der wieder einmal aus dem Nichts aufgetaucht war.

Nachdem er Lily begrüßt hatte, wandte er sich an Alex: „Na, das war aber nicht gerade deine beste Leistung. Da wirst du noch viel üben müssen, kleiner Bruder.“

Familienangelegenheiten I

Eigentlich sollte dieses Kapitel länger werden, aber damit ihr nicht zu lange auf die Auflösung des vom letzten Mal warten müsst, habe ich es geteilt und werde den zweiten Teil nächstes Wochenende hochladen. Tut mir Leid!
 

Lily blickte erstaunt zwischen den beiden Trainern hin und her. „Bruder?!“ Alex, ihr freundlicher, bescheidener und pflanzenliebender Reisebegleiter, und Aidan, der sie am ersten Tag ihrer Reise gerettet und eine Vorliebe für imposante Auftritte hatte?

„Alex hier erzählt wohl nicht gerne von mir“, stellte Aidan fest. „Dabei muss es ihm doch nicht peinlich sein, dass er noch nicht so gut ist wie sein großer Bruder.“

„Mir ist auch eher deine Art peinlich“, grummelte Alex so leise, dass nur Lily ihn hören konnte. „Was tust du überhaupt hier?“, fügte er dann lauter hinzu.

„Ich wollte eben mal sehen, wie sich mein kleiner Bruder so schlägt“, antwortete Aidan leichthin. „Nicht so gut, wie es scheint.“

Nach Lilys Meinung schlug sich Alex ganz vorzüglich, aber bevor sie Aidan das sagen oder sich überhaupt entscheiden konnte, sich in diesen Geschwisterstreit einzumischen, hatte Alex schon geantwortet: „Du meldest dich doch sonst nicht mal über den PokéCom. Woher willst du jetzt plötzlich wissen, wie es läuft?“

„Das konnte ich an deinem Gesicht erkennen“, erklärte Aidan wie selbstverständlich, bevor er hinzufügte: „Und durch das Glasdach der Arena. Vielleicht solltest du doch mal über die Balance in deinem Team nachdenken; mit einem Feuerpokémon wärst du hier einfach so durchgefegt.“

„Ich mag aber mein Team, so wie es ist“, erwiderte Alex betont ruhig, doch Lily konnte sehen, dass er seine Hände zu Fäusten geballt hatte. Sein Bisasam starrte derweil angriffslustig Aidans Glurak an, welches gelangweilt Rauchwolken aus seinen Nasenlöchern blies.

„Alex wollte eben seinen Pokémon nicht zu viel zumuten und hat deshalb den Kampf vertagt“, mischte Lily sich nun doch ein, weil sie eine Eskalation der Situation befürchtete. „Und alle Kämpfe, die ich davor gesehen habe, hat er auf Anhieb gewonnen.“ Als Aidan sich daraufhin ihr zuwandte und sie aufmerksam betrachtete, musste sie sich alle Mühe geben, nicht verlegen den Blick abzuwenden, doch sie war es Alex einfach schuldig, nachdem er immer so nett zu ihr gewesen war.

Dennoch war sie froh, als Aidan sich wieder auf Alex konzentrierte. „Wenn das so ist, dann kämpfe gegen mich und beweise mir, dass Lily nicht bloß versucht, deine Gefühle zu schonen“, forderte er ihn heraus.

„Kann nicht“, erwiderte Alex jedoch bloß knapp. „Auch wenn du es gern hättest, dass man wegen dir alles stehen und liegen lässt, muss ich zuerst meine Pokémon versorgen.“ Er machte einen Schritt in Richtung Pokémoncenter, hielt dann jedoch inne. „Und woher kennst du eigentlich Lily?“

„Tja, das ist eine lange Geschichte“, begann Aidan, fügte jedoch nichts hinzu, sodass Lily sich gezwungen sah, die Sache selbst zu erklären.

„Am allerersten Tag meiner Reise hat Aidan mich vor einem gemeinen Trainer gerettet, der mit seinem Granbull mein Evoli angegriffen hat. Deshalb war ich damals im Pokémoncenter von Viola City, wo wir uns getroffen haben, erinnerst du dich?“ Als Alex nickte, sprach sie weiter: „Seitdem sind wir uns noch einige Male zufällig über den Weg gelaufen, zuletzt in Teak City nach meinem Wettbewerb.“

„Ganz so zufällig war das nicht“, gab Aidan zu, und Lilys Herz machte einen Sprung. Aber halt, was dachte sie denn da. Natürlich waren das keine Zufälle – aber das bedeutete nicht, dass er sie ihretwegen aufgesucht hatte. Dieses Mal würde sie ihn danach fragen, das schwor sie sich innerlich.

Alex sah seinen älteren Bruder misstrauisch an. „Kannst du kein Mädchen in deinem Alter stalken?“

„Glaub mir, das versuche ich ja“, erwiderte Aidan, ohne von dem Kommentar beleidigt zu scheinen.

Lily schluckte einmal schwer und nahm dann all ihren Mut zusammen. „Was ist zwischen dir und meiner Schwester?“

Sie konnte aus dem Augenwinkel sehen, wie Alex den Kopf zu ihr drehte und sie erstaunt ansah, doch sie wandte ihren Blick nicht von Aidan ab. Diesmal würde sie ihre Antwort bekommen, und wenn sie ihr Evoli auf sein Glurak hetzen musste.

„Tja, das gehört alles zu der langen Geschichte. Vielleicht klären wir das nicht unbedingt hier.“ Lily hatte beinahe vergessen, dass sie immer noch mitten vor der Arena standen, wo sie von mehreren Passanten neugierig beäugt wurden.

„Ich muss sowieso bald mal ins Pokémoncenter; wieso setzen wir uns nicht dort hin?“, schlug Alex vor. Während sie die kurze Strecke zurücklegten, warf Lily immer wieder verstohlene Blicke zu den beiden Trainern, die ihr vorneweg liefen. Aidan wirkte anders als sonst auf sie, weniger charmant und erwachsen. Ob das daran lag, dass er nicht sehr nett zu Alex gewesen war? Hatte ihr Reisebegleiter nicht einmal erwähnt, dass sein Bruder oft arrogant ihm gegenüber war? Wenn sie damals gewusst hätte, dass es sich um Aidan handelte, hätte sie es vielleicht nicht geglaubt, aber nach der Szene vor der Arena musste sie Alex Recht geben. Irgendwie enttäuschte sie die Tatsache, dass ihr „Held“ auch schlechte Seiten hatte – auch wenn sie sich das natürlich hätte denken können, immerhin war er ja menschlich.

Nachdem Alex seine Pokémon bei Schwester Joy gelassen hatte, suchten die Drei sich einen Tisch in einer ruhigen Ecke der um diese Tageszeit sowieso eher wenig besuchten Cafeteria.

„Also, das war so: Vor einigen Jahren, als ich noch nicht in der Liga gewonnen hatte“ - an dieser Stelle verdrehte Alex die Augen - „traf ich auf eine Koordinatorin in meinem Alter. Jung und arrogant wie ich war – kein Wort von dir, Alex -, forderte ich sie zu einem Kampf heraus und verlor. Ihr Psiana hat mein Glutexo plattgemacht, ohne selbst auch nur ins Schwitzen zu geraten.“ Er strich mit den Fingern gedankenverloren über den Pokéball, in den er Glurak vor Betreten des Gebäudes zurückgerufen hatte. „Wie du sicher schon ahnst, handelte es sich bei dieser Koordinatorin um deine Schwester Rose. Irgendwann liefen wir uns immer öfter über den Weg und... kamen uns näher, aber dann vor zwei Jahren verschwand sie plötzlich von der Bildfläche, und ich hatte keine Ahnung wieso.“

Dass Rose und Aidan sich von früher kannten, hatte Lily sich natürlich schon zusammengereimt, aber die Tatsache, dass sie sich „näher gekommen“ waren, versetzte ihr trotzdem einen Stich. Wie nah genau und wieso hatte Rose ihr all das verschwiegen? Sie spürte Alex' Blick auf sich ruhen, und als sie sich ihm zuwandte, hob er fragend die Augenbrauen.

„Vor zwei Jahren ist unsere Mutter bei einem Forschungsunfall... verunglückt“, erklärte Lily. "Rose hat daraufhin ihre Pokémon-Karriere aufgegeben und ist nach Hause gekommen, damit ich nicht allein bin oder zu Verwandten muss.“ War dies wirklich die gleiche Rose, die ihr wichtige Informationen vorenthielt?

„Davon wusste ich nichts.“ Aidan wirkte ehrlich betroffen. „Wir hatten eine... Meinungsverschiedenheit, und als ich die Sache wieder geradebiegen wollte, hatte sie sich von allen Wettbewerben abgemeldet und niemand wusste, wo sie hingegangen war. Da wir uns zuvor gestritten hatten, nahm ich an, sie wäre meinetwegen verschwunden.“ An dieser Stelle murmelte Alex etwas, das schwer nach „die Welt dreht sich nicht nur um dich“ klang. Aidan ignorierte ihn jedoch und fuhr fort: „In letzter Zeit musste ich aber ständig an sie denken und habe mich auf die Suche nach ihr gemacht. Deshalb war ich in Johto und deshalb sind wir uns so oft über den Weg gelaufen, Lily.“

„Deshalb warst du auch bei uns zu Hause...“ Was Rose ihr verschwiegen hatte.

„Davon weißt du?“, fragte Aidan überrascht.

„Ich habe euch gehört“, gab Lily zu. "Zumindest etwas – was ihr genau gesagt habt, weiß ich nicht. Rose hat mir nicht einmal erzählt, wer an der Tür war.“

„Sie war nicht gerade begeistert, mich zu sehen, fürchte ich.“ Aidan seufzte. „Na ja, wir sind damals wirklich im Streit auseinander gegangen, und nach dem, was du sagst, hat sie wohl wichtigere Dinge im Kopf...“

„Wie hast du überhaupt Lilys Haus gefunden? Oder Lily?“, mischte sich Alex sein.

„Das war gar nicht so einfach. Ich hatte ja keine Adresse von Rose, und über ihren PokéCom konnte ich sie auch nicht erreichen.“ Wenn Lily sich recht erinnerte, hatte Rose das Gerät abgeschafft, als sie vor zwei Jahren zurück nach Hause gekehrt war. Vermutlich wollte sie nicht an die Welt erinnert werden, die sie zurückgelassen hatte. „Jedenfalls habe ich mir ordentlich den Kopf zerbrochen, bis ich auf die Idee kam, mein Galagladi nach ihrem Gardevoir suchen zu lassen. Psychopokémon finden psychische Energie, und die beiden kannten sich noch von früher, als sie beide Kirlias waren. Es hat auch tatsächlich funktioniert, nur als ich Gardevoir gefunden hatte, war es nicht bei Rose, sondern bei dir, Lily.“

„Wie bitte?“ Nun war es an Lily, erstaunt zu sein. „Gardevoir, bei mir?“

Aidan nickte. „Immer, wenn ich Gardevoir aufgespürt hatte, bin ich bei dir gelandet. Deshalb die vielen zufälligen Begegnungen.“

„Aber wieso denn das?“ Lily fuhr sich mit der Hand über die Stirn und schloss die Augen, um nachzudenken.

„Hast du dich nicht öfter beobachtet gefühlt?“, warf Alex ein.

„Habe ich.“ Sie war also doch nicht paranoid. „Dann war das Gardevoir?“ Aber... wieso?

„Gardevoir oder der Stalker hier“, bemerkte Alex trocken.

Aidan zuckte mit den Schultern. „Das wirst du Rose schon selbst fragen müssen. Mit mir hat sie nicht unbedingt geplaudert.“

Lily schlug beide Handflächen auf den Tisch und erhob sich energisch von ihrem Stuhl. „Wisst ihr was? Das werde ich tun. Und zwar sofort.“ Sie wollte Antworten. Und diesmal würde sie die ganze Wahrheit von ihrer Schwester einfordern.

Familienangelegenheiten II

Entschlossen bahnte Lily sich ihren Weg durch die Lobby des Pokémoncenters in Richtung der Bildtelefone, die in der hintersten Ecke zumindest etwas Privatsphäre boten. Sie tippte die Telefonnummer ein und wartete mit klopfendem Herzen darauf, dass ihre Schwester sich melden würde. Sicher hatte sie für alles eine triftige Erklärung und es gab überhaupt keinen Grund für Lily, sich betrogen zu fühlen. Zumindest redete sie sich das ein, bis Rose das Gespräch annahm und ihr Gesicht auf dem Bildschirm erschien.

„Hallo, Lily“, grüßte sie freundlich lächelnd wie immer. „Was gibt es?“

„Hallo“, erwiderte das Mädchen knapp und bemühte sich, kühl zu bleiben. „Eins deiner Pokémon hat sich anscheinend selbstständig gemacht.“

Wie erwartet reagierte Rose verwirrt. „Wovon redest du, Lily? Ist alles in Ordnung bei dir?“

„Ich weiß nicht“, erwiderte sie. „Das hängt davon ab, ob du dein Gardevoir auf mich angesetzt hast oder nicht. Und ob es noch andere wichtige Dinge gibt, die du mir verschwiegen hast.“

Selbst über den Bildschirm konnte sie erkennen, wie sämtliche Farbe aus dem Gesicht ihrer Schwester wich. Fast hätte sie deshalb das Thema fallen gelassen, doch sie wollte Antworten und sie würde Antworten bekommen. Wenn Rose in der Lage war, sie beschatten zu lassen, dann musste sie auch die sich daraus ergebende Fragerunde überstehen.

Rose atmete tief aus und blickte Lily dann ernst ins Gesicht. „Es stimmt, ich habe Gardevoir gesagt, es soll dir folgen. Aber doch nur, weil ich mir Sorgen um dich gemacht habe.“

„Du hast mir hinterherspioniert!“, rief Lily aufgebracht. „Vertraust du mir denn überhaupt nicht?“

„Natürlich vertraue ich dir!“ Auch Rose hatte untypischerweise ihre Stimme erhoben. „Aber...“

Lily unterbrach sie sofort: „Wieso erzählst du mir dann nie etwas? Zwei Jahre lang hast du über Mums Verbleib gelogen, als Aidan neulich bei uns war, hast du mir auch nicht die Wahrheit gesagt. Du hältst immer alles vor mir geheim und tust dann so, als wäre es zu meinem Besten! Aber was ich mache, spionierst du mit Hilfe deiner Pokémon aus! Das ist einfach nicht gerecht!“ Je mehr sie aufzählte, desto wütender wurde Lily. Sie hatte es satt, von Rose wie ein kleines Kind behandelt zu werden.

„Ich habe dich nicht ausspioniert, sondern nur versucht, dich zu beschützen!“, wandte Rose ein. „Deshalb habe ich dir auch die Wahrheit über Mum verschwiegen. Ich dachte, du hättest das verstanden. Und woher zum Himmel weißt du von Aidan?“

„Lenk nicht ab! Du hast mich ausspioniert, egal wie du es nennst! Während ich total ahnungslos durch die Weltgeschichte gewandert bin, warst du immer bestens über alles informiert. War es schwer, überrascht zu tun, wenn ich dir von meinen Neuigkeiten erzählt habe? Vermutlich nicht, denn das Lügen scheint dir ja auch leicht gefallen zu sein.“ Kein Wunder, dass Rose nicht großartig reagiert hatte ob Lilys Offenbarung, sie würde mit Alex reisen: Sie hatte schließlich schon längst davon gewusst.

„Ich habe sicher einige Dinge getan, die nicht richtig waren, aber angelogen habe ich dich nie, das musst du mir glauben, Lily“, warf Rose ein und klang beinahe flehentlich, doch Lily war inzwischen zu sehr in Rage, um sich davon beeindrucken zu lassen.

„Stimmt, du hast nur die Wahrheit verschwiegen! Was glaubst du eigentlich, wie ich mich bei all dem fühle? Ich dachte wochenlang, ich wäre paranoid, aber in Wahrheit hat dein Gardevoir mich die ganze Zeit verfolgt! Und Aidan deshalb auch, wobei er natürlich eigentlich hinter dir her war, wie könnte es auch anders sein. Vielleicht hatte Großmutter Recht, was dich angeht: Vielleicht sind dir das Rampenlicht und berühmte Trainer wirklich am wichtigsten auf der Welt.“ Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass das wohl nicht stimmte, dass Rose niemals zu ihr nach Hause gekommen wäre, wenn dem so wäre, aber im diesem Moment war sie so wütend, dass sie ihr einfach irgendetwas Gemeines an den Kopf werfen wollte.

Für den Bruchteil einer Sekunde flackerte Entsetzen über Rose' Gesicht, dann verhärtete sich ihr Ausdruck und sie fand zurück zu ihrem alten kühlen Selbst. „Deine Vorwürfe sind ziemlich ungerechtfertigt, Lily, und dein Tonfall ebenso. Denk daran, wo du dich gerade befindest.“ Sie hob die Hand, um Lily, die Antworten und keinen Rüffel wollte, zum Schweigen zu bringen. „Aber du hast Recht: Es war nicht richtig von mir, dich von Gardevoir beschatten zu lassen, auch wenn ich es- und das musst du mir glauben – wirklich nur gut gemeint habe. Es tut mir sehr Leid.“

Für einen Moment war Lily kurz davor, ihrer Schwester zu vergeben, doch dann fügte diese hinzu: „Würdest du mir jetzt bitte erklären, was Aidan mit der Sache zu tun hat?“

Sie dachte daran, wie Aidan sie freundlich, aber im Nachhinein betrachtet etwas unverbindlich angelächelt hatte, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren, und dann daran, wie der Ausdruck in seinen rotbraunen Augen sich verändert hatte, als er von Rose sprach. Sie verstand noch nicht allzu viel von komplexen Gefühlen wie Liebe, aber sie hatte doch bemerkt, dass er etwas Besonderes für Rose empfinden musste, denn mit diesem Ausdruck hatte er Lily noch nie angesehen. Wäre sie älter gewesen, hätte Lily wohl gemerkt, dass der Stich, den sie dabei in ihrer Brust verspürte, eher der Neid auf das scheinbar aufregende Leben ihrer Schwester war als echte Eifersucht, die durch tiefe Gefühle für Aidan entstanden war. Momentan jedoch fühlte sie nur einen Schmerz, den sie nicht zuordnen konnte, und ließ diesen an der einzigen Person aus, die ihr einfiel.

„Ich dachte, Aidan ist dir egal? Zumindest hat er gesagt, du redest nicht mit ihm. Ich werde jedenfalls auch mal etwas für mich behalten und dir nicht erzählen, was er zu mir gesagt hat. Und jetzt entschuldige mich, ich habe noch andere Dinge zu tun.“ Bevor Rose antworten konnte, beendete sie das Gespräch und lehnte sich für einen Moment an die Wand, um tief durchzuatmen und sich zu beruhigen, bevor sie zurück zu Aidan und Alex ging.

„Und, wie ist es gelaufen?“, fragte Aidan. „Hoffentlich war sie nicht wütend, weil ich dir von Gardevoir erzählt habe.“

„Rose hat keinen Grund, wütend auf dich zu sein. Immerhin war sie es, die ihr Pokémon hinter mit herschnüffeln lassen hat“, erwiderte Lily.

Aidan blickte sie nachdenklich an. „Ich kann verstehen, dass du verärgert bist, aber wie ich Rose kenne, hatte sie sicher gute Gründe dafür. Wenn sie, wie du sagtest, jetzt allein für dich verantwortlich ist, wollte sie bestimmt nur sicherstellen, dass dir nichts passiert.“

Wieder spürte Lily diesen Stich in ihrer Brust. „Ich weiß, das hat sie auch behauptet. Aber ich habe es satt, dass sie mir gar nichts zutraut. Ich wette, wenn sie mir erlaubt hätte, bei der Suche nach Mum zu helfen, hätten wir schon etwas mehr herausgefunden.“ Plötzlich kam ihr eine Idee. „Wisst ihr was? Ich werde noch einmal in die Alph-Ruinen gehen und mich dieses Mal genauer umsehen.

„Hältst du das wirklich für eine gute Idee?“ Aidan sah wenig begeistert aus, und auch auf Alex' Gesicht zeichneten sich Zweifel ab. „Ist das nicht gefährlich?“

„Ihr müsst ja nicht mitkommen.“ Wenn sie ganz ehrlich war, hatte Lily durchaus Angst – nicht nur davor, was passieren könnte, sondern vor allem vor dem, was sie möglicherweise herausfinden würde -, aber sie würde die innere Unruhe, die sie seit der Enthüllung mit sich herumtrug, wohl nicht anders loswerden. Und wenn sie jetzt nicht ging, wo ihre Wut sie antrieb, dann nie, das wusste sie.

„Es ist beschlossene Sache: Ich breche morgen in Richtung Alph-Ruinen auf.“

Es werde Licht

Lily atmete einmal tief durch. Dann noch einmal. Und dann ein letztes Mal, bevor sie das Tor zu den Alph-Ruinen durchschritt. Es war schon Nachmittag, da sie trotz ihres frühen Aufbruchs aus Teak City einen halben Tag zu Fuß gebraucht hatte, wohin sie auch erst nach einem Tagesmarsch von Oliviana City aus gekommen war. Sie hatte kurz überlegt, Aidan und sein Glurak um Transporthilfe zu bitten, diesen Gedanken aber wieder verworfen. Sie wollte sich nicht mehr von anderen abhängig machen, und wer wusste schon, ob Aidan sie nicht stattdessen einfach zu Hause in Dukatia City abgesetzt hätte, wo kleine Mädchen seiner Meinung nach hingehörten? Er hatte am Morgen noch versucht, ihr die Idee auszureden, sicher um sich vor Rose nicht verantworten zu müssen, falls ihr etwas zustoßen sollte. Doch sie war hart geblieben, oder stur, wie Aidan sie genannt hatte. Vermutlich war er schon bei Rose und brachte sie her, damit sie ihr gemeinsam ihre „Flausen“ austreiben konnten. Deshalb musste sie sich beeilen. Sie hatte schon genug Zeit damit verloren, sich unauffällig an den Forschern und anderen Besuchern vorbei durch die Absperrung zu schleichen, die ironischerweise erst durch ihre eigene Warnung aufgestellt worden war.

„Spürst du etwas, Girafarig?“, fragte sie das treue Pokémon ihrer Mutter, welches jedoch zu zögern schien.

Lily ging auf das Pokémon zu und legte ihm die Hand auf die Stirn. „Ich weiß, dass du mich beschützen und nicht in eine gefährliche Ruine schicken willst. Aber bitte, Girafarig, ich will endlich meine Mutter wiederhaben, das verstehst du doch sicher?“ Sie spürte, wie eine Träne sich aus ihrem Auge löste und ihre Wange hinunterrollte. Hastig wischte sie sie ab; jetzt war nun wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, um emotional zu werden. Jetzt war es Zeit zu handeln.

Girafarig nickte und lief dann voraus in Richtung des halb zerfallenen Gebäudes, zu dem es ihr bei ihrem letzten Besuch noch den Zutritt verwehrt hatte.

„Willst du das wirklich machen?“

Lily drehte sich zu Alex um, der einige Schritte hinter ihr stand und das Geschehen bisher stumm verfolgt hatte. „Habe ich denn eine Wahl? Ich will endlich meine Mutter zurück!“ Sie musste ja nicht zugeben, dass sie natürlich trotzdem große Angst hatte. Keines ihrer Pokémon war besonders kampferprobt und wer wusste schon, was sie drinnen erwarten würde? Was, wenn sich herausstellte, dass ihre Mutter gar nicht verschollen war, sondern...?

Lily schüttelte den Kopf, um diesen Gedanken zu vertreiben. „Ich werde da jetzt hineingehen und ein für alle Mal herausfinden, was passiert ist.“ Entschlossen setzte sie einen Fuß auf die Schwelle zur Ruine.

„Dann werde ich mit dir gehen. Keine Widerrede.“ Seite an Seite schritten sie ins Innere des halbverfallenen Gebäudes und warteten, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Vor ihnen erstreckte sich ein großes Loch im Boden, und Lily schluckte schwer. Sie wollte wirklich nicht allein gehen, aber es fühlte sich falsch an, Alex mit in ihre Familienangelegenheiten hineinzuziehen. Wenn ihm etwas zustoßen sollte, wäre das für seine eigene Familie eine Katastrophe.

„Ich denke, du solltest lieber hierbleiben“, sagte sie deshalb zu ihm und bemühte sich, das Zittern in ihrer Stimme zu verbergen. Es gelang ihr nicht.

„Du glaubst doch nicht, dass ich dich alleine da reingehen lassen?“, widersprach Alex. „Lily, das ist gefährlich! Dir könnte sonst etwas passieren!“

„Das weiß ich! Und genau deshalb sollst du nicht mitgehen! Es gibt Menschen, denen du wichtig bist.“ Eigentlich hatte sie gehofft, dass er darauf bestehen würde, aber sie musste jetzt stark bleiben.

„Und du glaubst, du bist niemandem wichtig?“ Alex' erhobene Stimme hallte unangenehm laut in dem leeren Raum und in ihren Ohren. In Lilys Augen bildeten sich wieder Tränen. „Ich habe doch sonst niemanden“, flüsterte sie.

„Das ist nicht wahr“, erklang es hinter ihr. Im Eingang zur Ruine stand Rose. Die untergehende Sonne in ihrem Rücken ließ sie wie eine Erscheinung aussehen, und Lily unterdrückte einen erleichterten Schluchzer, als sie ihre ältere Schwester sah. Egal wie wütend sie war, ihre Angst überwog.

Die junge Frau wandte sich an Alex. „Danke, dass du Lily so ein guter Freund bist. Aber sie hat Recht, in diese Sache dürfen wir dich nicht hineinziehen. Das kann ich nicht verantworten.“ Sie hob eine Hand, als der Junge zum Protest ansetzte. „Falls wir Verstärkung brauchen, rufen wir euch.“

Bevor Lily sich wundern konnte, wer mit „euch“ gemeint war, trat Aidan herein. „Sorry, kleiner Bruder, aber die Damen sind stur. Muss in der Familie liegen.“

Widerwillig schritt Alex zurück zum Eingang und stellte sich neben seinen Bruder. „Ich weiß, du kannst es schaffen“, sagte er zu Lily. „Wir warten hier.“ Er lächelte ihr aufmunternd zu.

Rose ließ ihr Guardevoir aus seinem Ball und nahm Lily an die Hand. „Falls wir Hilfe brauchen, werdet ihr es wissen.“ Sie warf Aidan einen Blick zu, der zwischen hoffnungsvoll und ängstlich lag. Der Trainer nickte ihr zu. „Bis nachher. Versprochen.“

Dann drehten die beiden Schwestern sich um und kletterten in das Loch. Rose holte eine Taschenlampe hervor und leuchtete umher. „Siehst du die Symbole überall an den Wänden?“, fragte sie. „Das sind Icognito. Und irgendwie habe ich das Gefühl, sie sind mehr als nur gezeichnet.“

Lily erschauderte. „Meinst du, sie wissen, was mit Mum passiert ist?“

„Es würde mich nicht wundern, wenn sie etwas damit zu tun hätten“, erwiderte ihre Schwester. „Die Frage ist nur, wie wir sie zum Reden bringen.“

"Wieso hast du mir nie von Aidan erzählt?", fragte Lily plötzlich. Der Zeitpunkt war ungünstig, das wusste sie, aber falls ihnen etwas zustieße, würde sie niemals die Antwort erfahren.

Rose seufzte. "Ich weiß es auch nicht genau... Anfangs fand ich es spannend, ein geheimes Leben abseits von meiner Familie zu haben. Und es war schön, im Rampenlicht zu stehen und beliebt zu sein. Aber mit der Zeit habe ich gemerkt, dass mir das nicht reicht, dass all die Menschen, die mir zujubeln, nicht wichtig sind, sondern nur meine Familie. Aber das konnte ich nicht zugeben, nachdem ich jahrelang davon geredet hatte, Topkoordinatorin zu werden und Mum so stolz auf mich war... Und Daddy hatte sich ja auch immer gewünscht, dass ich einmal erfolgreich sein würde. Ich wollte es mir auch selbst nicht eingestehen, aber es gab Momente, in denen ich mich so elend gefühlt habe, dass ich am liebsten weinend nach Hause gerannt wäre. Das konnte ich mir einfach nicht erlauben, nicht nachdem ich so hart gearbeitet hatte. Irgendwann war ich an einem Punkt, dass ich nicht einmal mehr wusste, wieso mir die Wettbewerbe so wichtig waren und was der Sinn von all dem sein sollte. Ich war traurig und einsam und habe mich an Aidan geklammert, der daraufhin immer distanzierter wurde, und ich hatte wirklich Angst, alles zu verlieren. In dem Zustand hätte ich niemals das nächste Große Festival gewonnen und ich war kurz davor, alles hinzuschmeißen, als ich die Nachricht erhielt, Mum wäre verschwunden und du ganz allein zu Hause. Ich bin sofort aufgebrochen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für eine Angst ich hatte. Ich hatte niemals vor, dich auszuspionieren, Lily, ich hatte nur solche Angst, dich auch noch zu verlieren. Ich habe doch nur noch dich..." Sie schniefte einmal hörbar.

Nachdem Rose sich ihr so geöffnet hatte, konnte Lily einfach nicht mehr wütend sein. "Ich habe doch auch nur noch dich", brachte sie noch hervor, bevor sie weinend die Arme um ihre Schwester schlang. Rose erwiderte die Umarmung und für eine lange Weile hielten sich die beiden Mädchen einfach nur gegenseitig fest, während sie endlich ihren Tränen freien Lauf ließen.

Als sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatten, fragte Lily: "Wieso hast du mich denn letztendlich doch ziehen lassen, wenn du dir solche Sorgen gemacht hast?"

"Ich konnte dich einfach nicht noch länger meinetwegen zu Hause behalten. Natürlich hatte ich Angst, dass dir etwas zustoßen könnte, aber auch ein schlechtes Gewissen dir gegenüber. Ich kann dich doch nicht ewig bei mir behalten... Nur weil ich nicht mehr träumen konnte, wollte ich nicht von dir verlangen, deine Träume aufzugeben. Vielleicht habe ich sogar gehofft, dass es mir mit der Zeit besser gehen würde, wenn ich sehe, wie du deinen Weg gehst. Jedenfalls tut es mir sehr Leid, dass ich dein Vertrauen missbraucht habe."

"Vergeben und vergessen. Aber wenn du einfach gesagt hättest, wie die Dinge stehen, wäre ich bei dir geblieben oder wir hätten zusammen reisen und nach Mum suchen können..."

Selbst im schwachen Licht der Taschenlampe konnte Lily sehen, wie ihre Schwester lächelte. "Du bist wohl doch die Klügere von uns beiden."

Lily erwiderte das Lächeln. "Ich habe nur von der Besten gelernt. Und ich glaube, ich habe eine Idee.“ Sie rief ihr Voltilamm aus seinem Ball und tätschelte ihm kurz den Kopf. „Kannst du bitte deine Blitzattacke einsetzen?“

Das Schafspokémon mähte einmal kurz, dann konzentrierte es sich und ein helles Licht umgab die kleine Gruppe. Plötzlich begann der Boden unter ihnen zu wackeln, und Lily konnte nur noch einen erstickten Schrei ausstoßen, bevor sie das Bewusstsein verlor.

Icognito

„Wo sind wir hier?“, fragte Lily, rappelte sich auf und rieb sich die leicht schmerzende Stirn und tastete nach ihrer Schwester und ihren Pokémon. Um sie herum war es schwarz, doch die Dunkelheit fühlte sich unnatürlich an. Die Atmosphäre war drückender als zuvor, aber trotzdem fröstelte Lily und rieb sich erfolglos über die Arme, um ihre Gänsehaut zu vertreiben. Zumindest hatte sie sonst keine Schmerzen, und auch der Rest ihrer Gruppe schien zwar leicht benommen, aber unverletzt zu sein. Voltilamm war so aufgeregt, dass sein Fell mit Elektrizität knisterte, und Girafarig drängte sich näher an die Töchter seiner Besitzerin und stupste sie mit dem Kopf immer wieder an, bis sie an eine Wand stießen. Gleichzeitig schien es Voltilamm in seinen Ball zurückbefördern zu wollen.

„Ich bin mir nicht sicher.“ Rose fuhr vorsichtig mit den Fingern an dem kühlen Stein entlang. „Der Blitz muss irgendetwas ausgelöst und uns in eine andere Kammer befördert haben. Und wenn ich Girafarigs Verhalten richtig interpretiere, gibt es hier etwas, das mit der Sache zu tun hat. Vielleicht hat Mum es damals auch Blitz einsetzen lassen, um sich die Arbeit zu erleichtern, und ist in dieser Kammer gelandet.“

Lily rief ihr zitterndes Voltilamm zurück in seinen Ball und rückte näher an ihre Schwester. „Girafarig scheint jedenfalls zu wollen, dass wir keine Blitzattacke mehr einsetzen. Zum Glück hatte ich die Taschenlampe, die du mir damals eingepackt hast, noch dabei.“ Sie knipste die Lampe, die sie oben kurzzeitig wieder in der Tasche verstaut hatte, erneut an. Kurz darauf bekam sie den Schreck ihres Lebens.

Um sie herum schwirrten unzählige schwarze Gestalten in der Luft. Alle waren in etwa einen halben Meter groß und stellten jeweils einen Buchstaben dar. Jedes der Pokémon hatte nur ein großes, rundes Auge, dessen in der Dunkelheit gut sichtbares Weiß nur eine kleine schwarze Pupille zeigte. Lily fühlte sich, als wäre sie inmitten einer gruseligen Buchstabensuppe gelandet.

„Icognito...“, flüsterte Rose und zog Lily näher an sich heran.

„Was machen wir denn jetzt?“, fragte Lily so leise sie konnte, um die näherkommenden Pokémon weder noch mehr aufzuschrecken noch ihre eigene Angst deutlich zu machen. Keine ihrer beiden Absichten schien jedoch erfolgreich, da die Icognito immer aufgeregter zu wirken schienen und sie selbst ebenfalls mehr und mehr in Panik geriet.

Sie spürte, wie sich Rose' Brustkorb stark hob und senkte, als würde sie tief ein- und ausatmen. „Wir müssen ruhig bleiben. Ich glaube, sie können unsere Gefühle lesen.“

Lily versuchte, sich an den Atemzügen ihrer Schwester zu orientieren, und merkte, wie ihre Panik langsam geringer wurde. Sie war nicht allein, und wenn sie sich recht erinnerte, hatten Icognito genau so viel Angst vor Menschen. „Vielleicht haben wir sie aus dem Schlaf gerissen oder so.“ Sie kramte in ihrem Gedächtnis nach Wissen aus ihren Lehrbüchern und dem, was ihre Mutter früher erzählt hatte. Demnach waren Icognito scheue Pokémon, die den Kontakt zu Menschen mieden, weshalb wenig über sie bekannt war. Wie auch Rose erinnerte sie sich daran, dass Icognito nach dem bisherigen Stand der Forschung in der Lage zu sein schienen, die Gefühle von Menschen zu erkennen und untereinander mit einer Art Telepathie zu kommunizieren. Obwohl die einzige Attacke, die sie beherrschten, Kraftreserve war, waren sie in der Herde durchaus gefährliche Gegner, da sie dadurch gegen viele Pokémon-Typen effektiv angreifen konnten. Wenn sie überlegte, dass die Pokémon sonst an dunklen Orten wie diesem lebten, schien es durchaus plausibel, dass ein Blitz sie aufschrecken würde.

Rose entfernte sich ein Stück von ihr, um Psianas Pokéball aus ihrer Hosentasche zu holen, und auch Lily ließ Evoli und Endivie wieder aus ihren Bällen, in die sie sie vor Betreten der Ruinen vorsichtshalber zurückgerufen hatte. „Ich glaube auch, dass sie nicht von Natur aus aggressiv sind. Am besten stärken wir erst einmal unsere Verteidigung und sehen, was die Icognito tun. Psiana, bereite dich schon einmal mit Gedankengut vor, ja?“

Während Psiana entschlossen nickte und zusammen mit Girafarig Position einnahm, überlegte Lily, was ihre Pokémon tun könnten. Besonders stark waren sie nicht, aber vielleicht konnten sie die Buchstabensuppe ablenken oder beruhigen? Sie befahl Evoli leise, Schutzschild einzusetzen, womit sie zumindest fürs Erste geschützt wären, falls die Icognito plötzlich angreifen sollten, aber auf Dauer war das keine Lösung. Attacken, die auf Evolis Niedlichkeit setzten, würden die Icognito wohl ebenfalls nicht von einem Angriff abhalten, falls das ihr Ziel war. Vielleicht sollte sie ihnen mit einem Sandwirbel die Sicht nehmen, doch wenn sie dann in Panik gerieten und ziellos angriffen, hatten sie nichts gewonnen. Sie beugte sich zu Endivie hinunter, welches sich ängstlich an ihr Bein drückte. „Ist alles in Ordnung? Willst du zurück in den Ball?“ Das kleine Pokémon blickte sie mit großen Augen an, schüttelte dann jedoch den Kopf und stellte sich neben Evoli vor Lily auf. „Danke, Endivie“, meinte das Mädchen gerührt. „Meinst du, du kannst einen beruhigenden Duft aus deinem Blatt abgeben?“ Endivie nickte, drehte vorsichtig sein Blatt und wenig später waberte ein entspannender Duft durch den Raum.

„Guter Einfall“, lobte Rose. „Denk daran, wenn alle Stricke reißen, kann Gardevoir immer noch Hilfe holen.“ Ihr zweites Pokémon war in der oberen Kammer verblieben und würde die Verbindung zwischen ihnen und ihren Freunden halten. Die beiden Schwestern waren sich allerdings einig, dass dies ihre allerletzte Notlösung sein musste.

„Aber wie kommen wir denn jetzt weiter und finden Mum?“ Wenn die Icognito angreifen wollten, wünschte sich Lily fast, dass sie es bald taten, damit sie es hinter sich hatten.

„Vielleicht können wir mit ihnen reden“, schlug Rose vor. Sie griff nach Lilys Hand und drückte sie fest, bevor sie sich an die Icognito-Herde wandte. „Hallo. Ich bin Rose und das hier ist meine Schwester Lily. Könnt ihr mich verstehen?“

Die Pokémon hielten für einen Moment in ihren Bewegungen inne und schienen ihnen aufmerksam zuzuhören, allerdings war Lily immer noch nicht ganz wohl bei der Sache. Ein Icognito schwebte ziemlich nah an sie heran, weshalb sie erkennen konnte, dass es keinen Buchstaben darstellte, sondern ein Fragezeichen. Sein einziges Auge schien Lily eingehend zu betrachten, bevor es sich wieder zu seinen Kameraden umdrehte. Sowohl Lily als auch Rose hielten für einen Moment die Luft an und standen mucksmäuschenstill, als sie die Reaktion der Herde abwarteten. Dann begannen die Icognito plötzlich zu leuchten, als sich die Dimension um sie herum verzerrte.

Eine andere Dimension

Zum zweiten Mal an diesem Tag hatte Lily das Gefühl, ihr würde der Boden unter den Füßen weggezogen. Dieses Mal hielt sie zumindest Rose' Hand fest umklammert, als die Luft um sie herum flimmerte und die Wände sich zu drehen schienen. Sie kämpfte mit Übelkeit, als sie sich hektisch nach ihren Pokémon umsah und keinen festen Anker für ihren Blick fand. Evoli und Endivie schienen zusammen mit Psiana und Girafarig im Raum zu schweben und ebenso verängstigt zu sein wie ihre Trainerinnen. Sie wollte schreien, brachte jedoch keinen Ton heraus. Rose schien es ähnlich zu gehen und die Tatsache, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben Panik im Gesicht ihrer Schwester sah, hätte ihr beinahe den Rest gegeben, wenn sich nicht in diesem Augenblick ihr Umfeld stabilisiert hätte.

Lily lehnte sich an Rose, die sich wiederum auf Lily stützte, während ihre Beine sich wieder an festen Boden gewöhnten und die Übelkeit abnahm. Als ihr Schwindel sich verzogen hatte, entdeckte sie ihre Pokémon, die sich an ihrer Seite auf einem Haufen zusammendrängten. Nur Girafarig ging vorsichtig einige Schritte vorwärts und blieb dort mit zuckenden Ohren stehen.

„Wie sind wir aus den Ruinen ins Freie gekommen?“, fragte Rose verwirrt.

„Vielleicht haben wir uns die Köpfe angestoßen und jetzt beide den gleichen Traum?“, schlug Lily vor.

Sie gingen einige Schritte vorwärts zu Girafarig, ohne einander loszulassen. Genau wie Rose gesagt hatte, befanden sie sich nicht mehr in den Alph-Ruinen inmitten der Icognito, sondern in einem Garten. Um genau zu sein, erkannte Lily nach näherem Hinsehen ihren Garten mit seinen Rosenbüschen, dem Amrenabaum und dem kleinen Gemüsebeet hinter der Küche. Der Küche in ihrem Haus, das ebenfalls auf einmal vor ihnen stand. Der Schwindel, der sich soeben erst verzogen hatte, drohte Lily wieder zu erfassen, und sie musste sich auf das Giraffenpokémon stützen.

„Ich glaube, du hast Recht“, murmelte Rose und rieb sich die Stirn. „Zumindest kriege ich definitiv Kopfschmerzen. Wie kann denn das sein?“

Lily blickte zu ihrem Endivie, welches einen Busch inspiziert, aber sich dann skeptisch wieder zurückgezogen hatte. Auch Evoli schien unruhig, während Girafarig sich mittlerweile sanft von Lily gelöst hatte, an der Terassentür stand und zwischen dort und den Mädchen hin- und herschaute. Diese sahen sich gegenseitig an und konnten im Gesicht der jeweils Anderen die gleiche Verwirrung erkennen. Vorsichtig gingen sie weiter in Richtung Haus, bis sie bei dem Pokémon ankamen. Gerade wollte Lily ihre Hand nach Girafarig ausstrecken, um es beruhigend zu tätscheln, als dieses einen Laut ausstieß und sich nach vorne warf. In der Tür stand eine Frau mit lockigen braunen Haaren und leuchtenden blauen Augen, die ihr Pokémon mit offenen Armen empfing.

„Mum?“ Der erstaunte Ausruf beider Mädchen kam wie aus einem Munde.

Die Frau wandte sich ihnen zu und strahlte sie an. „Rose! Lily!“ Sie ließ Girafarig los und schloss stattdessen ihre Töchter in die Arme.

„Mum...“ Lily konnte fühlen, wie ihr Tränen über die Wangen liefen, aber das störte sie nicht. „Ich dachte, ich würde dich nie wiedersehen“, schniefte sie und konnte hören, wie Rose, dicht an sie gedrängt, leise schluchzte.

„Na, na, meine Lieben. Es ist doch alles gut“, redete ihre Mutter beruhigend auf sie ein und streichelte Lily über den Rücken. Kommt erst mal rein, dann können wir in Ruhe über alles reden.“ Sie bugsierte die beiden Mädchen sanft ins Haus und auf das gemütliche Wohnzimmersofa. „Setzt euch erst mal gemütlich hin und esst etwas aus der Süßigkeitendose, ich mache gleich Tee. Ich bin ja so froh, euch wiederzusehen.“ Sie verschwand in die Küche, bevor ihre Töchter sie aufhalten konnten.

„Kommt es dir auch so vor, als wüsste Mum nicht, dass wir die letzten zwei Jahren getrennt verbracht haben?“, raunte Rose ihrer jüngeren Schwester zu.

„Es würde erklären, wieso sie so… gelassen auf unser Auftauchen reagiert hat. Glaubst du, in dieser Illusion gibt es uns auch?“, fragte Lily ebenso leise.

„Gibt es uns dann jetzt zweimal? Was hast du vorhin gesagt über Kopfverletzungen und Halluzinationen?“, fragte Rose und rieb sich erneut die Stirn.

„Vielleicht haben ja auch wir die letzten zwei Jahre nur geträumt?“ Sie glaubte eigentlich nicht, was sie sagte, aber sie konnte sich keinen anderen Reim auf das Verhalten ihrer Mutter machen. Versuchweise öffnete sie die Dose mit Süßigkeiten und hielt eine Praline prüfend unter ihre Nase. Evoli, das sich inzwischen zu ihren Füßen niedergelassen hatte, schaute sie mit großen Augen an, machte aber ausnahmsweise keine Anstalten, seiner Trainerin den Leckerbissen abzunehmen. Psiana hatte die Ohren aufgestellt und schlug nervös mit dem Schweif auf den Teppich, während Endivie sich immer noch im Garten aufhielt und die Pflanzen inspizierte. Girafarig, das seine Trainerin nicht mehr aus den Augen lassen wollte, war ihr in die Küche gefolgt.

„Hatten wir beide den gleichen Traum oder träumt nur eine von uns und die Andere ist eine Figur im dem Traum? Ich kriege langsam wirklich Kopfschmerzen“, murmelte Rose.

„Kann man im Traum Kopfschmerzen haben?“, fragte Lily halb rhetorisch.

In diesem Moment erschien ihre Mutter wieder mit einem Tablett, auf dem eine Teekanne und vier Becher standen. „Ich habe Pirsiftee gemacht, den mögt ihr doch beide, oder? Und hier sind noch ein paar Kekse.“ Sie goss Tee in drei der Tassen und stellte sich vor den Mädchen ab, setzte sich jedoch nicht zu ihnen aufs Sofa, sondern ging hinaus in den Flur und rief die Treppe hinauf: „Schatz, wo bleibst du denn? Es gibt Tee!“

Lily schaute zu Rose hinüber. „Mit wem redet sie denn da?“, flüsterte sie ihrer Schwester zu.

Bevor Rose antworten konnte, erklang eine männliche Stimme aus Richtung Obergeschoss. „Ich komme ja schon!“

Lily blickte zwischen ihrer Schwester, die wie erstarrt neben ihr saß, und ihrer Mutter, die sich lächelnd zu ihnen gesellt hatte und die vierte Teetasse vollgoss, hin und her, bis ein hochgewachsener, schlanker Mann mit violetten Haaren den Raum betrat und sich ihnen mit schwungvollen Schritten näherte. Fröhlich nahm er die Tasse in Empfang und grüßte sie: „Es gibt doch nichts Schöneres, als mit allen meinen Lieblingsfrauen zusammen zu sitzen und einen guten Tee zu trinken.“

Neben Lily entglitt Rose die Teetasse und landete mit einem lauten Scheppern auf dem Boden. „Daddy!“

Realität

„Daddy?“ Lily blickte ungläubig zwischen ihrer kreidebleichen Schwester, ihrer glücklich lächelnden Mutter und dem fremden Mann hin und her. Bei genauerer Betrachtung sah er dem Mann, den sie von Fotos kannte, doch sehr ähnlich, und seine violette Haarfarbe und die gerade Nase wiesen ihn als mit Rose verwandt aus. Seine braunen Augen, die ihr freundlich entgegenblickten, waren jedoch eindeutig ihre eigenen. Sie schluckte. Natürlich hatte sie sich öfter gefragt, wie ihr Vater wohl war und ob sie ihm ähnelte, aber eigentlich hatte ihr mit ihrer Mutter und Schwester nie etwas gefehlt. Ob er aus ihrem Gesicht lesen konnte, dass sie ihn nie richtig vermisst hatte?

Ihr Vater – eine Vorstellung, die Lily nicht so richtig in den Kopf wollte – hockte sich vor seine Töchter und pickte mit einem Taschentuch vorsichtig die zerschepperte Tasse auf. „Dein Evoli hat sich also zu einem Psiana entwickelt“, bermerkte er dabei zu Rose. „Ich fand schon immer, das würde zu dir passen.“

„Daddy...“ Rose presste sich die Hände vor das Gesicht, konnte jedoch einen Schluchzer nicht unterdrücken. Dann war sie auch schon aufgesprungen und hatte sich ihrem Vater um den Hals geworfen. Dieser tätschelte ihr beruhigend den Rücken und murmelte leise Worte, die Lily nicht verstehen konnte. Ihre Mutter war indessen in die Küche gegangen, um eine neue Tasse für ihre älteste Tochter zu holen.

„Ich muss mal kurz auf die Toilette“, sagte Lily zu niemand Bestimmtem und verließ mit Evoli auf den Fersen den Raum, ohne dass ihr jemand antwortete. Auch der Flur und sogar das Badezimmer im Erdgeschoss waren genau so, wie sie sie in Erinnerung hatte, aber ein kurzer Blick in den Spiegelschrank zeigte ihr Kosmetikartikel, die seit dem Verschwinden aus dem Sortiment genommen worden waren, und ihr damals heißgeliebtes Haarband, das sie leider im vorigen Jahr beim Spielen mit Evoli verloren hatte. Offenbar hatten die Icognito dieses Haus aus den Erinnerungen ihrer Mutter geschaffen.

„Glaubst du, Mum weiß, dass inzwischen zwei Jahre vergangen sind?“, fragte sie Evoli. Es wunderte sie, dass ihre Mutter bei ihrem Wiedersehen so gelassen geblieben war. Beinahe so, als wüsste sie nicht, dass sie in eine andere Welt verschwunden war und ihre Töchter alleine zurückgelassen hatte. Und wie war ihr Vater zu erklären, der gestorben war, bevor Lily auch nur irgendeine Erinnerung an ihn formen konnte? Wenn sie darüber nachdachte, war seine Erscheinung für sie der Beweis, dass es sich hierbei nicht um einen Traum handelte oder eine Halluzination, weil sie sich den Kopf verletzt hatte. Da sie keinerlei Erinnerungen an ihren Vater hatte, sehnte sie sich auch nicht nach ihm und träumte nicht von ihm. Es schien tatsächlich so, als hätten die Icognito sie in die Illusion ihrer Mutter transportiert. Sie seufzte und blickte wieder zu Evoli hinunter. „Und wie kommen wir jetzt wieder nach Hause?“

Da sie von ihrem Pokémon wie erwartet keine befriedigende Antwort erhielt, begab Lily sich zurück ins Wohnzimmer, wo ihr Vater inzwischen mit einem Arm um Rose auf dem Sofa saß und mit der anderen Hand Psiana streichelte. Ihre Mutter tätschelte Girafarig, welches immer noch nervös umhertänzelte und sich nun Lily zuwandte und sie eindringlich anblickte. Lily strich dem Pokémon über den Kopf und wollte sich zu ihrer seltsamerweise gewachsenen Familie aufs Sofa setzen, als in ihrem Kopf ein Bild entstand. Sie war auf einmal von Icognito umringt, die sie alle aus ihren zyklopenhaftigen Augen anstarrten. Neben ihr stand ihre Mutter, die von den Wesen gebannt zu sein schien. Dann war sie plötzlich allein in einem dunklen Raum und ihre Mutter war verschwunden.

Erschrocken zog sie ihre Hand zurück und blickte hektisch um sich. Sie war noch immer in ihrem – oder nicht ihrem? - Wohnzimmer, wo ihre Schwester und ihre Eltern saßen. Girafarig stupste sie mit der Schnauze an und nickte zu Eleanor. „War das deine Erinnerung an den Einsturz in den Alph-Ruinen?“, fragte sie das Pokémon so leise sie konnte. Es nickte und drückte seinen Kopf gegen Lilys Arm, woraufhin sich wieder ein Bild in ihrem Kopf formte. Dieses Mal sah sie Rettungskräfte in der eingestürzten Ruine, die Girafarig durch das Loch nach oben zogen, bevor sie sich selbst hinabseilten.

„Wieso zeigst du mir das erst jetzt?“, fragte Lily, mehr verwundert als anklagend. Wieder entstand ein Bild in ihrem Kopf: Icognito, die in eine mystische Aura gehüllt waren. Konnte es sein, dass Girafarigs psychische Kräfte alleine nicht ausreichten, um ihr Bilder aus der Vergangenheit sichtbar zu machen? Und was sollte sie jetzt tun? Am besten besprach sie erst einmal die Lage mit ihrer Schwester.

„Rose, kann ich mal mit dir reden?“, erkundigte sie sich betont beiläufig und hoffte, nicht den Argwohn ihrer Eltern – ein komisches Gefühl, auf einmal zwei Elternteile zu haben - zu wecken.

Ihre Schwester saß noch immer eng an ihren Vater geschmiegt auf dem Sofa und bewegte sich kein Stück. „Rose, ich muss dich mal ganz kurz sprechen“, wiederholte Lily energischer und tippte dem älteren Mädchen dabei ans Knie.

Rose drehte sich sichtlich widerwillig zu ihr um und antwortete: „Kann das nicht warten?“

Lily schluckte. Es war noch nie vorgekommen, dass ihre Schwester einen ihrer Wünsche so schroff abgetan hatte. Sie zögerte. War es wirklich richtig, Rose zu drängen, wenn sie nach so langer Zeit endlich ihren geliebten Vater wiedersah? Sollte sie ihr nicht etwas Zeit mit ihm geben, bevor sie ihm zum zweiten Mal für immer Lebewohl sagen musste? Konnte sie überhaupt mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass nicht diese Welt hier die Richtige war?

Fürs Erste setzte sie sich zu ihrer Mutter und Girafarig, welches sie immer noch eindringlich anblickte. Irgendwie hatte Lily jedoch das Gefühl, dass sie sich unauffällig verhalten musste, bis sie Rose auf ihrer Seite hatte. Wer wusste schon, ob die Icognito nicht wieder angriffen? Zuerst einmal musste sie die Lage genau einschätzen und dann Rose davon überzeugen, dass sie die Illusion verlassen mussten.

„Wie lange haben wir uns jetzt nicht gesehen?“, fragte sie ihre Mutter und tat so, als würde sie die verschiedenen Pralinensorten in der Schachtel auf dem Tisch mustern. Das Essen hier konnte doch nicht echt sein, oder? Aber wie sonst sollte ihre Mutter sonst zwei Jahre lang überlebt haben?

Ihre Mutter setzte ihre Teetasse ab, bevor sie antwortete. „Nicht so lange. Ich glaube, du und Rose seid vor zwei oder drei Tagen zusammen losgezogen. Ganz sicher bin ich mir da aber nicht...“

„Vor zwei oder drei Tagen?!“, fuhr ihr erstaunt heraus und sie fluchte innerlich. So viel zu ihrem Plan, sich unauffällig zu verhalten.

„Also ist doch irgendetwas faul. Lily, sag mir, was los ist.“ Ihre Mutter blickte sie eindringlich an.

Was sollte sie jetzt tun? Vielleicht war es am einfachsten, ehrlich zu sein. Nur wie erklärte man jemandem, dass er zwei Jahre lang in einer Fantasiewelt gelebt hatte?

„Na ja, es ist so: Du hast doch die Alph-Ruinen erforscht, richtig?“, begann sie.

„Ja… Ja, das habe ich. Das tue ich. Das sollte ich eigentlich gerade, solange ihr unterwegs seid...“, erwiderte Eleanor langsam.

War es möglich, dass ihre Mutter begann, die Illusion zu durchschauen? „Kannst du dich vielleicht an eine Explosion erinnern?“, fragte sie vorsichtig.

„Eine Explosion?“ Ihre Mutter zog die Augenbrauen zusammen. „Ich weiß nicht...“

„Wo war Girafarig?“, hakte Lily nach.

Das Pokémon, von dem sie gesprochen hatte, rückte noch ein Stück näher an Eleanor heran und legte wie zuvor bei Lily seine Stirn an sie. Eleanor zuckte zusammen, als die Erinnerungen sie überkamen. Als Girafarig sich wieder zurückzog, allerdings immer noch in der Nähe seiner Trainerin blieb, liefen der Frau Tränen über die Wangen. „Wann war das?“, fragte sie leise.

„Vor zwei Jahren“, erwiderte Lily ebenso leise.

„Zwei Jahre?“, rief ihre Mutter entsetzt aus. Rose und ihr Vater sahen irritiert zu ihnen herüber.

„Gibt es ein Problem?“, erkundigte sich ihr Vater. Rose blickte Lily nur flehend an.

„Nein, nichts“, erwiderte Lilys Mutter und rückte dichter an ihre jüngste Tochter, um sich im Flüsterton mit ihr zu unterhalten. „Du bist also mit Rose hierher gekommen, um mich zu befreien?“

Der Schreck und Schmerz im Gesicht ihrer Mutter taten Lily weh und sie zögerte weiterzusprechen, tat es dann aber doch. „Wir dachten, du wärst bei der Explosion ums Leben gekommen. Rose hat sich wunderbar um mich gekümmert, und als ich dann vor Kurzem meine Reise angetreten habe, hat sie mir Girafarig zum Aufpassen mitgegeben. An den Alph-Ruinen hat es komisch reagiert und na ja, um es kurz zu machen, jetzt sind wir hier.“ Sie klammerte sich an Evoli, welches sich an sie kuschelte und ihr stumme Unterstützung leistete.

„Also haben die Icognito mich hier in diese Fantasiewelt gebracht, weil ich sie aufgescheucht habe. Vielleicht haben sie auch meine Gedanken gelesen“, murmelte Eleanor so leise, dass Lily sie gerade noch verstehen konnte.

„Hast du dir gewünscht, dass wir wieder alle zusammen sind?“, fragte sie behutsam.

„Ich habe mir niemals gewünscht, euch zu verlassen!“, protestierte ihre Mutter sofort.

„Das weiß ich doch, Mummy.“ Lily rutschte so nah an ihre Mutter, dass sie ihren Kopf auf deren Schulter legen konnte. „Aber du wolltest gerne Daddy zurückhaben, oder? Das verstehe ich doch.“ Auch wenn sie ihren Vater nicht kannte, konnte sie sich doch vorstellen, dass er ihrer Mutter und Schwester fehlte. Sie würde die Menschen und Pokémon, die sie kannte und liebte, ebenfalls schmerzlich vermissen, so wie sie ihre Mutter vermisst hatte. Für einen Moment dachte sie an Alex, der in den Alph-Ruinen auf sie wartete, jederzeit bereit, bei Schwierigkeiten zu helfen.

Ihre Mutter rieb sich mit den Fingern über die Augen, dann setzte sie sich auf und machte ein entschlossenes Gesicht. „Wir können nicht hier bleiben.“

Lily nickte traurig. „Ich weiß. Aber es tut mir so leid für dich und Rose.“

„Es nützt ja nichts, in einer Illusion zu leben.“ Eine einzelne Träne lief über Eleanors Gesicht, doch sie wischte sie trotzig weg. „Aber wie kommen wir hier wieder raus?“

Lily überlegte. „Vielleicht müssen wir die Icognito zum Kampf herausfordern? Aber ich will auch Rose nicht plötzlich erschrecken...“

„Wie ich die Icognito einschätze, greifen sie eventuell an, sobald wir uns nicht mehr der Illusion entsprechend verhalten“, vermutete ihre Mutter. „Wieso tun wir nicht mal so, als würden wir zu dritt das Teegeschirr abräumen, und besprechen uns in der Küche?“ Lauter fügte sie hinzu: „Rose, kannst du bitte eure leeren Teetassen in die Küche bringen? Lily und ich nehmen die Kanne und die Teller.“

„Ich helfe euch“, bot ihr Vater an.

„Das ist doch nicht nötig, Schatz, dass du nach deinem langen Tag noch abräumst. Bleib doch etwas sitzen und schau fern“, säuselte Eleanor ihrem Mann – oder besser seiner Illusion – zu.

Rose hatte sich inzwischen auf ihre gute Erziehung besannt und war mit den Tassen in die Küche gegangen. Lily und Eleanor folgten ihr und schlossen die Tür, die sie vom Wohnzimmer trennte.

„Ich wasche ab, wenn ihr abtrocknet“, meinte Rose. „Wenn wir uns beeilen, können wir uns gleich wieder raus zu Daddy setzen und einen schönen Abend als Familie verbringen.“

Um die Illusion noch nicht zu zerstören, ließen sie Rose tatsächlich abwaschen und trockneten im Tandem ab. Wieder einmal war Lily beeindruckt von der Qualität der falschen Welt, die die Icognito erschaffen hatten. Es brach ihr fast das Herz, Rose nun die Augen öffnen zu müssen.

„Rose, Liebes, sag mal, stört dich denn nichts an diesem Umfeld?“, begann ihre Mutter behutsam.

„Stören? Was sollte mich denn stören?“, erwiderte diese und spülte eifrig weiter ab. Irgendwie wirkte sie auf Lily angespannt, wie sie immer schneller und schneller wusch und schrubbte und gehetzt zur Tür blickte, als hätte sie Angst, dass auf der anderen Seite ihr Vater verschwand.

Ihre Mutter legte ihr behutsam die Hand auf den Arm. „Du weißt doch eigentlich, dass das hier nicht die Realität ist, oder?“

„Nein!“ Lilys ältere Schwester schüttelte verzweifelt den Kopf. „Wir sind alle hier, Daddy ist hier, und alles ist so, wie es sein sollte!“

„Vermisst du denn nichts?“, hakte ihre Mutter nach.

„Nein“, verneinte Rose, doch Lily konnte einen Funken Unsicherheit in ihren Augen erkennen.

Vielleicht musste sie die Erinnerungen an Rose' wahres Leben wachrufen. „Wieso ist dein Gardevoir nicht hier?“, versuchte sie es.

„Ich weiß nicht...“ Die Hände, die bis eben noch eifrig gespült hatten, wurden langsamer.

„Wir haben es bei Aidan gelassen – erinnerst du dich?“, hakte sie sanft nach.

„Aidan...“ Ihre Hände blieben ganz stehen.

„Wir müssen zurück in unsere echte Welt“, schaltete ihre Mutter sich wieder ein.

„Nein!“ Der Teller, den Rose in den Händen gehabt hatte, zerschellte auf dem Küchenboden. „NEIN!“

Um sie herum begann die Welt sich aufzulösen.



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Von:  AkiMayu
2017-12-08T22:46:30+00:00 08.12.2017 23:46
Hi ^^
hab deine FF gelesen und find sie echt ganz gut.
Ich kann mich vielen anderen Kommentatoren anschließen und eigentlich nur das sagen, was sie auch so geschrieben haben.
Die Anfangskapis waren grammatikalisch wirklich ein bisschen komisch an manchen Stellen, aber das hat sich ja später geändert.
Was mir ein Bisschen gefehlt hat, war auch die Dynamik in den Kämpfen und auch außerhalb bei manchen Beschreibungen, die man hätte entweder besser ausbauen können, oder aber auch kleine Szenen, wo eigentlich nichts wirklich passiert, hätte man verkürzen können.
Die Story gefällt mir gut und man merkt, dass du dich mehr ans Spiel orientierst, als an die Serie. Gut finde ich wie du manchmal die Gedankengänge und Gründe der jeweiligen Gefühle analysierst und beschreibst. ^^
Dass Kapis manchmal auf sich warten lassen, kenn ich von mir auch. Da will man sich gar nicht genug entschuldigen,
aber das ist ok. ^^
Hoffe bald die letzten Kapis von dir lesen zu können. Mach weiter so und viel
Glück in deinen Semestern.

MfG Aki~
Antwort von:  Yurippe
09.12.2017 01:23
Vielen Dank für deinen Kommentar!
Ja, der Anfang war sehr holprig (ist ja auch schon ewig her! ^^;) und vieles würde ich jetzt anders schreiben bzw. schreibe anders, wenn ich andere Geschichten schreibe. Für dein Feedback bin ich aber sehr dankbar. <3
Ich hoffe, dass ich dieses Jahr fertig werde, die letzten Kapitel sind schon zur Hälfte geschrieben und in den nächsten Wochen sollte ich etwas mehr Zeit haben als in den vorangegangenen.
Von:  Kalliope
2017-08-15T13:32:12+00:00 15.08.2017 15:32
Oh, die Icognito scheinen mitzubekommen, dass Rose sich nicht mehr richtig verhält, und deshalb lösen sie die Illusion jetzt auf. Ich bin gespannt, ob es nun zu einem Kampf kommen wird. Mich verwundert allerdings, wie sich ihre Mutter nach zwei ganzen Jahren innerhalb von so kurzer Zeit umstimmen lässt. Liegt das alleine an den Erinnerungen, die Girafarig ihr gezeigt hat?
Antwort von:  Yurippe
15.08.2017 22:58
Danke für den Kommentar!
Ich hab mich auch gefragt, ob ich es länger hinauszögern soll, aber ich denke, die Mutter hört eben auf ihre Töchter, weil sie sie liebt, und das zerstört dann ihren Glauben an die Illusion. Für sie sind ja auch keine zwei Jahre vergangen.
Antwort von:  Kalliope
15.08.2017 23:01
Es ist auf jeden Fall eine gute Lösung für die Situation und damit geht die Handlung auch wieder vorwärts :)
Antwort von:  Yurippe
17.08.2017 08:54
Vielen Dank! <3
Von:  yazumi-chan
2016-10-12T10:42:00+00:00 12.10.2016 12:42
Hm, interessant. Ich weiß schon gar nicht mehr, was mit dem Vater in der echten Welt passiert ist. War der tot? Bin gespannt, wie sich diese Dimensionssache auflöst und was das mit den Ikognito zu tun hatte :)
Antwort von:  Yurippe
12.10.2016 19:00
Ja, war (oder ist) er. Das passiert, wenn man ewig nicht weiterschreibt... ^^;
Von:  Kalliope
2016-10-03T10:46:08+00:00 03.10.2016 12:46
Oh, das klingt ganz danach, dass Lilys Mutter in einer perfekten Illusion lebt, nachdem sie von den Icognito in eine Paralleldimension gebracht wurde. Ich bin gespannt, wie sie da wieder rauskommen und ihre Mutter davon überzeugen, dass nicht alles perfekt ist.
Antwort von:  Yurippe
03.10.2016 18:29
Ich werde mir Mühe geben, bald weiterzuschreiben. Danke für den Kommentar! :)
Von:  Wolfsfeuer
2016-10-03T04:32:29+00:00 03.10.2016 06:32
Schön, dass es weiter geht :D
Ich hoffe doch, dass sich alles noch klärt D:
Antwort von:  Yurippe
03.10.2016 07:48
Vielen dank für deine Geduld! >.<
Von:  fahnm
2016-10-02T20:19:39+00:00 02.10.2016 22:19
Hammer Kapitel
Antwort von:  Yurippe
03.10.2016 07:48
Danke sehr!
Von:  Kalliope
2016-04-27T10:20:29+00:00 27.04.2016 12:20
Ein schönes Übergangskapitel :) Es ist natürlich kurz (was aber nicht weiter stört) und es passiert nicht viel, aber wenn du sonst keinen guten Schnitt setzen konntest, ist das vollkommen in Ordnung. Ich freue mich, dass es weiter geht und wir bald erfahren können, was mit Lilys Mutter wirklich passiert ist :)
Antwort von:  Yurippe
27.04.2016 20:10
Vielen Dank! :)
Von:  fahnm
2016-04-24T17:19:21+00:00 24.04.2016 19:19
Spitzen Kapitel
Antwort von:  Yurippe
24.04.2016 19:37
Vielen Dank! :) Was hat dir gefallen?
Von:  yazumi-chan
2016-04-24T17:08:38+00:00 24.04.2016 19:08
Ich muss ja gestehen, ich hatte nicht mehr damit gerechnet, dass noch ein Kapitel kommt, um so schöner, dass du es wieder aufgegriffen hast :) Ich frage mich jetzt doch, warum Lily überhaupt den Blitz benutzt hat, wenn sie eine Taschenlampe besitzt, aber vielleicht hat sie so weit auch gar nicht gedacht xD Jedenfalls bin ich gespannt, was jetzt kommt. Eine andere Dimension klingt ja schon ziemlich heftig.
Antwort von:  Yurippe
24.04.2016 19:37
Na ja, ein Blitz reicht ja doch etwas weiter als eine Taschenlampe, oder?
Ich hatte immer vor, die Fanfic zu beenden, und bin einfach nie dazu gekommen. Aber dieses Jahr wird sie endlich ihr Ende finden, das schwöre ich. >______<
Von:  yazumi-chan
2015-05-15T19:01:44+00:00 15.05.2015 21:01
brachte sie mit noch hervor, bevor sich weinend die Arme um ihre Schwester schlang. -> noch streichen und sich durch sie ersetzen :)

Wie Kalliope bereits sagte, ist das Ende zu abrupt. Ein oder zwei Sätze Spannungsaufbau würden der Szene gut tun, vor allem, weil nicht klar ist, warum Lily überhaupt das Bewusstsein verliert. Fällt sie, stößt sie dich den Kopf, ist es irgendetwas Magisches? Ich vermute ja, dass sie durch Blitz eins der Rätsel aktiviert und dadurch irgendwohin teleportiert wurden. Die Sinjoh-Ruinen vielleicht?

Ich hoffe, du schaffst es, diese Geschichte bald zu Ende zu bringen, sie zieht sich ja nun schon über 5(?) Jahre hin und du bist so kurz vor dem Ende! :D Also ran an die Tastatur und los geht´s^^
Antwort von:  Yurippe
15.05.2015 21:15
Danke für den Hinweis und die Kritik! Ich bemühe mich, aber wie gesagt, momentan habe ich wenig Zeit, und wenn ich ehrlich bin, stecke ich auch etwas fest...
Antwort von:  yazumi-chan
15.05.2015 21:31
Weißt du denn, wie du das Ganze auflösen willst? Oder hapert es nur an der Umsetzung?
Antwort von:  Yurippe
15.05.2015 21:32
Teils, teils. :(


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