Zum Inhalt der Seite

Journey to Evolution

Mit jedem Schritt wirst du stärker
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Harte Wahrheiten

Am nächsten Morgen frühstückte Lily ausgiebig mit Alex, bevor sie vom Pokémon Center aus aufbrachen. Sie selbst wollte in Richtung Norden, wo das Haus ihrer Großmutter nicht weit weg vom Tanztheater lag, und Alex hatte vor, für den bevorstehenden Arenakampf zu trainieren und sein neues Teammitglied, Mogelbaum, ein wenig einzugewöhnen. Lily ließ ihr Endivie in seiner Obhut und machte sich allein mit Evoli auf den Weg zu ihren Verwandten.

Bevor sie die Klingel des im traditionell östlichen Stil gebauten Wohnhauses läutete, überprüfte sie in einem Taschenspiegel noch einmal ihr Aussehen. Ihre weiße Bluse war frisch und faltenfrei, ihr brauner Faltenrock fleckenlos, genau wie ihre Schuhe, und ihre Locken waren mit einer Spange gebändigt. Sie ermahnte Evoli noch einmal, sich zu benehmen, atmete tief durch und drückte auf den Klingelknopf.

Einige Augenblicke später wurde die Tür geöffnet und ihre Tante Darcy begrüßte sie freundlich, aber sichtlich gestresst. „Hallo, Lily, schön dich wiederzusehen. Es tut mir Leid, gerade heute früh ist eine Ladung neuer Artefakte eingetroffen, die ich durchsehen muss, bevor sie an das Museum von Marmoria City gehen können. Nachmittags sollte ich zurück sein, unterhalte dich doch solange mit deiner Großmutter. Deine Cousine Melanie ist auch gerade hier.“ Dann war sie auch schon an Lily vorbei zur Tür hinaus gestürmt.

Etwas perplex betrat diese nun allein das Haus und zog ihre Schuhe aus, bevor sie die einzelne Stufe hinaufkletterte, die ins Innere führte. Das Zimmer ihrer Großmutter lag rechts, und als sie klopfen wollte, öffnete sich auch schon die Tür von innen. „Lily, wie geht es dir? Lass dich erst mal ansehen!“ Die alte Dame im schlichten beigefarbenen Kimono und dem strengen Haarknoten kam auf sie zu und musterte sie von oben bis unten, bevor sie sie umarmte. „Groß bist du geworden, aber du siehst dünn aus. Kocht deine Schwester nicht ordentlich für dich?“

„Doch, sicher“, stotterte Lily, die sich von ihrer Großmutter immer etwas eingeschüchtert fühlte. „Rose sorgt sehr gut für mich, aber ich bin die letzten Tage sehr viel gelaufen.“

„Komm herein, lass uns erst einmal einen Tee trinken.“ Sie wurde ins Zimmer und auf ein Sitzkissen bugsiert und durfte ihrer Großmutter dabei zusehen, wie sie nach traditioneller Art mit äußerster Geschicklichkeit und minimalen Bewegungen Tee zubereitete. Überhaupt war alles im Zimmer auf das Minimale und Funktionale beschränkt; es gab nur einige Sitzkissen auf den Tatamimatten, einen niedrigen Tisch und einen Wandschrank, in dem vermutlich der Futon aufbewahrt wurde. Ihre Großmutter lebte immer noch wie zu ihren Zeiten als Kimono-Girl.

Auf Aufforderung trank sie den bitteren Tee, war aber froh, als sie danach eine ebenfalls traditionelle Süßigkeit bekam, die den Nachgeschmack aus ihrem Mund verbannte.

„So, und nun erzähle, mein Kind: Was treibt dich hierher, und das auch noch ganz allein?“

Lily rutschte etwas auf ihrem Kissen herum, was ihr einen mahnenden Blick einbrachte. „Ich weiß, was wirklich mit Mum geschehen ist.“

„Ich verstehe.“ Ihre Großmutter setzte ihren Teebecher ab und blickte Lily eindringlich an. „Rose konnte es also nicht länger vor dir geheimhalten. Nun, du bist inzwischen wohl alt genug für die Wahrheit. Und wieso ist deine Schwester nicht mit dir gekommen?“

„Sie wollte sich endlich selbst auf die Suche nach Hinweisen machen. Deshalb hat sie mich eigentlich auf eine Pokémonreise geschickt, aber genau dadurch habe ich in den Alph-Ruinen herausgefunden, dass Mum dort verschwunden ist.“

Ihre Großmutter hob die Augenbrauen. „Pokémonreise? Du auch noch? Sag nicht, du nimmst auch an diesen komischen Wettbewerben teil.“

„Doch, das tue ich“, erwiderte Lily kleinlaut. Sie hatte nicht daran gedacht, dass ihre Großmutter schon früher Pokémon-Wettbewerbe verabscheut hatte.

Diese schnalzte nun mit der Zunge, und ihr ohnehin schon strenger Gesichtsausdruck verfinsterte sich noch mehr. „Wozu hat nur meine Mutter euch allen vor ihrem Tod ein Evoli besorgt, in der Hoffnung, wenigstens eine von euch würde wieder ein Kimono-Girl werden, wenn ihr alle ihr Erbe mit Füßen tretet?“ Lilys Urgroßmutter war ebenfalls ein Kimono-Girl gewesen, für einige Jahre länger als ihre Tochter, und hatte vor ihrem Tod unter großen Mühen veranlasst, dass jede ihrer Urenkelinnen als Startpokémon ein Evoli bekam, weil dieses und seine Entwicklungen von den momentan aktiven Kimono-Girls bevorzugt wurde. Leider war noch keines der Mädchen bisher in ihre Fußstapfen getreten, was wohl auch an dem harten Training und der zurückgehenden Beliebtheit der traditionellen Künste im Vergleich zu den immer beliebter werdenden Pokémon-Wettbewerben lag.

Als Lily schon dachte, sie hätte sich den lebenslangen Zorn ihrer Großmutter zugezogen, seufzte diese nur und meinte: „Da kann man wohl nichts machen. Es ist trotzdem so eine Verschwendung, vor allem deine Schwester wäre ein fantastisches Kimono-Girl geworden, aber sie wollte ja lieber ins Rampenlicht und irgendwelchen Trainern den Kopf verdrehen.“

„Wie bitte? Rose ist nicht so!“ Egal wie sehr die alte Frau sie einschüchterte, auf ihre Schwester würde Lily nichts kommen lassen. „Sie hat ihren Traum aufgegeben, um mich großzuziehen.“

„Da ist sie nicht die Einzige.“ Für einen Moment huschte Bitterkeit über das Gesicht ihrer Großmutter, dann fing sie sich wieder und fuhr fort: „Ich kenne deine Schwester länger als du, Kind. Vielleicht ist sie jetzt ein Idealbild für dich, aber früher war sie fasziniert von schönen Dingen und lange nicht so selbstlos, wie sie dir erscheint. Ich sage ja nicht, dass sie ein schlechter Mensch war, und was sie für dich tut, ist großartig – abgesehen von den Flausen, die sie dir mit Wettbewerben in den Kopf gesetzt hat -, aber wir waren alle mal jung und selbstsüchtig.“

Lily nickte einfach halbherzig, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Rose war ihr großes Idol, ihre beste Freundin und die einzige richtige Familie, die ihr geblieben war. Ihre Schwester war unfehlbar, und sie wollte nichts gegenteiliges hören.

Zu ihrer Erleichterung ließ ihre Großmutter das Thema jedoch fallen und schlug Lily vor, zu ihrer Cousine nach oben zu gehen, während sie selbst das Mittagessen vorbereitete. Mehr als froh über diese Möglichkeit, weiteren unangenehmen Gesprächsthemen zu entgehen, stand das Mädchen auf und ging aus dem Zimmer, um durch den Wohnraum vorbei am offenen Atrium die Treppe hinaufzusteigen. An der letzten Tür im Obergeschoss klopfte sie vorsichtig und wartete, bis sie aus dem Inneren ein genervtes „Ja?“ hörte.

„Ich bin's, Lily. Darf ich reinkommen?“, fragte sie zögerlich.

„Von mir aus.“ Als Lily die Tür öffnete, lag Melanie auf ihrem Bett und blätterte in einer Zeitschrift. Sie hatten sich einige Jahre lang nicht gesehen, aber wenn Lily sich recht erinnerte, waren ihre schwarzen Haare bei ihrer letzten Begegnung noch nicht so fransig gewesen und vollkommen schwarze Kleidung hatte sie auch noch nicht getragen. Besonders gesprächig war Melanie damals auch nicht gewesen, aber die Überdrüssigkeit, die sie nun ausstrahlte, war neu.

Lily setzte sich vorsichtig auf den Schreibtischstuhl und Evoli, welches bisher tatsächlich mucksmäuschenstill gewesen war, trippelte in die Ecke, in der Melanies Nachtara lag und ein ebenso genervtes Gesicht machte wie seine Trainerin. Eingeschüchtert zog Evoli sich zurück und ließ sich zu Lilys Füßen nieder.

„Ich habe gehört, du wohnst jetzt in Hoenn bei deinem Vater?“, versuchte Lily, ein Gespräch anzufangen. Als Antwort bekam sie nur ein zustimmendes Geräusch, aber sie wollte noch nicht aufgeben. „Und jetzt bist du in den Ferien hier, um Tante Darcy zu sehen?“

„Hm. Nicht dass ich viel von ihr sehen würde.“ Melanie schnaubte verächtlich. Es sah nicht so aus, als hätte sie große Lust, sich mit Lily zu unterhalten, also beschloss diese, lieber zu schweigen und beschäftigte sich die restliche Zeit mit ihrem PokéCom, bis sie zum Essen gerufen wurden.

Lily beeilte sich, nach unten zu gehen, da sie ihre Großmutter lieber nicht warten lassen wollte. Melanie folgte ihr eher gemächlich und mit einem widerwilligen Gesichtsausdruck.

Passend zum heißen Wetter gab es kalte Buchweizennudeln, die ihre Großmutter servierte, während Tante Darcy, die von der Arbeit zurückgekehrt war, gekühlten Gerstentee eingoss. Nach einem kurzen Tischgebet begannen sie zu essen.

„Was waren das denn für Funde?“, erkundigte sich Lily bei ihrer Tante, um das unangenehme Schweigen am Tisch zu brechen.

„Teile einer alten Pokémonstatue, die jemand gefunden hat, als er in der Nähe der Turmruine den Boden aufgegraben hat. Eigentlich fällt das nicht unbedingt in meinen Kompetenzbereich, aber ich musste zumindest drüberschauen, bevor wir es an das Museum weiterleiten können.“ Sie strich sich die langen schwarzen Haare aus dem Gesicht, bevor sie einen Schluck von ihrem Tee nahm.

„Du kennst dich eher mit den Alph-Ruinen aus, oder?“, wagte Lily einen Vorstoß in das Thema, das sie eigentlich interessierte.

Ihre Tante blickte sie überrascht an. „Wie kommst du darauf?“

„Wie es aussieht, hat jemand dem Kind die Wahrheit gesagt“, schaltete ihre Großmutter sich ein. „Ich würde es aber vorziehen, nach dem Essen darüber zu sprechen.“ Somit verbrachten sie den Rest der Mahlzeit schweigend, auch wenn Lily es kaum aushalten konnte, nun da sie so nah an weiteren Informationen war. Andererseits fürchtete sie sich auch vor dem, was sie gleich hören würde, schließlich waren die Enthüllungen, die man in letzter Zeit vor ihr gemacht hatte, alle wenig erfreulich gewesen.

Nach dem Essen wurde Melanie zum Abwaschen verdonnert, während Lily sich mit ihrer Tante und Großmutter ins Wohnzimmer setzte. Dort erläuterte sie, wie sie in den Alph-Ruinen durch Girafarigs Verhalten erfahren hatte, dass dort eine Forscherin zwei Jahre zuvor spurlos verschwunden war, und darauf zwei und zwei zusammengezählt und von Rose die Wahrheit gefordert hatte.

„Ich verstehe.“ Darcy rückte ihre Brille zurecht. „Und nun willst du von mir wissen, ob eine Chance besteht, sie zurück zu bekommen.“ Als Lily nickte, fuhrt sie fort: „Ehrlich gestanden, ich weiß es nicht. Ich wünsche es mir, aber auch nach zwei Jahren intensiven Forschens in den Ruinen selbst und in dutzenden von Büchern zur Materie weiß ich es einfach nicht. Rose hat dir sicher erzählt, dass es eine plötzliche Explosion gab, als Eleanor allein in einer der Ruinen gearbeitet hat? Eine so heftige Explosion, dass sie wohl niemand überleben könnte, aber unter all den Trümmern haben wir einfach keine Überreste von ihr gefunden, deshalb gehe ich davon aus, dass irgendeine psychische Kraft freigesetzt wurde und sie womöglich in eine andere Dimension katapultiert hat. Es gab schon einmal einen ähnlichen Fall, in den Icognito involviert waren.“ Sie sprach sachlich, wissenschaftlich, ganz anders als Rose, doch wenn Lily genau hinsah, meinte sie, auch in den grauen Augen ihrer Tante einen Anflug von Trauer zu entdecken.

„Das ist doch Quatsch“, mischte sich Melanie ein, die inzwischen in der Küche fertig war und sich mit immer noch gelangweiltem Gesichtsausdruck zu ihnen gesellt hatte. „Andere Dimensionen gibt es nicht. Die Explosion war wohl einfach so heftig, dass nichts mehr von ihr übrig geblieben ist.“

Darcy keuchte auf. „Wie kannst du nur so etwas sagen, noch dazu vor deiner Cousine Lily?“, rief sie empört.

Ihre Tochter zuckte nur mit den Schultern. „Ganz einfach, so wie du über einer schwachsinnigen Hoffnung alles andere stehen und liegen lässt, sogar deine eigene Familie.“

„Eleanor ist auch ein Teil meiner Familie“, wies Darcy sie zurecht.

Melanie rollte nur mit den Augen. „Ach bitte, du mochtest sie doch nicht einmal. Das hat Dad mir zumindest erzählt, und dass er keine Lust mehr hatte, an zweiter Stelle zu stehen hinter deiner vergeblichen Suche nach ihr, nur damit du dir nicht eingestehen musst, dass deine kleine Schwester nie wiederkommt und du dich nie bei ihr dafür entschuldigen kannst, was du davor noch zu ihr gesagt hast.“

Dass Darcy ihre Tochter auf ihr Zimmer schickte, bemerkte Lily kaum, denn sie war verzweifelt damit beschäftigt, die Tränen zurückzukämpfen, die sich während der letzten Sätze in ihren Augen gebildet hatten. Dankbar streichelte sie Evoli, das nun doch von seiner Position neben ihren Füßen auf ihren Schoß sprang und sie mit der Nase anstupste. Ihre Großmutter reichte ihr ein Taschentuch und legte tröstend die Hand auf ihre Schulter, eine Geste, die Lily nicht von ihr erwartet hätte.

„Hör nicht auf das, was meine Tochter sagt“, meinte auch Darcy. „Sie ist nur wütend, weil ich sie über der ganzen Sache vernachlässigt habe, und ihren Vater auch, aber ich hatte nun mal keine Wahl. Wenn sie das nicht verstehen...“

„Aber stimmt es, dass du Mum nicht mochtest?“, fragte Lily schniefend.

Ihre Tante schluckte schwer. „Es stimmt, dass wir unsere Differenzen hatten. Eleanor und ich waren, nein, sind grundverschieden. Sie war schon immer fröhlich und offen, aber nicht sehr verantwortungsbewusst, deshalb sind wir oft aneinander geraten, auch wenn wir zusammen gearbeitet haben.“

„Um uns hat sie sich immer gut gekümmert.“ Lily konnte nun doch nicht verhindern, dass ihr Tränen über die Wangen liefen.

„Das glaube ich.“ Ihre Tante sah sie mitfühlend an. „Und sie war auch wirklich kein schlechter Mensch, im Gegenteil. Nur manchmal hat es mich rasend gemacht, wie sie so unbekümmert sein konnte und trotzdem von allen so geliebt wurde, und bevor sie verschwunden ist, habe ich eine Menge Frust an ihr ausgelassen. Das tut mir heute unendlich Leid.“

„Ihr zwei seid sehr verschieden, und daran bin ich sicher auch nicht unschuldig. Aber ihr habt beide eure Stärken und Schwächen und habt doch eigentlich gut zusammengearbeitet. Ich bin sicher, Eleanor ist dir sehr dankbar für das, was du tust, Darcy“, schaltete sich ihre Großmutter wieder ins Gespräch ein. „Und du, Lily, musst deiner Tante und deiner Schwester jetzt vertrauen, dass sie Eleanor bald wieder finden werden. Hast du mich verstanden?“

„Ja.“ Lily nickte und wischte sich die Tränen vom Gesicht. „Danke“, fügte sie an ihre Tante gewandt hinzu. Diese nickte nur und lächelte traurig.

Bevor sie das Haus verließ, warf Lily noch einen Blick auf die Bilder, die im Regal standen. Dort gab es ein Porträt ihrer Großmutter, als sie noch ein Kimono-Girl gewesen war. Sie lächelte und wirkte wesentlich freundlicher, als Lily sie je erlebt hatte, und man konnte nur erahnen, was für ein riesiger Unterschied zwischen ihrem damaligen und jetzigen Leben liegen musste.

Außerdem gab es ein Gruppenphoto, das ihre Tante mit Melanie und deren Vater zeigte, als sie noch zusammen gelebt hatten. Sie wirkten glücklich, und ihre Cousine lächelte mit einem Evoli, das nun wohl ihr Nachtara war, auf dem Arm. Es ließ Lily an ein Photo denken, das sie zu Hause hatte, auf dem sie selbst mit Rose und ihren Eltern zu sehen war. Natürlich war sie damals zu klein gewesen, um sich nun daran zu erinnern, doch auf dem Bild wirkten sie alle so glücklich, dass es sie beim Betrachten immer etwas traurig machte.

Das letzte Bild zeigte ihre Mutter als junge Frau. Ihre braunen Locken, die Lily geerbt hatte, umrahmten ihr hübsches Gesicht, und die blauen Augen – Rose' Augen – strahlten sie an. Es war ein wunderschönes Bild, und Lily fuhr andächtig mit dem Finger darüber.

„Du siehst ihr ähnlich“, ertönte die Stimme ihrer Großmutter hinter ihr. „Bist du noch eine Weile in der Stadt? Dann lasse ich dir einen Abzug zukommen.“

„Das wäre sehr nett. Ich werde sicher noch einige Tage lang im Pokémon Center sein.“

„Ich verstehe.“ Wieder einmal wurde sie prüfend gemustert, doch es kamen keine weiteren Fragen, wieso sie nicht im Haus übernachten wollte oder ob sie etwa an einem Wettbewerb teilnahm. „Grüß deine Schwester, wenn du mit ihr telefonierst.“

„Das werde ich tun. Danke.“ Lily umarmte ihre Großmutter und ihre Tante zum Abschied und machte sich dann wieder auf den Weg. Es war noch nicht einmal spät am Nachmittag, und doch fühlte sie sich so erschöpft, als wäre es weit nach Mitternacht. Evoli schien ihre Stimmung zu spüren und trottete brav hinter ihr her, wobei es ab und zu aufmunternd ihr Bein anstupste. „Du warst heute wunderbar, Evoli.“ Lily streichelte es dankbar und beschloss, ihm später eine besondere Leckerei zukommen zu lassen.

Im Pokémon Center war Alex nirgends zu sehen, was Lily ganz recht war. So konnte sie erst einmal nach oben gehen und sich das Gesicht waschen und musste sich keinen unangenehmen Fragen zu ihrem Tag stellen. Zwar war Alex bisher auf keinen Fall aufdringlich gewesen, sondern im Gegenteil sehr verständnisvoll, aber er würde sicher fragen, was passiert war, und es wäre ihr schwer gefallen, ihm dann zu sagen, dass sie nicht darüber sprechen wollte.

Mit einer Person wollte sie nun aber dringend reden, also zog sie ihren PokéCom aus der Tasche und wählte die Nummer ihrer Schwester.

„Lily, ist alles in Ordnung bei dir?“, meldete diese sich auch sofort.

Beim vertrauten Klang von Rose's Stimme atmete das Mädchen instinktiv auf. „Na ja, es geht. Wieso fragst du?“

„Weil du nicht das Bildtelefon benutzt. Ist etwas vorgefallen bei Großmutter?“ Wieder einmal hatte sie den Nagel auf den Kopf getroffen.

Lily berichtete in groben Zügen von den Dingen, die dort vorgefallen waren. Ihre Schwester seufzte. „Es tut mir Leid, dass du da durch musstest. Vielleicht wäre ich doch besser mitgegangen.“

„Du kannst mich ja nicht immer und vor allem beschützen“, erwiderte Lily. „Sag mal...“ Sie wusste nicht, ob sie es fragen konnte, doch wenn sie es nicht tat, würde ihr die Sache wohl ewig keine Ruhe lassen. „Hasst du mich eigentlich?“

„Wie bitte? Wie kommst du denn darauf? Hat deine Großmutter das etwa behauptet?“ Rose klang schockiert. „Natürlich hasse ich dich nicht, wie könnte ich denn!“

„Na ja, weil du doch auch alles für mich aufgegeben hast, deine Karriere als Koordinatorin und deine Freunde und...“

„Lily, hör mir jetzt ganz genau zu.“ Rose sprach in langsamem Ton auf sie ein. „Ich habe die Wettbewerbe aufgegeben und bin nach Hause zurückgekehrt, weil du mir wichtiger warst als all das. Ich wollte mit dir zusammenleben. Nicht aus Pflichtgefühl, sondern weil ich dich wirklich, ganz ehrlich sehr, sehr lieb habe. Daran darfst du niemals zweifeln, versprichst du mir das?“

„Versprochen.“ Zum zweiten Mal an diesem Tag wischte Lily sich die Tränen aus den Augen. „Ich hab dich auch sehr lieb.“

„Und lass dich nicht zu sehr von dem runterziehen, was deine Großmutter oder Melanie gesagt haben, ja? Weder ist eine von uns verpflichtet, ein Kimono-Girl zu werden, noch sind wir oder Mum schuld daran, dass Tante Darcy und ihr Mann sich getrennt haben.“

„Ist gut.“ Woher hatte ihre Schwester nur gewusst, dass diese Dinge ebenfalls an ihr nagten? Wie so oft verblüffte sie Lily. „Und danke, Rose.“

„Wofür bedankst du dich?“, fragte diese.

„Dafür, dass du mich nicht bei Großmutter leben lässt. Und... einfach für alles.“ Sie konnte nicht gut in Worte fassen, was sie fühlte, aber die Ereignisse des Tages hatten ihr gezeigt, wie viel sie ihrer Schwester doch verdankte.

„Hör auf, du machst mich ganz verlegen“, wehrte Rose ab, doch Lily konnte hören, wie sie lächelte. „Melde dich, wenn noch etwas sein sollte.“

„Das werde ich. Bis morgen dann.“ Sie legte auf ging ins Bad, wo sie versuchte, sich wieder halbwegs herzurichten, um Alex beim Abendessen keinen Schreck einzujagen. Die leichte Rötung ihrer Augen konnte sie nicht verschwinden lassen, aber davon abgesehen sah sie aus wie immer, als sie nach unten in die Kantine ging. Tatsächlich wartete der Junge dort schon und winkte sie zu einem Fensterplatz.

„Ich wollte dich gerade anklingeln und Bescheid sagen, dass wir wieder hier sind“, sagte der Junge. „Dein Endivie hat dich schon vermisst.“

Lily lächelte ihr Pokémon an. „Na, hattet ihr einen schönen Tag?“

„Zumindest einen erfolgreichen“, antwortete Alex stattdessen. „Das Training lief sehr gut, in ein paar Tagen würde ich gern Jens herausfordern. Bis dahin will ich noch mehr trainieren und etwas von der Stadt sehen. Nimmst du eigentlich am Wettbewerb teil?“ Er deutete auf das schwarze Brett am Eingang zur Kantine.

„Der ist in vier Tagen, oder? Klar, können wir morgen vorbeigehen, damit ich mich anmelden kann?“ Zwar stand ihr momentan überhaupt nicht der Sinn nach Wettbewerben, aber wenn sie diese Nacht über den Ereignissen schlief, würde das sicher am nächsten Tag schon ganz anders aussehen, und schließlich hatte sie Rose ja versprochen, ordentlich mit ihren Pokémon zu trainieren und kein Trübsal zu blasen.

„Können wir machen. Gehen wir dann auch zum Tanztheater? Deine Großmutter wäre nicht zufällig so nett, uns eine Führung zu geben?“

Lily verzog das Gesicht. „Das bezweifle ich.“

Alex musterte sie, und für einen Moment blieb sein Blick an ihren geröteten Augen hängen. Doch er sagte nichts dazu und schlug stattdessen vor, die Turmruine zu besuchen, wofür Lily ihm sehr dankbar war.

Nach dem Abendessen zog sie sich bald auf ihr Zimmer zurück, wo sie nach vielen wirren Gedankengängen und einigen weiteren Tränen völlig erschöpft einschlief.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (5)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  yazumi-chan
2015-03-26T20:04:32+00:00 26.03.2015 21:04
Ach ja, Familienkonflikte sind immer wieder schön :`) Im Grunde hat Kalliope schon alles gesagt, das Kapitel liest sich sehr flüssig und jeder der Charaktere zeigt verschiedene Facetten und wie das Verschwinden von Lilys Mutter sie beeinflusst.
Ein bisschen schade finde ich, dass Lily Alex gegenüber noch nicht bereit ist, über ihre Probleme zu reden, denn einen Freund einzuweihen, ist oft sehr hilfreich. Aber das muss natürlich jeder in seinem eigenen Tempo machen.
Antwort von:  Yurippe
27.03.2015 07:39
VIelen Dank für das Lob!
Ich glaube, Lily muss das erst mal verdauen, bevor sie darüber reden kann. Außerdem weiß sie nicht, wie er reagieren würde, und will ihm nicht zur Last fallen. Immerhin ist sie ohne Vater aufgewachsen und die letzten zwei Jahre auch ohne Mutter, das steckt man nicht so einfach weg. (Auch wenn in Fantasy Waisenkinder wie Harry Potter nie Probleme zu haben scheinen...)
Antwort von:  yazumi-chan
27.03.2015 14:37
Was ist eigentlich mit ihrem Vater passiert? Der taucht ja nie auf und wird auch nie erwähnt, wenn ich mich recht erinnere.
Antwort von:  Yurippe
27.03.2015 18:17
Der ist gestorben, als Lily noch ganz klein war, etwa zwei.
Von:  sweetygirl1994
2011-11-18T16:05:52+00:00 18.11.2011 17:05
Ich finde die Geschichte bis jetzt echt klasse. Dieses Kapi gefällt mir bis jetzt am besten, da man einen kleinen Einblick in Lilys Familie bekommt. Ich hoffe das alles gut geht und Lily ihre Mutter wiederfindet. Mach weiter so. :)ヤ
Von:  Kalliope
2011-11-12T08:35:22+00:00 12.11.2011 09:35
Meiner Meinung nach ist das dein bisher bestes Kapitel, sowohl inhaltlich als auch stilistisch gesehen. Lily und Evoli wirken mit ihrer Persönlichkeit richtig plastisch und sympathisch und auch ihre Cousine, ihre Tante und ihre Großmutter kommen in ihrer teilweise strengen, pubertären und unfreundlichen Art doch wie Menschen rüber, die sehr an der Situation zu knabbern haben, wenn auch jeder auf eine andere Art und Weise. Es würde mich freuen, wenn es in Zukunft nochmal etwas von Lilys Verwandtschaft zu lesen gäbe und ihre Familie mehr ausgeleuchtet wird :) Ich bin auch sehr gespannt, wie es weitergeht und ob Lily das Rätsel um ihre Mutter lösen kann.
Von:  fahnm
2011-11-11T22:45:57+00:00 11.11.2011 23:45
Super Kapi^^


Zurück