Momente von Alaiya ([One-Shots und Drabbles]) ================================================================================ Der See unter dem See --------------------- Die Kerze flackerte. Beinahe wie Schlangen tanzten die Schatten der Laterne selbst über die Felswände, als sich der gang, dem er gefolgt war, zu einem weiten Raum, beinahe einer Halle, öffnete. Tatsu hielt die Laterne höher, um in den Raum hineinsehen zu können, doch konnte er dennoch kaum mehr als vielleicht zehn Meter klar sehen. Er sah die Wand, an der er stand und die in einem Bogen gekrümmt zu seiner Linken zu verlaufen schien. Er sah einige Stalagmiten, die wie weiße Zähne aus dem Boden ragten. Doch er sah nicht die Decke. Er sah nicht was vor ihm lag. Doch er musste auf dem richtigen Weg sein. Das dumpfe Glucksen eines Tropfen, der aus großer Höhe auf eine Wasseroberfläche traf, schallte durch den Raum. Ja, er musste hier richtig sein. Hier musste es sein. Vorsichtig schritt er nach vorn. Kleine Steine und Sand knirschten zwischen seinen Füßen und den Felsboden. Das Glucksen von weiteren Tropfen schallte durch die Katakomben, während die flackernde Kerze die Schatten tanzen ließ. An den Wänden bildete sich ein Kontrast, als er weiter voranschritt. Vorne am Eingang der Felshalle waren sie trocken, grau, und nun, je weiter er ging, waren sie von weißlichem, nass glänzenden Kalk überzogen. Es gab keinen Zweifel. Er war richtig. Ein Lächeln breitete sich auf seinem vernarbten Gesicht aus, erlosch jedoch im nächsten Moment, als er beinahe stolperte. Ein Plätschern erklang, als sein linker Fuß unerwartet auf Wasser traf. So fasziniert hatte Tatsu die Wände beobachtet, dass er beinahe in den See gefallen wäre, der sich nun vor ihm ausbreitete. Doch nun sah er nach vorn und sah, dass er da war. Eine unnatürlich glatte Wasserfläche breitete sich vor ihm aus und verlief sich in die Dunkelheit. Das Wasser schien tintenschwarz. Es breitete sich zu beiden Seiten bis außerhalb seines Lichtkegels aus. Tatsu schluckte. Ja, dass musste er sein. Der See unter dem See. Er war da. Vorsichtig stellte er die Lampe ab, ehe er seine Haare zurückband. Während die Kerze weiter flackerte, zog er sich Weste und Hose aus. Er sah sich um. Es war der Augenblick der Wahrheit. Seine Chance sein Schicksal zu erfüllen. Zu finden, was ihm seinen Namen gegeben hatte. Er hatte keine Wahl. Er musste gehen. Und so stieg er in das eisige Wasser hinein. Heimat ------ War es wirklich ihre Heimat? Sie erinnerte sich kaum noch daran, hier gelebt zu haben. Es war über dreißig Jahre her. Dreißig Jahre, dass ihre Eltern hier fort gezogen waren. Joanne kam nicht umher, sich zu fragen, ob sie das Haus, in dem sie einst gelebt hatte, überhaupt noch erkennen würde. Viel eher erinnerte sie sich an einen laufenden Fernseher, an verschiedene Kindermädchen, Au Pairs und etwaige Ausflüge an den Strand - mit den Au Pairs natürlich. Ihre Eltern waren, zumindest soweit sie sich erinnern konnte, nie mit ihr irgendwohin gegangen. Es sei denn, man hatte sie in ein hübsches Kleid gesteckt, um sie auf irgendeinem Geschäftsessen vorzuführen. Sie sah zu dem Steg, der auf das Meer hinausführte. Kleine Holzhäuser zierten den Steg und sie war sich sicher eins davon, ein kleines Eiscafé, noch zu erkennen. Ja, sie war sich recht sicher, dort einmal Eis gegessen zu haben. Ach, was hatte sie sich nur dabei gedacht, hierher in den Urlaub zu fahren? Sie hätte wissen müssen, dass es keinen Unterschied machte. Wahrscheinlich wäre das Mittelmeer schöner gewesen. Amy dagegen störte das alles nicht. Breitbeinig saß sie in ihren blauen Badeanzug im Sand und hob mit Begeisterung einen Graben um eine Sandburg herum aus. Das Gesicht der Fünfjährigen war vollkommen konzentriert, als sie den Sand, den sie ausgehoben hatte, der Burg hinzufügte und ihn festklopfte. „Soll ich dir etwas cooles zeigen?“, fragte Murphy, der, wie ein guter großer Bruder daneben hockte. Amy sah ihn mit großen Augen an. „Ja“, nuschelte sie dann. „Gib mir mal deine Schaufel“, meinte der junge Mann daraufhin und begann, kaum, dass er die Schaufel hatte, den Graben in Richtung des Meeres zu verlängern. Matt lächelte Joanne und legte sich auf dem Handtuch zurück. Irgendwie war es hier friedlicher, als sie es in Erinnerung hatte. Oder eher verlassener. Kaum jemand anderes war tatsächlich am Wasser, geschweige denn drin. Nur einzelne Personen liefen Barfuß durch die Brandung. War es den meisten bereits zu kalt? Blinzelnd sah sie in den spätsommerlichen Himmel hinauf, wo einzelne flache Wolken blass das Licht der Sonne reflektierten. Eigentlich war es warm genug, beschloss sie. Vor allem das Wasser war noch warm. Doch wahrscheinlich gingen die meisten Leute ohnehin eher nach Kalender und Gefühl. Für einen Moment erlaubte sie sich, die Augen zu schließen. Es würde nichts passieren. Es würde nichts passieren … Ein begeistertes Quietschen, ließ sie sich wieder aufrichten. „Schau mal, Mommy“, rief Amy aus. Joanne schaute. Die Brandung hatte Wasser durch den Kanal, den Murphy gegraben hatte, gespült, dass nun den vermeintlichen Burggraben füllte. Die Augen des Kindes glitzerten vor Begeisterung, während sie zusah, wie neue Wellen immer wieder etwas mehr Wasser in den Graben spülten und dessen Wände damit glätteten. Mit einem Lächeln stand Joanne auf, um sich zu ihrer Tochter zu setzen. „Habt ihr das gebaut?“, fragte sie bemüht ihre Stimme beeindruckt klingen zu lassen. „Ja“, versicherte die Kleine ihr. „Murphy hat mir geholfen!“ Joanne sah zu ihrem Adoptivsohn, der ihr zuzwinkerte. „Gut gemacht, Kid.“ „Was man nicht alles tut“, meinte er süffisant. Eine andere Stimme erklang. „Na. Bauarbeiten abgeschlossen?“ Joanne hatte gar nicht gemerkt, dass Joachim mit einer vollen Tüte, auf der das Logo eines Imbisses abgedruckt war, den Strand hinabgekommen war. „Oh, gibt es etwas zu essen?“, fragte Murphy. Joachim lächelte ihn an. „Nur für brave Jungen.“ Mit einem leisen Lachen wandte Joanne sich ihm zu. „Er war heute einmal ausnahmsweise brav.“ Damit stand sie auf und bückte sich zu Amy hinab. „Lass uns etwas essen, Schätzchen.“ Auch davon schien das Kind begeistert. „Okay!“ Damit hob Joanne ihre Tochter auf, um sie zu ihrem Strandtuch hinüber zu bringen. Fragen ------ Sean kam zu sich. Sein Atem ging schnell. Warum? Er spürte Wut, aber auch Angst und auch noch eine weitere Emotion, die er nicht benennen konnte. Sein Atem ging schnell. Warum? Er kam nicht dran vorbei sich zu fragen, was genau geschehen war. Er war ohnmächtig gewesen, oder? Doch fühlte er sich eher, als hätte ihm jemand reines Adrenalin gespritzt. Warum? Mühsam setzte er sich auf und stellte fest, dass er auf einer morschen Holzkiste gelegen hatte. Auch die Wände des kleinen Zimmers, in dem er lag, waren aus Holz. Selbst die Löcher, die wohl einst einmal Fenster gewesen waren, waren mit Holz vernagelt. Einzig eine Türöffnung, durch die orangefarbendes Licht strömte und den Staub in der Luft sichtbar machte, war offen. Wo war er? Warum war er hier? Wieso konnte er sich an nichts erinnern? Und dann, als er sich gänzlich aufsetzte, wurde ihm bewusst, dass er nackt war. Warum war er nackt? Unsicher zog er seine Beine an sich heran, um seine Blöße zu bedecken. Er traute sich nicht rauszugehen. Immerhin sah er hier nichts, womit er sich einkleiden könnte. Also musste er hier bleiben. Hier bleiben und warten. Was war nur geschehen? Er zitterte. Es war Herbst und wenn er das orange Licht richtig interpretierte, ging die Sonne gerade unter. Es wurde kalt. Was sollte er denn nur tun? Draußen vor der Tür schien eine grüne Wiese zu liegen und soweit er sehen konnte, war dort draußen nichts anderes. Nur eine Wiese und ein paar Bäume. Keine Häuser, kein gar nichts. War er denn mitten in der Wildnis? Er spürte ein brennen in den Augen und versuchte zu blinzeln, als ihm klar wurde, dass es Tränen waren. Verdammt. Er durfte nicht weinen. Sie würden nur wieder lachen. Doch es war ja niemand hier. War es vielleicht einen Scherz, den sie sich mit ihm erlaubt hatten? Immer und immer wieder ging er seine Erinnerungen durch. Er konnte sich an den Morgen in der Schule erinnern. Es war beschissen gewesen, wie immer. Er hasste die Schule. Und dann? Dann waren da Sam und Thomas und James gewesen. Sie hatten ihm aufgelauert und hatten ihn mitgenommen in diese Gasse. Hatten sie ihn irgendwie KO geschlagen und ihm die Kleidung weggenommen? Doch wie kam er dann hierher? Warum konnte er sich an nicht mehr erinnern? Es wurde langsam dunkel. Was sollte er machen? Die Wut in ihm war schon lange verebbt und nur der reinen Angst gewichen. Er verstand das alles nicht. Er wollte hier weg. Er wollte von hier fort. Ein Rascheln erklang draußen. Als würde jemand durch Büsche gehen. Ein Rascheln und eine Bewegung, die er durch die Ritzen im Holz sehen konnte. Er spannte sich an. Ein wildes Tier? Es war definitiv kein Mensch? Und tatsächlich. Einen Moment später trat etwas vor die Tür und ließ ihn zusammenzucken. Er dachte erst, es sei ein Hund, doch dann erkannte er, dass er sich irrte. Er hielt den Atem an. Es war ein Wolf. Es war definitiv ein grauer Wolf. Das Tier sah ihn aus goldenen Augen an und kam dann in die Hütte hinein. Sean starrte es an und dann begann das Tier seine Gestalt zu verändern. Ein Mann stand vor ihm. Ein Mann von vielleicht vierzig Jahren. Sein Haar war bereits komplett ergraut. Eine Narbe zierte seine Wange. Er trug einfache Kleidung: Eine Jeans und ein dunkles Hemd, das bereits etwas mitgenommen aussah. Er musterte Sean. „Da bist du ja.“ Fassungslos starrte Sean ihn an. „Wer …?“ Ad insulam malorum ------------------ Alles war vorbereitet. Ihre Kleidung, ihre Kamera, ein wenig Schreibsachen und ihr Laptop lagen in dem großen alten Lederkoffer, den sie einmal von ihrem Vater bekommen hatte. Dieser war, zusammen mit ihren Fokusobjekten – einer einfachen Weltkarte, auf der New York markiert war, und ein paar Postkarten – in der Mitte des Ritualkreises platziert, während sie an dessen Rand saß. Gun hatte sich die Anleitung in ihrem Buch mehrfach durchgelesen und war zu einem deutlichen Ergebnis gekommen: Es war verdammt gefährlich, was sie vorhatte. Aber hey, wer liebte nicht so ein wenig Risiko? Davon abgesehen brauchte sie dringend einen Tapetenwechsel und hatte als einfache Studentin nicht das Geld ein Flugticket zu bezahlen. Selbst wenn sie um die Hotelkosten wohl kaum herumkam. Und einmal ganz ehrlich: Wozu hatte sie ihre Magie? Noch einmal ging sie durch die beschriebenen Blätter, die neben dem Kreis lagen. Es war einfaches Druckerpapier, auf dass sie ihre Notizen gemacht hatte. Sie hatte die Werte berechnet, die Energie und was als Gegengewicht nötig wäre. Die gute, alte Frau Lindberg, die sie damals im Magierinternat unterrichtet hatte, würde wahrscheinlich einen Anfall bekommen, wenn sie sie so gesehen hätte. Sie trug nicht einmal ihre Roben! Der Fakt war jedoch, dass sie ihre Roben nicht an sich gebunden hatte und nicht splitterfasernackt im Central Park auftauchen wollte. Ihre Augen wanderten um den magischen Kreis, den sie gezeichnet hatte. Die Himmelsrichtungen, die vor allem für diesen Zauber wichtig waren, waren am Rand in anliegenden Kreisen eingetragen. Gut. Die Kurzzeichen für Weg, Bewegung, Transport, Mensch und Magie waren innerhalb des Kreises, zusammen mit den vier Elementen eingetragen. Das Septagram war von einem Quadrat umgeben und natürlich endeten dessen Ecken auf den Himmelsrichtungen. Ja, es sollte stimmen. Auch die Kerzen, die sie in regelmäßigen Abständen auf dem äußeren Rand des Kreises aufgestellt hatten, brannten alle. Gut. Es musste alles gutgehen. Also zog sie einen kleinen Zettel, ein abgerissenes Stück von einem der Blätter, hervor. Darauf hatte sie mit Bleistift und einiger Arbeit einen kleinen Spruch vorbereitet. Sie räusperte sich und las den Spruch vor. Einmal. Zwei Mal. „Te invoco, magice vetus, ut trans flumen, ad insulam malorum me portes, ubi esse volo.“ Sie bemühte sich den Spruch in ihren Gedanken festzuhalten, als sie die Augen schloss, ihre Hände auf den Rand des Kreises legte und begann ihre Energie und die ihres Umfeldes in dem Kreis zu sammeln. „Te invoco, magice vetus, ut trans flumen, ad insulam malorum me portes, ubi esse volo.“, wiederholte sie leise und formte dabei ein Konzept in ihren Gedanken. Magie, für die Energie, die sie brauchen würde, Erde, da sie sich in Relation zu einem großen Fels, der durch das Weltall rotierte, bewegen wollte. „Te invoco, magice vetus, ut trans flumen … “ Dann die Idee der Bewegung, der raschen Bewegung. Die Vorstellung, wie die Energie einer Leyline, sie tragen würde. Mitten zum Reservoir im Central Park. „ … ad insulam malorum me portes, ubi esse volo.“ Immer deutlicher formte sie diesen Gedanken, sammelte immer mehr Energie, webte diese um ihre Fokusobjekte, konzentrierte sich auf die Aspekte des Zaubers und ließ es zu, dass ihr Geist in die übliche Trance verfiel. Ein bisschen Angst hatte sie schon. Doch was war das Leben ohne Risiko? Und dann, schließlich, ließ sie die Energie los und spürte im selben Moment ein sinkendes Gefühl in ihrer Magengegend. Sie fiel. Sie fiel. Sie fiel. Und schlug hart auf einem Grasboden auf, ehe etwas schweres auf ihren Beinen landete. Sie stöhnte auf und öffnete blinzelnd die Augen. Lichter. Das Geräusch einzelner Fahrender Autos. Steinformationen, die sie aus Filmen kannte. Sie strampelte sich von ihrem Koffer los, sprang auf und warf triumphierend ihre Hände in die Höhe. „Yes!“, jubelte sie. „Beste Hexe!“ Dann sah sie an sich hinab, nur um sicher zu gehen, doch es sah soweit danach aus, als wären alle Körperteile am Ziel angekommen. Es war Nacht in New York, ganz wie sie berechnet hatte. Also blieb ihr nur eins übrig: Eine Bleibe finden. Doch sie hatte sich bereits die Adresse der Jugendherberge in der 104th Street herausgesucht. Traditionsbruch --------------- Mit einem Ruck zog Miruna das Kabel an, das nun endlich nachgab und ihr genug Freiraum ließ, dass sie es bis zum Schreibtisch hinüberziehen konnte. „Ha“, machte sie leise, aber deutlich triumphierend, als sie es in den Receiver einsteckte. Warum hatte es sie eigentlich überrascht, dass es hier nichts gab? Gar nichts. Nicht einmal Fernsehempfang. Man musste alles selbst machen. Aber ernsthaft, erwarteten sie, dass eine Bibliothek sie für – nun, für wie lang auch immer sie hier festhocken würde – beschäftigen konnte? Eine Bibliothek nicht zuletzt, deren Bücher zu großen Teilen in Sprachen verfasst waren, die sie nicht kannte. Sie sah sich in dem Zimmer um, in dem sie war, und beschloss, dass man wahrscheinlich genau das von ihr erwartete. Immerhin sah das Zimmer aus, als wäre es aus einem anderen Jahrhundert: Ein großes Himmelbett. Ein alter, mit vielen geschnitzten Details verzierter Schrank. Ein massiver Schreibtisch und ein Stuhl, dessen Polster mit roten Samt bezogen war. Ihr pinker Rollkoffer und ihr weißes MacBook standen im starken Kontrast dazu. Irgendwie hatte sie sich das ganze anders vorgestellt. Unsterblichkeit und alles. Sie hatte eigentlich erwartet, dass auch Vampire mit der Zeit gingen. Immerhin hatten sie es ja auch irgendwie über die Jahrhunderte hinweg geschafft nicht aufzufallen, oder? Na ja, wahrscheinlich war es eher so, dass sie die meiste Zeit aufgefallen waren und man heute nur davon ausging, dass sie Weirdos waren. Sie holte ihr Smartphone aus der Hosentasche und sah drehte es in der Hand. Was sollte sie ja auch sonst machen? Es war aus. Immerhin war sie ganz offiziell verschwunden, verschollen und dann irgendwann tot. Nicht dass es jemand stören würde. Davon abgesehen, dass man hier, irgendwo im hinterletzten Hinterland von Transylvanien absolut keinen Empfang hatte. Mit einem Seufzen stand sie auf und schaltete den Receiver an, um ihn dann wiederum mithilfe von gleich zwei Adaptern mit ihrem Laptop zu verbinden. Ja, gottseidank hatte sie eine technische Ausbildung. Schließlich, nachdem sie einige Einstellungen geändert hatte, konnte sie auf das empfangene Bild schalten. Es war schlecht, aber hey. Fernsehen. Wahrscheinlich sollte sie dankbar sein, dass es hier überhaupt Strom gab, beschloss sie. Sonst wäre es wirklich ein verdammt langweiliges Unleben geworden. Warum auch immer ihr Meister sie überhaupt hierher gebracht hatte. Sie sah aus dem offenen Fenster, durch dass sie auf den nächtlichen Wald hinausschauen konnte. Wahrscheinlich was es Tradition. Was auch sonst? Tradition. Nah der Freiheit ---------------- Vor ihm ein Campingkocher. Über ihm der Sternenhimmel. Irgendwo in der Ferne rauschte das Meer. So ließ es sich aushalten, beschloss Samu. Endlich fort. Endlich wieder da, wo er hingehörte. Nun, zumindest für diese Nacht und zumindest wenn es nach seinem Gefühl ging. Er musste weiterreisen. Wenn er einmal das Land verlassen hatte, wenn er einmal aus Japan raus war, dann würde er frei sein. Er glaubte nicht, dass die Inagawa ihn außerhalb des Landes suchen würden. So wichtig war er auch nicht. Also würde er gehen, würde nach China gehen oder Korea oder wohin auch immer ihn sein Weg trug und würde dort frei sein. Er legte sich rücklings auf die Wiese und sah in den Himmel hinauf. Es war Neumond und er war so weit von jedweder Zivilisation fort, dass die Sterne klar zu sehen waren. Noch besser wären sie zu sehen gewesen, hätte er das Licht im Zelt ausgeschaltet, doch brauchte er auch noch etwas um die richtigen Zutaten rauszusuchen. Jedenfalls hatte er keine Lust, irgendwelche Gewürze zu vertauschen. Unwillkürlich lachte er auf. Machte er sich wirklich über Gewürze Gedanken? Ach, es fühlte sich so gut an, so unendlich gut hier draußen zu sein. Zu wissen, dass nur noch das Meer zwischen ihm in seiner wirklichen Freiheit stand. Das Wasser begann zu blubbern und er setzte sich wieder auf. Er hatte am Vortag in einem Dorf Zutaten besorgt. Denn auch wenn er offiziell auf der Flucht war, so floh es sich doch mit vollen Magen besser. Er würde morgen Energie brauchen, um das Meer zu überqueren. Vielleicht fand er ein Boot, dass er nutzen konnte und wenn nicht … Dann würde er sehen. Er lächelte. Seine Brüder in Tokyo wären hier draußen wahrscheinlich verloren gewesen. Doch er hatte gelernt auch in der Wildnis für sich selbst zu sorgen. Er kam auch allein klar. So wie früher. So wie daheim. Prokrastination --------------- Kyra wusste, dass sie losgehen sollte. Doch irgendwie konnte sie sich nicht durchringen. Noch einmal überprüfte sie ihre Kamera in der vagen Hoffnung, dass diese vielleicht doch kaputt war. Sie hobt die Kamera und visierte Watson an, den jungen Bernersennenhund, der nun seit einem halben Jahr bei ihr lebte und gerade müde auf dem Teppich vor ihrem Bett lag. Er war so unglaublich niedlich! Ein Foto. Dann noch eins. Es war eine Digitalkamera, doch wie so viele Kameras gab sie dennoch ein hörbares Feedback, indem sie das Geräusch einer sich schließenden Blende immitierte. Der Hund horchte auf und trottete zu ihr hinüber, um seinen Kopf auf ihren Schoss zu legen, und sie treuherzig anzusehen. Was natürlich nur eine Methode war, um sich Streicheleinheiten zu erbetteln, doch das war ihr egal. Er war einfach so niedlich und hatte so flauschiges Fell. „Braver Hund“, meinte sie, als er ein offenbar glückliches Jaulen von sich gab. Sie sah aus dem Fenster, wo der Abendhimmel sich langsam ins violette verfärbte, und seufzte. „Was meinst du, Watson, sollen wir losgehen?“ Der Hund ließ ein Bellen hören, was sie als ein „Jetzt nicht“ interpretierte. Ein Glück, denn der Meinung war sie auch. „Ja, wir haben noch ein bisschen Zeit, oder?“ Sie zog ihre Beine an, um sich auf die Fensterbank zu setzen und auf die Straße hinab zu schauen. Ja, es war noch Zeit. Und technisch gesehen war sie ja nicht mal verpflichtet über den fringe zu schreiben. Es musste nur irgendein Artikel zu einem aktuellen Event in der Stadt sein und es war ja nur für die Uni. Wahrscheinlich würden alle anderen ja schon über den fringe schreiben. Also: Warum machte sie sich überhaupt so viele Gedanken darüber? Sie konnte anderes tun. Immerhin hatte sie ein neues Buch. Nun kein neues Buch. Nicht per se. Aber es war eine neue Ausgabe der besten Sherlock Holmes Kurzgeschichten und wie hätte sie daran vorbeigehen können? Immerhin waren es nur zehn Pfund gewesen. Ja, sicher, sie kannte die Geschichten beinahe auswendig. Aber hey. Es waren halt ihre Lieblingsbücher. Immerhin stellte sie sich das Leben als Detektiv aufregend vor. Aufregender zumindest, als das Leben als Literaturstudent. Journalismusstudent. Was-auch-immer-student. Sie öffnete das Buch und begann zu lesen, wurde jedoch nach nur zwei Sätzen von Watson unterbrochen, der mit schiefgelegten Kopf neben ihr saß und ein fragendes Jaulen von sich gab. „Ach, wir haben ja noch ein bisschen Zeit“, meinte sie zu ihm. „Aber wir gehen gleich noch raus.“ Sie sah auf das Buch. „Lass mich nur eben diese Geschichte lesen, ja?“ Der Hund bellte. Zustimmung, beschloss Kyra, und fischte ein Leckerli aus der Tasche, die sie aktuell immer am Gürtel trug, hervor. „Braver Hund.“ Das Mädchen am Straßenrand -------------------------- Regen. Regen prasselte vom Himmel hinab, prasselte auf Autodächer und Regenschirme, während die Straße in ständiger Bewegung zu sein schien. Wie ein eigener Organismus wand sie sich am Rand der Stadt entlang. Da waren Autos, die über die Fahrbahn rauschten. Da waren Fußgänger, die mit gesenkten Köpfen die Straße hinabeilten. Einige trugen Geschäftskleidung und hatten Aktentaschen bei sich; Geschäftsleute. Andere waren Jugendliche, die entweder von den Schulen kamen oder unterwegs waren, um sich zu amüsieren. Auch die ein oder andere Hausfrau, die noch einen Einkauf nach Hause schaffte, lief die Straße entlang. Niemand beachtete die Frau, die unter einem altertümlich wirkenden Regenschirm am Rand der Straße stand und sie alle aus goldenen Augen beobachtete. Die Menschen waren zu beschäftigt mit sich selbst. Manchmal fragte sie sich, ob sie überhaupt hierher gehörte. Doch die Wahrheit war, dass sie schon solange hier war und es gar keinen anderen Ort gab, an den sie würde gehen können. Sie war hier, als Avatar ihrer Göttin. Sie war hier als Sprecherin, als Dienerin ihres Gottes. Sie war schon lange hier, hatte gesehen, wie mehr und mehr Menschen hierher gekommen waren. Menschen, die sie meistens nicht einmal zu sehen schienen. Meistens waren es nur Jugendliche oder Betrunkene, die ihr einen Blick zuwarfen oder sie vielleicht auf ihr ungewöhnlich rotes Haar ansprachen. Doch die meisten taten es nicht. Die meisten sahen sie nur an, starrten für einen Moment und senkten dann schuldbewusst den Blick. Doch sie war anders. Sie beobachtete die Menschen, beobachtete sie genau. Sie schämte sich nicht zu starren, während sie sich fragte, was wohl die Geschichte von jenem jungen Paar war, das sich gemeinsam unter einem Regenschirm drängte, was für eine Geschichte ihr die alte Frau, die ein schwer beladendes Fahrrad vor sich her schob, ihr wohl erzählen könnte, und woher wohl jener blonde Tourist, der offenbar keinen Regenschirm hatte und so nun durch den Regen eilte, kam. „Was machst du hier, Tsuki?“, fragte eine Stimme neben ihrem Ohr. Sie lächelte und sah auf. Auch wenn sie niemanden sah, erkannte sie doch die grünliche Flamme, die nun in der Gasse neben ihr flackerte. Ein Zashiki-Warashi. Ein örtlicher Hausgeist. Masao. „Ich beobachte sie“, erwiderte sie. „Schau sie dir an.“ „Ich sehe sie die ganze Zeit.“ Die Stimme Masaos klang gelangweilt und gleichzeitig ein wenig quengelig, ganz so, wie man es von einem Geist erwarten würde, der auf ewig ein Kind war. Tsuki sah mit einem süffisanten Blick zu der Flamme, die unter ihrem Schirm Zuflucht vor dem Regen gesucht hatte. „Aber siehst du sie wirklich?“ „Ich bin ja nicht blind!“, erwiderte der Geist. „Sicher nicht“, antwortete sie und lachte leise, als sie eine andere Bewegung sah. Ein Fuchs, der in einer Gasse auf der anderen Seite der Straße erschienen war. Ein anderer Bote. Es war also Zeit. Nun dann. Es wurde also soweit, dass auch die Menschen starren durften. Und während ein kleiner Transportwagen vor einem der kleinen Imbisse vorfuhr, nahm sie ihre wahre Gestalt an. Ihr silbernes Fell glänzte im Licht der Straßenlaternen. Es wies das Wasser ab, so dass die Regentropfen nur als Perlen über ihren schlanken Fuchskörper liefen. Ihr Regenschirm war zu Boden gefallen. Sie sprang gegen die Wand zu ihrer Rechten, stieß sich von dieser ab und landete dann auf dem Dach des kleinen Hauses, neben dem sie die ganze Zeit gestanden haben. Schon ertönte ein Ruf. „Was ist das?“ Moderne Fotohandys wurden gezuckt, während sie über die Dächer lief und dann dem Himmel entgegen sprang. Dann war sie für die Menschen, die mit ihren Handys da standen, die Regenschirme gesenkt hatten und auf den Punkt starrten, wo sie für sie gerade verschwunden war. Dann erhob sich ein Murmeln, während sie sich fragten, ob es nur eine optische Täuschung gewesen war. Es war genug Ablenkung gewesen, als dass ihre Brüder Nahrung aus den Läden, aus Taschen und Wägen hatten klauen können. Es sollte für die Woche reichen. Ein bisschen Normalität ----------------------- „Gib mir mal den Salat.“ „Sag mal, wirst du Vegetarier?“ „Mir ist nur danach.“ Alle lachten. Sie waren zu fünft, saßen um das Feuer herum, während im Wald langsam die Dämmerung hereinbrach. Es war beinahe normal. Auf einem Rost, dass sie über dem Feuer aufgehangen hatten, briet noch immer etwas Fleisch. Teilweise gekauft, teilweise selbst gefangen. Liza wollte sie noch immer davon überzeugen, dass Fleisch roh zu essen, doch soweit kam es nicht. Da konnte ihre Mentorin ihnen noch so viel über Ehre erzählen. „Wer will noch was?“, fragte Alicia und drehte mit der Zange ein Steak um. Thia hielt ihren Pappteller hin. „Gib her.“ Es waren Sommerferien. Noch dazu schien aktuell ausnahmsweise einmal nichts zu passieren. Keine Monster. Keine Ungeheuer. Es war schien relativ friedlich zu sein und für den Moment waren sie einfach nur normale Teenager. Dabei hatte sie immer recht wenig davon gehalten ein normaler Teenager zu sein. Wie sagte man noch? Man wusste Dinge erst zu schätzen, wenn man sie nicht mehr hatte. „Alles okay?“, hörte sie eine Stimme neben sich. Tina hatte sich in ihre Richtung gebeugt und ihre Stimme gesenkt. Wie immer sah sie ein bisschen müde aus. Thia nickte. „Ja.“ Sie lächelte. Sie machte sich zu viele Gedanken. Natürlich hatte sie in den letzten drei Jahren oft darüber nachgedacht, wie es wohl wäre, normal zu sein. Aber überhaupt darüber nachdenken zu können war wohl Luxus. „Du wirkst irgendwie bedrückt“, meinte Tina. „Sicher?“ Wie immer, wenn sie nach den richtigen Worten suchte oder sonst irgendwie unsicher war, strich sie sich ein paar einzelne Haare hinter das Ohr. Thia sah kurz in die Runde. Sah zu Alicia, die wieder dazu übergegangen war, Matt aufzuziehen, und zu Sean, der mit verschränkten Armen gegen die Wand des Hauses lehnte. Der Schnitt auf seiner Stirn, den er ihr zu verdanken hatte, brannte noch immer rötlich. Wahrscheinlich war es der Grund, warum er schmollte. „Was?“, fragte Tina, als sie das Schweigen ihrer Freundin bemerkte. „Ich frage mich nur, wann das nächste Monster auftaucht“, erwiderte Thia leise und darum bemüht, es wie einen Scherz klingen zu lassen. Tina lehnte sich zurück. „Ich hoffe nicht zu bald. Ich muss noch einen Aufsatz fertig schreiben.“ Sie lachte. „Außerdem wollte ich campen gehen.“ „Ich sehe, jemand kennt seine Prioritäten“, kommentierte Alicia, die offenbar das Gespräch mitgehört hatte. Tina zuckte mit den Schultern. „Ich habe halt gern ein Sozialleben.“ „Dafür hast du doch uns“, erwiderte Alicia, doch ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie es nicht so meinte. Dennoch war es das, was ihnen die Ältesten immer wieder predigten: Ein Rudel gehörte zusammen. Ein Rudel war das wichtigste füreinander. Dabei waren sie nicht einmal das, was die normalen Wölfe als ein Rudel bezeichnet hätten. Cousins und Cousinen, aber keine engen Verwandten voneinander. Und selbst die ganze Cousinen-Verwandtschaft erschien Thia oftmals als etwas fraglich, da diese doch auf angeblich denselben Geist zurückging, dessen Existenz nie bewiesen worden war. Aber gut. Sie waren Rudel. Sie teilten ein Schicksal. Daher gehörten sie zusammen. „Du könntest auch mitkommen“, meinte Tina nach einigen Sekunden zu ihr. „Ich gehe mit Thomas, Maria und Pablo. Wir wollten im Cairngorms wandern gehen.“ Thia sah sie an. Sie fühlte sich bei weitem weniger wohl, wenn es um die einfachen Menschen ging. Sie hatte das Gefühl nicht besonders gut lügen zu können. „Vielleicht“, meinte sie. Das Feuer knisterte und zischte, als ein Tropfen Fett aus einem der Schnitzel hineinfiel und ein paar Funken stoben in die Dämmerung. Während sie ein Stück von dem Schnitzel auf ihrem Teller abschnitt, sah Thia zu Sean und fragte sich, ob ihr Leben vielleicht einfacher wäre, würde sie ihn gewinnen lassen. Doch sie wusste, dass er kein guter Anführer sein konnte. Und das war, worum diese ganze Sache überhaupt ging, oder? Anführer. Der Schutz der Gruppe. Fisch! ------ „Fisch!“ Zumindest im Geiste war Trixie eine Möwe und sie würde ihren Schwarm beschützen – wenn denn nötig. Für den Moment saßen sie hier einfach auf den seltsamen Menschenkonstrukten und beobachten die Menschen, die sich auf dem eckigen Steinding in Richtung der schwimmenden Metallschale drängten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis einer von einer nicht aufmerksam war. Wahrscheinlich ein Menschenküken. Dann würden sie bereit sein! „Fisch! Fisch!“, schrie ihr Schwarm. Das hieß natürlich nicht, dass sie es wortwörtlich schrien. Die Menschen verstanden nur dasselbe wie immer: „Kräh! Kräh!“ Aber es waren halt Menschen, die nichts verstanden, aber glaubte, dass Metall schwamm. Da war ein geeignetes Opfer. Ein Menschenküken, das eine Tüte mit fettigem Fisch in der Hand hielt und verträumt auf das Meer sah, während seine Mutter es am Arm zog. Ihr Schwarm wurde aufgeregt. „Fisch! Fisch! Fisch!“ Ja, Fisch. Fisch war gut. „Jetzt!“, befahl sie und breitete ihre Flügel aus. Ihr Schwarm folgte. Es war ein absolut elegantes Flugmanöver, als Trixie über die Köpfe der Menschen segelte und sich dann in einem gewagten Sturzflug die Tüte schnappte. Das Schreien des Menschenküken ignorierend flog sie zum nächsten Pier und ließ die Tüte fallen. Sie pickte nach der Tüte. „Fisch.“ Monsterjagd ----------- Das Ding verschwand um die nächste Ecke, während Pakhet den Gang hinabrannte. Sie war kein Monsterjäger. Verdammt noch mal, sie war kein Monsterjäger. Sie hatte es Michael immer und immer wieder gesagt. Sie war kein Monsterjäger, verdammt! Ja, sicher. In den U-Bahnsystemen der Großstädte siedelten sich gerne Ungeheuer an. In den U-Bahnsystemen von London, mit all ihrer Geschichte, ihren Emotionen und ihrer Bedeutung sowieso. Ach, so sehr, wie viele Leute an Ungeheuer hier glaubten, wurden diese wahrscheinlich auch noch von den dunklen Tunneln angezogen. Entsprechend war die Stadt London und Westminster sehr glücklich darum, regelmäßig einmal Geld springen zu lassen, um eben diese Monster verschwinden zu lassen – meistens nach einigen Toden oder seltsamen Fällen plötzlichen Verschwindens von etwaigen Passagieren. Natürlich brauchte man Monsterjäger, aber Fakt war: Sie war keiner. Endlich hatte sie die Biegung des Tunnels, die zu den Gleisen führte, erreichte und zog ihre Waffe in einer beinahe vollkommen automatischen Bewegung, als sie das gut drei Meter große Ungeheuer nicht sofort sah. Genau das war einer der Gründe, warum sie kein Monsterjäger war: Sie benutzte Pistolen. Verdammt noch mal, sie benutzte Pistolen! Pistolen, die wirklich toll waren, wenn man sich mit Menschen anlegte. Die meisten überlegten es sich direkt, ob sie einen weiter konfrontieren wollten. Doch Monster, ja, Monster waren meistens immun gegen Kugeln oder brauchten zumindest zwei, drei Magazinstreifen in ihrem Fleisch, um sich daran zu stören. Vorsichtig ging Pakhet auf den Bahnsteig hinaus. Er war verlassen – natürlich, war er doch wegen vermeintlicher Umbaumaßnahmen gesperrt. Eine Vorsichtsmaßnahme, nachdem das Ding drei Leute innerhalb von einer Nacht getötet hatte. „Komm schon“, grummelte sie in die Leere und ihre Stimme hallte von den Wänden der leeren Station wieder. „Zeig dein hässliches Gesicht.“ Warum machte sie diesen Scheiß eigentlich allein? Sie sah die Gleise, die auf beiden Seiten des Bahnsteigs verliefen, hinauf und hinab. Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder das Vieh hatte das Weite gesucht, um sicher zu sein, oder es wartete darauf, sie aus dem Hinterhalt angreifen zu können. Ein fernes Brummen ertönte aus seinem der Tunnel und kühle Luft wehte durch die Station, brachte jeden unverkennbaren Geruch von „U-Bahn“ mit sich. Irgendwo fuhr offenbar eine der Bahnen durch einen verbundenen Tunnel. Sie zögerte. Man hatte ihr garantiert, dass auch diese Gleise gesperrt sein würden, während sie hier „arbeitete„. Zugegebener Maßen war sie nicht heiß darauf, es zu testen. Ach, verdammt. Das Vieh konnte doch überall sein: Es konnte auch die Treppe auf der anderen Seite des Bahnsteigs hinaufgeflohen sein oder in einen von praktisch gesehen vier Tunneln, da immerhin jede Seite der beiden Gleise in einem solchen endete. Sie zog ihre Taschenlampe aus einer Tasche an ihrem Gürtel und legte sie in ihre falsche, linke Hand, ehe sie vorsichtig auf das Gleis zu ihrer linken sprang, vorsichtig darauf achtend, an kein metallenes Teil zu kommen. Ihre Schuhe sollten sie isolieren, doch sie wollte besser kein Risiko eingehen. „Letzte Chance, Mr. Ugly“, rief sie in die Dunkelheit des Tunnels hinaus. „Komm raus oder ich hol dich!“ Natürlich rührte sich nichts. Sie seufzte und ging in die Dunkelheit hinein, wobei sie sich mit der Taschenlampe den Weg leuchtete. Das war eine verdammt miese Idee … Sie ging weiter voran, angespannt auf jedes einzelne Geräusch achtend. Irgendwo im Dunkeln tropfte etwas. Leise Geräusche, die wahrscheinlich von Mäusen und Ratten kamen, waren zu hören. Und immer einmal wieder erklang das Rauschen eines entfernten Zuges. Ein Schritt. Noch einen Schritt. Verdammt, sie würde Michael dafür in den Hintern treten! Sollte er doch selber gehen. Wahrscheinlich war das dämliche Vieh schon länger über alle Berge. Oder auch nicht. Es war mehr ihre Intuition, die sie dazu brachte, sich umzudrehen und so gerade noch den beiden Händen, die nur grob an die eines Menschen erinnerte, zu umgehen, die dort aufeinander trafen, wo einen Moment vorher noch ihr Oberkörper gewesen war. Zumindest bekam sie so ihren ersten Blick auf das Ungeheuer: Seine Haut war gräulich und wirkte beinahe steinern, während er ein einziges gelbes Auge hatte, dass sie mit einem seltsam leeren Ausdruck ansah. Es erinnerte sie an einen Golem, doch war sie sich relativ sicher, dass es etwas andere war. Sie sprang nach hinten und schoss auf das Ding. Vorher hatte sie zumindest einen Treffer gelandet, der das Ding zur Flucht gebracht hatte. Doch wahrscheinlich war es mehr der Schreck gewesen, schloss sie nun, als das Ding einen seiner massiven, unförmigen Arme hob und ihre Kugeln einfach darin stecken blieben. Großartig! Das Monster stürmte auf sie zu, wobei es den Mund zu einem rollendem Schrei geöffnet hatte und dabei seine ungleichmäßigen gelben Zähne zeigte. Pakhet ließ ihre Taschenlampe fallen – sie hatte jetzt andere Prioritäten. Stattdessen wechselte sie, während sie einen Haken schlug, um zur Station zurück zu kommen, ihre Pistole in die linke Hand und zog ihr langes Kampfmesser, das an einer Tasche ihres Waffengurtes hing. Ungestüm krachte das Vieh in die nächste Wand, da es nicht so leicht navigieren konnte. Es schüttelte den Kopf und wandte sich dann ihr zu. Okay. Ein Versuch. Einen einzelnen Versuch. Aber die Größe des Monsters wäre ihm ein Nachteil. Also wartete sie, dass das Vieh, das nicht unbedingt intelligent zu sein schien, auf sie zukam und ließ sich dann in bester Manier eines Actionhelden auf den Boden fallen, wo sie sich gehockt unter dem Vieh hinwegduckte und den richtigen Moment abwartete. Dann versenkte sie das Messer im Knie des Wesens, nur um es wieder herauszuziehen, zwei weitere Schnitte in das Bein des Wesens zu setzen und dann abzuwarten. Es heulte auf und hob, beinahe wie ein Kind, das Bein an, während sein ekelig riechendes schwarzes Blut aus diesem hervorströmte. Es wollte sie packen, doch sie schnellte nach vorne und war sie hinter ihm. Es war mit seinem eingeschränkten Bein nicht schnell genug, so dass sie weitere Stiche in seinen Oberkörper setzen konnte. Das Vieh wandte sich auf wackeligen Beinen zu ihr herum und versuchte nach ihr zu schlagen. Doch sie war ihm einen Schritt voraus und sprang auf den Bahnsteig, so dass sie etwa auf Augenhöhe mit ihm war. Sie stach das Messer in seinen Hals und ließ es stecken, während das Monster einen gurgelnden Laut von sich gab. Derweil nutzte sie ihre freie Hand, um eine der kleine Granaten aus ihrem Waffengurt zu ziehen. Sie ließ sie auf das Gleis fallen und sprintete dann in Richtung der Treppe. Kaum dass sie halb die Treppe hoch war, erklang das laute Knallen der Explosion. Sie atmete auf und lauschte. Kein Geräusch mehr. Gut. Vorsichtig ging sie zum Bahnsteig zurück, wo die Granate einen Teil der Bodenfliesen in der Nähe des Gleises rausgerissen hatten. Doch von dem Monster waren nur noch schwarze Flecken übrig, die sich hier nun langsam in Ectoplasma auflösten. Nun, es sah ganz danach aus, als würde der Bahnsteig tatsächlich renoviert werden. Geisterliebe ------------ „Jules!“, rief die vertraute Stimme des jungen Mannes. „Jules!“ Jules beobachtete ihn, beobachtete Léo, wie er das alte, halb überwachsene Bahngleis hinabwanderte und sich umsah. Er beobachtete ihn, beneidete ihn, bewunderte ihn. In den letzten fünf Jahren war Léo wirklich ein Mann geworden. Er hatte jetzt einen richtigen Bart, selbst wenn dieser zurecht gestutzt war, und nicht mehr den leichten Flaum, auf den er mit 16 noch so stolz gewesen war. Er war kräftiger, wenngleich er nicht bestens in Form war. Dennoch sah er gut aus, erstaunlich gut, wenn Jules an den Jungen vor fünf Jahren dachte. „Komm schon, man!“, rief Léo in die nebelige Nacht hinein. „Ich weiß, dass du da bist!“ Ja, natürlich war er da. Und doch war er es nicht. Manchmal dachte Jules darüber nach, wie er überhaupt denken konnte. Immerhin gab es kein Gehirn mehr, dass diese Aufgabe für ihn übernahm. Auch dachte er darüber nach, warum er überhaupt noch hier war und warum er sich nicht zu weit von dem mittlerweile stillgelegten Bahnhof entfernen konnte. Vielleicht war es eine Strafe für etwas, das er getan hatte, als er noch lebte. Vielleicht war der alte Bahnhof auch nur verflucht. „Jules!“ Langsam wurde Léos Stimme panisch. Vielleicht glaubte er, dass er nicht mehr da war. Immerhin verstanden sie beide nicht, wie das alles hier funktionierte und technisch gesehen könnte er tatsächlich einfach verschwunden, ins Nachleben weitergewandert sein. Doch natürlich war er es nicht. Er wusste, dass es besser war, sich nicht zu zeigen, Léo zu erlauben mit seinem Leben fortzufahren und mit ihm und dieser ganzen Sachen abzuschließen. Er musste nur hier bleiben, konnte sogar bei ihm bleiben, doch unsichtbar für das menschliche Auge. Immerhin war es schon schlimm genug, dass er mit diesem Darsein gestraft war. Warum sollte er seinen besten Freund, denjenigen, den er liebte, mit hineinziehen? Er stand direkt hinter Léo. Doch er konnte es einfach nicht. Vielleicht war er egoistisch. Ja, er war ziemlich sicher egoistisch. Und vielleicht durfte er daher nicht ins Nachleben weiterziehen. Dennoch konnte er nicht anders. Er sammelte seine Energie, um sich soweit zu materialisieren, wie es ihm möglich war, ehe er sich vorbeugte und Léo in den Nacken küsste. „Ich bin hier“, flüsterte er und merkte, wie Léo erleichtert aufatmete. Er drehte sich zu ihm herum und nahm seine Hand, auch wenn er sie nicht wirklich halten konnte. „Ich hatte schon Angst“, flüsterte er und lächelte ihn an. „Tu mir das nicht noch mal an, ja?“ Jules lächelte traurig. „Ist es nicht das, was Geister tun sollen? Leuten Angst einjagen?“ Léo zuckte mit den Schultern. „Was weiß ich.“ Er lachte leise. „Ich kenne keinen anderen Geist.“ Tier. Lieb? ----------- Ein Rascheln im Unterholz, dann kam ein rotes Eichhörnchen zum Vorschein, dass mit schnüffelnder Nase sich für einen Moment umsah. Niedlich, dachte sich Martin und kramte in seiner Tasche, darauf hoffend, dass er es nicht verscheuchen würde. Immerhin konnten Eichhörnchen unglaublich scheu sein. Er fand, was er suchte: Eine einzelne Haselnuss, noch in der Schale. Dankbarer Weise hatte er eine dabei. Vorsichtig hockte er sich hin, während das Eichhörnchen ihn neugierig beobachtete. „Willst du eine Nuss?“, flüsterte Martin und ließ die Nuss rollen. Das Eichhörnchen schaute und hob seine Vorderlippe. Dann sprach es: „Fick dich!“ Und dann sprang es davon. Die Verhandlung --------------- Die Dohle, die auf dem anderen Stuhl saß, begann ihr Gefieder zu putzen. Mit aufgestellten Brustgefieder begann sie mit dem Schnabel ihre Flügel und die Daunen darunter zu säubern. „Murphy!“, schallte es über den Platz. Auch Murphy stellte sein Gefieder auf. Er war eine normale Dohle, erinnerte er sich. Einfach eine ganz normale Dohle. Hier gab es nichts zu gehen. Also krächzte er ein bisschen und beobachtete den bulligen jungen Mann, der sich nun wutschnaubend umsah. Der gute alte Mr. Crash nahm das alles viel zu ernst. Immerhin war es nur ein kleiner Scherz gewesen. Kein Grund sich gleich so aufzuregen. Die Haare des Manns, der die anderen Menschen oftmals einen ganzen Kopf überragte, waren extrem kurz. Das T-Shirt, dass er trug, war fast zum zerreißen gespannt. Er war auffällig und er war – zumindest ein bisschen – ein lokaler Star. Na, wie hatte er denn gedacht, dass dieser Auftritt enden würde? „Murphy!“, brüllte er noch einmal, als die ersten Leute auf ihn zukamen. Mit einer Mischung aus Unsicherheit und jener Begeisterung, die Menschen gegenüber „Stars“ entwickelten, kamen sie auf ihn zu. Stellten Fragen. Hielten ihm Sachen entgegen. Alles, während Max, der große Mann mit dem Künstlernamen Crash, sich verzweifelt umsah, um ihn zu entdecken. Ganz unwillkürlich hatte Murphy sein ganzes Gefieder aufgeplustert und die Beine ein wenig zusammengeklappt. Doch ein Flattern ließ ihn zusammenzucken: Die andere Dohle war einfach fortgeflogen. „Hey, lass mich nicht allein!“, krächzte er in der Sprache der Vögel. Immerhin wirkte es doch viel unauffälliger, wenn man in einer Dohlengruppe saß. Doch wie auch immer. Auch er konnte Fliegen. Immerhin hatte er diese Flügel nicht zur reinen Zierde. Schon machte er sich bereit loszufliegen, als jemand den Stuhl neben jenen, auf dessen Lehne er hockte, loszog. Die eine Sache, in der er schlecht war: So schnell panisch wegzufliegen, wie es richtige Vögel taten. „Na, Murph“, meinte die kleine, sehr zierliche Frau, die sich nun neben ihn gesetzt hatte, und lächelte süffisant. Sie wäre ohne Probleme für 14 oder 15 durchgegangen, auch wenn Murphy wusste, dass sie älter war. Ihr Haar war bunt, nicht zuletzt, da sie sich immer, wenn ihr gerade danach war, einzelne Strähnen neu einfärbte und so schimmerten ihre Haare in der teilweise verblassten Haarpracht eines sehr chaotischen Regenbogens. Sie sah zu dem Schild des Cafés. „Eiscafé. Ich hätte es wissen müssen.“ Murphy sah seine Freundin und Max' kleine Schwester, Alice, an. „Verrat mich nicht“, krächzte er dann leise in einer Menschenstimme, was Alice nur ein Grinsen entlockte. „Nun, mein Lieber, was bekomme ich dafür?“ Loki-esque ---------- Gott, man musste Menschen lieben. Sie waren einfach so großartig. Nun, fand Loki zumindest und wusste, dass die meisten Asen seine Meinung nicht teilten. Doch hatte er je nach ihrer Meinung gefragt, wenn es nicht darum ging, diese irgendwie zu verdrehen? Aber verdammt noch eins, er liebte die Menschen. Vor allen in den letzten Jahren. Eigentlich hatte er schon lange aufgegeben gehabt, als irgendsoein Typ die glorreiche, ja, wirklich glorreiche Idee bekam, ihn zu einem Hauptcharakter in einer Filmreihe zu machen. Franchise nannten das die Menschen. Gut, technisch gesehen war er nicht mal der Hauptcharakter, sondern der Bösewicht. Er kam nicht mal in jedem Film vor. Doch es war nicht so, als würde dies seine Anhänger stören, oder? Also störte es ihn auch nicht. Ach, er liebte seine Anhänger einfach. So konnte es gehen. Und der gute, alte Odin wurde fast von allen ignoriert. Das Leben als Gott war schon klasse. Zumindest wenn man verehrt wurde. Einmal war er auf eine dieser Versammlungen gegangen, die die Menschen jetzt neumodisch Conventions nannten, und sie waren ihm zu Füßen gelegen. Es war wundervoll gewesen. Natürlich hatte er sein Aussehen entsprechend angepasst. Jetzt aber lief er in seiner "normalen", was bedeutete seiner aktuell bevorzugten Gestalt durch die Stadt. Als eine großgewachsene Frau, mit langem schwarzen Haar und gut geformter Figur. Er lachte, wenn er die Blicke einiger Männer und auch so mancher Frau auf sich spürte, als er die Straßen von Seattle hinab schritt. Er trug nur ein knappes Kleid. Ein kleines Schwarzes, wie sie es nannten. Und hochhackige Schuhe. Die mochte es besonders. Und die Menschen gafften. Starrten ihm hinterher. Und Loki fragte sich, was sie sich dachten, wenn sie ihn in diesem Aufzug, durch die winterliche Nacht stolzieren sahen. Sie gafften. Alle gafften sie. Doch selbst die Betrunkenen, die aus ihren modernen Festhalten kamen, trauten sich nicht ihn anzusprechen. Natürlich nicht. Und doch bewunderten sie ihn, begehrten ihn und mehr brauchte er nicht. Weißer Tiger ------------ „Eigentlich gibt es keine weißen Tiger, weißt du?“ „Sicher. Ich habe doch welche gesehen.“ „Im Zoo?“ „Ja.“ „Das ist etwas anderes. Zoos züchten die weiß. Die Werben dann damit.“ „Ja, aber dann muss es doch welche in der freien Natur geben, oder?“ „Ne. Da können die meistens nicht überleben. Wie mit richtigen Albinos, weißt du?“ „Warum erzählst du mir das?“ „Nur ein Gedanke. Gut zu wissen, was manche Zoos so machen.“ „Ich habe da Horrorgeschichten gehört, von privaten Züchtern.“ „Ja, auch.“ „Interessierst du dich sehr für Tiger?“ „Das ist die Sache. Es gibt eine Art weißer Tiger: Tiger wie mich.“ Die kleine Meerjungfrau ----------------------- Lisa leckte sich in einer wohl aufreizend gemeinten Geste über die Unterlippe, während sie die Steinstatue betrachtete. „Sag mal, lauft ihr wirklich oben ohne rum. Also schwimmt ihr oben ohne rum, meine ich?“ Runa verdrehte die Augen und seufzte auf. Sie standen auf einem Steg am Rand der Susa, wo Lisa die Statue einer barbrüstigen Meerjungfrau gefunden hatte. Was mussten Menschen das Konzept auch immer so sehr sexualisieren? „Nein“, erwiderte sie daher und griff nach Lisas Arm. Die junge Frau, deren lockiges, blondes Haar ihren Kopf im Wind fast wie eine Krone umgab, zog einen Schmollmund. „Schade.“ „Ja, wirklich“, murmelte Runa zynisch. „Solltest du mittlerweile nicht wissen, dass wir eigentlich ganz normal sind?“ Immerhin waren sie zusammen zur Schule gegangen. Hätte es diesen Unfall nicht gegeben, hätte Lisa bis heute geglaubt, dass sie nur ein einfacher Mensch war. Lisa seufzte. „Aber normal ist langweilig.“ Wieder konnte Runa nicht anders, als ihre Augen zu verdrehen und stolzierte den Steg weiter hinunter. Bald schon folgte ihr Lisa mit schnellen Schritten und umarmte sie von hinten. „Sei nicht sauer. Ich mache doch nur Spaß.“ Runa seufzte. „Ich weiß.“ „Dann bist du nicht sauer?“ „Vielleicht.“ „Ich wollte dich doch nicht ärgern.“ Lisas Stimme klang ein wenig weinerlich, wie sie es meistens tat, wenn sie sie beschwichtigen wollte. Für einen Moment überlegte Runa. Nun, sie waren nicht zu weit vom nächsten Haus entfernt und es war Sommer, wenngleich dennoch nicht viel wärmer als zwanzig Grad. Ach, dass würde sie wohl aushalten Sie drehte sich zu ihrer Freundin um und küsste sie. „Du solltest wissen, dass man Nixen nicht ärgert“, flüsterte sie dann und schubste mit einem diebischen Grinsen ihre Freundin in den Fluss. Ein überraschtes Kreischen ertönte, dass dann vom Wasser erstickt wurde, ehe Lisa prustend wieder an die Oberfläche kam. „Womit habe ich das verdient?“, protestierte sie. Runa lächelte und sprang hinterher. Sie ließ es zu, dass ihr Amulett, dessen Zauber ihr Beine gab, deaktivierte, so dass ihre Flosse wieder wuchs. Sie tauchte um Lisa herum und umarmte sie dann ihrerseits von hinten. „Du könntest ja barbusige Meerjungfrau spielen“, flüsterte sie in ihr Ohr und biss hinein. Lisa kicherte. „Vielleicht. Aber nicht hier.“ Runa sah zum Steg am Rand des Flusses, der komplett verlassen war. „Feigling“, flüsterte sie dann, worauf Lisa sie herausfordend ansah. „Ist das eine Herausforderung?“ Unter Menschen -------------- Ein deutlicher Geruch nach Fett, Reis und anderen Speisen, aber auch nach Alkohol und Schweiß lag in der Luft. Die Menschen drängten sich an die Theke, hinter der ein paar Köche in Akkordarbeit werkten. Niemand schien sie zu beachten, auch wenn sie wohl der einzige Nicht-Asiat im ganzen Laden sein musste. Niemand beachtete sie, doch Elaine fühlte sich noch immer zu sehr den Blicken ausgesetzt. Ihr Begleiter, Samu, der dunkelhäutige Asiat, dessen Arme mit Tattoos übersät waren, rief dem Koch etwas auf Kantonesisch oder Mandarin zu und der Koch sah kurz auf und nickte dann. „Sei nicht so angespannt“, meinte Samu dann auf Englisch zu ihr, wobei sein Englisch denselben abgerundeten Dialekt hatte, den sie so oft bei den Asiaten gehört hatte. Elaine sah sich um. „Ich mag es nicht unter Menschen zu sein.“ Wobei es vielleicht eher so war, dass sie zu viel Zeit auf der Flucht verbracht hatte. Sie wusste gar nicht mehr, wie es war unter Menschen zu sein. Zu viel Zeit hatte sie einsam in Höhlen und Wäldern verbracht, weit, weit von anderen Menschen entfernt und nur begleitet von der Stimme in ihrem Kopf. Maor. Wir sollten hier weg. Ich weiß, dachte sie und sah zu Samu. Sie hatte ihn da draußen im Hingan getroffen. Er hatte ihr geholfen, doch noch immer war sie sich nicht sicher, was sie von ihm halten sollte. Vielleicht war er doch ein Scherge ihres Vaters. Doch er hatte sie mit hierher gebracht. In eine kleine Stadt an der chinesischen Küste, wo sich gefühlt die Hälfte aller Einwohner nun hier in die kleine Kneipe drängten. Nun aber reichte der Koch ihm eine Schüssel gefüllt mit Reis und Auflauf rüber, im Tausch gegen einzelne Münzen. „Wie lange ist es her, dass du nichts ordentliches mehr gegessen hast?“, fragte Samu. Elaine seufzte und schnüffelte an der Schüssel, ehe sie etwas von dem Fleisch aus der Soße herausnahm. „Eine Weile.“ Samu musterte sie und schüttelte den Kopf. „Was hast du da draußen gemacht?“ Trau ihm nicht. Elaine wich seinem Blick aus und sah stattdessen zum Wock des Kochs, der die Speisen darin mit nahezu übermenschlicher Geschwindigkeit anbriet. „Ich...“ Sie zögerte. „Man könnte sagen, ich fliehe vor jemanden.“ Samu lächelte. „Das trifft sich wunderbar. Ich auch.“ Traue ihm nicht! Elaine wich dem Blick des jungen Mannes aus und sah zum Menü, das auf der Rückwand in asiatischen Zeichen, die sie allesamt nicht lesen konnte, auf Holz geschrieben war. „Vor wem fliehst du?“ Sie konnte es nicht lesen und doch verstand sie es. Dank Maor. „Vor meiner Familie“, erwiderte Samu leichthin. „Und du?“ Überrascht sah Elaine zu ihm. Hatte Maor Recht? War es eine Falle? Doch wenn sie ehrlich war, tat es gut, wieder mit jemanden zu reden. Sie hatte schon beinahe vergessen wie es war. Und es tat gut, warmes Essen, das mehr war als eine aufgewärmte Konserve, in den Magen zu bekommen. „Meinem Vater“, antwortete sie dann. Der Versuch ----------- Auch wenn es nicht wie ein magisches Ritual aussah, so war es doch eins. Die Dämpfe des Zinn zogen durch das aufgewärmte, staubige Labor, während Joshua den kleinen Stein auf der Platinenstelle befestigte. Es brauchte viel Fingerspitzengefühl, denn immerhin war das kleine Artefakt empfindlich. Es durfte nicht zu heiß werden oder der Zauber würde brechen. Dann endlich fiel der grünlich leuchtende Stein an die richtige Stelle und blieb sitzen, während der Zinn abkühlte. Joshua erlaubte sich einen Blick auf die Uhr. Es war schon nach sieben. Doch wenn es funktionierte, war es die ganze Arbeit wert. Er ging sich die Hände waschen und trocknen, stellte den Lötkolben aus und wartete dann, dass die Platine abgekühlt und der Zinn ausgehärtet war. Dann kramte er einen Durchgangsprüfer aus seiner zugegebener Maßen nicht besonders geordneten Schreibtischschublade hervor. Er prüfte die Verbindungen, prüfte die Durchlässigkeit und soweit schien alles in Ordnung. Seine Kollegen hielten ihn für Verrückt, wenn er von Magie redete. Die meisten Magier wollten nichts mit ihm zu tun haben, wenn er von Technik schwärmte. Doch er wusste es besser. Zusammen mit ein paar Magiern, die seine Interessen teilten, hatte er etwas potentiell großartiges erschaffen. Er nahm die Platine, nahm ein altes GPS-Gerät und setzte sie wieder rein, ehe er das ganze an seinen Rechner anschloss und neu bespielte. Er konnte kaum erwarten, es zu testen. Etwas ungeduldig wartete er, dass die Fortschrittsanzeige auf seinem Rechner hundert Prozent erreichte und checkte derweil seine Emails - wenig neues, außer Einladungen zu irgendwelchen Konferenzen und zwei Studenten, die nach dem Fortschritt der Klausurenkontrolle fragten. Doch Klausuren konnten warten. Das hier, das war wirklich wichtig. Und so nahm er schloss er das alte Gerät ab, steckte es ein, und lief in den hinteren Teil des Labors, wo zwischen zwei Lagerregalen ein großer, abgedeckter Spiegel stand. Aufgeregt riss der alte Professor die Abdeckung herunter und bereitete sich darauf vor in den Astralraum zu wechseln. Auch im Astralraum sah die Universität nicht viel anders aus, als in der Realität. Die Wände wirkten surrealer, weniger fest, und diverse Dinge leuchteten im Schein ihrer eigenen Aura, doch es war noch immer dasselbe Gebäude. Einzig die Geister, die hier herumschwebten, waren teilweise verstörend, doch nichts, woran er sich noch störte. Sie griffen meistens nicht an, waren nur von der Energie der Emotionen der vielen jungen Leute hier angezogen worden. Und so lief Joshua nach draußen - auch wenn es hieß durch einige geschlossene Türen laufen zu müssen. Dann holte er das Gerät aus seinem Laborkittel hervor, dank dem er es überhaupt hatte mit hinübernehmen können, und schaltete es an. Es brauchte einen Moment, doch begannen die Zahlen sich zu verändern: 55.9417628996 -3.1856492574 Es hatte funktioniert. Für einen Moment erlaubte er sich einen Freudenschrei. Es war ja ohnehin nicht so, als würde irgendjemand ihn hier hören. Gesunde Ernährung ----------------- Joachim beobachtete mit einer leicht verzogenen Miene, wie der grell orangene Saft aus der Saftpresse in ein Glas lief. „Wie kannst du das nur trinken?“, seufzte er verständnislos. Mit einem etwas süffisanten Lächeln wartete Joanne, dass auch der letzte Saft aus der Maschine gelaufen war und wandte sich ihm dann zu. „Was?“, fragte sie herausfordernd und trank einen Schluck des Karottensafts. „Ich meine, es gäbe so viele Dinge, die du stattdessen trinken könntest“, erwiderte er. „Aber weniger gesund.“ Sie schenkte ihm ein neckendes Lächeln und lehnte sich gegen die Arbeitsfläche der relativ kleinen Küche. „Herr Doktor.“ Joachim verdrehte die Augen. „Ich bin Arzt und ich übertreibe es nicht.“ „Sicher.“ Sie grinste und schüttelte den Kopf, trank dann aber weiter. Anders als der Rest ihrer Familie war sie an das „gesunde Zeug“, wie sie es nannten, zu sehr gewohnt, als dass sie irgendeine Art Ekel davor verspüren würde. Joachim seufzte. „Manchmal frage ich mich, ob du das nur machst, um mich zu ärgern.“ Er stand auf und kam zu ihr hinüber. Sie zuckte mit den Schultern. „Vielleicht mache ich das auch nur, um dich davon zu überzeugen, es auch einmal zu probieren.“ Sie lächelte wieder. „Herr Doktor.“ Er schüttelte in übertriebener Fassungslosigkeit den Kopf und küsste sie dann. „Wie kannst du nur?“ Für einen Moment gab sie sich dem Kuss hin, lächelte ihn dann herausfordernd an, während sie über seine Wange strich. Sie mochte ihr neues „Normal„. Nun, es war normaler, als was sie in den letzten Jahren erlebt hatte. „Wenn ich dich schon nicht davon abhalten kann, dein Leben so zu riskieren, kann ich zumindest dafür Sorgen, dass du nicht an Vitaminmangel stirbst.“ „So schnell passiert das nicht“, flüsterte er und lehnte sich zu ihr hinüber. „Glaub mir. Ich bin Arzt.“ Mit einem Seufzen stellte sie das Glas zur Seite und ließ es zu, dass er sie umarmte. Sie mochte es, so mit ihm zu sein. Mochte seine Berührungen und vielleicht... Der Gedanke wurde jäh unterbrochen, als ein Bellen draußen auf dem Flur erklang und im nächsten Moment die schwere Tür zu ihrem obligatorischen Wohnzimmer von einem großen, ja, nahezu gigantischen Hund aufgeschoben wurde. Ein gigantischer Schäferhund, um genau zu sein, auf dessen Kopf eine Dohle saß. Der Hund sah sie und trottete zur Küche hinüber, die er beinahe allein ausfüllen konnte. Er drückte den Kopf zwischen sie beide und begann zu hecheln, als Joachim mit einem Seufzen den Hundekopf zu streicheln begann. „Stören wir?“, krähte die Dohle, während Joanne die Augen verdrehte. „Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt...“, begann sie, als die Dohle auf den Küchenstuhl hopste und dort die Gestalt eines nackten Teenagers annahm. „Ja, ja, kein Reiten“, meinte er genervt. „Aber ich kann dir garantieren, Mum. Es war ein absoluter Notfall! Weißt du, Iggy und ich...“ Und so fing er an zu erzählen, während Joanne Joachim nur einen Seitenblick zuwarf und lächelte. Murphy hatte eine gut Erklärung. Murphy hatte immer für alles eine gute Erklärung. Selbst wenn er nackt in der Küche saß und sie bei etwas unterbrochen hatte. Das Portal ---------- Ein seltsamer Wind wehte durch die Waldschneise, die vor langer Zeit einmal durch die Bahngleise geschlagen worden war, die nun von Gräsern überwuchert waren. Ein Wind der trotz des Herbstes einen Hauch des Geruchs von Blumen mit sich trug und Stimmen, Gesang. Zumindest glaubte Paora dies so zu hören. Er saß an den Gleisen, die ein Stück später gänzlich in den Wald führten. Es sah beinahe aus als würden sie dort in einen grünen Tunnel hineinführen, doch Paora wusste, was es war. Nun, er glaubte es zumindest zu wissen. So lange schon hatte er danach gesucht. Nach einem Portal in die Anderswelt und nun hatte er es – wahrscheinlich – gefunden. Also wartete er, wartete, dass das Portal sich öffnete. Minuten vergingen, eine Viertelstunde, eine halbe Stunde. Doch Paora war geduldig, er hatte schon den gesamten Nachmittag gewartet und das war es wert, wenn er so wirklich die Welt der Feen besuchen konnte. Man hatte ihm gesagt, auf Aotearoa gäbe es keine Durchgänge zur Anderswelt. Man hatte ihm gesagt, es sei hier anders. Immerhin waren die Feen doch etwas, das den nördlichen Regionen der Welt sehr eigen war. Doch Paora hatte es nicht geglaubt, er hatte weiter gefragt und Dokumente aus der Bibliothek geholt. Und nun war er hier – es musste einfach richtig sein. Warum gab es hier überhaupt Gleise? Er sah zum Himmel über den Blättern hinauf, der sich langsam ins rötliche verfärbte. Eine angenehme Atmosphäre herrschte hier. Selbst ohne Portal konnte er vielleicht einmal wieder herkommen. Es war gemütlich – jedenfalls wenn man an den Wald gewöhnt waren. Und dann hörte er etwas. Er schreckte auf. Was war das? Ein Rauschen, das definitiv nicht das Rauschen des Windes war. Ein Pfeifen. Wieder Rauschen. Es klang beinahe, wie eine Dampflock. Er spähte die Gleise rauf und runter und dachte für einen Moment nichts zu sehen, doch dann war da ein Licht. Ein Licht in der Ferne. Etwas kam auf ihn und das Portal zu. „Was...“, murmelte er fasziniert, auch wenn er wusste, dass es niemanden gab, der es ihm würde beantworten können. Doch da war eine Dampflock. Eine Dampflockomotive, die tatsächlich Dampf ausspieh und ab und an ein Pfeifen von sich gab. Doch sie war gleichzeitig auch irgendwie nicht da. Denn er konnte durch sie hindurch sehen. Er konnte durch die Lock und die Wagons, die sich hinter ihr aufreihten, sehen. Das war ja schon beinahe japanisch weird. Dann sah er den Zugführer, der ein kleiner, ein sehr kleiner Mann mit grünlicher Haut zu sein schien. Und dann wurde ihm klar, dass dieser Zug in die Anderswelt fahren musste. Wohin auch sonst? Mit offenem Mund stand er da, während die Wagons an ihm vorbei fuhren und dann, gerade als der letzte vor ihm war, sprang er auf und wurde – zu seiner Erleichterung – von dem Zug getragen, der nur halb in dieser Welt zu existieren schien. Sie fuhren auf das Portal zu. Sie fuhren hindurch. Und dann auf einmal veränderte sich alles. Pilzsammler ----------- Deòiridh war ein einfacher Goblin mit einfachen Ansprüchen. Er bevorzugte die Welt der Menschen, wo für den einfachen Goblin doch alles viel unkomplizierter war. Die Menschen beachteten ihn nicht und er mied sie. Deòiridh war ein einfacher Goblin, der einfache Pilze mochte. Pilze, die an schattigen Orten wuchsen. Deòiridh war ein einfacher Goblin, der diese Orte kannte. An diesem Abend wartete dort ein alter Mann, dessen bläulich schimmernde Mütze selbst an einen Pilz erinnerte. Er ließ seine Pfeife sinken. „Diese Pilze sind Teil von mir.“ Seine Stimme war warnend. Deòiridh war ein einfacher Goblin, der sich mit Geistern nicht anlegte. Aiofe ----- Tropfen über Tropfen hingen an dem Netz. Tropfen über Tropfen die im Zwielicht schimmerten. Es sah beinahe schon verzaubert aus, dachte sich Felix und schluckte doch im selben Moment, als er an dem Netz vorbei ging. Tropfen hingen auch an den Blättern der Bäume, die den Weg hin zur kleinen Felsspalte umzäunten. Und wer die Zeichen nicht las, würde in die Falle laufen. Der Regen hatte schon lange gestoppt und hatte doch seine Spuren hinterlassen. Seine Tropfen hingen auch an der Glocke neben der Spalte, die nun erklang. „Aiofe!“, rief er und da kam sie in ihrer achtbeinigen, riesigen Schönheit. Ewigkeit -------- Das Einkaufszentrum lag größtenteils verlassen da, als Riley den Außenhof betrat. Da war das große Riesenrad, dass natürlich nur am Tag fuhr, sowie die Buden, die es das ganze Jahr umstellten. Eigentlich wäre auch sie gern einmal wieder mit so etwas gefahren, selbst wenn sie, auch als sie gestorben war, bereits 28 gewesen war. Jetzt aber schlug ihr Herz nicht mehr. Ihre Haut war kalt. Und ihre innere Stimme, die all das feststellte, war definitiv eine Spur zu melodramatisch. Immerhin war ihr Unleben, wenn man die Umstände betrachtete, durchaus von vertretbarer Natur. Vampire waren auch nur Menschen, wie ihr Meister immer zu sagen pflegte. Was er wohl tat? Nun, wahrscheinlich etwas sehr altertümlich Europäisches, beschloss sie und sah sich um. Da sah sie die Gestalt, auf die sie bereits die ganze Zeit wartete. Sie trug einen weißen Pulli, einen kurzen Rock und darunter eine schwarze Strumpfhose. Sie sah – Rileys Geist erlaubte sich diesen Witz – einfach zum Anbeißen aus. So leise, wie es nur ein Vampir und wahrscheinlich noch zehntausend andere magische Spezies konnten, schlich sie sich an das Mädchen, nun, die junge Frau an und hielt ihr die Augen zu. „Rate wer.“ „Es gibt nur eine Person mit so kalten Händen“, konterte Lu. „Ach man.“ Riley schmollte, beugte sich vor und küsste sie, ehe sie den amüsierten Blick ihrer Geliebten über sich ergehen lassen musste. „Und dein Plan für heute?“, fragte Lu. „Nun, es gibt da Dinge...“, erwiderte Riley und sah zu dem verlassenen Riesenrad, dessen Verstrebungen von Lampen grün angestrahlt wurden. Sie lächelte. „Hast du eigentlich Höhenangst?“ „Wie?“ Leise lachte Riley, als sie ihre Arme um die zierliche Frau legte und sich ein letztes Mal umsah. Es gab niemand, der sie bemerken würde. Zumindest hoffte sie das. Doch Menschen waren Menschen und trauten, selbst wenn sie etwas sahen, ihren Augen meist nicht. „Das ist Wahnsinn“, flüsterte Lu, als sie in der obersten Gondel des Riesenrads saßen. Sie lachte, warf Riley dann aber auch einen vorwurfsvollen Blick zu. „Und verdammt noch mal angsteinflößend.“ „Man gewöhnt sich dran“, lachte Riley und küsste sie, ließ dann aber ihre Lippen zu Lus Hals weiterwandern. „Und hier oben haben wir etwas Zeit für uns.“ Sie küsste sie, wohl wissend, dass sie Lu mit nur einem Biss für immer zu der ihren machen konnte. Doch es hatte Zeit, sagte sie sich. Es hatte Zeit. Sie hatte Zeit. Die Lichter der Stadt --------------------- Bunt glitzerten die Lichter der Stadt durch das beschlagene Fenster des Busses, reflektierte sich hundertfach an den Regentropfen, die das Fenster von außen benässten. Sie waren da, merkte Shou und sah aus dem Fenster. Sie waren da. Kyoto. Er schüttelte seine Schwester, die mit dem Kopf auf seiner Schulter eingeschlafen war und nun langsam erwachte. Sie blinzelte, ehe ihre eisblauen Augen ebenfalls auf das Fenster fielen und sie sich langsam aufrichtete. Ihr blasses Gesicht zeigte kaum eine Emotion, doch vielleicht war das nach den letzten Tagen auch nicht anders zu erwarten. Sie mussten keine Worte wechseln. Sie wussten, weshalb sie hier waren und was ihre Aufgabe war. Was sie versuchen würden. Von allem, was er wusste, hatten die Vampire es hierher gebracht. Das Artefakt, das einmal den Magiern gehört hatte und in den letzten zehn Jahren allein schon häufiger die Hände gewechselt hatte, als so manch ein Geldschein. Jetzt war die Frage nur, wo sie es finden würden. Doch das war eine Frage für den nächsten Tag, beschloss er, als der Bus ihre Station am Rand der alten Stadt erreichte. Für heute brauchten sie nur eine Unterkunft. Aber es war spät und irgendwo würde sich schon ein Internet Café finden lassen. Irgendetwas. Die schwüle Juliluft schlug ihnen entgegen, als sie aus dem Bus stiegen. Zumindest würde sie in der Nacht niemand beachten. Es war zu spät. Irgendwo in der Stadt, dachte Shou und sah sich um, ehe er seiner Schwester ihre Sporttasche abnahm. Irgendwo in der Stadt war die rote Perle, doch er hatte noch immer keine Ahnung, wie er sie finden sollte. „Komm“, meinte er und legte einen Arm um seine Schwester, die schon wieder halb eingeschlafen schien. Sie war noch jung. Sie war jung und hatte den Landsitz ihres Vaters bisher nie verlassen. Was sollten sie nur tun? Denn wenn sie nicht bald die Perle, die angeblich einst ein Phönix geweint hatte, fanden, würde der Akaoni, den es eben nicht nur in Märchen gab, kommen und sie holen. Würde Yuki holen, die sich doch nicht verteidigen konnte. Seine kleine Schwester, die bisher ohnehin kein gutes Leben gehabt hatte. Seine kleine Schwester, deren weißes Haar im Licht der Laternen zu schimmern schien. Küstenwind ---------- Lara wusste, dass das Meer rauschte. Sie wusste, dass der Wind wehte. Sie wusste, das Gischt salzig in der Luft lag Doch sie hörte das Meer nicht, spürte den Wind nicht und konnte auch nicht die Gischt spüren. Sie stand auf den Klippen irgendwo an der Küste von Schottland und sah in die Tiefe, wo das Meer nur schwammig erkennbar, da die Astralebene nur ein verzerrtes Abbild der realen Welt war, gegen die Felsen wütete. Es war ein stürmischer Tag. Vom Zustand der Welt, den schwächer werdenden Auren der Pflanzen zu urteilen, war es Herbst. Doch eigentlich war es auch egal, welche Jahreszeit es war, denn die Tage flossen langsam ineinander über. Sie verbrachte zu viel Zeit im Astralraum, fühlte sich manchmal schon selbst fast wie ein Geist. Doch was sollte sie auch sonst tun? Sie hatte keinen Platz in der realen Welt, wo all die Leute, die sie einst gekannt hatte, schon lang gestorben waren. Sie konnte ihr Schicksal nicht teilen. Nicht ohne weiteres. Und wenn sie nun in die reale Welt hinübertreten und sich in die Tiefe stürzen würde, konnte es nichts ändern. Sie war durch den Schwur an ihre Göttin gebunden. Doch das, woran sie einst geglaubt hatte, schien schon lang verschwunden und so konnte sie nur verharren und hoffen, dass es sich irgendwann ändern würde. Was gab es auch schon in der realen Welt? Die Menschen änderten sich nicht. Sie würden ihr auch jetzt nicht trauen. Und das Rauschen des Meeres, das Gefühl des Windes und der Geruch der Gischt waren auch noch so wie vor siebzig Jahren. Vergessen werden ---------------- Estsanatlehi betrachtete die Uhr in ihrer Hand. Eine altmodische Taschenuhr, deren Zahnräder man sehen konnte, wenn man eine Scheibe am Rücken des kleinen Geräts löste. Ein junger Mann, der sie nicht für das erkannt hatte, was sie war, hatte sie ihr einst geschenkt. Einer jener weißhäutigen Leute aus dem Osten, beziehungsweise einer ihrer Nachfahren, nachdem sie sich hier schon lange nieder gelassen hatten. Sie konnte nicht einmal sagen, warum sie sie behalten hatte. Doch sie fand sie faszinierend. Einer Technik der Menschen, um Zeit zu messen – und sich ihr komplett zu unterwerfen. Sie wusste, dass es lange Zeit nicht so gewesen war, doch nun? Nun nahmen die Menschen Zeit oftmals sehr genau. Sie hatten sie eingeteilt. Nicht nur in Tage oder Tageszeiten, sondern in Stunden, Minuten, Sekunden. Mit welchem Zweck? Doch vielleicht hatte eine solche Einteilung Sinn für sterbliche Menschen, deren Leben sich nicht erneuern konnte. Und so ließ sie die Uhr wieder in ihre Gewänder gleiten und sah auf das Tal vor ihr hinab, in dem ein Teil ihres Volkes nun schon seit Jahren lebte, oftmals besucht von jenen hellhäutigen Östlingen. Die Sonne stand noch hoch am Himmel. Auch ihr blieb noch Zeit, bis sie zu ihrem Haus zurückkehren musste. Eine Bewegung zu ihrer linken ließ sie zusammenschrecken. Etwas raschelte im Gebüsch des kleinen Hains, der das Tal auf der östlichen Seite begrenzte. „Es kommt nie etwas gutes aus dem Osten“, sagte ihr Volk und vielleicht hatten sie recht. Eine große Wildkatze schlich aus dem Gebüsch hervor. Der Körper des Tieres war sehnig und muskulös. Sein Fell schwarz wie die Nacht. Nun setzte es sich neben sie und sah ebenfalls auf das Tal hinab. Es bemühte sich nicht einmal darum, den Eindruck einer normalen Katze zu erwecken. Sie kannte dieses Tier, das ihr ebenso bereits einige Male in der Gestalt eines Mannes mit beinahe schwarzer Haut erschienen war. „Tezcatlipoca.“ „Estsanatlehi“, erwiderte die Katze, wobei sie ihren Mund nicht einmal zu bewegen schien. Sie starrte nur mit gelben Augen in das Tal. „Was kann ich für dich tun?“, fragte Estsanatlehi. Die Katze wandte ihren Kopf. „Du weißt, warum ich hier bin.“ Dies war einer der alten Götter. Alt, wenngleich nicht älter als sie, mächtig und doch schwach. „Du kennst meine Antwort bereits, Tezcatlipoca“, erwiderte sie in der alten Sprache seines Volkes. „Ich habe mein Volk. Es gibt für mich keinen Grund zu kämpfen.“ Wieder sah der Panther auf das Tal hinab. „Wie viele sind es noch?“ „Genug“, erwiderte Estsanatlehi. „Und sie vermehren sich.“ „Und dennoch verlierst du sie“, erwiderte Tezcatlipoca, der Gott von Tod und Verführung. „Du wirst sie verlieren.“ „Ich würde sie verlieren, wenn ich mich an eurem Krieg beteilige“, antwortete sie. Sie holte tief Luft und sah die Katze dann an. „Ich weiß genug über dich, Tezcatlipoca, über euch und euren Krieg. Ihr wollt meine Unterstützung nicht wegen mir oder meiner Weisheit, ihr wollt sie wegen meines Volkes. Doch ich sage euch nur wieder Nein.“ Sie wandte ihren Blick ab und wieder der Sonne zu. „Ich habe es dir wieder und wieder gesagt, Tezcatlipoca, dass ich meinem Volk treubleibe. Ich werde sie nicht in einem Krieg gegen den Wandel der Kultur selbst riskieren.“ „Aber du könntest unsterblich sein“, entgegnete der andere Gott mild. Natürlich verstand sie den Sinn seiner Worte, doch sie verstand auch den Preis. „Oder gänzlich sterben“, antwortete sie. „Und wenn Vergessen und Tod mein Lohn sind, so habe ich ihn doch selbst gewählt. Ich schütze mein Volk. Das ist meine Aufgabe. Es ist nicht die Aufgabe meines Volkes, mich zu schützen.“ Eine Mischung aus Knurren und Fauchen erklang aus der Kehle Tezcatlipocas. „Du wirst es dir anders überlegen, Estsanatlehi. Eines Tages. Und dann wird es vielleicht zu spät für dich sein.“ Damit stand die Katze auf und machte drei fließende Schritte in Richtung des Waldes, ehe sie noch einmal Estsanatlehi den Kopf zuwendete. „Ich werde wiederkehren, Estsanatlehi.“ „Ich weiß“, antwortete sie und sah zu, wie der Gott der Nacht mit dem Schatten der Bäume verschmolz. Dann sah sie wieder auf das Tal hinab, wohl wissend, dass er sehr wohl Recht haben könnte. Wohl wissend, dass der Tag kommen konnte, vielleicht sogar kommen würde, an dem sich ihr Volk neuen Göttern zuwandte. Tourismus --------- Touristen. Man konnte sie lieben. Man konnte sie hassen. Manchmal konnten sie nerven. „Ah, schaut mal. Da sind sie wieder“, meinte ein offenbar australischer Mann, während er in Begleitung von Frau und zwei Kindern, durch die alte Stadt strich, und vor einer Gruppe kleiner Statuen der San-Qing stehen blieb. Wukong horchte auf und beobachtete, wie die Familie ihre Aufmerksamkeit den Statuen zuwandte. Natürlich hatte er eine vollkommen menschliche Form angenommen – selbst wenn eine extra haarige Form. Wenn er in Affengestalt herumlief und die Leute anquatschte, würden Götter und selbst ein paar sterbliche ihm furchtbar auf den Geist gehen. „Das ist die himmlische Triaumpferie“, brabbelte das kleinere der beiden Kinder, ein kleines blondes Mädchen, als sie die Statuen sah. „Und der da in der Mitte ist der Jademann.“ Jademann, oh der hohe Herr Stock im Arsch würde es lieben. Nur mit einiger Mühe konnte Wukung sich ein Lachen verkneifen. „Das sind die drei Weisen aus der himmlischen Bürokratie“, erklärte die Mutter nun. „Und dass da ist der weise Jadekaiser.“ Weise?! Menschen hatten Vorstellungen! Wukong ging etwas näher an sie heran, als der Vater den etwas älteren Sohn, der gerade eins von diesen modernen Telefonen aus seiner Tasche hervorfischte, fragte: „Und, weißt du noch, wer die anderen waren, Luke?“ Der Sohn schenkte seinem Vater einen genervten Blick. „Der Mathetyp und der Zombietyp?“ Oh, Wukong mochte den Knirps! „Das ist erstaunlich nahe dran“, meinte er und trat – die Arme in die Seiten gestützt und seine Brust herausgedrückt – zu ihnen hinüber. „Der Typ in der Mitte ist einfach nur einer der größten Spielverderber im ganzen Universum, der hier“ – er zeigte auf das Abbild Ling-Bao-Tian-Song – „ist einfach nur ein verdammter Langweiler. Und der hier“ – damit zeigte er auf Lao Jun – „erkennt einen wahrhaft Unsterblichen nicht mal, wenn er ihm eine Ohrfeige gibt.“ Voller Verwirrung sahen die Eltern ihn an, wobei die Mutter offenbar gerade darüber nachzudenken schien, die Polizei oder zumindest die örtliche Security zu rufen. „Ähm, wer sind sie?“ „Ach, nur jemand, der die Typen hier persönlich kennen gelernt hat“, erwiderte er beiläufig. „Cool.“ Das kleine Mädchen sah ihn mit großen Augen an. Hach, Kinder waren so leicht zu beeindrucken. Die Eltern waren weniger begeistert. „Ähm“, meinte die Mutter vorsichtig, „wer genau sind sie?“ Wukong grinste sie an. „Nur jemand der Erfahrung mit Göttern hat.“ Ach, zu gern hätte er ihnen noch einen Streich gespielt, doch wusste er zu genau, dass man es ihm übel nehmen würde. „Alles was ich sage ist: Die drei sind echt langweilig.“ Schwerlich verkniff er sich ein Lachen. „Aber ich wollte nicht stören.“ Beide Eltern sahen ihn irritiert und misstrauisch an. Man, die taten ja so, als wolle er ihre Kinder entführen. Nun, was sollte man machen? Er wandte sich ab und ging seines Weges, ehe er sich noch einmal umsah. „Übrigens. Buddha ist ziemlich chill, so lang man nicht auf seine schlechte Seite kommt. Aber seien sie vorsichtig! Der Typ ist sneaky.“ Verdattertes Starren. Hach, Erwachsene verstanden einfach keinen Spaß. Er marschierte von dannen und verschwand in der Menge und war nicht überrascht, als er wenig später eine Stimme hörte: „Musste das wieder sein, Wukong?“ Er grinste. „Ach, erlaub' mir doch ein wenig Spaß.“ Damit ging er weiter, den Geist Dongfangs ignorierend. Falkenherz ---------- Das nasse Tal schimmerte in den unterschiedlichsten Grüntönen unter Falkenherz. Es war friedlich, aber auch verlassen. Selbst Tiere trauten sich nur noch selten hierher. Er war der Wächter des verlassenen Tals und dem Portal hinter dem Wasserfall, doch er machte sich nichts vor. Tal und Portal waren schon lange vergessen. Seit vielen Jahren war niemand mehr hierher gekommen. Einzig die Geister von Steinen, Moos und Bäumen leisteten ihm Gesellschaft. Er breitete seine Flügel aus, ein Auge auf den schimmernden Wasserfall gerichtet. Vielleicht war das Portal schon lange geschlossen. Er hatte es nie durchschritten. Wohin führte es? Er wusste es nicht. Taucherfreunde -------------- Flé liebte den Moment, in dem sie ins Wasser eintauchte. Es war, als würde sie eine andere Welt besuchen. Eine Welt, die sich anders anfühlte, anders aussah, anders klang, als die Welt an der Oberfläche. Zu sagen, es wäre still, war falsch. Es war nicht still, unter Wasser. Geräusche, die Meilen um Meilen entfernt entstanden waren, wurden hierher getragen: Das Surren entfernter Schiffe, das Rauschen von Wellen, die irgendwo gegen eine Küste schlugen, andere natürliche Geräusche und manchmal – wenn man Glück hatte – auch der pfeifende Gesang eines Wales. Flé hatte einmal gehört, dass die Wale früher tiefer gesungen hatten. Aber sie konnte dahingehend nur den Dokumentationen im Fernsehen vertrauen, da sie es selbst nicht anders kannte. Sie kannte nur diesen hohen, pfeifenden Gesang. Doch sie war nicht wegen der Wale hier. Sie war für einen Freund hergekommen – wie beinahe an jedem anderen Tag des letzten Monats. Sie war hergekommen, für das Geheimnis, das sie herausgefunden hatte. Und so tauchte sie weiter hinab, immer auf eine gleichmäßige Atmung bedacht, und schaltete die Lampe an ihrer Ausrüstung an, als sie gänzlich unter den Felsen verschwand. Denn ihr neuer Freund lebte hier, in den blauen Löchern, wie man sie an der Oberfläche nannte: Ein Höhlennetzwerk, das beinahe das ganze Meeresgebiet rund um Haiti untergrub. Es war gefährlich, hier zu tauchen. Das hatte man ihr eingebläut. Es war gefährlich, da die Strömungen in den Höhlen teilweise unberechenbar waren, man leicht die Orientierung verlieren konnte und zudem im Notfall nicht so leicht wieder an die Oberfläche kam. Doch Flé tauchte hier, da sie sich auf ihren Freund, der hier lebte, verließ. Er musste hier irgendwo sein. Sie sah sich um, da sie nicht rufen konnte, leuchtete mit ihrer Lampe in die Ecken des Tunnels, der sich hier mit einem anderen Tunnel traf. Und dann sah sie die Bewegung im Dunkeln. Einen riesigen Schatten, der beinahe die komplette Höhle ausfüllte, sich dabei jedoch mit unnatürlicher Eleganz bewegte. Das Wesen kam zu ihr geschwommen und streckte ihr vertrauensvoll den gigantischen, weichen Kopf entgegen, so dass sie ihn berühren konnte. Flé lächelte und tätschelte das Wesen. Als sie ein Kind gewesen war, hatte man ihr Gruselgeschichten von dem gigantischen Octopus, der angeblich unter der Insel lebte, erzählt. Doch gruselig war das Wesen nicht, das ihr nun vorsichtig einen Tentakel entgegen streckte. Von Füchsen und Instantramen ---------------------------- Shou hob den Teller von der Schüssel, um zu überprüfen, ob die Suppe bereits fertig war. Sie war und sie roch wundervoll. „Yuki,“ sagte er laut und sah zu seiner Schwester, die mit angezogenen Beinen vorm Fernseher saß und eins von ihren Videospielen spielte, die weißen Haare zu einem Zopf zurück gebunden. Nun sah sie auf. „Fertig?“ Er nickte und nahm eine der Schüsseln von der kleinen Küchenzeile, um sie Yuki zu bringen. „Moment,“ meinte sie und gab irgendetwas in den Controller ein, ehe sie diesen ablegte und die Schüssel entgegen nahm. „Danke.“ Shou lächelte sie an. „Kein Problem.“ Dann ging er zur Küchenzeile zurück, um seine eigene Schüssel zu holen, nur um einen irritierten, beinahe schon angewiderten Blick von ihrer Hausherrin zu ernten, die im Moment gleichzeitig auch ihr Gast war. Natürlich war Shou der jungen Frau, deren rötliches Haar recht unnatürlich wirkte, dankbar. Wäre sie nicht gewesen, hätten er und Yuki wohl keine Unterkunft in Kyoto gefunden – wären vielleicht auch durch die Hand der Magier gestorben. Dennoch vermochte er nicht zu sagen, wie er über sie denken sollte. Warum war sie überhaupt in dieser Wohnung? Sicher, die Wohnung war nur ein Zimmer, das zu einem der dem Schrein zugehörigen Gebäude gehörte, doch das erklärte nicht, warum sie hier war. War es wegen Yuki? Er schluckte, als sie sie weiter ansah. „Willst du vielleicht etwas?“, fragte er, obwohl ihr Blick deutlich sagte, dass sie das Essen eher anwiderte. Sie verzog den Mund. „Nein,“ erwiderte sie leise. „Okay.“ Er sah sie erneut an, ging dann aber zu dem schmalen Schreibtisch, an dem er gearbeitet hatte, zurück und stellte die Schüssel dort ab. Noch einmal sah er sich zu Tsuki um. „Ist etwas nicht in Ordnung?“ „Nein,“ antwortete sie. „Okay.“ Er wandte sich der Schüssel zu, nahm seine Stäbchen und begann zu essen – wollte das zumindest, doch der Blick der Kitsune lenkte ihn ab. „Was ist?“, fragte er. Sie räusperte sich. „Ich verstehe nur nicht, wie ihr das Zeug essen könnt.“ Das war eine Antwort, die er nicht erwartet hatte und auch nicht gänzlich verstand. „Wieso?“ „Das da“ – sie nahm die Verpackung von einer der Suppen von der Küchenzeile, um ihn die Zutatenliste auf der Rückseite zu zeigen – „ist doch beinahe alles Chemie! Das ist doch kein richtiger Ramen!“ Bei diesen Worten klang er empörter, als er es von der jungen, normal sehr beherrschten Frau bei einem solchen Thema erwartet hätte. Was sollte er darauf antworten? „Wieso kocht ihr nicht selbst?“, fuhr sie fort. „Zu viel Aufwand,“ nuschelte Yuki durch einen Mund voller Nudeln hervor. Normal hätte er sie dafür angeherrscht, doch jetzt sah er nur die Kitsune an. Die Wahrheit war komplexer, als Yuki es sagte. „Ich habe es nie gelernt,“ antwortete er wahrheitsgemäß, hatte er im Haus seines Vaters doch immer jemanden gehabt, der für ihn kochte. „Davon abgesehen,“ fügte er zu seiner Verteidigung hinzu, „finde ich, das schmeckt eigentlich ganz gut.“ Eine maßlose Untertreibung: Eigentlich liebte er die Tütensuppe. Tsuki verzog das Gesicht noch mehr. „Dann solltet ihr lernen zu kochen.“ Damit hatte sie sicher nicht Unrecht. Shou setzte zu einer Antwort an, doch Yuki kam ihm zuvor: „Kannst du es uns denn beibringen?“ Ihre Stimme klang ein wenig hämisch, beinahe so, als würde sie die Antwort erahnen. Die junge Frau sah zu Yuki hinüber, das Gesicht steinern. „Nein.“ Yuki grinste. „Kannst du überhaupt selbst kochen?“ Beinahe glaubte Shou, dass Tsuki etwas errötete. Sie wich dem Blick seiner Schwester aus, ehe sie spitz sagte: „Ich bin eine Kitsune. Kitsune kochen nicht.“ Yuki begann zu kichern, ehe sie sehr betont von den Nudeln schlürfte. „Dann solltest du dich nicht beschweren,“ nuschelte sie. „Yuki,“ flüsterte Shou angespannt und warf ihr einen warnenden Blick zu. Die Strafe folgte, als Yuki sich verschluckte und zu husten begann, dies aber witzig genug zu finden schien, um in tatsächliches Gelächter auszubrechen. Tsuki sah sie wütend an. „Wenn ihr schon nicht selbst kocht,“ meinte sie, „könntet ihr das Essen von Kakeda-san mitessen!“ Der Miko, die hier beinahe zu leben schien. Shou wandte sich der Kitsune zu. „Wir wollen nicht zur Last fallen, Tsuki-san,“ sagte er vorsichtig. Darauf erwiderte sie nichts, wandte sich nur um und schritt aus dem Raum, die Schiebetür mit etwas zu viel Energie öffnend. Dabei überraschte es Shou nicht, dass sie nur eine Stunde später mit einem dampfenden Topf zurückkehrte. Was hatte er erwartet? Enttäuschungen -------------- „Das ist irgendwie enttäuschend“, murmelte Simos, als er das kleine Häuschen sah, das an der ruhigen Bucht lag. Das Mädchen an seiner Seite – dem Aussehen nach keinen Tag älter als vielleicht dreizehn – lächelte und trat auf den Weg, der zu dem Haus führte. „Du kannst mir nicht erzählen, dass in dem kleinen Ding ein Gott wohnt!“, protestierte Simos, als er ihr vorsichtig folgte. Das Mädchen – ihr Name war Menodora – drehte sich schwungvoll zu ihm um. Der Schwung reichte, damit einige ihrer lockigen braunen Haare in ihr Gesicht schwangen. Mit einer bestimmten Geste schob sie diese hinter ihre Ohren zurück. „Er wohnt da ja auch nicht!“ „Und woher weißt du dann, dass er da ist?“, erwiderte Simos. „Weil ich seine Tochter bin und ihm versprochen habe, dich hierher zu bringen“, antwortete sie. So ganz konnte Simos diese Geschichte noch immer nicht glauben. Natürlich glaubte er sie nicht. Dieses Mädchen erzählte ihm, dass sie eine Tochter Poseidons sei – einem alten Gott. Und ganz nebenbei behauptete sie auch über tausend Jahre alt zu sein. Und warum sie ihn denn nun zu Poseidon bringen sollte, hatte sie ihm auch nicht gesagt. Aber nun, was war das schlimmste, was ihm passieren konnte? Sie war ein kleines Mädchen, er war ein 21jähriger und wie er sich sagte durchaus kräftiger Mann, also selbst wenn sie ihn verarschte, wie sie es fraglos tat, selbst wenn sie ihn in eine Falle führte, was sollte sie ihm schon tun können? Sein Gehirn hatte ein paar Ideen. Ach, er war paranoid, sagte er sich und ging weiter. Folgte ihr, als sie voran ging, als sie schließlich die blaue Tür des Hauses erreichte. Menodora hielt inne und drehte sich zu ihm um. „Bist du soweit, Simos?“ „Ähm.“ Kluge Antwort. „Nehmen wir einmal an, du sagst die Wahrheit …“ „Natürlich sage ich dir Wahrheit.“ Er schüttelte den Kopf. „Selbst wenn du die Wahrheit sagst … Warum hast du mich hierher gebracht? Ich meine, was will ein alter Meeresgott denn von mir?“ „Er sucht neue Erben“, erwiderte Menodora und lächelte ihn auf kindliche Art an. „Warum?“, fragte Simos und erinnerte sich gleich, dass dies wahrscheinlich nicht die beste Frage war. „Wegen dem Krieg“, antwortete sie, als wäre dies selbstverständlich. Dann klopfte sie. Der Tunnel ---------- Der Tunnel wurde von Lampen erhellt und doch wirkte er dunkel auf ihn. Eine unausgesprochene Gefahr schien von dem Pfad vor ihm auszugehen, als Deng den ersten Schritt machte. Verdammt, er war kein Feigling. Er würde es ihnen beweisen. Würde zeigen, dass er kein Feigling war. Das hier war nur eine alte Eisenbahnunterführung. Eine Eisenbahnunterführung und nichts weiter. Er brauchte sich nicht zu fürchten. Die Geschichten, die man sich erzählte waren nur das: Geschichten und nichts weiter. Ein Schritt, noch ein Schritt. Hier gab es keinen Aswang. Ach. Die anderen wollten ihn doch nur rennen sehen. Wahrscheinlich hatten sie sich die Geschichte nur ausgedacht. Hier gab es keinen Aswang. Es wusste doch jeder, dass Aswangs wenn draußen in dunklen Höhlen lebten. Nun gut, vielleicht nicht in Höhlen, aber halt eben draußen, in der Wildnis. In Wäldern. In kleinen Dörfern. Halt draußen. Nicht in Bangkok. Nicht in der Großstadt. Er war sicher. Er würde den Tunnel, der eigentlich nicht mehr war, als eine verlassene Fußgängerunterführung, durchqueren und ihnen zeigen, dass er kein Feigling war. Also ging er weiter. Schritt für Schritt. Hier gab es keinen Aswang! Und doch kam er nur halb durch den Tunnel, ehe kalte Hände nach ihm griffen. Der Zug von Neudehli -------------------- Sieben Stunden. Der Zug hatte sieben Stunden Verspätung, als er ihm Bahnhof von Neudehli einfuhr. Elaine zitterte, dabei war die Luft schwül und heiß. Unsicher und Angsterfüllt, sah sie sich in der Menge um. Doch niemand schien sie zu beachten. Sie wusste nicht, ob sie sich hier sicher fühlen konnte oder nicht. Hier waren so viele Menschen und so leicht konnte sie niemand angreifen. Doch gleichzeitig hatte sie, seit sie Indien erreicht hatte, so viele Geschichten über Mädchen und junge Frauen, die einfach verschwanden, gehört. Doch diese Sorgen waren nun vorbei. Der Zug war da. Endlich. Er würde sie nach Bhutan bringen. Ihr Plan, wenngleich nicht sonderlich detailliert, war, von dort aus irgendwie über die Grenze nach China zu kommen. Und dort … Sie wusste es nicht. Wahrscheinlich würde sie eine neue Zuflucht suchen. Eine neue Höhle, in der sie sich verstecken konnte. Fernab von Menschen. Es muss sein. Das wusste sie. Doch egal, wie oft Maor es wiederholte, sie kam nicht umher, es zu bedauern, es zu hassen. Sie wollte nicht länger fliehen. Sie wollte nicht länger allein sein. Sie wollte wieder eine Heimat haben, eine richtige Heimat. Du willst leben. Natürlich wollte sie das. Sie schulterte ihren Rucksack und ging zu dem Zug hinüber, der sich nun langsam geleert hatte. Noch zehn, zwanzig Minuten und er würde wieder Richtung Osten fahren. Früher gab es in China große Bibliotheken. Das war ihre einzige Hoffnung. Eine Lösung zu finden. Eine Lösung, in der sie in ihrem eigenen Körper weiter leben und Maor befreien konnte. Sei vorsichtig. Elaine sah sich im Wagon um. Alles wirkte alt und etwas herunter gekommen, obwohl dies eine der am besten ausgebauten Linien des Landes war. Doch sie hatte ein Ticket. Sie hatte ein Abteil. Einen Ort, wo sie sicher war. Bleib vorsichtig. Ihr Vater würde sie nicht während der Fahrt angreifen. Sie konnte sich ausruhen. Sie konnte sich der Illusion hingeben, zwischen Menschen zu sein. Auch wenn sie in Wahrheit weit, weit von ihnen entfernt war. Der letzte Dinosaurier ---------------------- „Ich verstehe den Zusammenhang nicht“, meinte Kye und warf der Krähe einen Blick zu. „Magie ist real, weil Leute daran glauben und deswegen gibt es noch einen Dinosaurier?“ Vielleicht machte er sich auch zu viele Gedanken darüber. Immerhin sprach er gerade mit einer Krähe. „Genau“, erwiderte die Krähe in einem amüsierten Tonfall und ließ sich kopfüber vom Ast hängen, ehe sie weiter über die kahle Landschaft des Outbacks flog. Kye hatte in seiner Kindheit viele Geschichten über sprechende Krähen gehört. Seine Großmutter hatte ihm davon erzählt. Anders als der Rest seiner Familie, stammte sie von den Aboriginals ab, und hatte ihm viele Geschichten aus der Traumzeit erzählt. Unter anderem natürlich die Geschichten von Waa, der Krähe, die den Menschen das Feuer gebracht hatte. Bis gestern hatte Kye jedoch geglaubt, das all das nur Legenden waren. Und nun wanderte er durch den Outback und folgte eben dieser Krähe. Es wäre sehr wohl möglich, beschloss er, dass die Krähe eine Halluzination war und er verrückt geworden war. Wahrscheinlich würde man seine vertrocknete Leiche in ein paar Monaten im Outback finden. „Warum erzählst du mir das?“, fragte Kye schließlich die Krähe, Waa. Waa lachte. „Ich will sehen, wie du reagierst.“ Das ergab keinen Sinn. „Würde es dann nicht mehr Sinn machen, wenn du mir nicht vorher davon erzählen würdest?“ Wieder landete die Krähe, dieses Mal auf einem Busch. Sie legte den Kopf schief. „Vielleicht.“ „Ich bin kein Schamane, weißt du?“, meinte Kye. „Noch nicht“, antwortete Waa und erhob sich wieder in die Luft. Er führte Kye den Abhang eines Hügels, der mit Felsen und trockenen Büschen bedeckt war, hinauf. Es dämmerte bereits. Wie lange liefen sie schon? Auf einem kleinen Baum auf der Spitze des Hügels blieb Waa sitzen und sah in die Senke auf der anderen Seite hinab. „Schau“, krächzte er. Unsicher kletterte Kye hinab. Er war sich der jeden Lautes, des unter seinen Füßen wegbrechenden Gerölls bewusst. Warum schlug sein Herz ihm nun plötzlich bis zum Hals? Er erreichte die Spitze, den Baum, auf dem Waa saß und sah hinab. Unter ihnen lag ein kleiner See, umringt mit einigen grünen Büschen, einigen Gräsern. Doch das war nicht das wirklich seltsame. Denn tatsächlich war da ein Wesen, das an dem See stand und trank. Ein Wesen, das wie eine Art Raptor aussah. Kye kannte das Wesen aus Erzählungen. „Der Burrunjor.“ Die Krähe auf dem Baum nickte. „Ich habe dir ja gesagt, er ist real.“ „Aber wie?“, fragte Kye. „Weil genug Leute an seine Existenz glauben“, antwortete die Krähe und ein wenig Ungeduld schwang in ihrer Stimme mit. „Aber wieso?“, fragte Kye und kam sich dumm vor. Waa musterte ihn. „Vielleicht brauche ich einen Schamanen.“ Er krächzte wie ein echter Rabe. „Oder vielleicht erlaube ich mir nur einen Spaß.“ Das erste Date -------------- Seine Hand war warm. Noch immer konnte Joanne nicht glauben, dass die wirklich hier war. Mit ihm. Auf einem verdammten Weihnachtsmarkt. Sie waren auf einem Date und sie kam sich fehl am Platz vor. Wie war es nur hierzu gekommen? „Was ist?“, fragte Joachim. Joanne antwortete nicht. Sie konnte es noch immer nicht glauben. Es war neu und etwas zu normal. Wann war sie jemals normal gewesen? „Joanne?“, fragte er. „Es ist nichts,“ versicherte sie und warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. Sie hob ihre Hand, die in der seinen lag. „Es ist nur ungewohnt.“ Er errötete etwas. Typisch. „Du bist ein Idiot,“ flüsterte sie lächelnd. Er lachte leise. „Ich weiß. Ich weiß.“ Dann drückte er ihre Hand und schenkte ihr einen langen Blick, bis irgendein junger Herr, der es sehr eilig zu haben schien, ihn anrempelte und ohne ein Wort der Entschuldigung weiterlief. Niemand schien sie groß zu beachten. Wieso auch? Niemand kannte sie. Sie waren nur zwei von vielen hier auf dem engen Weihnachtsmarkt, wo es nach Punsch und Lebkuchen roch. Und sie versperrten gerade den Weg. „Komm,“ meinte Joachim und zog sie weiter. „Was sollen wir tun?“ Joanne verdrehte die Augen. „Was weiß ich?“, meinte sie und lachte kurz. „Warst du es nicht, der unbedingt hierhin wollte?“ Auf diese Worte hin zögerte er. „Darf ich dir etwas ausgeben?“, fragte er schließlich. Sie grinste verschmitzt. „Wie wär's mit einem Kaffee?“ „Und da dachte ich, du bist nicht süchtig,“ meinte er. „Bin ich auch nicht.“ Noch immer grinste sie, merkte aber auch, wie sie rot wurde. Fuck. Das war doch albern. „Sicher nicht,“ erwiderte er und verdrehte die Augen. Das Seltsamste an der ganzen Situation war, dass es sich beinahe normal anfühlte. Gut, normal hätte sie sich nicht von ihm hierher schleppen lassen. Normal würde sie nicht seine Hand halten. Dennoch … Sie redeten auf dieselbe Art miteinander wie zuvor. Es hatte sich nicht verändert. Sie waren noch immer sie selbst. „Vielleicht sollte ich dir ein Lebkuchenherz kaufen,“ schlug er vor und wartete auf ihre Reaktion. „Bloß nicht,“ antwortete sie. „Du weißt, dass ich das Zuckerzeug nicht mag.“ Sie machte eine kurze Pause und versuchte die Röte von ihren Wangen zu vertreiben. „Davon abgesehen … Das wäre doch albern.“ Er warf einem der Süßigkeitenstände einen Blick zu und zuckte mit den Schultern. Dann lächelte er sie an. „Ich ziehe dich nur auf.“ „Ich weiß, du Idiot,“ erwiderte sie sanft und zögerte. Noch immer kam sie nicht umher sich zu fragen, ob das hier wirklich Liebe war. Wie sollte sie es auch wissen? Sie fühlte sich dumm, naiv und vielleicht auch ein wenig kindisch und genoss es gleichzeitig doch auch, all das zu tun. Noch immer unsicher zog sie ihn von dem Weg zwischen den Ständen weg, um nicht länger im Gedränge zu stehen, und küsste ihn auf die Wange. „Wenn du mir etwas ausgeben willst,“ meinte sie dann, „wie wäre es mit Pizza?“ Er lächelte, nun ebenfalls mit geröteten Wangen. „Sehr weihnachtlich,“ kommentierte er. „Wie gesagt, ich nehme auch Kaffee.“ „Natürlich,“ antwortete er und schüttelte den Kopf. Dann küsste er sie seinerseits. „Koffeinjunkie.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Idiot.“ Dann erwiderte sie seinen Kuss. Vielleicht, ja, vielleicht konnte das ganze funktionieren. Selbst für jemanden wie sie. Verlobte wider Willen --------------------- Vorsichtig öffnete Andre die Tür, wie immer halb mit einer plötzlichen Attacke rechnend. Vor der Tür jedoch stand kein Angreifer. Nur zwei Mädchen, junge Frauen, etwa in seinem Alter. Beide schlank, beide dunkelhaarig, beide etwas feucht vom nieselnden Regen und beide ausgesprochen hübsch. Sie waren das perfekte Ebenbild der jeweils anderen. Etwas ging nicht mit richtigen Dingen zu. Unsicher musterte er sie. „Was kann ich für Sie tun?“ „Andrew Sterling?“, fragten beide, wie aus einem Mund. Wer waren sie? Hatten sie nach ihm gesucht? Was sollte er ihnen sagen? „Ähm, ja,“ meinte er vorsichtig. Die beiden lächelten. „Ah, gut,“ meinte die eine. „Wir haben dich gesucht,“ fügte die andere hinzu. „Okay.“ Etwas anderes fiel ihm nicht ein. Wer waren sie? Die Frage bohrte sich förmlich in seinen Geist. Wer waren sie und was wollten sie von ihm? Hatte jemand, der es auf ihn abgesehen hatte, sie zu ihm geschickt? Erwartungsvoll sahen sie ihn an. Was sollte er tun? „Wer sind Sie?“, fragte er schließlich. „Die Nettigkeiten sind nicht erforderlich,“ versicherte die eine. „Du kannst uns dutzen,“ meinte die andere. Schon wollte er einwerfen, dass dies seine Frage nicht beantwortete, doch schien dies der nächste Punkt zu sein, zu dem sie kamen. „Wir sind Lilly,“ begann die eine. „Und Luna,“ endete die andere. „Können wir reinkommen?“, fragten sie dann beide. Wer oder was auch immer die beiden waren: Sie waren Andre gruselig. Er spielte mit dem Gedanken, ihnen die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Doch das kam nicht in Frage. Immerhin hatten sie – von ihrer Seltsamkeit einmal abgesehen – ihm keinen wirklichen Grund gegeben, sie als Gefahr anzusehen. Sicher, es hielt ihn nicht davon ab, dies zu tun, doch wusste zumindest der rationale Teil seiner selbst, dass dies kaum ein Grund war, sie so zu behandeln. Sie waren, zumindest des Anscheins nach, junge Frauen. Und es schneite. Reinlassen wollte er sie dennoch nicht. „Was wollt ihr von mir?“, fragte er vorsichtig. Nun tauschten die beiden einen verwirrten Blick, ehe sie ihn wieder ansahen, nun ganz offenbar selbst etwas verunsichert. „Solltest du nicht wissen, dass wir kommen?“, meinte die erste der beiden, die sich als Lilly vorgestellt hatte, zu ihm. Er schüttelte sprachlos den Kopf. „Wir sind deine Verlobten“, erklärte daraufhin die andere. Luna. Andre brauchte einen Moment, um diese Aussage zu verarbeiten. Alles in allem war er sich recht sicher, nicht verheiratet zu sein. Immerhin war man bei solchen Sachen normaler Weise anwesend. Normaler Weise … Doch was in seinem Leben war schon normal? Seine Familie hatte doch nicht … Oder? „Wartet bitte einen Moment,“ murmelte er und wandte sich der Wohnung zu, um nach dem Telefon zu suchen. „Dürfen wir reinkommen?“, fragten sie nun wieder. Nein. Es konnte eine Falle sein. Doch das konnte er ihnen so kaum sagen. Wenn es wirklich stimmte, was sie sagten … „Ja,“ brachte er schließlich gezwungen heraus. „Danke.“ Während er nach seinem Telefon suchte, dass er schließlich auf dem Sofa liegend fand, kamen die beiden herein, ihre Bewegungen beinahe synchron, auch wenn es Lilly war, die die Tür schloss. Zumindest glaubte er, dass es Lilly war. Er hatte sie kurz aus den Augen gelassen und egal wie er es betrachtete: Die beiden sahen vollkommen identisch aus. Dieselben dunklen Mäntel, die sie nun auszogen, als sie sich auf seinem Sessel niederlegten. Dieselben Blusen darunter. Dieselben hellen Hosen. Derselbe Geruch nach einem dezente Parfum. „Wartet,“ meinte er noch einmal und wählte die Nummer seine Mutter, wenngleich er die beiden im Auge behielt. Sie saßen nun beide auf den Armlehnen des Sessels und sahen sich neugierig in der kleinen Wohnung um. Die Unordnung schien sie nicht zu stören oder vielleicht ließen sie es sich auch nicht anmerken. Das Freizeichen erklang aus dem Telefon, während eine der beiden ihr eigenes Handy hervor holte, nur um es einen Augenblick später wegzustecken. Was waren die beiden? Definitiv keine Gestaltwandler, da war er sich sicher. Doch ansonsten? Magier? Fae? Seine Mutter ging ans Telefon. „Andrew?“ Wie sollte er anfangen? „Hier sind gerade zwei Frauen bei mir aufgetaucht,“ erklärte er daher nervös. „Sie haben sich als Lilly und Luna vorgestellt.“ „Ah, deine Frauen,“ antwortete seine Mutter. Natürlich hatten sie. „Was?“ Sanziene -------- Die Leute sagten, dass seltsame Dinge geschahen, wenn man in der Nacht des Sanziene allein in einen Wald ging. Die Leute sagten auch, dass seltsame Dinge geschahen, wenn man in irgendeiner Nacht allein in den Hoia Baciu ging. Mit „seltsamen Dingen“ meinten sie vorrangig: Man verschwand, machte Zeitreisen oder wurde von unsichtbaren Kräften attackiert. Nun war Elena schon mehr als einmal allein in der Nacht des Sanziene draußen gewesen und zu zählen, wie oft sie im Hoia Baciu gewesen war, wäre wohl ein längeres Unterfangen gewesen, lebte sie doch in Cluj-Napoca. Bisher war sie nicht verschwunden, hatte – leider – keine Zeitreisen gemacht und war auch nicht von unsichtbaren Kräften attackiert worden, was jedoch nicht hieß, dass ihr nie „seltsame Dinge“ zugestoßen waren. Die seltsamen Dinge hatten vorrangig allerdings mit einer bestimmten Person zu tun: Diana. Und auch an diesem Abend vor der Nacht des Sanziene wartete sie auf einem Pfad am Rand des Waldes auf sie. Elena beschleunigte ihre Schritte, als sie die zierliche Gestalt ihrer Freundin sah, die in dieselben weiten, weißen Gewänder gehüllt war, die auch sie heute trug. Dann fiel sie Diana um den Hals. „Da bist du ja“, flüsterte Diana und küsste sie auf die Wange. Elena kicherte leise. „Da bin ich.“ Dann löste sie sich von ihrer Freundin und sah sie an. „Können wir …“ Diana küsste sie, dieses Mal auf die Lippen. „Die Sonne ist noch nicht untergegangen“, antwortete sie dann und lächelte. „Gedulde dich.“ „Ich will es sehen!“ Immerhin hatte sie fast ein Jahr darauf gewartet. „Du siehst es bald.“ Diana nahm ihre Hand. Einmal im Jahr, in der Nacht der Sanziene, so hatte Diana ihr erklärt, war der Schleier zwischen ihrer Welt und der Anderswelt dünn. Einmal im Jahr konnten auch Menschen ohne Magie die Anderswelt betreten. „Und wo ist das Portal?“, fragte Elena und brachte Diana damit zum Lachen. „Das wirst du sehen“, antwortete Diana. „Der Kreis?“ Diana kicherte und griff ihre Hand fester. „Das wirst du sehen.“ Damit führte sie sie weiter in den vermeintlich verfluchten Wald der Sanziana hinein, der Feen der Sommernächte, deren Streiche für so viele Geistergeschichten verantwortlich waren. Das Artefakt ------------ Tatsu beobachtete die Kitsune, deren rotes Haar so ungewöhnlich wirkte. Er wusste, was sie war. Es sollte ihn nicht wundern. Noch immer wusste er nicht, warum er sie hatte finden sollen. Er wusste nicht, was der junge Mann gemeint hatte, doch kam er nicht umher sie faszinierend zu empfinden. Die Kitsune begutachtete die Speisen auf dem Tisch zwischen ihnen. „Was kann ich für Sie tun?“, fragte sie distanziert. Er räusperte sich und strich eine Strähne seines langen Haares aus dem Gesicht. „Das weiß ich selbst nicht,“ antwortete er dann ehrlich. „Ich wurde gefunden, Sie zu finden. Man sagte mir, dass Sie mir Antworten geben könnten.“ Ein amüsiertes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, während sie ihn aus goldenen Augen musterte. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Essen zu. „Dafür der ganze Aufwand? Sie hätten mich am Schrein fragen können.“ „Man hat mir gesagt, dass Sie und Ihresgleichen eine Gegenleistung für Antworten verlangen,“ erwiderte er. Sie kicherte und musterte ihn wieder. „Je nach der Art der Auskunft bevorzugen wir es, die Bezahlung selbst festzulegen.“ Tatsu verschränkte die Arme und sah sie an. Sie war hübsch, doch war das wohl von einer Kitsune zu erwarten. Hatten sie in vielen Mythen nicht aus den Aspekt von Verführern? Insofern war es wohl wenig überraschend. Bemühte sie sich absichtlich, ihn wenig Beachtung zu schenken? Während er schwieg, begann sie etwas von den Sobanudeln aus dem Bambuskorb zu fischen und durch die Soße zu ziehen. Sie schien zu warten. Er sah sich um, doch natürlich waren sie allein. Sie hatten den Raum des Restaurants für sich. Dafür hatte er gezahlt. Also öffnete er den Lederbeutel und zog das jadefarbende Messer hervor. „Was können Sie mir dazu sagen?“, fragte er und legte es auf den Tisch. Ruhig legte sie ihre Stäbchen ab und nahm das Messer her. Sie zog es aus seiner Scheide und enthüllte so die glimmende Klinge. Dann sah sie wieder ihn an, eine gewisse Neugierde in den goldenen Augen. „Ein Artefakt.“ „Was für ein Artefakt?“, fragte er. Sie kicherte. „Ein magisches Messer.“ Zog sie ihn auf? Wollte sie ihn ärgern? Er wartete auf eine weitere Antwort, während sie die Klinge in ihren Händen wendete und die Inschrift begutachtete. „Wo haben Sie das Messer gefunden“ – sie zögerte – „Tatsu-san?“ Sie schien zu merken, dass etwas mit dem Namen nicht stimmte. Kaum verwunderlich, war es doch kein normaler Name. „In einer Höhle,“ erwiderte er. „Jemand hat mir einen Hinweis gegeben.“ Er streckte die Hand aus und sie gab ihm das Messer zurück. „Was haben Sie in dieser Höhle gemacht?“, fragte sie weiter. „Wie gesagt: Jemand hat mir einen Hinweis gegeben,“ antwortete er. Wie sollte er es erklären? „Ich habe eigentlich etwas anderes gesucht.“ Wieder wurde ihr Lächeln verschmitzt. „Und Sie glauben, dass meine Antwort Sie zu dieser anderen Sache führen könnte?“ Er nickte. Musterte sie. Eine Strähne des Haares hatte sich von ihrer Spange gelöst und war ihr über das linke Auge gefallen, von wo sie sie nun sehr betont zurückschob. Was war ihr Ziel? Wollte sie ihn testen oder nur einen Spaß mit ihm treiben? Wieder musterte er sie und bemerkte, dass ihr Oberteil, dessen Schnitt einem Yukata nachempfunden war, etwas loser um die Brust zu sitzen schien, als zuvor. Versuchte sie wirklich ihn zu verführen? Wieso? „So in etwa,“ antwortete er. Die Kitsune schwieg und füllte dann etwas von dem eigentlich schon zu weit abgekühlten Sake in die zwei Tassen. Sie trank, während er zögerte. „Ich kann Ihnen so viel sagen,“ sagte sie. „Das Messer ist einst von einer Gottheit erschaffen worden. Es ist alt. Und man hat es lange vermisst.“ „Von was für einer Gottheit?“, fragte er. „Einem Beschützer,“ erwiderte sie. „Einem der Schützer dieser Stadt. Es war ein Artefakt, das einem Helden gegeben wurde.“ „Ich verstehe.“ Zögernd griff er nach dem Sakebecher und trank, während er das Messer weiter musterte. Hatte er etwas mit diesem Helden zu tun? „Wissen Sie mehr darüber?“ „Ich kann mehr herausfinden,“ antwortete sie. „Wenn Sie wollen.“ Dann lächelte sie. „Doch wollen wir nicht erst essen? Die Speisen werden kalt.“ Er nickte und nahm selbst etwas von dem Gemüse, zögerte aber, bevor er aß. „Was ist die Bezahlung, die Sie dafür verlangen würden?“ Wieder erschien das verschmitzte Lächeln auf ihren Lippen. „Ein Teil Ihres Geheimnis“ – ein erneutes Zögern – „Tatsu-san.“ Namenlos -------- „Ich gehöre hier nicht her,“ sagte Kian und sah zum Mast des Bootes hinauf. Firuz, der gerade angefangen hatte nach den Netzen zu sehen, hielt inne. „Sag so etwas nicht.“ „Ich gehöre hier nicht her,“ wiederholte Kian. Firuz musterte den anderen Mann, der in ein einfaches T-Shirt, wie sie meistens Touristen trugen, und Khaki-Hosen gekleidet eigentlich wie ein normaler Mann, vielleicht Mitte dreißig – selbst wenn der Eindruck täuschte. Natürlich konnte er sich nicht vorstellen, wie es für Kian sein musste. Namenlos, ziellos und eigentlich schon lange vergessen. Was wusste Firuz schon davon? Er war sterblich und Kian war … Etwas anderes. Mit einem Seufzen ließ der Fischer das Netz sinken und ging zu seinem unsterblichen Freund hinüber. Selbst wenn er nicht wirklich wusste, was er sagen konnte. Was er sagen sollte. Er war nur ein einfacher Fischer, kein Gelehrter. Er konnte ja kaum richtig lesen und hatte Kian nur mehr durch reinen Zufall getroffen. Und so legte er nur einen Arm um Kians breite Schultern. „Vielleicht solltest du gehen. In die Welt. Solltest nach deinem Namen suchen.“ Kian sagte für eine lange Weile nichts. „Wenn ich bei dir bin,“ sagte er dann schließlich, „hat meine Existenz zumindest einen Zweck. Wenn ich bei dir bin, kennst zumindest du mich – und sei es nur als Kian.“ „Und wenn ich sterbe?“, erwiderte Firuz, der sich seiner Sterblichkeit bewusst war. „Dann werde ich diesen Namen vergessen,“ antwortete Kian und schloss die Augen. „Dann werde ich schwinden.“ Er löste sich von ihm, küsste Firuz auf die Stirn und stand auf. „Doch bis dahin bleibe ich bei dir.“ Firuz nickte. Und doch fühlte er sich, als würde er dem Unsterblichen, dem Igigi, etwas rauben. Das Hexenhaus ------------- „Halt mal,“ meinte Merle und rückte ein wenig zur Seite um Platz für Hanna zu machen, die an ihrer Stelle den Lebkuchen nun aufeinander drückte. „Eigentlich schon schade,“ meinte sie dabei, „das wir nicht in Lebkuchenhäusern leben, oder?“ „Ich stelle mir das nicht besonders hygienisch vor,“ kommentierte Merle, während sie zur Spüle ging um mehr Wasser, Zitronensaft und Puderzucker zum weißen Guss anzumischen. „Wieso?“ „Na, willst du wirklich noch ein Haus essen, an das draußen wahrscheinlich die Tiere pinkeln und scheißen?“ Hanna lachte auf. „Du und deine Eloquenz.“ „Ja, aber ist doch wahr!“ Merle warf ihr einen amüsierten Seitenblick zu und grinste. „Willst du es noch essen, wenn es draußen steht? Davon abgesehen ist es sicher nicht besonders Wasserdicht und nach einer Weile hängt dir der Lebkuchen auch zum Hals raus.“ Noch immer kichernd sah Hanna sie an. „Ich dachte nur darüber nach, wie ich kleine Kinder in das Haus locken könnte.“ „Jetzt klingst du, wie eine Perverse.“ Merle rührte die mittlerweile zähflüssige Masse weiter. „Du weißt ja ganz genau, wie pervers ich bin,“ kommentierte Hanna und zwinkerte ihr zu. Merle verdrehte die Augen, überprüfte dann den Zuckerguss und ging zur Arbeitsfläche hinüber, um wortlos noch mehr von dem Guss auf den Übergang des vorher noch rutschenden Lebkuchendachs zum eigentlichen Haus zu schmieren. „Schmollst du?“, fragte Hanna nach vielleicht einer Minute. „Vielleicht,“ erwiderte Merle ohne sie anzusehen. „Du weißt, dass ich es nicht so meine,“ meinte Hanna nun und stupste sie mit dem Ellenbogen an. Merle grinste. „Du meinst, du bist nicht mit Absicht so pervers?“ Wieder lachte Hanna auf. „Hmm, vielleicht. Vielleicht bin ich ja von einem Geist besessen. Du solltest es mal an der Schule anbringen.“ „Und bevor ich's weiß, hat man dich gefesselt in einen Ritualkreis gesetzt.“ „Kinky.“ „Ja, das würde dir auch noch gefallen.“ „Hey, laut Herrn Bergholz war Sexualität früher oft ein Teil von Ritualen.“ „Da kommt die nächste Ausrede,“ kommentierte Merle. „Sollte ich aufpassen, nicht auf einmal gefesselt in einem Ritualkreis zu enden?“ Mit gespielter Empörung stöhnte Hanna auf. „Na, jetzt sei doch nicht so. Alles was ich sage ist, dass die ganze Hexensache ziemlich enttäuschend ist.“ „Wieso?“ „Na, schau doch mal. Keine Hexenhäuser, keine Besen, keine Raben, keine Eulen … Und Quidditsch gibt es auch nicht.“ Nun konnte Merle keine gerade Miene mehr bewahren, auch sie lachte. „Quidditsch ist auch blöd.“ „Gar nicht.“ „Wohl wahr.“ Dann wandte sie sich dem Lebkuchenhaus zu. „Und wenn wir hiermit nicht bis heute Abend fertig sind, kriegt meine Mutter einen Anfall.“ Sie warf Hanna einen Seitenblick zu. „Und dann darfst du nicht übernachten.“ „Oh,“ machte Hanna und leckte sich über die Lippen. „Das wollen wir nun wirklich nicht riskieren.“ Geständnis ---------- Unsicher und sich immer wieder nervös umsehend kam Julian um das Gebüsch am Rand der Lichtung. Sein Gesicht hellte sich auf als er Fabius sah, auch wenn sein Lächeln weiterhin etwas nervös wirkte. „Bist du dir sicher, dass wir hier sein sollen? Da stand ein Schild.“ Fabius schluckte. Der Augenblick der Wahrheit. Aber noch nicht ganz. „Ich komme hier häufiger her. Keine Sorge. Hier ist schon lang nichts gefährliches mehr.“ Julian musterte ihn misstrauisch. „Du bist aber nicht irgendein verrückter Axtmörder oder so?“ „Ich glaube nicht, nein“, antwortete Fabius und lachte nervös. Er sollte es sagen, er sollte... Doch stattdessen ging er nur auf Julian zu und küsste ihn. Warum konnte sein Leben nicht einfacher sein? Warum musste er zu allem Überfluss auch noch schwul sein? War es nicht schon kompliziert genug, ein nicht ganz normaler Teenager zu sein? Nun, vielleicht war die bessere Frage, warum er nicht einfach ein normaler, schwuler Teenager sein konnte. Julian war der erste Junge, den er je geküsst hatte. Er mochte es ihn zu küssen. Es fühlte sich gut an – normal. Selbst wenn er sich noch immer nicht ganz sicher war, ob er es auch richtig machte. Es hatte ihm immerhin niemand beigebracht. „Was ist denn?“, fragte Julian mit etwas Schüchternheit in der Stimme. „Ich...“ Fabius' Stimme versagte ihm. Er räusperte sich, bemühte sich, die Worte korrekt zurecht zu legen. „Ich habe dir etwas erzählen wollen.“ Etwas verwirrt sah Julian ihn an. Nicht ganz sicher, ob er amüsiert sein sollte oder sich Sorgen machen sollte. Immerhin – so hatte er Fabius zumindest gesagt – war das hier auch seine erste Beziehung. „Bist du also doch ein Axtmörder?“, versuchte er zu scherzen. Fabius schüttelte den Kopf. „Was dann?“, meinte Julian und bemühte sich den scherzhaften Tonfall beizubehalten. „Ein Vampir?“ Wieder schüttelte Fabius den Kopf. Er presste die Lippen zusammen. „Nicht ganz.“ Er zögerte. „Ich weiß, das klingt albern, aber... Julian, ich bin ein Werwolf.“ Stille. Julian starrte ihn an. Dann lachte er. „Du verarscht mich.“ Doch Fabius schüttelte den Kopf. Er sagte nichts, sondern macht einen Schritt zurück, ehe er die Augen schloss und seinem inneren Wolf genug Freiraum ließ, um seinen Körper zu übernehmen. Er spürte, wie sich seine Gestalt veränderte. Es tat nicht einmal mehr weh. Und dann, als er die Augen öffnete, sah er von Hüfthöhe zu Julian hinauf. Dieser starrte nur. Er würde sicher gleich laufen. Julian starrte. Und Fabius wartete darauf, dass er etwas tun würde, beinahe sicher, dass Julian weglaufen würde. Doch für den Moment war er wie erstarrt. Schließlich schaffte es Julian offenbar seine Stimme wiederzufinden. „Du machst keine Witze, eh?“, murmelte er. Fabius – unfähig in dieser Gestalt zu sprechen – schüttelte den Kopf. Er senkte den Blick. Noch immer starrte Julian ihn an, beugte sich dann aber zu ihm hinab und strich durch das Fell zwischen seinen Ohren. Er lächelte unsicher. „Wow.“ Orgelmusik ---------- Die alte Kirche wirkte verlassen. Eine gruselige Atmosphäre hatte sich über die Sitzreihen gesenkt. Und doch hatte das Licht, das durch die kaputten Fenster fiel auch etwas träumerisches. Arianna ging durch die Reihen, fragte sich, was hier passiert war. Sie wusste, dass es viele dieser Orte gab, die aus irgendwelchen Gründen verlassen worden waren, doch jeder war ein Mysterium in sich. Sie sah zum Balkon, der sich über das Kirchenschiff erstreckte. Ob sie da hoch gehen konnte? Ob die überwucherte Treppe sie noch halten würde? Sie ging das Risiko ein. Die Stufen der engen Wendeltreppe knarzten unter ihren Füßen, als sie hinaufging, gaben jedoch nicht nach. „Ha“, flüsterte sie mit klopfendem Herzen, als sie oben stand und auf den Raum hinabsah. Dann glitt ihr Blick zur alten Orgel, die tatsächlich noch hier war, hinüber. Vielleicht spielte sie noch. Doch wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich waren die Rohre schon verrostet, wenn nicht jemand sie des Metalls wegen gestohlen hatte. Und doch – sie konnte es probieren. Sie ging hinüber. Die Bank, die einmal zur Orgel gehört haben musste, stand da nicht mehr, doch das hinderte sie nicht daran, auf eine der weißen Tasten zu drücken. Ein schriller Ton erklang und ließ sie zurückschrecken. Es klang gespenstisch in dieser verlassenen Kirche, umgeben von Dschungel. Doch dann kicherte sie. Die Anspannung ließ sie lachen. Sie ging noch einmal vor, drückte wieder zwei der Tasten, dieses Mal auf den schiefen Ton gefasst. Orgeln konnten also verstimmt sein. Sie hob die Hand, als ein weiterer Ton erklang. Abgabefristen ------------- Müde starrte Matthew auf seinen Laptop und die Unterlagen, die er vor sich ausgebreitet hatte. Gott, noch sechs Tage bis zur Abgabe und er hatte keine Ahnung, wie zur Hölle er den Aufsatz schreiben sollte. Sein Arm schmerzte, seine Seite ebenso und wenn er ehrlich gewesen wäre, hätte er sich lieber ins Bett gelegt. Doch er musste den Aufsatz dieses Semester abgeben. Er musste einfach. Denn wenn er es nicht tat, würde sein Vater auf kurz oder lang Wind davon bekommen und dann... Dann würde er sich fraglos nur in dem bestätigt sehen, was der ohnehin die ganze Zeit schon sagte: Werwölfe machen keine guten Studenten. Immerhin hatte sein Vater ihm das Studium von Anfang an ausreden wollen. Also versuchte er sich auf seine Notizen zu konzentrieren. Es waren doch nur noch acht Seiten, die er schreiben musste. Nur acht Seiten. Acht Seiten, waren der Preis hier bleiben zu können. Unabhängig. Acht Seiten mit einem tiefen Schnitt im Arm. Warum hatte der Dämon ausgerechnet jetzt auftauchen müssen? Ausgerechnet jetzt, da die Prüfungszeit anstand. Ausgerechnet jetzt, da sie nur noch zu dritt waren und effektiv auch hätten zu zwei sein können. Doch er durfte sich nicht beschweren. Er durfte keine Schwäche zeigen. Er musste arbeiten und den Aufsatz irgendwie zu Ende schreiben. Acht Seiten. Acht Seiten zum Thema „Internationalisierung der Zivilgesellschaft“. Acht Seiten, die er irgendwie mit viel Schmerzmittel schaffen würde, selbst wenn nicht besonders gut. Acht Seiten, bei denen ihm am Ende wohl eine annehmbare Note reichen musste, wenn er nicht zu seinem Elternhaus zurückkehren wollte. Astrales Treffen ---------------- Der Astralraum erschien verlassen. Der Astralraum wirkte meistens verlassen. Immerhin waren die Menschen, selbst wenn man sich an einem in der physischen Welt gerade einsamen Ort aufhielt, hier nie mehr als Schatten. Doch die Promenade am Rand des Strands von LA war an diesem Morgen auch in der physischen Welt beinahe leergefegt und daher im Astralraum nahezu gespenstisch. Juan zitterte ein wenig. Er hatte es noch nie gemocht, in den Astralraum zu gehen. Nicht nur, dass man sich hier immer sehr einsam vorkam: Hier lauerten auch allerhand Monster und Geister, von denen bei weitem nicht alle den Menschen oder – in seinem Fall – Werraben, positiv gegenüber eingestellt waren. Doch er wusste, das ihm keine Wahl blieb, als auf Yhel zu warten. Er wollte seinen Totemgott nicht enttäuschen, wusste er doch, dass sich alles andere rächen würde. Er lehnte sich gegen die hölzerne Wand, Ballustrade oder wie man auch immer es nannte, und verschränkte seine Arme. Er fröstelte, auch wenn es im Astralraum nicht wirklich kalt, war – eben nur etwas „ambivalent“. „Was machst du so früh hier, Juan?“, fragte eine Stimme und ließ ihn zusammenschrecken. Die Stimme war absolut sicher weiblich und gehörte daher – zumindest wahrscheinlich – nicht zu Yhel, dem Raben. Er sah sich beinahe schon panisch um und wurde daher ausgelacht, noch ehe er die junge Frau oben auf der Balustrade sitzen sah. Er kannte sie. Ebony, eine Werkatze. Um genau zu sein ein Werpanther, wie ihr Name bereits vermuten ließ. Wo sie war, folgte meistens Ärger – Ärger in irgendeiner Form. Sie war ein Drifter, nicht an einen Ort gebunden, kehrte aber doch immer wieder hierher zurück. „Was willst du?“, fragte er aufgebracht. Sie zuckte mit den Schultern und sprang ohne zu zögern die vier Meter hohe Balustrade hinab. „Ich habe mir nur die Zeit vertrieben, Juan“ – sie sprach seinen Namen Dschuan aus – „als ich dich hier gesehen habe. Dachte, ich sag mal Hallo, weißt du?“ Sie klopfte ihm auf die Schulter, ganz so als seien sie alte Freunde. Etwas, das sie sicherlich nicht waren. Er machte einen Schritt von ihr fort. „Oh mein Gott, Juan“, meinte sie. „Jetzt werd' mal ein wenig lockerer. Was machst du überhaupt hier? Immerhin muss man dich normal doch treten, hierher zu kommen.“ „Ich bin mit jemanden verabredet“, erwiderte er säuerlich. „Und jetzt lass mich in Ruhe. Du vertreibst ihn nur.“ „Wen?“, fragte sie, schien aber im nächsten Moment die Antwort auf ihre eigene Frage zu finden: „Ah, den guter alter Rabenvater, eh?“ Sie lachte. „Was will er denn schon wieder von dir?“ „Das geht dich nichts an“, antwortete er. Sie verdrehte die Augen. „Man. Pass auf, dass du nicht festfrierst.“ „Ich weiß nicht, wovon du redest“, erwiderte er. „Weißt du sehr wohl“, stellte sie fest. „Lass mich in Ruhe“, antwortete er. „Wirklich. Das ist nicht lustig. Ich mache meinen Job und du...“ Er zögerte. „Du machst halt, was auch immer es ist, das du normal so tust.“ Sie verdrehte nur noch einmal die Augen, zuckte dann aber mit den Schultern. „Ich wäre vorsichtig, Juan. Denn nach allem was man so hört, ist dein Rabenvater wahrscheinlich auch in Dinge verstrickt, die Soldaten erfordern.“ „Was für Dinge?“, fragte er misstrauisch. Sie wandte sich ihm zu und zuckte mit den Schultern. „Du wolltest nicht mit mir sprechen, oder?“ Damit machte sie ein paar Schritte rückwärts und verwandelte sich dann in eine große, schwarze Katze, ehe sie um die nächste Ecke verschwand und Juan nun wieder allein und verlassen im Astralraum zurückließ. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)