Vergissmeinnicht von dattelpalme11 ================================================================================ Kapitel 42: Realitätsverlust ---------------------------- ♥ Mimi ♥ Sie lag erschöpft und langgesteckt auf ihrem Bett. Ihr Kopf pochte schmerzhaft und ihre Wangen fühlten sich wegen ihrer Tränen leicht klebrig an. Ihr Gesicht hatte sie in ihr weiches Kissen gedrückt, doch sie kam einfach nicht zur Ruhe. Sie war vor allen völlig ausgerastet, aber ihr taten die Worte nicht leid, die sie gesagt und in den Raum gestellt hatte. Anscheinend hatten alle sie belogen. Selbst ihr Vater, der überhaupt nicht überrascht war, sondern ihre Mutter sogar getröstet hatte. Sie allerdings war es leid geworden! Der berühmte Tropfen war übergelaufen, besonders nachdem ihre Mutter ihr heute Morgen das Frühstück aufzwängen wollte. Sie hatte mitbekommen, dass es ihr nach der Weihnachtsfeier nicht sonderlich gut ging und nur sehr wenig gegessen hatte, weshalb ihre Alarmglocken scheinbar dauerhaft klingelten. Jedoch konnte Mimi sie nicht mehr verstehen. Bei ihr war sie immer so fürsorglich gewesen, meist war es schon zu viel des Guten, aber dann verschwieg sie ihr einfach ihren Bruder, den sie ohne weiteres weggeben hatte? Es machte sie einfach so rasend vor Wut. Und es machte sie noch wütender, dass nicht nur ihre Mutter, sondern auch ihr Vater sie angelogen hatte. Bestimmt kannte jeder aus der Familie ihr kleines Geheimnis und hatte es vor ihr verschwiegen. Und dann war da auch noch Tai, der ausgerechnet mit Kaoris Schwester eine Affäre gehabt hatte. Ihr wurde immer noch schlecht, wenn sie daran dachte. Wenn sie sich die Bilder ausmalte, wie sie lasziv vor ihm lag und er ihren ganzen Körper mit Küssen bedeckte…sie konnte nicht fassen, dass er mit so einer Hexe regelmäßig geschlafen hatte. Er hatte sie ihr vorgezogen. Ihr etwas gegeben, dass sie sich schon damals von Herzen von ihm wünschte. Intimität. Leidenschaft. Liebe. Ihr Hals schnürte sich zu und die Tränen standen in ihren Augen. Sie war innerlich aufgewühlt, doch gleichzeitig fühlte sie sich auf verlorenem Posten. Mimi wollte nichts essen, wollte niemanden mehr sehen, sie wollte einfach nur ihre Ruhe haben und sich in den Schlaf weinen, der einfach nicht eintreffen wollte. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren, war aber zu kraftlos sich auf die Seite zu drehen, um auf ihren Wecker sehen zu können. Daher blieb sie einfach liegen und hoffte, dass dieser Tag schnell zu Ende ging. _ Dieser Wunsch wurde ihr jedoch nicht erfüllt. Gegen Abend hörte sie ein zaghaftes Klopfen an ihrer Zimmertür, dass sie nur mit einem Grummeln quittierte. Sie zog sich das Kissen über den Kopf und hoffte einfach, dass die Person an ihrer Tür bald verschwinden würde. Sie wollte nicht reden. Sie wollte einfach ihre Ruhe haben! Mittlerweile hing allerdings ihr Magen tatsächlich in den Kniekehlen. Sie hatte seit zwei Tagen nicht richtig gegessen gehabt, weshalb ihr Bauch schmerzvoll knurrte. Doch sie würde diese Qual aushalten! Dieser Schmerz würde sie von all den anderen Schmerzen ablenken und irgendwann würde selbst das Hungergefühl verschwinden, da war sich Mimi sicher. Allerdings war das im Moment sogar ihr kleinstes Problem! Sie hörte, auch wenn sie sich das Kissen über den Kopf gezogen hatte, dass sich ihre Zimmertür öffnete. „Verschwinde“, zischte sie laut genug, dass man sie verstehen musste. Die Person sagte hingegen nichts, sondern ließ sich einfach auf ihrer Matratze nieder. Wütend raffte sich Mimi auf und warf ihr Kissen zur Seite. „Hau ab, ich will nicht…“, sie hielt inne als sie in das Gesicht ihres Vaters blickte. Eigentlich hatte sie mit ihrer Mutter gerechnet. Mimi hielt die Luft an und wusste selbst nicht so wirklich, was sie zu ihrem Vater sagen sollte. Sie hatte ja keine Beweise, dass er tatsächlich Bescheid wusste, all das war nur eine Vermutung gewesen! Doch hätte er nichts davon gewusst, hätte er doch sicher anders reagiert?! Jedenfalls sagte das ihr klarer Menschenverstand! „Was willst du?“, knurrte Mimi bissig und presste ihren Rücken gegen ihre Zimmerwand. Schützend legte sie die Arme um ihre Knie und zog sie nah an ihren Körper heran, während ihr Vater sie besorgt musterte. „Wie lange weißt du es schon?“, fragte er in einem ruhigen Ton. „Wie lange weißt du es denn schon?“, stellte sie die Gegenfrage und betrachtete ihn abschätzig. Sie hatte also die Bestätigung. Er wusste Bescheid und sie war sich nicht sicher, ob sie sich darüber freuen sollte oder nicht. Einerseits schien die Ehe ihrer Eltern wenigstens nicht auf einer Lüge aufzubauen. Andererseits konnte sie nicht verstehen, dass beide ihr dieses Geheimnis jahrelang verschwiegen hatten! „Mimi…wir haben oft miteinander darüber gesprochen und wollten es dir sagen, wenn du etwas älter bist“, erklärte er mit sanfter Stimme. „Ach wirklich? Wann wolltet ihr es mir erzählen? Wenn ich dreißig bin?“, raunzte Mimi und merkte selbst wie ungehalten sie wurde. Die ruhige Art ihres Vaters ließ sie heute besonders aus der Haut fahren und zum Platzen bringen! Konnte er nicht wenigstens jetzt zu ihr ehrlich sein?! „Ach Schätzchen, diese Sache hat deine Mutter immer sehr belastet und ich wollte sie nicht dazu drängen, mit dir darüber zu sprechen. Sie ist ganz aufgelöst!“ „Schön für sie! Dann kann sie vielleicht ein bisschen nachvollziehen, wie es mir in den letzten Tagen gegangen ist!“ „Mimi, sei nicht unfair! Du kennst die Geschichte nicht und…“ „Dann erzähl sie mir gefälligst! Ich habe ein Recht sie zu erfahren!“, brüllte Mimi aufgebracht. Schon wieder sammelten sich verzweifelte Tränen, die in ihren Augen brannten. „Lass deiner Mutter noch ein bisschen Zeit, bitte! Sie wird es dir erzählen, wenn es ihr…“ „Vergiss es! Ihr könnt mich doch nicht ewig hinhalten“, unterbrach Mimi ihn schroff. „Ich habe einen Halbbruder und weiß nichts über ihn! Ich weiß noch nicht mal, ob er überhaupt lebt!“ Sie schmeckte etwas Salziges an ihren Lippen. Ihre Augen waren weit aufgerissen und zeigten den puren Schmerz, die blanke Enttäuschung, die sie gegenüber ihren Eltern empfand. Noch nie im Leben hatte sie sich so hintergangen gefühlt wie in diesem Moment. Und niemand war in der Lage ihr eine anständige Antwort zu erteilen. Sie war doch kein kleines Mädchen mehr! Verdammt noch mal! Ihr Vater seufzte und fasste sich an die Stirn. „Dein Halbbruder wurde kurz nach der Geburt von einem Pärchen aus Osaka adoptiert. Es war eine geschlossene Adoption, weshalb deine Mutter auch nicht viel mehr weiß. Aber damals war es die beste Entscheidung für alle Beteiligten gewesen, glaub mir das“, versuchte er ihr zu erklären, doch Mimi konnte es nicht verstehen. Ihre Mutter würde doch nicht so ohne weiteres ein Baby weggeben! Das passte überhaupt nicht zu ihr! „Papa, ich will jetzt die ganze Wahrheit wissen! Mama hätte niemals ihren Sohn weggeben! So ist sie nicht und das weißt du auch!“ Betroffen senkte ihr Vater den Kopf und rang mit seinem Gewissen. Insgeheim wusste Mimi, dass sie ihn in eine missliche Lage brachte. Natürlich wollte sie auch die Sicht ihrer Mutter hören, aber sie konnte nicht mehr länger warten, weshalb sie ihn intensiv ansah, um ihm zu verstehen zu geben, dass sie ihm keine andere Wahl ließ. „Dein Großvater hatte die Adoption veranlasst“, gab er schweren Herzens zu. „Deine Mutter hätte deinen Bruder gerne behalten, aber das ging damals einfach nicht.“ Mimi schüttelte nur mit dem Kopf. Ihr Großvater sollte die Adoption veranlasst haben? Das dufte nicht wahr sein! Nein, ihr Vater suchte doch nur nach einem Schuldigen, den man nicht mehr belangen konnte. „Das glaube ich dir nicht! Ich war immer Opas größter Stolz gewesen! Das kann nicht wahr sein“, antwortete sie ungläubig, wandte den Blick von ihrem Vater und stand zügig von ihrem Bett auf. Sie konnte nicht mehr neben ihm sitzen. Sie hatte diese ganzen Lügen einfach nur satt. „Mimi ich sage dir aber die Wahrheit“, versicherte er ihr bestimmend. „Ach wirklich? Und warum soll er das gemacht haben?“, fragte sie gereizt und drehte sich ihm wieder zu. Er saß immer noch auf ihrem Bett und fixierte sie mit einem klaren Blick. „Weil dein Bruder taub geboren wurde!“ _ Sie hatte keine Ahnung, wie sie zu ihr gelangt war. Ihre Füße hatten sie einfach zu ihrer Haustür getragen, wo sie weinend zusammengebrochen war. Sie hatte es nicht länger ausgehalten zuhause zu bleiben, da ihr nach dem Geständnis ihres Vaters ihr die Decke auf den Kopf gefallen war. Es war ihr einfach zu viel, weshalb sie schluchzend einfach alles erzählte. Sie weinte erbärmlich, zitterte vor Wut und atmete unregelmäßig, sodass sie schon Angst hatte vor ihrer Freundin zu kollabieren. Doch sie wusste sofort, was zu tun war, breitete ohne zu zögern das Gästefuton in ihrem Zimmer aus und kochte zwei heiße Tassen Tee, bevor sie sich in ihrem Zimmer verzogen. Mimi hatte sich in eine dicke Decke gekuschelt und hielt die dampfende Tasse Pfefferminztee in ihren schwächlichen Händen, bevor sie die Tasse neben sich abstellte, da der Tee noch viel zu heiß zum Trinken war. Ihre Augen brannten und waren so sehr gereizt, dass sogar das Blinzeln schmerzte. „Und du bist sicher, dass ich hierbleiben kann“, fragte sie kaum hörbar, da sie Angst hatte ihr Umstände zu bereiten. Schließlich wollte sie ihre Freundin nicht in dieses ganze Drama mitreinziehen, aber sie wusste nicht wohin. Die einzige Person, die das gleiche Schicksal mit ihr teilte, lebte mit dem Feind zusammen, den Mimi in nächster Zeit lieber nicht begegnen wollte. „Ach, du hast doch schon öfter hier übernachtet und meine Mutter wird nichts dagegen haben. Sie ist noch im Blumenladen, weil spontan ein Auftrag reinkam, daher wird es eh spät bei ihr“, versicherte ihr Sora mit sanfter Stimme. „Ich kann verstehen, dass du jetzt erstmal Abstand brauchst.“ Mimi presste verbittert die Lippen aufeinander und konnte den Schmerz in ihrem Innern kaum begreifen. Sie fühlte sich einfach nur verloren, so als hätte sie ein Teil ihres Selbst verloren, den sie zuvor jedoch nicht kannte. Ihren Bruder. Er war ein Phantom, der sie die letzten Wochen begleitet hatte. Konnte man überhaupt einen Menschen vermissen, den man noch nicht mal kannte? Wieso fühlte sie dann diese klaffende Leere, die ihr jeglichen rationalen Gedanken nahm und ihre Wut gegen diejenigen schürte, die ihr diese Erfahrung genommen hatten? Einen Bruder zu haben. Die Wahrheit zu wissen. All das hatte ihren standfesten Untergrund erschüttert und eine tiefe Schlucht hervorgerufen, in die sie drohte zu stützen, wenn sie keiner auffing. Zu Taichi konnte sie ebenfalls nicht gehen, weil er sie belogen hatte und nicht ehrlich zu ihr sein konnte. Auch davon hatte sie Sora bereits erzählt, die ihr aufmerksam zuhörte und sie kein einziges Mal unterbrach, selbst wenn sie vor lauter Tränen selbst ins Stocken kam. Ohne eine weitere Reaktion von Mimi abzuwarten, stieg sie von ihrem Bett und legte die Arme behütend um sie, sodass ihre Fassade langsam zerbröckelte und ihr wahres verletztes Wesen zum Vorschein kam. „Ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll. Tai hat mich angelogen und meine Eltern ebenfalls! Sora…was soll ich nur tun?“, fragte sie verzweifelt und drückte ihr Gesicht gegen ihre Halsbeuge. Behutsam fuhr Sora über ihren Rücken und drückte sie fest an sich. „Ich weiß es leider auch nicht…“, flüsterte sie überfordert und Mimi bemerkte, was sie ihrer Freundin aufbürdete. Sie hatte genug mit sich selbst zu tun, vor allem wegen dem Baby! Und jetzt schüttete sie Sora mit ihren Problemen zu! „Es tut mir leid, dass ich dich da mitreinziehe“, sagte sie mit schwacher Stimme und löste sich von ihr. „Ach Mimi, sag doch sowas nicht! Ich bin für dich da, egal was auch passiert. Du kannst hierbleiben, bis du bereit bist mit deinen Eltern zu reden! Und Taichi kann sich wirklich was von mir anhören, wenn ich ihn beim nächsten Mal wiedersehe!“ Sie blies die Wangen auf und zog die Augenbrauen zusammen, sodass sich Mimi ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte. Manchmal waren Freunde genau das, was man in solchen aussichtslosen Situationen benötigte. Mimi wusste, dass die nächste Zeit sicher hart für sie werden würde, da sie sich auf einem unbestimmten Pfad befand, dessen Ziel sie nicht klar einordnen konnte. Doch mit Sora an ihrer Seite, wusste sie, dass sie alles überstehen würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)