Vergissmeinnicht von dattelpalme11 ================================================================================ Kapitel 35: Nichts als die Wahrheit ----------------------------------- ♥ Taichi ♥ Er murrte erschöpft, als die zarten Sonnenstrahlen seine Nase kitzelten. Schwerfällig blinzelte er gegen das Tageslicht und drückte seine flache Hand gegen sein müdes Gesicht. Langsam öffnete er seine braunen Augen, die sofort auf die leere Bettseite gerichtet waren. Überrascht setzte er sich langsam auf und sah sich in seinem Zimmer um. Es war leer und nichts erinnerte daran, dass sie die Nacht bei ihm verbracht hatte. Frustriert ballte die die Fäuste zusammen und spürte augenblicklich einen stechenden Schmerz durch seine Hand fahren. Er blickte auf seine verwundeten Handknöchel, die rot hervorstachen. Gedankenversunken fuhr er darüber und schwelgte in seinen Erinnerungen. Taichi hatte Mimi fürchterlich behandelt gehabt. Sogar als verwöhntes Einzelkind hatte er sie bezeichnet. Er wusste noch nicht mal, warum all diese hässlichen Worte förmlich aus seinem Mund hervorbrachen. Er war einfach nur so wütend gewesen. Wütend auf seinen Vater. Wütend auf sich selbst. Wütend, darauf, dass es andere vielleicht einfacher haben konnten als er. Und auch wenn er kein Mitleid wollte, suhlte er sich regelrecht darin. Als Herr Ichinose ihm gesagt hatte, dass das Stipendium für ihn gestorben sei, brannte eine Sicherung in ihm durch. Er hatte die Kontrolle verloren. Verfing sich immer mehr in den Tiefen der aussichtslosen Trostlosigkeit seines Lebens. Tai hatte seine Chance vertan, auch wenn ihn das Sportstipendium nie interessiert hatte. Zwar war Fußball ein wichtiges Hobby für ihn, dass ihm nicht nur Spaß machte und ihm einen körperlichen Ausgleich bescherte, aber er bemerkte auch, je Ernstes es um seine Zukunft wurde, desto mehr verlor er den Spaß an der geliebten Sportart, die er in der ersten Klasse begonnen hatte. Es war zu einer weiteren Last geworden. Einer Bürde, die er nur sehr halbherzig verfolgte. Er brauchte das Stipendium um einen abgesicherten Studienplatz zu erhalten, nicht um seinen Traum zu verfolgen. Lediglich war es ein Mittel zum Zweck. Eine Tatsache, die ihn eingeholt hatte. Und dann verhielt er sich auch noch so schäbig gegenüber der Frau, die er von Herzen liebte. Es war also kein Wunder, dass sie einfach so gegangen war. Es hatte ihn überhaupt gewundert, dass sie die Nacht mit ihm verbracht hatte, nachdem sie ihn völlig fertig in der Dusche vorgefunden hatte. Ihm war das Ganze mehr als nur unangenehm gewesen. Wie er nackt und hilflos in ihren Armen lag…hemmungslos weinte und sich selbst nicht mehr beruhigen konnte. Er konnte noch nicht mal sagen, wie lang er in ihren Armen gelegen und sich gegen den nassen Stoff ihres Pullis gedrückt hatte. Seine Fassade war endgültig zusammengebrochen. Er hatte es ihr erzählt. Er hatte ihr alles erzählt. _ Eine bedrückende Stille kehrte über ihnen ein als Mimi behutsam seine blutenden Handknöchel mit Desinfektionsmittel reinigen wollte. Sie träufelte etwas auf ein Wattepatt und fuhr vorsichtig über seine verletzte Hand als er einen beißenden Schmerz wahrnahm und schmerzvoll das Gesicht verzog. Er zog die Hand ruckartig an seinen Körper heran, bevor Mimi ihm einen mahnenden Blick zuwarf. „Jetzt halt schon still! Sonst kann ich dich nicht anständig behandeln“, ermahnte sie ihn streng und strich sich eine nasse Haarsträhne aus ihrem Gesicht. Tai betrachtete sie ausdruckslos und musterte nachdenklich das Shirt, dass er ihr geliehen hatte. Es war ihr deutlich zu groß und ging ihr bis knapp über die Knie. Ihre nassen Klamotten hatten sie auf dem Balkon zum Trocknen aufgehängt, während sie immer noch versuchte ihn zu verarzten. Für ihn war die Situation mehr als nur zu viel. Er fühlte sich unwohl in seiner eigenen Haut, spürte, dass er sich selbst verloren hatte und ein armseliges Häufchen Elend war, dass sich vor seinen eigenen Gefühlen einfach nur fürchtete. „Niemand hat dich darum gebeten mir zu helfen“, murmelte er starrsinnig und presste augenblicklich die Lippen aufeinander, da ihm seine Worte sofort leidtaten und er gar nicht genau beschreiben konnte, warum er so ätzend zu ihr war. Abrupt ließ Mimi ihn los, stellte das Desinfektionsmittel beiseite und schüttelte den Kopf. „Du bist einfach unverbesserlich…statt mit mir zu reden stößt du mich ständig von dir weg!“, erwiderte sie verletzt. Doch er fühlte sich in die Ecke gedrängt, weshalb er den Abstand suchte und aufstand. Er ging an ihr vorbei und atmete unruhig, während er seine verletzte Hand behutsam streichelte. Sein Herz schmerzte unaufhörlich, da er merkte, wie schwer es ihm fiel, die Wahrheit vor ihr zuzugeben. Taichi fühlte sich gefangen. Zwischen Verzweiflung und Hass. Liebe und Hoffnungslosigkeit. Schmerz und Freude. All das lag so nah beieinander, dass sie förmlich miteinander verschmolzen und eins ergaben. Auf der eine Seite spürte er den Hass, den er gegenüber seinem Vater und ihrer beschissenen Situation empfand. Anderseits fühlte er auch die blanke Verzweiflung, die in der Angst um seinen Vater mündete, der sich immer noch im Krankenhaus befand. Alles im Leben hatte zwei Seiten. „Vertraust du mir etwa nicht?“, fragte sie kaum hörbar, als er sich schmerzvoll auf die Unterlippe biss. Was sollte er nur tun? Tai hatte dieses Geheimnis schon so lange vor seinen Freunden verborgen. Er schämte sich. Er schämte sich, die Wahrheit zuzugeben. Zu sagen, dass sein Vater ein Problem hatte. Zuzugeben, dass seine Familie in finanziellen Schwierigkeiten steckte. Den Tatsachen ins Auge zu blicken, dass er seine wichtigste Chance vertan hatte. Ein dicker Kloß bildete sich in seinem Hals und ein deutliches Brennen breitete sich in seinen Augen aus. Er versuchte seine Zweifel hinunter zu schlucken, doch seine Augen füllten sich mit Tränen. Er blinzelte angestrengt und presste die Lippen so fest aufeinander, dass es bereits wehtat, doch je mehr er sich bemühte nicht zu weinen, desto schwerer fiel es ihm. „Du verstehst das nicht…Niemand versteht mich“, kam krächzend über seine Lippen. „Taichi…du…kannst doch mit mir reden. Ich weiß, dass das mit deinem Vater sicher ein Schock gewesen ist, aber ich bin mir sicher, dass er wieder auf die Beine kommen wird.“ Er zuckte zusammen, wandte ihr aber immer noch den Rücken zu. Seine Muskeln spannten sich an und die Wut kroch seinen Hals hinauf. „Du hast doch überhaupt keine Ahnung…“, brachte er hervor und wandte sich ihr wieder zu. Sie war mittlerweile von dem Küchenstuhl aufgestanden und musterte ihn besorgt. Doch er war blind. Blind vor Wut. „Mein Vater ist weit davon entfernt wieder auf die Beine zu kommen. Wahrscheinlich wird es nicht lange dauern, bis er wieder abstützt und uns erneut Kummer bereitet“, erwiderte er erbost und verzog die Augen zu Schlitzen. „Also tut ja nicht so, als würdest du meine Situation verstehen. Denn das kannst du nicht! Du hast alles, was man sich im Leben wünschen kann und brauchst dir um nichts Sorgen zu machen…eigentlich ist dein Leben ziemlich perfekt.“ Er lachte hysterisch, während sich Mimis Gesichtsausdruck versteinerte. „Perfekt?“, wiederholte sie fassungslos. „Erinnerst du dich nicht daran, was ich dir vorhin erzählt habe?! Mein Leben ist vieles aber ganz sicher nicht perfekt“, brüllte sie wütend und ballte ihre Hände zu Fäusten. Doch er konnte nicht aufhören. Er versuchte sich zu beherrschen, aber sah nur seine mitleidige Situation, die niemand besser machen konnte. „Deine Eltern würden doch alles für dich tun. Sie unterstützen dich bei jeder Kleinigkeit. Egal welchen Unsinn du dir auch in den Kopf gesetzt hast. Sie stehen hinter dir…besonders dein Vater“, warf er ihr mit scharfer Stimme vor. Ängstlich schritt Mimi ein paar Schritte zurück und stieß mit den Küchenthesen zusammen, während Taichi ihr immer näherkam. „Er würde sicher alles für dich tun und nicht das komplette Geld wegsaufen und in seinem elendigen Selbstmitleid versinken!“ Seine Stimme überschlug als er schluckte und jenen Satz aussprach, vor dem er sich die ganze Zeit gefürchtet hatte. „Er würde…er würde dich niemals gegen die Garderobe schubsen und zu dir sagen, dass ihm sämtlicher Alkohol wichtiger ist und deine Schwester und du nur eine finanzielle Belastung sind…“, er brach abrupt ab, während Mimis Augen weit aufgerissen waren. Er spürte wie die Nässe seine Wangen hinunter wanderte, seine Knie plötzlich nachgaben und er zusammensackte. Hilflos schlug er die Hände vor dem Gesicht zusammen und schluchzte hemmungslos, als ihn die unbändige Gewissheit traf, was er Mimi da geradegestanden hatte. Sein Körper verkrampfte sich, doch er traute sich nicht sie anzusehen, da er ihre mitleidigen Blicke nicht länger ertragen konnte. Bestimmt konnte auch sie nun eins und eins zusammenzählen. Seine Verletzung, über die er nicht reden wollte. Seine Verbissenheit, bezüglich des Stipendiums. Alles hatte nur einen Grund. Einen Grund, den er vor seinen Freunden am liebsten verbergen wollte. Doch dann bemerkte er, wie sie sich ihm näherte. Irritiert blickte er zu ihr, sah das sie ebenfalls auf die Knie gegangen war und die Arme um ihn schlang. In ihren Augen glitzerten ihre aufkommenden Tränen als sie die Arme um seinen Hals schlang und die Lippen behutsam auf seine legte. Es war kein leidenschaftlicher Kuss, aber dennoch so viel mehr. Ihre liebevolle Geste erreichte sein schmerzendes Herz, sodass er jedes einzelne Wort, dass er zu ihr gesagt hatte, auf der Stelle zurücknehmen wollte. Langsam löste sie sich von ihm und sah ihm in seine qualvoll wirkenden Augen. Ihr Blick war unergründlich, aber zeichnete sich durch eine unglaubliche Wärme aus, die ihn zu tiefst berührte. „Du bist nicht allein, hörst du?“, löste sich schwerfällig von ihren zarten Lippen, bevor sie ihm sanft durch das Gesicht streichelte. Er nickte nur verhalten, da es ihm die Sprache komplett verschlagen hatte. Wieder fand er in ihren Armen halt. Den Halt, den er zum Leben brauchte. _ Schwerfällig stieg er aus seinem Bett und schritt niedergeschlagen durch sein Zimmer. Hatte er ihr zu viel erzählt? War sie deswegen gleich am Morgen verschwunden? War sie die Nacht nur aus Mitleid bei ihm geblieben? Viele dieser Gedanken schwirrten ihm in diesem Augenblick durch den Kopf. Er hatte sich Mimi offenbart. Ihr seine verletzliche Seite gezeigt und sie in seine familiären Probleme eingeweiht, die er eigentlich niemandem verraten wollte. Hatte er ihr zu viel zugemutet? Bedächtig öffnete er seine Zimmertür als ihm ein zarter Geruch von Speck und Eiern entgegenkam. Verwirrt runzelte er die Stirn, ehe sein Blick zum Balkon wanderte. Zu seinem Erstaunen befanden sich Mimis Sachen immer noch da, was sein Herz zum Höherschlagen brachte. Rasch begab er sich in die Küche und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als er sie tatsächlich am Herd vorfand. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt und ihre langen Haare zu einem unordentlichen Zopf zusammengebunden, während sie immer noch sein T-Shirt von gestern Abend trug. Auf leisen Sohlen schlich er sich an sie heran. Sie schien sich völlig auf das Essen zu konzentrieren, weshalb er sich unbeirrt an sie heranschlich und sachte die Arme um ihren zierlichen Körper schmiegte. Er legte sofort seine Lippen auf ihren Hals als Mimi direkt zu Kichern begann und sich versuchte aus seinem Griff zu wenden. „Taichi, das kitzelt“, gab sie lachend zu und schaffte es sich zu ihm zu drehen. Doch er schenkte ihr nur ein schelmisches Lächeln, bevor er erneut seine Lippen mit ihren versiegelte. „Du hältst mich vom Kochen ab“, murmelte sie gegen seine Lippen. „Ich hätte nicht gedacht, dass du mal für mich kochen würdest. Ich dachte du willst nicht meine persönliche Köchin sein“, neckte er sie spielerisch. Sie gab ihm einen kurzen Kuss und schmiegte sich an sein Shirt. „Ich bin eben für Gleichberechtigung, aber du hast ja auch schon was für mich gekocht, also darf ich das doch auch.“ Sie fuhr ihm verträumt durch die Haare, als er sie plötzlich anhob und auf der Arbeitsplatte neben dem Herd platzierte. Überrascht blickte Mimi ihn an, doch bevor sie etwas sagen konnte, hatte er seine Lippen wieder auf ihre gedrückt und versank in einem leidenschaftlichen Kuss, der nicht nur ihm den Atem raubte. Mimi schlang die Beine hinter seinem Rücken zusammen, sodass er ihr noch näherkommen konnte, während Taichi ihre freigelegten Oberschenkel entlangfuhr. Sie klammerte sich um seinen Nacken und seufzte leise in ihren Kuss, der sämtliche Zeit an ihren Vorbeiziehen ließ. Es fühlte sich unendlich an, doch Tai konnte sich gar nicht von ihr lösen, da sein Herz so sehr nach ihr verlangte. Doch sie löste sich langsam von ihm und drückte ihre Stirn gegen seine. „Danke, dass du gestern so ehrlich zu mir warst. Ich weiß, dass dir das sehr schwergefallen sein muss“, antwortete sie mit verhangener Stimme. Er benetzte mit seiner feuchten Zunge seine trockenen Lippen, als sein schlechtes Gewissen bei ihm Sturm klingelte. Er hatte sie wirklich fürchterlich behandelt und dachte schon, dass er sie damit vergrault hätte. Doch sie war immer noch da, schenkte ihm Geborgenheit und Liebe, die er zuvor noch nie in dieser Intensivität gespürt hatte. Zärtlich ergriff er ihre Hand und verschränkte sie mit seiner. Er hob sie sachte an und gab ihr einen kurzen Kuss auf die Handfläche bevor er ihr wieder in die Augen sah. „Es tut mir leid, wie ich dich gestern behandelt habe. Ich weiß, dass du es nur gut mit mir gemeint hast, a-aber ich…mir wurde alles zu viel. Ich war echt ein Arschloch“, stammelte er schuldbewusst. Ein sanftes Lächeln legte sich auf Mimis Lippen, als sie seinen Kopf zaghaft anhob. „Ein Arschloch warst du wirklich“, sagte sie unerschrocken. „Aber ich denke, es ist dir auch alles nicht sonderlich leichtgefallen. Deswegen bin ich froh, dass du dich mir anvertraut hast.“ „Also bist du mir nicht böse?“, fragte er ein wenig überrascht. Mimi schüttelte nur mit dem Kopf und streichelte ihm sanft über seine Wange. „Ich glaube, dass wäre ich wohl eine ziemlich schlechte Freundin, wenn ich deine Lage nicht verstehen würde, oder?“ Sein Herz schlug ihm auf einmal bis zum Hals. Freundin? Was meinte sie damit nur? Freundin im Sinne von einer Beziehung oder eine rein platonische Bindung? Er zupfte mit seiner freien Hand nervös an ihrem Shirt, während diese Frage ihn einfach nicht lockerließ. Sie waren sich gestern Abend so nah gewesen, wie schon lange nicht mehr, dass er nur noch einen Gedanken hegte. Es endlich offiziell zu machen. „Meinst du mit Freundin, ‚eine‘ Freundin oder ‚meine‘ Freundin?“, fragte er unsicher und spürte wie seine Wangen zu glühen begannen. „W-Was?“ „Naja…ich…“ „Ich habe dich schon verstanden“, erwiderte sie liebevoll. „Aber mit dieser Frage habe ich jetzt so gar nicht gerechnet“, gab sie offen zu. Taichi verzog ein wenig das Gesicht und spürte wie sich sein Puls beschleunigte, wenn er ihr in ihre hellbrauen Augen sah. „Ich…naja, ich würde es schön finden, wenn es offiziell wäre. So richtig, dass es eben jeder weiß. Aber ich möchte dich auch zu nichts…“ Weiter kam er nicht, als Mimi die Hände um sein Gesicht legte und ihm einen euphorischen Kuss auf die Lippen drückte. Er erwiderte ihn sofort, drückte sich noch näher an sie heran, während ihre Antwort eindeutig schien. Sanft strich sie mit der Zunge zwischen seine Lippen und begegnete seiner mit purer Vorfreude, als sie sich einem zärtlichen Tanz hingaben, der ihnen ihre Sinne vernebelte. Sie bemerkten noch nicht mal, den angebrannten Geruch, der durch die Küche zog, geschweige denn, wie sich die Haustür öffnete. Es gab nur die beiden, in einem einmaligen Moment der Glückseligkeit. Er zog sie noch dichter an sich heran, als er plötzlich seinen Namen hörte. „Taichi? Was stinkt denn hier so?“, hörte er seine Mutter fragen und löste sich abrupt von Mimi, die sofort von der Arbeitsplatte sprang und zum Herd blickte. „Oh Scheiße“, fluchte sie leise und drückte Tai beiseite, doch das Rührei war ihr bereits angebrannt. Seine Mutter trat einen Moment später in die Küche und blickte in das verdutzte Gesicht ihres Sohnes, der sich ganz nervös am Kopf kratzte und insgeheim hoffte, dass sie nicht irgendwelche Fragen stellte. „Hab‘ ich euch beide bei irgendwas gestört?“, fragte sie übermüdet, konnte aber nicht verhindern, dass sich ein leichtes Lächeln auf ihre Lippen schlich. „W-Was? Natürlich nicht…Mimi ist nur das Ei angebrannt“, entkräftete Taichi mit einem nervösen Unterton und lachte auffällig. Es wunderte ihn, dass sie ihn nicht gefragt hatte, warum Mimi überhaupt hier war, aber anscheinend sprach sein zerknittertes Shirt und die zerzausten Haare Bände. „Ich werde mich jetzt noch ein bisschen hinlegen“, antwortete sie wissend und gab Taichi einen unmissverständlichen Blick, der unangenehm auf seiner Haut brannte. Kurz nachdem sie das Zimmer verlassen hatte, atmete Taichi erleichtert aus und blickte zu Mimi, peinlich berührt den Kopf gesenkt hatte. „Oh Gott, sie hat doch nicht etwa mitbekommen, dass wir auf ihrer Arbeitsplatte rumgeknutscht haben, oder?“ „Naja, so oft benutzt sie sie ja nicht“, konterte er sofort und kassierte von Mimi einen Stoß in die Rippen. „Sei nicht so gemein, schließlich sprechen wir immerhin über deine Mutter“, ermahnte sie ihn und stocherte niedergeschlagen in ihrem angebrannten Rührei herum. „Das ihr Frauen immer zusammenhalten müsst. Echt furchtbar!“, grummelte er, konnte sich aber nicht nehmen lassen, sie erneut an seine Brust zu drücken. „Naja, irgendwer muss sich doch gegen dich verschwören oder?“, kicherte sie, während er die Arme um ihren Bauch schmiegte und ihr einen zärtlichen Kuss auf die Schläfe gab. _ Nach dem gemeinsamen Frühstück war Taichi ins Krankenhaus gefahren, um seine Schwester abzulösen, da sie sich immer noch mit Takeru dort befand, um die Stellung zu halten. Mimi wollte später nachkommen, da sie sich erstmal frische Sachen von Zuhause besorgen wollte. Taichi hatte ein ganz mulmiges Gefühl alleine hinzufahren, aber er war es seiner Schwester schuldig, die er völlig übermüdet im Wartebereich angetroffen hatte. Zwar weigerte sie sich zuerst, dass Krankenhaus zu verlassen, doch gemeinsam mit Takerus Hilfe schaffte er es, sie dennoch zu überzeugen ein bisschen Schlaf nachzuholen. Nachdem Takeru gemeinsam mit Hikari das Krankenhaus verlassen hatte, begab sich Taichi in das Zimmer seines Vaters. Auch wenn er sich mittlerweile wieder auf der normalen Station befand und die Klinik in absehbarer Zeit verlassen konnte, fühlte sich Taichi sichtlich unwohl. Ein nervöses Kribbeln zog durch seine Magengegend, da er es meist immer noch nicht alleine mit ihm in einem Raum aushielt, ohne angstvoll zu erstarren. Doch diesmal schlief er seelenruhig, hatte den Kopf zur Seite geneigt und atmete bedächtig ein und wieder aus. Taichi blieb mitten im Raum stehen und rührte sich nicht. Er traute sich nicht näher heranzugehen und beobachtete ihn aus der Ferne. Ganze fünfzehn Minuten stand er einfach so da, ohne sich zu rühren. Unzählige Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Gedanken, die er kaum sortierten konnte. Sollte er sich etwa neben ihn setzten und warten bis er aufwachte? Sollte er endlich ein Gespräch mit ihm suchen? Ihm sagen, wie er die letzten Wochen und Monate empfunden hatte? Sein Herz klopfte unkontrolliert gegen seine Brust, während allein schon die Gedanken an eine mögliche Aussprache die pure Panik in ihm auslösten. Er presste die Lippen aufeinander, als er es einfach nicht mehr aushielt und abrupt das Zimmer verlassen musste. Er öffnete hektisch die Tür, wandte einen kurzen Blick über die Schulter, um festzustellen, dass sein Vater immer noch schlief. Danach trat er auf den Flur, schloss die Augen und drückte sich schwerfällig gegen seine Zimmertür. Ein leiser Seufzer löste sich von seinen Lippen, als er erkannte, wie feige er doch eigentlich war. Er traute sich noch nicht mal mit ihm darüber zu reden, auch wenn er ganz genau wusste, dass er es endlich aus der Welt schaffen musste, um einen möglichen Neuanfang zu wagen. Stöhnend ging er auf die großen Fenster zu, die zum Innenhof führten und fuhr sich kraftlos durch die Haare, als er plötzlich seinen eigenen Namen vernahm. Ruckartig drehte er sich herum und sah in zwei blaue Augenpaare, die sein Herz ganz schwer werden ließ. „Yamato? Was machst du denn hier?“ _ „Verstehe, deswegen ist er also ins Krankenhaus gekommen“, erwiderte sein bester Freund mit verhangener Stimme und beugte sich vorne über. Sie hatten sich draußen auf einer Bank niedergelassen und Taichi hatte ihm die schmerzliche Wahrheit erzählt. Es war ihm bereits viel leichter gefallen, weil er zuvor mit Mimi darüber geredet hatte, aber dennoch schämte er sich für seine Situation. „Warum hast du nicht eher etwas gesagt? Wir hätten dir doch geholfen“, untermauerte Yamato seine Ansicht mit einem deutlichen und tiefgreifenden Blick, den Taichi völlig aus dem Konzept brachte. „Was hätte ich denn deiner Meinung nach sagen sollen? ‚Hey mein Vater ist Alkoholiker und ich bewerbe mich nur für das Stipendium, weil ich das Geld brauche? Komm, lass uns eine Kleinigkeit essen gehen!‘ Alles hat total bescheuert geklungen u-und ich…“ Seine Stimme brach ab, während die blanke Verbitterung seinen Hals empor wanderte. Ihm fiel es immer noch schwer darüber zu sprechen. Es war ihm gut gelungen, diese zerbrechliche Seite vor seinen Freunden geheim zu halten. Aber er spürte auch, wie ihm alles nach und nach entglitten war. „Taichi…wir sind doch deine besten Freunde! Natürlich wären wir für dich da gewesen. So wie du immer für uns dagewesen bist. Ich glaube nicht, dass ich es ohne dich hinbekommen hätte, dass Sora mir jemals mehr verzeiht“, antwortete Yamato eindringlich. Taichi legte den Kopf schräg als ihm plötzlich auffiel, dass Yamato keinerlei Blessuren von dem Wochenende in Kyoto davongetragen hatte. In seinem Gesicht erkannte er dieses Strahlen, so als wäre er komplett mit sich im Reinen. „Anscheinend ist es ja mit euren Eltern gut gelaufen“, stellte Taichi grinsend fest. „Was heißt gut gelaufen?“, hinterfragte Yamato lachend. „Sauer waren sie schon gewesen, aber immerhin hat mir Soras Vater keine reingeschlagen.“ „Ich habe dir doch gesagt, dass er seinem zukünftigen Schwiegersohn niemals eine verpassen würde“, grinste Taichi, während sich Yamato auf der Bank austreckte. „Naja, ich glaube der Vorteil an der ganzen Sache ist, dass wir von vornerein gesagt haben, dass wir zusammenhalten wollten. Sora möchte ihr Studium ein Jahr später beginnen, um voll und ganz für das Baby da zu sein und ich suche mir nach dem Abschluss eine Ausbildung, damit wir unseren Lebensunterhalt zeitnah auch alleine bestreiten können. Natürlich haben unsere Eltern ihre Unterstützung zugesagt, aber wir wollen ja nicht ewig auf ihrer Tasche liegen.“ Er beendete seinen kurzen Monolog, als Taichi überrascht eine Augenbraue hob. „Okay? Und was wird aus der Band? Ich dachte du wolltest immer noch bei diesem Musikwettbewerb mitmachen, um berühmt zu werden?“ Ein dumpfes Lachen erklang, was Taichi jedoch noch mehr verwirrte. Vielleicht hatte das Wochenende seinen besten Freund mehr geschädigt, als er eigentlich zugeben wollte… „Berühmt werden…ich glaube, das ist der Knackpunkt an der ganzen Sache.“ „Der Knackpunkt?“, wiederholte Taichi langgezogen. „Ja, mir ging es schon lange nicht mehr um die Musik. Ich wollte einfach nur berühmt werden. Egal unter welchem Preis. Erst als Kaori zu uns in die Band kam, habe ich gemerkt, dass der leidenschaftliche Musiker, der aus vollem Herzen spielt schon lange nicht mehr existiert. I-Ich habe mein Ziel komplett verloren und es erst wiedergefunden, als Sora mir von dem Baby erzählt hatte.“ „Okay…wie meinst du das denn?“, fragte er vollends verwirrt, da sein bester Freund für ihn in Rätseln sprach. „Naja, manchmal bemerkt man erst was wichtig ist, wenn sich alles verändert. Als ich den Song für Sora und mein Baby gesungen hatte, wusste ich, dass die Musik für mich nur zweitrangig ist und ich beide nicht verlieren konnte. Ich bin zwar verkorkst, was Familienangelegenheiten anbelangt, aber sie ist meine Konstante im Leben. Die Person, die mir den Halt gibt, den ich brauche“, sagte er sanft und lächelte leicht vor sich hin. Vollkommen überrascht sah er zu seinem besten Freund und realisierte die Wirkung seiner Worte nur sehr langsam. Er klang so erwachsen und vollkommen verändert, dass Taichi erst einmal schlucken musste. „Wow, das klingt selbst für dich ziemlich kitschig, aber es freut mich, dass ihr alles klären konntet“, antwortete Taichi matt, während Yamato überlegen grinste und sich ihm gänzlich zuwandte. „Ach komm tu nicht so unschuldig. Drei Mal darfst du raten, wem wir in die Arme gelaufen sind und bei wem ich Sora geparkt habe“, er rümpfte triumphierend die Nase. „Geparkt? Seit wann ist Sora ein Auto?“, lachte er unbeholfen, konnte aber nicht verbergen, dass ihn die Tatsache mit Mimi unglaublich glücklich machte. Sie war also hier, um ihn zu unterstützen. Dabei waren sie noch nicht mal eine Stunde getrennt gewesen. „Anscheinend hat es ja jetzt endlich geklappt. Ich habe sie schon lange nicht mehr so strahlen gesehen.“ Sein Lächeln versiegte, als er die Handflächen unsicher aneinander rieb. „Und das obwohl ich so ätzend zu ihr war“, murmelte der halblaut. „Ich raff gar nicht warum sie überhaupt bei mir geblieben ist. Ich war wegen meinem Vater so durch den Wind gewesen und habe sie echt arschig behandelt.“ „Ich denke, unsere Mädels können sowas eher verzeihen als wir. Du hattest eine furchtbare Zeit und niemandem etwas gesagt. Ich glaube, dass sie das auch weiß und außerdem…“ Taichi hob den Kopf an und musterte seinen besten Freund fragend. „Außerdem?“ „Ich denke, wenn man jemanden liebt, ist man auch bereiter dieser Person zu verzeihen. Und ihr beide…ich glaube, sowohl dir als auch ihr ist bewusst, was ihr füreinander empfindet. Ihr traut es nur nicht auszusprechen.“ Taichis Herz setzte aus, ehe ihn die Wucht seiner Worte traf. Er war eine sehr lange Zeit feige gewesen. War vor seinen Gefühlen weggelaufen und hatte sie hinter einer massiven Mauer verborgen. Heute waren sie ein ganzes Stückchen weitergekommen, indem sie einen Teil ihrer Gefühle zuließen. Es würde sicher nicht leicht werden. Nein. Es standen viele Veränderungen bevor. Veränderungen, die er jedoch nicht alleine meistern musste. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)