Vergissmeinnicht von dattelpalme11 ================================================================================ Kapitel 34: An deiner Seite --------------------------- ♥ Mimi ♥ Ein lautes Vibrieren riss sie aus ihrem wohlverdienten Schlaf. Ein leises Murren löste sich von ihren Lippen, als sie ihr schläfriges Gesicht in ihr Kopfkissen drückte und blind versuchte ihr Handy zu erstasten. Sie fuhr ihren Nachtisch entlang und griff nach ihrem Mobiltelefon, dass hell aufleuchtete. Mimi kniff die Lider zusammen, da das grelle Display regelrecht in ihren Augen wehtat. Sie blinzelte mehrmals, um zu erkennen, wer sie zu so später Stunde störte. Schließlich hatte sie ja bereits geschlafen, auch wenn sie gar nicht wusste, wie spät es wirklich war. Der Name verschwamm jedoch vor ihren Augen, weshalb sie einfach abnahm und ein müdes „Hallo“ ins Telefon wisperte. Eine aufgeregte Stimme war am anderen Ende zu hören. Erst dachte sie es wäre Yamato, aber er befand sich mit Sora in Kyoto, weshalb es nur die Stimme von Takeru sein konnte. Die beiden Brüder klangen am Telefon sehr ähnlich und als Mimi einen kurzen Blick auf ihr Display wagte, erkannte sie schließlich, dass sie mit ihrer Vermutung recht hatte. Doch was wollte er nur von ihr? Sie sah kurz auf ihren Wecker und stellte fest, dass es kurz vor eins war. „Was ist denn los? Ich habe schon geschlafen“, grummelte sie, während Takeru immer noch nach seinen Worten rang. Mimi wurde schon leicht ungeduldig und überlegte, ob sie nicht einfach auflegen sollte. Bestimmt handelte es sich hier nur um einen dummen Scherz, auf den sie sich ganz sicher nicht einlassen wollte. Sie hatte schon den Finger auf den roten Hörer gelegt und wollte gerade das Gespräch beenden, als er seine Worte wiedererlangte. „Du musst ins Krankenhaus kommen…ich wusste nicht, wen ich sonst anrufen sollte. Ich habe es schon bei Yamato durchprobiert, aber die Handys sind aus und sie sind auch viel zu weit weg“, erklärte er ihr mit schwacher Stimme. Ihr Herz begann zu rasen, als ihr ins Gedächtnis gerufen wurde, dass Takeru das Wochenende bei Taichi und Hikari verbrachte. „Was ist passiert?“, fragte sie mit fester Stimme und hatte schon Angst, dass sich Taichi so kurz vor seinem wichtigen Spiel verletzt haben könnte. Doch warum rief Takeru erst jetzt an? Es musste irgendetwas anders passiert sein. Er klang besorgt, sodass Mimi wusste, dass es sich um keine Kleinigkeit handeln konnte. „Man Takeru, jetzt spuck‘ es schon aus!“, knurrte sie gereizt und hatte Schwierigkeiten ihre eigenen Gefühle zu kontrollieren. Warum konnte er ihr nicht sagen, was los war? Die Unsicherheit, aber auch ihre Wut stieg ins Unermessliche, ehe sich Takeru endlich wieder zu Wort meldete. „Ich weiß selbst nicht, was passiert ist“, antwortete er verzweifelt. „Er lag einfach am Boden und hat am ganzen Körper gezittert…“ Mimis Augen weiteten sich und sie setzte sich auf. „Von wem sprichst du? Von Tai?“, hakte sie angsterfüllt nach und wollte sich gar nicht vorstellen, was passiert war. Ihr Puls beschleunigte sich und ihr Hals schnürte sich zu, sodass ihr das Atmen immer schwerer fiel. „Nein, sein Vater…er ist einfach zusammengebrochen“, eröffnete er ihr schwerfällig. Ein seltsames Gefühl breitete sich in ihrer Magengegend aus. Einerseits war sie erleichtert, dass es sich nicht um Taichi handelte. Andererseits… „Er braucht dich Mimi…“, hauchte Takeru ins Telefon, bevor sich ein Schalter in ihr umlegte und sie sich sofort aus ihrem Bett erhob. „Ich bin in zwanzig Minuten da…“, versprach sie ihm, ehe sie direkt danach auflegte und zu ihrem Kleiderschrank huschte, um sich umzuziehen. Tai brauchte sie. Und sie wollte für ihn da sein. _ Abgehetzt lief sie den langen Krankenhausflur entlang und sah sich achtsam um. Sie war lediglich in eine Jogginghose und einen rosanen Kapuzenpulli geschlüpft, bevor sie ihren Vater aus dem Bett geworfen hatte. Er war zwar nicht sonderlich begeistert gewesen, sie zum Krankhaus zu fahren, doch er verstand die Dringlichkeit hinter ihrer Bitte. Er hatte sie direkt vor dem Eingang abgesetzt, wollte sogar auf sie warten, doch Mimi hatte ihm klar gemacht, dass es länger dauern würde. Sie hatten sich daher darauf geeinigt, dass Mimi ihn anrief, sobald sie abgeholt werden wollte, allerdings ahnte Mimi bereits Schlimmes. Takeru klang am Telefon so aufgelöst, sodass sie die Lage als sehr besorgniserregend einschätzte. Ohne stehen zu bleiben, lief sie stur geradeaus. Ein klares Ziel hatte sie nicht vor Augen. Obwohl der Wartebereich sehr überschaubar war, konnte sie ihre Freunde nirgends entdecken. Verzweifelt fuhr sie sich durch ihre Haare, drehte sich einmal um ihre eigene Achse, als ihr plötzlich ein Mädchen ins Auge sprang, dass vor dem Getränkeautomaten stand und sich gerade eine Cola zog. Zielstrebig steuerte sie auf sie zu, erkannte aber bereits aus weiter Entfernung, dass sie sich getäuscht hatte. Die junge Frau sah auf und entfernte sich von dem Automaten, während Mimi verzweifelt zurückblieb. Wo sollte sie denn noch suchen? Sollte sie Takeru anrufen? Es war wohl die einzige Möglichkeit. Beharrlich kramte sie ihr Handy hervor und suchte nach seiner Nummer, als sie auf einmal ihren Namen vernahm. Sie drehte sich ruckartig herum und sah in die glasigen Augen ihrer Freundin, die wie ein Häufchen Elend vor ihr stand. Ihr Gesicht war völlig verquollen und ihre Haare standen unordentlich zu Berge, bevor sie Schutz in Mimi Armen suchte und sich fest gegen sie drückte. „Ich bin so froh, dass du gekommen bist“, schluchzte sie herzzerreißend und klammerte sich zitternd an ihr fest. Behutsam strich Mimi über ihren braunen Haarschopf und versuchte sie zu beruhigen, was alles andere als einfach war. Sie weinte hemmungslos und ließ ihren Gefühlen freien Lauf, während sich Mimi sichtlich überfordert fühlte. Was sollte sie nur sagen? Dass alles wieder gut werden würde? Sie wusste ja noch nicht mal was geschehen war… „Kari, was ist denn nur passiert?“, fragte sie leise, in der Hoffnung, dass sie es ihr erzählen würde. Doch sie weinte nur noch mehr. Ihre Stimme versank im Nebel ihrer Tränen, die auf ihren Kapuzenpulli tropften. Mimi wusste sich wirklich nicht zu helfen, weshalb sie einfach nur dastand und ihre Freundin in den Armen hielt. Manchmal halfen Worte nichts, da sie den Schmerz nicht lindern konnten, sondern sogar verschlimmerten Eine Umarmung, die von Herzen kam, konnte jedoch den Heilungsprozess beschleunigen und die Kraft der Hoffnung spenden, die man in solchen Momenten am meisten benötigte. _ Gemeinsam mit Kari war Mimi zum Wartebereich der Intensivstation gegangen, die sich im hinteren Teil des Krankenhauses befand. Als sie dort ankamen, fanden sie lediglich Takeru vor, der zusammengekauert auf einem der unzähligen Stühle saß. Von Taichi fehlte jegliche Spur, was besonders Kari unruhig werden ließ. Sie steuerte umgehend auf Takeru zu, der sofort aufsprang, als er die beiden erspäht hatte. „Wo ist Tai hin?“, fragte Kari sofort und fixierte ihren besten Freund mit einem ängstlichen Blick. „Keine Sorge, er ist sich nur mal kurz die Beine vertreten gegangen. Und deine Mutter ist immer noch drinnen“, informierte er sie behutsam und streichelte ihr sachte über ihre Arme, die kraftlos neben ihrem Körper baumelten. Kari fuhr sich verzweifelt durch die Haare und murmelte etwas Unvollständiges vor sich hin, als sie in Takerus Armen Schutz suchte. Sie drückte ihr Gesicht gegen seine Brust, während Mimi etwas abseitsstand und die beiden Freunde beobachtete. Wehmütig zog sich ihr Herz zusammen und sie richtete den Blick auf den Krankenhausfuhr, der wie leergefegt wirkte. Die Zeit schien förmlich stillzustehen und jede Minute die verging, fühlte sich wie unzählige Stunden an, in denen Mimi Taichi am liebsten an ihrer Seite wissen wollte. Kari hatte ihr nur das Notwendigste erzählt, weil auch sie sich den plötzlichen Zusammenbruch ihres Vaters einfach nicht erklären konnte. Als sie im Krankenhaus ankamen, wurde auch bereits ihre Mutter informiert, die sich schon seit über einer halben Stunde auf der Intensivstation befand und nach einem Arzt suchte, der ihr eine Auskunft geben konnte. Vor zehn Minuten wurde sie zum Gespräch gerufen und war bisher noch nicht wieder zurückgekehrt, was bedeutete, dass sie weiterhin warten mussten. Eher wiederwillig setzte sich Mimi gemeinsam mit Takeru und Hikari auf die Bänke. Die Krankenhauswände waren in einem tristen Weiß gehalten, was in Mimi eine innere Leere aufkommen ließ, die sich gar nicht wirklich erklären konnte. Sie fühlte sich wie gefangen, unfähig die richtigen Worte für diese Situation zu finden. Während Takeru Hikari ein beruhigendes Mantra zuflüsterte und zärtlich ihren Kopf streichelte, wurde Mimi immer nervöser. Wie sollte sie nur auf Taichi reagieren? Bei seiner Schwester war es ihr schon schwergefallen, die Fassung zu wahren, wie sollte das bei ihm funktionieren? Angespannt knabberte sie auf ihrer Unterlippe und war ganz in ihren Gedanken versunken, bevor Kari sich plötzlich etwas erhob und sich aus dem lockeren Griff von Takeru befreite. Mimi schnellte mit dem Kopf ebenfalls zur Seite und erstarrte, als sie in seine trüben Augen sah. Diesen Blick hatte sie noch nie bei ihm gesehen gehabt. Er war schmerzverzerrt und mündete in unendlicher Traurigkeit, bei der Mimi regelrecht das Herz zerbrach. Er blieb wie angewurzelt stehen, war gefangen in der Hülle der Hilflosigkeit, die er wie eine Mauer, um sich selbst errichtet hatte. Es gab kein vor und zurück. Es herrschte Stillstand. Doch Mimi wusste, dass sie handeln musste. Deswegen stand sie einfach auf und ging auf ihn zu. Er hatte sie fest im Blick, während sie langsam auf ihn zusteuerte und sämtliche störende Gedanken beiseiteschob und einfach die Arme um ihn legte. Sie drückte ihn so fest sie konnte, um ihm zu signalisieren, dass sie für ihn da war und an seiner Seite bleiben würde. Doch er ließ es einfach über sich ergehen, erwiderte ihre Umarmung noch nicht mal, weshalb sie nach kurzer Zeit wieder losließ. Sie zwang sich zum Lächeln, da sie nicht zeigen wollte, dass seine abweisende Haltung sie verletzte. Sie konnte ihn ja verstehen. Bestimmt war ihm alles andere als nach Körpernähe! Alles stand Kopf und die Ungewissheit war allgegenwärtig. „Wollen wir uns nicht hinsetzen?“, fragte Mimi vorsichtig und wollte seine Hand ergreifen, die er jedoch sofort verkrampfte. Verbissen schüttelte er mit dem Kopf und lehnte sich gegen die kühl wirkende Wand des Flures. Mimi schnaufte nur, blieb aber in seiner Nähe, auch wenn er ihr deutlich vor Augen führte, dass er sie zurzeit nicht ertrug. Immer wieder ging er auf Abstand, lief unruhig auf und ab, während Mimi das nervöse Knirschen seiner Zähne vernahm. Ein hilfloser Blick wanderte zu seiner Schwester, die nur völlig überfordert zwischen ihrem Bruder und dem nicht zugänglichen Intensivstationsbereich hin und her blickte. Obwohl es ruhig war, herrschte eine allgemeine Anspannung, die Mimi kaum ertragen konnte. Es fühlte sich so an, als würde jeden Augenblick etwas passieren, doch sie warteten vergeblich auf eine Veränderung. Niedergeschlagen setzte sie nach einer geschlagenen halben Stunde wieder zu Kari und TK, die sich gegenseitig Trost spendeten. Mimi hingegen fühlte sich völlig deplatziert. Den Menschen, den sie aufrichtig liebte, litt vor ihren Augen Höllenqualen und sie war nicht in der Lage sie zu lindern, egal, wie sehr sie es auch versuchte. Abrupt wurde die Stille zwischen ihnen unterbrochen, als die Tür zur Intensivstation geöffnet wurde. Yuuko Yagami stand auf einmal vor ihnen und hatte einen abgeklärten Blick aufgesetzt, der sicher nichts Gutes verheißen konnte. Taichi schritt zielstrebig zu seiner Mutter, ehe Mimi eine deutliche Sorgenfalte auf seiner Stirn entdeckte. „Was ist los? Was ist mit Papa?“, fragte er aufgebracht. Yuuko presste die Lippen aufeinander und Mimi erkannte sofort, dass sie Taichis Blick ausgewichen war. Seine Mutter blickte in die kleine Runde, als sie verwundert direkt bei Mimi hängen blieb und sie eindringlich musterte, bevor Taichi seine Frage in einem energischen Unterton erneut wiederholte. Sie atmete schwerfällig aus, bevor sie die Lippen kräuselte und zu erzählen begann… _ Die Nacht rauschte förmlich an ihnen vorbei. Mittlerweile war es bereits halb sechs und Mimi hatte kein Auge zubekommen, da sie einfach keine gemütliche Position fand, in der sie etwas schlafen konnte. Nur Takeru und Hikari fanden etwas Ruhe und saßen dicht beieinander gekuschelt im Wartebereich, während Taichi am Fenster stand und den rötlichen Himmel betrachtete. Obwohl seine Mutter versichert hatte, dass sein Vater wieder auf die Beine kam und sozusagen eine Entwarnung aussprach, konnte er einfach keinen Moment stillsitzen. Er war ständig in Bewegung, war sogar eine kurze Zeit verschwunden, um mit seiner Mutter unter vier Augen zu sprechen. Danach schien er noch mehr den Abstand zu suchen, was Mimi absolut nicht verstehen konnte. Missmutig hatte sie ihm diesen Freiraum gelassen, doch jetzt wollte mit ihm reden, sich erkundigen, wie es ihm damit ging und ob sie ihm in irgendeiner Form helfen konnte. Leise tapste sie zu ihm rüber und stellte sich zu ihm an Fenster. „Unglaublich, oder?“, hauchte sie, als das satte Rot sich immer mehr von dem dunkeln Blau abhob und den Himmeln in goldenes Licht hüllte. „Mhm“, antwortete er bedacht und hatte die Arme schützend vor der Brust verschränkt, während sein Blick an die Glasschreibe geheftet war. Mimi schielte zu ihm rüber und erkannte sein trauriges Gesicht, was sie am liebsten dazu veranlasst hätte, ihn in den Arm zu nehmen, doch irgendetwas hinderte sie daran. Vielleicht lag es an seiner abweisenden Haltung. Vielleicht wusste sie aber einfach nicht, wie sie mit der Situation umzugehen hatte, da sie sowas noch nie erlebt hatte. „Willst du nicht langsam nach Hause gehen? Du bist sicher müde…“ Sie hielt für einen kurzen Moment inne, da sich sämtliche Muskeln ihres Körpers anspannten. War das jetzt sein ernst? Sie war extra wegen ihm hergekommen und jetzt wollte er sie ohne weiteres nach Hause schicken? Mimi zwang sich regelrecht dazu ruhig zu bleiben, auch wenn sein Verhalten sie rasend vor Wut werden ließ. Wieso behandelte er sie nur so? Konnte er nicht erkennen, dass sie wegen ihm hier war? „Nein, schon gut…ich bleibe gerne“, erwiderte sie nur, in der Hoffnung irgendeine Reaktion von ihm zu erhalten. Doch er starrte nur stur geradeaus, ohne auf sie zu achten. „Ich glaube, Kari braucht auch eine gute Freundin wie dich“, löste sich von seinen Lippen und entflammte Mimis Wut aufs Neue. „Glaubst du ernsthaft, dass ich hier bin, um mich um Kari zu kümmern? TK ist doch bei ihr!“, raunzte sie verärgert und krallte ihre langen Fingernägel in ihren Kapuzenpulli. „Ach, du bist also meine Anstandsdame?!“, stellte er belustig fest und streifte sie mit einem kurzen Augenaufschlag, bevor er das Gesicht wieder von ihr wandte. „Anstandsdame? Gott, was ist nur los mit dir? Du verhältst dich wie der letzte Arsch!“ „Wow, danke für deine ehrlichen Worte, aber du bist mich auch gleich los! Mein Spiel ist heute und ich habe bisher noch keine Sekunde geschlafen“, antwortete er unterkühlt, während die Fassungslosigkeit in Mimis Gesicht geschrieben stand. Gerade als er sich von ihr abwenden wollte, ergriff sie seinen Arm und brachte ihn dazu stehen zu bleiben. „Wie dein Spiel? Du gehst da doch jetzt nicht ernsthaft hin?!“, hakte sie ungläubig nach. „Als ob ich eine andere Wahl hätte! Du verstehst sowas sowieso nicht“, knurrte er bissig und riss sich abrupt von ihr los. „Was soll das denn bitte bedeuten?“, brüllte sie aufgebracht. „Ach vergiss es einfach! Ich will nicht darüber reden“, antwortete er distanziert und setzte sich in Bewegung. Fassungslos sah Mimi ihm nach, als er in Richtung der Toiletten verschwand und sie einfach so, ohne weitere Erklärung, stehen ließ. Ihre Lippen begannen zu zittern, sodass sie sie qualvoll aufeinanderpresste und gegen das Brennen in ihren Augen ankämpfte. _ Nachdem Taichi sich tatsächlich in den Kopf gesetzt hatte zu seinem Spiel zu gehen, fand sich Mimi in einem Zwiespalt wieder. Einerseits konnte sie ihn überhaupt nicht verstehen, da sein Vater immer noch zur Beobachtung auf der Intensivstation lag. Anderseits wusste sie, dass das Spiel über seine Zukunft entscheiden konnte, weshalb es für sie auch nur eine Möglichkeit gab. Während Kari und TK weiterhin im Krankenhaus blieben, hatte sich Mimi dazu entschlossen, Taichis Spiel zu besuchen, auch wenn sie sich dazu zwingen musste. Nach ihrem kleinen Streit, war er tatsächlich nach Hause gegangen, um sich noch etwas auszuruhen, während Mimi an Karis Seite wachte. Takeru hatte zwischenzeitlich sogar Yamato erreicht, der ihm versicherte auf schnellstem Wege nach Hause zu kommen, was jedoch nicht einfach war, da die Fahrzeit mit dem Auto über sechs Stunden betrug. Dennoch wollte sich Mimi nicht unterkriegen lassen und versprach Hikari ein Auge auf ihren Bruder zu haben, damit sie sich voll und ganz auf ihren Vater konzentrieren konnte. Über SMS hatte Mimi Kari und Takeru über den Verlauf des Spiels stetig informiert, auch wenn ihre eigene Frustrationsgrenze von Minute zu Minute anstieg. Taichi war überhaupt nicht bei der Sache, schoss daneben und nahm seiner Mannschaft mit seinem egoistischen Verhalten jegliche Chance zu gewinnen, da er unkonzentriert auf das Tor zu jagte, ohne seine Mitspieler zu beachten. Gegen Ende der zweiten Spielhälfte wurde er sogar ausgewechselt und Mimi beobachtete von der Tribüne aus, wie er niedergeschlagen seinen Kopf hängen ließ und anspannt das Spiel mitverfolgte. Am Ende hatten sie haushoch verloren. Mimi konnte es nicht fassen, aber noch fassungsloser machte sie Taichis Reaktion, der selbst nach dem Anschiss von Herrn Ichinose völlig ruhig geblieben war. Sie konnte ihn einfach nicht mehr verstehen. Er wirkte völlig gleichgültig auf sie, zeigte keinerlei Emotionen, sondern schlenderte einfach nur neben ihr her. Mimi hatte extra auf ihn gewartet und wollte ihn noch nach Hause begleiten, da sie ihn unter diesen Umständen ganz sicher nicht alleine lassen wollte. Nachdem sie über eine halbe Stunde auf ihn gewartet hatte, machten sie sich auf den Nachhauseweg, der sich wie Kaugummi zog, da keiner das Wort ergriff und sich eine äußerst unangenehme Atmosphäre über sie legte. Als sie bei Taichi ankamen fanden sie eine leere Wohnung vor, da sich Kari wohl noch immer im Krankenhaus befand und seine Mutter noch bei der Arbeit war. Er ließ seine Sporttasche einfach achtlos auf den Boden fallen, stieg aus seinen Schuhen und schritt in die dunkele Wohnung. Mimi folgte ihm, nachdem sie auch ihre Schuhe auszogen hatte. Sie sah, wie Taichi zum Kühlschrank ging und eine Flasche Wasser hervorholte. Ungeniert setzte er sie einfach an seinem Mund an und trank einen kräftigen Schluck, bevor er sich Mimi zuwandte und sie argwöhnisch musterte. „Willst du nicht langsam mal nach Hause gehen? Deine Eltern machen sich doch sicher Sorgen.“ „Ich habe angerufen. Sie wissen, wo ich bin“, erwiderte sie knapp und verschränkte die Arme vor ihrer Brust. Taichi zog eine Augenbraue in die Höhe und grinste süffisant, als er erneut einen kräftigen Schluck zu sich nahm. „Und sie haben keine Probleme damit, dass du dich mit einem Herumtreiber wie mir abgibst?“ Herumtreiber. So hatten ihre Eltern ihn mal in der Grundschule bezeichnet, nachdem Mimi einmal viel zu spät nach Hause gekommen war. Ihr Vater war von Taichi nie sonderlich begeistert gewesen, was er ihm auch deutlich vermittelt hatte, auch wenn sie seine Abneigung gegenüber ihm nie richtig verstanden hatte. „Ich denke ich bin alt genug und kann alleine entscheiden, bei wem ich bleibe“, antwortete sie standhaft und blickte ihm in seine traurigen Augen. Sein Gesicht veränderte sich auf einmal, als er die Flasche Wasser auf der Theke abstellte und zielstrebig an ihr vorbeischritt. „Und dann entscheidest du dich, bei einem Versager wie mir zu bleiben?“ Er wirbelte herum und ein stechender Blick lag in seinen Augen, den Mimi nur schlecht deuten konnte. „Was? Was redest du da nur?“ „Ich bin ein Versager! Herr Ichinose meinte, dass ich das Stipendium vergessen kann. Das letzte Testspiel wird er absagen, weil er meine Bemühungen nicht sehen kann. Toll, oder? Jetzt ist meine komplette Zukunft im Arsch“, erklärte er verbittert und atmete unruhig. Mimi hingegen verstand nur Bahnhof. Er hatte doch so viele Möglichkeiten, warum redete er sich nur so klein? „Das ist doch gar nicht wahr! Du kannst dich doch einfach an anderen Universitäten bewerben. In Tokio gibt es genug gute Unis und wenn du willst gucken wir einfach gemeinsam nach einer.“ Sie schritt optimistisch an ihn heran und wollte gerade seine Arm berühren, als er auf Abstand ging und ihre Hand beiseiteschob. „Du hast keine Ahnung! Du kannst vielleicht überall studieren, wo du magst, aber ich habe nicht die gleichen Möglichkeiten wie du! Dein Vater könnte dir sogar ’ne beschissene Privatuni bezahlen!“ Überrascht über diesen Vorwurf blieb Mimi mitten im Raum stehen. „Aber ich…“ „Es muss sicher toll sein, ein Einzelkind zu sein, dass sich um nichts Sorgen machen braucht!“ „Denkst du wirklich, dass ich es so einfach hätte?“, hinterfragte Mimi erbost. „Mein Vater will mich ständig in irgendeine Richtung drängen, in die ich gar nicht möchte und jeder Erklärungsversuch führt ins Leere, weil sich mein Vater nur sehr schlecht von anderen Möglichkeiten überzeugen lässt! Denkst du er wäre begeistert, wenn ich ihm erzählen würde, dass ich am liebsten ein Restaurant eröffnen würde, statt ins Familienunternehmen einzusteigen? Glaubst du das wirklich?“ Sie war richtig rasend vor Wut! Wie konnte ihr Taichi nur sowas unterstellen? Sie war den ganzen Tag für ihn da gewesen, wollte ihm Trost spenden und ihm versichern, dass sie an seiner Seite stehen würde. Doch das was er sagte, verletzte sie mehr, dass sie jemals zugeben würde. Sie sah, wie er angespannt auf seiner Unterlippe herum kaute und seinen braunen Augen förmlich auf ihrer Haut brannten. Jedoch verlor er kein einziges Wort. Nur ein leises Seufzen löste sich von seinen Lippen, als er sich von ihr abwandte. „Ich gehe jetzt duschen“, informierte er sie unterkühlt und schritt zum Badezimmer, während Mimi wie versteinert immer noch am selben Platz stand. Erst das Zuschlagen der Tür weckte sie aus ihrer Trance, die ihr sämtliche Sinne vernebelt hatte. Plötzlich spürte sie, wie warme Tränen ihre Wangen hinunter wanderten und Panik in ihr freisetzen. Hektisch wischte sie sich über ihr Gesicht und atmete tief ein, um sich wieder zu beruhigen. Dieser Idiot. Der konnte etwas erleben, wenn er aus der Dusche kam. So ließ sie sich nicht von ihm behandeln, selbst wenn er einen miesen Tag hatte! _ Nachdem sich Mimi wieder etwas beruhigt hatte und ihre Wut auf Taichi herunterschraubte, entschloss sie sich dazu, eine Kleinigkeit für sie zu kochen, während er noch unter der Dusche war. Im Kühlschrank der Yagamis fand sie noch drei Eier, weshalb sie sich dazu entschlossen hatte, Rührei mit frischem Gemüse zum Abendessen für sie vorzubereiten. Sie war gerade im Begriff die Paprika auf einem kleinen Holzbrett kleinzuschneiden, als sie mehrere dumpfe Schläge vernahm. Überrascht ließ sie das Messer auf das Brettchen gleiten und ging vorsichtig in Richtung Badezimmer. „Taichi? Ist alles in Ordnung?“, fragte sie behutsam und klopfte gegen die Badezimmertür. Doch alles was sie hörte, war das gleichmäßige Prasseln der Dusche, dass sie beunruhigte. „Tai?! Was ist denn los?“, hakte sie abermals nach und legte bereits die Hand auf die Türklinke, hielt allerdings plötzlich inne. Wollte sie wirklich einfach ins Badezimmer gehen? Was wenn sie ihn bei etwas Wichtigem störte? Ihre Wangen begannen plötzlich zu glühen, als sie an die Begegnung in der Männerduschkabine zurückdachte. Reflexartig ließ sie die Türklinke los und wollte sich gerade wieder in die Küche begeben, als einen leisen Aufschrei von ihm vernahm, während gleichzeitig der dumpfe Aufschlag erneut ertönte. Mimi zögerte keinen Augenblick, ehe sie auf einmal die Tür aufriss und zu Taichi eilte. Sie blieb wie angewurzelt vor der Dusche stehen, sah wie er zusammengekauert auf dem Boden saß und schmerzerfüllt seine linke Hand hielt. Sein frisches Blut vermischte sich mit dem warmen, dampfenden Wasser, während Mimi völlig fassungslos auf seine kauernde Erscheinung blickte. „Oh mein Gott, was hast du nur gemacht?!“, kreischte sie und schritt auf ihn zu. Kraftlos ließ sie sich neben ihm nieder, bevor sich ein schmerzerfülltes Wimmern von seinen Lippen löste und er sie mit einem unergründlichen Blick streifte. Seine Augen waren schmerzverzehrt und gerötet, während er immer noch seine verletzte Hand festumklammert hielt. „E-Es tut mir so leid…“, wimmerte er kaum hörbar und wandte den Kopf von ihr. Ohne groß zu überlegen rutschte sie noch näher an ihn heran und überwand jeglichen Abstand, auch wenn sie spürte, wie das Wasser ihre Klamotten durchnässte. Doch es war ihr egal. So hilflos hatte sie Taichi noch niemals gesehen gehabt. Er saß wie ein Häufchen Elend in der Dusche und konnte sich kaum beruhigen, als Mimi ihn einfach an sich heranzog und seinen nackten Körper schützend gegen ihren presste. Sie schlang ohne weiteres die Arme um ihn und drückte Taichi so fest sie konnte, an sich heran. Es dauerte einen Moment, bis er ihre Umarmung erwiderte, doch dann lösten sich alle Bedenken und Mimi spürte, wie er seine Finger hilfesuchend in ihre nassen Klamotten krallte. Er schluchzte herzzerreißend, sodass Mimi plötzlich einen dicken Kloß in ihrem Hals spürte, der ihr das Schlucken erschwerte. Er litt Höllenqualen und sie war nicht in der Lage ihm sie zu nehmen. Nackt. Schutzlos. Schwach. Er war ein Schatten seiner selbst, der in ihren Armen den Halt fand, den er in diesem schwachen Moment benötigte, um nicht zu zerbrechen. Sonst war er immer derjenige, der ihr Zuflucht bot und sie mit seinen starken Armen empfing. Heute waren die Rollen vertauscht. Er weinte hemmungslos in ihren Armen, während sie ihn einfach nur festhielt und keine Worte verschwendete. Er drückte sein Gesicht gegen ihre Brust, während Mimi zärtlich über seinen Kopf streichelte. Ein beklemmendes Gefühl löste sich von ihrer Brust, während sie nach und nach verstand, dass eine enorme Last von Taichi Schultern fiel. Auch wenn er immer noch gegen seine Tränen kämpfte und seine Sprache noch nicht widererlangt hatte, hielt sie ihn einfach nur fest. Schenkte ihm die Wärme, die er brauchte. Sie war einfach nur da. An seiner Seite. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)