Digimon 00001100 von UrrSharrador (Samsara Madness [Video-Opening online]) ================================================================================ Prolog: … und der Drache schläft erneut --------------------------------------- Der Himmel lag in Trümmern. Die funkelnden Datenreste vernichteter Digimon wirbelten wie gefallene Sterne über das samtene Schwarz und erweckten den Eindruck, dass der Nachthimmel selbst es war, der sich auflöste. Das verschneite Feld war übersät von Brandflecken und Kratern und geschmolzenen Steinbrocken. Über die Schneewehen trieben ebenfalls Datenfragmente, stiegen in den Himmel und entschwanden ins Nichts. Die Federn zweier tintenschwarzer, großer Rabenflügel streiften den Schnee, als ihr Besitzer niederkniete. „Die Zahnräder des Schicksals drehen sich schnell“, murmelte die Stimme aus dem Rabenschnabel. „Lasst uns die Gefallenen ehren.“ Das Digimon zog zwei Katanas und rammte sie in den gefrorenen Boden. „Ist das wieder eins von deinen sinnlosen Ritualen?“, quietschte ein spöttisches Stimmchen. Das Pumpkinmon schüttelte mit einem geistlosen Grinsen seinen Kürbisschädel. „Das waren unsere Feinde, Schwachkopf!“ „Jeder von uns durchläuft einen ewigen Kreis“, erwiderte das geflügelte Digimon ruhig. „Sie dienten ihren Herren wie wir unseren, doch unser Kreis ist noch nicht vollendet.“ Ein Augenpaar glühte durch die Dunkelheit. „Genug davon. Die Welt, in die sie wiedergeboren werden, wird sie wünschen lassen, tot geblieben zu sein.“ Sein Umhang bauschte sich, als das Vampirdigimon mit knarzenden Schritten durch den Schnee stapfte, um dem Schauspiel beizuwohnen, das sich ihnen bot. Seine Zähne blitzten im Licht der Glut, die den Schnee tränkte wie frisches Blut. Es sah aus wie ein Myotismon, doch seine Augen waren pupillenlos und spiegelglatt, grausam und glühend. Die anderen folgten ihm bis zu ihrem Anführer. Ein riesenhafter Schemen glitt schlangengleich von Westen her, während im Osten krallenbewehrte Pfoten den Schnee zerwühlten. Die Aufmerksamkeit aller galt dem gigantischen Digimon, das einen Teil des Himmels in unwirkliches Blau tauchte. Schwere Ketten banden den überlangen, schwebenden Körper. Das Digimon, das zuvorderst stand, breitete seine vier Arme aus. „Du hast den Niedergang deiner Diener gesehen, Götterdrache“, erklang eine dreifache Stimme, gleichzeitig dröhnend voll, schmerzend schrill und herrisch grollend. „Deine Macht ist gebrochen, Azulongmon.“ „Das wolltest du schon lange mal sagen, oder?“, feixte Pumpkinmon, verstummte aber, als das Vampirdigimon ihm wie beiläufig die Hand mit den langen Fingernägeln auf den Kopf legte. „Digimon, die ihr euch der Dunkelheit verschrieben habt“, erfüllte Azulongmons Stimme den Himmel, hallte von fernen Bergspitzen wider, ohne dass das gewaltige Drachendigimon das Maul bewegen musste. „Ich weiß, wer ihr seid, und ich weiß, wem ihr dient. Doch vergesst nicht, dass eure Herren ein unrühmliches Ende gefunden haben.“ „Oh ja, das war wirklich schade, nicht wahr?“ Die weibliche Stimme klang amüsiert, während samtene Pfoten durch den Schnee schlichen. „Ein schwerer Verlust für die Dunklen Mächte.“ Das Rabendigimon griff sich theatralisch an die Brust. „Die Schlange durchbohrt, das Eisen gespalten, der Puppenspieler entmachtet und der Zauberer auf ewig verbannt.“ „Du vergisst eines“, dröhnte der Anführer dreistimmig. „Es warst weder du, Azulongmon, noch einer der anderen Heiligen Wächter, noch eure Schoßhunde, die unsere Herren besiegt haben.“ „Die DigiRitter werden auch euch vernichten, ganz gleich, wie zahlreich ihr seid“, erwiderte Azulongmon. Kein Funken von Furcht war in seiner Stimme zu hören, doch das hatten die Digimon auch nicht erwartet. „Welche DigiRitter?“ Der Anführer brach in dröhnendes, grollendes und schrilles Gelächter aus. „Glaub nicht, dass wir euch wieder Menschen auswählen lassen!“ Einige der anderen stimmten in sein Lachen ein. „Sieh her“, rief das Vampirdigimon und riss die Arme hoch. Schimmernde Gebilde wurden in der Nacht sichtbar, schwebende Fenster, die weit entfernte Orte zeigten, die Oberfläche kräuselnd wie ein See, in den man einen Stein geworfen hat. Eine der Scheiben zeigte eine finstere Unterwasserlandschaft, eine andere eine alte Ruine, wieder eine andere ein Tal mit steilen Felsklippen; insgesamt fünf Orte schimmerten hinter den Fenstern, und sie alle hatten etwas gemeinsam: Einen strahlenden, flackernden Lichtfunken, der tapfer der Nacht von außen trotzte. Doch von innen heraus befleckte dicke Schwärze das Licht, verschlang nach und nach die hellen Strahlen und wucherte wie ein Ausschlag über die reinweiße, substanzlose Oberfläche der Lichter. „Licht hast du gesät, Dunkelheit wirst du ernten“, rief das Vampirdigimon triumphierend. „Endlich, nach all den Jahren, sind wir wieder erwacht, und weder deine Lichter noch der letzte Heilige Stein werden uns aufhalten.“ Es machte wieder eine Handbewegung und ein großer Spiegel erschien. Auch in dessen Oberfläche liefen Wellen zusammen und formten ein verschwommenes Bild. „Noch deine DigiRitter“, fügte es finster hinzu. Dieses Bild erfüllte Azulongmon mehr mit Sorge als die Besudelung seiner Lichter, die es anstelle der Heiligen Steine vor vier Jahren erschaffen hatte. Es zeigte ein unterirdisches Labor mit grauschimmeligen Wänden, in dem altmodische Geräte standen; riesige Röhrenbildschirme, Rechner, so hoch wie die Decke, mit armdicken Kabelsträngen, und primitive Schaltpulte. Inmitten der Gerätschaften lagen in einem gläsernen Brutkasten sechs DigiEier, an die neuartige DigiVices angeschlossen waren. Ein anderer Kasten beherbergte weitere Eier, doch sahen diese völlig anders aus: die DigiArmorEier, jene vergessene Macht, die die DigiWelt vor ihrer letzten Bedrohung geschützt hatte. Das Bild flackerte kurz, dann sah man ein bleiches, muskulöses Wesen in das Labor treten. Überlange, dicke Krallen entsprangen seinen Händen und Füßen, ein kleiner Insektenkopf ruckte suchend hin und her, während sich große Schwingen spannten. Es war kein Laut durch das Fenster zu hören, aber ein Mann in einem cremefarbenen Kapuzenmantel, der bisher noch an den Geräten gewerkt hatte, trat dem Digimon mit erhobenem Schwert entgegen und sagte etwas. „Siehst du, Azulongmon?“, grollte das Vampirdigimon. „Wir werden vollbringen, woran Meister Piedmon einst gescheitert ist. Und Gennai wird sterben.“ „Dieses Digimon …“, murmelte Azulongmon, selbst sein Murmeln war noch dröhnend. „Erkennst du es?“ Der Vampir lachte. „Es sollte gar nicht existieren, geschweige denn in der DigiWelt sein“, sagte der Götterdrache unwohl. „Du würdest dich wundern, was man auf dem Grund des Strudels der Finsternis so alles findet, Lichtkreatur“, ließ der Anführer vernehmen. „Sieh gut zu, werde Zeuge der Macht von Arkadimon, dem Verbotenen!“ Als hätte es die Worte gehört, machte das abstruse Digimon einen Satz nach vorn. Gennai stieß mit seinem Schwert nach ihm, doch die Klinge konnte Arkadimons Panzer nicht durchdringen. Ein einziger Hieb von ihm, und seine Krallen durchbohrten Gennai – dessen Gestalt zu flackern und zucken begann und verschwand wie das Bild in einem Fernseher, den man ausgeknipst hatte. „Was?“, zischte das Vampirdigimon. „Eine wertlose Kopie?“ „Das macht nichts. Die DigiEier werden uns nicht entkommen“, sagte der Anführer.  Azulongmon schwieg. Arkadimon klackerte mit seinen Klauen und bäumte sich wie zu einem lauten Schrei auf. Obwohl es weiter nichts tat, begann die Luft vor dem Glaskasten zu flimmern – und dann löste sich das Glas auf. Datenteilchen glühten auf, verschwanden einfach, dann die nächste Reihe Daten, das Glas zersprang nicht, es war, als würde es verdampfen. Das Podest, auf dem die Eier und DigiVices lagen, wackelte bedrohlich und verlor ebenfalls an Substanz, und schließlich griff das Flimmern auch auf die Eier über. „Na, Azulongmon?“, höhnte das Vampirdigimon. „Wie fühlt es sich an, wenn sich alle Hoffnung in Rauch auflöst?“ In dem Moment begann aus allen Ecken des Raumes ein unwirkliches Licht zu glühen. Armdicke Lichtstrahlen, so hell und undurchdringlich, dass sie wie Stangen aus weißem Metall wirkten, bohrten sich wie die Fasern eines Spinnennetzes quer durch den Raum, verzweigten sich und trafen schließlich den Panzer von Arkadimon. Das Digimon begann wie unter Schmerzen zu zucken, das Flimmern in der Luft verschwand. Arkadimon warf sich hin und her, als kämpfe es gegen einen unsichtbaren Gegner. „Was ist da los?“, rief der Vampir alarmiert. „Es war eine Falle!“ Pumpkinmon hüpfte entsetzt hin und her. „Eine Falle! Eine Falle!“ „Auch wir lernen aus unseren Fehlern“, sagte Azulongmon ruhig. Das Vampirdigimon funkelte ihn böse an. Durch das Fenster sahen sie, wie Arkadimon vom Licht fast vollständig eingehüllt wurde. Ein Teil der Wand glitt herab und man konnte den echten Gennai erkennen, nun ohne Kapuze, der durch den Raum lief. Er sprang auf das Podest, das löchrig war wie ein Schweizer Käse, und mühte sich ab, die DigiEier auf seinen Armen zu stapeln. Die DigiVices baumelten davon herab. In dem Moment schien sich Arkadimon beinahe aus dem Lichtkäfig befreien zu können. Seine Pranke durchschnitt die Luft, und obwohl es Gennai nicht erreichte, sah man, wie eine Druckwelle auf ihn zurollte und gegen die DigiEier prallte, die er vor seiner Brust hielt. Gennai wurde von der Wucht zu Boden geschleudert, aber er ließ keines der Eier fallen. Er rappelte sich auf und rannte davon, verschwand aus dem Bild; die DigiArmorEier blieben zurück. Arkadimon wütete unbeirrbar weiter. Seine Krallenschläge zertrümmerten den Boden und die Wände, während der Lichtkäfig es weiterhin gefangen hielt. Und als das Gestein immer mehr zerbröckelte, sah man den Ursprung des fesselnden Lichtes: Direkt unter Arkadimons Füßen lag ein kugelrunder, brauner Stein, der von einem Ring mit heiligen Schriftzeigen umgeben war. Aus seiner Oberfläche kamen die Strahlen, die sich in den Ecken des Raumes sammelten und Arkadimons Kräfte banden. Der Stein pulsierte in einem immer grelleren Licht, bis er sich in einen gleißenden Blitz auflöste, der Arkadimon in die Brust traf und es rauchen und schrumpfen ließ, bis das Licht erlosch und ein kleines, rosafarbenes Digimon zu Boden fiel. Wütend wischte das Vampirdigimon das Fenster fort, das sich in weißen Staub auflöste. „Das Verbotene ist entmachtet“, stellte das Rabendigimon düster fest. „Damit habt ihr gar nichts erreicht“, behauptete der Anführer, und diesmal überwog seine schrille Stimme. „Ihr habt den letzten Heiligen Stein geopfert, um die DigiEier zu retten. Das war ebenso gewagt wie töricht. Wenn deine Heiligen Lichter vollständig mit Dunkelheit befleckt sind, gehört eure Welt uns, und kein DigiRitter kann das verhindern!“ „Unsere Hoffnung ruht in den Händen der Menschen“, sagte Azulongmon ruhig. „Sie werden euch aufhalten und die Macht der Dunkelheit erneut bannen, wie es drei Generationen vor ihnen getan haben.“ „Und für dich ist es jetzt wieder an der Zeit zu schlafen, Götterdrache“, knurrte der Anführer. Die versammelten Digimon machten jedes eine bestimmte Geste. Der Himmel blitzte blau und rot auf und Azulongmons Ketten glühten wie Feuer in der Esse. Kapitel 1: Das Rad dreht sich ----------------------------- Es verging nicht ein Tag, an dem die drei nicht auf ihm herumhackten. Als Kouki sah, wie Renji Oyara gespielt kameradschaftlich den Arm um die Schulter des schmächtigen Jungen legte und ihm grinsend erklärte, er hätte vor dem Klassenzimmer etwas mit ihm zu besprechen, wusste er sofort, was los war. Shuichi war das erklärte Opfer von Renjis Clique, seit er an die Odaiba Mittelschule gewechselt war. In sich gekehrt, den Stimmbruch noch vor sich und noch dazu klein gewachsen und dürr, war er die perfekte Zielscheibe. Ohne sich zu wehren, ließ er es zu, dass Renji und seine beiden Kumpel aus dem Sportclub ihn nach draußen bugsierten. „Spielt der Typ nicht in deiner Fußballmannschaft?“ Der etwas dickliche Mamoru hatte sich neben Kouki ans Fensterbrett gelehnt. „Renji? Ja, seit Kurzem.“ Kouki wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Sportplatz zu. Soeben hatte die Schulglocke zur Mittagspause gerufen, und schon herrschte dort unten reges Treiben. Eine Staffelläuferinnentruppe trainierte für einen herannahenden Wettkampf, und die Mädchen ließen keine Gelegenheit aus, mit ihren schlanken Beinen die Rennbahn zu zertrampeln. Kouki gefiel dieser Anblick, daher war der Platz am Fenster in den letzten Tagen sein Stammplatz geworden. Mädchen in den uniformellen Sportoutfits zuzusehen, war auf jeden Fall besser, als der Schikane beizuwohnen, die sich jetzt sicher draußen am Gang abspielte. Kouki war im Normalfall niemand, der wegsah, wenn so etwas geschah, aber diese Sache war anders. Er konnte Renji eigentlich gut leiden, aber auf seinen Vorschlag hin, den armen Shuichi doch in Ruhe zu lassen, hatte er die kalte Schulter als Antwort bekommen, und Kouki wollte den Zusammenhalt in seinem Fußballteam nicht gefährden. Außerdem war Shuichi selbst schuld, redete er sich ein. Wäre er ein wenig aufgeschlossener, würde das alles nicht passieren. „Wie sieht es eigentlich mit deinem Yuki aus?“, riss ihn Mamoru aus seinen Gedanken. „Ist er schon stubenrein?“ „Fast“, meinte Kouki mit einem sauren Grinsen. „Meine Schwestern und ich wechseln uns mit dem Gassi-Gehen ab, aber … naja, er hat meistens andere Pläne.“ Mamoru lachte. Yuki war ein Akita-Albino und noch ein Welpe. Seit Koukis Familie ihn vor zwei Wochen bekommen hatte, hielt er ihn und seine beiden Schwestern auf Trab. Kouki seufzte. Es wäre schön, wenn die Schule bald vorbei wäre. Dann hätte er wenigstens wieder Zeit für den Hund, könnte versuchen ihn abzurichten oder einfach nur mit ihm Spaß haben. Aber vorher würde er noch ewig lange Vorträge über japanische Geschichte hören – oder sie verschlafen, je nachdem. „Komm“, sagte er schließlich zu Mamoru und stieß sich schwungvoll vom Fenster ab. „Wo willst du hin?“, fragte sein Freund, während er die Klassentür ansteuerte. Die Zeit totschlagen. „Aufpassen, dass Renji es nicht übertreibt“, murmelte er.   „Also, Shu-chan, du hilfst mir sicher aus der Patsche, oder?“ Renji hatte den Arm immer noch um den kleinen Shuichi gelegt, dass es fast schon wie ein Schwitzkasten wirkte. „Ich brauche nämlich echt deine Hilfe und weiß, dass du eine gute Seele bist.“ Sie hatten sich bis zum Treppenabsatz zurückgezogen. Von hier aus konnte man über ein Plexiglasgeländer in die Schulaula hinunterblicken – und erkannte nahende Lehrer schon von Weitem. Die Schüler, die die Treppe heraufkamen, musterten Shuichi, der von den drei größeren Jungs drangsaliert wurde, irritiert oder mitleidig, aber keiner rührte einen Finger, um ihm zu helfen. „W-was brauchst du denn?“, stammelte Shuichi leise und piepsig hoch. „Das ist mir fast ein wenig peinlich“, sagte Renji und fuhr sich theatralisch durch sein strohblondes Haar. „Du weißt doch, es gibt da dieses Mädchen aus der Parallelklasse und, naja, ich hab ein Auge auf sie geworfen. Ich will sie am Wochenende ins Kino einladen, nur leider bin ich völlig abgebrannt und mein Taschengeld krieg ich erst wieder am Montag. Aber du hilfst mir doch sicher, oder?“ Er verstrubbelte Shuichi das Haar. „So etwa zweitausend Yen hast du doch sicher für deinen Kumpel Renji übrig, nicht wahr?“ „Ich, … also …“ Shuichi wand sich unbehaglich in seinem Griff, und während Renji zuckersüß lächelte, grinsten seine Freunde hämisch. Kouki und Mamoru waren zur Treppe getreten, lehnten sich in einigem Abstand gegen das Geländer und verfolgten das Geschehen. „Wenn du das Geld heute nicht dabei hast, macht’s auch nichts“, flötete Renji, als wollte er ein Kind in den Schlaf singen. „Morgen ist ja auch noch ein Tag, nicht?“ Urplötzlich wurde sein Gesichtsausdruck streng. „Du besorgst mir das Geld doch, oder? Ich will doch schwer hoffen, dass du nicht vergisst, wer deine Freunde sind, Shu-chan.“ „Warum lasst ihr ihn nicht endlich in Ruhe?“ Die drei Rüpel wandten sich überrascht herum und auch Kouki blickte interessiert auf. Soeben waren zwei Jungen aus der ersten Schulstufe die Treppe heraufgekommen und einer davon hatte eine grimmige Miene aufgesetzt, während der zweite sich hinter ihm zu verstecken versuchte. „Wie meinen?“ Renji wandte sich ihnen demonstrativ langsam zu. „Ihr hackt dauernd auf ihm herum. Wird euch das nicht mal langweilig?“, sagte der Junge. Er hatte dunkles, leicht lockiges Haar und reichte Renji vielleicht bis zum Kinn. Die Schuluniform, die er trug, schien ihm zu groß zu sein, weswegen er wohl kleiner wirkte, als er tatsächlich war. Kouki glaubte, ihn schon irgendwo mal gesehen zu haben. Einer von Renjis Freunden lachte. „Hört euch das an, der hat aber ein schönes Stimmchen! Sing uns noch was vor, Kleiner, bitte.“ Renji grinste schief.  „Stimmt. Könnte glatt bei einem Knabenchor mitmachen.“ Der Junge starrte ihn nur finster an und kniff die Lippen zusammen. Sein Freund, ein spindeldürrer Brillenträger, zupfte ängstlich an seinem Ärmel. „Lass es, Kuromori-kun“, sagte er leise. „Komm, wir gehen weiter.“ „Hör auf den Kleinen“, sagte ein anderer von Renjis Gefolgschaft. „Verzieht euch, das ist besser für euch.“ „Sonst schicken wir dich tatsächlich in den Knabenchor.“ Renjis Grinsen war wie auf seinem Gesicht festgefroren. „Die sollen ihren Jungs ja die Eier abschneiden, damit sie ihre hübschen Singstimmen behalten.“ Er machte mit den Fingern eine Scherenbewegung. „Schnipp-schnipp.“ Seine Kumpel bogen sich vor Lachen, während Shuichi sich Mühe gab, einfach nicht mehr da zu sein. Die Wangen des Jungen röteten sich zornig, aber seine Stimme war kein bisschen zittrig, sondern genauso melodisch wie zuvor, als er sagte: „Du solltest jetzt lieber den Rand halten, Renji Oyara. Ich habe vorher gesehen, dass Kumasawa-sensei auf dem Weg hier rauf ist. Wenn ihr euch nicht verzieht, erzähle ich ihm, was ihr hier treibt.“ Renjis Zähneblecken endete sofort. „Das würdest du nicht wagen“, zischte er. „Wetten?“ Renji stieß abfällig die Luft aus und Kouki sah, wie die Neuronen hinter seiner Stirn feuerten. Schließlich seufzte er und hob ergeben die Hände. „Was soll’s, ich treib das Geld schon noch auf. Kein Grund zur Sorge, wir sind ja Kumpel, oder, Shuichi?“ Er schlug seinem Opfer gerade so fest auf die Schulter, dass es weh tun musste, und trollte sich mit in den Hosentaschen vergrabenen Händen. Seine Freunde folgten ihm. „Na toll, das nächste Mal haben sie’s sicher auf uns abgesehen“, zischte der Brillenträger dem Jungen zu, der mit den Schultern zuckte und die Treppe wieder hinabstieg. War er etwa nur wegen diesem Spektakel heraufgekommen? Kouki beugte sich über das Geländer. Tatsächlich begegneten die Jüngeren dem Lehrer, grüßten jedoch nur höflich. „Sag mal, kommt dir der Typ auch bekannt vor?“, fragte er. „Ich überleg auch schon die ganze Zeit – war der nicht mit uns im Sommercamp? Du weißt schon, dieses außerschulische, letzten August“, überlegte Mamoru. „Kann sein …“, murmelte Kouki. „Ah, jetzt hab ich’s!“ Mamoru schnippte triumphierend mit den Fingern. „Der Typ heißt Taneo Kuromori, und das ist sein erstes Jahr in der Mittelschule.“ „Taneo Kuromori …“ Es war keine üble Aktion gewesen, die er da geschoben hatte, musste sich Kouki eingestehen. Er war mutiger, als er aussah. War er damals im Camp auch schon so gewesen? Besonders aufgefallen war er ihm nie. „Naja“, gähnte Kouki schließlich. „Ist ja nicht so, dass ich mir das auch noch viel länger angeschaut hätte.“ „Hm.“ Mamoru sah nicht überzeugt aus.   „Hier, fang.“ „Danke!“ Tageko fing gekonnt die Wasserflasche auf, die ihr ihre Clubkollegin zuwarf. Ihre Sportkleidung klebte ihr schweißfeucht am Körper und sie fühlte sich, als würde sie dampfen. Ihr Atem wurde vor ihren Lippen zu weißen Wölkchen, ihre Lungen brannten. Zu dieser Jahreszeit draußen zu trainieren war nicht ohne – aber es förderte ganz sicher die Abwehrkräfte. Wenigstens gab es noch keinen Schnee. Das Wasser konnte sie nur in kleinen Schlucken trinken, weil es ebenfalls eiskalt war. „Wir haben heute einen neuen Rekord geschafft“, erklärte die Teamchefin und zeigte den Mädchen stolz ihre Stoppuhr. „Vier Sekunden unter der letzten Bestzeit.“ „Die hat Tageko rausgeholt“, sagte eine andere Läuferin grinsend. Tageko zuckte mit den Schultern. „War nicht schwer. Eiserner Wille und Training.“ „Wenn wir weiter solche Fortschritte machen, haben wir den Sieg so gut wie in der Tasche“, meinte die Teamchefin zufrieden. „Für heute war’s das. Morgen halten wir uns frei, wir treffen uns dann am Samstag im Park.“ Währen die anderen Staffelläuferinnen zu den Garderoben im Keller des Schulgebäudes gingen, blieb Tageko noch stehen und sah an den hohen Betonklötzen vorbei in den grauen Himmel. Und seufzte.   Kaum dass die Schule vorbei war und die Schüler sich auf den Heimweg machten, sprang er ihr auch schon in den Weg – genauer gesagt an einer der Backsteinsäulen vorbei, die das offene Tor zum Schulgelände flankierten. Groß, sportlich, mit graugrünen Augen, aus denen eine Selbstsicherheit funkelte, auf die jeder chinesische Diktator neidisch wäre, und kurzem blondem Haar, das unter seiner weißen Wollmütze hervorspähte. Kein Zweifel, es war Renji Oyara. „Fu-mi-ko-chan!“, rief er und strahlte über das ganze Gesicht. Fumiko senkte misstrauisch den Kopf und blieb stehen. Ihre Freundin Aiko, mit der sie sich heute zum Shoppen verabredet hatte, ebenfalls. „Was willst du?“ Renji kam sofort zur Sache. „Was hältst du davon, mit dem bestaussehendsten Typen der ganzen Schule am Samstag ins Kino zu gehen? Das Lächeln der Felsen soll echt super sein, wird dir sicher gefallen!“ Das Lächeln der Felsen war ein brandneuer Liebesfilm, der anscheinend vor Gags nur so strotzte, und hatte erst letztes Wochenende seine Premiere hinter sich gebracht. So oder so wäre er nichts für Fumiko gewesen. „Danke, kein Interesse“, sagte sie sofort, den Blick immer noch ein wenig gesenkt. „Dann was anderes. Wir können uns auch Schlaflos in Shinjuku ansehen, wenn du willst.“ Renji gab nicht auf. Aiko kicherte. „Ich wusste gar nicht, dass du auf so kitschige Filme stehst, Oyara-kun.“ „Ich hab dieses Wochenende schon was vor“, schwindelte Fumiko und ging weiter, doch Renji lief rückwärts vor den beiden Mädchen her. „Von mir aus können wir auch nächste Woche gehen. Oder ich lade dich zu einem romantischen Dinner ein, was meinst du?“ Fumiko seufzte und zählte innerlich bis drei. „Hör mal, Oya–“ „Nenn mich ruhig Renji. Kein Grund, so distanziert zu tun, oder?“ „Oyara-kun“, beharrte sie. Es fiel Fumiko schon genug auf die Nerven, dass er sie ständig Fumiko-chan nannte, selbst im Beisein ihrer Freundinnen. „Ich bin eigentlich nicht an dir interessiert, also geh bitte aus dem Weg, ja?“ Renjis Lächeln entgleiste und kehrte kurz darauf übertrieben angestrengt zurück. Die Muskeln rund um seine Mundwinkel zuckten. „Aber warum denn nicht? Mit mir würdest du echt eine klasse Partie machen.“ „Danke, immer noch kein Interesse“, sagte Fumiko lauter und stapfte um ihn herum, als er schließlich die Arme senkte und stehen blieb. Er murmelte irgendetwas, das sie nicht verstand, aber sie und Aiko drehten sich nicht um, und er folgte ihnen auch nicht. Ganz in der Nähe gab es eine Fußgängerzone, wo sich dicht an dicht die Geschäfte drängten, Second-Hand-Shops, Elektromärkte, Kioske, Büchereien, alles eben, was das Herz begehrte; davor noch Stände, die heiße Maroni und Kartoffelwedges und Glühwein und Punsch verkauften. Entsprechend belebt waren diese Gassen, und Fumiko kam es immer so vor, als bebte das Kopfsteinpflaster unter den aberhundert Füßen, die darauf herumtrampelten. Sie und Aiko warfen sich entschlossen ins Getümmel. Fumiko war für ihr Alter ziemlich zierlich und schaffte es ohne Probleme, sich zwischen die Erwachsenen in ihren Pelzmänteln und Lederjacken zu zwängen. Während sie auf ein Kleidergeschäft zusteuerte, blieb Aiko etwas hinter ihr zurück. Es war alles andere als angenehm hier; von allen Seiten wurde man geschubst und angerempelt, als wäre das hier eine riesige Open-Air-Veranstaltung, bei der die chartführende Pop-Band Japans auftrat. Fumiko quetschte sich zwischen einem empört rufenden, dicklichen Ehepaar hindurch und schnappte nach Luft, als sie vor dem Laden angekommen war. Hier, etwas abseits des Stroms aus Menschen, kam ihr sogar die Luft frischer vor. Direkt vor dem Shop war eine freie Fläche, und sogar an den Kleiderständen drehten nur wenige Personen. Ein Wunder. Während sie auf Aiko wartete, sah Fumiko in den Himmel. Die Wolken hatten ihren trübenden Vorhang ein wenig fallen gelassen, und in der Dämmerung zeigte sich ein wunderschöner, violett gefärbter Himmel. Als sie den Blick wieder senkte, fiel Fumiko ein Mann in einem dicken Mantel mit hochgeschlagenem Kragen auf, der einen beängstigend großen Hund an einer Leine spazieren führte. Das Untier war schlank und sehnig  und hatte eine spitze Schnauze. Das muss einfach ein Kampfhund sein, schoss es Fumiko durch den Kopf und sie begann, sich unwohl zu fühlen, obwohl sie eigentlich nicht von sich behaupten konnte, ängstlich zu sein. Und der Kerl führt ihn sogar ohne Maulkorb durch die Fußgängerzone. Sie wollte gerade wieder in die Menschenmenge tauchen, als sie Aikos rote Locken erblickte, die sie soeben ebenfalls entdeckte und sich zu ihr durchschob. Der Mann mit dem Hund ging direkt zwischen den Mädchen hindurch. Fumiko hatte gehört, dass Hunde fühlen konnten, wenn Menschen Angst hatten, und sie dann schon mal als Beute ansahen. Dieser Hund schnupperte plötzlich, als würde er etwas wittern, und stupste Fumikos Schultasche mit seiner feuchten Schnauze. Als das Mädchen zurückwich, legte er die Ohren an und knurrte mit zurückgezogenen Lefzen. Es war ein hohles, kehliges Knurren. Fumiko schluckte und wich weiter zurück. Der Schweiß brach ihr aus. „Ruhig, ruhig“, murmelte der Hundebesitzer und hielt das Tier an der Leine zurück, doch der Kampfhund schien seine Anstrengungen gar nicht zu spüren. Fumiko stieß mit dem Rücken gegen einen der Kleiderständer, dessen Aluminiumkleiderbügel leise schepperten, und der Hund riss sich los und stürzte sich auf sie. Mit einem Aufschrei riss Fumiko die Arme hoch, als der Hund sie mit einer Wucht ansprang, dass sie das Gleichgewicht verlor und schwer gegen den Ständer stürzte. Sie sah das geifernde Maul direkt vor sich, wie es nach ihrer Kehle zu schnappen versuchte, und ein tiefer, grollender Ton entwich ihm, der pure Feindseligkeit ausdrückte. Krachend und scheppernd ging Fumiko mitsamt dem Kleiderständer zu Boden, Shirts und Hosen flatterten vor ihrem Gesicht und ihre Tasche segelte davon, als sie auf dem Boden landete. Knurrend und keuchend und mit blutunterlaufenen Augen versuchte der Hund an ihren Händen vorbeizuschnappen, die sie gegen seinen Brustkorb gepresst hatte. Er fühlte sich heiß, fiebrig an, und das Herz dahinter raste wie der Kolben einer Dampfmaschine. Fumiko hörte, wie Aiko schrill aufkreischte und angstvolle Bewegung in die Masse der Fußgänger kam. Der Hundebesitzer stand einfach nur da, die Hand ausgestreckt, als würde er immer noch die Leine dieses Untiers halten. „Nehmen Sie den Hund weg!“, schrie Fumiko aufgelöst. Die stumpfen Krallen der Hundepfoten schrammten über ihren Hals und ein Bein drückte schwer gegen ihren Brustkorb. Fumiko strampelte mit den Beinen, versuchte den Köter zu treten, aber sie erwischte ihn nicht, sondern verstrickte sich in dem Kleiderhaufen, der sich um sie herum gebildet hatte. Mit fahrigen, blitzschnellen Bewegungen zuckte der braunschwarze Hundekopf an ihren Händen vorbei und – jemand oder etwas warf sich mit voller Wucht gegen den massigen, fellbedeckten Körper und riss ihn von Fumiko hinunter. Jaulend schlug der Hund einen halben Purzelbaum und kam zähnefletschend wieder auf die Beine. Keuchend versuchte sich Fumiko aufzurappeln, aber es war gar nicht so einfach auf dem kleiderbedeckten Boden. Jemand ergriff sie am Handgelenk und zog sie in die Höhe. Zuerst dachte sie, es wäre Aiko, doch ihre Freundin stand mit vor dem Gesicht zusammengeschlagenen Händen immer noch am Rande des Geschehens. Es blieb Fumiko keine Zeit sich umzusehen, denn der Hund schlich sich knurrend in einem Bogen erneut an sein Opfer heran. Fumikos Finger wanderten unbewusst über den Arm, der ihr hochgeholfen hatte, und klammerten sich in rauen Stoff fest. Der Jemand neben ihr trat einen Schritt vor und nun sah sie ihn im Profil. Es war Kouki Nagara, ein Junge aus der Nebenklasse, den sie vor dem Sommercamp nur flüchtig gekannt hatte „Verdammt nochmal, rufen Sie endlich ihren Hund zurück!“, rief er aufgelöst. Er atmete schwer und in seinen Augen flackerte eine beunruhigende Mischung aus Mut und Angst. Sein wirres braunes Haar schien heute noch mehr abzustehen als üblich. Er hielt Fumikos Handgelenk so stark umklammert, als bräuchte er selbst etwas, woran er sich festhalten konnte. Er hatte mehr Angst als sie selbst, fiel Fumiko auf, die sich seltsam betäubt fühlte. Der Hundebesitzer erwachte endlich aus seiner Starre, machte ein paar Schritte auf seinen Köter zu und packte die Leine. „Aus jetzt, brav, brav“, murmelte er beruhigend und zerrte seinen Hund mit erstaunlicher Kraft zurück. Der Hund bleckte noch einmal die Zähne und ließ dann von Fumiko und Kouki ab. Knurrend folgte er dem Mann, der sich wortlos mehrmals verbeugte und sich rückwärts in der Nähe der Hauswand in die nächste Seitengasse verdrückte. Fumiko fehlte plötzlich sogar die Kraft, über ihn den Kopf zu schütteln. Kouki ließ sie los. „Alles in Ordnung?“ Er wirkte immer noch außer Atem. „Glaub … schon“, murmelte sie. Sie zitterte, fiel ihr auf, und ihre Hände waren eiskalt, kälter, als sie sein sollten. „Fumiko!“ Aiko warf sich ihr weinend um den Hals, während sie selbst sich seltsam abwesend fühlte und nicht einmal auf die Idee kam, die Umarmung zu erwidern. Kouki schüttelte den Kopf, während er in die Richtung sah, in der der Mann mit dem Hund verschwunden war. „Was hast du denn mit dem Vieh gemacht? Bist du ihm auf den Schwanz getreten?“ Sie schüttelte stumm den Kopf. „Gar nichts“, murmelte sie und fühlte sich heiser. „Er hat mich wohl einfach … nicht riechen können.“ „Der Kerl spinnt ja wohl!“, rief Aiko aus und schniefte. Ihre Augen waren fast so sehr gerötet wie ihre Wangen und passten sich somit ihrer Haarfarbe an. „Man sollte den einsperren!“ Fumiko versuchte ein Lächeln. „Es war sein Hund, der mich angefallen hat, nicht er.“ „Trotzdem“, sagte Kouki bestimmt. „Man sollte seinen Hund immer im Griff haben. Wenn das Herrchen gut ist, ist der Hund auch gut.“ Er warf den beiden Mädchen noch einen Blick zu. „Kommt ihr beiden klar? Ich hab’s nämlich eigentlich … ähm … eilig.“ „Äh, ja, klar“, murmelte Fumiko. „Vielen Dank.“ „Keine Ursache.“ Kouki vergewisserte sich mit einem letzten Blick, dass Fumiko nicht verletzt war, dann drängte er sich durch die Menschenmenge, durch die ein erleichtertes Aufatmen gegangen und die tatsächlich für einen Moment ins Stocken gekommen war. Einige Leute kamen noch auf Fumiko und Aiko zu, erkundigten sich nach ihrem Wohlbefinden oder schimpften über diesen unverantwortlichen Hundebesitzer. Auch eine Verkäuferin aus dem Klamottenladen kam herausgelaufen. Fumiko hörte ein paar Kinder davon reden, wie cool sie Kouki doch gefunden hätten, als er sich todesmutig dieser wilden Bestie entgegengeworfen hatte. Bei diesen Worten presste sie sich die Hand aufs Herz. Wenn er nicht zufällig erschienen wäre … wäre sie jetzt tot? Sicher hätte ihr jemand anders geholfen, aber wäre diese Hilfe dann auch rechtzeitig gekommen? „Oh, du hast was verloren“, sagte Aiko und hob ihr Federpennal auf, das am Boden neben dem umgerissenen Kleiderständer lag. Fumiko hatte es zuoberst in ihre Schultasche gepackt gehabt, jetzt sah sie, dass die Lasche aufgegangen war. Als sie die Schachtel wieder in die Tasche stopfte, fiel ihr etwas auf. „Was ist das?“ Sie zog etwas heraus, das wie ein Handy aussah, klein und kompakt, zusammengeklappt. Es war von einem reinen Weiß, das im schwindenden Licht blitzte, und dunkelblau eingerahmt. Hatte sie versehentlich das Handy von jemand anderem eingepackt? „Hast du das schon mal gesehen, Aiko?“, fragte sie. „Was meinst du? Ist es nicht deins?“ Fumiko schüttelte den Kopf. „Ich hab’s zumindest noch nie gesehen.“ „Vielleicht gehört es Mikan?“ „Möglich.“ Sie zuckte mit den Schultern. Mikan war Fumikos Sitznachbarin und ziemlich schusselig. „Du kannst es ihr ja morgen wiedergeben.“ Aiko bückte sich, um der Verkäuferin dabei zu helfen, die Kleiderbügel wieder aufzuhängen – die meisten Klamotten waren von ihrem Kurzurlaub auf dem feuchten Pflasterboden schmutzig geworden und die Frau sortierte sie gerade aus –, wurde aber von ihr gebeten, sich nicht zu bemühen. Unschlüssig, aber auch ein wenig sehnsüchtig blickte Aiko in das Geschäft, das einladend erhellt war. „Willst du immer noch shoppen?“ Fumiko überlegte. Schließlich zuckte sie mit den Schultern. Sie hielt nicht allzu viel von den überlangen Klamotten-Shoppingtouren, die Aiko so begeisterten, aber ein wenig Abwechslung tat ihr jetzt sicher gut. Und auf dem Heimweg würden sie sich dann einen heißen Tee oder etwas in der Art holen. „Warum nicht?“   Die Fußgängerzone war eine Abkürzung zu Koukis Haus, ansonsten wäre er gar nicht erst zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen. Gut gelaunt schlenderte er den Rest des Weges zu seinem Haus. Er fühlte sich wie ein Held, und da ihn nach der Sache in der Schule heute sowieso das Gewissen geplagt hatte, nicht geholfen zu haben, konnte er sich nun damit brüsten, einem Mädchen in Not – in Lebensgefahr, so wie er das sah! – geholfen zu haben. Die kleine Fumiko war zwar nicht wirklich sein Typ, aber er konnte nicht leugnen, dass er es genossen hatte, wie sie sich an seinen Arm geklammert hatte. Er war der Prinz auf dem weißen Schimmel gewesen, oh ja. Bester Stimmung schloss er die Tür des kleinen Hauses in dieser unbedeutenden Nebengasse auf, entschlossen, die unschöne Begegnung mit diesem tollwütigen Hund mit der eines viel niedlicheren, kreuzbraven Welpen zu kompensieren. „Bin wieder da!“, rief er, während er in die Wohnung trat und aus seinen Schuhen schlüpfte. Als er seine kleine Schwester auf dem Sofa sitzen sah, ein Kissen umarmend, wusste er, dass etwas nicht stimmte, und als er ihre rot verweinten Augen entdeckte, machte sich ein flaues Gefühl in seiner Magengegend breit. „Was ist los?“, fragte er, seine Stimme klang für ihn selbst ungewohnt rau. Die kleine Aya sah ihn nur an, schluchzte dann und brach in Tränen aus. Kouki trat zögerlich auf sie zu. „Was ist passiert, Schwesterherz?“ „Yu-Yuki“, brachte die Fünfjährige unter Tränen hervor. „Was? Was ist mit Yuki?“ Er war kurz versucht, seine Schwester an der Schulter zu packen und die ganze Geschichte aus ihr herauszuschütteln. „Jetzt red schon!“ Er hörte ihre Schritte, als seine Mutter aus der Küche kam. Sie schwieg. „Was ist passiert? Mama!“ Seine Mutter wich seinem Blick aus, als sie traurig sagte: „Yuki ist tot, Kouki. Es tut mir leid.“ „Nein.“ Kouki fühlte, wie seine Beine butterweich wurden. Er taumelte. „Wie … wie kann das sein?“ Er sah noch das kleine, strahlend weiße Gesicht vor sich und meinte die raue Zunge zu spüren, die über seine Wange leckte. Tot? Niemals … sie logen ihn an … „Er ist vor ein Auto gelaufen“, fuhr seine Mutter leise fort. „Wir wollten dir den Anblick ersparen, also haben wir ihn begraben.“ Er hatte ihn nicht einmal ein letztes Mal zu Gesicht bekommen … heute Morgen hatte Yuki ihm zum Abschied noch hinterher gebellt … „Verdammt!“ Kouki ballte die Fäuste und spürte Tränen in seine Augen steigen. „Hat dieser verdammte Fahrer nicht besser aufpassen können?“, schrie er wütend. „Es war nicht seine Schuld, Kouki“, sagte seine Mutter beschwichtigend, aber er stürmte schon aus dem Haus in den Garten. Unter dem Apfelbaum fand er den kleinen Erdhügel, auf den sie ein kleines, hölzernes Kreuz gesteckt hatten. Seine Mutter trat von hinten an ihn heran und legte ihm die Hände auf die Schultern. Kouki stand nur da und merkte beiläufig, dass es zu schneien begonnen hatte. Er hielt eine Hand auf und fing eine Schneeflocke. Was für eine Ironie …, dachte er. Es schneit, und sein Name war Yuki. Seine Füße wurden langsam kalt, er spürte, wie die feuchte Erde sich an seine Socken klebte und sich Nässe in den Stoff saugte. „Gehen wir wieder rein“, sagte seine Mutter. Schweigend folgte er ihr nach drinnen, ging ohne ein Wort zu seinem Zimmer, das er von der Küche aus erreichen konnte. Dass er dabei die Dielen beschmutzte, war ihm gleich. In seinem Zimmer angelangt, drehte er den Schlüssel um, warf seine Schultasche achtlos in die Ecke und schmiss sich aufs Bett. Er vergrub das Gesicht in seinem Kissen und ließ seinen Tränen freien Lauf. Kapitel 2: Leuchtfeuer aus einer fremden Welt --------------------------------------------- Der Schwertkämpfer machte einen Satz und seine Klinge zog einen funkelnden Feuerschweif nach sich. Er traf den alten Mann frontal und schleuderte ihn rückwärts. Rote Zahlen leuchteten über seinem Kopf auf. Höhnisches Lachen ertönte. Eine glühende Aura hüllte den Krieger ein, ließ ihn größer, bedrohlicher wirken. Vor ihm tat sich ein Weltentor auf, eine wirbelnde Röhre im Boden, und ein brüllender Dinosaurier schwebte daraus empor. Der Feuerstrahl, der aus seinem Rachen schoss, prallte an einer unsichtbaren Schutzwand vor dem alten Mann ab, der sich eben wieder aufrappelte … „Jagari? Du hast Besuch!“ „Moment!“ Jagaris Finger flogen über die Tastatur. Der Alte kam wieder auf die Beine. Er machte eine Handbewegung und ein blauer Pfeil traf den Dinosaurier und fror ihn ein. „Gleich hab ich dich“, rief Jagari triumphierend in sein Headset; das Gelächter aus den Lautsprechern war verstummt. „Jagari, eine Klassenkollegin von dir ist da!“, nervte wieder seine Mutter, er hörte sie gedämpft durch die geschlossene Tür hindurch. „Sie bringt dir die Mitschrift von heute!“ „Jaja.“ Der Krieger hob sein Schwert, doch der Magier verschwand plötzlich in einer Rauchwolke und tauchte hinter ihm wieder auf. Jagari biss sich auf die Unterlippe. Jetzt war höchste Konzentration angesagt … „Sitzt du schon wieder vor dem Computer? Der Arzt hat gesagt, du sollst im Bett bleiben. Darf ich deine Freundin zu dir ins Zimmer lassen?“ Von wegen Freundin. Jagari drückte eine Tastenkombination. Der Magier schoss einen feurigen Blitz auf, der den Schwertkämpfer in den Rücken traf. „Ha!“, jauchzte Jagari. „Finishing Move! Was sagst du jetzt?“ Der Krieger brach zusammen und sein Körper verblasste. Der beschworene Dinosaurier verschwand ebenfalls. „Verdammt“, sagte BurstingStinger. „Das nächste Mal krieg ich dich, LordAres!“ „Träum weiter“, grinste Jagari im Siegestaumel. Das Bild verschwand, der Spielstand erschien. Sein Magier war auf die nächste Stufe aufgestiegen. „Üb deine Moves, während ich mich ans Leveln mache.“ „Morgen um dieselbe Zeit?“ „Steht.“ „Dann freu dich schon auf deine Niederlage.“ Es klickte, BurstingStinger hatte sich ausgeloggt. „Jagari!“ Seine Mutter klang nun mehr als genervt. „Das Mädchen wartet.“ „Sie soll dir das Zeug geben, ich hab gerade keine Zeit“, sagte er, während er sich durch den Fertigkeitenbaum klickte. Also wirklich, da hatte man endlich mal eine Erkältung und konnte zuhause bleiben, und trotzdem ließ einen die Schule nicht vergessen, dass es sie gab. Wie eine weitere, viel schlimmere Krankheit, die allgegenwärtig und chronisch war – chronisch langweilig vor allem. Nach einer Weile hörte er den Klingelbaum über der Tür. Das Mädchen war gegangen. Er wusste nicht, wer sie sein konnte, eigentlich verstand er sich mit den Mädchen seiner Klasse nicht besonders. Mit den Jungen eigentlich auch nicht. Am liebsten chattete er mit Leuten, denen er noch nie persönlich begegnet war, das war immer ungezwungen und interessant. Stirnrunzelnd sah er sich die neue Fähigkeit seines Magiers im Offline-Modus an. Es war im Prinzip der gleiche Blitz, mit dem er BurstingStinger erledigt hatte, und hatte sogar dieselbe Animation, nur verursachte er mehr Schaden. Jagari seufzte. Dass diese Spiele immer so schnell langweilig wurden, war mit ein Grund, warum er einfach immer weiterspielen musste – um vielleicht ein verstecktes Feature freizuschalten, das sie wieder interessant machte. An diesem Spiel, Nightmare Bastion Wonderworld, zockte er jetzt schon ziemlich lang. Eigentlich war die Online-Nutzung kostenpflichtig, aber er hatte es geschafft, sich durch einen genialen Hack Gratiszutritt zu verschaffen. Die Tür ging auf und seine Mutter seufzte, als sie ihn spielen sah. „Hier“, sagte sie und legte ein Plastiksäckchen auf seinen Schreibtisch. Jagari sah nicht hin. „Der Doktor hat gesagt …“, wollte seine Mutter sagen, aber Jagari unterbrach sie. „Es ist nur eine Erkältung. Spielen ist für mich die beste Medizin.“ Seine Mutter sah aus, als wollte sie noch etwas sagen, dann seufzte sie und ging wieder – natürlich ohne die Tür zu schließen. Das brachte Jagari ebenfalls zum Seufzen. Er stand auf, machte die Tür zu und wollte sich wieder vor den Bildschirm setzen, als sein Blick in das Säckchen fiel, das mit der Öffnung zu ihm lag. Da war doch nicht einfach nur ein Notizbuch drin, sondern … Verdutzt zog er ein gelbweißes, handyartige Etwas heraus.   Als Taneo endlich zuhause ankam, hatte sich der Schneefall bereits in einen dichten wattigen Vorhang verwandelt. Umso überraschter war er, als er den Jungen von der Schule sah. Er stand unter dem löchrigen Dach einer Bushaltestelle unweit von seinem Haus entfernt. Hatte er gewusst, dass Taneo hier wohnte? „Hey“, sagte Taneo und gesellte sich zu ihm. Oder war es Zufall? „Ha... Hallo“, murmelte der Junge. Soweit Taneo wusste, hieß er Shuichi. „Ich … wollte dir nur sagen … also, danke.“ „Keine Ursache. Du musst dich von denen nicht rumschubsen lassen. Renji hat bloß eine große Klappe.“ „Danke“, wiederholte Shuichi. „Aber es war unnötig. Jetzt werden sie dich nur auch ins Visier nehmen. Und mich … mich werden sie jetzt sicher noch härter in die Mangel nehmen. Es hat also überhaupt nichts gebracht.“ Taneo war überrascht, wie Shuichi das so überzeugt und inbrünstig sagen konnte, war er doch sonst ein geborener Stotterer. „Wenn sie dir blöd kommen, sag’s einfach den Lehrern.“ „Das kann ich nicht. Ich … Sie sind ja …“ „Deine Freunde?“, rief Taneo aus. „Vergiss es. Haben sie dir das eingeredet? Du bist doch nicht so dumm, das zu glauben, oder? Mensch, die nutzen dich aus!“ „Aber wenn ich petzen würde, dann …“, murmelte Shuichi, „dann würde ich sicher den Rest von meinem Stolz verlieren.“ Taneo schnaubte. „Was ist dir lieber, dein Stolz oder Freiheit? Allzu stolz hast du übrigens nicht gewirkt.“ Shuichi trat auf der Stelle herum, dann scharrte er mit dem Fuß in einem Schneehaufen, der sich vor ihm unter einer undichten Stelle im Dach gebildet hatte. Als er nichts sagte, strafft Taneo demonstrativ die Schultern. „Wie du meinst. Ich hab einfach nur versucht, dir zu helfen. Was du jetzt daraus machst, liegt an dir.“ Er sah in den Himmel, aus dem immer noch flauschige, kalte Flocken sickerten. „Brauchst du einen Schirm? Ich kann dir schnell einen von drinnen holen.“ „Nein, nein, ist nicht nötig“, versicherte ihm Shuichi hastig. „Der Bus wird bald da sein.“ „Wie du willst.“ Taneo verabschiedete sich halbherzig und lief das kurze Stück zu seinem Haus. Er stampfte den Schnee von seinen Schuhen und schloss die Haustür auf. Auf dem Esstisch fand er eine Nachricht von seinen Eltern; sie waren zu seiner Tante gefahren und würden erst spät nachts wiederkommen. Das Essen stünde in der Mikrowelle, und ein Paket wäre für ihn gekommen. Taneo fand es auf der Anrichte. Lächelnd riss er es auf. Es war ein professionelles Modellbauset mit Pneumatikteilen, das er sich im Internet gekauft hatte. Als er die Schachtel herauszog, rutschte noch etwas auf die Anrichte; eine Art Handy, das in den Farben Weiß und Violett gehalten war. Verwirrt kramte Taneo nach der Rechnung. Nur das Modellbauset war verrechnet worden. War das da so etwas wie eine Draufgabe? Vielleicht war ein Spiel darauf und man hatte es zu Werbezwecken mitgeschickt … Doch egal, welche der Tasten Taneo drückte, es ließ sich nicht einschalten. „Müll“, murmelte er und wollte es schon wegwerfen, überlegte es sich dann aber doch anders und steckte es ein. Sein Cousin kannte sich gut mit solchem Zeug aus, vielleicht konnte er es ihm reparieren.   Kouki fühlte sich leer und ausgelaugt, während er immer noch in seinem Bett lag. Draußen war es längst finster, und da er das Licht nicht eingeschaltet hatte, war alles um ihn herum schwarz. Yuki ging ihm nicht aus dem Kopf. Sie hatten ihn nur so kurz gehabt … dass er ihm trotzdem so sehr ans Herz gewachsen war, fand Kouki unfair. Sein Handy klingelte. Kouki ging nicht ran, aber wer immer ihn anrief, war hartnäckig. Zweimal hörte Kouki, wie sich die Mailbox einschaltete, und trotzdem gab er nicht auf. Niedergeschlagen zog er das kleine Gerät aus der Hosentasche. Es war Renji. Warum rief ausgerechnet der ihn an? „Was?“, murmelte er, als er abhob. „Alter, Kouki, wo steckst du?“, drang Renjis Stimme blechern an sein Ohr. „Wir haben Training, schon vergessen? Der Trainer ist stinksauer.“ Irgendwie ahnte Kouki, dass Renji ihn nur angerufen hatte, weil der Trainer es ihm befohlen hatte. „Ich fühl mich nicht gut. Sag ihm, ich kann heute nicht.“ „Aber du …“ Kouki legte einfach mitten in Renjis Satz auf. Er seufzte tief und ließ die Hand mit dem Handy aus dem Bett baumeln. Vor seiner Tür hörte er etwas rumoren. „Kouki? Ich muss noch mal kurz in den Laden, bevor sie zusperren.“ „Nein – warte bitte“, rief Kouki ihr zu. „Ich will … nicht derjenige sein, der es Nanami sagt.“ Seine ältere Schwester müsste eigentlich bald nach Hause kommen. Sie gab in letzter Zeit immer Nachhilfe und hatte einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass sie sich Yuki hatten anschaffen können. Koukis Mutter schwieg kurz, dann sagte sie: „In Ordnung. Ich warte noch ein wenig.“ „Danke.“ Kouki betätigte den Lichtschalter und machte sich seufzend daran, aufzuräumen. Als er seine Schultasche so ungestüm in die Ecke geschleudert hatte, hatten sich seine Schulutensilien auf seinem Teppich verstreut. Sein Blick fiel auf das Hundekörbchen, in dem noch letzte Nacht Yuki geschlafen hatte. Seine Schwestern hatten ähnliche in ihren Zimmern, und sie hatten sich mit Yukis Gesellschaft abgewechselt. Traurigkeit stieg wieder in ihm auf, wurde ein erstickender Knoten in seinem Hals, und er sagte sich, dass etwas stumpfsinnige Arbeit ihn auf andere Gedanken bringen würde. So begann er, seine Sachen zusammenzulesen – und stieß dabei auf etwas, das eigentlich nicht dabei sein sollte. Ein kleines, aufklappbares Gerät, weiß, mit weinroten Streifen. Stirnrunzelnd hielt Kouki es in die Höhe. War das in seiner Tasche gewesen?   Das Training zog sich heute ewig in die Länge. Kouki Nagaras Abwesenheit hatte ihren ohnehin jähzornigen Trainer so sehr auf die Palme gebracht, dass er heute besonders unausstehlich gewesen war. Alle von Renjis Muskeln schmerzten, und der Schnee hatte seine Laune auch nicht gehoben. Natürlich trainierten sie im Freien, der Wahlspruch des Trainers war: Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Ausrüstung. Dieser Idiot. Aber heute war einfach nicht Renjis Tag. Was soll‘s. Als er aus der Dusche kam und sich anzog, entdeckte er ein fremdes Handy, das in seiner Sporttasche lag. Er kannte die Marke nicht; aber es war weiß und grün und definitiv ein Handy. Und definitiv nicht seins. „Gehört das einem von euch?“, fragte er die anderen Jungen in der Umkleide. Sie sahen das Ding stirnrunzelnd und kopfschüttelnd an. „Ist es nicht deins?“ „Dann würd ich nicht fragen.“ Das kleine Gerät sah brandneu aus. Wer’s findet … „Naja, jetzt ist es wohl meins.“   Ringsum schwammen die schillerndsten Fische und genossen den Frieden am Grund des Sees. Gennai hatte die Augen geschlossen und das Schwert auf die Knie gelegt, als er im Gras vor seiner Hütte hockte. Über ihm verbanden sich die Wassermassen zu einem lila schimmernden Bogen und ließen keinen Windhauch zu seinem Haus gelangen. Als das Rumoren im Boden ertönte, wusste er, dass das Warten ein Ende hatte. Sie hatten ihn gefunden. Gras wurde zerfetzt, Erdklumpen wirbelten auf, als zwei bleiche, knochige Scherenhände sich durch den Boden wühlten. Das Digimon kam nicht durch das Wasser geschwommen, es hatte den langen Weg gewählt und sich unter den See gebohrt. Innert Sekunden spie das Loch im Boden eine grässliche Kreatur aus, das Skelett eines Kriechtieres mit langem, klingenbewehrtem Schwanz. „Habe ich dich“, sagte das SkullScorpiomon. Seine Stimme klang, als würde Stein Knochen zermahlen. „Kaum zu glauben, dass du dich hier zu verstecken versuchst …“ Das Digimon öffnete das von nadelspitzen Zähnen gesäumte Maul und ein Stakkato aus blitzenden Strahlen schnellte Gennai entgegen, der sich mit einer gewagten Seitwärtsrolle außer Reichweite katapultierte. Während er über den Boden schlitterte und durch den Schwung wieder auf die Beine kam, schlugen die Lichtblitze nebeneinander in seinem Haus ein, durchlöcherten Holz und zerfetzten Balken, rissen faustgroße Löcher in die Wände und die Dächer. Die Erde bebte und Vibrationswellen liefen über die Wasserwände. Als Gennai sein Schwert zum Kampf erhob, krachte das Gebäude unter lautem Getöse zusammen und Staub und Holzspäne stoben in alle Richtungen davon. SkullScorpiomons glühende, gelbe Augen huschten über den rauchenden Trümmerhaufen. „Die DigiEier“, krächzte es. „Wo sind sie?“ Gennai deutete mit dem Schwert auf das Digimon und sagte, ohne eine Miene zu verziehen: „Es ist eure eigene Schuld, dass ihr eure Zeit mit der Jagd nach mir verschwendet habt.“ Ein Fauchen verließ den Rachen des Skelettwesens. „Du unvollkommene Existenz! Du hast uns in die Irre geführt! Du hast die Eier gar nicht mehr!“, stellte es das Offensichtliche fest. Dann schien es zu überlegen. „LordMyotismon hat gespürt, dass sich ein Tor zur Realen Welt geöffnet hat. Sind die DigiVices etwa schon dort? Antworte!“ Doch Gennai schwieg, sein Blick war entschlossen, seine Lippen würden versiegelt bleiben. SkullScorpiomon stieß ein schrilles Kreischen aus. „Dann stirb, Undigimon!“ So schnell, wie man es seinem massigen Leib gar nicht zugetraut hätte, krabbelte es an Gennai heran. Das Schwert geriet zwischen die Scherenarme des Digimons und zerbarst mit einem Knall, und noch während Gennai zurückweichen wollte, schnellte der Skorpionstachel wie eine Giftschlange hervor und durchbohrte seine Brust. SkullScorpiomon ließ erfreute Klicklaute ertönen, doch dann lösten sich Gennais Umrisse auf. Daten wurden umgruppiert, als der Doppelgänger seine wahre Gestalt annahm, und aus dem Gekicher des Digimons wurde einmal mehr ein wütendes Zischen, als an Gennais Stelle plötzlich eine große, violette Uhr schwebte, deren Zeiger sich rasend schnell drehten. Ein letztes Mal ertönte Gennais Stimme. „Das Licht wird triumphieren. Der Zeit der Asuras läuft bereits ab …“ Die Worte verhallten und die Uhr zerbarst in einem gleißenden Lichtwirbel.   Fumiko seufzte, als sie sich vor dem Spiegel der Umkleidekabine drehte und prüfend an sich herabsah. Aiko hatte darauf bestanden, dass sie das Outfit anprobierte, und eigentlich hatte sie ja recht; der beigefarbene Mantel mit dem Pelzkragen passte recht gut zu ihrem langen, blauschwarzen Haar. Der schwarzgrün karierte Herbstrock dafür weniger, wie Fumiko fand. Aiko würde sie sicher trotzdem anhimmeln, wenn sie aus der Kabine trat. Wie ihre Freundin so vernarrt in Mode sein konnte, war Fumiko ein Rätsel. Es reichte ja wohl, wenn man Sachen anhatte, die zum Wetter passten und nicht allzu auffällig waren oder? Zum Glück hatten sie vereinbart, nach Hause zu gehen, sobald sie sich Aiko gezeigt hatte. Ihre Stiefel ließ sie in der Ecke stehen, als sie die Hand nach dem Vorhang ausstreckte – und plötzlich drang ein gleißend heller Lichtstrahl aus ihrer Schultasche. Fumiko erschrak. Was war das? Wie von selbst öffneten ihre Hände die Tasche und griffen hinein.   Renji hatte lässig seine Sporttasche geschultert und ging mit gemischten Gefühlen nach Hause. In der U-Bahn war es schön warm gewesen, aber auf der kurzen Strecke bis zu seinem Wohnblock fror er sich jetzt die Zehen ab. Turnschuhe waren für frischen Schnee nicht die beste Wahl. Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Ausrüstung … Er zog die Nase hoch. Verdammte Kälte! Er hatte seinem Trainer – und sich selbst – etwas beweisen wollen und nur den Reserve-Jogginganzug und eine dünne Sportjacke darüber angezogen. Und alles nur, weil Kouki Nagara sie hatte abblitzen lassen … Er war so in Gedanken versunken, dass er das Licht, das aus seiner Sporttasche kam, erst bemerkte, als es bereits wie eine reinweiße Flamme auf ihn übergesprungen war.   Kouki wartete darauf, die Stimme seiner Schwester zu hören, denn im Haus war es drückend still geworden, als das seltsame Handy, das er auf seinen Schreibtisch gelegt hatte, in einem Licht zu strahlen begann, wie er es noch nie gesehen hatte. Es war grell wie die Sonne und dabei so wunderbar weich, dass es nicht in den Augen wehtat. Trotzdem blinzelte er instinktiv, als er darauf zutrat. Was zum Kuckuck war das? So etwas hatte er noch nie gesehen … Er streckte die Hand aus, um es auszuschalten, als etwas wie ein elektrischer Schlag durch seinen Körper fuhr und er sich plötzlich leicht wie ein Lichtteilchen fühlte – und dann zog sich alles um ihn herum auseinander und wurde im Bruchteil einer Sekunde ins Nichts zusammengepresst und verwandelte sich in das gleiche, weiß strahlende Licht, das alles Sichtbare so gründlich verschlang wie vollkommene Dunkelheit.   Als Kouki die Augen aufschlug, fehlte ihm völlig die Orientierung. Das wunderte ihn zunächst nicht, er war einmal beim Fußballtraining schwer ausgeknockt gewesen und hatte nicht einmal mehr sagen können, wo oben oder unten war. Blinzelnd setzte er sich auf. Ein blauer Himmel lachte ihm entgegen. Aha, da war also schon mal oben. Die Erinnerungen kamen langsam zurück, als er mit den Fingern über das spärliche Gras tastete, das wie Ausschlag in Büscheln auf nacktem, rauem Erdboden spross. Er war im Freien – aber sollte es nicht finster sein? Ja, es war Abend, das sah er; am Horizont war das Blau bereits von einem verträumten Violett durchdrungen, inmitten dessen die Sonne rot wie eine frische Wunde klaffte. Stöhnend setzte er sich auf und griff sich an den Kopf. Er fühlte sich schwer an, aber nicht verletzt. Das hieß, er war nirgends dagegengeknallt. Das hieß, er träumte. Ein humorlos grinsendes Gesicht, das von kurzen blonden Haaren eingerahmt wurde, beugte sich über ihn. „Na, Alter? Wie war das, heute keine Zeit fürs Training? Das sieht für mich aber anders aus.“ „Halt die Klappe, Renji“, murmelte Kouki und stand auf. Selbst jetzt war Renji noch ein wenig größer als er. Hatte er nicht gesagt, er würde nicht zum Training kommen, weil er sich nicht gut fühlte? Er glaubte, sich immerhin daran erinnern zu können – danach an das seltsame Handy und an das helle Licht, und dann war alles weg. Was war nur mit ihm geschehen? Wie war er hierher gekommen? War das tatsächlich ein Traum? Wieso war Renji hier? Kouki sah sich um. Sie standen – im Wald. Buchstäblich. Dürre, tote Bäume ragten rings um sie herum auf, dunkelbraune bis schwarze Stämme, verkrüppelt und traurig blattlos. Und sie beide waren nicht allein hier: Ein jüngerer Bursche huschte aufgeweckt umher und strahlte über das ganze Gesicht, während er immer wieder mit den Händen über die Baumstämme und den Boden tastete. Kouki glaubte, ihn schon einmal gesehen zu haben, aber genau konnte er es nicht sagen, da er das blonde Haar über ein Auge gegelt hatte, wo es ihm bis zur Nasenspitze reichte. Neben ihm stand, mit dem Rücken zu ihm, ein Mädchen mit seidig glänzendem, schwarzem Haar. Etwas weiter entfernt von ihnen sah er ein zweites Mädchen, das sie genauso gründlich beäugte wie Kouki; sie hatte ihr karottenrotes Haar hochgesteckt und war schlank und groß, wirkte fast schon erwachsen. Sie trug wie Renji eine Jogginghose, dann noch einen weiten Strickpulli und Stoffpantoffeln. Zwischen den Bäumen glaubte Kouki noch einen Schatten auszumachen, aber er war immer noch ein wenig benommen. „Wie …“ „Wie du hierher kommst? Keinen Schimmer“, sagte Renji und grinste schief. „Eigentlich komisch, dass ich ausgerechnet von dir träume.“ „Hä?“ Renji lachte. „Ich bin hier auch ohne Plan aufgewacht. Ein Traum ist es also nicht, in einem Traum wacht man ja schließlich nicht auf.“ Kouki konnte diese Form von Logik nicht unbedingt nachvollziehen, aber Renji erwartete keine Antwort. Auch er musterte die anderen und als das schwarzhaarige Mädchen sich umdrehte, strahlte er. Kouki erkannte Fumiko Shinokiri, das Mädchen von heute Nachmittag, auch wenn sie sich umgezogen hatte und nun einen schicken Herbstmantel anstatt Weste und Schuluniform trug. Seltsamerweise hatte sie keine Schuhe an. „Fu-mi-ko-chan!“ Renji hüpfte mit großen Schritten auf sie zu und Kouki sah, wie Fumiko ärgerlich die Stirn runzelte. „Ich weiß, es ist schade, dass das mit dem Kino ins Wasser gefallen ist, aber ein romantisches Picknick im Wald hat ja auch seinen Reiz“, grinste Renji verschmitzt. „Ihr kennt euch?“, fragte Kouki. „Ich meine, näher?“ Immerhin waren sie beide mit ihm im letzten Sommer in diesem Camp gewesen. „Klar. Fumiko ist meine So-gut-wie-Freundin.“ Er legte den Arm um das Mädchen, aber ein einziger zorniger Blick ließ ihn zurückzucken. Kouki hob fragend die Augenbrauen. „Anstatt dich wie ein Pfau beim Balztanz aufzuführen, könntest du auch darüber nachdenken, wie wir hier wieder wegkommen?“, fragte Fumiko verächtlich. Renji zog einen Schmollmund und Kouki grinste. „In dieser Richtung ist der Wald nicht mehr ganz so tot“, sagte eine melodische Stimme. Kouki sah, wie Taneo Kuromori zwischen den Bäumen hervortrat. Er trug legere Freizeitkleidung und sein Lockenkopf wirkte noch zerzauster als heute Vormittag. „Hey!“ Renjis Mund klappte auf und er zeigte mit ausgestrecktem Arm auf ihn. „Du bist der kleine Wichser von heute Mittag!“ Taneo sagte nichts, sondern starrte ihn nur zornig an, und Kouki drückte Renjis Arm hinunter, als wäre sein ausgestreckter Finger ein Pistolenlauf, mit dem er den Jüngeren bedrohte. Der aufkeimende Streit wurde unterbrochen, als der blonde Junge zwischen die vier wuselte und mit glänzenden Augen Koukis Gesicht mit den Fingern nachfuhr. Irritiert wischte der seine Hand weg. „He, was wird das?“ „Irre“, hauchte der Junge. „Total realistisch! Ist das nicht fantastisch?“ „Was zum Teufel faselst du das?“, fragte Renji. „Wir stecken irgendwo im Nirgendwo fest, und keiner hat einen Tau, wie wir hier hergekommen sind. Über deine Auffassung von fantastisch müssen wir noch reden.“ Kouki überlegte. „Da war dieses Gerät … und das Licht …“ Der kleinere Junge verlor nichts von seiner Begeisterung. „Ich weiß, dass sie auf diesem Gebiet große Fortschritte gemacht haben, aber dass sie schon so weit sind …“ Er schüttelte den Kopf, als könnte er sein Glück kaum fassen. „Moment – heißt das, du weißt, was hier abgeht?“, fragte Renji. „Aber klar! Ihr etwa nicht? Das ist eine virtuelle Welt.“ Der Junge grinste triumphierend. „Sagt schon, woher kennt ihr meinen Bruder?“ Er hustete. „Hä?“ Nichts von dem, was er sagte, ergab in Koukis Ohren irgendeinen Sinn. Renji schien es ähnlich zu gehen, denn er kratzte sich ratlos im Genick, während Fumiko offensichtlich an dem Verstand des Blonden zweifelte und Taneos Gesicht keinerlei Ausdruck zeigte. „Shinji Morino! Ich bin Jagari, sein Bruder!“ Jagaris Tonfall nervte Kouki. Als würde er mit kleinen Kindern sprechen … Wenn schon nicht er selbst, war Jagari vielleicht auf den Kopf gefallen? Auf ihre verständnislosen Gesichter hin seufzte der Junge und sagte: „Ihr macht bei dem Experiment mit und wisst gar nichts darüber? Verstehe, sie wollten den Effekt vergrößern …“ „Was für ein Experiment?“ Renji sah aus, als würde er im nächsten Moment verzweifeln. Jagari atmete tief durch, was in einem Hustenanfall endete. „Mein Bruder studiert Computer Vision. Die haben da ein Projekt mit VR-Helmen und solchem Zeug. Ihr habt sicher schon mal davon gehört, du setzt einen Helm auf und siehst eine komplett andere Welt, und je nachdem, wie du dich bewegst, ändert sich das Bild. Man kann vollständige virtuelle Welten damit simulieren.“ „Das ist doch Sci-Fi-Schwachsinn“, winkte Renji ab. „Das ist kein Sci-Fi!“, rief Jagari entrüstet. „Sowas gibt’s wirklich. Mein Bruder wollte mir zeigen, wie weit sie schon damit sind. Der Spaßvogel muss mir den Helm aufgesetzt haben, während ich geschlafen habe.“ „Jetzt mal langsam“, sagte Kouki. „Meinst du nicht, wir hätten es bemerkt, wenn uns jemand einen Helm aufgesetzt hätte?“ „Und wenn du einen Helm aufhättest, warum kannst du ihn dann nicht abnehmen?“, fügte Fumiko hinzu. Jagari sah sie verdutzt an, dann tastete er über seinen Kopf und machte ein säuerliches Gesicht. „Wenn ihr eine bessere Erklärung habt, dann raus damit“, murmelte er und wirkte beleidigt. „Wie wär’s, wenn ihr das schlaue Reden bleiben lasst und wir stattdessen die nächsten Anzeichen von Zivilisation suchen?“, kam es da erstmals von dem zweiten Mädchen, das immer noch in betontem Abstand zu der restlichen Gruppe stand. Kouki runzelte die Stirn. Sie kam ihm vage bekannt vor, als hätte er sie schon mal aus der Ferne gesehen … „Sag mal, bist du nicht zufällig im Staffelläuferinnenteam?“, fragte er. „Und wenn?“ Den Blick, den sie ihm zuwarf, konnte man höchstens als gelangweilt, wenn nicht verächtlich einstufen, und sein erster Eindruck war, dass er sie nicht mochte. „Schon gut, Miss Kalte Schulter, hab ja nur gefragt“, brummte er. Kouki war normalerweise als Frohnatur bekannt, aber Yuki war heute gestorben und er hatte keine Lust, besonders höflich zu tun. „Du heißt Tageko, oder?“, fragte da Fumiko. „Tageko Mida. Du warst auch in dem Camp letzten Sommer.“ Tageko zuckte mit den Schultern. „Der Kleine hat vorhin gesagt, dass der Wald dort drüben nicht ganz so unfreundlich aussieht“, sagte sie kühl. „Ich würde sagen, wir schlagen mal diese Richtung ein, bevor wir hier unsere Zeit totquatschen.“ „Der Kleine mag deinen Tonfall nicht“, sagte Taneo finster. „Wie schade“, gab sie spöttisch zurück. „Wie schade“, ätzte Renji. Kouki seufzte. Das konnte ja heiter werden. Kapitel 3: Das Ungeborene ------------------------- Sie gingen also in die Richtung, die Taneo ausgekundschaftet hatte. Jagari schien von seiner Vorstellung, das hier wäre ein riesiges simuliertes Spiel, nicht ablassen zu wollen, und huschte, strahlend wie eine Flutlichtlampe, von Baum zu Baum, erkundete jeden Riss in der Rinde mit seinen Fingerkuppen und war wunschlos glücklich. Kouki fiel auf, dass die Kleidung der anderen Aufschluss darüber gab, was sie getan hatten, ehe sie hierher transferiert worden waren. Während er selbst noch seine Schuluniform trug – die Trauer um Yuki hatte ihn davon abgehalten, sich umzuziehen –, lief Jagari im Pyjama und schmutzigen Socken herum, Renji trug seinen Trainingsanzug, Taneo und Tageko legere Freizeitkleidung, und Fumiko … nun, sie war jedenfalls teuer gekleidet. Vielleicht wollte sie zu irgendeinem wichtigen Event – oder ihre Eltern hatten massig Kohle. Die Umgebung wurde tatsächlich freundlicher. Während sich das Abendrot weiter über den Himmel ausbreitete, wurde der Wald verträumter, das Grün stetiger und satter, und die Bäume trugen wieder Blätter. Zunächst waren sie ein wunderschönes Mosaik aus herbstlichem Weinrot, Gelb und Orange, dann wurden sie dunkel- und schließlich herrlich hellgrün und saftig. Kouki wurde immer verwirrter. Es war, als liefen sie mitten durch die Jahreszeiten – in welchem Märchenland waren sie denn hier? Plötzlich erstarrte Jagari, der quasi ihre Vorhut bildete, und bückte sich ein wenig, wobei er an eine Katze erinnerte, die sich an ihre Beute anpirschte. Auch die anderen blieben stehen, und er deutete vorsichtig auf einen Baum in der Nähe. Zwischen den Blättern hockte auf den Ästen ein merkwürdiges … Etwas und spähte auf sie. Es war fast nicht auszumachen, hatte sich perfekt getarnt – aber es war definitiv kein Blatt, ebensowenig wie die grüne Kugel an der Vorderseite mit den lila Stacheln eine Kastanie war. Zumindest kannte Kouki keine Kastanien mit einem niedlich wirkenden Gesicht. Das Wesen war genauso starr wie Jagari, bis Letzterer von einem Hustenanfall geschüttelt wurde, der es erschrocken zusammenzucken ließ. Blätter raschelten, und es war fort. „Was war das?“, murmelte Taneo stirnrunzelnd. Jagari schluckte laut und die anderen folgten ihm, während er weiterging. Sie erreichten eine kleine Lichtung, wo sie das grüne Wesen auf einem riesigen Baumstumpf wiederfanden – zusammen mit anderen seltsamen Kreaturen und einem großen, gemusterten Ei. Kouki starrte die Tierchen mit offenem Mund an. Neben dem Blätterding hüpfte da noch ein fleischfarbener Geist herum, der aussah wie ein Kunstwerk aus Kaugummi mit großen, treuherzigen Augen, daneben saß ein niedliches, plüschiges grünviolettes Ding mit markanten Ohren und einem langen Schwanz mit Ringelmuster. Am ehesten wie ein wirkliches Tier sah ein kleines, haariges Meerschweinchen aus, das allerdings einen langen buschigen Schweif und überlange Ohren besaß, und dann war da noch ein von violettem und weißem Pelz bedecktes Tierchen mit noch buschigerem Schwanz, ohne irgendwelche Gliedmaßen; dafür trug es einen metallenen Helm mit zwei spitzen Stacheln auf dem Köpfchen. Und kaum dass die sechs die Lichtung betraten, kam Leben in die Wesen und sie wuselten kreischend und, wie Kouki sich einbildete, jubelnd umher. „Sie sind es! Sie sind es!“ Augenblick, jubelnd? Sie konnten sprechen? Verdutzt betrachteten sie diesen Aufmarsch an Fellknäueln, bis Jagari ausrief: „Irre! Das sind die ersten Creeps!“ Er sah sich aufgeregt um. „Schnell, wir brauchen sicher irgendeine Waffe, wenn wir gegen sie kämpfen sollen!“ Der Kaugummigeist schwabbelte auf ihn zu. „Aber Jagari“, meinte er mit hoher Stimme, „wieso willst du gegen uns kämpfen? Mit uns ist es doch viel besser.“ Jagari glotzte das kleine Monster an, fassungslos, dass offenbar sogar sein Name in dieses Spiel eingebaut war – und diesen Moment der Starre nutzte der Geist aus, um aus dem Stand in seine Arme zu springen. Jaragi schrie auf und stolperte rückwärts, wo er gegen einen Baumstamm stieß. „Nein! Schnell, nehmt es weg! Es zieht mir sicher gerade HPs ab!“ „Sieht aber nicht so aus“, lachte Renji, als der Geist sich lächelnd an Jagaris Brust schmiegte. In dem Moment sprang der Fellball mit dem Schwanz und den Katzenohren vor Koukis Füße. „Endlich seid ihr da“, piepste er. „Willkommen, Kouki!“ „Langsam“, murmelte Kouki. „Du kannst also sprechen? Und du weißt, wer ich bin? Wer … oder was seid ihr denn überhaupt?“ Er sah, wie Renji unbehaglich versuchte, dem Meerschweinchen auszuweichen, das ihn hartnäckig verfolgt. Das Blattwesen schien eher schüchtern zu sein, es lugte zwar ständig zu Tageko, blieb aber auf Distanz. „Ich bin Nyaromon!“, fiepte der grünviolette Fellball und schaffte es irgendwie, vor Kouki auf und ab zu hüpfen, bis er sich schließlich bückte und ihn aufhob. Er war weich und warm. „Und ich bin dein Digimon-Partner!“ „Digimon?“ Hatte er dieses Wort nicht schon mal gehört? Taneo, an dessen Bein sich das Wesen mit dem Helm rieb, schien den gleichen Gedanken zu haben. „Wisst ihr nicht mehr? Vor vier Jahren, im Winter 2002. Da sind doch überall auf der Welt Monster aufgetaucht, und ich könnte schwören, dass es damals Leute gegeben hat, die sie als Digimon bezeichnet haben.“ „Monster? Diese kleinen Scheißer?“, rief Renji belustigt aus, während er von einem Fuß auf den anderen sprang, um das Schweinchen daran zu hindern, sein Hosenbein hochzukrabbeln. „Und woher kennt ihr jetzt unsere Namen?“, fragte Kouki erneut. Nyaromon sah ihn verständnislos an. „Na, wir sind eure Partner!“, sagte es, als würde das alles erklären. „Als ob ich ein Haustier bräuchte“, schnaubte Renji. „Geh endlich runter von mir!“ Er stampfte mit dem Fuß auf. So schnell, wie Kouki es gar nicht für möglich gehalten hätte, sauste das Meerschweinchen um ihn herum, sprang bis zu seinem Oberschenkel hoch und wirbelte wie ein Eichhörnchen spiralförmig um ihn herum, bis es auf Renjis Kopf saß und sich die Pfoten leckte. „Also so langsam hab ich den Eindruck, du magst mich nicht, Renji“, sagte es und in seinen Augen blitzte der Schalk. „Dabei sind wir doch Partner!“ „Ich hör immer Partner“, murmelte Taneo. „Partner, wobei?“ „Na, um die Asuras zu besiegen“, sagte der behelmte Fellball, der mittlerweile auf seiner Schulter hockte. Das Ganze wurde immer verrückter. Vielleicht war Kouki dabei, den Verstand zu verlieren? Konnte Yukis Verlust so etwas bewerkstelligen? „Wer sind die Asuras?“ „Das wissen wir nicht. Gennai hat uns gesagt, wir müssten hier auf euch warten, damit wir gegen sie kämpfen können. Alles andere wollte er uns später erklären“, sagte Nyaromon. Kouki wusste immer noch nicht, ob er das niedliche Digimon hinter den Ohren kraulen oder lieber die Finger von ihm lassen sollte. „Und wer ist Gennai?“ „Er hat unsere Eier hierher gebracht“, sagte Nyaromon, was nicht wirklich Koukis Frage beantwortete, aber da ihm die Situation von Minute zu Minute surrealer vorkam, hakte er nicht nach. Das Blöde aber war: Er wusste, dass es kein Traum war. Kouki träumte nur selten, und kein Traum war so greifbar wie das hier. „Das heißt also, ihr seid so etwas wie unsere Hausmonster, mit denen wir gegen die bösen Jungs kämpfen müssen“, sagte Jagari und schien wieder bester Laune und vollends zufrieden zu sein. „Dürfen wir euch auch Namen geben? Oder sind die schon vorgegeben?“ „Ich weiß nicht genau, was du damit meinst“, sagte der Kaugummigeist in seinen Armen, „aber ich heiße Motimon.“ „Ich bin Kapurimon!“, piepste Taneos behelmtes Tierchen. Das Blätterdigimon hatte sich endlich bis zu Tagekos Knöcheln vorgewagt und sah sie aus großen Augen an. „Bu… Budmon“, fiepte es. Tageko hob die Augenbrauen. „Und ich schätze, du bist mein … Partner?“ Das Digimon nickte schüchtern. „Und ich bin Nyaromon!“, wiederholte Nyaromon stolz. „Aha“, murmelte Kouki. Renji versuchte, das Digimon auf seinem Kopf anzusehen. „Lass mich raten, du bist Schweinchenmon.“ „Ha, ganz falsch!“, rief das Meerschweinchen und schlug ihm spielerisch mit dem langen Schwanz auf die Nase. „Ich bin Kyaromon.“ „Na traumhaft“, murmelte Renji. „Hey, Kouki, unsere zwei heißen fast gleich. Wollen wir zur Sicherheit bei Ballmon und Schweinchenmon bleiben?“ Kouki schmunzelte, wurde aber sofort wieder ernst, als er Fumiko beobachtete. Das Mädchen hatte als Einzige kein Wort gesagt. Ihm fiel auf, dass offenbar keines der Digimon sie als Partner ausgewählt hatte. Stumm trat sie an den anderen vorbei auf den Baumstamm zu, auf dem das Ei lag. Es hatte in etwa die Größe eines Straußeneis, aber die weiße Schale zierten violette, zackige Muster. Fumiko ging davor in die Hocke und berührte das Ei. Ein haarfeiner, verästelter Riss durchzog die Oberfläche. In ihrem teuren Herbstmantel und mit dem traurigen Gesicht erinnerte sie Kouki, wie sie mitten auf der malerischen Lichtung hockte, an ein Gemälde, das er einmal gesehen hatte. „Ist das … mein Partner?“, fragte das Mädchen leise. Nyaromon sprang zu Boden und hüpfte zu dem Ei. Es klang traurig, als es sagte: „Es ist nicht geschlüpft. Wir sind alle ziemlich gleichzeitig aus unseren Eiern gekommen, aber das hier hat sich nicht gerührt.“ Er jetzt fielen Kouki die zerbrochenen Eierschalen auf, die auf der Lichtung herumlagen. Er trat an Fumiko heran. Sie sah tatsächlich wehmütig aus. Traf es sie so tief, die anderen so fröhlich mit ihren Digimon zu sehen? Oder einfach, dass sie als Einzige keines bekommen hatte? Kouki dachte an Yuki und der drückende Knoten in seinem Hals war wieder da. Er wollte etwas sagen, aber die Worte blieben ihm einfach in der Kehle stecken. Fumiko fuhr gedankenverloren den Riss in der Schale nach, der dem Ei von außen zugefügt worden war. Ein Rascheln ließ Kouki aufsehen. Noch eine Kreatur – auch ein Digimon? – war aufgetaucht und spähte zwischen zwei Baumstämmen lauernd auf die Gruppe. Im Vergleich zu den primitiven Lebewesen, die sie schon gesehen hatten, war sie geradezu weit entwickelt, obwohl sie nicht mehr war als ein brauner Vogel ohne sichtbare Flügel, mit zwei krallenbewehrten Beinen und einem langen, dünnen Schnabel, der wie sein Kopf mit einer Art Knochenschicht überzogen zu sein schien. „Was ist das denn?“, fragte Renji, der das Wesen ebenfalls bemerkt hatte, das geduckt heranschlich. Es reichte Kouki vielleicht bis zum Knie. Kyaromon beugte sich vor und stellte die Ohren auf. „Das müsste ein Kiwimon sein“, sagte es. „Ich dachte, ihr seid gerade erst aus euren Eiern geschlüpft? Wie kannst du dann wissen, was das ist?“, fragte Renji misstrauisch. „Ha!“, machte Kyaromon triumphierend. „Gennai hat uns gesagt, dass es Kiwimon in diesem Wald gibt und wir deshalb aufpassen sollen.“ „Aufpassen?“ Renji schnaubte. „Das Vieh sieht ehrlich nicht viel gefährlicher aus als ihr. Es sollte lieber selbst aufpassen, dass wir kein Grillhähnchen aus ihm machen. Langsam krieg ich nämlich Hunger.“ Auch Kouki glaubte nicht, dass das Digimon gefährlich war. Außerdem ignorierte es ihn völlig und fixierte nur das Ei mit seinen merkwürdig klug wirkenden, grünen Augen. Und dann huschte es plötzlich an ihm vorbei, mit lauten, trappelnden Schritten, seine Klauen rissen die Erde auf, und es begann heftig mit dem Schnabel an dem Ei zu picken. Fumiko zuckte zusammen, als sie das Geräusch hörte, und fuhr in die Höhe. Das Kiwimon hackte genau auf den Riss ein, und Kouki sah, wie er sich vergrößerte. „Mach, dass du wegkommst!“, schrie Fumiko und verpasste dem Vogeldigimon einen Tritt, der es zwei Meter weit davon schleuderte. Krächzend kam es wieder auf die Beine und funkelte Fumiko wütend an, umrundete sie und Kouki, öffnete den Schnabel – doch anstatt einer zwitschernden Schimpftirade, wie man sie von einem Vogel erwartet hätte, schossen andere, viel kleinere Vögel mit den gleichen knöchernen Kopfüberzügen daraus hervor wie Pistolenkugeln. Kouki schrie erschrocken auf. Er stand mitten in der Schusslinie und warf sich zu Boden. Erde schmierte sich auf seine Uniform und ein fieser Ast riss die Haut seiner Handfläche auf. Während er sich rasch aufrappelte, sah er, wie Fumiko einen Satz zurück machte und die Vögelchen auf dem Waldboden in kleinen Feuerbällen vergingen. „Was zum Teufel ist das für eine bescheuerte Welt?“, rief Renji, klang aber genauso erschrocken, wie Kouki sich fühlte. „Ein Vogel frisst Eier und schießt Vögel aus seinem Schnabel?“ Kaum dass Kiwimon Fumiko gezwungen hatte, zurückzuweichen, flitzte es schon wieder zu dem Ei und bearbeitete die Schale. „Du sollst da weggehen! Lass es in Ruhe!“ Fumiko brach einen Zweig von einem Laubbaum ab und schlug damit auf das Vogeldigimon ein. Kiwimon stieß protestierende Schreie aus, aber Fumiko ließ es gar nicht mehr zum Schuss kommen; kaum dass das Vogeldigimon sie anvisierte, verpasste sie ihm einen Hieb auf den Schnabel, der seinen Kopf zur Seite rucken ließ. „Wenn ich gewusst hätte, was die so alles drauf hat, hätte ich sie heute ja gar nicht vor dem Hund retten müssen“, murmelte Kouki beeindruckt. „Was meinst du damit?“, fragte Renji, doch er antwortete nicht. „Helfen wir ihr!“, piepste Nyaromon und hopste davon. „Es ist zwar nicht geschlüpft, aber es gehört zu uns!“ Mit zustimmenden Rufen sprangen auch die anderen Digimon aus den Händen ihrer Partner, sogar das schüchterne Budmon, und bauten sich zwischen Kiwimon und dem Ei auf – was angesichts ihrer Körpergröße lächerlich wirkte. „Motimon, komm zurück!“, rief Jagari. „Das Ding ist sicher auf einem höheren Level als ihr!“ Ein Geräusch drang an Koukis Ohren – und gleichzeitig stachen grelle Lichtstrahlen aus seiner Hosentasche. Das seltsame Gerät!, wusste er sofort, obwohl er sich nicht daran erinnern konnte, es eingesteckt zu haben. Auch von den anderen ging Licht aus, die Strahlen kreuzten sich und jedes ihrer Digimon wurde von einem davon eingehüllt, bis seine Gestalt völlig überdeckt war und – plötzlich fünf neue, größere Wesen anstatt der kleinen Fellknäuel vor Kiwimon standen. Fumiko ließ von dem Vogeldigimon ab und starrte sie mit offenem Mund an. „Kann mir einer sagen, was gerade abläuft?“, murmelte Renji, während Jagari mit großen Augen staunte. „Los!“ Die Stimme des kleinen Hundes, zu dem sich Nyaromon verwandelt hatte, war immer noch nicht merkenswert weniger piepsig. Die Digimon sprangen, flogen oder hüpften auf Kiwimon zu, das einen gewagten Sprung rückwärts machte und den Schnabel öffnete. „Kleiner Picker!“ Wieder schossen Vögelchen aus seinem Rachen. Das rotblaue, luchsartige Digimon, zu dem Jagaris Motimon geworden war, schüttelte den mit Federn bestückten Hinterleib. „Donnerschlag!“ Ein gleißender Blitz traf die Vögel im Flug und ließ sie zu rauchenden Wölkchen zerbersten. Kiwimon krächzte empört und wich weiter zurück. „Schimmelwaffe!“ Das größte der neuen Digimon, ein dicklicher Pilz mit lilafarbener Kappe, holte aus und warf gleichfarbige Pilze auf das Vogeldigimon. Einige davon zerplatzten in Lichtblitzen auf dem Boden, zwei trafen Kiwimons Gefieder, das daraufhin kreischend davonstürmte, plötzlich herumwirbelte und wieder auf das Ei zuhielt, als wolle es noch einen letzten Bissen von dessen Innerem ergattern, ehe es sich zurückzog. „Nicht so schnell!“ Renjis Meerschweinchen hatte sich seltsamerweise in eine Kerze mit Armen verwandelt, die auf einem goldenen Ständer hinterher hopste. Ein Feuerstoß verließ ihren Mund und sengte Kiwimons Nackenfedern an. Fumiko wich zurück, als sie die Hitze auf der Haut spürte. Der Welpe sprang leichtfüßig vor Kiwimon und stieß ein schrilles Jaulen aus, das Kiwimon taumeln ließ. Wieder öffnete es den Schnabel, aber es kamen keine Vögelchen mehr heraus – stattdessen stolperte es benommen über seine langen Beine und stürzte. „Jetzt!“, piepste Nyaromons neue Form. Taneos Fellball war zu einer Art Käfer mit metallischem Panzer geworden. Auf dem Kopf hatte er etwas wie elektrische Kontakte, zwischen denen es knisternd aufblitzte, als er auf Kiwimon zuflog und sein Fell damit berührte. Kreischend zuckte der Vogel unter Strom, sprang unbeholfen auf und rannte schimpfend und kreischend diesmal endgültig davon. Als er zwischen den Bäumen verschwinden wollte, rief Jagari: „Motimon, lass es nicht entkommen! Du musste den letzten Schlag machen, dann kriegen wir die Erfahrung!“ Das rotblaue Digimon blinzelte ihn verständnislos an. „Aber es flieht doch?“ „Das ist egal, wir …“ Jagari hatte sich so sehr hineingesteigert, dass ihn ein Hustenanfall packte. „Halt mal die Luft an“, meinte Renji abfällig und ging zu Fumiko, die neben ihrem Ei kniete. „Alles okay?“ Die Finger des Mädchens glitten über die beschädigte Schale. „Es ist vielleicht noch nicht geschlüpft“, murmelte sie, „aber es gehört zu mir. Das spüre ich genau.“ „Hey, wir stehen uns ja recht nahe“, sagte Renji. „Wenn du willst, leihe ich dir mein, äh, Digimon ab und zu, ja? Und wenn nochmal so ein Eierdieb daherkommt, beschütze ich dich mit meinen eigenen Händen!“ „Geh mal auf Abstand, Casanova“, mischte sich Tageko kühl ein und hockte sich neben Fumiko. „Hör nicht auf diesen Idioten. Wer weiß, vielleicht schlüpft es ja noch.“ Jetzt, da sie mit Fumiko sprach, klang ihre Stimme plötzlich freundlich. Renji runzelte verärgert die Stirn, aber das Mädchen nickte, auch wenn das Nicken etwas hoffnungslos aussah. „Aber falls nicht …“, begann Renji erneut, wurde aber sofort wieder von Tageko unterbrochen. „Du hast jetzt genug gesagt.“ Renji seufzte und hob entwaffnend die Arme. „Okay, wenn Frau Gut das sagt …“ Die Kerze hüpfte neben ihn. „Aber sie hat recht, Renji. Ein Herzensbrecher wird nie aus dir.“ „Halt die Klappe“, maulte Renji. Plötzlich wirkte er, als hätte er jetzt erst bemerkt, dass sich sein Digimon verändert hat. „Und überhaupt, Kyaromon, wieso siehst du auf einmal so … so aus?“ „Na, weil ich nicht mehr Kyaromon bin, sondern Candlemon“, grinste das Digimon schelmisch. „Und ich bin jetzt Kokuwamon“, erklärte der Käfer, als er bei Taneo landete, der ihn in die Hände nahm und nicht wusste, was er sagen sollte. „Und ich Elecmon. Freut mich“, sagte Jagaris Wesen. Was Jagari darauf sagen wollte, ging wieder in einen Hustenanfall über, wofür Taneo fast dankbar war. Der Pilz näherte sich unterdessen Tageko von hinten und wollte sie mit der behandschuhten Hand berühren, wagte es aber dann doch nicht. Das Mädchen redete noch mit Fumiko und beachtete das Digimon gar nicht, das die Schultern hängen ließ und schließlich wieder auf Abstand ging. „Wir sind digitiert. Ich bin jetzt Salamon“, sagte der kleine Welpe freudestrahlend. Kouki starrte ihn nur mit steinerner Miene an. „Okay“, sagte er dann nach einer Weile zähneknirschend und fäusteballend. „Was ist das hier für eine verdammte Freakshow?“ Salamon sah ihn fragend an. „Wer hat das hier alles organisiert? Was soll das Theater?“, knurrte Kouki wütend. „Du kleiner Köter – willst du mich verarschen?“ Renji kam auf ihn zu. „Hey, was für eine Laus rennt dir denn gerade über die Leber?“, fragte er. Kouki funkelte ihn an. „Ach, lass mich in Ruhe. Du verstehst das sowieso nicht.“ Er bedachte Salamon mit einem Blick, der es sich ducken ließ. „Aber Kouki … Wir sind doch Partner …“ „Partner?“, höhnte Kouki bitter. „Komm mir nicht schon wieder damit. Glaubst du vielleicht, ich bräuchte dich als Partner? Mach dich nicht lächerlich! Als ob du jemals ein Ersatz für Yuki wärst!“ Er drehte sich mit einem Ruck um und stapfte zwischen den Bäumen davon. Die anderen sahen ihm verständnislos hinterher. Kapitel 4: Der Jäger der Asuras ------------------------------- Kouki ließ die Beine über die Klippe baumeln und grübelte finster vor sich hin. Vor ihm erstreckte sich meilenweit das grüne Blätterdach des Waldes, der Himmel zog langsam sein Dämmerkleid aus und schlüpfte in sein samtenes Nachtgewand. Seine heftige Reaktion tat ihm bereits wieder leid, aber … Es war doch wohl ein schlechter Scherz. Yuki war noch keinen Tag lang tot und schon kam so ein … Ding daher, das aussah wie ein Hund, und das behauptete – ja, wirklich behauptete, es konnte sprechen! –, es wäre sein Partner. Kouki stieß einen Stein an, der klackend in die Tiefe stürzte. Die anderen würden sich garantiert wundern, was in ihn gefahren war. Aber sollten sie doch. War ja nicht so, als wären das seine Freunde.   „Hey, Macho“, sagte Tageko, nachdem sie eine Weile schweigsam auf der Lichtung gestanden waren. Fumiko saß auf dem Baumstamm und streichelte gedankenverloren das Ei. Renji tat, als wüsste er nicht, dass die Staffelläuferin ihn meinte. „Du kennst diesen Kouki besser als wir. Müssen wir uns Sorgen um ihn machen?“, fuhr das Mädchen fort. Renji zuckte mit den Schultern und warf Salamon einen Blick zu, das wie ein begossener Pudel – Renji fand dieses Wortspiel genial – auf dem Boden lag und traurig ins Leere starrte. „So gut kenn ich ihn auch wieder nicht. Keine Ahnung, was er hat.“ „Er hat einen Namen gesagt“, erinnerte sich Taneo. „Yuki, wenn ich mich nicht täusche.“ Wieder konnte Renji nur mit den Schultern zucken. Da schnelle Flattern von Flügeln ließ sie aufsehen. Salamon richtete sich auf und zuckte mit den Ohren und auch die anderen Digimon wirkten alarmiert. Renjis lebende Kerze kniff die Augen zusammen und starrte in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Das Blattwerk naher Bäume raschelte, dann kam taumelnd ein pinkfarbenes Digimon – wenn es eines war – in ihr Sichtfeld. Es sah lustig aus, fand Renji, ein großer Kopf mit schimmernden Augen, aus dem kurze Ärmchen und noch kürzere Beinchen sprossen. Weiße, lange Flügel flatterten und ließen das Laub zittern. In den Händen trug das Digimon einen alten Fernsehbildschirm, den zu schleppen seine ganze Kraft zu erfordern schien. „Ah … endlich!“, ächzte es. „Seid ihr die DigiRitter?“ „Sind wir das?“ Renji sah sich fragend um. „Kommst du von Gennai?“, fragte Kokuwamon, das Hirschkäfer-Ding, zu dem Taneos Stachelball geworden war. „Aye.“ In einem steilen Winkel ging das kleine Wesen zu Boden und landete neben Fumiko auf dem Baumstamm. Seufzend stellte es den Monitor ab und streckte sich. „Endlich. Ich dachte schon, ich komme zu spät und ihr seid weitergegangen.“ „Die Digimon haben gesagt, wir sollen hier warten“, sagte Tageko. „Wer bist du?“ „Ich bin Piximon.“ Das kleine, feenartige Wesen schüttelte die Flügel aus. Renji bemerkte, dass es außer dem Fernseher auch noch einen eisernen Stab dabei hatte. „Gennai glaubt, dass ihr viele Fragen haben werdet, aber ihr sollt euch noch gedulden. Ich habe hier eine Nachricht von ihm, und es ist wichtig, dass ihr sie ganz schnell hört.“ Es drückte mit seinen winzigen Fingern auf den Knöpfen herum, die unter dem Bildschirm angebracht waren, der daraufhin zu flimmern begann, ehe ein Bild sichtbar wurde. „Seid gegrüßt“, ertönte es blechern aus den Uralt-Lautsprechern. Renji und die anderen drängten sich vor den Apparat, um einen Blick auf den Mann zu werfen, der darin sichtbar geworden war. Er war wohl zwischen zwanzig und dreißig Jahren alt, hatte eine markante Nase, strahlend blaue Augen und braunes Haar. „Es tut mir leid, dass ich nicht persönlich vor euch treten kann, aber wir mussten umdisponieren. Es geht gerade sehr chaotisch zu in der DigiWelt und der Jäger der Asuras ist mir auf den Fersen. Mein Name ist Gennai, und ich bin sozusagen dafür verantwortlich, dass ihr jetzt hier seid. Unsere Situation verdient eigentlich eine längere Erklärung, aber dafür ist keine Zeit. Hört mir gut zu, DigiRitter. Ihr seid in Gefahr, seit ihr unsere Welt betreten habt. Es war wichtig, dass ihr einmal durch das Tor geschritten seid, damit eure DigiVices kalibriert werden und ihr eure Digimon trefft. Aber jetzt sollte euer vorrangiges Ziel sein, wieder in eure Welt zurückzukehren. Ich werde versuchen, dort mit euch Kontakt aufzunehmen. Jetzt, da ihr schon einmal hier wart, sollte es mir leichter gelingen.“ „Was redet der Typ für einen Stuss?“, fragte Renji. „Pscht!“, herrschte ihn Jagari an, der förmlich an Gennais Lippen klebte. „Ihr könnt mit euren DigiVices und diesem Fernseher in eure Welt zurückkehren. Von dort aus könnt ihr dann mit jedem beliebigen Computer wieder die DigiWelt betreten“, fuhr Gennai fort. „Wenn ihr noch Fragen habt, wird Piximon sie euch vielleicht beantworten können. Ich kann euch momentan nur mit wenig Rat zur Seite stehen, der Jäger der Asuras …“ „… ist es leid, einem Geist hinterherzujagen!“, rollte eine Stimme direkt durch den Erdboden, kratzig und krächzend, übertönte Gennai und ließ einen Schauer über Renjis Rücken laufen. Im selben Moment brach der Boden vor ihnen auf, Erde und Steinchen spritzten auf, Laub wurde durch die Luft gewirbelt, in Sekundenbruchteilen wurden bleiche, knöcherne Scherenarme sichtbar, gefolgt von vielgliedrigen Insektenarmen und einer hässlichen Knochenfratze mit glühenden Augen. Das lange Digimon schnellte in die Höhe und fauchte sie durchdringend an. Renji brüllte vor Schreck auf, stolperte rückwärts und fiel auf den Hosenboden. Ihre Digimon kreischten auf und versammelten sich schützend vor ihren Partnern, die allesamt erschrocken zurückwichen. Fumiko war kreideweiß geworden, sie hatte das Ei fest umklammert und drückte es an sich. Das bleiche Insektenwesen, das so lang war wie ein kleiner Van, riss kichernd das Maul auf und blitzende Lichtnadeln schossen in ihre Richtung. Piximon schnellte zwischen sie und das Monstrum. Sein Stab rotierte, zischend wurden die Lichtblitze abgewehrt. Einige fuhren noch vor dem Digimon in den Boden und gruben rauchende Löcher hinein, ein Strahl streifte den Fernseher. Mit einem Knall barst ein Stück aus seiner Abdeckung, schwarzer Qualm waberte auf und Gennais Bild verschwand mitten im Satz. Der knöcherne Skorpion landete schwer auf dem Waldboden und richtete angriffslustig seinen Stachelschwanz auf. „Was ist das?“, schrie Renji aufgelöst. Seine Knie zitterten so stark, dass es ihm nicht gelang, aufzustehen. „Ein Boss! Das muss der erste Bossgegner sein!“, rief Jagari heiser aus und Renji hätte ihm am liebsten ins Gesicht geschlagen. Renji sah, dass keiner der anderen so unrühmlich hingefallen war wie er, Taneo war erbleicht und zurückgewichen, Jagaris Augen leuchteten und Tageko starrte das Digimon aus großen Augen mit offenem Mund an. Verdammt, warum hatte er plötzlich solche Angst? Piximon landete auf dem Baumstumpf und streckte in einer beschützenden Geste den Stab aus. „Das ist SkullScorpiomon“, sagte es und klang mehr als nur beunruhigt. Gegen den Skorpion wirkte es geradezu lächerlich winzig. „Der Jäger der Asuras. Aber eigentlich sollte es …“ Es brach ab. „Gennai hinterherjagen, wolltest du sagen?“ SkullScorpiomons Stimme war grauenhaft, kratzend und schabend. Seine Zangen klackten. Geifer tropfte aus seinem Maul. „Ich lerne aus meinen Fehlern. Was ist wohl süßer – eine weitere Kopie dieses Feiglings zu zerstören, oder die DigiRitter zu töten?“ „Hat es … Hat es gerade töten gesagt?“ Renjis Stimme war so piepsig, dass er sich selbst dafür verwünschte. Dabei hoffte er im Augenblick eigentlich nur, die Kontrolle über seine Blase zu behalten. „Keine Sorge, wir beschützen euch“, sagte Candlemon entschlossen. Die anderen Digimon gaben Worte der Zustimmung von sich, sogar Salamon. SkullScorpiomon hatte dafür nur ein krächzendes Lachen übrig. „Seid vorsichtig“, sagte Fumiko. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass dieses Ding anders ist als das Kiwimon von vorhin.“ SkullScorpiomon lachte noch lauter, es klang, als würde jemand Nägel über eine Schultafel ziehen. „Kommt!“, schrie Candlemon. „Alle zusammen!“ „Wartet!“, rief Piximon aus, doch die Digimon übertönten es einfach. Feuer, Pilze und elektrische Blitze schlugen dem Skelettwesen entgegen. SkullScorpiomon wich nicht einmal aus. Die Attacken prallten an seiner knöchernen Haut ab, ohne es auch nur ins Wanken zu bringen. Salamons schrilles Jaulen ertönte, doch was auch immer das bewirken sollte, es funktionierte nicht. Kokuwamon stürzte surrend auf den Feind zu, die Fühlerkontakte elektrisch knisternd, doch ein einziger Hieb mit einer knöchernen Klaue schleuderte es ins Dickicht davon. „Kokuwamon!“, rief Taneo aus. Der kleine Spinner wollte seinem Kamikaze-Digimon tatsächlich hinterher laufen. „Bleib hier du Idiot!“, brüllte Renji und schaffte es endlich aufzustehen. Fauchend wie eine Schlange krabbelte SkullScorpiomon auf Taneo zu, sein Stachel blitzte im schwindenden Tageslicht auf … Ein pinkfarbener Schemen stürzte zwischen die beiden. „Grubenbombe!“ Piximon machte etwas mit seinem Speer, und eine dröhnende Explosion erschütterte die Lichtung. Renji hatte einen halbherzigen Schritt auf Taneo zugemacht, blieb aber stehen, als er spürte, wie die Druckwelle sein blondes Haar zerzauste und flattern ließ. Fliegengewicht Jagari, der begeistert noch ein paar Schritte auf dieses doch so phänomenal animierte Monster zugegangen war, verlor das Gleichgewicht und stürzte. SkullScorpiomon war mit einem Mal von einer schwarzen Rauchwolke eingehüllt. Hatte das kleine Piximon diese Bombe ausgelöst? Taneo warf der Rauchwolke nur einen Blick zu, dann rannte er weiter und verschwand zwischen den Bäumen. Ein Fauchen ertönte, und SkullScorpiomons Scherenarme teilten die Rauchwolke und griffen pfeilschnell nach Piximon, das sich nicht schnell genug in Sicherheit bringen konnte. Die scharfen Klauen erwischten seinen Stab und für einen Moment glaubte Renji, dass dieser zerspringen müsste. So sehr Piximon auch daran zerrte und sich abmühte, es bekam ihn nicht los. „Candlemon! Hilf ihm!“, schrie Renji seinem selbsternannten Partner zu, obwohl er irgendwie ahnte, dass es nichts brachte. „Los, Freunde!“, feuerte Candlemon tatsächlich die anderen Digimon an. Wieder setzte ein Hagel aus Attacken ein, der wirkungslos an SkullScorpiomons Knochenpanzer verpuffte. „Scheiße! Verdammt! Wir sind erledigt!“, schrie Renji. Er wusste, alles, was zwischen ihnen und dem sicheren Tod im Magen dieser Kreatur stand, war das Piximon, das nicht einmal die Kraft besaß, seine Waffe loszureißen. „Jetzt reiß dich mal zusammen!“, schrie Tageko zurück. Ihr Pilzdigimon schoss unermüdlich seine Pfifferlinge auf den Feind, der darüber nur krächzend lachte. „Also sollst du mein erstes Opfer heute sein“, zischelte SkullScorpiomon und öffnete sein Maul direkt vor Piximons Körper. Das kleine Digimon ließ seinen Stab los, doch die zweite Zange schloss sich so fest um seinen winzigen Körper, dass es aufschrie. „Fumiko!“, schrie Renji verzweifelt. „Wenn dein Ei je vorhat zu schlüpfen, soll es das jetzt tun!“ Doch Fumiko war wie erstarrt und ihr Ei ebenso. Jagari saß am Boden und gaffte sein aufgeschrammtes Knie an, als könnte er nicht fassen, dass er blutete. Der Junge war kreidebleich geworden, während sein Elecmon-Haustier einen wirkungslosen Stromschlag nach dem anderen gegen SkullScorpiomons Seite schickte … Renji wusste, er musste etwas tun, er war der Einzige, der etwas tun konnte, er war der Mann in diesem Haufen, würde den Ruhm einstecken und Fumiko beeindrucken, genau! Das verlieh seinen zitternden Beinen Kraft. Er schritt auf SkullScorpiomon zu. „Hey, du … hässliche Kröte!“ SkullScorpiomons gelb glühende Augen rollten zu ihm. „Willst du noch vor Piximon sterben?“, krächzte es und Renjis Blut gefror ihm einmal mehr in seinen Adern, doch er zwang seine Furcht auf dieselbe Weise nieder, wie er es stets tat – er motzte andere an. „He, Jagari!“, rief er mit hysterisch klingender Stimme. Der blonde Junge sah ihn apathisch an. „Hast du jetzt endlich kapiert, dass das hier kein verdammtes Spiel ist?“ Jagari antwortete nicht, aber sein gehetzter Blick sprach Bände. Renji drehte sich suchend um. „Und wo ist Taneo, dieser Feigling? Versteckt er sich in einer Höhle?“ SkullScorpiomon sah ihn an und klackerte amüsiert mit seinen Kauwerkzeugen, das Piximon immer noch in festem Griff. Da sah Renji, wie Taneo wieder aus dem Dickicht trat – auf seiner Schulter saß Kokuwamon, das sich abstieß und von hinten auf den riesigen Knochenskorpion zuflog. Das große Jägerdigimon bemerkte es trotzdem. Sein knöcherner Schwanz peitschte durch die Luft und fegte den Käfer davon. „Kokuwamon, wieder zurück!“, rief Taneo. Renji sah, dass er einen dicken Ast in der Hand hielt und vorsichtig näherschlich. Das gab ihm schließlich den Rest. Dieses kleine, lästige Nervenbündel sollte mehr Mut haben als er selbst? Unmöglich! Er würde ihn nicht allein im Rampenlicht stehen lassen! „Okay!“, rief Renji aus und trat seinerseits auf SkullScorpiomon zu, strich sich zitternd eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht und breitete dann die Arme aus. „Das ist jetzt genug! Lass das kleine Ding los und kämpf mit uns! Wir sind eher in deiner Größenordnung, meinst du nicht?“ SkullScorpiomon maß ihn aus seinen kleinen, glühenden Augen. „Es macht keinen Spaß, wenn sich die Beute selbst stellt“, schnarrte es. „Dich heb ich mir bis zuletzt auf. Zuerst kommen deine Freunde dran.“ „Nein, kommen sie nicht!“, rief Renji. Ein Schweißtropfen lief von seiner Schläfe über seine Wange. Er stellte sich demonstrativ zwischen das Digimon und Fumiko und war Candlemon zutiefst dankbar, dass es neben ihn hoppelte. Aber täuschte er sich, oder leuchtete das Kerzendigimon …? „Renji, das Gerät!“, rief Taneo plötzlich. „Das Gerät?“ Er sah an sich herab. Das Ding, das Gennai DigiVice oder so ähnlich genannt hatte und das er in der Bauchtasche seines Trainingsanzugs trug, hatte wieder zu glühen begonnen, schwach nur und durch den Stoff zusätzlich gedämpft, aber trotzdem. „Ha! Das ist gut!“, rief Candlemon. „Weiter so, Renji!“ Es glühte tatsächlich. SkullScorpiomon erstarrte und senkte den Kopf. „Das Licht der Digitation“, zischte es. Piximon in seinen Klauen wand sich, um in seine Richtung zu sehen. SkullScorpiomon reckte seinen Schwanz in die Höhe. „Als ob ich das zulassen würde!“ Es krabbelte auf seinen zahlreichen Beinen näher. Die gezackte Klinge auf der Spitze seines Schweifs blitzte rötlich im Abendlicht auf. Renji schluckte. Seine Fantasie schickte ihm ein schreckliches Bild vor sein inneres Auge, in dem er sich selbst sah, aufgespießt und zerhackt von diesem Ungetüm, und seine Knie wurden wieder weich und er wich zurück. Das Licht erlosch. „Renji!“, rief Candlemon und klang enttäuscht. „Was ist los? Wir hätten es fast gehabt!“ „K-Klappe“, gab Renji zurück und war mit den Nerven am Ende. SkullScorpiomon blieb stehen und zischte, es klang seltsam erleichtert – und diesen kurzen Augenblick nutzte Piximon aus. Zwar konnte es sich nicht befreien, aber es entriss seinen Stab aus der zweiten Klaue des Skorpions und schwang ihn in einem weiten Bogen. „Grubenbombe!“ SkullScorpiomon stieß ein Fauchen aus, als ein Knall es erneut eine schwarze Rauchwolke hüllte. Piximon stürzte mit rasenden Flügelchen aus den Schwaden, flog in die Mitte der Menschen und riss den Stab hoch. Eine Art schimmernde Blase bildete sich um sie, schloss sich schmatzend und hob sie alle hoch. Renji zuckte zusammen, als sie mit einem Ruck davonflogen, Taneo und Kokuwamon einsammelten und kreuz und quer durch die Bäume zischten. Tief durchatmend sackte Renji an der runden Wand der Blase zusammen. „Wow. Also, danke, Piximon“, murmelte er. „Du bist zwar klein, aber du hast uns gerade den Arsch gerettet.“ „Warum hast du aufgehört, Renji?“, nervte Candlemon. „Fast wäre ich digitiert!“ „Halt die Klappe, ich diskutier nicht mit Kerzen“, gab Renji müde zurück. Taneo hockte sich neben Jagari auf den Boden der Blase, durch die man verschwommen den vorbeirasenden Wald sehen konnte. „Alles okay mit dir?“, fragte er. Jagaris Pyjama war am Knie zerrissen und die Haut ziemlich übel aufgeschürft, er hatte wohl einen Stein oder so erwischt. Fassungslos schüttelte der blonde Junge den Kopf. Die Strähnen, die sein rechtes Auge verdeckten, wippten lustig. „Kein Spiel … Aber es kann nur ein Spiel sein … Vielleicht bin ich wirklich hingefallen und … Aber warum würde mein Knie dann hier bluten …“ „Der ist hinüber“, stellte Renji fest und fing sich einen bösen Blick von Taneo ein. „Piximon, sag uns die Wahrheit“, verlangte Tageko. Die hochgewachsene Läuferin hatte die Arme verschränkte und lehnte am Rand der Blase. „Deine Attacke hat diesen Skorpion nicht in seine Einzelteile zerlegt, oder?“ Piximon schüttelte den Kopf – was bedeutete, es wackelte mit dem ganzen Körper. „Leider nein. Dafür ist SkullScorpiomon zu zäh.“ Die schillernde Blase erreichte den glatten, grauen Stamm eines besonders mächtigen Baumes, und ehe einer von ihnen erschrocken aufschreien konnte, flogen sie mitten durch die Rinde, als wäre sie Luft. Piximon löste die Blase mit einem Wink seines Stabes auf und sie fanden sich im Baumstamm wieder, innerhalb einer hohen, flimmernden grauen Röhre. Dann drückte es auf eine Art Knopf an der Wand, und das Flimmern erstarb und die Rinde war wieder massiv. Diese Welt kam Renji immer unwirklicher vor. „Die Digimon haben vorher etwas von Asuras gesagt“, erinnerte sich Taneo und warf den ungewöhnlichen Wesen einen Blick zu. „Gehört dieses Ding auch zu diesen Asuras?“ „Aye“, machte Piximon. „Das war SkullScorpiomon. Eigentlich hätte es auf Gennais Fersen sein müssen. Aber es scheint stattdessen mir gefolgt zu sein.“ „Wer ist denn jetzt eigentlich Gennai?“, fragte Tageko. „Und wer sind diese Asuras?“ Piximons niedliches Gesicht wurde grimmig. „Die Asuras sind momentan die größte Bedrohung für unsere Welt. Zwölf mächtige Digimon, die die DigiWelt mit Dunkelheit und Chaos überziehen. Um sie zu besiegen, seid ihr hier.“ „Warte mal, hast du gesagt, zwölf?“ Renji stellte sich zwölf dieser Skorpione auf einmal vor. Ein Schauer lief über seinen Rücken. „Sonst geht’s euch gut? Du kannst wenigstens diese Bomben schmeißen, aber wir? Wir sind nur Menschen!“ Das kleine Digimon sah ihn seltsam an. „Habt ein bisschen mehr Vertrauen in eure Fähigkeiten. Gennai hat all seine Hoffnungen in euch gesetzt. Und Azulongmon auch.“ „Wer ist Azulongmon?“, fragte Tageko. Sie und Renji schienen die Wortführer zu sein. Das war auch nur recht und billig, fand er, schließlich waren sie beide die Ältesten und Größten. „Einer der vier großen Beschützer der DigiWelt“, antwortete Piximon. „Ihr könntet es so etwas wie unseren Schutzgott nennen.“ „Prima. Das ist ja schon mal ein Anfang.“ Renji knackte mit seinen Fingerknöcheln. „Wo finden wir diese Schutzgötter? Die müssen ihrem Job ja wirklich lasch nachgehen.“ Piximons Mienenspiel nahm eine traurige Note an. „Ihr findet sie nirgendwo. Die Asuras haben sie in einen ewigen Schlaf gebannt.“ Renjis Mund klappte auf. „Sag mal, seid ihr eigentlich noch zu retten? Eure Götter haben gegen diese Monster verloren, und wir sollen sie besiegen? Wir sind doch nur Menschen – und die Hälfte von uns sind noch Kinder.“ „He“, machte Jagari beleidigt. Piximon seufzte. „Ich hätte mir denken können, dass ihr so reagiert. Aber ihr seid die letzte Hoffnung für die DigiWelt. Fürs Erste solltet ihr aber in eure eigene Welt zurückkehren. Es sind einige Dinge nicht so gelaufen wie geplant. Gennai hat ein Tor geöffnet, das euch in die DigiWelt gerufen hat, und dabei wurden eure DigiVices und das Tor aufeinander kalibriert. Ihr könnt jetzt jederzeit mithilfe von Computern in die DigiWelt reisen. Wartet am besten in der Menschenwelt, bis Gennai Kontakt mit euch aufnimmt. Da seid ihr wahrscheinlich sicherer.“ „Wahrscheinlich“, schnaubte Renji. „Wie beruhigend.“ „Aber um zurückzukommen, brauchen wir doch diesen Fernseher, oder?“, fragte Fumiko. Erst jetzt bemerkte Renji, dass sie neben ihrem Ei auch noch den alten Monitor in den Armen trug. „Es wird immer besser und besser“, murmelte Renji sarkastisch. Der Bildschirm war tot; er hatte einen großen Sprung und ein Stück der Abdeckung war abgesplittert. „Unsere Rückreisemöglichkeit ist hinüber.“ Jagari schien plötzlich aus seiner Starre zu erwachen, als er den kaputten Fernseher sah. Vielleicht erinnerte er sich, dass er gerade seine Kindersendung sehen wollte. Die, in der es um so ein gottverdammtes Computerspiel ging. Der Junge leckte sich mit der Zunge über die Lippen. „Piximon, darf ich mal kurz deinen Stab haben?“ Das fellige Digimon reichte ihn dem blonden Jungen, der die Spitze am Fernseher ansetzte und begann, den Rest der Abdeckung herunterzuhebeln. „Was zum Teufel tust du da?“, fragte Renji gereizt. „Das da ist ein Fernseher“, stellte Jagari fest. Was für ein kluger Junge er doch war. „Keine Kristallkugel oder ein magischer Spiegel oder so was, sondern ein elektronisches Gerät. Vielleicht kann ich ihn reparieren.“ Er benutzte den eisernen Stab als Schraubenzieher und arbeitete sich bis in die Eingeweide des Bildschirms vor. Der Riss in der Mattscheibe wurde noch breiter, aber er störte sich nicht daran. „Sagt mal“, murmelte Piximon plötzlich alarmiert, als wäre ihm plötzlich etwas aufgefallen. „Wie kommt es, dass ihr nur zu fünft seid? Haben wir nicht sechs DigiVices in die Menschenwelt geschickt?“ „Oh …“ Über dem ganzen Chaos mit SkullScorpiomon hatte Renji Kouki komplett vergessen. „Verdammt! Einer von uns ist davongelaufen, bevor du gekommen bist!“ „Salamon ist auch weg“, rief Elecmon. „Was?“ Kokuwamon sah sich um. „Seit wann?“ „Ich glaube, in der Blase war es noch da!“ „Der Welpe sucht sicher Kouki“, murmelte Renji. „Das ist eine Katastrophe!“ Piximon flatterte aufgeregt auf und ab. „SkullScorpiomon ist noch da draußen!“ In dem Moment knirschte etwas ohrenbetäubend. Auf nicht ganz zwei Metern Höhe fraßen sich zwei bleiche, spitze Klauen in den Stamm. Rundherum fuhren sie, wie ein Dosenöffner, glitten durch die graue Rinde wie durch Butter, und schließlich knickte der Stamm weg und stürzte geradezu absurd langsam und raschelnd um. Renji, Taneo, Fumiko und Tageko schrien auf, als SkullScorpiomons Totenschädel über ihnen in der Röhre erschien. „Ich kann euch riechen“, gackerte es. „Habt ihr geglaubt, ihr könnt mir entkommen?“ „Jagari, beeil dich!“, schrie Renji, als der Skorpion sich in den Stamm quetschte und langsam die Wand herunterkroch. Sie duckten sich, doch die Beine des Digimons waren nur noch zentimeterweit von ihnen entfernt. Jagari werkelte fieberhaft an dem Fernseher. Ein elektrisches Knistern ertönte, er zuckte zurück, griff noch einmal zu und rief dann: „Fertig!“ Ein körniges Rauschen war auf dem unversehrten Teil des Bildschirms zu sehen. Piximon riss ihm den Stab aus der Hand und flog damit auf SkullScorpiomon zu. Ein Lichtblitz verließ das Maul des Asuras, den Piximon mit dem Stab abwehrte. „Beeilt euch!“, schrie es keuchend, während der Skorpion abermals eine Klaue um es schloss. „Drückt auf den Knopf rechts unten und haltet eure DigiVices vor den Fernseher!“ „Die Dinger? Meinst du so?“ Jagari zog sein Gerät und richtete es auf den Apparat, dann drückte er auf den ausgeleierten Knopf in der Ecke des Apparats. Mit einem saugenden Geräusch wurden sein Körper und der von Elecmon in den Bildschirm gezogen, wie ein Staubsauber eine Sandfigur eingesaugt hätte. Fumiko war die nächste, die mit ihrem Ei folgte. Über ihnen ließ Piximon eine neuerliche Grubenbombe zerplatzen. „Was ist mit Kouki?“, fragte Taneo, aber Renji stieß ihn in Richtung Apparat. „Mach schon, oder willst du draufgehen?“ Während Taneo und Kokuwamon im Bildschirm verschwanden, schrie Piximon über ihnen laut auf. Renji sah, dass SkullScorpiomon es im Maul hatte. Kurz flackerte sein Blick zu dem Schalter an der Stamminnenwand. Und wenn Kouki doch in Gefahr war? „Was ist los, Großer?“, rief Tageko hinter ihm. „Er muss wohl oder übel allein klarkommen. Du hast es eben selbst gesagt, wenn wir noch länger warten, sind wir tot!“ Renji schluckte, vergewisserte sich, dass Candlemon neben ihm war, und drückte mit gezücktem DigiVice auf den Knopf unterhalb des Monitors. Die Welt geriet aus den Fugen. Und war kurz darauf wieder so richtig in Ordnung. Kapitel 5: Digimon-Razzia ------------------------- „Koukiiiiii!“ Salamons schrille Stimme übertönte das Prasseln des Regens. Von einer Minute zur anderen hatte er angefangen. Koukis Geruch war trotz allem neu für das Digimon – wenn es weiterhin so stark regnete, würde sich auch der leise Duft, den es von ihm wahrzunehmen glaubte, verflüchtigen. Verzweifelt rannte Salamon weiter durch den regenverschmierten Wald.   Seine Füße platschten durch schmutzige Pfützen, die den Waldboden bedeckten. Donner grollte, und er war gar nicht mehr fern. Kouki musste die Lider zusammenkneifen, sonst stachen eiskalte Regenfäden in seine Augen. Seine Socken schmatzten bei jedem Schritt in Schlamm und aufgeweichtem Boden. Er fragte sich, wo genau er nun eigentlich war – so schnell schlug das Wetter doch nur in den Bergen um, hatte er gehört. Er floh vor dem Unwetter, versuchte die Bäume zu erkennen, doch die Muster in der Borke waren ihm allesamt fremd. Bei seinem Glück würde ein Blitz den Baum treffen, unter den er sich stellte. Aus dem lärmenden Regenschleier schälte sich eine große Lichtung. Hier war er zumindest vor den Blitzen geschützt – aber kaum, dass er sie mit einem Fuß betrat, schlug ihm der Regen mit noch viel härterer Wucht ins Gesicht. Nach wenigen Schritten saugte ihm der Schlamm einen Socken halb von den Füßen. Er zog sich kurzerhand beide aus. Sie waren ohnehin durchnässt und braungefleckt. Jetzt kamen ihm seine Zehen fast wärmer vor. Dennoch fror Kouki und schlang die Hände um seinen Leib. Der Wind drehte und ließ den Vorhang aus Tropfen kurz in die andere Richtung schlenkern, und da sah er sie, schmutzig braune Behausungen, Iglus gleich, die aus dem Boden der Lichtung sprossen wie Warzen. Ein kleines Dorf, oder etwas in der Art. Kouki trat auf die Hütten zu. Sie schienen aus Lehm zu bestehen. Der Regen weichte die Kuppeln auf und spülte kleine Bröckchen heraus, aber sie schienen standhalten zu können. Türen gab es keine, nur gähnende schwarze Löcher zum Eintreten, dazu kleinere quadratische, die Fenster darstellen mochten. Als er das Zentrum des Dorfes erreicht hatte, sah er aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Etwas wie ein menschengroßer Teddybär sah ihn misstrauisch aus einem Hauseingang heraus an, genau konnte er ihn nicht ausmachen. Rechts davon schienen schwarze Knopfaugen aus einem weiteren Haus durch das Fenster zu lugen. „Kann ich dir helfen?“ Die Stimme ließ Kouki herumwirbeln. Hinter ihm, vor einer anderen Hütte, stand noch eines dieser Wesen. Sein Körper war rund und dick, und ohne erkennbaren Hals saß ein scheinbar mundloser Bärenkopf darauf. Hände und Füße waren äußerst detailarm, als trüge das Wesen Handschuhe. Und bis auf die schwarz glänzenden Augen und die Bärennase hatte es die gleiche Farbe wie die Häuser hier: Dunkelbraun wie der Schlamm an Koukis Socken. „Ich …“, begann er. „Bist du auch ein Digimon?“ „Was für eine dumme Frage.“ Falls das Wesen verärgert war, sah man es nicht. „Was bist du denn?“ „Ein Mensch, würde ich sagen“, sagte Kouki und bemühte sich, den Regen zu übertönen. Sein Haar klebte ihm mittlerweile ebenso an der Stirn wie seine Schuluniform auf seiner Haut. „Soso. Und woher kommst du?“ „Aus Tokio … Das heißt, ich weiß nicht, wie ich hierhergekommen bin …“ „Es ist vier Jahre her, seit der letzte Mensch die DigiWelt betreten hat“, sagte eine weitere Stimme. Hinter dem ersten Schmutzbären trat noch einer aus dem Haus, nur ging er etwas gebeugt und stützte sich auf einen Stock. Auch sein Gesicht sah irgendwie … älter aus. Zerfurcht. „Komm herein, Junge. Regen macht nur die Erde weich.“ Dankbar stapfte Kouki in die Hütte. Zunächst war es stockdunkel, doch dann entzündete der größere Bär etwas, das wie eine braune Kerze aussah, aber ohne Docht brannte, soweit er erkennen konnte. Der Geruch, der die Behausung erfüllte, war irgendwie … schmutzig. Das Haus hatte höchstens zwei Kammern. Wie aus dem Boden gestampft standen in einer ein Tisch und drei Stühle aus dem gleichen, erdbraunen Material, das sich tatsächlich wie harter Lehm anfühlte, als er sich darauf setzte. Noch eines der Wesen wartete dort und nachdem sich das alte Digimon ebenfalls gesetzt hatte, servierte es ihnen in tönernen Bechern etwas Heißes, das Kouki zunächst für Tee hielt, aber es war zu seiner Enttäuschung nur heißes Wasser. „Greif zu“, lud ihn das Digimon ein und deutete mit seiner unförmigen Hand auf die braunen Kugeln, die auf dem Tisch eine Pyramide bildeten. „Danke … aber ich hab keinen Hunger“, erwiderte Kouki. Diese Dinger erinnerten ihn zu sehr an Pferdeäpfel. Sie sahen aus, als hätte sie ein riesiger Mistkäfer gedreht, und nachdem er Taneos Käferdigimon gesehen hatte, war er sofort gewillt, das auch zu glauben. Erst jetzt fiel ihm ein, dass es wohl unhöflich war, sich nicht einmal vorzustellen. „Ich heiße Kouki. Kouki Nagara. Und ich bin … ein Mensch.“ Mehr fiel ihm nicht ein. Würde es den Digimon etwas sagen, wenn er ihnen erklärte, wie seine Schule hieß oder in welcher Klasse er war oder wer seine Eltern waren? Wohl kaum. Das alte Digimon nickte. Auch hier drin war der deprimierende Regen zu hören. Ein Fenster führte nach draußen und ließ die stickige Luft sich mit angenehm frischer vermischen. „Du bist hier im Dorf der MudFrigimon. Ich bin das Dorfälteste. Sei willkommen.“ „Danke“, murmelte Kouki. Ihm war immer noch kalt, aber er sagte nichts. Er war das erste Mal bei Digimon zu Gast, wie sollte er sich verhalten? Das Älteste legte den Stock auf den Tisch, nahm eine der Schmutzkugeln und biss davon ab. Kouki sah immer noch keinen Mund im braunen Gesicht des Digimons aufklaffen, aber es kaute und die Kugel wurde kleiner. „Ihr seid sehr freundlich, dass ihr mich einfach so hereinbittet“, sagte Kouki schließlich. Das Digimon faltete die Hände und schluckte. Die anderen beiden waren stehen geblieben. „Es ist wahrscheinlich gut, dass du hier bist. Du bist ein DigiRitter, nehme ich an?“ „Ein DigiRitter?“ „Hier in unserem Dorf bekommen wir nur wenig davon mit, was in der großen Welt vor sich geht“, erklärte MudFrigimon. „Aber selbst wir kennen die Legende von den DigiRittern. Die DigiWelt befindet sich in einer Zeit der Unruhe. Ein Schatten hat sich über das Land gebreitet.“ Kouki sah kurz instinktiv aus dem Fenster. MudFrigimon hatte zwar keinen sichtbaren Mund, aber anhand seiner Augen sah er, dass es lächelte. „Nicht der Regen. Die Dunkelheit selbst nimmt zu. Die Nacht bricht früher herein und endet später.“ Das ist so, weil gerade Winter ist, wollte Kouki sagen, biss sich aber auf die Zunge. War hier in dieser DigiWelt wirklich Winter? Es sah zumindest nicht danach aus. „Was hat das mit mir zu tun?“, fragte er. Das alte MudFrigimon sah seine jüngeren Artgenossen an, ehe es antwortete. „Dass wieder ein Mensch hier ist, kann nur bedeuten, dass tatsächlich etwas in der DigiWelt vorgeht, etwas, das uns gefährlich werden kann. Darum wurden wieder DigiRitter erwählt. Es ist uns eine Ehre, dich unseren Gast nennen zu dürfen.“ Kouki wusste nicht, was er sagen sollte. „Ich weiß nicht, ob ich so jemand bin …“, sagte er vorsichtig. „Hast du nicht eines der legendären DigiVices?“, fragte MudFrigimon. Kouki zog das seltsame Gerät aus der Hosentasche. Die Nässe schien ihm nichts ausgemacht zu haben. Wenigstens etwas. Sein Gastgeber nickte. „Das müsste es sein, obwohl ich noch nie eines mit eigenen Augen gesehen habe. Und hast du nicht auch ein Partner-Digimon?“ Kouki dachte an Salamon und wandte den Blick ab. Er knirschte mit den Zähnen. Nein, dachte er. Dieser Hund ist nicht mein Partner. MudFrigimon schien zu spüren, dass ihm dieses Thema unangenehm war. Nachdem es ihn kurz mit einem nachdenklichen Blick gemessen hatte, stand es umständlich auf. „Wie auch immer. Der Regen sperrt uns in unsere Häuser. Du kannst heute Nacht bei uns schlafen. Such dir ein Bett aus, wir bleiben noch etwas auf. Kouki stand dankbar nickend auf. Vielleicht hätte er noch etwas sagen sollen, vielleicht hätte er sich explizit für die Gastfreundschaft der Digimon bedanken, mehr Fragen stellen und etwas essen sollen, aber eine betäubende Schläfrigkeit hatte sich über seine Sinne gesenkt. Eines der jüngeren MudFrigimon – er konnte nicht sagen, welches, sie auseinanderzuhalten war ein Ding der Unmöglichkeit – führte ihn ins Schlafzimmer. Die Betten sahen aus wie der Tisch, nur niedriger und ein wenig schalenförmiger. Er suchte sich das aus, das am weitesten vom Fenster entfernt lag, und das Digimon ließ ihn allein. Eine schiere Ewigkeit lag er da, lauschte dem unaufhörlichen Prasseln und Klopfen des Regens und konnte trotz seiner Müdigkeit nicht schlafen. Ein wenig Kerzenlicht fiel in die Schlafkammer, und das leise Geräusch eines Gesprächs in der Küche drang an seine Ohren. Koukis Gedanken kreisten darum, was er heute alles erlebt hat. Yuki ist gestorben. Und ich bin in einer fremden Welt. Und ich soll ein DigiRitter sein. Was für ein Unsinn. Aber wenn es stimmte, sollte er dann nicht vielleicht eines der MudFrigimon bitten, sein Partner zu sein? Das ist doch alles total verrückt. Bin ich im falschen Film? Vielleicht würden die MudFrigimon auch geehrt fühlen, wenn sie seine Partner sein durften, wobei auch immer. Und er glaubte zu spüren, dass sie ganz nett waren. Salamon. Salamon und Yuki. Ich brauche Salamon nicht. Wo waren die anderen wohl gerade? Hatten sie ebenfalls Schutz vor dem Regen gefunden? Er hätte nicht so überstürzt davonrennen sollen, das wusste er mittlerweile. Seufzend drehte er sich zur Seite, sodass er die Wand anstarrte. Morgen versuche ich sie zu finden. Solange Salamon nicht wieder davon redet, meinen Yuki ersetzen zu wollen, können wir ruhig zusammen einen Weg nachhause suchen. Er drehte sich wieder herum und blickte direkt in ein bleiches Geistergesicht mit großen schwarzen Augen und nadelspitzen, gebleckten Zähnen. „Kuckuck!“ Mit einem lauten Aufschrei sprang Kouki auf die Füße und presste sich gegen die Wand. Ein Geist, das war ein Geist! Ein zerfetzter Lakenkörper schwebte vor ihm in der Luft … Ein Säuseln ertönte, und weitere Geister flogen pfeilschnell beim Fenster herein, allesamt idente Kopien des ersten. Sie umkreisten Kouki, der wie erstarrt auf dem Bett stand, lachten und gackerten um die Wette. Er hob abwehrend die Arme, sprang durch den Ring aus Geisterlaken und stürmte nach draußen. Aus den Augenwinkeln erhaschte er einen Blick auf die Küche; sie war leer. Die MudFrigimon fand er draußen im Regen, der ein wenig nachgelassen hatte. Dutzende der braunen Bären drängten sich an die Hausmauern, während Geisterwesen in jedes Fenster und jede Türöffnung flogen und wie die Bienen eines Bienenstocks wieder ausschwärmten. Kouki sah, wie einige MudFrigimon beschützend kleinere Artgenossen an sich drückten. Die Geisterwesen umkreisten das ganze Dorf, wie es schien. Kouki wurde ganz schwindlig bei dem Versuch, ihnen mit Blicken zu folgen. Täuschte er sich, oder sahen sie alle in seine Richtung? In der Mitte des Platzes zwischen den Häusern stand eine hochgewachsene Gestalt in einem dunklen Mantel. Den Kopf bedeckte ein heller Kapuzenumhang. Zwei gleichfarbige, gefiederte Flügel ragten darunter hervor. Nein, das war garantiert kein Mensch … Als die Gestalt Kouki bemerkte, drehte sie sich herum. Kein Gesicht steckte unter der Kapuze, nur zwei kreisrunde, gelbe Augen glühten ihn an. „Sieh an, der Mensch ist wirklich hier. Und er hat sich sogar gezeigt.“ Das Älteste der MudFrigimon mit seinem Stock stapfte schwerfällig näher. „Bitte, wir wollen keinen Ärger. Wir haben nie jemandem etwas getan und haben es auch nicht vor. Bitte verschont uns und unser Dorf.“ Kouki hörte keinen flehenden Unterton in seiner Stimme, das Älteste war ruhig, aber bestimmt und offen. Der Kapuzenmann warf dem MudFrigimon einen Blick zu. Er schlug das Buch auf, das er in der Hand hielt. „MudFrigimon. Eine der uninteressantesten Arten, die es unter den Digimon gibt. Schon mit euch zu sprechen ist uninteressant, geschweige denn euer Dorf zu vernichten.“ Die glühenden Augen brannten sich wieder in Koukis Netzhaut. Der Regen hatte beinahe aufgehört. „Anders verhält es sich mit dir.“ Zwei der Geisterwesen tauchten neben Kouki auf, und als er herumfahren und davonstürmen wollte, packten ihn zwei eiskalte, blaue Hände an den Schultern, die gar nichts Geisterhaftes mehr an sich hatten. „Was wollt ihr von mir?“, fragte er furchtsam. Waren das alles Digimon? Dass der Kapuzenmann dieser Gennai war, von dem die Digimon gesprochen hatten, wagte er gar nicht erst zu hoffen. Die Gestalt beugte sich zu ihm herab und musterte ihn mit offensichtlichem Interesse. „Ein Mensch, kein Zweifel. Aber wo ist dein Digimon-Partner? Ohne ihn hat es keinen Sinn, dich zu untersuchen.“ „Sollen wir weitersuchen?“, fragte einer der Geister sabbernd. „Moment.“ Der Kapuzenmann richtete sich wieder auf. „Sein Schrei kann das Digimon sicher anlocken. Das wäre ein interessantes Experiment, jaja.“ Der Griff der blauen Hände wurde stärker, Fingernägel gruben sich so tief in seine Haut, dass Kouki aufschrie. Der Kapuzenmann notierte etwas mit einer Feder in seinem Buch. „Ob das reicht?“, murmelte er, mehr zu sich selbst. „Vielleicht sollten wir …“ „Dieser Junge hat niemandem etwas getan“, wagte das alte MudFrigimon ihn zu unterbrechen. „Er hat Schutz vor dem Regen gesucht, das ist alles.“ „Interessant.“ Die Gestalt kritzelte weiter in dem Buch. „Ich dachte, Menschen mache Regen nichts aus. Nun, sein Digimon-Partner scheint nicht zu kommen, vielleicht sollten wir …“ „Kouuuuukiiiii!“ Kouki fuhr herum, und die Digimon ebenfalls. Da kam es herangestürmt, spritzte schmutziges Wasser und Schlamm mit den Pfoten auf und war selbst ganz mit Matsch verschmiert. „Ein Salamon“, kommentierte die Kapuzengestalt. „Eine gute Nase, ja, aber selbst nach diesem Regenguss? Außergewöhnlich. Das muss das Band zwischen DigiRitter und Partner-Digimon sein. Setzt es fest.“ Zwei Geistdigimon – Kouki war sich mittlerweile sicher, dass es keine wirklichen Geister, sondern eben Digimon waren – segelten auf Salamon zu. „Pass auf!“, schrie er. Salamon hielt rutschend an und stieß sein schrilles Jaulen aus, das Kouki in den Ohren schmerzte. Eine blaue Geisterkralle schnellte in seine Richtung, zog sich in die Länge wie ein Gummiband, und schloss sich fest um Salamons Maul. Ein leises Winseln, mehr brachte der Welpe nicht zustande, während es weitere Hände umschlossen, bis es sich nicht mehr rühren konnte. Der Kapuzenmann klappte sein Buch zu. „Somit hätten wir beide Probanden gefunden. Dann können wir ja losfliegen.“ „Nicht so schnell!“, drang plötzlich eine unangenehme, kratzende Stimme an Koukis Ohren. Abermals drehte er den Kopf; seine Schultern waren immer noch wie mit Eisenbändern festgeschnallt. An den letzten Hütten kroch das hässlichste Tier vorbei, das er je gesehen hatte. Es sah aus wie ein Skorpion, war aber knochenbleich. Der Mond zwängte sich an den Wolken vorbei, als wollte er das Schauspiel, das sich ihm nun bot, nicht verpassen, und ließ eine scharfe Klinge aufblitzen, dort, wo das Tier eigentlich den Stachel haben sollte. Die MudFrigimon wichen angsterfüllt zurück, als das Wesen in ihre Reihen trat, doch es beachtete die braunen Bären gar nicht, sondern fixierte einzig und allein den Kapuzenmann. „SkullScorpiomon! Was für ein Zufall, Euch hier zu treffen“, rief der Kapuzenmann aus. „Der heutige Tag ist wahrhaft interessant.“ „Was glaubt ihr, was ihr hier tut?“, knurrte das Knochenwesen, das er SkullScorpiomon genannt hatte. „Wir bringen nur diesen Menschen und sein Digimon in ihre neue Unterkunft. Nichts weiter“, erklärte die Kapuzengestalt. „Ihr klaut mir meine Beute, so sieht‘s aus!“, zischte der Knochenskorpion. „Ich habe sie gejagt, ich habe sie gefunden, sie gehören mir!“ „Wir haben sie zuerst gefunden, scheint mir. Das lässt sich nicht leugnen.“ Der Skorpion ging nicht darauf ein. Ärgerlich fauchend musterte er die versammelte Geisterarmee. „Bakemon. Nichts als eine Horde Bakemon. Tanzt du etwa nach LordMyotismons Pfeife, Wisemon?“ „Wie ungehobelt.“ Wisemon straffte die Schultern. „Ich tanze nach niemandes Pfeife. LordMyotismon war so freundlich, mir ein äußerst interessantes Experiment vorzuschlagen. Ihr könntet auch davon profitieren, SkullScorpiomon.“ „Ich jage hier!“, fauchte SkullScorpiomon stur. „Also misch dich nicht ein, sonst werde ich LordMyotismons Fußvolk ganz einfach mitjagen.“ „Nana“, machte Wisemon. „Ihr wollt doch hier kein Gemetzel veranstalten?“ Es öffnete sein Buch. „Darf ich Euch eine Frage stellen, SkullScorpiomon? Könnt Ihr lesen?“ Der Skorpion zischelte gefährlich, als Wisemon eine weit ausholende Armbewegung machte – das Letzte, was Kouki sah, war, wie Salamon, Wisemon und schließlich er selbst in glühend blaues Licht gehüllt wurden und geradewegs zwischen die Buchseiten schossen. Ächzend landete er in einem lederbespannten Sessel vor einem Schreibtisch und sah sich staunend um. Sie waren plötzlich in einem behaglich eingerichteten Raum voller Regale, Bücher und Gerätschaften, viele davon kannte er aus dem Physikunterricht, aber da waren auch Teleskope, Sternenatlanten und einige medizinische Geräte, die er lieber gar nicht aus dieser Nähe sehen wollte. Neben ihm saß auf einem Samtkissen Salamon – nun allerdings in einem eisernen Käfig. Kouki wollte aufstehen, aber kaum dass er sich bewegte, schlossen sich metallene Handschellen um seine Handgelenke und Knöchel. Wisemon saß ihnen gegenüber am anderen Ende des Schreibtischs. „Du kannst natürlich jaulen“, sagte es zu Salamon. Selbst hier, wo genügend Licht herrschte, konnte Kouki noch kein Gesicht unter seiner Kapuze erkennen. „Aber du wirst mir damit nicht einmal lästig, denke ich.“ „Wo sind wir?“, fragte Kouki unbehaglich. „Das hier ist mein Arbeitszimmer“, erklärte das Digimon. „Vielleicht kannst du dir ein besseres Bild machen, wenn ich dir sage, dass wir in meinem Buch sind.“ „In deinem Buch?“ „Die Bakemon werden uns zum nächstgelegenen Labor bringen. Auf dem Luftweg. SkullScorpiomon wird rasen vor Wut, aber es kann nicht fliegen. Vielleicht schießt es ein halbes Dutzend von LordMyotismons Bakemon ab, aber wir werden unser Ziel erreichen.“ Wisemon beugte sich weit vor und Kouki empfand seinen ruhigen Blick plötzlich als beunruhigend, sehr beunruhigend. „Dann werden wir genauestens das Verhältnis eines DigiRitters zu seinem Partner erforschen können, jaja.“ Kouki wich seinem Blick aus. „Es ist nicht mein Partner“, murmelte er. „Kouki …“, sagte Salamon zaghaft. „Oh, wie interessant!“, jubelte Wisemon. Koukis schlechtes Gefühl verstärkte sich noch.   Die Welt drehte sich wie verrückt – wenn man überhaupt von Welt sprechen konnte. Es war einfach ein leuchtender, farbsprühender Tunnel, und sie konnte nicht sagen, ob sie selbst sich bewegte, oder ob die bunten Schlieren, die sie umgaben, diese Illusion erzeugten. Sie spürte die anderen mehr, als dass sie sie sah, sie entfernten sich von ihr, nahmen andere Abzweigungen in diesem grellen, körperlosen Raum. Dann spuckte sie der Tunnel aus und Tageko landete auf allen Vieren in ihrem Zimmer und stieß dabei ihren Rollsessel um, der vor dem Schreibtisch gestanden war. Darauf war sie gesessen, ehe das Licht aus diesem Gerät – diesem DigiVice – sie damals verschluckt und auf diese aberwitzige Reise in diese aberwitzige Welt geschickt hatte. Obwohl … wenn sie genauer darüber nachdachte, war es doch viel wahrscheinlicher, dass sie im Sessel eingenickt war und das alles geträumt hatte. Wie gut, dass sie umgekippt war. Was gegen diese Theorie sprach, war allerdings das kleine, grüne Etwas, das stachelig wie eine Kastanie war, ein Blatt am Köpfchen hatte und, wenn Tageko sich richtig erinnerte, auf den Namen Budmon hörte. Im Moment hoppelte das kleine Ding – das Digimon – unter ihren Schreibtisch und spähte von dort aus auf die neue Umgebung. Die Türschnalle ging nach unten und wie immer unangekündigt platzte Airu ins Zimmer, angelockt vom Poltern des Sessels. Tagekos mittlere Schwester hatte ihren typisch desinteressierten Blick aufgesetzt, ihr helles Haar fiel ihr ungeordnet über den Rücken und ein Träger ihrer mit Teddybären bestickten Latzhose war ihr über die Schulter gerutscht, weil er einfach viel zu lang war. In der Hand hielt die Siebenjährige einen übergroßen Lollipop. „Da bist du ja“, sagte Airu. „Mama ist sauer. Dein Essen ist schon kalt.“ Tageko beeilte sich aufzustehen und versuchte ihr rötliches Haar zu ordnen, dessen Knoten aufgegangen war. Ihre Klamotten rochen nach feuchtem Laub und waren schmutzig. Na toll. „Wie spät ist es?“, fragte sie und sah im gleichen Zug auf den Wecker auf ihrem Nachtkästchen. Tageko erschrak. Es war bald sieben Uhr. Die Zeit, die sie in der anderen Welt verbracht hatten, war sie also hier einfach verschwunden gewesen. Kein Wunder, dass ihre Familie sie gesucht hatte. „Ich komme gleich“, versprach sie. Ihre Schwester ging ohne ein Wort nach draußen und ließ natürlich die Tür offen. Tageko schloss sie und zog sich schnell um. „Keinen Mucks“, schärfte sie Budmon ein, das ohnehin nicht so aussah, als ob es in den nächsten zwei Stunden den Mut fassen würde, sich vom Fleck zu bewegen. Unten in der Küche traf sie ihre Mutter an, die eben hektisch den Geschirrspüler ausräumte. „Wo warst du so lange?“, fuhr sie ihre Tochter an. Tageko hatte einmal jemanden sagen gehört, dass sie ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten war. Sie selbst fand, dass sie nur die karottenroten Haare gemein hatten. Am allerwenigsten außerdem den Charakter. „Ich musste noch was besorgen“, sagte Tageko knapp. „Und was?“ Eine sprechende Pflanze aus einer anderen Welt. Tageko rümpfte die Nase. „Privat.“ Ihre Mutter verdrehte die Augen. „Oh, tut mir leid, wenn ich versucht habe, Interesse zu zeigen. Ich habe nur gedacht, an dem einzigen Tag in der Woche, wo wir alle einmal zur gleichen Zeit zuhause sind, könnten wir doch gemeinsam zu Abend essen. Wie dumm von mir.“ Tageko sah sie nur finster an. Ihre Mutter erwiderte den Blick eine Weile, dann seufzte sie. „Tut mir leid. War ein harter Tag.“ Nicht nur für dich, dachte sie. Es hatte Eintopf gegeben. Nichts Aufwändiges, wie immer. Tageko schöpfte sich einen Teller voll aus dem Topf und stellte ihn in die Mikrowelle. Während sie die paar Minuten wartete, sah sie ins Kinderzimmer zu Hibino und Hideto. Die Zwillinge saßen vor ihrer Spielekonsole und waren lautstark in ein Rennspiel vertieft. „Wie war die Schule?“, fragte ihre Mutter von der Garderobe her. Sie schlüpfte eben in ihren Mantel mit dem Fuchspelz – den hatte sie von Hiroki geschenkt bekommen und Tageko wusste bis heute nicht, ob der Pelz echt war oder nicht. „Ganz okay“, sagte Tageko. „Die Chefin von unserem Staffellaufteam meint, wenn wir so weitermachen, gewinnen wir den Wettbewerb.“ „Oh, das ist toll.“ Ja, dachte Tageko. Das ist toll. Wenn man sonst keine Sorgen hat. „Ich bin dann mal bei der Nachtschicht“, sagte ihre Mutter. „Pass auf die Kleinen auf, ja?“ „Mach’s gut.“ Tagekos Mutter war Stationsvorsteherin im Nagano-Krankenhaus – wenn sie nicht gerade bei Hiroki war, um mit ihm neue Muster, Farben und Stoffe zu besprechen. Eine Künstlerin mit ihrem Brotberuf, sinnierte Tageko gern. Und von diesem Brotberuf musste die alleinerziehende Mutter eben noch vier Kinder satt bekommen. Als sich ihre Eltern bald nach der Geburt der Zwillinge getrennt hatten, hatten Tagekos Großeltern noch tatkräftig in der Familie mitgeholfen. Das war allerdings gewesen, bevor ihre Mutter den Job in Tokio bekommen hatte und sie umziehen mussten. Jetzt war Tageko für die anderen drei manchmal so etwas wie die Ersatzmutter. Oft dachte sie bitter, dass es kein besseres Training für einen Staffellauf gab als den Spießrutenlauf, der Familie hieß. Die Mikrowelle klingelte, und Tageko zog den heißen Teller mit einem Backhandschuh heraus. Wieder zu lange. Sie beschloss, den Eintopf auf ihrem Zimmer zu essen, und stieg die Treppe hoch. Als sie sich an ihren Schreibtisch setzte, lockte der Geruch Budmon hervor. Das kleine Ding schaffte es irgendwie, auf ihren Schoß und von dort auf die Tischplatte zu hüpfen. Dann saß es neben dem Teller und sah Tageko aus großen Augen an. „Du kannst gar keinen Hunger haben“, sagte sie. „Du bist eine Pflanze. Versuch‘s mal mit Photosynthese, das sollte genügen.“ Budmon sagte nichts dazu, aber der treuherzige Blick aus seinen Augen wurde noch flehender. Tageko zögerte noch einen Moment, dann seufzte sie und schob einen Löffel voll Eintopf an den Tellerrand. „Na schön. Für dich.“ Das Pflanzendigimon strahlte übers ganze Gesicht und schlug die spitzen Zähnchen in das Essen. Tageko musterte es und fragte sich, warum es sich wieder zurückverwandelt hatte. Auf der anderen Seite war es gut, dass sie jetzt keinen übergroßen Pilz im Zimmer stehen hatte. Der Gedanke brachte sie wieder zu den anderen. Ob dieser Kouki wohl auch einen Rückweg gefunden hatte? Sollte sie sich vielleicht bei den anderen melden? Es war nicht so, als ob sie irgendjemanden von ihnen besonders gut leiden könnte. Bis auf Fumiko vielleicht, aber außer ihrem Namen wusste sie nichts über sie, weder Adresse noch Telefonnummer. Und was war nun mit diesem Gennai? Wer immer das war, hatte Piximon nicht gesagt, er würde sich bei ihnen allen melden? Tageko beschloss, einfach darauf zu warten. Was konnte sie schon tun? Durch ihren Computer erneut in diese verrückte Welt reisen, in der Tiere und Pflanzen sprechen konnten und aus riesigen Eiern schlüpften? Kapitel 6: Gefährliche Experimente ---------------------------------- Als sie Wisemon mit einem Fingerschnippen wieder aus dem Buch entließ, fand Kouki sich auf dem hölzernen Balkon eines Hauses wieder, das wie ein Pickel an der steilen Felswand eines schroffen Berges klebte. Eine Tür markierte den Eingang, und ein Holzsteg führte in luftiger Höhe und gefährlich buckelig vom Balkon an der Felswand hinab, so weit und so tief, dass Kouki ihn in der Dunkelheit aus den Augen verlor. Er musste inzwischen tiefe Nacht sein. Dieser schmale Steg war allem Anschein nach die einzige Möglichkeit, das Haus zu betreten – wenn man nicht gerade in einem magischen Buch von Gespenstern hergeflogen wurde. „Denk nicht mal daran“, warnte ihn Wisemon, das seinen Blick bemerkt hatte, während eines der Geistdigimon, das es zuvor Bakemon genannt hatte, die Tür aufschloss. „Die Bakemon würden dich im Nu eingefangen haben. Hier geht es lang.“ Kouki und Salamon blieb unter den wachsamen Augen der Geister nichts anderes übrig, als dem Kapuzendigimon ins Innere des Hauses zu folgen. Ohne einen Vorraum oder Flur, schien das geduckte Gebäude nur aus einem einzigen, hohen Raum zu bestehen, der halb von Brettern umgeben, halb direkt in den Berg gehauen war. Von der Galerie aus, auf die die Tür führte, konnte Kouki fünf Meter unter sich einen Boden aus weißem Marmor sehen, auf den in unregelmäßigen Abständen Symbole gemalt waren, die ihn an okkulte Beschwörungskreise erinnerten. Eine Seite der Laborhalle war komplett elektronisch; bis zur Decke ragten Computerbildschirme und Maschinen auf, und auf einer kleinen Empore ein Stück davor war am Boden eine halbmondförmige Bucht aus Computerkonsolen aufgebaut, von wo aus die gewaltige Anlage wohl bedient wurde. Während sie die hölzerne Treppe in die Halle hinunter stiegen, sah dort ein seltsames Digimon von den Geräten auf und kam ihnen entgegen. Kouki beäugte es ebensosehr wie es ihn. Sein Rumpf war eine Uhr mit verbogenen Zeigern und Füßchen daran, sein Kopf erinnerte ihn unangenehm an die Mütze des Henkers aus dem Mittelalterstreifen, den er einmal gesehen hatte. „Das ist Clockmon, mein Assistent“, erklärte Wisemon. „Ich warte schon ewig“, sagte Clockmon. „Es ist längst alles vorbereitet.“ Die Bakemon hatten Kouki und Salamon wieder gepackt und drängten sie in die Mitte des Raumes. Zwei oben offene Käfige standen für sie bereit, inmitten dieser seltsamen Beschwörungskreise, doch als Kouki sich wehren wollte, bohrten sich die blauen Geisterhände wieder schmerzhaft in seine Haut. Die beiden wurden je in einen Käfig gesteckt, und als Clockmon einen Schalter an einer Konsole betätigte, fuhren stählerne Greifarme von der Decke herab, krallten sich in die Käfigstangen und zogen sie surrend einen Meter in die Höhe. „Tut mir leid“, seufzte Wisemon schließlich, der an die Käfige trat und die Bakemon mit einer Handbewegung verscheuchte. „Ein unerwarteter Zwischenfall. SkullScorpiomon hatte es ebenfalls auf den Jungen abgesehen. Wir müssen LordMyotismon sagen, dass wir, mal sehen, acht seiner Bakemon verloren haben.“ „Acht, sagst du?“ Kouki zuckte zusammen. Hinter Wisemon war etwas in der Luft aufgetaucht, wie ein schimmernder, weißer Spiegel schwebte es dort. Die Stimme war direkt aus dem milchigen Glas gekommen. Wisemon drehte sich um. „LordMyotismon!“, rief es. „Welche Ehre. Nun, wie schon gesagt, SkullScorpiomon war in sehr ungehaltener Stimmung. Falls Ihr Eure Untergebenen rächen wollt, könnt Ihr Euch ja selbst von seiner Ignoranz überzeugen.“ Ein zweiter Spiegel erschien, direkt neben dem ersten; es war, als würde sich ein Teil des Bodens verflüssigen und in die Höhe schweben, um dort feste Gestalt anzunehmen. Dieser Spiegel war jedoch eher ein Fenster; es zeigte eine Gestalt, aber Wisemon stand im Weg und Kouki konnte sie nicht genau erkennen. „Die Bakemon waren nur nutzloses Fußvolk“, ertönte die Stimme aus dem ersten Spiegel. „Hast du ein passendes Versuchsobjekt gefunden?“ „Oh ja!“, sagte Wisemon begeistert. „Ein sehr interessantes sogar, LordMyotismon. Ich werde unverzüglich mit dem Experiment beginnen.“ „Tu das. Doch jetzt geh zur Seite, ich möchte einen Blick darauf werfen.“ Wisemon ging gehorsam aus dem Weg und Kouki konnte nun die Gestalt hinter dem Spiegel sehen, die ihn eingehend musterte. Ein  Schauer lief ihm über den Rücken. Ein Mann in altmodischer Kleidung mit Wespentaille saß auf einem steinernen Stuhl, die Beine überschlagen, einen silbernen Kelch in der Hand. Ein langer, weiter Umhang floss über seine Schultern und der Kragen hatte die Form einer Fledermaus. Am gruseligsten war jedoch sein Gesicht; die Haut war blass, fast bläulich, zwischen den vollen Lippen ragten spitze Eckzähne hervor. Eine rotviolette Flügelmaske umrahmte seine Augen, die schmutzig gelb und pupillenlos glühten. Ein Vampir! Unbewusst fragte sich Kouki, ob das, was in seinem Kelch war, wohl Blut war. Die Lippen verzogen sich zu einem gehässigen Grinsen, sodass die furchterregenden Zähne noch mehr zum Ausdruck kamen. „Sieh an, das ist also einer der DigiRitter. Er sieht älter aus als die, die für gewöhnlich aus der Menschenwelt gerufen wurden.“ „In der Tat, in der Tat“, bekräftigte Wisemon. „Wer oder was bist du?“, fragte Kouki leise, obwohl er gar nicht sicher war, ob er es überhaupt wissen wollte. Der Vampir sah ihn noch eine Weile an, als überlegte er, ob er eine Antwort wert wäre. Er entschied offenbar, dass es nicht so war. „Ich kann verstehen, warum unsere Erhabenen Meister die DigiRitter unterschätzt haben. Er sieht wirklich nicht gefährlich aus. Nun, ich werde nicht denselben Fehler machen. Wisemon, wenn du mit deinen Versuchen fertig bist, lass den Jungen in meine Zitadelle bringen.“ „Wie Ihr wünscht“, sagte Wisemon ehrerbietig, obwohl es es zweifellos ein wenig verstimmte, sein Forschungsobjekt hergeben zu müssen. Die Spiegel zerflossen in silberne Milch und wurden wieder eins mit dem Boden. Wisemon klatschte in die Hände. „Also los, das Thema ist viel zu interessant, um noch länger zu warten.“ Kouki entschied, dass ihm nichts von dem, was er gerade gehört hatte, gefiel. Klamme Angst packte sein Herz und quetschte es zusammen, und dafür schien es umso heftiger zu pochen. Er sollte ein menschliches Versuchskaninchen für irgendein Experiment sein? Wenn das doch nur ein Albtraum wäre, aus dem er erwachen könnte – aber diesen Wunsch hegte er bereits, seit Yuki tot war, und mit jeder verstreichenden Minute war er sicherer, dass er sich nicht erfüllen würde. Er packte fest die Gitterstäbe, die seinen Käfig bildeten. Sie waren zu schmal, um hindurchzuschlüpfen, und zu stabil, um sie zu verbiegen. „Einen Augenblick!“, schrie er, als Wisemon zu Clockmon an die Apparatur gehen wollte. „Was ist denn noch? Wir verschwenden nur Zeit“, sagte Wisemon ungeduldig. Kouki biss sich auf die Lippe. „Da, wo ich herkomme, sagt man dem Probanden wenigstens, was für ein Experiment man mit ihm macht. Und normalerweise fragen menschliche Wissenschaftler ihre Versuchspersonen auch immer, ob sie überhaupt damit einverstanden sind!“ „Oh?“, machte Wisemon. Kouki verfluchte das simple Gesicht des Digimons, er konnte seine Gedanken kaum erraten. „Bist du etwa selbst Forscher?“ „Ich … Ja, allerdings!“, sagte Kouki bestimmt. „Erst letzte Woche habe ich einen Frosch seziert.“ Das stimmte, auch wenn es im Unterricht gewesen war. „Und hat dieses Frosch-Wesen dir sein Einverständnis gegeben?“, fragte Wisemon lauernd. „Naja …“ Vielleicht wusste Wisemon ja nicht, was ein Frosch war. „Es hat zumindest nichts dagegen gesagt!“ „Hm. Hm, hm, hm.“ Wisemon schien zu überlegen. Das wertete Kouki als ein gutes Zeichen. „Nun, ich frage für gewöhnlich niemals nach. Aber da du als Forscher dem gleichen Drang nach Wissen unterliegst wie ich, werde ich dir zumindest erzählen, was wir mit dir machen wollen. Vielleicht erhöht das ja sogar den Effekt des Experiments, wer weiß.“ „Ich bin ganz Ohr“, murmelte Kouki. „Wer war dieser Vampir? Und was ist das hier überhaupt für eine Welt? Das würde ich auch zu gern wissen.“ „Du weißt es wirklich nicht? Wie schrecklich!“ Wisemon klang fast bestürzt. „Ein Forscher, der keine Antworten finden kann. Wie ist dein Name?“ Kouki zögerte. Was hatte er zu verlieren? „Kouki“, sagte er schlicht. „Du bist hier in der DigiWelt, Kouki. Du wurdest als DigiRitter ausgewählt und hergerufen.“ „Das hab ich jetzt schon ein paarmal gehört“, murmelte er. „Ein DigiRitter. Was soll das sein?“ „Du hast ein DigiVice und einen Digimon-Partner“, sagte Wisemon. „Du wurdest auserwählt, hierher zu kommen, um gegen die Mächte der Dunkelheit zu kämpfen. Du hast ja gerade die Ehre gehabt, LordMyotismon zu sehen. Und vorher SkullScorpiomon. Sie sind zwei der zwölf Asuras, als die sich die dunklen Mächte momentan manifestiert haben.“ Soweit deckte sich die Geschichte mit dem, was Salamon und die anderen gesagt hatten. „Und was wollen sie, diese Asuras?“ „Hm, wer weiß? Das ist ein ganz interessantes Thema. Ihre Meister haben damals die DigiWelt nach ihren Vorstellungen umgeformt und regiert, ehe die DigiRitter sie bezwungen haben. Ich vermute, die Asuras wollen dasselbe.“ Alles, was Kouki verstand, hatte mit Dunkelheit und Regieren zu tun. „Also sind die Asuras böse?“, hakte er nach. „Und du gehörst auch zu ihnen?“ „Tz, tz, tz“, machte Wisemon. „Als Forscher solltest du wissen, dass die Einteilung in Gut und Böse nur das Forschen erschwert. Ich gehöre nicht zu ihnen. LordMyotismon hat mir angeboten, dieses Experiment durchzuführen. Alles, was ich tue, geschieht lediglich im Namen der Wissenschaft. Hätte Azulongmon mich beauftragt, hätte ich es auch getan.“ Kouki wusste nicht, wer Azulongmon war, aber er wollte es auch gar nicht wissen. „Und was ist das jetzt für ein Experiment?“, fragte er mit trockenem Hals. Wisemon holte erneut sein Buch aus den Ärmeln seiner Kutte und schlug es auf. „Du hast dich vielleicht gefragt, wie du und dein Digimon gegen die Übermacht der Asuras kämpfen sollen. So, wie ihr jetzt seid, ist es mehr als aussichtslos. Allerdings hat man dir als DigiRitter dein DigiVice zukommen lassen.“ Kouki holte das kleine Gerät hervor und betrachtete es nachdenklich. „Das hier.“ „Genau. Die heiligen DigiVices besitzen seit jeher die Fähigkeit, starke Gefühle, Mut, Beschützerinstinkt und Angst und dergleichen beispielsweise, zu kanalisieren. Mit ihnen können Menschen, die zu ihren Wellenlängen kompatibel sind, auf das Licht der Digitation zugreifen. Die DigiVices übertragen das Licht dann auf ihre Partnerdigimon. Du solltest so etwas bereits erlebt haben, da dein Salamon auf dem Rookie-Level ist.“ „Auf dem Rookie-Level?“ Kouki sah den kleinen Welpen fragend an, der die Ohren hängen ließ und sichtlich unwissend dreinsah. War das, was Wisemon sagte, damals auf der Waldlichtung passiert? „Wenn deine Gefühle und die deines Partners das Licht der Digitation anrufen, kann dein Digimon digitieren. Es entwickelt sich weiter und nimmt eine Form an, die stärker und ausgereifter ist. Im Normalfall dauert es ewig, bis Digimon sich weiterentwickeln, aber den DigiRittern ist es gegeben, ihre Partner binnen eines Augenblicks auf das nächste Level zu katapultieren. Das ist eine interessante Fähigkeit. Und die stärkste Waffe, die euch im Kampf gegen die Dunkelheit gegeben wurde.“ Wisemon klappte sein Buch zu. „Und genau deswegen will LordMyotismon diese Waffe erforschen und für sich gewinnen. Die Asuras sind allesamt nicht weiter als auf dem Ultra-Level. Einige der vergangenen DigiRitter haben es aber schon geschafft, ihre Digimon auf ein noch höheres Level digitieren zu lassen.“ „Also fürchtet LordMyotismon uns wirklich“, murmelte Kouki, der sich das alles immer noch nur im Ansatz vorstellen konnte. „Und es will selbst auch digitieren.“ Wisemon zuckte mit den Achseln. „Was mit den Forschungen getan wird, liegt nicht in der Verantwortung des Forschers. Aber ja, ich vermute, so wird es sein. Es könnte auch seine ganzen Bakemon und DemiDevimon auf ein höheres Level bringen, oder die anderen Asuras. Dann wären sie ein ganzes Stück mächtiger. Wie auch immer, LordMyotismon hat mich mit der Aufgabe betraut, das Licht der Digitation für es sicherzustellen. Wir werden Salamon dazu bringen, zu digitieren. In dem Prozess scannen wir die Daten, die dein DigiVice aussendet, nach der Sequenz, die die Digitation ermöglicht, und kopieren sie, indem wir das Licht abfangen und Salamon so lange an der Schwelle zur Digitation halten, bis wir die Daten entschlüsselt haben. Du musst das nicht verstehen, Kouki. Der Vorgang ist hochkompliziert. Wenn du willst, halte ich dich während des Experiments über dessen Fortschritt auf dem Laufenden.“ Wisemon wartete seine Antwort nicht ab, sondern trat neben Clockmon an das Steuerpult. „Aufzeichnungen aus früheren Zeiten zufolge digitieren die Digimon, wenn ihre Partner in Gefahr sind. Wir werden so eine Situation simulieren.“ „Wie bitte?“, rief Kouki aus. Was sollte das heißen? Was hatten sie vor? Clockmon legte einige Schalter um, und bisher tote Bildschirme an der Wand erwachten zu Leben. Einer davon sah aus wie die Anzeige eines EKGs bei Herzstillstand; zweifellos maß dieses Instrument irgendwelche Schwingungen. Auf anderen liefen unverständliche Zahlenkolonnen oder Zeichen um die Wette. „Fangen wir also an.“ Wisemon betätigte selbst einen Hebel, und der zwölfzackige Stern in dem Kreis unter Koukis Käfig, der in den Boden geritzt und nicht, wie er bisher angenommen hatte, darauf gemalt war, fing in rötlich violettem Licht zu glühen an, immer heller, bis man die Musterung im Marmor gar nicht mehr erkennen konnte, weil er so strahlte. Und dann kam der Schmerz, so unerwartet und heiß, dass Kouki laut aufschrie. Es war, als würde er einen elektrischen Zaun berühren, nein, als wäre er in einen elektrischen Zaun gewickelt, jede Faser seines Körpers begann zu brennen und zu hämmern, stand schier in Flammen, und alles, woran er erkennen konnte, dass hier kein Strom im Spiel war, war die Tatsache, dass seine Muskeln nicht willkürlich zu zucken begannen. Stattdessen brach Kouki in die Knie und krümmte sich, sein eigener Schrei hallte ihm in den Ohren. „Kouki!“, hörte er wie aus weiter Ferne Salamon jaulen, die Stimme hoch und verzweifelt, und er hörte, wie das Digimon gegen die Gitterstäbe sprang. Schmerztränen füllten seine Augen und er hatte das Gefühl, sie müssten noch im selben Moment verdampfen. Halb erwartete er, dass seine Haut Blasen schlug, aber er konnte nichts dergleichen erkennen. „Hört auf! Er hat nichts getan! Kouki!“ Kouki hatte Schwierigkeiten zu atmen, seine Lungen waren scheinbar zum Bersten gefüllt mit Sauerstoff, doch er fühlte sich, als müsste er ersticken. Wenn er Luft holen wollte, war es, als würde er durch einen Strohhalm atmen müssen. Da drängte sich zu dem stetigen, hellroten Leuchten ein anderes, noch helleres Licht. Das DigiVice, um das sich seine Finger krampfartig geschlossen hatten! „Die Messgeräte schlagen aus“, hörte Kouki Clockmons Stimme wie durch Watte. „Ausgezeichnet. Beginn mit der Analyse.“ Das war Wisemons Stimme. „Kouki! Kouki!“, schrie Salamon unermüdlich weiter. „Halt aus! Ich … Ich rette dich!“ Retten? Kouki kniff die Augen zusammen. Das Feuer war bis in seinen Kopf vorgedrungen, der dröhnte, als würde ein Riese mit einem Vorschlaghammer ihn beständig bearbeiten. Du kannst mich nicht retten … was bist du schon? „Da stimmt etwas nicht“, sagte Clockmon. „Der Ausschlag wird schwächer. Etwas blockiert das Signal.“ „Liegt es an unseren Instrumenten?“ Wisemon klang völlig ruhig. „Kouki!!“ Das Jaulen war so schrill, dass es in den Ohren wehtat. „Verdammt, lass mich in Ruhe!“, brüllte Kouki. „Ich will nicht von dir gerettet werden! Du kannst das doch gar nicht! Lass mich einfach in Ruhe!“ Das Licht aus dem DigiVice war verloschen, bekam er am Rande mit. Seine Ohren dröhnten, sodass er nichts mehr hörte außer dem Rauschen wie von einem Wasserfall, dann verebbte der Schmerz so plötzlich, wie er gekommen war, und all seine Glieder wurden schlaff, als hätte jemand die Knochen daraus entfernt. Keuchend konzentrierte Kouki sich auf das Hämmern seines Herzens. Er lebte noch. Es war vorbei. Wisemon … Was fiel ihm eigentlich ein, so einen verdammten menschenfeindlichen Versuch zu veranstalten? „Seltsam“, drang Wisemons Stimme an seine Ohren. Das Digimon stand nahe an seinem Käfig. „Die Vorbedingungen waren erfüllt und es gab auch schon Indizien für den Beginn der Digitation. Warum hat es nicht geklappt?“ „Es kann nur an seinen Emotionen liegen“, meinte Clockmon, das an den Computern werkte. „Die Datensperre ist noch gar nicht zum Einsatz gekommen. Es waren nicht die Maschinen, die es am Digitieren gehindert haben.“ „Ah ja? Interessant.“ Wisemons nichtssagendes Gesicht befand sich auf Augenhöhe mit Koukis. „Warum ist das so? Willst du deinen Partner Salamon nicht digitieren lassen?“ „Zum Teufel mit Salamon“, zischte Kouki schwer atmend. „Dieser Welpe ist nicht mein Partner … Er will sich an Yukis Platz drängen, aber das lasse ich nicht zu …“ Er warf einen Blick zu Salamon. Das Digimon sank bei diesen Worten in sich zusammen und ließ die Ohren hängen. „Interessant, interessant“, nickte Wisemon. „Nun, wir werden uns etwas anderes einfallen lassen. Irgendeine Idee, Clockmon?“ Der Uhrenhenker kratzte sich am Kinn. „Vielleicht können wir die Relation der beiden umkehren. Der Junge könnte seine Gefühle verstecken. Kitzeln wir sie heraus.“ „Eine grandiose Idee!“, fand Wisemon und durch sein Klatschen erhielt er in Koukis Augen einen Touch des typischen verrückten Wissenschaftlers. „Fangen wir an.“ Wieder wurden Schalter gedrückt, andere Bildschirme flammten auf, und der Kreis unter Salamon begann zu glühen. Der kleine Hund tapste unsicher in den hintersten Winkel des Käfigs. Dann gab es eine weitere Energieentladung und Salamons Quietschen tat noch mehr in den Ohren weh als zuvor. „Lasst es in Ruhe!“, keuchte Kouki. „Ich hab doch schon gesagt, damit erreicht ihr gar nichts! Salamon ist nicht mein Partner! Es wird unmöglich digitieren!“ Etwas war anders. Kouki hatte nur seinen Schmerz gespürt und das rote Licht gesehen. Das Licht unter Salamon war jedoch grellblau und zuckende Blitze hagelten von unten durch den Käfig und liefen auf seinem Fell im Kreis. Kouki biss die Zähne zusammen und umklammerte seine Gitterstäbe, als könnte er sie dadurch brechen. Es war egal, ob er Salamon nun mochte oder nicht, aber einen Hund mit Elektroschocks zu quälen war Tierquälerei! Und ein Digimon hatte offenbar die gleichen Gefühle! „Ist das nicht zu viel?“, hörte er Clockmon fragen. „Wenn wir so weitermachen, zersetzen sich seine Daten.“ „Wir gehen aufs Ganze“, bestimmte Wisemon. „Wenn wir die entsprechenden Gefühle nicht hervorrufen können, können wir Salamon genauso gut entsorgen. Dann schlägt es als Proband fehl.“ „Nein!“, schrie Kouki. Das alles konnte doch nicht wahr sein, verdammt! „Dazu habt ihr kein Recht!“ „Lass sie, Kouki … es ist in Ordnung …“ Salamons Stimme war nur noch ein schwaches Fiepen, es erreichte Koukis Ohren kaum. Sein Kopf ruckte herum. Der kleine Hund lag schwach in einer Ecke, während die Blitze gnadenlos weiter über seinen Körper jagten. „Es ist so am besten … Wenn ich sterbe, haben sie keinen Grund mehr, dich gefangen zu halten. Vielleicht lassen sie dich dann gehen …“ Eine einzelne Träne schimmerte in Salamons linkem Auge. „Sag sowas nicht! Salamon!“ Kouki starrte das kleine Wesen an, das sich bereit erklärte, für sein Wohl zu sterben, obwohl er es nicht akzeptieren wollte. Der kleine Brustkorb hob und senkte sich zitternd, als es seufzte. „Wenn du mich nicht als Partner willst, ist das vielleicht alles, was ich für dich tun kann.“ „Warum? Du kennst mich doch kaum!“ „Ich glaube, ich kenne dich schon sehr gut“, seufzte es. „Yuki … Das war ein Freund von dir, oder? Er hat mir ähnlich gesehen, nicht wahr? Deswegen warst du wütend auf mich. Du wolltest deinen Freund nicht verraten. Ich verstehe das. Du bist ein guter Mensch, Kouki.“ „Salamon“, murmelte Kouki gerührt. Die Stimme des Digimons wurde immer schwächer. „Ich werde nicht länger versuchen, deinen Yuki zu ersetzen. Ich will einfach nur dein Freund sein. Ein neuer Freund. Freunde kann man nicht genug haben …“ Der Satz klang in einem Seufzen aus und Salamon fiel es sichtlich schwer, die Augen offenzuhalten. Kouki biss die Zähne zusammen. Auch ihm standen Tränen in den Augen. Wie hatte er nur so unbeschreiblich dumm sein können? Salamon hatte völlig recht! Nur weil es aussah wie ein Hund … Es war eine ganz andere Lebensform als Yuki, konnte sprechen, es konnte doch auch sein Freund werden! Es musste ja nicht sein neues Haustier werden! „Ja, das stimmt. Freunde kann man nicht genug haben.“ Er kniff die Augen zusammen und schrie laut: „Ich will, dass du mein Freund bist, Salamon!“ Und das DigiVice begann wieder zu glühen, heller und kräftiger als vorher. „Es hat funktioniert. Schnell“, sagte Wisemon und Clockmon betätigte Hebeln. Salamon, eben noch von Blitzen umgeben, wurde von glühendem, diesmal warmem Licht eingehüllt. Langsam richtete sich die leuchtende Gestalt auf, warf lange Schatten in das Labor. „Das Signal ist enorm!“, rief Clockmon und klang ein wenig aufgelöst. „Es sprengt fast unsere Kapazitäten!“ „Aktiviere den Begrenzer“, wies ihn Wisemon an. Ein weiterer Kreis unter Salamon leuchtete auf. Das Licht um Salamons Körper wurde zackiger, als würde es etwas ausfransen. „Gib nicht auf!“, schrie Kouki und richtete sein DigiVice auf seinen Digimon-Partner. Ja, seinen Partner. Vielleicht half es ja etwas. „Da ist das Signal!“, berichtete Clockmon. Kouki sah die Instrumente auf der Wand verrücktspielen, das Messgerät zeigte riesige, zackige Ausschläge, die Zahlen und Symbole liefen so schnell über die Bildschirme, dass man sie gar nicht mehr erkennen konnte. „Aufzeichnen“, kommandierte Wisemon. Rote Lämpchen begannen überall auf der Konsole zu blinken. „Es geht nicht!“, keuchte Clockmon. „Die Sequenz schützt sich irgendwie selbst, wir haben keinen lesenden Zugriff auf die Daten!“ „Dann graben wir uns eben in das originale Datenmuster.“ Clockmon sah Wisemon aus großen Augen an; das Licht, das von Salamon ausging, verschlang beinahe den Blick auf die beiden. „Sicher? Wenn wir die originalen Daten extrahieren, kann es sein, dass das Digimon nie mehr digitieren kann! Wenn das Experiment fehlschlägt, werden wir es unmöglich wiederholen können!“ „Egal, tu es, schnell!“ Selbst Wisemon klang nun angespannt. Ja, fürchtet euch nur, dachte Kouki grimmig. Zeig’s ihnen, Salamon! Salamons Digitation dauerte viel länger als damals auf der Lichtung, etwas schien sie bremsen zu wollen. Fast alle Beschwörungskreise in der Halle leuchteten nun, das Licht sammelte sich in Salamons Käfig. Eine Maschine an der Wand spuckte meterweise eng bedruckte Papierschlangen aus. „Gib nicht auf, Salamon! Du schaffst es!“ Kouki versuchte, alle Gefühle, die durch seinen Körper rauschten, auf das DigiVice und auf Salamon zu konzentrieren. Irgendeinen Nutzen musste es doch haben, dass Wisemon ihm über die Funktionsweise der DigiVices Bescheid gesagt hatte! „Da ist das Muster!“, schrie Clockmon. „Notstopp! Daten sofort sichern!“, rief Wisemon zurück, während ein schriller Schrei durch den Raum hallte, aber diesmal klang er nicht schmerzerfüllt. Das goldene Licht nahm nochmal an Intensität zu, und dann gab es einen gewaltigen Knall, als etwas die Wurzel des Greifarms sprengte, der den Käfig hielt. Das Licht barst auseinander und der Käfig fiel in einer schwarzen Rauchwolke zu Boden. Die Beschwörungskreise zuckten noch einmal auf, dann entwich zischend grauer Rauch aus den Ritzen. Kouki versuchte angestrengt, einen Blick in die Wolke zu werfen. Er musste wissen, was mit Salamon passiert war! Zuerst regte sich nichts, und alle in der Halle schienen den Atem anzuhalten. Dann schwenkte etwas durch die Rauchschwaden, ein langer, dünner, geringelter Schwanz, an dem ein goldener Ring blitzte. Und dann schnellte eine kleine Gestalt aus dem Rauch und landete neben Koukis Käfig – doch es war nicht mehr Salamon. Eine weiße Katze mit riesigem Kopf und Pinselohren strahlte ihn an. Die Vorderpfoten steckten in gestreiften Handschuhen, doch die enormen Krallen ragten daraus hervor. „Es hat geklappt, Kouki!“ Die Stimme war dieselbe, aber nicht mehr ganz so piepsig. „Bist du … Salamon?“, fragte Kouki sprachlos. „Nicht ganz, ich bin jetzt Gatomon! Gefalle ich dir so besser?“ Kouki schluckte alles, was er hatte sagen wollen, herunter. Das Digimon sprang mit einem einzigen Satz auf seinen Käfig und schlug mit der Pranke nach dem Greifarm. Es blitze elektrisch auf, dann sprang auch diese Halterung auseinander und Koukis Käfig stürzte ab und zerschellte am Boden. Kouki wurde von den Füßen gerissen und seine Zähne schlugen schmerzhaft aufeinander, aber durch die zersprungenen Gitterstäbe konnte er ins Freie klettern, wobei er sich an den scharfen Kanten schnitt, aber das war ihm egal. „Es ist wirklich digitiert, erstaunlich“, sagte Wisemon, das seine Fassung wiedergefunden hatte. „Nun, das Experiment wurde noch nie zuvor durchgeführt. Wie läuft die Datensicherung?“ „Ist fast abgeschlossen. Ich weiß aber nicht, ob sie vollständig sind“, sagte Clockmon geschäftig. Gatomon hob angriffslustig die Krallen und seine Augen wurden schmal. „Kouki, warte hier! Ich habe mit denen noch ein Hühnchen zu rupfen!“ Dann schoss es auf allen Vieren vorwärts. „Was hast du vor?“ Kouki hob hilflos die Hand. Aus den Ecken des Labors sah er die Bakemon strömen. „Beeil dich!“ Wisemon trat einen Schritt zurück, als müsste es sich gegen Gatomon verteidigen, aber das Katzendigimon machte einen großen Bogen um es, sprang kraftvoll vor der Monitorwand in die Höhe, direkt vor die Maschine, die die Daten ausdruckte. „Blitzpfote!“ „Nein!“, rief Wisemon und machte eine Handbewegung, doch was immer es hatte tun wollen, es kam zu spät. Gatomon schlug mit seiner Pfote nach dem Apparat und ein elektrisches Zucken lief die Wand entlang. Wisemon stürzte zu den Maschinen, während Gatomon mit einem Salto elegant wieder auf den Hinterpfoten landete. „Was hast du getan? Clockmon, hilf mir! Wir verlieren die Aufzeichnungen!“ „Sofort!“ Clockmon hämmerte wie wild auf die Tasten des Steuerpults, während Wisemon aus seinem Buch allerlei Geräte erschienen ließ, die die defekte Maschine ausbesserten oder zusammenschweißten oder vielleicht auch komplett zerlegten. Kouki sah nicht mehr hin, denn Gatomon war sofort wieder bei ihm, packte ihn an der Hand und zerrte ihn nach rechts, zu der Treppe, die auf die Galerie führte. Auch von dort oben drängen sich Bakemon in den Raum, doch mit seiner Pfote schleuderte sie Gatomon eines nach dem anderen davon. Kouki blickte über die Schulter, während sie die Treppe hinauf hetzten. Ein gutes Dutzend Geistdigimon folgte ihnen noch. Wenigstens Clockmon und Wisemon schienen so mit ihren Maschinen beschäftigt, dass sie ihnen nicht folgten; Kouki wollte um keinen Preis wieder in dieses magische Buch gezogen werden. Sie erreichten die Tür und wandten sich nach rechts, wo sie dem Holzsteg folgten. Der Wind zerrte kalt und gierig an Koukis Kleidern. „Schneller!“, trieb Gatomon ihn an und rannte über den Steg vor. „Das sagst du so leicht!“, rief er. Kouki musste sich an dem Seil festhalten, das als Geländer diente. Der Steg war so schmal und rutschig, dass ihm angst und bange wurde, und er schwankte unter jedem seiner Schritte. Hinter ihnen flogen die Bakemon aus dem Haus. „Geh einfach weiter, nur Mut!“, rief Gatomon, setzte mit einem Sprung über Kouki hinweg und begann wieder damit, die Geistdigimon davonzuschlagen. Es wich den blauen Krallenhänden aus, schlug zu, wich wieder aus, schlug wieder zu, sprang auf einen Felsvorsprung an der Wand, schlug einen Salto … Kouki wurde schon vom Zusehen ganz schwindlig. Doch der Ansturm der Geister nahm kein Ende. Wieder und wieder flogen sie aus dem Abgrund hervor, in den Gatomon sie schleuderte. Schwer atmend ließ das Katzendigimon schließlich die Vorderpfoten hängen. Die Lakengesichter lachten dümmlich und flogen von der Seite her auf Gatomon zu, um es einzukreisen. Gatomon riss die Augen auf. „Katzenauge!“ Seine Stimme hallte von den Bergwänden wider. Nacheinander starrte es in die dämlich glotzenden Augen der Bakemon, die daraufhin wie zu Salzsäulen erstarrten und nacheinander abstürzten. Das letzte konnte noch rechtzeitig die Augen zusammenkneifen – da sprang Gatomon es direkt an, schlug noch einmal kräftig mit beiden Pfoten zu, und als das Bakemon die Augen schließlich wieder öffnete, wurde auch es von dem Hypnoseblick erwischt. Gatomon stieß sich von ihm ab, um wieder auf dem Steg zu landen, während das Bakemon in die Tiefe trudelte. „Schnell, Kouki, lauf!“, rief Koukis Partner, und ohne dass sie noch jemand verfolgte, rannten sie den Steg entlang, der hoffentlich bis zum Fuß dieses Berges führte.   Wisemon sank seufzend auf den Stuhl im Arbeitszimmer in seinem Buch. Das Aufräumen hatte ewig gedauert. Es bereute es nicht, dass die Probanden entkommen waren. Sie zu töten oder LordMyotismon auszuliefern – was letztendlich dasselbe bedeutet hätte – wäre eine Verschwendung gewesen. Menschen gab es selten genug in der DigiWelt, und sie waren prinzipiell alle interessant. Gerade wollte Wisemon einen Schluck aus seiner Tasse mit wohlverdientem Tee trinken – ausgezeichnetem Tee übrigens, von einer Pagumon-Farm an der Küste des Server-Kontinents –, als Clockmons Stimme ihn erreichte. „Wisemon? Es tut mir leid, aber … ich muss stören.“ „Was gibt es jetzt schon wieder?“ Wisemon fühlte sich geschlaucht, wie jedes Mal nach einem bahnbrechenden Experiment. „Lord… LordMyotismon ist da. Das heißt, seine magischen Spiegel.“ Wisemon hatte es eigentlich immer als angenehm empfunden, dass der Asura seine Spiegel-Fenster nicht im Inneren seines Buches öffnen konnte. Jedes Mal nach draußen zu gehen, wenn LordMyotismon etwas von ihm wollte, wenn es auch noch so selten vorkam, war aber schon ein Ärgernis. Also materialisierte sich Wisemon in der Mitte der Forschungshalle, die blitzeblank aufgeräumt worden war. Nur an den Stellen, wo die Käfige heruntergekracht waren, hatte der Marmor Sprünge davongetragen. Die Fenster für Bild und Ton waren dort erschienen, wo sie es immer taten. „LordMyotismon, welche Freude“, sagte Wisemon. „Ich wollte Euch ohnehin schon kontaktieren, gleich nachdem ich meinen Tee ausgetrunken hätte.“ „Wie ist das Experiment gelaufen?“, fragte das Asura ohne Umschweife. Wisemon fragte sich, ob etwas geschehen war, ein unerfreuliches Gespräch mit einem der anderen Asuras vielleicht, weil es gar so unfreundlich war. „Nun, es gab Komplikationen.“ „Komplikationen?“ LordMyotismon war sichtlich verstimmt. Es schwenkte seinen Weinkelch so schwungvoll, dass ein Tropfen edler Roter über den Rand sprang. „Ja. Unsere Systeme waren nicht auf eine so enorme Datenmenge kalibriert. Dem Digimon gelang die Digitation auf das Champion-Level und anschließend die Flucht.“ „Du hast also versagt“, stellte LordMyotismon düster fest. „Oh nein, wir konnten alle Daten im Zusammenhang mit dem Experiment retten. Es ist nur eine Frage von Tagen, bis wir das Geheimnis entschlüsselt haben – dann könnt Ihr im besten Fall das Licht der Digitation für Euch und die Euren nutzen.“ „Das sind gute Nachrichten.“ Das Asura klang zufrieden. „Sehr gute Nachrichten. Da kann ich es verschmerzen, dass der Mensch entkommen ist. Wenn wir erst digitieren können, spielt ein DigiRitter mehr oder weniger keine Rolle.“ „In diesem Zusammenhang habe ich noch eine – wie ich annehme – erfreuliche Nachricht für Euch“, sagte Wisemon. LordMyotismon horchte auf. „Die da wäre?“ Wisemon rieb sich die Hände. „Für mich als Forscher ist es zwar eine Verschwendung … aber wir mussten bei dem Vorgang die noch freien Daten für die Digitation direkt aus dem Digimon extrahieren. Da es die Digitation auf das Champion-Level gerade noch geschafft hat, konnten wir auf diese Daten nicht mehr zugreifen, aber für das Ultra- und das Mega-Level ist es uns gelungen. Dadurch haben wir allerdings das Digimon, wie soll ich sagen, entwurzelt.“ „Sprich nicht in Rätseln.“ „Verzeiht. Nun, was ich eigentlich sagen wollte ist, dass dieses Digimon, ein Salamon, jetzt wohl ohne Probleme auf das Champion-Level digitieren kann. Auf das Ultra- oder gar das Mega-Level wird es allerdings nie mehr kommen.“ Kapitel 7: Groß, grün und ungemütlich ------------------------------------- Sie lungerten auf dem Pausenhof herum, genau wie Taneo vermutet hatte. Einer von ihnen hockte auf der hölzernen Bank, die genauso wie der dazugehörige Tisch deutlich bessere Tage gesehen hatte; der Schnee und die Nässe hatten das Holz aufgeweicht und dunkel werden lassen. Der Rest stand mit Getränkedosen auf dem Pflasterboden und unterhielt sich lautstark. Heute waren sie zu viert. Renji drückte gerade seine Aludose zusammen und kickte sie in Richtung des Mülleimers, verfehlte ihn aber um ein gutes Stück. „Mann, Renji“, lachte einer der anderen. „Ich dachte, du spielst Fußball.“ „Tu ich auch“, gab Renji zurück. „Fußball, nicht Fußdose.“ Er lachte über seinen Scherz und machte keine Anstalten, die Dose ordnungsgemäß in den Müll zu werfen. „Oyara-kun.“ „Hm?“ Renji drehte sich herum und auch die anderen schienen erst jetzt zu bemerken, dass sich jemand zu ihnen gesellt hatte. „Der kleine Pisser von gestern!“, rief einer der Jungen aus, während Renjis Miene sich verfinsterte. „Was willst du?“, fragte er mürrisch. „Ich glaube, das weißt du.“ „Hoho, der Kleine will sich rächen“, lachte wieder ein anderer. Taneo machte sich gar nicht die Mühe, sich ihre Gesichter zu merken. „Und er hat sogar seine große Schwester als Verstärkung mitgebracht.“ „Ich bin nicht seine Schwester“, sagte Tageko und verschränkte die Arme. Sie ließ eine Augenbraue hochwandern. „Komm, Kuromori-kun, gehen wir wieder. Allein diese Versager ansehen zu müssen ist scheußlich.“ Während die anderen lautstark protestierten, sagte Renji: „Ich bin auch nicht scharf drauf, dich zu sehen, glaub mir.“ Er sah an ihnen vorbei in den vorderen Teil des Hofes und hoffte offensichtlich, niemand würde seinen Blick bemerken. „Ihr habt nicht zufällig Fumiko-chan auch dabei, oder?“ „Wir müssen reden“, sagte Taneo anstelle einer Antwort und entlockte Renjis sauberen Freunden damit ein weiteres kollektives Lachen. „Worüber sollte ich mit dir Wicht schon reden?“, gab Renji großmäulig zurück und stemmte die Hände in die Hüften. „Spielzeugautos? Puppen?“ Auch dafür erntete er amüsiertes Gelächter; seine Kumpane schienen das Gespräch ungemein komisch zu finden. „Über eine merkwürdige Parallelwelt und ein kleines haariges Monster, das seit gestern bei dir zuhause wohnt“, sagte Taneo ungerührt. Während die anderen noch lauter lachten, zumindest einer aber Renji verwirrt anblinzelte, versuchte Renji selbst, seine Miene in Stein zu verwandeln. „Leute, ich regle das mit denen allein“, sagte er dann und bemühte sich selbstgefällig zu klingen. „Bist du sicher? Lass den Kerl doch einfach stehen.“ „Nein, nein. Der ist mir lange genug auf der Nase rumgetanzt. Geht schon mal in die Klasse, sonst kriegt ihr noch Ärger.“ „Alter, mach keinen Scheiß“, warnte ihn einer, während die anderen unsicher auf der Stelle herumtraten. „Ich doch nicht.“ Renji grinste. „Das ist was Persönliches. Nichts Ernstes, aber was Persönliches.“ „Wie du meinst.“ Schulterzuckend trollten sich die anderen und betraten die Schule durch die gläserne Doppelflügeltür. Als er sah, wie sie über die Treppe in den ersten Stock gegangen waren, seufzte Renji. „Also, was ist los?“ „Du bist echt ein Großmaul“, sagte Tageko unumwunden. „Pff, halt doch den Rand. Was glaubst du, was das für mein Image bedeutet, wenn ich mich auf einmal mit Typen wie euch abgebe? Also, sagt, was ihr wollt.“ „Hab ich schon“, erwiderte Taneo. „Es geht um die Digimon und die DigiWelt.“ „Ich weiß nicht, was das ist“, behauptete Renji. „Dämlich bist du also auch noch“, stellte Tageko trocken fest. „Verdammt nochmal!“, entfuhr es ihm. „Ich bin froh, wieder zurück zu sein, okay? Und das Ding, das jetzt bei mir wohnt, ist ein nettes Haustier, aber ich werde ganz sicher nicht nochmal einen Fuß in diese irre Welt setzen und mich von außerirdischen Skorpionen jagen lassen, kapiert? Was immer gestern passiert ist, ich hab keinen Bock darauf, dieses Spiel weiterzuspielen!“ „Kouki ist noch drüben“, sagte Taneo. „Oder war er heute in der Schule?“ „Nein“, brummte Renji. „Also haben wir bereits ein Problem. Seine Eltern haben ihn vielleicht sogar schon als vermisst gemeldet.“ „Keine Sorge“, meinte Renji großspurig und reckte das Kinn in die Höhe. „Ich hab von den Fußballern auch die Haustelefonnummern. Ich hab einfach angerufen, und seine Schwester hat abgehoben. Hab ihr gesagt, Kouki pennt die nächsten paar Tage bei mir, weil wir gemeinsam lernen und trainieren wollen und so. Problem gelöst.“ „Ja, für die nächsten paar Tage“, murmelte Tageko zynisch. „Was hätte ich denn sonst tun sollen?“ „Wir gehen in die DigiWelt“, bestimmte Taneo. „Unsere Partner können uns vielleicht beschützen, wenn wir nicht gerade wieder einem Asura begegnen. Nach der Schule verbarrikadieren wir uns im EDV-Raum und versuchen, Kouki zurückzuholen.“ Eigentlich hatte Piximon ihnen ja versprochen, dass dieser Gennai sie kontaktieren würde, doch das war bisher nicht geschehen. Sie konnten aber mit ihren DigiVices Tore an jedem beliebigen Computer öffnen, das hatte Piximon zumindest behauptet. „Tja, das ist ein Problem. Ich hab Kyaromon nämlich bei mir daheim gelassen.“ „Du bist echt ein Intelligenzbolzen“, stöhnte Tageko. Taneo fand, dass sie sich das ruhig hätte verkneifen können. „Woher sollte ich denn wissen, dass ihr es so eilig habt, Skorpionfutter zu werden?“, gab Renji gereizt zurück. „Geht doch alleine, wenn es euch so viel bedeutet.“ „Kouki ist dein Freund!“, widersprach Taneo, nun lauter. „So gut kenn ich ihn jetzt auch wieder nicht“, brummte Renji. „Ist das zu fassen? Reiß dich mal zusammen, willst du, dass er stirbt?“ „Nein“, murmelte Renji nach einer Weile betroffen und scharrte mit dem Fuß auf dem Boden. Dann schien ihm etwas einzufallen. „Na schön, ich komm mit … Ist Fumiko-chan eigentlich auch dabei?“ Taneo warf Tageko einen Blick zu. „Wir waren noch nicht bei ihr. Jagaris Klasse habe ich schon gefunden, aber er dürfte krank sein. Er hat auch in der DigiWelt ein wenig erkältet gewirkt, also sollte er sich vielleicht auskurieren. Ob Fumiko mitwill … Ich weiß nicht, sie hat ja keinen Digimon-Partner.“ „Sie kommt bestimmt mit“, sagte Renji überzeugt. „Meinst du? Ich weiß aber nicht, in welche Klasse sie geht.“ Tageko hatte er schon am Morgen vor der Schule entdeckt und sich mit ihr für die jetzige Mittagspause verabredet. „Wenn’s weiter nichts ist“, meinte Renji grinsend. „Mir nach, ich kenn den Weg.“   „Kann’s sein, dass du heute nicht bei der Sache bist, LordAres?“, fragte BurstingStinger, als sein neuer Schwertkämpfer Jagaris Magier zum dritten Mal in Folge mit einer Standard-Schwertkombi erledigt hatte. „Du bist einfach besser als gestern. Hast du deinen Chara von einem Chinafarmer?“ „Ich hab ihn nur neu ausgerüstet. Was ist los? Ich dachte, du würdest den neuen Mod total genial finden.“ „Hm“, machte Jagari, während er wartete, dass seine Spielfigur wiederbelebt wurde. Der inoffizielle Zombie-Mod zu Nightmare Bastion Wonderworld war eigentlich nicht schlecht. Die Spieler kämpften auf einer riesigen Karte gegen Zombie-Wesen wie Vampire und Ghouls, die im Spiel ohnehin vorkamen, allerdings wurde man selbst zum Zombie, wenn man von ihnen erwischt wurde, und musste dann alle fünf Minuten einen menschlichen Mitspieler vernichten, um nicht zu sterben, die dann ebenfalls als Zombies auferstanden. Gegen Ende wurde jede Runde zu einer gnadenlosen Jagd auf den letzten lebendigen Spieler. Jagari war ein Zombie gewesen, als BurstingStinger ihn endgültig ins Jenseits befördert hatte. „Er ist genial … Ich weiß auch nicht. Hab einen schlechten Tag.“ Dabei wusste er genau, was los war. Die virtuelle Welt war verbessert worden und machte wieder ein bisschen mehr Spaß – aber da war diese andere, virtuelle Welt, die auch mit allerlei Geheimnissen und gigantischer Grafik und beängstigender Atmosphäre und Realismus lockte. Kurz: Es war wie eine zweite Wirklichkeit. Und genau das ließ plötzlich seine Computerspiele langweilig und öde wirken, gleichzeitig jedoch fürchtete er sich fast davor, noch einmal mit der DigiWelt zu tun zu bekommen. Früher hatte er immer davon geträumt, vollständig in eine andere Welt eintauchen zu können, mit Leib und Seele, und er war damit nicht der Einzige im Kreis seiner Online-Freunde gewesen. Aber nun war er wirklich in einer anderen Welt gewesen, und ein riesiges Monster hätte ihn fast umgebracht. Alles wäre einfach gewesen, wenn es nur ein Spiel wäre – die Welt zu retten war ein Plot, der in dieser Umgebung auf jeden Fall interessant gewesen wäre, aber der Gedanke, zu sterben … So realistisch brauchte kein Spiel zu sein. „Musst du nicht ausweichen?“, riss ihn Motimon aus den Gedanken und Jagari verriss die Maus. Zu spät – der andere Spieler, ein Zombie-Oger mit einer riesigen Keule, hatte ihn hinterrücks angegriffen, bekam den Attentäterbonus und tötete seine Figur auf der Stelle. Und wieder war er selbst ein Zombie. Er seufzte. „Mann, du bist heute ja echt unkonzentriert“, hörte er BurstingStinger durch sein Headset, der in der Nähe gewesen war. „Ich weiß. Ich hör auf, hab keine Lust mehr“, brummte Jagari. Ohne seinem Freund eine Antwort zu gönnen, loggte er sich aus und warf sich auf das Bett in seinem Zimmer. Zwei Dinge bewiesen, dass diese andere Welt wirklich existierte und keine Traumphantasie oder ein irre realistisches VR-Konstrukt war. Jagari hustete. Nun, eigentlich drei. Seine Erkältung war auch schlimmer geworden. Dann waren da die Gras- und Erdflecken auf seinem Pyjama. Und natürlich Motimon. Das Digimon hüpfte zu ihm aufs Bett. „Sag mal, Jagari, warum kämpfst du gegen diese Digimon im Computer, aber nicht gegen die echten?“ Jagari fand es zu kompliziert, dem Kleinen das erklären zu wollen. Sein Bruder hätte dabei sein sollen, als sie in die DigiWelt gereist waren. Er hätte vielleicht für alles eine Erklärung gehabt, zumindest hätte es ihn brennend interessiert. Andererseits war das etwas, das bisher nur Jagari kannte. Wäre es nicht schade, wenn er die DigiWelt nicht erkunden würde? Wenn er auf sich aufpasste, würde er schon nicht unter die Räder kommen … „Du kannst ja digitieren, oder, Motimon?“ Der Kaugummigeist nickte wabbelig. „Ich bin jetzt zwar wieder Motimon, seit wir in deiner Welt sind, aber in der DigiWelt kann ich sicher wieder Elecmon werden.“ „Und kannst du auch noch stärker werden? Kannst du noch weiter hochleveln?“ „Mit deiner Hilfe sicher“, gab sich Motimon überzeugt. „Ich werde dich beschützen, egal, was kommt. Das ist meine Aufgabe.“ Jagari überlegte, starrte auf sein DigiVice, kratzte an den gelben Stellen, ohne dass die Farbe abblätterte. Aufgabe …   „Raaauuus!“, schrie Aiko. „He, he, ich will doch nur mit ihr reden …“, rief Renji und hob abwehrend die Hände, während ihn der Lärmschwall aus Aikos Mund rückwärts aus dem Klassenzimmer drängte. „Sie aber nicht mit dir! Wann lässt du sie endlich in Ruhe?“ „Wenn ich habe, was ich will!“, gab er nun in der gleichen Lautstärke zurück. „Wir hätten ihn nicht vorschicken sollen“, murmelte Tageko. Taneo nickte. „Vergiss es!“, spie ihm Aiko entgegen. „Du weißt ja nicht mal, was das ist!“ „Ich kann’s mir denken!“ Fumikos Freundin rümpfte die Nase. „Du bist ein lästiger, perverser Stalker, Oyara-kun.“ Renjis sah aus, als würde er gleich zerspringen, so ungerecht behandelt musste er sich fühlen. Taneo fand es nicht schade, dass er von ihr so zusammengeputzt wurde, nur weil er einen einzigen Schritt in Fumikos Klasse gemacht hatte, aber am Ende ließ jemand wie Renji das nur wieder an jemandem wie Shuichi aus. Daher nickte er Tageko zu, die ihn bereits fragend angesehen hatte. „Das reicht jetzt, Casanova“, sagte die Läuferin, packte Renji am Kragen und zerrte ihn von der Tür fort. „Entschuldige, könntest du uns mit ihr sprechen lassen? Nur für einen Moment?“, fragte sie Aiko wesentlich freundlicher, als sie selbst mit Taneo je gesprochen hatte. Das Mädchen musterte sie kurz aus zusammengekniffenen Augen und seufzte dann. „Okay. Fumiko, kommst du mal kurz?“ „Ich bin hier.“ Fumiko trat neben der Tür hervor. Irgendwie wirkte der Blick, den sie Aiko dabei zuwarf, als hätte sie sich längst bemerkbar machen wollen, ihre Freundin das aber im Keim erstickt. „Du kannst uns allein lassen, Aiko.“ „Ich bleibe.“ Aiko verschränkte die Arme und setzte einen Freunde-von-Oyara-sind-Feinde-Blick auf. „Wie du willst.“ Fumiko schien sich daran nicht sonderlich zu stören. Renji wollte auf sie zugehen, aber Tageko stieß ihm die Hand vor die Brust, woraufhin er wütend jammerte. Fumikos Augen sahen Tageko unverwandt an, als sie sagte: „Es geht doch sicher um Nagara-kun. Wann wollt ihr aufbrechen?“ „Aufbrechen?“ Taneo war überrascht. „In die DigiWelt.“ Das Mädchen sah ihn kurz an, dann wieder Tageko. „Er war lange genug dort. Wir müssen versuchen, ihn herauszuholen. Wahrscheinlich weiß er noch nicht, dass er den Fernseher benutzen muss.“ „Häh?“, machte Aiko, doch ihre Freundin ignorierte sie. „Eigentlich wollten wir dich eher pro forma fragen … Du … willst also mitkommen?“, fragte Tageko und klang ein wenig verunsichert. Taneo konnte das verstehen; sowohl bei ihr als auch bei Renji hatte er einiges an Überredungskunst aufwenden müssen, und auch selbst war es ihm nicht leicht gefallen, diesen Entschluss zu fassen. „Nur weil mein Ei noch nicht geschlüpft ist, werde ich Nagara-kun nicht im Stich lassen“, sagte sie bestimmt. „Außerdem hab ich ihm gegenüber noch eine Schuld zu begleichen.“ „Natürlich ist Fumiko-chan sofort bereit, mitzukommen!“, rief Renji schleimend aus. „Sonst dürfte sie sich wohl kaum einen DigiRitter nennen!“ Sie sah ihn kurz an und lächelte schelmisch. „Ich wette, Oyara-kun musstet ihr erst überreden.“ Während Renji lautstark protestierte und Tageko hämisch kicherte, war Taneo äußerst zufrieden.   „Ich hab nur wieder diese Beeren gefunden.“ Salamon zog ein breites Blatt hinter sich her, das mit kleinen, roten Früchten gefüllt war. Kouki seufzte. Der Regen hatte kurz wieder eingesetzt. Sie waren einem schmalen Weg in einer Felsspalte bis in einen Wald gefolgt, von dessen sattgrünen Blättern noch frisch und kühl Wasser tropfte. Den halben Tag waren sie marschiert, um möglichst weit weg von Wisemon und seinen Experimenten zu kommen, und Koukis Magen hatte verlangend zu knurren begonnen. Doch alles, was es hier gab, waren diese roten Beeren, die auf riesigen, unbekannten Pflanzen wie Perlen wuchsen und verlockend glänzten. Selbst Salamon wusste nicht, ob sie ungiftig waren, und das Risiko wollte Kouki dann doch nicht eingehen. Seine Füße schmerzten vom stundenlangen Gehen, seine Socken waren nur mehr Schlammklumpen an seinen Zehen, die eisig kalt und gefühllos waren – was gut war, da er alle paar Schritte auf einen spitzen Stein oder einen Ast trat. „Ich würde mir ja einen Speer oder so basteln“, sagte er, während er und Salamon, zu dem Gatomon wieder zurückdigitiert war, sich durch das Dickicht schlugen. „Aber so wie ich die DigiWelt einschätze, wird sich meine Beute wohl mit Laserkanonen wehren.“ Salamon sah ihn fragend an und er winkte ab. „Vergiss es. Ich rede nur so vor mich hin.“ Gerade, als er sich zu fragen begann, ob Wisemon seine Probanden wohl ordentlich gefüttert hätte, teilte sich der Wald vor ihnen und sie standen am Rand eines im Sonnenlicht glitzernden Sees. Sanfte, saphirblaue Wellen schlugen gegen einen steinigen Strand. Was Koukis Blick einfing, war jedoch nicht das Wasser, sondern das Gebäude, das unweit des Ufers in einem Grasfeld stand. „So etwas gibt es hier?“ Er bekam große Augen. Das Haus war aus hellem Holz und nicht sehr groß, hatte einen runden Grundriss und eine blau gedeckte Kuppel, doch das Schild über dem Eingang – oder eher die Zeichnungen darauf – wies es eindeutig als ein Restaurant aus. Als hätte es sein Magen ebenfalls gesehen, begann er wieder laut zu knurren. Kouki schluckte und trat ein, Salamon folgte ihm. Das Innere war hell und in einem gewissen Sinne sogar einladend. Runde, weiße Tische und hölzerne Stühle pflasterten jeden Quadratmeter des Raumes zu. Die absonderlichsten Gestalten saßen dort und aßen; es gab undefinierbares Grünzeug, das wie Salat arrangiert war, Bananen, die aus nichts als Schale zu bestehen schienen, riesige saftige Früchte – und Fleisch. Der Duft von Gebratenem ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Viele Gerichte kannte er sogar, die meisten waren eher westliche Küche. Salamon stieß ein frohes Jaulen aus. „Kouki, schau! So viel Fleisch! Lass uns essen!“ „Warte.“ Er hielt sein Digimon zurück, als es sich auf den nächstbesten Teller stürzen wollte, an dem sich soeben ein unförmiges, gelbes Digimon und eine Art violette Maus gütlich taten. „Wenn Restaurants in der DigiWelt gleich funktionieren wie bei mir zuhause, müssen wir für das Essen schon bezahlen.“ Er kramte in seiner Hosentasche nach dem Kleingeld, das er immer dabei hatte. Viel war es nicht, wie er leidvoll feststellte. Ein kleiner Snack, mehr war wohl nicht drin, aber ihm war alles recht. Hinter dem Tresen stand ein seltsames Digimon, dessen grüne Stummelbeine aus einem riesigen Ei ragten. In der oberen Hälfte war die Schale gesprungen, und zwei gelbe Augen glotzten ihm entgegen. Als es die beiden Neuankömmlinge auf sich zukommen sah, schlug das Digimon einen geschäftsmännischen Ton an. „Ah, Kundschaft. Was darf es denn sein?“ „Wunderst du dich gar nicht, dass ein Mensch in deinen Laden kommt?“ „Ich habe schon öfters Menschen bewirtet“, gab das Digimon unbeeindruckt zurück. „Auch wenn das letzte Mal schon wieder eine Weile her ist. Wofür kann ich euch begeistern?“ Kouki sah nirgends eine Speisekarte. „Habt ihr … etwas für den kleinen Hunger? Etwas Billiges, wie … Toast?“ „Mit Toast kann ich dienen“, sagte das sprechende Ei. „Mein Koch macht den besten Schinken-Käse-Toast in der DigiWelt.“ „Wie viel würde der kosten?“ Kouki ließ seine Münzen von einer Faust in die andere wandern. „Drei fünfzig. Mehr als erschwinglich für den besten Toast der DigiWelt.“ Kouki war verdutzt. „Äh … Yen?“ Die Augen des Wesens verengten sich. „Natürlich Dollar. Bist du einer dieser Menschen, die ständig meinen, mich mit irgendeiner fremden Währung abspeisen zu können? Wenigstens fragst du vorher.“ „Du nimmst also keine …“ „Ich nehme Dollar, und nur Dollar“, fiel es ihm ins Wort. „Wenn ihr nicht bezahlen könnt, müsst ihr für euer Essen arbeiten, oder ihr verschwindet wieder von hier.“ „Ich bezahle für den Knilch.“ Eine große, grüne Hand legte sich neben ihm auf den Tresen. Kouki wandte sich um und sprang mit einem unterdrückten Aufschrei zurück. Neben ihm stand das wohl hässlichste Digimon, das er bisher gesehen hatte. Das hässlichste zumindest, das auch nur entfernteste Ähnlichkeit mit einem Menschen hatte. Es hatte grüne Haut und Koboldohren, ein aufklaffendes Maul voller schiefer, stinkender Zähne und zwei gebogene, schwarze Hörner auf der Stirn. Weißes Haar wallte ihm über den gebeugten Rücken bis zur Hüfte. In der einen Hand hielt es neben einem Mantel und einem runden, geflochtenen Hut etwas, das wie eine Knochenkeule aussah. Das Digimon erinnerte ihn mit seinen riesigen Pranken und der ledernen Hose an einen Ork oder Oger aus einem Fantasy-Film. Auf jeden Fall sah es nicht gerade vertrauenserweckend aus und Kouki ging mit ein paar Schritten auf Abstand. Er durfte nicht vergessen, dass er hier unter Digimon war, von denen sogar die kleinsten einem Menschen gefährlich werden konnten. Das Ei hinter der Theke schien keine Angst zu haben. „So“, sagte es misstrauisch. „Und du? Kannst du bezahlen?“ „Theh, was ist das für eine Frage?“ Kouki fiel auf, dass der Oger nicht einmal, wenn er sprach, den Mund ganz schließen konnte; daran hinderten ihn seine gewaltigen Hauer. „Selbst ein geschworener Halunke wie ich hat ein paar Regeln, an die er sich halten muss.“ „Ich kenn dich doch“, fuhr das Ei fort und hatte immer noch unheilvoll die Augen zusammengekniffen. „Du hast doch einem Verwandten von mir in seinem Chinarestaurant die Einrichtung zertrümmert, oder nicht?“ „Blödsinn!“, rief das grüne Digimon aus und kleine Speicheltröpfchen flogen über die Theke. „Das war dieses Veggiemon, als es in seinen Tisch gekracht ist!“ „So. Und warum genau ist das Veggiemon in den Tisch gekracht?“ „Weil diese hässliche Knolle mich beschuldigt hat, beim Kartenspielen betrogen zu haben!“, grollte der Oger. Hätte das Ei Arme besessen, hätte es diese nun garantiert verschränkt, so wie Kouki den Ausdruck seiner Augen einschätzte. „Hey, ich hab meine Lektion gelernt!“, rief der Oger. „Nie wieder betrügen.“ Er lachte laut, hoch und rau. „Keine Sorge, ich hab Geld, siehst du?“ Er deutete zu seinem Gürtel. Ein paar Scheine steckten lose in seinem Hosenbund. „Na gut. Wenn du hier auch Ärger machst, werdet ihr beide eure Strafe abarbeiten“, sagte das Ei grimmig. „Alles klar.“ Das grünhäutige Ungetüm deutete auf das gelbe, ebenfalls recht hässliche Digimon, das gerade aus der Küche kam und auf seinen langen Tentakelarmen Teller balancierte. „Dann sag deinem Veggiemon hier, wenn es nicht auch in einem Tisch landen will, soll es uns schnell was zu beißen bringen. Ich bekomme das Gleiche wie der Junge, und außerdem eine ordentliche Flasche Sake, der Durst bringt mich um.“ Kouki war sich immer noch nicht sicher, was er von diesem zweifelhaften Gönner halten sollte, schon gar nicht, nachdem das Ei-Digimon die recht zweifelhaften Taten des Orks offengelegt hatte, aber andererseits war er immer noch verdammt hungrig, und hier in diesen vier Wänden würden ihm vielleicht ein paar der Gäste beispringen, falls er ihn angreifen würde. Und das Essen würde aus der Küche kommen, also konnte der Oger es auch nicht vergiften oder so. So trottete er dem Digimon hinterher, das sich an einen der Tische setzte, und tat es ihm unbehaglich gleich. Salamon hüpfte auf den dritten Stuhl. „Ahja, diese Digitamamon sind wirklich alle gleich“, stellte das grüne Wesen fest, während es Mantel, Hut und Keule auf der Tischplatte ablegte. „Wenn sie dieses dämliche Menschenpapier wittern, sind sie bereit, alles mitzumachen. Wie heißt du, Kleiner?“ „Ich … Kouki“, murmelte er. „Und so klein bin ich eigentlich gar nicht …“, traute er sich zu erwidern. „Nicht? Ach, stimmt ja, ich habe vergessen, dass ihr Menschen alle solche Kümmerlinge seid.“ Das Wesen lachte. „Ich bin Ogremon. Das stärkste Digimon, das die DigiWelt je gesehen hat.“ Ogremon schlug sich gegen die Brust. Es sah tatsächlich ziemlich kräftig und furchterregend aus, das musste Kouki zugeben. „Warum willst du für mich zahlen?“ Es ging ihm immer noch nicht in den Kopf, dass so ein unangenehmer Zeitgenosse einem Menschen das Essen spendieren wollte. Ogremon lachte sein raues Lachen. „Kein besonderer Grund. Mit euch Menschen abzuhängen führt meistens zu gefährlichen Kämpfen. Oder zu Leomon. Mir ist beides recht.“ Kouki beschloss, nicht genauer nachzufragen. Mit eingezogenen Schultern wartete er darauf, dass das Essen endlich kam und er kein Gespräch mit diesem Ungeheuer führen musste. „Du bist doch sicher ein neuer DigiRitter, oder? Bist du einer von diesen Luschen oder kämpfst du ernsthaft?“, fragte es. Kouki wusste nicht, was es damit nun wieder meinte. „Ich gebe mir Mühe“, murmelte er und beschloss, das Gespräch von sich fortzulenken. Er deutete auf Ogremons spärliches Gepäck. „Du bist auf der Durchreise?“ „Kann man so sagen. Dieses feige Leomon – kaum ist es wiedergeboren, kann ich es nicht finden. Das war alles noch viel einfacher, als die Stadt des ewigen Anfangs noch auf der File-Insel war, da konnte es mir nicht entkommen. Naja, was soll‘s.“ Das gelbe Digimon – Veggiemon hatte Ogremon es genannt – kam angehüpft. Auf seinen Tentakeln balancierte es zwei Teller und ein Tablett mit der Flasche Sake und einer Trinkschale, die in Ogremons Pranken verschwinden würde. „Was ist denn das?“, rief das grünhäutige Digimon aus, als sein knusprig brauner Toast, aus dem geschmolzener Käse quoll, vor ihm abgestellt wurde. „Du kleines, stinkendes Unkraut!“, fuhr es Veggiemon an. „Wie soll ich denn davon satt werden? Bring mir was mit Fleisch, damit meinen Beißerchen nicht langweilig wird!“ Finster vor sich hin murmelnd sprang der Kellner wieder in die Küche zurück und Ogremon schob Kouki seinen Teller hin. „Iss du das, das ist ja mit einem Bissen weg. Digitamamon wird es uns so oder so verrechnen, und du siehst aus, als bräuchtest du ein wenig mehr Fleisch auf den Knochen.“ Kouki gab den Toast an Salamon weiter, das ihn aus großen Hundeaugen ansah, und biss selbst in seinen eigenen. Er schmeckte gar nicht mal übel. „Du hast gesagt, du bist das stärkste Digimon in der DigiWelt?“, fragte er, während sich der Käse zwischen seinen Zähnen zog, obwohl er schon argwöhnte, dass Ogremon vor allem gern prahlte. „Das kannst du laut sagen! Es gibt nur ein Digimon, das ich noch nicht besiegt habe.“ Ogremon riss den Korken aus der Sakeflasche, aber anstatt sich einzuschenken, schüttete es sich den Schnaps direkt in den Rachen. „Auch stärker als die Asuras?“ Ogremon verschluckte sich und versprühte Sake über den Tisch. Kouki sprang gerade noch rechtzeitig auf; Salamon erwischte die Fontäne und es schüttelte sich. Ogremon stand ebenfalls auf, stellte die Flasche so unsanft auf den Tisch, dass Kouki erwartete, sie gleich brechen zu sehen, packte ihn über den Tisch hinweg und zwängte ihn auf den Stuhl zurück, wobei es ihm mit seiner riesigen Pranke den Mund zuhielt, dass er kaum noch Luft bekam. „Halt die Klappe!“, keifte es. „Sprich ihren Namen nicht einfach so aus! Für die bin ich sozusagen ein geschworener Feind!“ Kouki musste Ogremon durch Gestikulieren klarmachen, dass er verstanden hatte, ehe es die Hand wegnahm und er keuchend nach Luft rang. „Wieso das denn?“, fragte er atemlos. „Naja, sie sind stinkig, weil ich den DigiRittern geholfen habe, ihre Meister zu erledigen.“ Ogremon kratzte sich im Nacken. „Lange Geschichte. Geh denen aus dem Weg, Junge. Wenn du kannst. Sind üble Gesellen, mit denen will ein ehrlicher Halunke wie ich auch nichts zu tun haben. Selbst wenn ich sie wahrscheinlich in die Tasche stecken würde.“ Sicher, dachte sich Kouki. „Du bist doch sicher durstig, Kleiner. Hier, nimm einen Schluck. Ich hab nicht oft Gesellschaft beim Trinken.“ Ogremon füllte die Trinkschale mit Sake und stellte sie neben Koukis Teller. Er beäugte den Schnaps unbehaglich. Der scharfe Geruch drang ihm in die Nase. „Das ist nicht, also … Minderjährige dürfen eigentlich keinen Alkohol trinken.“ „Ist das so eine komische Erfindung von euch Menschen?“, krähte Ogremon. „Wenn du alt genug bist, um gegen Digimon zu kämpfen, bist du auch alt genug, um Sake zu trinken.“ Wie um seine Worte zu untermauern, nahm es selbst wieder einen kräftigen Schluck. Kouki zögerte. Zu sagen, dass er nicht neugierig wäre, wäre gelogen gewesen. Niemand würde ihm hier einen Vorwurf machen, und ein kleiner Schluck konnte doch nicht schaden … außerdem wollte er Ogremon nicht verärgern, wenn es ihn schon einlud, und überhaupt war es wohl besser, wenn er ein bisschen auf harter Junge machte. Er führte die Schale an die Lippen und stürzte sie hinunter. Der Sake brannte scharf und prickelnd durch seine Kehle und Kouki hustete. „In die falsche Röhre bekommen?“, grunzte Ogremon und lachte. „Soll ich dir etwa auf den Rücken patschen?“ „Nein!“, brachte Kouki hervor und schluckte. Abwehrend hob er die Hand, während er tief durchatmete. Immer noch stand sein Hals in Flammen. Wenn Ogremon ihm auf den Rücken klopfte, brach es ihm wahrscheinlich die Wirbelsäule. Als er sich die Tränen aus den Augen blinzelte, hörte er, wie die Tür aufging und ein neuer Gast eintrat. Sein Herz machte einen Sprung; fast hätte er erwartet, dass sie mit ihrem Gerede tatsächlich ein Asura beschworen hätten, doch das Digimon sah eigentlich harmlos, fast witzig aus. „Sieh an, Nanimon“, sagte Ogremon. Laut rief es: „Igitt, eine haarige Kugel!“ Die absurd vollen Lippen des kugelrunden Digimons verzogen sich abfällig und unter seiner Sonnenbrille fühlte Kouki einen finsteren Blick, der in ihre Richtung abgeschossen wurde. „Igitt, ein grünes Monstrum“, gab Nanimon zurück. Ogremon lachte brüllend. „Ein Monstrum zu sein ist um Längen besser. Hast du doch noch ein Trailmon erwischt?“ Die Lippen zusammengekniffen, stapfte das Digimon näher und zog sich einen Stuhl heran, um bei ihnen am Tisch sitzen zu können. Das grüne, schneckenartige Digimon, das eben noch darauf gesessen war, wurde zu Boden geworfen und wollte wütend aufbegehren, aber als Nanimon es grimmig ansah, verstummte es und kroch zu einem anderen Stuhl. „Du hast Nerven, mir nochmal unter die Augen zu treten, Ogremon“, stellte Nanimon fest. Es ignorierte Kouki geflissentlich, was ihm nur recht war. Das Digimon sah nicht bedrohlich aus, wohl aber streitsüchtig. „Genau genommen bist du mir unter die Augen getreten“, gab Ogremon zurück und fuhr damit fort, sich Sake in den Rachen zu schütten, während das Veggiemon ihm eine dampfende Platte brachte; Steak, schwimmend in würzig duftender Soße. „Glaub nicht, dass ich die Sache in Locomotown einfach vergesse“, brummte Nanimon, während Ogremon das Steak, ohne das Besteck anzurühren, zu seinem Mund führte und die Hälfte davon mit einem Bissen abriss. „Was denn? Die Locomon lassen niemanden ohne Fahrkarte an Bord, das weiß doch jeder“, meinte es kauend. „Wenn du so blöd bist, dich beklauen zu lassen …“ „Du hast mich von hinten mit deiner Keule niedergeschlagen!“, knurrte der behaarte Kopf mit Armen und Beinen. „Von hinten! Die Tat eines Feiglings!“ Ogremon lachte schrill und diesmal flogen kleine Fleischstückchen durch die Luft und klatschten auf Nanimons spiegelnde Glatze, das sie fahrig wegwischte. „Das sagt der Richtige“, feixte Ogremon. „Das große Nanimon, Veteran des ersten DigiKrieges, das sich beim Anblick der DigiRitter in die Hosen macht und Fahnenflucht ergreift! Glaub nicht, ich hätte die Geschichte nicht gehört.“ Eine Ader begann auf Nanimons Stirn zu pochen. „Das war mindestens zwanzig gegen einen“, behauptete es. „Nur ein Narr kämpft einen Kampf, den er nicht gewinnen kann. Ich lebe schließlich noch, und die anderen von Myotismons Digimon sind tot.“ „Ich lebe auch noch, und ich bin nie weggerannt. Aber ich kann dich natürlich verstehen. Ich bin ja auch kein Schwächling wie du“, prahlte Ogremon und spülte den Rest seines Steaks mit dem Rest seines Sakes hinunter. Von seinem Kinn tropfte das Fett und ein leichter, trunkener Rotschimmer machte sich auf seinen hohen Wangen bemerkbar. Nanimon ballte die behandschuhten Fäuste und sah aus, als würde es das Wortgeplänkel liebend gern eine Stufe höher stellen und Ogremon das vorlaute Maul stopfen, also fand es Kouki an der Zeit, einzugreifen. „Hey, nur die Ruhe, ihr beiden“, sagte er und wedelte beschwichtigend mit den Armen. „Wir wollen Digitamamon doch keinen Grund geben, uns alle drei zum Abwasch einzuteilen, oder?“ Nanimon warf ihm einen Blick zu, dann Salamon. Ogremon nahm das als Anlass, weiterzusticheln. „Da siehst du es, ein DigiRitter und sein Partner. Wirklich furchterregend, die zwei. Ich würde ja auch Reißaus nehmen. Wenn ich so ein Weichei wäre wie du.“ Nanimon fixierte weiterhin nur Salamon, das sich unter seinem Blick klein machte. „Ich kannte auch mal ein Salamon“, sagte es und klang plötzlich noch übler gelaunt. „Nachdem es digitiert ist, war es so arrogant, dass es ihm in die Nasenlöcher geregnet hat. Vielleicht hole ich den Kampf ja jetzt nach, vor dem ich davongerannt bin.“ „Auszeit, Auszeit“, rief Kouki, der leicht nervös wurde und zu schwitzen begann, und machte die entsprechende Schiedsrichtergeste. Er hatte Raufereien immer verabscheut, und Nanimon sah aus, als suchte es nur ein Ventil, an dem es Dampf ablassen konnte. „Warum regeln wir das nicht einfach so, wie … wie echte Männer so was in der Menschenwelt regeln?“ Sie sahen ihn wie auf Kommando gleichzeitig an. „Und wie regelt ihr das in der Menschenwelt?“ Kouki fehlten für einen Moment die Worte. „Äh … also, folgendermaßen …“ Kapitel 8: Expedition nach Überallhin ------------------------------------- „Und?“, fragte Taneo. „Hm.“ Sein Cousin saß vor dem aufgeschraubten DigiVice und kratzte sich an den Bartstoppeln an seinem Kinn, dann in seinem rötlichen Haarschopf. „Höchst merkwürdig, das Ding. Scheinen mir ein paar Mikroprozessoren drin zu stecken – oder eher, Nanoprozessoren. Echt, eine so hohe Bestückungsdichte hab ich noch nie gesehen, wusste gar nicht, dass es sowas schon gibt.“ „Kannst du irgendwie herausfinden, wie es funktioniert?“ Sie hatten sich für den späten Nachmittag verabredet, weil Renji sein Digimon zuhause gelassen hatte. Fumiko hatte irgendwie Jagaris Haustelefonnummer herausbekommen. Er hatte erschöpft und unsicher am Telefon geklungen, aber beschlossen, auch mitzugehen. Gegen halb sechs wollten sie bei ihm vorbeischauen und von seinem PC aus in die DigiWelt reisen. Taneo wollte die Zeit bis dahin nutzen, also hatte er seinen Cousin in den Tokioter Außenbezirken besucht und ihm das DigiVice gezeigt. Wenn einer dessen technische Geheimnisse lüften konnte, dann er. Kentarou drehte sich einmal schwungvoll in seinem Schreibtischsessel im Kreis und tippte die Fingerspitzen gegeneinander. „Ich will nicht riskieren, dass ich es kaputt mache. Obwohl das Material verdammt stabil aussieht – woher hast du nur so ein Ding, Taneo?“ „Das würdest du mir nicht glauben“, murmelte er trocken. „Ach, komm schon. Mit sowas lass ich mich nicht abspeisen.“ Taneo zuckte die Achseln. „Das ist ein weiteres Rätsel. Es war auf einmal da. Und ein paar andere von meiner Schule haben das Gleiche.“ „Und was kann es?“ „Naja, anscheinend … Es kann uns in eine andere Welt bringen.“ „Ah, na klar.“ „Ich hab doch gesagt, du würdest mir nicht glauben“, schnaubte Taneo. Kentarou sah das geöffnete DigiVice lange an. „Du meinst, es projiziert eine virtuelle Welt? Wie ein 3D-Projektor?“ „Nein. Es bringt uns tatsächlich in eine Welt voller Monster.“ Taneo beschloss, einfach alles zu sagen. Nun war es auch schon egal, ob Kentarou ihm glaubte oder nicht. „So eine Welt existiert nicht“, sagte der Computerfreak bestimmt. „Beweis es mir“, sagte Taneo verärgert. „Ich kann dir beweisen, dass sie existiert, wenn ich dich irgendwie dorthin mitnehmen kann. Aber du kannst nicht beweisen, dass es sie nicht gibt.“ Kentarou schnaubte. „Ich würde ja wirklich zu gern eine Diskussion über Paradimensionaltheorie mit dir führen. Aber was genau willst du von mir? Du hast gesagt, du hättest es eilig.“ „Das DigiVice“, er deutete auf das Gerät, „hat vielleicht versteckte Funktionen. Ich bräuchte etwas, das die anderen DigiVices aufspüren kann. Müsste doch möglich sein, oder?“ Kentarou schnalzte mit der Zunge. „Möglich, dass es möglich ist.“ „Einer von uns ist in der anderen Welt verloren gegangen“, erklärte Taneo. „Wenn wir das Ding benutzen könnten, um ihn aufzuspüren …“ Sein Cousin seufzte und streckte sich in seinem Sessel. „Also schön. Ich kauf dir das zwar immer noch nicht ab, aber ich schau mir den Inhalt von dem Teil mal an. Ich spiel mir alle Daten runter, auf die ich zugreifen kann, und setz mich in den nächsten Tagen ran.“ „Danke. Du bist der Beste.“ „Klar.“ Kentarou grinste. „Aber dafür hab ich dann was bei dir gut, ja?“   „Armdrücken?“ Nanimon starrte Kouki an, als hätte er den Verstand verloren. „Aber ja!“, nickte er heftig. „Wo ich herkomme, werden alle Konflikte so gelöst. Fair und sportlich. Stimmt’s, Salamon?“ „Oh, äh, ja!“ Das kleine Hundedigimon war klug genug, mitzuspielen. „Mir soll’s recht sein“, brummte Ogremon. „Vielleicht kann ich Leomon damit auch mal schlagen. Hah, das wäre doch lustig!“ Nanimon rückte seine Sonnenbrille zurecht. „Na schön. Wenn das eine anerkannte Methode ist … Dabei kannst du mich wenigstens nicht hinterrücks niederschlagen.“ „Ich spiele den Schiedsrichter und sehe zu, dass alles fair bleibt. Einwände?“, fragte Kouki. „Pah, der Witzfigur breche ich den Arm“, grunzte Ogremon. „Täusch dich da nur mal nicht.“ Unter Koukis Aufsicht packten sie einander an den Händen, stemmten die Ellbogen auf die Tischplatte – wobei Nanimon halb auf den Tisch steigen musste – und auf sein Kommando hin begannen die Digimon zu drücken. Es war schnell vorbei, und es war ein ungleicher Wettstreit. Nanimon hatte schon ganz ordentliche Muskeln – für eine sprechende Kugel jedenfalls. Aber Ogremon riss es fast von den Füßen, als es seine Hand so hart auf die Tischplatte knallte, dass der ganze Tisch wackelte. „Die Runde geht wohl an mich“, stellte das grüne Digimon zufrieden fest, während Nanimon die Hand zurückzog und wimmernd umklammerte. „Das soll es gewesen sein? Glaubst du, du kommst mir so davon?“, schimpfte es. „Hä? Schlechter Verlierer, oder was?“ „Du kommst sofort mit raus und kämpfst mit mir! Glaub ja nicht, dass die Sache damit gegessen ist!“ „Pah, jederzeit!“ „Es hat nichts gebracht“, flüsterte Salamon Kouki zu. Er seufzte. Wenigstens wollten sie ihren Kampf draußen austragen. Als sie sogar ordnungsgemäß bezahlten, war es ihm letztlich egal, wie die Sache ausgehen würde. Die beiden Digimon stellten sich einander gegenüber auf wie zwei Westernhelden und Kouki fiel wieder die Rolle des Schiedsrichters zu. Mittlerweile fand er ihr Verhalten nur noch kindisch, aber er gab brav das Signal und die beiden stürmten mit erhobenen Fäusten aufeinander zu. Ogremon schlug jedoch zu, noch ehe sie einander erreichten. Ein violetter Blitz verließ seine Faust, traf das überraschte Nanimon und schleuderte es in hohem Bogen durch die Luft. Mit einem wütenden Schrei stürzte das Digimon irgendwo inmitten des Sees ins Wasser. Koukis Mund blieb ihm offen stehen. Sollte er wirklich überrascht sein? „Mal sehen, ob der Winzling schwimmen kann“, grunzte Ogremon und lachte. Es schob sich seinen Hut auf den Kopf. „Ging doch ganz schnell. Was ist, kommt ihr jetzt mit?“ Kouki und Salamon sahen einander an. Einen so starken Beschützer zu haben konnte nicht schaden; Ogremon wirkte schlagkräftiger als selbst Gatomon. „Willst du uns denn mitnehmen?“ Das grüne Digimon lachte. „Wie gesagt, wenn ich mit einem Menschen reise, passiert garantiert etwas, das einem Krieger wie mir Ehre bringen kann. Und Spaß. Also kommt.“ Kouki zuckte mit den Schultern. Wohin sollten sie auch gehen? Vielleicht kannte Ogremon sich wenigstens ein bisschen in diesem Teil der DigiWelt aus. Also folgten sie ihrem neu gewonnenen Gefährten.   „Du bist spät“, sagte Renji, als sie sich vor Jagaris Haustür trafen. „Tut mir leid. Ich hab noch versucht, was über die DigiVices rauszufinden“, murmelte Taneo. „Ach ja? Während Kouki vielleicht gerade von einem riesigen Feuervieh gegrillt wird?“, giftete Renji. „Seit wann bist du so erpicht darauf, ihn zu retten?“, fragte Tageko trocken. „Renji würde doch nie einen Freund im Stich lassen“, sagte Kyaromon und hüpfte von dessen Schulter auf seinen Kopf. „Nicht wahr, Renji?“ „Klar. Aber hab ich dir nicht gesagt, ich will dich nicht auf meinem Kopf haben? Du ruinierst mir die Frisur!“ Das Meerschweinchen kicherte nur. „Sag mal, Fumiko-chan, wieso schleppst du das Ei eigentlich auch mit?“ Fumikos Finger glitten über das violett gemusterte Ei, das aus ihrer Manteltasche hervorlugte. „Ich weiß nicht. Es ist so ein Gefühl … als ob es nur in der DigiWelt schlüpfen kann.“ Ein Gefühl … Typisch Frauen, dachte Renji. „Kommt rein, wir haben echt schon genug Zeit verplempert.“ Jagari winkte sie energisch näher. Er war diesmal weit wärmer angezogen als bei ihrer letzten Reise in die DigiWelt; ein dicker grauer Wollkragenpullover sollte vielleicht den Umstand ausgleichen, dass er erkältet war. Auch die anderen hatten sich für eine lange Wanderung passend angezogen; als sie in Jagaris Haus fürs Erste die Winteroveralls auszogen – die Eltern des Kleinen schienen nicht zuhause zu sein –, war Renji mit seinem simplen Trainingsanzug sogar der am luftigsten Bekleidete. Taneo hatte sogar Bergsteigerstiefel an, dazu eine warme Weste und schmuddelige Hosen, die Bohnenstange Tageko trug auch festes Schuhwerk und einen Herbstmantel und hatte einen riesigen Rucksack geschultert, und Fumiko ließen ihr grauer Regenmantel und die gefütterte, weite Kletterhose in Tarnfarben total unsexy aussehen, fand Renji. Dafür hatte sie ihr langes, blauschwarzes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, das machte es wieder wett. Jagari sperrte seine Zimmertür ab – verdammt, war es stickig hier drin, und keineswegs aufgeräumt – und sie versammelten sich mitsamt ihren Digimon vor dem Computer. „Ich hab selbst ein wenig in den Daten gewühlt, die ich von dem DigiVice runterladen konnte. Das da hab ich gefunden“, sagte der blonde Junge und öffnete ein Fenster mit einem Raster voller weißer Felder. „Das scheinen verschiedene Gebiete in der DigiWelt zu sein. Hier können wir auswählen, wo wir drüben rauskommen, vermute ich.“ „Genial“, murmelte Taneo. „Da hab ich meinen Cousin wohl unnötig bemüht …“ „Und woher sollen wir wissen, wo Kouki steckt?“ Renji verschränkte zweifelnd die Arme. „Wir wissen ja nicht mal, wo auf der Karte wir letztens waren. Und da steht auch nichts wie Klima oder Höhenmeter oder sonstwas.“ „Lassen wir’s drauf ankommen“, beschloss Tageko. „Was schlägst du vor, wohin gehen wir als Erstes?“ „Wir könnten uns aufteilen“, murmelte Fumiko. „Gute Idee“, sagte Renji sofort. „Zweierteams wären gut.“ Bevor er die Partnerin für sein Team küren konnte, sagte Tageko: „Ich weiß nicht. Am Ende verlieren wir wieder jemanden.“ „Ich finde auch, dass wir zusammen bleiben sollten“, meinte Taneo. Jagari nickte. Renji schnaubte. „Na gut. Wohin also?“ „Goldene Mitte, dann sehen wir weiter.“ Jagari klickte eines der Felder in der Mitte der Karte an. „Wir müssten die DigiWelt so betreten können, wie wir gestern durch den Fernseher wieder in unsere gekommen sind, denke ich. Seid ihr bereit?“ Ihre Digimon-Partner rückten an ihre Seite. Die DigiRitter nickten, nahmen ihre DigiVices in die Hand und richteten sie auf den Bildschirm.   Der Wirbel aus Licht ging direkt in einen anderen Wirbel über, auch wenn Ockerfarbe jetzt dominierte, und gleichzeitig schlug ihr bestialische Hitze entgegen. Die plötzliche Windböe ließ Fumiko das Gleichgewicht verlieren. Sie fing ihren Sturz mit den Handflächen auf, und ihre Finger versanken in heißem Sand. Rings um sie herum sah sie schemenhaft die anderen im Sturm wanken. Sandkörner kratzten in ihrer Kehle und ließen sie husten. „Ganz toll gemacht, Jagari“, hörte sie Renji fluchen. Über das Rascheln des Sandes war er kaum zu verstehen. „Du hast uns mitten in die Wüste geschickt!“ Falls Jagari etwas antwortete, so konnte sie ihn nicht verstehen. Fumiko tastete blind mit den Fingern in der Düne, bis sie etwas Festes fand, das halb darin verweht war. „Hier drüben!“, schrie sie, so laut sie konnte, und bekam Sand in den Mund. Sie fand den Knopf des Fernsehers, drückte ihn und richtete ihr DigiVice darauf. Der Sandsturm wurde von einem hellen Strudel abgelöst, dann hatte sie wieder festen Boden unter den Füßen und taumelte ein paar Schritte durch Jagaris Zimmer. Hustend klopfte sie den Sand aus ihren Klamotten. Er war wirklich überall; ihr Haar war zerzaust und sandig, Körner brannten in ihren Augen und knirschten zwischen ihren Zähnen. Es dauerte nicht lange, bis die anderen ihr auf ähnlich unelegante Weise folgten. „Du verdammter, kleiner Idiot!“, schimpfte Renji, während sein Digimon sich schüttelte und Sand überall im Zimmer verstreute. „Reg dich ab, Großer“, brummte Tageko und band sich das Haar neu, das der Sturm in Unordnung gebracht hatte. „Immerhin wissen wir jetzt, dass in dem Gebiet eine Wüste ist“, sagte Jagari. „Also dort werden wir Kouki schon mal nicht finden.“ „Super, fehlen nur noch neuntausendneunhundertneunundneunzig andere Gebiete“, meckerte Renji. „Wir sollten uns vielleicht doch aufteilen“, sagte Fumiko. „Wenn überall, wo wir rauskommen, solche Fernseher sind, reicht doch ein kurzer Blick. Wenn das Klima anders ist als da, wo wir Kouki verloren haben, gehen wir sofort wieder zurück.“ „Gute Idee. Und wir zeichnen gleich auf der Karte ein, welches Gebiet wie aussieht“, sagte Jagari eifrig, holte einen karierten A3-Block aus einer Schublade und markierte darauf das Wüstengebiet, in dem sie eben waren. „Ganz wohl ist mir dabei nicht“, murmelte Tageko. „Ach komm, was kann schon passieren?“, fragte Renji großspurig. „Eine ganze Menge“, sagte Taneo. „Dich hat niemand gefragt, Bürschlein.“ Fumiko räusperte sich. „Wir zeichnen auf dem Block ein, wo wir als Nächstes hingehen. Wenn wir in einer Minute nicht zurückkommen, wissen die anderen, wo wir stecken. Zur Sicherheit sollte einer hier bleiben und die Lage in Auge behalten.“ Schließlich ließ sich auch Tageko überzeugen und erklärte sich bereit, die Aufsichtsperson zu spielen – und die Katzensprünge in die DigiWelt begannen.   „Ah, Persiamon, mein liebster Stammgast!“ Digitamamons Augen hatten die Form von kopfstehenden Vanillekipferln, als er das katzenhafte Digimon begrüßte. „Ein Steak, ja? Für dich habe ich das beste Stück aufgehoben!“ „Wie zuvorkommend von dir“, schnurrte Persiamon lächelnd und strich sich eine rötliche Haarsträhne aus dem Gesicht. Digitamamon rammte Veggiemon förmlich mit seinem eiförmigen Körper, als es Anstalten machte, Persiamon einen Stuhl am besten Tisch zurückzuziehen. „Ich bediene es. Geh du wieder  zurück in die Küche und sieh zu, dass das Steak so gut wird, dass einem der Geruch alleine schon von Weitem den Kopf verdreht.“ Während Veggiemon sich grummelnd verzog, versuchte Digitamamon schließlich selbst, Persiamon den Stuhl zurechtzurücken. Es sah einigermaßen putzig aus, da es keine Hände hatte und so die Stuhlbeine in kleinen Stücken mit seinen plumpen Füßen und seiner Eierschale zurückzuschieben versuchte und sich gleichzeitig bemühte, dabei eine gute Figur zu machen. „Vielen Dank“, sagte Persiamon liebenswürdig und setzte sich. „Meine Begleiter werden sich ihre Stühle selbst richten.“ „Zu großzügig“, schnaufte Digitamamon, dem diese ungewohnte, heikle Aufgabe sicherlich den Schweiß unter die Schale getrieben hatte. Die beiden schwarzen PawnChessmon nahmen links und rechts von Persiamon Platz. „Das Steak müsste gleich so weit sein. Ich werde Veggiemon ein wenig Feuer unterm Hintern machen. Entschuldigt mich.“ Persiamon merkte den roten Schimmer zwischen Digitamamons Augen, als es verhalten kicherte. Dann verdrückte sich das zu groß geratene Ei in Richtung Küche. „Meine Kutsche steht draußen“, sagte Persiamon und klimperte mit den Wimpern, als der Besitzer des Restaurants schließlich mit einem großen Teller, den er mehr oder minder geschickt auf seinem Kopf balancierte, zu ihrem Tisch zurückkehrte. „Du hast doch sicher ein paar Küchenabfälle, die du meinen braven Devidramon überlassen könntest, oder?“ „Abfälle?“ Digitamamon plusterte sich förmlich auf. „Sie bekommen natürlich das Beste, was ich erübrigen kann. Nur leider kann ich es nicht aufs Haus schreiben lassen. Sie fressen jedes Mal sehr viel.“ „Ach, wie schade“, seufzte Persiamon. „Ich dachte, du hättest deinen Geiz endlich überwunden.“ Digitamamon trat grummelnd von einem Fuß zum anderen und schien in einen inneren Zwist geraten zu sein. Persiamon kicherte. „Keine Sorge. Sie sind wirklich Vielfraße. Ich erstatte dir die Kosten.“ „Zu gütig, zu gütig.“ Digitamamon verneigte seinen Eierschädel tief. „Kümmer dich darum“, fuhr es Veggiemon an, das eben am Nachbartisch bediente. „Also, was gibt es Neues in diesem Teil der DigiWelt?“, fragte Persiamon und biss herzhaft in das Steak. Es war ein kleines bisschen zu zäh … „Oh, es hat sich heute viel getan“, schnarrte Digitamamon, zufrieden, etwas erzählen zu können. „Ein Mensch war hier mit einem kleinen Digimon, und …“ „Ein Mensch, sagst du?“ Persiamon sah nachdenklich zu den Deckenlampen, während es einen weiteren Bissen nahm. Die PawnChessmon aßen nichts. „Ja, und wie die Menschen gern sind, hätte er nicht bezahlen können, wenn ihm nicht ein Ogremon unter die Arme gegriffen hätte.“ „Ein Ogremon? Etwa dieser dubiose Finsterling von der File-Insel?“ „Genau, genau. Es hat einem Verwandten von mir kürzlich das Restaurant demoliert, und heute hat es auch schon wieder Streit mit einem Nanimon angefangen. Zum Glück haben sie sich dann draußen geprügelt. Ich habe gehört, Ogremon hätte gewonnen.“ „Wie interessant …“ Persiamon spielte mit dem Steak herum. „Weiß man denn auch, wohin der Mensch dann gegangen ist?“ „Ich hab gehört, er und Ogremon und sein kleines Salamon sind dann in die Klaffenden Berge gezogen“, sagte ein ekliges, gelbes Sukamon vom Nachbartisch aus, das ihnen zugehört haben dürfte. Digitamamon sah es zornig an, weil es ihm die Show gestohlen hatte. Persiamons Ohren zuckten verärgert, aber es zwang sich zu einem Lächeln. „Vielen Dank, mein Guter.“ „Hähä“, machte Sukamon dümmlich.   Sie waren seit ein paar Stunden unterwegs und er bekam schon wieder Hunger, als sie einen Gebirgspfad entlanggingen. Unter ihnen gähnte eine so tiefe Schlucht, dass Kouki angst und bange wurde, noch dazu, weil Ogremon ein ganz schönes Tempo vorlegte. Und dann war da noch diese seltsame Kälte. Je weiter sie gingen, desto stärker schlug ihnen etwas entgegen, eine kalte, finstere Aura, Düsternis, so dick und zäh wie Schleim. Kouki spürte, dass dort unten in der Schlucht etwas war, etwas abgrundtief Böses, dem er besser nicht zu nahe kommen wollte. Ogremon schien das alles nichts auszumachen. Nach der nächsten Biegung um die Felsen zu ihrer Rechten wurde das Gefühl so intensiv, dass seine Haut zu kribbeln begann, und er sah etwas am Grund der Schlucht, ein Licht, das wie eine glitzernde, weiße Blüte aussah. Eine faule Blüte. Von innen heraus hatten sich schwarze Punkte wie Löcher durch das Licht gefressen, ebenso formlos wie die Blüte selbst. Zur Hälfte hielt die Finsternis den Lichtfleck schon umklammert und dämpfte sein schönes Leuchten. „Was ist das?“, fragte Kouki. „Keine Ahnung“, krächzte Ogremon und blieb stehen, um die faulende Lichtblume anzusehen. Kouki wollte lieber so schnell wie möglich weiter. „Da unten war mal was, das den letzten DigiRittern recht wichtig war, glaub ich. Irgendein Digimon hat’s aber zerstört, und dann ist dieses garstige Licht aufgetaucht. Als ich das letzte Mal hier langgekommen bin, gab’s dieses schwarze Zeug hier noch nicht.“ „Es sieht aus, als ob es das Licht verschlingt“, murmelte Kouki und bekam eine Gänsehaut. Es sah böse aus. „Tja, kann schon sein. Interessiert mich nicht.“ Ogremon rückte seinen Hut zurecht und ging weiter. „Wohin wollen wir eigentlich?“, wagte Kouki zu fragen. „Wie, wohin?“ „Na, was ist unser Ziel?“ Ogremon schnaubte, was sich bei ihm eher wie ein Keuchen anhörte. „Was schon. Wir ziehen einfach dorthin, wo es uns eben gerade hinzieht. Und ich muss Leomon finden.“ „Wenn du kein bestimmtes Ziel hast, darf ich dann was vorschlagen? Vielleicht ist Leomon ja dort.“ Das Digimon zuckte mit den Achseln. „Von mir aus. Wohin willst du?“ „Kennst du so einen Wald, in dem es alle vier Jahreszeiten gibt? Ein MudFrigimon-Dorf liegt dort, und da gibt es Kiwimon.“   Karatenmons Atemzüge waren ruhig und ausgeglichen. Ein und aus, ein und aus … Kein anderes Geräusch war zu hören. Gut. Auf das Atmen folgte das Wahrnehmen. Erst wenn es nichts mehr hörte außer sich selbst, konnte es erwarten, die versteckten Dinge der Welt zu spüren. Wie Wasser durch die Wurzeln hinter ihm gezogen wurde, beispielsweise, oder wie das Moos an der Höhlenwand wuchs. Das kleine Leben, das so oft Übersehene … Es hörte jedoch etwas anderes; Wasser, das direkt aus dem feuchten Erdboden stieg, mitten in der Höhle einfror und einen glitzernden Spiegel bildete. LordMyotismon sagte nichts, wartete darauf, bis es sich sicher sein konnte, bemerkt zu werden. Das Rabendigimon atmete noch einige Male weiter, konzentrierte sich darauf, wie sich seine Flügel hoben und senkten und sein Gefieder raschelte. „LordMyotismon“, sagte es dann. Nur seine Augen richteten sich auf den Spiegel, der Rest seines Körpers verharrte in seiner meditativen Position. „Welch Überraschung. Von der Außenwelt abgeschottet, kann nur, wer durch Spiegel spricht, meine Kreise stören. Euer Erscheinen verspricht Unheil wie stets, so fühle ich.“ „Es verspricht vor allem Arbeit“, dröhnte LordMyotismons Stimme frevelnd laut in der kleinen Höhle. „Die DigiRitter sind zurückgekehrt.“ „Hat sich der Zeiger ihres Schicksals also weiterbewegt? Ihr habt also das Öffnen des Tores gespürt?“ „Nicht nur eines Tores. Diese Narren öffnen und schließen Tore, wie es ihnen passt.“ „Was treibt sie um?“ „Entweder versuchen sie mich zu ärgern – wobei ich nicht glaube, dass sie wissen, dass ich spüre, wenn jemand ein Tor öffnet –, oder sie suchen nach dem Jungen, der in der DigiWelt geblieben ist. Wenn das so ist, werden sie sicherlich in den Jahreszeitenwald zurückkehren, wo sie ihn verloren haben.“ Karatenmon atmete tief aus und ein, ehe es antwortete. „Darum also wendet Ihr Euch an mich.“ „Es ist dein Gebiet. Zuletzt hat SkullScorpiomon die DigiRitter nur zuerst gefunden, weil wir nicht wussten, wo sie auftauchen. Jetzt bin ich mir sicher. Sie suchen den Jahreszeitenwald. Kümmer dich darum, dass wir sie loswerden. Noch sind ihre Digimon schwach.“ „Wie der Rabe nachts nicht fliegt, muss auch der Krieger rasten. Ich bin am Meditieren. Ich schicke einen meiner Untergebenen. Meditation reinigt den Verstand und lässt die Seele glänzen. Nur Meditation hält die Kompassnadel. Sie darf nicht unterbrochen werden.“ „Tu, was dir beliebt“, murrte LordMyotismon, hörbar unzufrieden. „Sorge nur dafür, dass sie den morgigen Tag nicht mehr erleben.“ Der Spiegel zerfloss und das Wasser verschwand wieder in der Erde. „So dreht sich die Scheibe immer schneller, und wer am Rande steht, wird abgeworfen“, murmelte Karatenmon tonlos, als es die Augen wieder schloss. „Ich verbleibe ruhend in der Mitte. Geh du für mich nach außen.“ Zwei rote Augen glühten am Ende des langen Ganges auf. Karatenmon war so in das Wachsen des Mooses vertieft, dass es das Trampeln der Kreatur nicht hörte. Wohl aber spürte es das Zittern der Erde. Kapitel 9: Entfachte Glut ------------------------- Es war vielleicht ein anderes Waldstück, aber immerhin war es ein Waldstück. Trotzdem war es nicht sicher, ob sie Kouki hier finden würden – wenn man es genau nahm, war es wohl ein Wunder, wenn sie ihn in dieser riesigen DigiWelt überhaupt jemals finden würden. Sie waren durch Eis und Schnee gestapft, durch trockene Canyons, weite Steppen, an verträumten Flüssen entlang, mitten durch strömenden Regen und Hagel und durch sumpfige Marschen, alles nur für wenige Sekunden lang zurück zu den Fernsehern, aber das hatte auch gereicht. Renjis weißblauer Trainingsanzug – sein neuester wohlgemerkt, er wollte ja einen guten Eindruck machen – war durchnässt, verdreckt und verschwitzt, alles auf einmal. Immer noch kratzte Sand in den Winkeln seiner Mundhöhle und in seinem Kragen, und die Sonne war mittlerweile schon am Untergehen und schwebte blutorangenrot am Rand des Horizonts. In dem herbstlichen Waldstück war es finster genug, um die tückischen Ranken und Wurzeln auf dem Boden zu übersehen, die sich gewiss eins ins Fäustchen lachten, wenn er stürzte. Zu seiner schlechten Laune kam, dass niemand auf ihn hörte. Tageko gab mehr oder weniger den Ton an, bestimmte, in welche Richtung zu gehen war, und Taneo klebte immer an ihrer Seite wie eine Zecke. Und obwohl er in zweiter Reihe neben Fumiko ging, bekam er kein Gespräch mit ihr in Gang, sie schwieg und gab einsilbige Antworten auf seine Scherze. Dafür war Candlemon – ihre Digimon hatten in der DigiWelt wieder die Form angenommen, die sie beim Kampf gegen SkullScorpiomon gehabt hatten – umso gesprächiger. Es nervte ihn mit allerlei Fragen; anscheinend hatte es sich am Vormittag im Haus umgesehen und wollte nun genau wissen, wozu man welches Gerät brauchte und wie es hieß. Und als die wandelnde Kerze endlich mal die Klappe hielt und sie gerade wachsam durch eine lichtere Stelle im Wald trotteten, wer musste dann die wohltuende Stille stören? Natürlich Jagari. „Dein Husten hört sich aber nicht gut an“, sagte Fumiko und schloss zu ihm auf. Klasse, jetzt war der kleine Spinner auf einmal interessanter als Renji. „Bist du sicher, dass du nicht zurückwillst? Immerhin bist du krankgemeldet.“ „Ach, das ist nichts“, winkte der blonde Junge ab und grinste. „Das bisschen Husten. Es ist wirklich nicht schlimm, ich hab mich nur krankschreiben lassen, damit ich mehr Zeit zum Zocken habe.“ Er grinste Fumiko so dämlich an, dass Renji der Kragen platzte. „Wie clever. Würdest du so viel Zeit im Fitnesscenter verbringen anstatt vor der Kiste, wärst du jetzt nicht so ein schwächlicher Kümmerling. Dann könntest du ein wenig mehr ausrichten, wenn es um Riesenskorpione geht, zum Beispiel.“ Fumiko drehte sich zu ihm herum und funkelte ihn an. „Oyara-kun, das war eben nicht nett.“ „Wennschon. Ist doch wahr.“ „Das geht dich überhaupt nichts an“, blaffte Jagari. „Aber gut, trainier nur deine Muckis. Hirn kann man ja leider nicht trainieren, das hat man oder man hat’s nicht.“ Das rotblaue Elecmon, das neben ihm hertrippelte, sah nervös über die Schulter. „So wie ich das verstanden habe, sollen wir sowas wie Krieger sein“, meinte Renji großspurig. „Da braucht man kein Hirn, nur Durchschlagskraft. Also sei froh, dass wir dich überhaupt mitkommen lassen.“ „Das reicht jetzt bald“, sagte Taneo in seinem Singsang. „Hört auf zu streiten.“ „Von dir lass ich mir gar nichts sagen.“ Tageko schüttelte nur stumm den Kopf. Gut, sie sprang den kleinen Nervensägen ausnahmsweise nicht bei. „Vergiss nicht, dass Jagari-kun auf die Sache mit den Gebieten gekommen ist. Ohne ihn wären wir vielleicht noch immer nicht hier“, fiel Fumiko Renji schon wieder in den Rücken. Und warum nannte sie den kleinen Spinner beim Vornamen und ihn, Renji, nicht? „Wir hätten Kouki auch ohne ihn gefunden“, behauptete Renji. „Und wie, ohne Hirn?“, fragte Jagari. „Verdammt, langsam kotzt du mich echt an.“ Renji blieb stehen. „Für jemanden, der so klein ist, riskierst du ‘ne ganz schön große Lippe.“ „Ich sag nur die Wahrheit.“ „Die Wahrheit ist für dich doch ein Computerspiel“, höhnte Renji. „Ein Kerl wie du weiß ja gar nicht, was der Unterschied zwischen Wahrheit und Spiel ist. Fühlst du dich deshalb so wichtig? Weil du sonst immer den Anführer von einer Gruppe spielst? Hirn, sagst du, aber du bist nur ein verdammter kleiner Nerd, und alles, worüber du Bescheid weißt, sind diese Zocker-Ausdrücke.“ „Renji, das reicht“, sagte Taneo eindringlich. Jagari hatte die Fäuste geballt und knirschte mit den Zähnen. „Jungs, ich hab echt keine Lust, dazwischen zu gehen“, seufzte Tageko gedehnt. Auch die anderen waren stehen geblieben. „Was hab ich dir eigentlich getan?“, spie Jagari Renji entgegen. Auf seinen Wangen tauchten rote Flecken auf. Du hast mich in einen Sandsturm geschleppt, durch die halbe DigiWelt schlurfen lassen und mir Fumiko weggeschnappt. Und jetzt lässt du mich blöd dastehen. Er zuckte mit den Schultern. „Ich hab halt was gegen so kleine Pisser, die mehr Zeit in einer Traumwelt verbringen als im echten Leben. Wenn SkullScorpiomon dich in zwei Minuten umbringt, muss man dir wahrscheinlich ‘ne Mail schreiben, damit du das auch mitkriegst!“ Auf seine Worte folgte eine Stille, in der er sich selbst wie durch ein Echo hörte. Jagari biss sich auf die Unterlippe und Renji sah, wie er Tränen zurückzuhalten versuchte. Er murmelte irgendwas und wandte sich ab, und Renji setzte noch eins drauf. „Wie war das? Wenn du was zu sagen hast, sag’s mir ins Gesicht wie ein Mann.“ Der Kleine stieß nur ein wortloses Knurren aus und stapfte quer durch den Wald davon. „Jagari, warte!“ Elecmon lief ihm hinterher und maß Renji mit einem zornsprühenden Blick. „Das war nicht nett von dir.“ „Das war sogar noch sehr nett von mir“, entgegnete Renji. Taneo tauschte einen kurzen Blick mit Tageko und lief Jagari dann ebenfalls nach, Kokuwamon summte über ihm her. Zufrieden sah Renji, wie die zwei und ihre Digimon im Unterholz verschwanden. Dann traf er Fumikos Blick. Sie sah gar nicht mehr zornig aus, aber trotzdem war ihre Miene irgendwie … finster. Wahrscheinlich, weil es hier im Wald von Minute zu Minute düsterer wurde. „Ich habe noch nie jemanden mit einem so miesen Charakter wie deinem getroffen, Oyara-kun“, murmelte sie. Renjis Lächeln entgleiste. Was hatte sie da gesagt …? Er fühlte, wie ein schwarzer Blitz sich in sein Herz fraß. Er öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, von dem er noch gar nicht wusste, was, als plötzlich die Erde bebte. Blattwerk raschelte, zu laut, als dass es der Wind sein könnte – und dann krachte und rumorte es. Die drei DigiRitter und ihre Digimon fuhren herum und sahen, wie etwas Gewaltiges, Schwarzes sich in dem Waldstück vor ihnen erhob. Zwischen berstenden Ästen und fallenden Blättern glühten zwei rote, reptilienartige Augen auf. Ganze Bäume wurden entwurzelt und stürzten in einem Regen aus Erdklumpen, die Krone voraus, ins Dickicht. Tagekos Mushroomon stieß ein Quieken aus und machte einen Schritt rückwärts, während Renji nur mit offenem Mund das Digimon anstarren konnte, das mit großen, trampelnden Schritten durch das Unterholz brach. Es sah aus wie ein schwarzer T-Rex mit einer Kriegsbemalung aus roten Linien, der grollend das Maul öffnete. „Das ist sicher ein DarkTyrannomon!“, rief Candlemon aufgeregt. „Gennai hat uns gewarnt, dass es eines hier gibt! Kiwimon und DarkTyrannomon, hat er gesagt!“ „Und das fällt dir jetzt ein?“, schnauzte Renji das Digimon an. Aus DarkTyrannomons Rachen begann rote Glut zu leuchten. „Lauft!“, schrie Tageko und stürmte als Erste los. Eine tieforange Flammenflut ergoss sich auf das Waldstück, sengte durch Baumkronen und quoll wie Wasser aus einem gebrochenen Damm zwischen den Baumstämmen hindurch. Renji packte Fumiko, die dem Dinosaurier gebannt entgegen starrte, an der Hand und zerrte sie mit sich, wobei er keine Rücksicht darauf nahm, ob sie mit ihm Schritt halten konnte. Candlemon konnte das nicht; es packte ohne zu fragen den Saum von Renjis Trainingsjacke und ließ sich mitschleifen. Die Flammen leckten hinter ihnen durch den Wald. Er spürte ihre unbeschreibliche Hitze auf der Haut, doch sie erstarben, ehe sie ihnen etwas zuleide tun konnten. Mushroomon drehte sich im Laufen um und schleuderte ein paar seiner Pilze auf DarkTyrannomon, die auf seiner Reptilienhaut explodierten. Das schwarze Digimon schien das nicht zu kümmern. Mit einem hungrigen Knurren folgte es den DigiRittern. „Teilen wir uns auf!“, rief Tageko. Sie hatte einen ordentlichen Vorsprung und bog scharf nach links ab. Renji ließ Fumiko nicht los und stürmte mit Candlemon im Schlepptau und Seitenstechen in der Brust nach rechts, tiefer in den Wald hinein. „Es folgt uns!“, rief Fumiko atemlos. Renji fluchte. „Warum ausgerechnet uns?“, jaulte er, als er über die Schulter zurücksah und DarkTyrannomon mit seinem massigen Leib den Wald roden sah. Das Digimon war höher als die Baumkronen, und die Stämme knickten vor ihm ein wie Zahnstocher. Es wurde davon kaum verlangsamt. Fumiko machte sich von ihm los, rannte aber neben ihm her. Ihre Füße wirbelten Herbstlaub und Kiefernnadeln und feuchte Erde auf. Der Wald lichtete sich und eine Felswand erschien vor ihnen – nein, ein felsiger Hügel, der von Rissen und Schluchten durchzogen war. Das war die Gelegenheit, sich zu verstecken. Renji bezweifelte allerdings, dass sie das Digimon so einfach würden abschütteln können. Als DarkTyrannomon die letzten Bäume hinter sich ließ, wurde es noch schneller. Sein Brüllen war so laut, dass es Renji die Haare zu Berge stehen ließ. Sie würden es niemals schaffen, schon hob das Digimon eine seiner mit zwei mächtigen Krallen bewehrten Klauen … Ein Surren drang von irgendwo her an Renjis Ohren. Er erhaschte einen Blick auf Taneos Kokuwamon, das wie eine lästige Fliege um DarkTyrannomons Kopf surrte und es mit Stromstößen aus seinen Hörnern quälte. Der Dinosaurier grollte tief und würgte einen neuerlichen Feuerschwall hervor, der das flinke Insekt verfehlte und stattdessen den Felsenhügel in brutale Hitze tauchte. Renji und Fumiko warfen sich zu Boden, als DarkTyrannomon wie verrückt mit den Füßen zu stampfen begann und ziellos weitere Stichflammen spie. Gras wurde versengt, Bäume geschwärzt. Das Feuer kam mit solcher Wucht, dass das Laub in Windeseile verkohlte und nicht einmal wirklich zu brennen begann. „Schnell, jetzt!“ Das war die Gelegenheit! Renji riss Fumiko hoch und lief mit ihr auf den Hügel zu, um in einen der Risse im Fels zu klettern. DarkTyrannomons Feuer hatte sogar das Gestein stellenweise schmelzen lassen; hell und flüssig und heiß wie eine Herdplatte war es, rot glühende Streifen in dem ansonsten geschwärzten Fels, und Renjis Turnschuhe zischten und hinterließen dünne Streifen geschmolzenes Gummi auf dem Boden. Er wagte es nicht einmal, die Felswände zu berühren, die etwas mehr als anderthalb Meter neben ihm aufragten. Fumiko zog er so schnell in die Spalte, dass sie ihm förmlich in die Arme fiel. „Was ist mit Kokuwamon?“, keuchte sie. Renji warf einen Blick über den Rand der kleinen Schlucht. DarkTyrannomon badete eben das freie Feld mit seinem Feuer, dann erwischte es das Käferdigimon mit seinen Krallen und schleuderte es im hohen Bogen in die nächsten Baumkronen. Triumphierend brüllte der Dinosaurier auf und stieß eine weitere Stichflamme aus. Er hatte zwar nicht auf die beiden gezielt, aber Renji fühlte trotzdem die Hitze in seinem Nacken, als er sich schützend auf Fumiko warf. Das Glühen erlosch, nur noch Candlemons Flamme neben ihm war zu spüren, und das Brüllen erstarb. Trampelnde Schritte sagten ihm, dass sich DarkTyrannomon wieder in Bewegung gesetzt hatte; allem Anschein nach entfernte es sich von ihnen. Er atmete erleichtert auf. „Du kannst jetzt wieder von mir runtergehen“, murmelte Fumiko trocken. Renji schlug die Augen auf. Er lag halb auf ihr und war erfreulich nahe an ihr Gesicht gekommen. Langsamer, als nötig gewesen wäre, rappelte er sich auf und lehnte sich gegen die Felswand. „Das ist nochmal gut gegangen“, seufzte er. Sein Herz raste wie nach einem Hundert-Meter-Sprint und sein Seitenstechen war immer noch nicht verflogen. Dabei war er Fußballer, verdammt! Fumiko stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte über den Rand der Schlucht. „Es scheint jemand anders zu verfolgen ... Da war Kokuwamon, dort in dem Waldstück sind also sicher Taneo und Jagari!“ Renji zuckte mit den Achseln. „Dann sind sie hoffentlich so schnell wie wir.“ Fumiko sah ihn aus funkelnden Augen an. „Wir helfen ihnen“, beschloss sie und machte Anstalten, aus der Schlucht zu laufen, deren Glutherde langsam abkühlten. „Bist du verrückt?“ Renji packte sie am Oberarm. „Das Vieh frisst uns mit Haut und Haaren, wenn wir da rausgehen!“ Fumiko starrte auf seine Hand und dann in seine Augen. „Lass mich los“, knurrte sie, aber er verstärkte den Griff nur noch. „Ehrlich, Fumiko, bleib hier bei mir“, murmelte er. „Hier bist du sicher. Ich werde dich beschützen, komme, was wolle. Das Biest verbrennt alles, was nicht rechtzeitig davonkommt. Wir können den anderen nicht helfen.“ Renij sah, wie DarkTyrannomons massiger Leib wieder eine Schneise in den Wald schlug, dort, wo Fumiko die anderen vermutete. „Willst du sie etwa im Stich lassen?“ Sie entriss ihm grob ihren Arm. „Hauptsache, dir passiert nichts“, murmelte er mit belegter Stimme. „Ich verstehe dich nicht, Oyara-kun“, sagte sie kopfschüttelnd. „Warum bist du so auf mich fixiert? Warum willst du mich unbedingt zurückhalten? Sie brauchen uns!“ „Ich verstehe dich nicht, Fumiko-chan!“ Er packte sie an den Schultern, ihren schmalen, zerbrechlichen Leib, und sah ihr fest und verzweifelt in die Augen. „Seit wir uns im Sommercamp kennen gelernt haben, versuche ich alles, um deine Aufmerksamkeit zu kriegen! Ich mache dir Komplimente und Geschenke, und lade dich zu allen möglichen Sachen ein, und trotzdem zeigst du mir die kalte Schulter! Ich weiß, ich bin vielleicht nicht der Allerklügste, aber ich bin eine Sportskanone, ich bin durchtrainiert und groß und beliebt und … und cool, und ich bin weiß Gott auch nicht hässlich! Warum, Fumiko-chan? Warum weist du mich nur immer wieder ab?“ Fumiko starrte ihn nur aus ihren wunderbaren, tiefblauen Augen an. Ihre süßen Lippen waren eine schnurgerade Linie. Er war ihrem Gesicht immer nähergekommen, und nun tat es weh zu sehen, wie sie vor ihm zurückwich. „Kannst du dir das nicht denken?“, fragte sie nach einer kleinen Ewigkeit leise und wich schließlich seinem Blick aus. „Nein!“ Er packte sie fester, sodass es ihr fast wehtun musste. „Sag mir, was dich an mir stört! Ich werd’s ändern, ich schwör’s!“ „Ihr solltet bald mal auf einen grünen Zweig kommen“, warf Candlemon lässig ein. „DarkTyrannomon heizt gerade ziemlich den Wald ab.“ „Ich bin eigentlich keine, die andere Leute verurteilt“, begann Fumiko zögernd. „Soll ich es dir wirklich offen und ehrlich sagen?“ „Ja doch, verdammt!“ „Na schön.“ Fumiko schluckte und holte tief Luft, dann sah sie ihm wieder fest in die Augen. „Weil du ein arrogantes Arschloch bist, Renji Oyara-kun. Deshalb.“ Renji starrte seine Flamme sprachlos an. Nein, das konnte nicht sein, er hatte sich verhört, Fumiko würde nie so etwas zu ihm sagen … Das war ein Traum, ein Albtraum, der riesige Dinosaurier bewies es, das konnte nicht echt sein … „Ich hatte ja wohl ausreichend Gelegenheit, dich zu beobachten“, fuhr Fumiko ruhig und kühl fort und löste dabei langsam die Hände, die er um ihre Schultern geschlossen hatte. Renji ließ sie schlaff baumeln, wie die Glieder einer Marionette, deren Fäden man gekappt hatte. „Du trampelst ständig auf Schwächeren herum. Dein Ego ist nur so groß, weil du andere als Trittbrett benutzt.“ „Das stimmt doch gar …“ „Seit wir in der DigiWelt sind, hackst du auf Jagari und Taneo herum. Merkst du nicht, dass ich das abstoßend finde?“ „Aber …“, stammelte er. „Das war doch nur, weil …“ Sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Du schwingst große Reden, von wegen, du willst mich beschützen. Ich brauche keinen Beschützer. Jetzt gerade sind die anderen in Gefahr, und obwohl du geprahlt hast, wie stark du doch bist, willst du dich hier verkriechen?“ Renji biss sich auf die Unterlippe, bis es wehtat. Was sagte sie da … Merkte sie nicht, dass sie beide nur sterben würden, wenn sie jetzt rausgingen? „Da tut sich was!“, meldete Candlemon und die beiden warfen einen Blick auf den Waldrand. DarkTyrannomon wütete immer noch zwischen den Bäumen und schoss Feuerstrahlen in alle Richtungen ab, und Renji meinte die heiseren Rufe von Jagari zu hören. Dann sah er die zwei einsamen Gestalten, die sich von hinten über das Grasfeld auf das Digimon zubewegten. Er ballte die Fäuste. Tageko und ihr Digimon. „Der Rotschopf ist mutiger als du, Renji. Willst du das auf dir sitzen lassen?“ Renji wünschte sich, Candlemon würde endlich den Mund halten. „Los, Mushroomon!“, rief das Mädchen. Der übergroße Pilz schleuderte wieder seine Geschosse, die auf DarkTyrannomons breitem Rücken explodierten. Mit rauchender Haut drehte sich das Digimon grollend um und sprang dann aus dem Meer aus Bäumen auf das angesengte Gras. Mushroomon und Tageko wichen nicht zurück, obwohl nichts, was sie taten, den Dinosaurier beeindruckte. „Passt auf!“, schrie Fumiko, als DarkTyrannomon das Maul zu einer vernichteten Flammenattacke öffnete. Die beiden Frontkämpfer warfen sich zur Seite und entkamen dem Feuer nur, weil sie einen Haken schlugen – und dann hatte das Monstrum sie erreicht. Seine Klauen leuchteten in der Glut, die den Brandfleck im Gras zierte, als es Mushroomon erwischte und gegen die Felswand schleuderte. „Mushroomon!“, rief Tageko, wollte zu ihrem Digimon laufen – und wurde von DarkTyrannomons Fuß erwischt, den das Digimon eben hob. Zwar trafen sie nicht die Krallen, aber dieser Schritt kam einem Tritt gleich, der Tageko drei Meter weit durch die Luft schleuderte, bis sie ächzend und sich überschlagend im Gras liegen blieb. „Nein!“ Fumiko hatte die Felskante gepackt und war blitzschnell auf den Rand der Schlucht geklettert, und einmal mehr hielt Renji sie zurück, indem er ihr Handgelenk packte. „Verdammt, hab ich dir nicht gesagt, du sollst mich zufriedenlassen?“ Ihr Blick wirkte gehetzt. „Aber du wirst gegrillt wie ein Brathähnchen, wenn du ihm zu nahe kommst!“, keuchte Renji. Das konnte doch wohl alles nicht wahr sein! „Lass mich los!“ Fumiko versuchte ihm ihre Hand zu entreißen, verlor auf der Felskante das Gleichgewicht und stürzte mit einem kleinen Aufschrei rücklings zurück in die Felsspalte. „Alles in Ordnung?“, rief Renji aus. Murrend erhob sie sich und rieb sich die Hand. Sie war aufgeschürft und blutig. „Das habe ich gemeint, Oyara-kun“, sagte sie leise. „Tageko hat gewusst, dass sie keine Chance hat, aber sie hat trotzdem versucht, die anderen zu retten, obwohl wir alle nicht mal richtige Freunde sind. Hätte ich auch ein Digimon, wäre ich schon längst hinausgerannt.“ Sie sah ihn entschlossen an, als wollte sie ihn warnen, sie ja nie wieder zurückzuhalten. Renji schluckte. Obwohl sie so klein und zerbrechlich war, war sie so viel mutiger als er selbst … „Und das werde ich jetzt auch tun. Ich muss nach Tageko sehen!“ „Nein – ich gehe!“, rief er und sprang selbst auf die Kante. Sein Herz klopfte wie verrückt, er schwitzte wie im Hochsommer und sein Gesicht brannte vor Scham. „Du bleibst hier, lass mich und Candlemon das erledigen. Komm, Candlemon, wir zeigen ihr, dass sie sich in mir getäuscht hat!“ „Jawoll!“ Fumiko sah ihn zweifelnd an, aber da hastete er auch schon über die scharfkantigen, teils geschmolzenen Felsen und sprang auf die Grasfläche. DarkTyrannomon hatte sich wieder dem Waldstück zugewandt, in dem Jagari und Taneo steckten, und Renji hielt in leichtem Laufschritt darauf zu. „Bist du bereit, Candlemon?“, fragte er, als sie den Waldrand erreicht hatten. Fumiko war ihm bis zu Tageko gefolgt und suchte bei dem Mädchen nun nach Lebenszeichen. „Immer“, meinte seine Kerze großspurig. „Du auch? Deine Beine zittern ja wie Wackelpudding.“ „Ach, halt den Mund“, raunzte er. Es hatte recht, ihm war einfach höllisch zumute. Alles in ihm schrie danach, wegzulaufen und nie wiederzukommen, und er musste sich beherrschen, dass seine Stimme nicht auch noch zitterte. „Hey, du großes, stinkendes Mistvieh!“, brüllte er aus voller Kehle. Beleidigungen hatten ihm schon immer ein Gefühl der Stärke vermittelt. DarkTyrannomon wandte sich tatsächlich zu ihm um. Es grollte und schnaubte, und Rauchwolken verpufften vor seinen Nüstern. Renji schluckte. Es trat näher … Nein, nur keine Angst, nur keine Angst! Fumiko beobachtete ihn, er musste sie überzeugen, dass er das draufhatte. „Ja, dich mein ich! Kommst dir wohl toll vor, was? Nur weil du zwanzigmal so groß bist wie wir? Komm nur her!“ Er zwang sich, stehen zu blieben, als DarkTyrannomon ihn anbrüllte und er seinen rauchigen, warmen Atem schmeckte. „Komm, trau dich!“, brüllte er mit allem, was seine Lungen hergaben. „Hört ihr mich, ihr alle? Ich werde jetzt zur Abwechslung mal auf Stärkeren rumtrampeln, was sagt ihr? Damit jeder weiß, wer zum Teufel Renji Oyara ist!“ Sein Hals schmerzte, doch von seinem DigiVice strahlte dasselbe Licht wie damals aus. Auf dieser Lichtung war er vor SkullScorpiomon zurückgewichen, doch damit war jetzt Schluss! Wenn Tageko alleine gegen dieses Monster antreten wollte und in Kauf nahm, dass sie verletzt wurde, und Fumiko, seine Fumiko, es sogar ohne Digimon versuchen wollte, dann konnte er das verdammt nochmal auch! Das Licht wurde immer intensiver, als er entgegen all seiner menschlichen Instinkte noch auf DarkTyrannomon zutrat. Und Candlemon verwandelte sich. Das Wachs, aus dem sein Körper bestand, wurde flüssig und löste sich auf, und die Flamme auf seinem Kopf wurde in dem goldenen Licht größer und größer, und noch größer und gigantisch, schmolz sogar den goldenen Kerzenhalter, und ein menschlicher Körper begann sich daraus zu bilden. Renji riss ungläubig die Augen auf, als Flammen, die wärmeres Licht als die von DarkTyrannomon verströmten, die Gestalt eines großen, muskulösen Mannes annahmen, der den Kopf in den Nacken legte, und sein Schrei ließ Renji einen warmen Schauer über den Rücken laufen. „Meeeraaamooon!“ Es war Candlemon Stimme, ja, aber sie klang … männlicher, feuriger. DarkTyrannomon grollte, als das Digimon – Meramon? – auf es zuspurtete wie ein Sprinter knapp vor dem Ziel. In seiner Hand flammte ein Feuerball auf. Meramons Füße gruben sich zischend in den Boden, als es seinen Anlauf abbremste und die Feuerkugel wie einen Baseball auf den Dinosaurier schleuderte. Flammenspritzend zerbarst er an DarkTyrannomons Kopf. „Ja!“, jubelte Renji. „Gib alles, was du hast, Meramon!“ DarkTyrannomon brüllte, holte tief Luft und badete Meramon in einem wütenden Feuerschwall. Doch der brennende Mann regte sich nicht. Die Flammen umkreisten ihn, wurden von seinem Körper aufgesaugt – und Meramon wuchs. Genährt von dem brennenden Atem DarkTyrannomons, wurde es immer größer, bis die beiden Digimon auf einer Augenhöhe waren. Erst dann merkte der Dinosaurier, wie fruchtlos seine Bemühungen waren, und wich mit gesenktem Kopf zurück. Meramon stürmte auf es zu und verpasste ihm einen Kinnhaken mit seiner brennenden Faust, der das massige Digimon wie in Zeitlupe stürzen ließ. Dann packte Meramon es, nahm den schuppigen Kopf in den Schwitzkasten und ließ es fauchend strampeln. „Zeig’s ihm!“, feuerte Renji sein Digimon an. „Du hast es!“ Meramon verzog seinen feurigen Mund zu einem Lächeln und in seinen absurd blauen Augen funkelte es triumphierend auf. Die Flammen um seinen Körper loderten höher und hüllten bald den kompletten Dinosaurier ein, der brüllend aus Meramons muskulösem Griff zu entkommen versuchte. Der Gestank von verbrannter Haut erreichte Renjis Nase, dann der von gebratenem Fleisch – und schließlich zerbarst DarkTyrannomon mit einem letzten, wütenden Röhren in tausende und abertausende glitzernde Splitter, die in einem Regen auf der ganzen Lichtung niedergingen. Renji breitete die Arme aus, ein erlöstes Lächeln auf dem Gesicht. Sie hatten es geschafft! Er hatte es geschafft! Plötzlich wich alle Kraft aus seinen Beinen und er sank auf den Hosenboden. Die Luft war immer noch von Rauch und dem Geruch von verbranntem Fleisch erfüllt. Meramons Flammen loderten noch einmal auf, dann schrumpfte es und wurde irgendwie wieder zu Candlemon, das frohlockend angehopst kam. „Renji! Hast du gesehen? Hast du gesehen?“ „Du warst … umwerfend“, murmelte er. „Wir beide!“, befand die Kerze und machte Anstalten, ihre Flamme freudig an seiner Wange zu reiben. „Spinnst du? Bleib weg damit!“ Candlemon kicherte. „Alle Achtung, Oyara-kun.“ Das aus Tagekos Mund zu hören, hätte Renji nie erwartet. Fumiko stützte sie; ihr Gesicht war über und über mit Schrammen und Schmutz verunziert und sie presste die Hand auf den linken Oberarm, ein Auge vor Schmerz zugekniffen, doch ansonsten schien es ihr gut zu gehen. Nun kamen auch Taneo und Jagari angelaufen – sie hatten sich tatsächlich in dem verwüsteten Waldstück versteckt. Kokuwamon und Elecmon umschwärmten Candlemon und bombardierten es mit Fragen. Jagari schien Renjis Blick nicht begegnen zu wollen. Er schwieg. „Alles klar, Jagari?“, fragte Renji, als er einen Blick von Fumiko auffing und Candlemon ihn anstupste. Der Junge nickte. „Hey – nichts für ungut, ja? Frieden?“ Er streckte Jagari die Hand hin, die dieser nach einigem Zögern ergriff. „Ihr beide habt uns gerettet“, sagte Taneo. „Danke.“ „Ach, nichts für ungut“, grinste Renji, kratzte sich im Genick und rettete sich in ein verlegenes Lachen. Verdammt, nahm er hier Komplimente von solchen Knirpsen entgegen? Es fühlte sich gut an – besser, als Geld aus ihnen herauszuquetschen. „Denkt euch nichts dabei“, sagte da Fumiko trocken. „Er hat es nur getan, um mich zu beeindrucken.“ „Fumiko-chan, wie kannst du nur?“, rief Renji entsetzt aus. Die anderen lachten.   LordMyotismon beobachtete die fröhlichen Kinder in einem seiner magischen Spiegel und schwenkte seinen goldenen Kelch mit schwerem, rotem Wein in der Hand. „Es hat bereits begonnen. Sie digitieren“, sagte es. „Ich hoffe, dir ist klar, dass du das zu verantworten hast. Wenn wir sie nicht bald vernichten, ergeht es uns so wie unseren Meistern. Die Macht der DigiRitter wächst seit jeher viel zu schnell an.“ Karatenmon, dem die Worte galten, rührte keinen Muskel. LordMyotismon sah durch einen anderen Spiegel, wie es immer noch in seiner Höhle meditierte. „Eile bedeutet Verderben“, sagte es schließlich leise. „Der Samen braucht Zeit, um zu erblühen, und die Wurzeln des Baumes werden auch auf felsigen Boden treffen, ehe sie sich ins frische Erdreich graben können.“ „Die DigiRitter werden bald die Kraft haben, deinen Baum entzweizuhacken.“ Mit Karatenmon zu sprechen war sinnlos. Es würde bis Mitternacht weitermeditieren, und bis dahin waren die DigiRitter über alle Berge. LordMyotismon hatte sie nur gefunden, weil Karatenmon ihm hatte sagen können, wo sich sein Diener aufhielt. Sobald sie wieder im Dickicht des Waldes verschwanden, war es zu riskant, sie weiter mit seinen Spiegeln zu beobachten – falls sie entdeckten, dass sie überwacht wurden, würden sie sie zerschlagen und fortan auf der Hut sein. Der Asura ließ all seine Spiegel zu Wasser zerfließen und trank einen kräftigen Schluck Wein. Er schmeckte heute saurer als sonst. „Überbring Wisemon eine Nachricht“, sagte es in den leeren Raum hinein, und sofort wurde ein Bakemon sichtbar. „Der zweite DigiRitter hat die Digitation entdeckt. Sag ihm, ich kann es nicht mehr erwarten, endlich selbst zu digitieren.“ Kapitel 10: Schrecken in der Dunkelheit --------------------------------------- Pumpkinmon spielte gerade ein lustiges Spiel mit Impmon, als es unerwarteten Besuch bekam. Durch die Öffnung im Stamm des riesigen, ausgehölten Baumes, die aussah wie das grinsende Gesicht eines Halloween-Kürbisses, trat anmutig eine weibliche, katzenartige Gestalt, wie immer flankiert von ihren beiden PawnChessmon-Leibwächtern. „Oh, ich hoffe, ich störe nicht“, klang Persiamons weiche Stimme durch das hohe Versteck aus feuchter Rinde, Felsen und Erde. „Naajaaa“, sagte Pumpkinmon gedehnt. „Wir sind gerade so schön in Fahrt, weißt du?“ Sein koboldhafter Spielgefährte war gerade am Zug. Er musste innerhalb einer vorgegebenen Zeit die Kerzen in den Kürbisköpfen anzünden, die überall in der Höhle versteckt waren. Schaffte er das nicht, musste er zur Strafe zehn Minuten lang in Kürbissuppe schwimmen, die langsam gekocht wurde. „Wenn man euch so zusieht, weiß man sofort, welchem unserer Meister du am meisten nachgeeifert hast“, brummte Persiamon. „Wieso?“ Das Katzendigimon überging seine Frage. „Ich hätte euch ja nicht gestört, wenn es nicht wichtig wäre, aber ich brauche deine Hilfe, Pumpkinmon.“ Es faltete die Hände, sodass die überlangen, rosa Krallen aneinander schabten. „Hm. Und wobei soll ich dir helfen?“ „Geschafft!“, rief in diesem Moment Impmon und deutete grinsend auf all die angezündeten Kürbislaternen. „Du hast gemogelt! Ich hab nicht hingeschaut, das gilt nicht!“ Persiamon kam näher und ging vor Pumpkinmon in die Hocke, damit sie einigermaßen auf Augenhöhe waren. „Es ist so … Ein DigiRitter ist kürzlich in meinem Gebiet aufgetaucht. In Digitamamons Restaurant am See, das kennst du doch? Er zieht in Richtung Klaffendes Gebirge.“ „Na und?“, murrte Pumpkinmon, das von Impmon die Zunge gezeigt bekam. „Töte ihn doch.“ „Genau darum geht es. Ich fürchte, das schaffe ich nicht … Ein großes, furchtbares Ogremon ist bei ihm. Ich bin doch so hilflos und kann überhaupt nicht kämpfen.“ Persiamon strich ihm mit der Pfote sanft über den Kürbisschädel. „Ein so starker Krieger wie du schafft es doch mit Sicherheit, ihn zu besiegen, meinst du nicht? Du würdest mir damit wirklich aus der Patsche helfen …“ „Ich bin beschäftigt“, quengelte Pumpkinmon. „Warum fragst du nicht einen von den anderen?“ „Oh, bitte“, flehte Persiamon und sah ihn aus Augen an, so treuherzig, wie eine Katze es nur zustande bringen konnte. „Du weißt doch, Digitamamons Restaurant ist knapp an der Grenze zu deinem Gebiet.“ „Aber das Klaffende Gebirge nicht. Das gehört nur dir. Nur wenn sie dort nach Westen gehen, dann kommen sie in mein Gebiet, oder in das von Karatenmon. Warum fragst du nicht das? Der olle Rabenschädel tut eh alles, was du willst.“ „Aber Karatenmon ist so … Es ist seltsam, das weißt du. Bitte, ich kann nur dir vertrauen. Ich weiß, du bist mutig genug, dich selbst der Sache anzunehmen. Man darf die DigiRitter nicht unterschätzen.“ Pumpkinmon überlegte. „Aber ich muss doch auf die Eier aufpassen. Ich kann nicht einfach loslaufen.“ „Ach ja, richtig! Die ArmorEier!“ Persiamon schlug die Pfoten zusammen und setzte ein Lächeln auf, das nicht ganz zu seinen nächsten Worten passte. „Das hatte ich ganz vergessen. Du hast sie doch nicht hier, oder?“ „Nö, sind in einer alten Burgruine, im Keller. Aber den Schlüssel hab ich hier.“ Pumpkinmon lief zu einer Kiste, die achtlos in der Ecke lag, und fischte einen kupferfarbenen Schlüssel mit hübschen Ziselierungen heraus. Andächtig beäugte es ihn. „Darum muss ich auf diesen Schlüssel aufpassen. Niemand darf ja die Eier finden, und deswegen muss ich hierbleiben.“ „Wenn es weiter nichts ist.“ Persiamon schnappte ihm den Schlüssel ganz einfach aus den Händen. „Ich passe solange für dich darauf auf, während du den anderen und mir beweisen kannst, was für ein Held du bist. Deine Feinde vergessen noch, wie furchterregend du bist, wenn du so lange nicht kämpfst.“ „Hm, da kannst du recht haben.“ Pumpkinmon streckte die kleine, stoffgefüllte Brust raus. „Gut, ich mach’s. Pass gut auf den Schlüssel auf; wenn ich zurückkomme, will ich ihn wieder haben.“ Persiamon seufzte erfreut auf und umarmte es stürmisch. „Ich wusste, ich kann mich auf dich verlassen. Eine Sache noch …“ Seine Augen schimmerten treuherzig. „Was’n?“ „Sag’s nicht den anderen, vor allem nicht LordMyotismon, okay? Du bist das Einzige, das weiß, wie schwach ich in Wirklichkeit bin.“ „Du kannst dich auf mich verlassen.“ Pumpkinmon grinste eigentlich ständig, aber diesmal war das Grinsen noch breiter als sonst. Es schlug sich mit dem genähten Handschuh gegen die Brust. „Komm, Impmon, wir spielen woanders weiter.“ Das kleine, violette Kobolddigimon folgte seinem Gebieter in den düster werdenden Wald hinaus. Persiamon blieb in Pumpkinmons Versteck und bedachte den Schlüssel mit einem Lächeln.   Eigentlich hätte sie es sich ja denken können. Nachdem es Renji als Erster geschafft hatte, seinem Digimon zu einer neuen, stärkeren Form zu verhelfen, war er noch unausstehlicher als sonst. Zwar sah er davon ab, die anderen anzumotzen, aber … „Es war ja keine allzu große Sache. Einfach ein bisschen Mut beweisen, ist ja easy. Solche Digimon stecken wir ab jetzt mit links weg, Candlemon und ich. Ihr könnt euch zurücklehnen, wir blasen den anderen Asuras für euch das Licht aus.“ Tageko seufzte. „Stimmt etwas nicht?“, fragte Mushroomon vorsichtig, das neben ihr an der Spitze der Gruppe herging. „Alles okay.“ Mushroomon schien enttäuscht zu sein, weil sie sich ihm nicht anvertraute. Aber was hätte sie auch sagen sollen? Sie hatte ihren Hals vor Renji riskiert, trotzdem war sein Digimon digitiert. Allein das schien Mushroomon ein schlechtes Gewissen zu bereiten. Und damit nicht genug, prahlte Renji jetzt die ganze Zeit vor Taneo und Jagari. Sie hätte sich wohl freuen sollen, dass die Streitereien aufgehört hatten, aber sie wusste, dass er glaubte, nett zu den beiden jüngeren zu sein würde ihm Pluspunkte bei Fumiko einbringen. Tageko blieb stehen und sah zu den Baumwipfeln hoch, die sich vor dem dunkelblauen Himmel schwarz färbten. „Es wird zu dunkel. Wir sollten es für heute gut sein lassen“, entschied sie. „Hm? Och, das bisschen Dunkelheit. Meramon kann uns ja den Weg leuchten, oder?“, grinste Renji. „Klaro!“ Das Energiebündel Candlemon war auf eine andere Art prahlerisch als sein Menschenpartner und beschrieb das Gefühl der Digitation den anderen Digimon in höchsten Tönen. „Nein, Schluss für heute. Wir suchen morgen weiter; Kouki wird kaum um diese Uhrzeit draußen herumlaufen. Er hat sicher einen Unterschlupf gefunden.“ „Was ist, wenn er längst wieder in der Realen Welt ist?“, fragte Fumiko plötzlich. „Du meinst, er hat das mit den Fernsehern herausgefunden?“ Tageko überlegte einen Moment angestrengt. „Stimmt. Wenn wir wieder daheim sind, sollten wir das überprüfen.“ „Heißt das, wir gehen wieder in unsere Welt?“, fragte Jagari, dessen Husten in den letzten Stunden immer schlimmer geworden war. „Nein, das heißt es nicht“, antwortete Tageko. „Oder siehst du hier irgendwo einen Fernseher?“ Der letzte Monitor, der sie in ihre Welt zurückbringen könnte, war gleichzeitig der gewesen, durch den sie gekommen waren. Das Gebiet hier schien sehr groß zu sein, aber sie waren sich mittlerweile sicher, dass es der richtige Wald war. Bei Einbruch der Dunkelheit hatte die Jahreszeit für die Bäume gewechselt; frisches Grün und kecke Knospen waren überall im Licht von Tagekos Taschenlampe aufgetaucht, die sie vorsichtshalber in ihrem Rucksack mitgenommen hatte. „Also übernachten wir hier im Wald?“ Taneo klang nicht begeistert. „Hast du eine bessere Idee? Morgen suchen wir weiter, nach Kouki und nach einem Fernseher. Ich hab meiner Mutter gesagt, dass ich bei einer Party eingeladen bin.“ Ihre Tante hatte Zeit gehabt, sich um Tagekos Geschwister zu kümmern. Wie gut, dass morgen Wochenende war. Die Schule für Kouki zu schwänzen wäre … Nun, sie war froh, nicht in die Verlegenheit zu kommen, sich dazwischen entscheiden zu müssen. Tageko fand eine Mulde zwischen den Bäumen, die dank des Buschwerks recht geschützt aussah. Dort lud sie ihren Rucksack ab und packte ihre Sachen aus. „Du hast ja ein halbes Haus mit“, stellte Renji mit großen Augen fest. „Und du natürlich gar nichts.“ Sie riss eine Packung Schokomüsliriegel auf und breitete die dicke Decke aus. „Für dich, Jagari. Sie hält dich hoffentlich warm.“ Der gesundheitlich angeschlagene Junge sah sie mit laufender Nase an und nickte dann lächelnd. „Hast du für uns nichts?“, fragte Renji, als sie ihren eigenen Schlafsack ausrollte. Bin ich eure Mutter? Sie seufzte innerlich. Eigentlich war sie das, ja. Zumindest hier, wo die anderen ganz offensichtlich nicht auf sich selbst aufpassen konnten. Aber das war nichts Neues. „Echte Männer schlafen auf nackter Erde“, meinte sie schnippisch. „Oder nicht?“ Er schnaubte. „Na schön. Vielleicht schlaf ich ja gar nicht. Ich bin überhaupt noch nicht müde.“ „Wunderbar, dann übernimm doch gleich die erste Wache“, sagte Tageko zuckersüß. „Fumiko, für dich ist auch noch Platz im Schlafsack.“ „Klar“, brummte Renji verstimmt. „Macht ihr Mädels es euch ruhig gemütlich.“ „Ich wusste, dass du uns verstehst.“ Ein Feuer entfachten sie nicht, nur Tagekos Lampe blieb angeknipst. Sie knabberten Müsliriegel und Kekse und machten es sich dann auf dem weichen, trotzdem von Wurzeln durchzogenen Waldboden so bequem wie möglich.   „Wenn du ein echter Krieger sein willst, dann schläfst du nur mal eben ein paar Stunden. Das geht auch im Sitzen, wenn du dich gegen einen Baumstamm lehnst“, sagte Ogremon. „Vielleicht gilt das für Digimonkrieger“, murmelte Kouki müde. „Aber Menschenkrieger haben gewisse Ansprüche.“ Es war bereits stockdunkel, und der Wald, durch den sie trotteten, gab sich alle Mühe, unheimlich zu sein. Kouki fiel vor Müdigkeit fast aus den Latschen, und Salamon ging es nicht besser. Selbst Ogremon gähnte einmal, obwohl es so putzmunter tat. „Kouki, sieh mal!“, rief Salamon. Er folgte seiner Blickrichtung. „Ist das … eine Burg?“ „Hm?“ Ogremon trat neben ihn. Über den Wipfeln sah man steinerne Türme aus einem bewaldeten Hügel stechen, die der Mond schwach beleuchtete. „Eine alte Ruine. Was willst du damit?“ „Wenn sie alt ist, ist sie sicher unbewohnt. Dort drin hätten wir einen trockenen Platz zum Schlafen. Sag nichts“, rief Kouki, als Ogremon etwas entgegnen wollte. „Menschenkrieger haben früher in Burgen gewohnt. Anders sind sie auch nicht berühmt geworden.“ „Ich werd euch Menschen nie verstehen“, grummelte Ogremon, folgte Kouki aber, der sich querfeldein auf die Burg zu durchs Unterholz schlug. Er glaubte nicht an Geister, nur an Bakemon, aber die hatte er schon einmal besiegt. Und ein Dach über dem Kopf und ein trockener Boden, egal wie staubig, waren hundertmal besser, als im Freien auf einem Silbertablett für hungrige Digimon zu übernachten. Die Burg war winzig. Zwischen die beiden zweistöckigen Türme, wovon der rechte eingestürzt war, zwängte sich ein quadratischer Block aus grauem Stein. Die doppelflügelige Tür nahm fast dessen gesamte Breite ein und klemmte. Erst, als Ogremon seine Muskelkraft spielen ließ, öffnete sie sich ein Stück. Sie traten ein, und der Oger zog das Tor wieder zu, sodass sie in völliger Dunkelheit standen. „Ich mach Licht“, verkündete Kouki, und kurz darauf flammte ein geisterhafter, bleicher Schein in seiner Hand auf. Während er den Raum erkundete, betrachtete Ogremon das Licht fasziniert. „Ist immer wieder interessant, was ihr Menschen mit diesen Dingern, die ihr von Gennai bekommt, machen könnt.“ Kouki ersparte es sich, dem Digimon zu erklären, dass es sein Handy war, das ihnen nun den Weg leuchtete. Wenn er in der DigiWelt auch keinen Empfang hatte und keine der eingebauten Programme funktionierte, die Displaybeleuchtung war noch intakt, obwohl das Handy drohte, dass der Akku bald den Geist aufgeben würde. Der Raum war gähnend leer, zu jedem der Türme gab es einen Durchgang ohne Tür, und in den Ecken prangten riesige, staubige Spinnweben. „Na, hoffen wir mal, dass die Dokugumon sich schon verzogen haben“, brummte Ogremon. „Obwohl mir ein ordentlicher Kampf bald mal wieder gut tun würde.“ Kouki verzichtete auch darauf, nachzuhaken, was Dokugumon waren. Er hatte das Gefühl, es würde ihm nur Albträume bescheren. „Schau, Kouki!“ Salamon hatte eine Falltür entdeckt. Sie war völlig von Staub befreit, und das erweckte Koukis Neugier. Er hatte als Kind oft Schatzsuchen gespielt und Schatzsucherromane gelesen. Und von einem Computerspiel, das er mal kurz probiert hatte, wusste er, dass einsame Ruinen inmitten von Wäldern immer Geheimnisse bargen. In die Holzklappe war ein Eisenring eingelassen, mit der er sie hochziehen konnte. Ein Schacht kam zum Vorschein, in dessen Seite Eisensprossen geschlagen waren. Ein wenig unheimlich war es ihm doch, aber er wollte Ogremon nicht wieder einen Grund geben, an seiner Männlichkeit zu zweifeln. „Wenn mich was fressen will, schieß es bitte mit deiner Faust weg“, sagte er mit einem schwachen Lächeln zu seinem grünen Begleiter, nahm das Handy zwischen die Zähne und begann den Abstieg. „Kouki? Du solltest da vielleicht nicht runter gehen“, piepste Salamon ängstlich, aber er hörte nicht auf es. Nach fünf Metern fühlte er wieder einen Boden unter den Füßen. Er leuchtete wieder mit seinem Handy herum und entdeckte einen kurzen Gang, der an einer massiven Eisentür endete. „Sackgasse“, murmelte er, als er sie verschlossen vorfand. Etwas hinter ihm rumpelte und er fuhr herum, nur um zu sehen, dass Ogremon ihm mit einem Sprung gefolgt war. „Mach sowas nie wieder“, stieß er aus. Sein Herz klopfte wie verrückt. „Dein vierbeiniger Knilch hätte keine Ruhe gegeben. Macht sich vor Angst fast in die Hose.“ Erst jetzt sah Kouki Salamon, das auf Ogremons Schulter saß und ihn vorwurfsvoll ansah. „Ich wäre sowieso wieder heraufgekommen. Da geht es nicht weiter.“ „Lass mal sehen.“ Ogremon rüttelte an der Tür und warf sich dagegen, nur um ob der Schmerzen aufzufluchen. „Nichts zu machen. Such dir einen Platz zum Pennen, und fertig. Was weiß ich, wozu sie in dieser Ruine eine Tür abschließen müssen.“ „Warte.“ Kouki war etwas eingefallen. Er untersuchte noch einmal die Tür. Das Schloss sah äußerst stabil aus, aber auch so einfach gestrickt, wie alte Schlösser waren. Kein Vergleich zu einem Zylinderschloss. Kouki war früher oft in seinen eigenen Gartenschuppen eingebrochen, um mit seinen Freunden unerlaubterweise mit Gartenwerkzeugen zu spielen. Später hatte er es auch einmal bei der Hintertür seiner Grundschule geschafft, als er zu spät gekommen war und nicht durch den Vordereingang an den Lehrerzimmern vorbei schleichen wollte. Mit etwas Glück gelang es ihm hier auch. „Mit einer Haarnadel könnte ich das aufkriegen“, überlegte er. „Und warum zur Hölle glaubst du, dass ich eine Haarnadel bei mir habe? Was ist das überhaupt?“, grunzte Ogremon. Er brauchte irgendwas Ähnliches … Sein Blick fiel auf Ogremons Ohrringe. „Ich … hätte da eine Idee. Ich weiß aber nicht, ob sie dir gefällt.“   „Wer sie zuerst findet, kriegt ein Kürbisbonbon!“, rief Pumpkinmon eifrig. „Keine Lust“, murmelte Impmon und streckte sich. „Du musst mir schon suchen helfen!“ „Hat doch keinen Sinn.“ Seit Stunden, so kam es den beiden vor, flogen sie nun schon auf einem von Pumpkinmons Kürbissen, die es mit seinem Willen steuern konnte, über bewaldetes Gebiet. Im Klaffenden Gebirge waren sie nicht fündig geworden, also hatten sie sich westlich gehalten und waren nun schon auf Karatenmons Land. Und keine Spur von einem DigiRitter oder einem Ogremon. „Ich hab keine Lust mehr“, beschwerte sich Impmon, als es plötzlich aufhorchte. „Da!“ „Was? Hast du sie? Hast du sie?“ Pumpkinmon hüpfte vor Aufregung auf dem Kürbis auf und ab. „Pscht!“ Impmon sah sich um, dann schnupperte es. Es hatte eine unglaubliche Nase, vor allem, was Süßigkeiten anging. „Schokolade. Und Nüsse. Mitten im Wald.“ „Essen Menschen sowas?“ „Weiß nicht. Mir würde es schmecken.“ Pumpkinmon ließ sich die Stelle zeigen, wo ungefähr der Geruch aufstieg. Selbst bemerkte es keinen Hauch von Schokolade, aber Impmon war auf diesem Gebiet unschlagbar. Das Asura ließ seinen Kürbis sanft am Rand einer nahen Lichtung landen. „Schau nach, ich kümmere mich um das Haus.“ Während Impmon ins Dickicht huschte, bereitete Pumpkinmon das Ritual vor. Mit einem Stock pflügte es unter großer Anstrengung Linien in den mit spärlichem Gras bewachsenen Boden, bis im Zentrum der Lichtung ein halbwegs passables, recht einfach gehaltenes Mandala prangte. Nun brauchte es noch eine Opfergabe, also ließ es in der Mitte des Symbols einen Kürbis erscheinen. Dann setzte es sich auf den feuchten Boden, die linke Hand im Schoß, die Handfläche nach oben, die rechte so, dass sie gerade den Boden berührte. Als es gerade mit dem Mantra beginnen wollte, kam Impmon dahergelaufen. „Sie sind es, sie sind es!“, rief es atemlos. „Fünf Menschen, und fünf Digimon! Sie schlafen!“ „Fünf?“ Pumpkinmon war verwirrt. „Es sollte doch nur einer sein! Hast du Ogremon gesehen?“ „Nö. Kein Ogremon. Aber ich hab das hier stibitzt.“ Grinsend hob Impmon einen Stück Papier hoch, aus dem ein schokoladeüberzogener Riegel ragte. „Schmeckt ausgezeichnet!“ „Heb mir auch was auf. Und jetzt geh aus dem Mandala raus.“ Pumpkinmon begann das Mantra zu zitieren, einen kurzen Vers, den es wieder und wieder wiederholte, bis die Erde sanft zu beben begann. Impmon grinste in vorfreudiger Erwartung. Dann brach die Erde mit einem ohrenbetäubenden Krachen auf, und etwas Riesiges, Hölzernes bohrte sich daraus hervor.   „Du schuldest mir was“, brummte das ungeschlachte Digimon, während es hämmerte. „Ich weiß nicht mal, warum ich das für dich tu.“ „Wenn wir da drin was Interessantes finden, kriegst du die Hälfte“, beschwichtigte Kouki es. „Zwei Drittel. Das hat nämlich weh getan.“ „Also schön.“ Kouki seufzte. Er hatte nicht gedacht, dass Ogremon sich den Ohrring einfach so aus dem Fleisch reißen würde. Noch dazu war er mitten in der Ohrmuschel gehangen, da es kein wirkliches Ohrläppchen hatte. Nun lief dunkelrotes Blut in krassem Kontrast zu seiner Hautfarbe über seine Wange. „Gut so?“ Ogremon reichte ihm den improvisierten Dietrich. Es hatte eine Kerbe in den Ring geschlagen und dann mit großer Muskelkraft dort auseinander gerissen. Dann hatte es das Metall so lange mit seiner eisenverstärkten Keule geschlagen, bis es in eine halbwegs gerade, dünne und schmale Form gebracht worden war. Damit stocherte Kouki nun in dem klobigen Schloss herum. Wenn in der DigiWelt Schlösser im Allgemeinen auch … „Fertig“, sagte er erfreut, als nach mehreren erfolglosen Versuchen das schwere Klicken eines Riegels zu hören war. Kouki drückte die eiserne Schnalle nach unten, und erbärmlich quietschend schwang die Tür auf. Ein winziger Raum lag dahinter, der Boden war aus gestampfter Erde, nicht mehr aus Stein, und von einer sandgelben Plane bedeckt. Kouki wappnete sich und riss sie zur Seite. Fein säuberlich angeordnet lagen dort acht seltsam geformte Skulpturen, jede in etwa so groß, dass man sie bequem in einer Hand halten konnte. Sie waren so verschieden, wie sie nur sein konnten, und als Kouki mit dem Handy darüber leuchtete, sah er, dass auf ihnen allen unterschiedliche Symbole prangten. „Hast du so etwas schon einmal gesehen, Ogremon?“ Das Ogerdigimon schob sich neben ihm in den Raum. „Und das ist jetzt dieser Schatz, für den ich mir das halbe Ohr abgerissen hab?“ „Was ist das wohl?“ Kouki hob eines der Dinger auf. Es war, als hätten sie gar kein Gewicht. „Woher soll ich das wissen?“ „Gib mir deinen Mantel.“ „Hä?“ „Deinen Mantel“, beharrte Kouki. „Wenn die schon hier versteckt liegen, müssen sie wichtig sein.“ „Wir sollten sie liegen lassen“, murmelte Salamon ängstlich. „Quatsch. Wir haben sie gefunden, also gehören sie uns.“ Ogremon grummelte etwas von „Als Nächstes soll ich mir dann wohl die Zähne ausreißen“, während Kouki die Skulpturen in seinen Mantel wickelte und obenauf einen Knoten machte. „So“, sagte er. „Und jetzt gehen wir schlafen.“   Als die Erde erzitterte, waren sie alle sofort wach. Taneo schrak von seinem unbequemen Nachtlager hoch. Etwas rumpelte, etwas krachte … Blätter und Nadeln rieselten auf sie herab. „Was ist das?“, kreischte Renji und schützte seinen Kopf mit den Händen, als es auch noch Äste hagelte. Irgendwo links von ihnen im Wald knarrte und knarzte etwas. Taneo hielt die Luft an. „Kokuwamon, wo bist du?“ „Hier“, sagte der Käfer neben seinen Füßen. Er sah ihn in der Dunkelheit kam. Schritte kamen näher – falls man es Schritte nennen konnte. Die Erde erbebte einfach in regelmäßigen Abständen und man hörte lautes Knarren und Knirschen, als bewegte sich etwas Riesiges, Massiges durch den Wald. „Weg hier!“ Er sprang in die Höhe. „Was … was ist denn los?“ Jagari rieb sich verschlafen die Augen. „Wo sind wir?“ Taneo war mit einem Satz bei ihm und zog ihn auf die Beine. Renji kreischte, als irgendwo im Wald mit einem lauten Knarzen und dem Reißen von Holz ein Baum umstürzte. Fumiko und Tageko waren hektisch damit beschäftigt, sich aus dem Schlafsack zu befreien, und Renji herrschte sie an, sich zu beeilen. Taneo hingegen legte den Kopf in den Nacken. Eine Silhouette, dort zwischen den Bäumen … Ein Schlag traf die Baumstämme direkt vor ihnen und zerbrach sie wie Streichhölzer. Die DigiRitter schrien nun alle lautstark auf, prallten zurück und versuchten, dem Hagel aus Ästen und Tannenzapfen zu entgehen, während die Digimon nicht wussten, wogegen sie eigentlich kämpfen sollten … „Runter!“, schrie Taneo, als er etwas durch die Blätter rauschen hörte, und warf sich zur Seite. Etwas Gewaltiges, Rechteckiges schob sich wie ein UFO über die gekappten Baumstämme auf ihr Lager zu – und stampfte genau darin auf. Der Einschlag war so heftig, dass Renji, der dem unförmigen Etwas nur um Haaresbreite entkommen war, einen unfreiwilligen Hüpfer machte und auf seinem Hinterteil landete. Er war wie zur Salzsäule erstarrt. Taneo zog Jagari hinter sich her, als dem überdimensionalen Fuß das restliche Bein folgte und Äste und Blattwerk abrasierte. Er war noch ganz benommen und stolperte über Wurzeln und die Äste der umgeworfenen Bäume, als er versuchte, sie beide außer Reichweite zu bringen. Wo ein Fuß war, war meistens auch noch ein zweiter … „Was ist das?!“, hörte er Renjis aufgelösten Schrei, der in einem aggressiven Fauchen unterging, als Candlemon einen Feuerhauch auf den Angreifer spie. Taneo glaubte nicht, dass das irgendetwas bringen würde. Auch kleine Explosionen von Mushroomons Pilzen hörte er. „Jagari, sollen wir nicht kämpfen?“, fragte Elecmon, das hinter ihnen her über Stock und Stein lief. „Nein“, sagte Taneo, „das hat keinen Sinn – sieh mal, wie groß das Ding ist!“ Als er sicher war, dass das Wesen mit lautem Getöse auch den zweiten Fuß nachgezogen hatte, schlug er eine Kurve ein, um hinter es zu gelangen. Sicher war es am besten, wenn sie sich aufteilten … aber er wollte nicht als Feigling dastehen, und wenn den anderen etwas passierte, das er verhindern könnte … „Bleib hinter mir“, sagte er zu Jagari. „Ich kann auch kämpfen, ich …“ „Aber du willst nicht, oder?“, unterbrach er ihn schrill. „Und du bist krank. Wir sehen nur nach, ob es den anderen gut geht, und dann verschwinden wir.“ Dieses Digimon war eindeutig eine Nummer zu groß für sie … wortwörtlich.   Candlemons Körper flammte auf, Licht erhellte die Nacht, und diesmal brauchte es keine selbstmörderische Aktion von Renji, dass es zu Meramon digitierte. Während es Feuerbälle auf das riesige, hölzerne Bein, das so dick wie zehn Baumstämme in diesem Wald war, abschoss, blickte Tageko zittrig atmend zu dem Ungetüm hoch. Sein … Körper, wenn es denn einer war, war so hoch oben, dass sie nur einen Schatten ausmachen konnte, aber es schien auch mächtige Hände zu haben – dessen war sie sich spätestens sicher, als eine davon wie ein schwarzer Blitz herabgesaust kam und einen Krater in den weichen Waldboden schlug, so breit wie die Garage ihrer Mutter und genau dort, wo Meramon eben noch stand. Das Flammendigimon hatte sich mit einem gewagten Sprung gerettet. Mushroomon schoss wieder Pilze auf die riesige hölzerne Faust ab, die daran zerplatzten wie Seifenblasen. Als das Monster den Arm hob, rieselten frische schwarze Erde, Laub und trockene Nadeln herab. „Tageko!“, brüllte Renji. „Sieh zu, dass dein Pilz auch digitiert, verdammt!“ „Jaja, halt den Rand!“, schrie sie zurück. Ihr Herz raste. Wie sollten sie gegen so etwas ankämpfen? Es war unmöglich. Selbst, wenn sie noch zehn Digimon von Meramons Schlagkraft hätten, wäre es aussichtslos. „Wir müssen fliehen!“, brüllte sie über das Getöse hinweg, als das Holzwesen erneut versuchte, Meramon wie ein lästiges Insekt zu erschlagen. „Wir können vor so einem Riesending nicht davonlaufen“, sagte Fumiko mutlos. Sie umklammerte ihr Ei. Der Riss war im Mondlicht sichtbar. „Verdammt, schlüpf schon endlich, wir brauchen dich“, flüsterte sie mit zusammengebissenen Zähnen. „Wo sind Taneo und Jagari?“, rief Tageko, als ihr plötzlich auffiel, dass die beiden fehlten. Verdammt, das hätte nicht passieren dürfen – sie musste doch auf sie aufpassen!   Pumpkinmon kugelte sich vor Lachen. Es saß auf einem hohen Baumstamm und konnte den Kampf überblicken. Dass dieser kleine Kürbis das Behältnis für ein so gigantisches Spielzeug werden konnte, überraschte es immer wieder. Es war amüsant, wie Meramon versuchte, das Holz in Brand zu setzen. „Nur Zusehen ist langweilig“, beschwerte sich Impmon. „Also, ich finde es lustig.“ „Ich aber nicht.“ Das Kobolddigimon verschränkte die Arme. „Sie werden ja doch nur in den Boden gestampft, und wir haben gar nicht richtig mit ihnen gespielt.“ Pumpkinmon überlegte. „Du hast recht. Dabei kann man drinnen doch so schön Verstecken spielen. Also schön.“ Es patschte in die Hände und ließ vor ihnen in der Luft einen Kürbis erscheinen. Die beiden Spielkameraden sprangen auf und Pumpkinmon ließ ihn in halsbrecherischer Geschwindigkeit zum Kampfplatz fliegen. „Holen wir uns jemanden zum Spielen!“   „Kokuwamon, meinst du, du kannst uns alle hier rausbringen, wenn du digitierst?“, fragte Taneo atemlos. Sein Käferdigimon surrte neben ihm her, als er und Jagari sich über die gesplitterten Baumstümpfe quälten, um sich dem monströsen Ding von hinten zu nähern. „Kann ich nicht sagen, Taneo“, murmelte es. „Ich weiß nicht, zu was ich als Nächstes werde … tut mir leid.“ Er biss sich auf die Lippen. Konnte es sein, dass sie, die angeblich die DigiWelt retten sollten, tatsächlich so hilflos waren? Der Titan stampfte seit etlicher Zeit auf einem Fleck herum. Alles, was über seinen langen Holzbeinen lag, verschwand in der Dunkelheit. Wenn er sich nicht nach neuen Opfern umsah, musste das bedeuten, dass die anderen noch lebten … Oder auch nur einer von ihnen. Taneo musste diese Möglichkeit ebenfalls in Betracht ziehen. Jagari hustete kehlig, als er ihn über einem umgestürzten Baumstamm zog. Elecmon sprang auf einen abstehenden Ast, der wie eine Antenne in die Höhe ragte. „Da kommt etwas!“, rief es. Taneo warf einen Blick über die Schulter und konnte gerade noch etwas annähernd Rundes, im spärlichen Licht Grauoranges ausmachen, das rasend schnell auf sie zuflog. Was war das jetzt schon wieder? „Duck dich!“ Er zog Jagari hinter sich her, der mit ihm über den Baumstamm stolperte und ins weiche Moos fiel. Das fliegende Etwas rauschte über ihren Köpfen hinweg – und im nächsten Moment bewegte sich der Boden unter ihnen. Taneo hielt den Atem an. Pflanzenranken rissen schnalzend, Äste bogen sich, das Moos löste sich – und plötzlich wurden sie wie von einem Katapult in die Höhe gerissen. Laut schreiend fanden sich Taneo, Jagari und ihre Digimon auf etwas wie orangen Ballons wieder, die einfach aus der Erde geschossen waren, und mussten sich in die glatte, dick gerillte Oberfläche krallen, um nicht abgeworfen zu werden. Elecmon hatte sich an Jagaris Bein festgehalten, dessen Hand Taneo losgelassen hatte. Der jüngste der DigiRitter schrie sich die Seele aus dem Leib, während sein Transportmittel sich rasend schnell um sich selbst drehte und sie durch die kühle Nachtluft, die an ihren Haaren und ihrer Kleidung zerrte, um den Titan herum zu dessen Vorderseite flogen. Taneo legte sich so flach wie möglich auf den Bauch, um wenig Luftwiderstand zu bieten, und hob den Kopf, als sie in weitem Bogen auf das monströse Holzmonster zuflogen. Erstmals konnte er dessen Oberkörper sehen … War das überhaupt ein Digimon? Die Arme und Beine ragten aus etwas, das ein gewöhnliches, bunt gemaltes Haus sein könnte. Schwarze, eckige Fenster wirkten wie Augen, die Schultern waren die beiden Flügel des Gebäudes, und der Rumpf mochte ein Kellergeschoss sein. Das Dach war mit rötlichen Schindeln bedeckt, und die verschnörkelten Überhänge wirkten auf dem Kopf wie gelocktes Haar. Wo bei einem Menschen das Brustbein gewesen wäre, hatte der Riese ein großes, hölzernes Eingangstor, offen stehend. Während der Titan sich wütend bewegte und auf dem Boden herumstampfte, fand das fliegende Ding von vorhin seinen Weg in sein Inneres. Taneo kniff die Augen zusammen, Jagari schrie, und sie wurden von Schwärze, dunkler als die Nacht, verschluckt, als ihre Ballons wie zwei Jets ebenfalls in das Haus rasten. Mit einem Krachen schlug die Tür hinter ihnen zu, und ihre Mitfluggelegenheiten zerplatzten. Taneo und Jagari kullerten einige Meter über einen harten Dielenboden, bis sie desorientiert und schwindelig zum Liegen kamen. Taneo schmeckte Blut; er hatte sich auf die Zunge gebissen. Als sie sich benommen hochstemmten, flammte am Ende des Flurs, in dem sie sich befanden, ein schummriges rotes Licht auf. Taneo erkannte etwas wie eine Halloweenlaterne, einen ausgehöhlten Kürbis, durch dessen Fratze eine unnatürlich rote Flamme leuchtete. Und davor standen, von Dunkelheit und Zinnober umrissen, die Silhouetten zweier recht kleiner Digimon, die aufgekratzt kicherten. „Also dann“, sagte das eine von ihnen. „Während eure Freunde draußen zu Mus verarbeitet werden, lasst uns spielen!“ Kapitel 11: Katz und Maus ------------------------- „Wer … wer seid ihr?“, brachte Taneo hervor. Seine Sicht verschwamm immer wieder bei dem Versuch, die beiden Digimon zu fokussieren. Als sich seine Augen an das schummrige Licht gewöhnt hatten, merkte er immerhin, dass sie nicht allzu gefährlich wirkten. Das linke sah aus wie ein Kind in schlechter Halloweenverkleidung. Auf einem aus grobem, schmutzig weißem Stoff genähten Körper saß ein Kürbiskopf, ähnlich seinem Pendant am Ende des Flurs, nur dass zwei gelbe Pupillen darin glühten und eine kleine Axt in seiner Oberseite steckte. Das andere Digimon sah aus wie ein Kobold mit dunkler Haut, aber weißem Gesicht, dessen Augen schelmisch funkelten. Seine Finger steckten in Handschuhen und ein rotes Halstuch reichte bis auf seine Brust. „Seid ihr Asuras?“ Jagari rappelte sich umständlich hoch. Elecmon baute sich schützend vor ihm auf und sträubte das Fell. Der Kürbiskopf ließ ein keckerndes Kichern hören. „Halb falsch und halb richtig. Ich bin ein Asura, das gefürchtete Pumpkinmon, das einzige Digimon, das sich euch DigiRittern entgegenstellen kann! Das da ist nur Impmon, mein Spielkamerad.“ Es machte eine dramatische Geste und kicherte wieder. Taneo hätte gern über es gelacht, aber er vermutete, dass es gefährlicher war, als es aussah. Und außerdem waren sie in einem Haus, dem Arme und Beine gewachsen waren und das im Wald gerade Amok lief und seine Freunde zu töten versuchte. „Mögt ihr Verstecken? Oder lieber Fangen? Wir haben das ganze Haus für uns!“ Impmon breitete grinsend die Arme aus. „Man könnte sagen, wir haben sturmfreie Bude!“ Beide Digimon lachten über den Scherz. „Haltet ihr das etwa für ein Spiel?“ Taneo war fassungslos. Es ging doch hier um Leben und Tod! „Aber natürlich“, sagten die beiden wie aus einem Munde. Taneo ballte die Fäuste. „Kokuwamon!“ „Sofort!“ Sein Digimon wollte sich auf die Feinde stürzen, aber Elecmon war schneller. Es versprühte eine funkelnde Ladung Elektrizität aus seinem Schwanzgefieder. Kurz wurde der Flur in flackerndes Licht gehüllt, aber Pumpkinmon hob nur die Hand. Mitten in der Luft erschien ein Kürbis, auf den jeder Bauer stolz gewesen wäre. Nicht nur, dass der Blitz wirkungslos dagegenschlug, die Frucht schoss direkt auf Elecmon zu, das sich mit einem Satz in Sicherheit brachte. Der Kürbis änderte die Flugbahn und hätte das Digimon fast erwischt, schlug dann aber ein Loch in die Wand, dass Verputz und Mauerwerk bröckelten. Taneo schluckte. Wie er es sich gedacht hatte, der Schein konnte trügen. „Nimm du den Blonden“, sagte Pumpkinmon zu Impmon. „Ich glaube, mit dem hier kann man mehr Spaß haben.“ Taneo wusste sofort, dass er gemeint war. „Dann lasst uns spielen!“ Das Asura und sein Spielkamerad hoben die Hände und zwei weitere Kürbisse und zwei rötliche Flammen erschienen in der Luft.   Der Gigant wütete immer noch. Im Umkreis von hundert Metern war alles kurz und klein getrampelt, selbst die Stümpfe der Bäume, die er zerschlagen hatte, waren mittlerweile in den Boden gestampft. Hätten Fumiko, Tageko und Renji keine ziellose Zickzackflucht begonnen, wären sie längst erwischt worden. Meramon tat sein Bestes, das riesige Digimon auf Abstand zu halten, aber keine seiner Attacken zeigte Wirkung. Dann traf es ein aggressiver Schlag vor die Brust und schleuderte es meterweit durch die Luft. Ächzend flimmerte seine Gestalt, die Flammen zogen sich zurück, und in einem gelben Glühen wurde es wieder zu Candlemon, das hart und unter einem Schmerzensschrei auf dem Waldboden aufschlug. Sie hatten versucht zu fliehen. Fumiko hatte schon überlegt, dass es wohl am besten wäre, wenn sie in drei Richtungen davonrannten, aber es klappte nicht. Tageko wollte keinen von ihnen allein lassen, und Renji wollte zumindest Fumiko nicht alleine laufen lassen. Also standen sie dem Monster zu dritt gegenüber … „Candlemon, was machst du denn?“ Renji war zu seinem Partner gelaufen. „Kannst du nochmal … hey, alles in Ordnung?“ Er klang alarmiert, aber Fumiko konnte nicht sehen, wie es um Candlemon stand. Rechts von ihr feuerte Mushroomon weitere Pilze auf ihren Feind. Tageko schien nicht einmal in Erwägung zu ziehen, dass es digitieren konnte, zumindest hatte sie keine ermutigenden Worte für ihr Digimon übrig. Und was tat sie, Fumiko? Sie umklammerte dieses dumme Ei, das einfach nicht schlüpfen wollte. „Bitte!“, rief sie und drückte es so fest, als könnte sie allein damit die Schale brechen und das Digimon darin zum Leben erwecken. „Wenn du nicht tot bist, wenn du noch wartest, dann schlüpfe, jetzt!“ Nun, ohne Meramon, wandte sich der Titan Mushroomon zu, das wesentlich ungelenker war und Schwierigkeiten hatte, ihm auszuweichen. Ein Fausthieb zerschmetterte die Baumruinen neben ihm und hätte es fast erwischt. „Alle hinter mich!“, brüllte Tageko. „Bleibt zusammen! Wir müssen ein Versteck suchen!“ Es gab kein Versteck. Nicht vor diesem Ding. Fumiko konnte die Lage nüchtern betrachten. Jede Höhle und jeden Schlupfwinkel konnten diese gewaltigen Fäuste mit einem Schlag einreißen. Sie müssten schon fliegen können, um ihm zu entkommen. Sie blickte wieder auf ihr Ei, auf den Riss, der so verhängnisvoll aussah. Es war wohl so oder so aussichtslos. Selbst wenn es jetzt schlüpfte, wenn ein kleines, quiekendes Digimon herauskam, wie die anderen, als sie sie gefunden hatten, brachte das überhaupt nichts. „Verzeih mir“, murmelte sie. „Bleib am besten drin. Vielleicht kannst wenigstens du überleben.“   Jagaris Lunge war nahe dran, zu explodieren. Jeder Atemzug wurde von einem schmerzenden Hustenanfall begleitet, und immer noch hatte er Impmons Kichern im Ohr. Mit tränenverschleiertem Blick taumelte er durch die Gänge und Zimmer. Das Haus erbebte immer wieder unter seinen Füßen und mehr als einmal neigten sich ganze Räume, sodass er hilflos abrutschte und gegen die Wände prallte. Die beiden Digimon hatten es leicht geschafft, ihn und Elecmon von Taneo und Kokuwamon zu trennen. Dem Hagel aus Flammen und Kürbissen hatten sie nur ausweichen können, indem sie die nächstmögliche Zuflucht angesteuert hatten. In Jagaris Fall war das das Loch in der Wand gewesen, das der erste Kürbis hineingerissen hatte. Taneo war durch eine Tür im anderen Flügel verschwunden. Und nun jagten sie sie. Es war fast stockdunkel in diesem Haus, nur ab und zu erhellte eine Halloweenlaterne einen Raum. Elecmon schoss immer wieder Blitze ab, damit sie besser sehen konnten. Impmon zeigte sich nicht, aber er hörte es lachen, glaubte sein Gesicht in den Bildern zu sehen, die schief an der Wand hingen, oder im Spiegel, der umgestürzt und zerbrochen in einem der Räume lag. Die Zimmer, die er bislang gesehen hatte, waren entweder leer gewesen oder im Gegenteil vollgestopft mit allerlei unnützem Zeug. Spielsachen zumeist, die höchstens Kinder aus der Generation seiner Großeltern benutzt hätten. Keinen einzigen Computer gab es hier, dafür Modelleisenbahnen, Bauklötze und Stofftiere. Sie stolperten in einen weiteren Raum, gegen dessen Holztür Jagari taumelte, als das Haus sich wieder bewegte. Fast hätte es ihn auf die Nase geworfen, aber er fing sich mit der Hand an der Wand ab, spürte raues Tapetenmuster unter den Fingern. Der Boden war immer noch ganz aus Holz, und als er sich vorantastete, spürte er einen Bilderrahmen. Er hörte Elecmons trippelnde Schritte hinter sich. Im anderen Bereich des Gebäudes rumorte es. Hoffentlich war Taneo okay. Das Stampfen und Rumpeln drang sogar hier oben noch gedämpft an seine Ohren. Impmon hörte er nirgends. Ein gutes Zeichen? Eine blutrote Flamme flackerte auf und Jagari sah schemenhaft das Bild, das eine Art in sich gedrillten Berg zeigte. Er fuhr herum und sah den Ursprung der Flamme nahe der Wand gegenüber. Impmons Gesicht war geisterhaft dahinter zu sehen. „Was ist los? Geht dir schon die Puste aus?“ „Elecmon“, schnaufte Jagari. Er spürte kalten Schweiß auf seiner Stirn. Sein Digimon sprang vor ihn und schüttelte sich. Sein Schwanz glühte auf … Impmon lachte und führte die Flamme, die knapp über seinem Finger brannte, nach unten, wo das Licht eine Kanone aus der Finsternis riss, die auf Jagari zielte. Der Junge sog scharf die Luft ein, als es die Lunte entzündete. „Schnell weg!“ Er packte Elecmon unsanft an dessen Pinselohr und riss es mit sich. Eine Sekunde später dröhnte der Schuss in seinen Ohren, dass es darin klingelte. Die Kanonenkugel zerfetzte die Wand, riss Holzsplitter und Mauerbrocken und Steinmehl heraus, das in seinem Hals kratzte und ihn in eine weiße Wolke hüllte. Nicht einmal Husten nutzte etwas; jeder Atemzug fühlte sich an, als würde er Sand inhalieren. Fetzen der geblümten Tapete flogen vor seinen Augen herum. Eine scharfe Kante des Bilderrahmens flog an seinem Ohr vorbei, aber er hörte nicht, wie es auf dem Boden landete. Hatte der Knall ihn taub gemacht? Von eisigem Schrecken gepackt sah er sich nach Impmon um. Das Kobolddigimon lachte unhörbar und sprang lässig von der Kanone – und sein blutrotes Lichtlein erhellte das schwarze Eisen einer zweiten, die neben der ersten stand. Seinen eigenen Schrei hörte er ganz leise, als Jagari die Augen zukniff und weiterrannte, ehe die Erschütterung ihn von den Füßen riss. Der Geruch nach Schießpulver drang in seine Nase und er spürte den Luftzug, als die zweite Kanonenkugel sich ihren Weg bis ins Freie bohrte. Ohne richtig atmen zu können, kam er auf die Füße und taumelte weiter, stolperte, fiel hin, rappelte sich wieder auf, streckte die Hand nach der Türschnalle aus, die in dem Staubnebel sichtbar wurde, und stolperte in einen weiteren Raum, als die Tür nachgab. Hustend und würgend landete er auf dem Boden und wälzte sich auf den Rücken. Hier drin herrschte anderes Licht, grünlich und flimmernd. Aus den tränenden Augenwinkeln sah er, wie Elecmon die Tür zuwarf, sich kurz im Raum umsah und dann eine Art eisenbeschlagene Truhe vor sich her schob, um damit die Tür zu blockieren. „Warte … ich helfe …“ Mehr brachte er nicht heraus. Hustend krabbelte Jagari zu seinem Partner und half ihm, das schwere Ding vor den Türspalt zu schieben. Ein Stuhl, sie brauchten etwas, das die Schnalle auch blockierte … Als er sich umsah, stockte ihm der Atem.   Taneo war nur eine kurze Atempause vergönnt, die er nutzen musste. Pumpkinmon hatte, nachdem es ihn und Kokuwamon bis ins obere Stockwerk gejagt hatte, plötzlich gemeint, dass es langweilig wäre, ihnen keinen Vorsprung zu lassen. Statt Fangen wollte es Verstecken spielen. „Du könntest die Zeit nutzen, um zu digitieren“, murmelte er, während er im Licht von Kokuwamons knisternden Elektroden Schränke durchsuchte und Kisten durchwühlte. „Ich hab’s schon versucht“, meinte Kokuwamon kleinlaut. „Es geht noch nicht. Tut mir leid.“ Taneo sah in seine traurigen roten Augen und seufzte. „Nein, mir muss es leid tun. Du kannst sicher nichts dafür. Ich muss selbst kämpfen. Wenn man stark sein will, kann man nicht einfach alle Verantwortung auf andere abwälzen.“ Und er musste stark sein. Er hatte Jagari von den anderen fortgezogen, also war er schuld, dass sie beide hier gelandet waren. Aber wenn Pumpkinmon das Asura war, das verantwortlich für diesen Spuk war, und er es besiegte, irgendwie … Er schloss die Schranktüren. „Komm mit.  Ich weiß, wo wir hingehen.“   Jagari trat unsicheren Schrittes auf die beiden riesigen Monitore zu. Sie gaben grünliches Flimmern von sich, aber er erkannte eindeutig Bilder darin, wie von einer Nachtsichtkamera … Ein verwüsteter Wald, aufgewühlter Boden – und die anderen. Tageko, Fumiko, Renji und ihre Digimon, die winzig wie Ameisen herumrannten, und bei jeder Erschütterung, die durch das Haus lief, wenn es sich bewegte, zitterte auch der Boden. Weil es zwei Bildschirme waren, wirkten sie wie die Augen des hölzernen Titanen, die seine Beute fixierten. Jagari sah Renji etwas schreien, in den Armen Candlemon, das sich nicht mehr regte. Fumiko saß teilnahmslos am Boden und starrte auf ihr Ei, und Tageko rannte auf sie zu und versuchte sie in die Höhe zu zerren. Nur Mushroomon kämpfte so unermüdlich wie vergebens gegen die massigen Gliedmaßen des Hausmonsters. Jagari nagte an seiner Fingerkuppe. Und er war hier drin und konnte nichts tun! Es pochte gegen die Tür. Elecmon huschte in eine Ecke des Raumes und schob weitere Gegenstände dagegen, einen Hutständer, eine tote Lampe. Jagari konnte den Blick nicht von den Bildschirmen wenden. Er sah, wie seinen Freunden langsam, aber sicher die Puste ausging … Nein, es waren nicht seine Freunde, redete er sich ein, zumindest Renji war es nicht. Wann hatte er angefangen, von ihnen als Freunde zu denken? Sie lachten über ihn. Zumindest Renji tat es. Er hielt ihn für einen Schwächling, der nur in Computerspielen gut war, und das stimmte ja auch. Hier stand er, sah genau, was passierte, und konnte nichts, aber auch gar nichts tun, um ihnen zu helfen. Selbst wenn Elecmon Impmon besiegte, Pumpkinmon war ein Asura wie Scorpiomon, und sie kamen nie wieder aus diesem Haus raus, das die anderen bald in den Boden gestampft hatte … Zitternd sank er auf die Knie. Tränen tropften auf die Dielen, er hörte sie wieder, als sich die Watte von seinen Trommelfellen zurückzog. „Jagari?“ Elecmon trat neben ihn, kuschelte sich an ihn. „Was hast du? Du musst nicht weinen, ich bin doch da.“ Er streichelte seinem Digimon das Fell. „Warum hast du mich als Partner ausgesucht?“, fragte er verbittert. „Ich bin ja doch zu nichts nütze.“ „Das ist nicht wahr!“, protestierte Elecmon, aber Jagari hörte nicht auf es. „Wenn ich stark wäre wie Renji oder mutig wie Taneo, dann könnte ich vielleicht einen Weg hier raus finden. Aber ich kann das nicht. Ich bin klein, kränklich und nur ein dummer Träumer. Au!“ Ein milder Stromschlag kribbelte über seinen Arm. Elecmon schien ärgerlich. „Hör schon auf dich selbst zu bemitleiden. Renji und Taneo sind vielleicht stark und mutig, aber du kannst dafür was anderes.“ „Ja“, schnaubte Jagari. „Ich bin in den Top Twenty von Nightmare Bastion Wonderworld. Und ich kann mich in den Schulcomputer hacken, wenn ich muss, und meine Fehlstunden ausbessern. Was bringt mir das hier? Wie soll ich gegen böse Digimon kämpfen? Renji hat recht. Ich bin ein kümmerlicher Nerd und was wir bräuchten, wäre Durchschlagskraft.“ Die hatte Meramon zwar nicht genützt, wenn er Candlemon so auf dem Monitor sah, aber wenn es nochmal digitiert wäre, und nochmal und viel mehr Kraft aufgebaut hätte … Jagari wandte den Blick ab. Er wollte nicht sehen, wie seine … Freunde starben. Sie waren auf den Bildschirmen so klein, dass er ihre Gesichter kaum erkannte, aber er hatte das Gefühl, ihr letzter Ausdruck würde vorwurfsvoll sein. Eher zufällig sah er die Kritzeleien an der Wand. Jagari blinzelte. Und was war das jetzt? „He! Das gilt nicht! Mach auf!“ Während Impmon heftiger gegen die verrammelte Tür pochte und schimpfte wie ein Rohrspatz – die Kanonen schien es nicht bewegen zu können, sonst wäre es ihm ein Leichtes gewesen, den Weg freizuschießen – tappte Jagari apathisch zu den Schriftzeichen, die mit etwas wie Kohle auf die ganze Länge der Wand gemalt waren. Er hatte solche Symbole noch nie gesehen. Wahrscheinlich hatten sie keine Bedeutung. Sicher nur eine Art Spiel, wie es in diesem Haus Dutzende gab. Ein Zeichen sah fast aus wie ein Gesicht, und selbst das sah ihn vorwurfsvoll an, weil er so ein unnützer Schwächling war. Ärgerlich wischte Jagari mit dem Ärmel darüber, bis es verschwand – und plötzlich veränderte sich das Licht. Die Bildschirme leuchteten nicht mehr mattgrün, sondern alarmierend Rot. Ein Zahlencode aus Nullen und Einsen blinkte ihn an. Jagari runzelte die Stirn. War das so etwas wie eine Fehlermeldung? Er fand ein angespitztes Stück Kohle auf dem Boden liegen. „Mach auf! Du bist ein Feigling! Wir sind noch nicht fertig!“ Impmon rüttelte an der Tür, aber Elecmon hatte den Hutständer mit nur seinen Beinen so platziert, dass die Schnalle sich nicht nach unten drücken ließ. „Komm raus, dann kriegst du einen Vorsprung, ja? Bitte – Meister Pumpkinmon wird sonst böse auf mich!“ Jagari strich sich durchs Haar. Dort war noch so ein Gesicht-Zeichen. Er malte es so gut es ging ab, wieder auf die verwischte Stelle, und die Monitore flackerten kurz auf und zeigten wieder die Bilder der Kameras. Jagaris Gedanken rasten. War das eine Art Computerprogramm? Er hatte einen Teil davon gelöscht und dann hatte es nicht mehr funktioniert … aber was, wenn die Zeichen nicht nur für die Monitore waren? Er leckte sich über die Lippen. „Was ist das, Jagari?“, fragte Elecmon. „Warte, stör mich jetzt nicht. Schau, dieses Zeichen da beendet immer eine Zeile … und das da …“ Er veränderte eines der Symbole in der Linie, die für die Monitore stand, und prompt änderte sich der Blickwinkel. Nun war der Wald hinter dem Titan sichtbar. „Das steht für die Richtung von etwas, Elecmon!“, rief er aufgeregt. „Hä?“, machte sein Partner fragend, als Jagari an der Wand entlang huschte. „Das ist ein Programm! Dieses Haus ist kein lebendes Digimon, es ist nur so etwas wie ein Bot! Hier stehen die Anweisungen, die es ausführt! Wenn ich herausfinde, was die Zeichen bedeuten, kann ich es umschreiben!“ Er hätte nie für möglich gehalten, dass so etwas funktionieren könnte, immerhin hatte die Kohle auf der Wand keinerlei Verbindung zu den Monitoren oder zu irgendetwas anderem in diesem Haus. Aber sie waren hier in der DigiWelt … die sie durch einen Computer betreten hatten, und in den Weiten des Netzes oder auch in einem Computerspiel waren solche Zusammenhänge schließlich nicht unmöglich. „Und kannst du das? Das herausfinden, meine ich.“ Jagari überflog das Geschriebene. Manche Zeichen kamen recht oft vor, andere kaum, wieder andere traten immer in Paaren auf. Seine Augen ruckten von links nach rechts, von oben nach unten. Das war fast wie Hacken … wie Entschlüsselungen, aber einfacher, weil er die Möglichkeiten durchprobieren konnte … Er setzt Striche hier und da, löschte da und dort Symbole oder Teile davon weg, stieg auf einen Hocker, den Elecmon herbeischleppte, um bis ganz nach oben zu gelangen … Das Haus machte immer wieder ruckartige Bewegungen, die ihn fast von den Füßen rissen, als ob es sich dagegen wehrte, dass jemand seine Gedanken umschrieb, aber die Euphorie, die Jagari ergriff, wurde immer stärker. Bald lächelte, strahlte er, als das Ändern eines Zeichens wieder einmal genau das bewirkte, was er erhofft hatte. Impmons Zetern und Rufen wurde immer drängender, und Jagari konnte nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war, seit er begonnen hatte, das Programm zu entschlüsseln. Er hatte sich mit der Kohle Notizen auf dem Boden gemacht, die das Haus nicht zu betreffen schienen. Erleichtert lachend sprang er von seinem Hocker. „Elecmon!“, hauchte er. „Ich hab’s entschlüsselt! Ich weiß, wie das Programm arbeitet!“ Jauchzend sprang ihm sein Digimon in die Arme und er drückte es fest. Sein Grinsen wollte nicht verschwinden. Er hatte es geschafft, es war sein Verdienst, er war doch nicht nutzlos! Er sah zu der Tür, die bereits stark bebte, als Impmon mit etwas dagegenschlug. Darunter hatte sich Ruß angesammelt, als es versucht hatte, sie aufzubrennen. Die Monitore zeigten, dass seine Freunde noch immer am Leben waren, auch wenn sie kaum noch die Kraft hatten, den wütenden Beinen des Titanen auszuweichen. Jagari atmete tief durch. Immer noch grinste er. Es war genau umgekehrt. Er war nicht überall sonst ein Schwächling – er hatte eine konkrete Stärke! Und das Haus hier funktionierte über ein Computerprogramm, mit anderen Worten, das hier war sein Terrain, seine Metier, sein Hobby! Wie konnte irgendein Asura eigentlich erwarten, ihn mit so etwas zu besiegen? Mit fliegenden Schritten sauste er an der Wand entlang, während vor der Tür der Hutständer unter den ständigen Erschütterungen zur Seite rutschte und sie sich einen Spalt öffnete, sodass heißes Fackellicht in den Raum drang. Mit seinem Kohlestück schrieb er das Programm diesmal gezielt um, befahl dem Haus, Arme und Beine stillzuhalten und sich langsam hinzuknien. Es war eine ganze Menge an Symbolen, die er dafür ändern musste, vor allem, da er sämtliche Selbstverteidigungssysteme abschalten musste, für den Fall, dass Mushroomon wieder angriff. Als er fertig war, betrachtete er lächelnd sein Werk und warf die Kohle zur Seite. Ein Blick in die Monitore zeigte ihm, dass das Haus seinen Befehlen folgte. Es neigte sich langsam nach vorn, nur ein kleines bisschen, und sank auf den Waldboden zu. Die Tür ruckte noch ein Stück auf und Impmon zwängte sich hindurch. Draußen war ein ferngesteuertes Plastikauto zu sehen, so groß wie ein Aufsitzrasenmäher, das das Digimon benutzt hatte, um die Tür zu bezwingen. Impmon keuchte schwer. „So“, sagte es. „Und jetzt entkommt ihr mir nicht mehr.“ Auf jedem seiner sechs Finger erschien eine Flamme und es sah verbissen aus. „Wir?“ Jagari strahlte es an. „Überleg lieber, wie du uns entkommst!“ Er löschte ein simples Symbol von der Wand, das die Zeile einleitete, die er komplett selbst verfasst hatte, und ihre Ausführung unterdrückt hatte. Impmon erstarrte. Es schien zu wissen, was sie bedeutete. „Du … du hast … jedes einzelne Zeichen verstanden? Die stammen noch aus der Zeit von Meister Pumpkinmons Meister!“ „Und ich hab sie nicht nur umgeschrieben, sondern sogar noch ergänzt.“ Noch ehe Jagari ausgesprochen hatte, zersplitterte die Wand hinter Impmon. Ein Holzarm brach herein, als der Titan seine eigene Schulter durchbohrte. Einer der Monitore zeigte Impmon von hinten; Jagari hatte eine der Kameras daran gehängt, mit denen das Haus selbst sah und nun nach seinem Opfer suchte. Impmon schrie und zeterte, als die Finger sich blitzschnell um seinen schmächtigen Körper schlossen. Alleine zwischen Daumen und Zeigefinger des Titanen eingeschlossen verschwand es fast. „Lass mich frei, sofort! So haben wir nicht gewettet!“ Die Flammen erloschen, als das Digimon seine Hände nicht mehr frei bekam. Es wand sich wie ein Aal, aber es konnte dem Griff nicht entkommen. „Verflucht sollst du sein! Ihr Menschen solltet alle sterben! Was fällt euch ein, uns so zu ärgern! Ihr dürftet keine Chance haben! Ihr seid nichts, ihr seid weniger als nichts!“, spuckte es ihm entgegen. „Ihr hättet mich halt nicht in einem computergesteuerten Haus zum Kampf auffordern sollen“, meinte Jagari. „Denn das kann ich, und wenn die DigiWelt so beschaffen ist, wie ich glaube, dann kann mich hier nichts und niemand in die Enge treiben! Hacken kann ich am besten, und ich werde meine Freunde damit retten!“ Seine Miene wurde finster und entschlossen. „Also sag nie wieder, ich wäre nichts!“, brüllte er Impmon entgegen, und in dem Moment fing sein DigiVice Feuer. Das glühende Licht war dasselbe wie das damals bei Renji. Er wusste, was nun geschah, und Impmons Pupillen wurden winzig klein, als das fiese Digimon es ebenfalls erkannte. Elecmon erstrahlte in gelbem Licht, änderte seine Form, wuchs und wuchs … und durchbrach die Decke des Raumes. Ein Dinosaurier, ähnlich wie DarkTyrannomon, nur dass er rot war und nicht so finster dreinsah, erschien an seiner Stelle. „Danke, Jagari“, grollte er. „Ich habe schon befürchtet, du machst es ganz alleine platt.“ Es öffnete sein Maul und bückte sich, um in dem Zimmer Platz zu haben. „He, warte, das kannst du nicht machen!“, rief Impmon und versuchte, seinem hölzernen Gefängnis zu entkommen. „Seit wann schießt man mit Kanonen auf Spatzen? Das ist nicht witzig! Das macht keinen Spaß! Verflucht sollt ihr sein! Die Asuras werden euch alle vernichten, Meister Pumpkinmon wird euch in Kürbissuppe kochen!“ Der Rest ging in einem Schrei unter, als das Dinosaurierdigimon es in einen Schwall brennenden Atems hüllte. Selbst Jagari spürte am anderen Ende des Raumes noch die Hitze. Als die Stichflamme verglüht war, war die Hand des Titanen rußgeschwärzt und mit Glutnestern übersät. Impmon war nirgends mehr zu sehen. Jagari atmete tief aus. „Gut gemacht. Einer weniger, der uns töten will.“ Er sah zu seinem Digimon-Partner hoch. „Und wie heißt du in dieser Form?“ Der Dinosaurier grinste. „Ich hoffe, du hast keine Abneigung gegenüber Tyrannomon entwickelt.“ Jagari lächelte schwach. Er ließ das Programm stehen, wie es war, und ging auf das Loch in den Wänden zu, das der hölzerne Arm gerissen hatte. Es führte jetzt annähernd ebenerdig in den Wald hinaus. Tyrannomon folgte ihm gebückt, fast kriechend, ins Freie.   Pumpkinmon kam auf einer Spielzeugeisenbahn die Treppe heraufgerumpelt. Anscheinend hatte es seine Zeit damit verbracht, die Schienen zu legen. Nun saß es auf der Lok, mit seinem geistlosen Halloween-Lächeln im Gesicht. Das letzte Stück war eine Rampe; der Zug sprang in die Höhe und rutschte ein Stück den Flur entlang. An dessen Ende sah Pumpkinmon Taneo stehen, direkt vor dem Fenster, den Fuß lässig auf eine Truhe gestützt. Das ganze Haus hatte gewackelt, als würde es auseinanderbrechen, und dann, während er auf Pumpkinmon gewartet hatte, hatte er gesehen, wie sich die Baumkronen näherten und das Hausmonster sich anscheinend hingekniet hatte, warum auch immer. Er wäre aus dem Fenster gesprungen, aber er war hier im ersten Stock und es gab an der Stelle längst kein weiches Blätterdach mehr, höchstens zersplitterte Baumstümpfe, die einen aufspießen konnten. „Nanu?“, machte Pumpkinmon. „Wieso hast du dich nicht besser versteckt? Ich hab dich ja gleich gesehen! Oder willst du lieber wieder Fangen spielen?“ „Nein“, sagte Taneo gedehnt, während Pumpkinmon ihn erwartungsvoll ansah. „Wer stark sein will, darf nicht davonlaufen. Nicht, wenn er einen Plan hat.“ Damit zog er seine Hände hervor, die er bislang hinter dem Rücken versteckt gehalten hatte. In jeder hielt er einen langläufigen Westernrevolver aus schwarz glänzendem Eisen, die er in einem der Schränke gefunden hatte. Pumpkinmon riss die Arme hoch, versuchte, einen Kürbis erscheinen zu lassen, und Taneo drückte ab. Die Kugel sprengte ein kleines Stück aus Pumpkinmons Kürbisschädel heraus, was das Asura schreiend zur Kenntnis nahm. Taneo schoss weiter und das Digimon begann einen obskuren Tanz aufzuführen, um den Kugeln auszuweichen. Zielen war nicht einfach, immerhin hatte Taneo noch nie mit Waffen zu tun gehabt. Auch schoss er nicht mit beiden gleichzeitig, damit hätte er sich überfordert. Als das Magazin des Revolvers leer war, warf er ihn weg, wechselte den anderen in die rechte Hand und machte weiter. In der Menschenwelt hätte er Pistolen und dergleichen nicht angerührt – auch nur jemanden damit zu bedrohen war strafbar, nach allem, was er wusste. Aber hier überwachte ihn niemand, hier galt es, jedes Mittel auszunutzen, um die DigiWelt zu retten! Als er auch die zweite Waffe leergeschossen hatte, stützte Pumpkinmon keuchend die Hände auf die Knie. „Nicht schlecht … Du spielst gut … aber mein Meister war um Längen besser … Jawohl … Der konnte ein Ultra-Digimon mit einem Schuss töten … Jawohl, er konnte viel besser zielen als du … Und jetzt hab ich dich! Halloweenstreich!“ Abermals riss es die Hände hoch und ein Kürbis, so groß, dass er den ganzen Gang ausfüllte, erschien vor ihm und schob sich auf Taneo zu, erst träge, dann immer schneller, um ihn entweder zu zerquetschen, zu erschlagen oder aus dem Fenster stürzen zu lassen. Genau das hatte er erwartet. Taneo stieß mit der Schuhspitze die kleine Truhe unter ihm auf und holte die klobige, schwarze Maschinenpistole daraus hervor. Er fragte sich längst nicht mehr, warum man Menschenwaffen in einem lebenden Digimon-Haus voller Spielsachen aufbewahrte. Das Ding war ungewöhnlich schwer, er brauchte beide Hände dazu. Aber es war durchschlagskräftig. Knatternd und zitternd entließ die Automatik einen Kugelhagel, während die Pistole die Patronenhülsen ausspie und Taneo den Rückstoß im ganzen Arm spürte. Die Kugeln durchschlugen die Schale des Kürbisses nicht nur, sie zerfetzten sie regelrecht, fransten riesige Löcher in die Rückseite und suchten sich ihren Weg bis zu Pumpkinmon. Es war fast unmöglich, sauber zu zielen, aber allein die Feuerrate zerfleischte den Kürbis so sehr in einem Regen aus spritzendem hellem Fruchtfleisch, dass er in sich zusammenfiel, noch bevor er Taneo erreicht hatte – und das war der Moment, in dem er losstürmte. Er sprang über die glitschigen Schalenstücke am Boden hinweg und durch auf ihn hereinbrechendes Fruchtfleisch und Saft hindurch und schoss im Laufen weiter, stanzte Löcher in den Boden vor Pumpkinmon, das erschrocken aufquiekte. „Du kriegst mich nie!“ Es sprang in die Höhe und landete auf einem kleineren Kürbis, auf dem es wie auf einem Frisbee herumschwenkte und davonschoss, den Flur entlang und der Treppe entgegen. In dem Moment schwang eine der Türen dort auf und Kokuwamon kam herausgeflogen. Pumpkinmon konnte nicht rechtzeitig ausweichen, als die elektrischen Kontakte des Käfers es auch schon in die Brust piekten und von seinem Flugkürbis rissen, an Taneo vorbei, wo das Digimon anhielt und das Asura gegen den Boden prallen ließ. Taneo trat ein paar Schritte auf ihn zu. „Sag bloß, du hast vergessen, dass ich auch noch ein Partnerdigimon habe?“ Er setzte Pumpkinmon die Maschinenpistole an den Kürbiskopf. „Das war’s mit deinen Untaten!“ Das Halloweendigimon glotzte ihn fassungslos an. „Aber das geht doch nicht, ich bin doch ein …“ Taneo sah aus den Augenwinkeln einen Kürbis erscheinen und drückte ab. Die Waffe ruckte so in seiner Hand, dass jeder Schuss eine andere Stelle traf. Pumpkinmon kam nicht mal dazu, zu schreien. Sein Kürbisschädel wurde perforiert wie eine Autokarosse im Sperrfeuer in einem Actionfilm. Das waren keine gewöhnlichen Waffen, sondern sie waren hier in der DigiWelt hergestellt worden, da war er sich sicher. Und Pumpkinmon hatte selbst gesagt, dass man damit sogar Ultra-Digimon töten konnte, was immer das genau sein mochte. Aus dieser Nähe und bei dieser Feuerrate war die Wirkung verheerend. Während Taneos Hände langsam vom Rückstoß kribbelten, zerbarst Pumpkinmons Gestalt plötzlich in tausend funkelnde Splitter. Taneo hörte zu schießen auf und sah ihnen erstaunt zu, wie sie davontrieben, durch das mittlerweile zersprungene Fenster hindurch himmelwärts. Haute Pumpkinmon ab? Oder war es … tot? Dann hatte er ein Digimon getötet. Mit eigenen Händen. Aber es war ein Asura gewesen, ein Tyrann, vor dem die DigiWelt gerettet werden musste. Er sah zu Kokuwamon, das dem Funkeln ebenfalls nachblickte. Wahrscheinlich war es so gedacht gewesen, dass ihre Digimon die Drecksarbeit erledigten und die Asuras töteten. Warum sollten nur sie ihre Hände schmutzig machen? Wenn er stark sein wollte, konnte er nicht alles Kokuwamon aufbürden. Er trat ans Fenster, lehnte sich die Maschinenpistole an die Schulter und sah hinaus, aber das Glitzern war längst verschwunden. „Taneo!“ Renjis Stimme. Er kam die Treppe hochgelaufen, wahrscheinlich hatte er einen Weg in das Haus gefunden und die Schüsse gehört. „Alter … was ist denn mit dir passiert?“, fragte er und starrte ihn an, als er ihn da am Fenster stehen sah, die Waffe lässig in der Armbeuge und über und über mit Kürbisfruchtfleisch bekleckert. „Nichts. Es geht mir gut.“ Er legte die Waffe ab, vorsichtig, damit sie nicht etwa losging. Etwas in ihm sträubte sich dagegen, sie je wieder zu benutzen, aber er hatte schließlich keine Wahl gehabt. „Ich … Ich glaube, ich habe einen Asura …“ Er sah wieder stirnrunzelnd beim Fenster hinaus. „Kokuwamon, was passiert, wenn ein Digimon stirbt?“ „Hast du das bei DarkTyrannomon nicht gesehen?“, platzte Renji heraus. Taneo schüttelte den Kopf. „Sie lösen sich in so krasse, glitzernde Wolken auf. Zumindest das Dino-Vieh damals.“ „Also tatsächlich.“ „Jetzt sag schon, was zum Geier war denn los? Wo hast du die Knarre her?“ „Das ist eine lange Geschichte“, seufzte Taneo. „Weißt du, wo die anderen sind? Geht es euch allen gut?“ „Mehr als das.“ Renji wich seinem Blick aus und rümpfte kaum merklich die Nase, als wäre irgendetwas passiert, das ihm gegen den Strich ging – oder ihn zumindest in Verlegenheit brachte. „Komm mit nach draußen. Sieht so aus, als hätte Jagari uns allen die Haut gerettet. Und sein Tierchen ist digitiert.“ Kapitel 12: Der Feind auf leisen Sohlen --------------------------------------- Kouki wurde unsanft und mit einem Ächzen aus seinem unruhigen Schlaf gerissen, als Ogremon sich grunzend herumdrehte und sein Fuß in seiner Magengrube landete. Kouki schob das übelriechende, mit harter Hornhaut überzogene Ding von sich und lehnte sich seufzend wieder zurück. Der Boden war kalt, hart und rau und der staubige Turm über ihm so hoch, dass das obere Ende in Dunkelheit verschwand, obwohl es auf der Seite einige eckige, leere Fenster gab, die Mond- und Sternenlicht hereinließen. Wieder seufzte Kouki, als er die Hand ausstreckte, um Salamon, das neben ihm schlief, hinter dem Ohr zu kraulen. Wie lange war er jetzt schon in dieser Welt? Konnten es wirklich erst zwei Tage und zwei Nächte sein? Es kam ihm alles schon so natürlich vor … dass er hier mit einem grünen Monster unter einem Dach schlief, dem er eigentlich gar nicht trauen durfte, und dass er ein Wesen zum Freund gewonnen hatte, das Hund und Katze in einem war … Würde er überhaupt wieder nachhause kommen? Sah das Schicksal, falls es so etwas hier gab, überhaupt seine Rückkehr vor? Irgendwann döste er wieder ein und wurde abermals wach, als Ogremon sich wieder herumdrehte. Verschlafen blinzelte er in den Sternenhimmel. Waren wohl die anderen auch noch in dieser Welt? Was, wenn sie geschnappt worden waren? Dann hätte er nichts tun können, um ihnen zu helfen … Er wollte sich zur Seite drehen, als ihm etwas auffiel. Plötzlich lief ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Sternenhimmel? Direkt über ihm? Da war doch … Er setzte sich auf. Dort waren tatsächlich glühende Punkte, direkt über ihm. Irgendetwas sagte ihm, dass es keine Glühwürmchen waren … „Ogremon“, flüsterte er. „Salamon.“ Sein Partner war sofort munter, aber das grüne Digimon musste er erst kräftig in die Seite knuffen, bis es Anstalten machte aufzuwachen. Kouki haderte mit sich, ob er sein Handydisplay nach oben richten sollte … Schließlich tat er es doch. Der Lichtstrahl wanderte durch in der Luft tanzenden Staub, über weiße Flecken auf den Wänden und Rissen in der grauen Decke … bis zu einem riesigen, haarigen, vielbeinigen Etwas, das kopfüber inmitten eines riesigen Spinnennetzes saß und, als das Licht es streifte, fauchend ein Maul voller geifernder Zähne entblößte – und sich dann einfach fallen ließ. Kouki schrie so laut, dass es in seinen eigenen Ohren klingelte, aber er war unfähig, sich zu bewegen. Während Salamon helles Licht einhüllte, rollte sich Ogremon herum und stieß die Faust in die Luft.   Als Persiamons Kutsche endlich ankam, rieb es sich schon freudig die Hände. „Du bleibst hier“, sagte es zu dem einen PawnChessmon und bedeutete dem anderen, ihm zu folgen. Auf Samtpfoten ging es auf das alte Tor der noch viel älteren Burg zu, die so klein war, dass wohl höchstens Karatenmon damit zufrieden gewesen wäre. Das Digimon brauchte ja nur eine Höhle, in der es verrotten konnte. Innerlich lachte Persiamon immer noch über Pumpkinmons Einfalt, während es mühelos die Tür aufdrückte, die sogar einen Spalt offenstand. Wie nachlässig konnte man eigentlich sein? Ein merkwürdiger Geruch drang in die feine Nase des Katzendigimons, den es schon in Digitamamons Restaurant aufgeschnappt hatte. Es unterdrückte ein Stirnrunzeln und wandte sich nach links. Es schlich in den Turm und schnupperte erneut. Seine beiden Schwänze pendelten aufgeweckt. Die Turmkammer war leer, aber der Geruch kam eindeutig von hier. Bis vor kurzem war hier noch jemand gewesen, der auch in dem Restaurant gegessen hatte. Persiamon konnte die verschiedenen Gerüche nicht differenzieren; Cerberusmon war viel besser in so etwas, sollte es das Hundedigimon fragen? Nein, dann würden sich die anderen noch wundern, warum es hierhergekommen war … Eine böse Vorahnung beschlich Persiamon, als es an sein ursprüngliches Ziel dachte. Es kehrte in den Hauptraum zurück. „Mach das auf“, herrschte es das PawnChessmon an, das mit seiner Lanze die Falltür aufstemmte. Elegant sprang Persiamon hinein, wobei kein Laut zu hören war. Es war so dunkel, dass selbst seine scharfen Augen nichts erkennen konnten, aber das machte nichts. Es wusste ja, wonach es suchte, und Fallen würde Pumpkinmon schon nicht aufgestellt haben. Blind tastete es sich bis zu einer massiven Eisentür vor, fand das Schlüsselloch, holte Pumpkinmons Schlüssel hervor und stutzte, als es die Tür aufschließen wollte. Sie war bereits offen. Verdammt! Persiamon stieß sie auf und huschte in den Raum dahinter. Eilig tastete es jeden Zentimeter des Bodens und der Wände ab, sogar die niedrige Decke. Die Eier waren fort. Jemand hatte die DigiArmorEier geklaut! Unter den Dienern der Asuras sagte man sich, dass es besser war, Persiamon niemals wütend zu begegnen. Zumindest das PawnChessmon, das ihm in den Keller gefolgt war, sah das Sonnenlicht nie wieder.   „Du weißt wirklich nicht, was du willst. Sind alle Menschen solche Feiglinge wie du? Ich frag mich schön langsam, warum ich überhaupt auf dich höre“, maulte Ogremon. „Wenn sich herausstellt, dass wir vor einem hübschen, erfrischenden Kampf davongelaufen sind, kannst du was erleben!“ „Du bist doch der, der gesagt hat, ein echter Krieger braucht keinen Schlaf“, brummte Kouki schlecht gelaunt. Er trug die seltsamen Skulpturen, die sie in Ogremons Mantel gewickelt hatten, auf dem Rücken und stolperte mehrmals fast über tückische Wurzeln. „Selbst wenn noch mehr Dokugumon in der Ruine gewesen wären, fändest du es nicht langweilig, gegen sie zu kämpfen?“, fragte Gatomon, das neben Kouki her tappte. In dieser Form fand er es irgendwie erwachsener. „Pah! Wenn es viele auf einmal gewesen wären, würd mir das reichen“, meinte Ogremon großspurig, aber selbst es schien nicht zu hoffen, dass noch mehr dieser Digimon in der winzigen Ruinen lebten. Nachdem Ogremons einzelne Kaiserfaust, wie es die Attacke nannte, das Spinnendigimon pulverisiert hatte, waren sie aufgebrochen. Kouki wollte nicht unbedingt dort schlafen, wo gerade erst ein Digimon gestorben war, auch wenn es sich sauber in kleine Fragmente aufgelöst hatte, die verschwunden waren. Und außerdem hätten vielleicht wirklich noch andere, gruseligere Digimon in der Dunkelheit gelauert. Also hatten sie sich wieder auf den Weg gemacht, Kouki mit schmerzendem Nacken und immer noch müde, um irgendwo einen sicheren Lagerplatz unter freiem Himmel oder in einem richtigen Dorf zu suchen, wie das der MudFrigimon. Am besten auf einem Hügel. Am besten von einer hohen Mauer umgeben.   Renji erzählte Taneo, was geschehen war, während sie die Treppe hinunter ins Erdgeschoss des zur Ruhe gekommenen Hauses und dann zur Tür gingen, von der man, weil der Titan kniete und das Gebäude daher schräg stand, einen halben Meter bis zum Waldboden hüpfen musste. Er bemühte sich, alles ein bisschen runterzuspielen, aber selbst wenn er sich nur auf das Wesentliche beschränkte, sickerte immer noch durch, wie unglaublich Jagari gewesen war. „Er hat also den Code geknackt, mit dem dieses Haus arbeitet?“, hakte Taneo nach. „Hat er gesagt. Deswegen hat es aufgehört, uns zertreten zu wollen, und hat sich … ja, hingekniet, ich weiß, wie lächerlich das klingt. Und dann hat Jagari noch was dazugeschrieben, zu diesem Programm, und das Haus hat in sich selbst gegriffen und ein feindliches Digimon festgehalten, während sein …“ „Elecmon.“ „Genau. Während das digitiert ist. Das Vieh sieht jetzt so aus wie DarkTyrannomon, wenn du mich fragst.“ Renji rümpfte die Nase. „Sie sind durch das Loch in der Wand raus und zu uns gegangen. Ich war ja ganz cool, aber die Mädchen waren völlig aufgelöst.“ In Wahrheit hatte Renji gejauchzt und Tyrannomon dann furchtsam angestarrt, und Tageko hatte nur erleichtert geseufzt, aber das brauchte er Taneo ja nicht unbedingt auf die Nase zu binden. Es schmeckte ihm ohnehin nicht, dass nun auch einer der anderen sein Digimon hatte digitieren lassen. „Fumiko ist dem Kleinen sogar um den Hals gefallen. Kannst du dir das vorstellen? Das hat sie bei mir nicht gemacht, als Candlemon digitiert ist.“ „Bei Jagari wusste sie ja auch, dass er dabei keinen falschen Eindruck bekommen würde“, sagte Taneo trocken. „Was willst du damit sagen?“ Es kam nicht ganz so aggressiv heraus, wie er es gern gehabt hätte. Renji gestand es sich nur ungern ein, aber plötzlich hatte er Respekt vor Taneo. Seit er ihn dort oben stehen gesehen hatte, die Maschinenpistole im Arm und mit gelblichem Schleim beschmiert, der wie Alienblut aus einem Science-Fiction-Film ausgesehen hatte, und der dann noch verkündete, er hätte ein verdammtes Asura getötet, kam ihm Taneo seltsam … erwachsen vor. Sogar größer, irgendwie. Wobei er ihm den Teil mit dem Asura trotzdem nicht abkaufte – SkullScorpiomon war ein Asura, und das Biest konnte niemand besiegen, und bei DarkTyrannomon hatten sie sein hochloderndes Meramon gebraucht. Taneo kam nicht dazu, zu antworten, denn sie erreichten die anderen. An der Stelle im Wald war alles Grün verschwunden, in den Boden gestampft worden, der so gründlich durchgepflügt worden war, dass selbst die Baumstümpfe entwurzelt und schon wieder halb mit schwarzer Erde bedeckt waren. Dazwischen standen die anderen und bestaunten das fast haushohe Tyrannomon, und Jagari erzählte ihnen aufgeregt, wie er dieses feindliche Digimon bezwungen hatte. Noch detaillierter, als Renji es schon einmal mitangehört hatte, ehe er Candlemon an einen Baumstamm gelehnt und auf Tagekos Geheiß hin Taneo gesucht hatte. Das ältere Mädchen wandte ihnen den Blick zu. „Taneo, geht es dir … Was war denn los?“ Renji grinste. „Er sieht aus wie ausgekotzt, stimmt’s?“ Taneo deutete auf Jagari. „Er zuerst. Was ist alles passiert?“ Also musste Renji noch einmal die ganze Geschichte über sich ergehen lassen. Am Ende strahlte Jagari frech und schien völlig vergessen zu haben, dass er eigentlich erkältet war, und Taneo sah stirnrunzelnd zu Renji hoch. Entwaffnend hob dieser die Arme. „Okay, vielleicht hab ich die Geschichte nicht ganz so gut wiedergeben können.“ „Jagari hat gesagt, ihr wärt getrennt worden und ein Asura wäre dir auf den Fersen“, berichtete Fumiko. Taneo lächelte. Offenbar freute er sich tierisch über sein Glück; Renji war sich nicht sicher, ob er ihn je lächelnd gesehen hatte. „Ich habe es getötet. In dem Haus waren Waffen versteckt, mit denen konnte ich kämpfen.“ Trotz seines stolzen Lächelns sagte er das so beiläufig, als wäre es gar keine große Sache – Renji zum Beispiel hätte diesen Bericht mit einigen schlagkräftigen Adjektiven ausgeschmückt. Die Wirkung auf die anderen war dafür umso größer, sie starrten Taneo mit offenen Mündern an und waren sprachlos. Toll. Jetzt hatten die beiden Jüngeren Renji endgültig die Show gestohlen.   Es war Taneo ein wenig unangenehm, von ihren Fragen bestürmt zu werden. Vielleicht lag es daran, dass er es nicht gewohnt war. Üblicherweise erntete er mit keiner seiner Taten Ruhm. Als er Shuichi vor Renji gerettet hatte, hatte auch nur er selbst je wieder ein Wort darüber verloren. Früher einmal, als er auf dem Kinderspielplatz eingegriffen hatte, als ein paar halbstarke Rüpel einen Nachbarsjungen verprügeln wollten, hatte er sich nicht nur ein blaues Auge eingehandelt, sondern auch Schimpf und Schande, als die Eltern der Halbstarken in die Rauferei eingeschritten waren und ihn einen ungezogenen, ungehobelten Jungen genannt hatten, der ihre armen Schützlinge beschimpft und angegriffen hatte. Seit diesem Tag hatte Taneo die anderen, subtileren, gewaltfreien Wege zu nutzen gelernt. Da war es schon seltsam, nun so viel Aufmerksamkeit zu erhalten, weil er einem Asura den Kürbis weggesprengt hatte. Sogar Tageko richtete einige interessierte Fragen an ihn, die nicht unbedingt nüchterner Natur waren – gleich nachdem sie ihn gerügt hatte, wie unverantwortlich es doch wäre, mit Waffen zu spielen. Jagari schien es ihm nicht übel zu nehmen, dass er ihm nun ein wenig die Show stahl. Er schien für sich entschieden zu haben, dass seine Errungenschaft sich mit keiner anderen vergleichen ließ, und war zufrieden damit. Das war gut; Taneo vergönnte ihm das. Der Einzige, der schlecht gelaunt schien, war natürlich Renji, aber auch der fragte einiges zu Pumpkinmons Fähigkeiten, wenn auch wahrscheinlich nur deshalb, um feststellen zu können, dass es kein gefährlicher Gegner gewesen war. Auch die Digimon sprachen ihm ihren Beifall aus, ein Asura besiegt zu haben, Candlemon trotz seiner Erschöpfung feurig und kameradschaftlich, Mushroomon schüchtern, aber bestimmt, und Tyrannomon war belustigt darüber, wie Pumpkinmon zwischen den Kugeln getanzt hatte. Nur sein eigener Partner hielt sich zurück, aber Taneo glaubte zu wissen, was Kokuwamon bedrückte. Als Tyrannomon zurückdigitierte und die Unterhaltung wieder zu Jagari umschlug – Fumiko fragte ihn, ob er ihr die Digimon-Zeichen erklären konnte, und Tageko wollte wissen, wie gut er das Haus kontrollieren konnte –, ging er deshalb neben dem Käferdigimon in die Hocke, das sich ein wenig abseits aufhielt. „Alles klar bei dir? Du hast dich doch nicht verletzt, oder?“ Kokuwamon sah ihn mit roten Perlenaugen an. Es war schwierig, darin zu lesen, aber irgendwie glaubte Taneo, ihren Ausdruck zu verstehen. „Nein. Ich meine, ja, alles in Ordnung.“ Seine Stimme war immer noch piepsig, obwohl es nicht mehr Kapurimon war. „Dann ist ja gut. Danke, dass du mir geholfen hast. Allein hätte ich viel zu viel Angst gehabt. Ich hätte sicher so sehr gezittert, dass ich mir selbst ein Loch in den Kopf gepustet hätte.“ Es musterte ihn, als versuchte es festzustellen, ob er das sarkastisch meinte. „Aber …“, meinte es dann nur, klappte seine Flügel aus und versuchte wegzufliegen, aber Taneo hielt es an seinem Beinchen fest. „Moment. Du glaubst, ich würde dich nicht brauchen, stimmt’s?“ Wie ein geschlagener Pudel sank Kokuwamon wieder zu Boden und wich seinem Blick aus. „Es tut mir leid, Taneo. Ich schäme mich.“ „Ja, schäm dich“, sagte er und wartete, bis es ihn wieder ansah. Er lächelte zuversichtlich. „Schäm dich, weil du glaubst, ich bräuchte dich nicht. Ohne dich wäre der Plan in die Hose gegangen.“ „Aber ich … Elecmon ist digitiert und hat Impmon dann besiegt, und ich bin nur …“ „Nur, weil wir Pumpkinmon besiegt haben, ohne dass du digitieren musstest, heißt das doch nicht, dass ich dich nicht brauche“, unterbrach Taneo es. „Sieh es so: Wir waren so stark, dass du gar nicht digitieren musstest. Irgendwann wird es dann so weit sein, und dann kämpfen wir wieder gemeinsam, und du bist stärker als jetzt.“ Kokuwamon schien noch nicht ganz überzeugt, also deutete Taneo auf die anderen. „Wir haben gut zusammengearbeitet, du und ich. Stell dir vor, ich wäre allein gewesen. Pumpkinmon wäre abgehauen. Stell dir vor, ich hätte Meramon als Partner. Pumpkinmon hätte die Hitze auf zehn Meter gespürt und wäre gar nicht in unsere Nähe gekommen. Mushroomon wäre zu langsam gewesen, um es zu erwischen. Und wenn ich Tyrannomon bei mir gehabt hätte … Gut, es wäre vielleicht im Boden eingebrochen, ich mit ihm, und ich wäre zwischen seinen Zähnen hängen geblieben und wir hätten ein so lächerliches Bild abgegeben, dass Pumpkinmon sich zu Tode gelacht hätte.“ Kokuwamon kicherte leise. „Du redest Unsinn“, meinte es kindlich. „Stimmt nicht“, beharrte er. „Ich hab das genau analysiert und komme nur zu diesem Ergebnis. Du bist der perfekte Partner für mich. Und als Nächstes lassen wir dich digitieren, ja?“ Diesmal zögerte es nicht mehr. „Ist gut, Taneo“, sagte das Käferdigimon. Seine Elektroden blitzten kurz auf, als sie sich die Hand reichten.   Ein Rumpeln rüttelte Fumiko aus dem Schlaf und für einen Moment wusste sie nicht, wo sie war. Über ihr waren schräge, alte Holzbalken, und sie lag in einem warmen, weichen Bett, das selbst für sie zu klein war. Der Boden schwankte, als befände sie sich auf einem Schiff, aber man hörte deutlich schweres, regelmäßiges Stampfen. Helle Sonnenstrahlen stachen in ihre Augen, als sie sich aufsetzte. Ein Hauch von kühler Morgenluft war da, und als sie aus dem offenen Fenster sah, konnte sie zarte Nebelschwaden sehen, die über den Baumkronen schwebten. Richtig, sie waren immer noch in der DigiWelt … Ihr Ei lag neben ihr, noch halb zugedeckt. Es war wohl etwas wie göttliche Fügung gewesen, dass ausgerechnet ein Haus sie angegriffen hatte. Nun, da es unter Jagaris Kontrolle stand, hatten sie die letzten Stunden der Nacht unter einem Dach schlafen können, und obwohl es keine Heizung gab, war es gerade warm genug gewesen, um wohlig einnicken zu können. Und damit sie besser geschützt waren, hatte er das Haus wieder aufstehen lassen, sodass sie sich in luftiger Höhe befanden. Sie hatten nur ein einziges Bett in dem ganzen Gebäude gefunden, im ersten Stock in einer kleinen, verspielt eingerichteten Kammer, und das hatte zu einer Diskussion geführt, wer wohl darin schlafen dürfe. Renji hatte den Gentleman spielen wollen und angeboten, vor der Tür Wache zu halten, während Fumiko darin schlief, diese hätte das Bett lieber Jagari überlassen, weil er krank und der Held der Stunde war, und Jagari selbst hatte beschlossen, in der Nähe des Kontrollraums zu schlafen, um in einem Notfall schnell das Programm anpassen zu können. Dann war es darauf hinausgelaufen, dass es Tageko überlassen worden wäre, aber das hatte der Ältesten dann doch widerstrebt. Letztendlich hatten sie Streichhölzer gezogen, und das Schicksal hatte doch Fumiko ausgewählt. Ein Blick auf ihre Armbanduhr sagte ihr, dass es kurz vor sieben war. Ins Bett hatte sie erst vor vier Stunden gefunden. Gähnend zog sie sich an und gesellte sich zu den anderen in den zugigen Kontrollraum mit dem Loch in der Wand, wo Jagari vor den beiden Bildschirmen hockte, hinter ihm die Wand voller Schriftzeichen. „Guten Morgen“, begrüßte er sie. „Gut geschlafen?“ „Morgen“, sagte sie und ging auf die Frage nicht ein. Renji fehlte, wahrscheinlich schlief er noch auf dem Sofa zwei Türen von ihrem Zimmer entfernt. Die anderen hatten tiefe Ringe unter den Augen, außer Jagari, der in Hochform zu sein schien. Es war nicht abgemacht gewesen, dass er den Riesen so früh wieder in Bewegung setzen würde. „Wohin gehen wir?“, fragte sie, während Tageko ihr einen Schokoriegel reichte. Sie trug ihr rötliches Haar heute offen, und es reichte ihr bis auf die Schultern. Mushroomon stand in der Ecke des Raumes, schwieg und sah irgendwie verloren aus. Es schien nicht allzu gut mit seiner Partnerin auszukommen, jedenfalls wirkte es auf Fumiko so. „Tee?“, fragte Tageko. „Ja, bitte … Hast du Tee gesagt?“ Sie stutzte. „Hab ich im Reisegepäck. Hier im Haus gibt es eine Küche, und Jagari hat es geschafft, die Herdplatten von hier aus mit Strom zu versorgen.“ Jagari grinste breit. Tageko schenkte aus einer Thermoskanne roten Früchtetee in einen Plastikbecher, und Fumiko fragte erneut: „Also, wohin bringst du uns?“ „Der Wald ist riesengroß, siehst du?“ Jagari deutete auf die Baumkronen, die bei Tageslicht wieder sehr nach Frühling aussahen. „Ich lasse das Haus ein bisschen herumgehen und suche nach irgendwelchen Anzeichen von Zivilisation. Vielleicht finden wir Kouki da. Wenn er sich in einer Waldhöhle versteckt, suchen wir ewig nach ihm.“ „Falls er überhaupt noch da ist“, murmelte Tageko und blinzelte an die Deckendielen. „Was für einen Tag haben wir überhaupt?“ „Samstag“, antwortete Taneo. Er saß neben Jagari in einem Stoffsessel, von denen sie zwei herbeigeschafft hatten, und hatte Kokuwamon auf dem Schoß. Er wirkte nachdenklich, oder er war auch einfach nur müde. „Ach stimmt ja, wir sind ja gestern erst los“, seufzte Tageko und schloss die Augen, während sie aus ihrem eigenen Becher trank. „Kommt mir vor wie eine Ewigkeit.“ „Morgen allerseits!“ Die Tür wurde aufgerissen und Renji kam herein. Candlemon war nirgends zu sehen. Tageko sah ihn abfällig an. „Wenigstens einer scheint voller Energie zu sein.“ Ihm bot sie also kein Frühstück an. „Hast du gut geschlafen, Fumiko?“, fragte Renji, Tageko dezent ignorierend. „Ja. Danke“, murmelte Fumiko und verbrannte sich die Zunge, als sie verlegen den Tee probierte. Musste er gleich beim Aufstehen wieder so ein Trara um sie veranstalten? „Da vorne!“, rief Jagari plötzlich und deutete auf den linken Bildschirm. Sofort versammelten sich die anderen um ihn. „Ein Dorf?“, fragte Tageko stirnrunzelnd.   In dem Dorf lebten Digimon, die sich als Floramon vorstellten. Der Hausgigant löste unter ihnen eine Heidenpanik aus, und noch bevor die DigiRitter sie beruhigt hatten, sahen sie, dass Kouki nicht hier war. Das zweite Dorf, das sie fanden, war größer und von felsigen Gotsumon bewohnt. Die schienen härter im Nehmen zu sein, waren zwar misstrauisch, aber gaben ihnen letztendlich sogar Auskunft, dass sie keinen Menschen gesehen hätten. Das dritte Dorf, das sie am späten Vormittag erreichten, war schließlich ein Volltreffer.   Letztendlich waren sie die ganze Nacht durchgewandert. Ogremon war allem Anschein nach nicht der Typ, der lange schmollte, aber offenbar hatte es kurzfristig beschlossen, dass es bisher viel zu nett zu seinen Begleitern gewesen war, und so trieb es sie immer weiter an, wenn sie eine Pause machen wollten. Alles, was Kouki davon abhielt, völlig erschöpft von den Füßen zu fallen, war das regelmäßige Knurren, das sein Magen von sich gab. Ogremon fischte bei Sonnenaufgang zwar drei kleine Fische aus einem schnellen Bächlein, aber die bestanden fast nur aus Gräten und waren kaum zu essen. Entweder bekam er vor Hunger Halluzinationen, oder die DigiWelt war noch seltsamer, als er bislang geglaubt hatte: Am Rand des Baches flimmerte ein kabelloser Fernsehbildschirm vor sich hin, einfach so, ohne dass es irgendeinen ersichtlichen Grund geben würde, warum er dort lag. Wovon er Strom bezog, war Kouki auch schleierhaft. Ihm war schließlich ganz flau zumute, als die Sonne aufging. Sie hatten den Wald der Vier Jahreszeiten erreicht, ohne dass er es bemerkt hatte, denn bald danach sagte Ogremon, dass es hier ein Dorf gäbe, von dem sie nur noch wenige Stunden Fußmarsch nach Nordosten hätten, um zu den MudFrigimon zu gelangen. Es war von einem niedrigen, gemauerten Wall umgeben. Hier war also die Mauer, die er in der Nacht gebraucht hätte. Die Hütten waren aus Holz und kreisförmig um einen Brunnen aufgestellt. Die Bewohner waren Bearmon, hüfthohe Miniaturausgaben von Braunbären, die mit blauen Lederriemen bekleidet waren und lässige Kappen auf den Köpfen trugen. Sie vertrauten Ogremon nicht, das war offensichtlich, und wollten es erst gar nicht hinter die Mauer lassen. Erst als Kouki erklärte, er wäre ein DigiRitter, und sich dabei schämte, weil er keine Ahnung hatte, was er als solcher genau tun sollte, steckten sie die Köpfe zusammen und ließen sie in einer der leer stehenden Hütten auf Stroh schlafen. Für Kouki war das der Himmel. Sie sagten noch, dass er ihnen einen Gefallen schuldete, aber er nickte nur und trottete wie ein Zombie auf das Strohllager zu. Er konnte noch keine zwei Stunden geschlafen haben, als aufgeregte Stimmen und zitternde Erde ihn weckten. Ogremon schlief beharrlich weiter, also taumelte er selbst schlaftrunken zur Hüttentür – nicht, bevor er sich vergewissert hatte, dass nicht wieder eine Riesenspinne über seinem Bett saß. Der Lärm kam von einem gigantischen Ungetüm … Er blinzelte gegen die Sonne an und erkannte ein Haus auf zwei Beinen, jedes so dick wie ein Schulbus, das hoch über den Baumkronen aufragte. Die Bearmon schoben ihn und Salamon diesem Wesen förmlich entgegen. „Du bist ein DigiRitter! Bitte beschütze uns!“, rief eines. „Wenn es nur die Ninjamon wären“, jammerte ein anderes. „Unser Dorf ist unter einem schlechten Stern erbaut worden, ich hab’s immer schon gesagt!“, sagte ein drittes. Kouki hatte keinen Schimmer, wovon sie sprachen, und wäre am liebsten selbst weggelaufen. Wo war Ogremon, wenn man es brauchte? Doch der Schrecken löste sich in Freude auf. Der hölzerne Titan setzte vorsichtig einen Fuß innerhalb der Mauer ab und kniete sich so hin, dass das Haus auf die Höhe der Hüttendächer kam. Und aus einem Loch in der Wand sah er aufgeregt Renji und Jagari winken. Das Suchen hatte ein Ende. Sie hatten einander wiedergefunden – und da die anderen alle andere Kleidung trugen als vor zwei Tagen, war er sich sicher, dass sie entweder eine richtige Stadt oder, noch besser, einen Weg zurück in ihre eigene Welt gefunden hatten. Das Ungetüm erhob sich wieder, stapfte zurück in den Wald und kniete sich dort einfach hin, wobei es Baumstämme wie Streichhölzer zerdrückte. Bald darauf kamen Renji, Taneo, Fumiko, Tageko und Jagari mit ihren Digimon den Hang herauf, und Kouki lief ihnen bis zur Mauer entgegen. Die Bearmon schienen hocherfreut, dass sie Freunde von ihm und ebenfalls DigiRitter waren, wie Salamon ihnen erzählte. „Kouki, Alter. Ich war noch nie so froh, dich zu sehen, glaub mir.“ Renji erreichte ihn als Erstes, schlug bei ihm ein und patschte ihm kräftig auf die Schulter. Dann sah er ihn so eindringlich an, dass ihm angst und bange wurde. „Wenn du mich noch einmal mit denen allein lässt, bring ich dich um.“ „Äh …“ Kouki wusste nicht, was er von dieser Art von Wiedersehensfreude halten sollte, als auch schon die anderen durch die einfache Lücke in der Mauer kamen. „Pass auf, was du sagst, sonst zieh ich dir eines Tages noch die Ohren lang.“ Tageko musterte Kouki forschend. „Es ist … gut, dich heil wiederzusehen, Nagara-kun“, sagte sie dann steif. Fumiko schenkte ihm ein frohes Lächeln. „Du musst uns unbedingt sagen, was du erlebt hast“, verlangte Jagari. „Hast du deine … Differenzen mit deinem Digimon schon aus der Welt geräumt?“, fragte Taneo, auf dessen Schulter Kokuwamon hockte. „Oh, ja“, lachte Kouki. „Salamon und ich sind dicke Freunde geworden, stimmt’s?“ „Jau!“, machte Salamon glücklich. „Apropos“, sagte Renji und beugte sich verschwörerisch vor. „Ich muss dir was Unglaubliches erzählen. Candlemon ist digitiert.“ Die lebende Kerze sprang auf die Mauer und plusterte sich förmlich auf, während sie grinste. „Gestern Nachmittag. Verdammt cool. Jagari hat sein Elecmon heute Nacht auch digitieren lassen, aber ich war der Erste.“ „Du meinst, es hat sich verwandelt?“, fragte Kouki. „Das hat Salamon schon in unserer ersten Nacht in der DigiWelt geschafft.“ „Was?“ Renji starrte ihn an, dann Salamon, dann Candlemon, dann raufte er sich die Haare. „Und ich dachte, ich hätte euch allen was voraus, verdammt!“ „Was ist denn hier los?“ Ogremon war aufgewacht und stapfte übellaunig auf sie zu, wobei die Bearmon ihm respektvoll Platz machten. „Hä? Sind das deine Menschenfreunde? Die sind ja noch kümmerlicher als du.“ Es lachte. „Hey!“, beschwerte sich Renji. „Und was ist das?“, fragt Tageko naserümpfend. „Ich glaube, es bringt mehr, wenn ich euch die ganze Geschichte der Reihe nach erzähle“, meinte Kouki und schmunzelte. Jetzt konnte doch eigentlich alles nur noch besser werden, oder?   Die Bearmon ließen es zu, dass die DigiRitter und ihre Partner es sich in ihrem Rathaus gemütlich machten – sie überließen ihnen einen mit hellen Bohlen ausgelegten, kahlen Raum –, aber sie wollten nichts von ihren Vorräten herausrücken, um ihnen ein Willkommensessen oder irgendetwas in der Art zu bereiten. „Das können wir nicht tun, verzeiht“, sagte eines von ihnen demütig. „Was? Soll das ein Witz sein? Ich brauch was zu beißen!“, beklagte sich Ogremon. „Ich rieche eure Vorräte zwei Meilen gegen den Wind, also her damit, oder ich hol sie mir einfach.“ „Das kannst du nicht machen“, warf Taneo ein. „Es ist ihres. Du hast kein Recht, sie einfach auszurauben.“ „Hä?“ Ogremon starrte ihn an, als hätte er ihm gerade erklärt, dass es zwei Köpfe hätte. „Willst du mich etwa daran hindern, du Knirps? Wenn ich hungrig bin und sie wollen mir nichts abgeben, dann bediene ich mich eben. Sollen sie mich doch aufhalten. Das Gesetz des Stärkeren, Kleiner.“ „Ich glaube, wir brauchen nicht unbedingt etwas zu essen“, winkte Kouki eilig mit einem verlegenen Lächeln ab, ehe der Streit eskalieren konnte. Sein Magen knurrte so laut, als wollte er ihn verhöhnen. „Wir essen dann in der Menschenwelt, lange müssen wir ja nicht mehr hier bleiben, oder? Bitte, sagt mir, dass ihr wisst, wie wir zurückkommen“, flehte er die anderen an. „Nichts leichter als das“, sagte Tageko. „Wir müssen nur durch einen dieser Fernsehbildschirme gehen, und schon sind wir wieder in unserer Welt.“ „Echt?“ Kouki erinnerte sich an den Bildschirm am Bach. Er war förmlich mit der Nase darauf gestoßen. „Auf dem Weg hierher sind wir an so einem vorbeigekommen. Wieso hast du nichts gesagt, Ogremon?“ „Woher soll ich denn sowas wissen?“, grunzte das grüne Digimon. „Dann ist ja alles geklärt.“ Renji patschte sich auf die Schenkel und stand auf. „Zeig uns, wo der Fernseher ist, und wir hauen ab. Wir waren lang genug hier.“ „Bitte um Verzeihung“, sagte das Bearmon, das nahe der Tür gewartet hatte. „Wollt ihr wirklich schon gehen?“ Tageko wurde sofort misstrauisch. „Ja. Wollt ihr uns etwa daran hindern?“ „Nichts liegt uns ferner“, brummte der Bär. „Aber diese beiden hier haben unsere Gastfreundschaft in Anspruch genommen und uns versprochen, das nicht unvergolten zu lassen, und wir hätten da eine kleine Bitte …“ „Haben wir das?“ Kouki versuchte sich zu erinnern. „Ich glaube, von Schuld oder so war die Rede … Aber wir haben nicht mal richtig geschlafen, und zu essen habt ihr uns auch nichts gebracht, oder? Kann man da von Gastfreundschaft reden?“ Er hatte Hunger, und sobald er wieder in seiner Welt war, würde er kräftig bei einem Fastfood-Stand zuschlagen. Allein bei dem Gedanken lief ihm das Wasser im Mund zusammen. „Es ist nur eine kleine Bitte … wenn ihr mich anhören mögt …“ „Was hast du denn auf dem Herzen?“, fragte Fumiko schließlich. Das Bearmon rang die Pfoten. „Es ist so … Unser Dorf wird seit Längerem von einer Bande Ninjamon heimgesucht. Sie nehmen einen Großteil unserer Vorräte und unserer Ernte mit. Deswegen gehen wir auch so sparsam damit um … Sonst kommen wir nicht durch den Winter.“ „Hier gibt es auch Winter?“, fragte Kouki. Der Teddybär nickte. „Alle drei Monate wechseln die vier Gebiete des Waldes. Jeder Ort bekommt jede Jahreszeit ab.“ „Und diese Ninjamon erpressen euch?“ Bearmons Nicken wurde grimmig. „Sie sagen, sie beschützen uns vor den Asuras, aber das stimmt nicht. Als letztens SkullScorpiomon in der Gegend gesichtet wurde, liefen sie nur davon. Sie beschlagnahmen unser Essen, schlagen sich die Bäuche voll und verziehen sich wieder, und wenn wir uns wehren … Nun, sie sind bessere Kämpfer als wir.“ „Warum sollte uns das kümmern?“, fragt Tageko mit verschränkten Armen. „Sind sie selbst Asuras? Nein, oder?“ „Das nicht, aber …“ „Dann haben wir nichts damit zu tun. Gennai hat uns gesagt, unsere Feinde sind die Asuras. Wir können nicht jedem in der DigiWelt helfen, der Probleme hat. Wie ich das einschätze, werden wir sonst nie damit fertig.“ „Wer ist Gennai?“, fragte Kouki, aber Taneo gab Tageko nicht die Möglichkeit zu antworten. „Wie kannst du so herzlos sein?“, fragte er ärgerlich. „Sie brauchen Hilfe, und wir sind die DigiRitter! Wenn wir diese Welt retten sollen, müssen wir im Kleinen anfangen.“ „Wir sollen die Welt retten?“ Wieder wurde Kouki ignoriert. „Wir können eben nicht im Kleinen anfangen, und ich bin auch nicht herzlos“, sagte Tageko bestimmt. „Aber wenn wir gegen die Ninjamon kämpfen, begeben wir uns ihn Gefahr. Jeder Kampf bedeutet Gefahr, und jeder unnötige Kampf bedeutete unnötige Gefahr.“ „Wir haben das Haus“, wandte Jagari ein. „Aber wir wissen gar nicht, ob das, was dieses Digimon erzählt, stimmt“, beharrte Tageko. „Vielleicht ist es hier gang und gäbe, Steuern an jemanden zu zahlen, und die Bearmon wollen sich nur drücken und schicken die DigiRitter vor. Am Ende machen wir uns noch eine wichtige Persönlichkeit zum Feind – unnötig.“ „Wenn es das ist, was ihr befürchtet, fragt in den anderen Dörfern hier nach. Sie werden euch dasselbe sagen“, erwiderte Bearmon. Es berührte mit der Stirn den Boden. Seine Kameraden hinter ihm taten es ihm gleich. „Dafür fehlt uns die Zeit“, sagte Tageko. „Unsere Eltern machen sich bestimmt schon Sorgen – vor allem die von gewissen Leuten, die nicht bedacht haben, dass das hier ein mehrtägiger Aufenthalt werden könnte.“ „Was ist los mit dir?“ Taneo schlug mit der Faust auf den Boden, auf dem Sie saßen, aber seine Stimme war immer noch ruhig und melodisch. „Ich dachte, du wärst ganz in Ordnung. Aber du bist kaltherzig.“ „Ich habe die Verantwortung über euch!“, brauste Tageko auf. „Wir wären alle fast draufgegangen, mehrmals. Ich muss irgendwie zusehen, dass ich euch heil wieder in die Menschenwelt bringe und dieser ganze Irrsinn ein Ende nimmt. Jagari ist krank, wir sind alle total müde, und es ist ein Wunder, dass sich noch niemand verletzt hat. Da haben wir Kouki endlich gefunden, und du willst uns schon wieder ins nächste Abenteuer stürzen? Ob mit diesem Riesenhaus oder nicht, es ist zu gefährlich! Ich denke hier an euch, also nenn mich nie wieder kaltherzig!“ Taneo starrte sie trotzig an und Kouki bemühte sich, die Wogen zu glätten. Seine Gedanken wollten ihm nicht so wirklich gehorchen, müde, wie er war. Ein richtiges Bett – am besten sein eigenes – wäre jetzt wirklich erlösend. „Warum stimmen wir nicht einfach ab?“ Als Tageko ihn wütend anfunkelte, fügte er hinzu: „Niemand hat dir die Verantwortung auferlegt, Tageko-san. Du bist genauso unfreiwillig hier wie wir.“ „Aber ich bin die Älteste. Wen könnten sie sonst belangen? Von wem würde man erwarten, dass er einen kühlen Kopf behält?“ „Ich finde Abstimmen eine gute Idee“, warf Jagari ein. „Ich auch“, sagte Taneo. Genervt seufzend gab sich Tageko geschlagen. Die Abstimmung fiel vier zu zwei aus; nur sie und Renji waren dagegen, den Bearmon zu helfen. „Vielen, vielen Dank.“ Die Stirn des Bearmon-Sprechers küsste wieder den Boden. Die DigiRitter begannen sofort, Pläne zu schmieden. „Die Mauer kann man sicher gut nutzen“, überlegte Kouki. „Wann kommen denn die Ninjamon für gewöhnlich?“ „Sie ziehen immer durch die Gegend, aber gestern wurden sie im Gotsumon-Dorf gesichtet. Wahrscheinlich stehen sie heute Abend vor unserer Tür“, sagte Bearmon. „Perfekt“, sagte Taneo. „Wir postieren Meramon und Tyrannomon dort, wo sie jeder sehen kann. Vielleicht bekommen sie dann schon Respekt.“ „Wir können das Haus benutzen, um die Bearmon in Sicherheit zu bringen, während wir kämpfen“, steuerte Jagari Ideen bei. Das war der Punkt, an dem Tageko aufstand und sich wortlos an den Bearmon vorbei aus der Hütte drängte. Die anderen sahen ihr nach, aber nicht einmal Mushroomon machte Anstalten, seiner Partnerin hinterherzulaufen. Letztendlich entschieden die Bearmon, dass auch sie für ihre Freiheit kämpfen würden, und trugen sogar ein Festmahl auf, um ihre künftigen Retter im Voraus zu entschädigen und zu stärken. Es gab Honig, Steckrüben und Fleisch, dass sie, wenn Kouki sie richtig verstand, von einer Art Plantage hatten. Ogremon schlug kräftig und zufrieden grunzend zu, aber Tageko ließ sich nicht blicken. Mushroomon war auf einmal ebenfalls verschwunden, doch Kouki erfuhr von den anderen, dass die Älteste wahrscheinlich bei einer Schokoriegel-Diät schmollte. Die beiden kamen schließlich zurück, als die anderen mit der Rolleneinteilung für den kommenden Kampf begannen. Taneo war dabei sehr geschäftig und dachte sich Strategien aus. „Was können wir tun?“, fragte Tageko ihn kühl. Er sah sie misstrauisch an. „Du musst nicht mitkämpfen, wenn du nicht willst“, sagte er langsam. „Ich will aber. Teil uns an vorderster Linie ein, oder etwas in der Art.“ Taneo sah ihr einen Moment in die Augen, dann nickte er. „Dann wird Mushroomon auf der Mauer stehen, in Ordnung? Es ist ein Fernkämpfer, also kann es die Ninjamon aus der Distanz angreifen, noch ehe sie das Dorf erreichen.“ „Traust du dir das zu?“, fragte Tageko ihren Partner. Das Pilzdigimon nickte schüchtern.   Der Abend kam schneller, als erwartet. Die Bearmon patrouillierten je zu zweit innerhalb der Mauer, während die DigiRitter auf ihren Posten standen. Tageko und Renji auf je einer Seite der Mauer, mit ihren Digimon; Candlemon war bereits digitiert. Anscheinend waren ihre Feinde gedrungene, annähernd kugelförmige Digimon, die ihrem Namen folgend mit Katanas und Wurfsternen kämpften. Kouki hielten sich mit Gatomon und Tyrannomon in der Mitte des Dorfes auf, um überall so schnell wie möglich sein zu können, und der Haustitan mit Jagari an Bord hatte die Aufgabe, die nähere Umgebung zu durchkämmen und jedes Ninjamon anzugreifen. Die jüngeren Bearmon und jene, die nicht kämpfen wollten, waren ebenfalls in dem Haus in Sicherheit. Fumiko und ihr Ei waren auch bei ihm, darauf hatte Tageko unerschütterlich bestanden. Es wurde überlegt, ob sie die Waffen benutzen sollten, die Taneo darin gefunden hatte, aber er hatte schließlich selbst gemeint, dass es zu gefährlich wäre. Sie fanden auch keine Reservemunition für die Revolver, und keiner von ihnen kannte sich gut genug mit automatischen Maschinenpistolen aus, um zu prüfen, wie viel Schüsse noch im Magazin waren. Während der Vorbereitungen hatten sich Kouki und die anderen ihre jeweiligen Abenteuer erzählt. Er hatte ihnen auch die rätselhaften Figuren gezeigt, die er gefunden hatte, und sie hatten beschlossen, sie Gennai zu zeigen. Die Digimon hatten ihre Freundschaft mit Salamon aufgefrischt und sich ihre eigenen Versionen der Geschichten erzählt. Salamon wirkte fast wie ein gutmütiger Senpai, da es als Erstes digitiert war. Tageko drehte sich nicht um, als sie aus den Augenwinkeln Taneo und Kokuwamon herankommen sah. Die beiden patrouillierten ebenfalls und gaben Acht, dass jeder auf seinem Posten war. Taneo blieb neben ihr stehen und sah in den Wald hinaus, hinter den langsam die Sonne sank, wie eine frische Wunde am Firmament. „Wie sieht es aus?“ „Willst du nicht eigentlich fragen, ob ich mir wirklich sicher bin?“, fragte sie trocken. Er hob entwaffnend die Schultern. „Es ist nicht so, dass ich mich vor dem Kampf fürchte. Ich mache mir Sorgen um euch. Alleine wäre es mir beispielsweise lieber.“ „Du hast ein gutes Herz, vermute ich“, murmelte er. Es war das Gegenteil von dem, was er vorher gesagt hatte. Seine Stimme war frei von Sarkasmus, jedenfalls soweit sie das sagen konnte. Jetzt wurde sie auch noch von einem Jungen ermutigt, der zwei Jahre jünger war als sie. „Hör auf. Ich bin nur egoistisch“, behauptete sie. „Ich will keine Schwierigkeiten mit euren Eltern kriegen.“ „Kriegst du nicht. Wir schaffen das.“ „Warum bist du eigentlich so versessen darauf, dem Dorf zu helfen? Erzähl mir nicht, du willst dich damit nur für das Essen bedanken.“ Taneo schwieg eine ganze Weile, während er ihrem Blick auswich und den Waldrand musterte. „Sie haben mir erzählt, was die Ninjamon tun“, sagte er schließlich. „Sie stehlen ihnen nicht einfach nur die Vorräte. Wenn jemand gegen sie aufbegehrt, binden sie ihn an einen Pfahl und foltern ihn. Und die anderen Dorfbewohner müssen ihnen die Füße küssen, damit sie ihn gehen lassen, oder mit ihren Katanas gegeneinander kämpfen, um den Ninjamon eine Show zu bieten.“ „Autsch“, murmelte Tageko. „Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?“, fragte er ärgerlich. Sie seufzte. „Tut mir leid. Ich wollte es nicht herunterspielen. Ich weiß, es ist furchtbar. Aber was soll ich sagen, die Nachrichten sind voll von solchen Sachen. Das Land hier ist in Unordnung, deshalb passiert sowas. Wenn wir die Asuras besiegt haben, kehrt sicher wieder Ruhe ein, und die Digimon können vielleicht ihre eigene Polizei einrichten. Gennai hat gesagt, die Asuras würden Dunkelheit verbreiten. Vielleicht ist das hier auch so eine Form von Dunkelheit. Aber deshalb müssen wir das Übel an der Wurzel bekämpfen. Das ist halt meine Meinung.“ Taneo schwieg, dann, langsam, nickte er. „Du hast ja auch recht. Aber ich …“ „Sie sind hier!“, ging ein Schrei durch das Dorf. Sofort suchten die beiden wieder angestrengt den Waldrand ab. Da war niemand, also mussten Renji und Meramon sie auf der anderen Seite gesichtet haben. „Hinter euch, ihr Flitzpiepen.“ Tageko drehte sich ärgerlich herum – welchem Bearmon fiel es plötzlich ein, sie zu beleidigen – und starrte direkt in die Augen eines kugelförmigen Digimons, die aus den Löchern einer roten Kapuzenkappe glotzten. Es hielt zwei Wurfsterne in der Hand und grinste schief. Taneo schnappte nach Luft und wich zurück, wobei er gegen die Steinmauer prallte. „Was seid ihr denn für witzige Gestalten?“, fragte das Ninjamon. Tageko sah weitere seiner Artgenossen überall im Dorf, sowohl auf den Dächern als auch mitten unter den Bearmon, die erschrocken zurückwichen, als sie ihre Katanas zogen. Sie biss die Zähne zusammen. Soviel zu Taneos Plänen. Sie waren in das Dorf gekommen, ohne dass sie es gemerkt hatten. Wie wahre Ninjas eben. Kapitel 13: Befreiungskampf --------------------------- „Das ist doch wohl keine feindliche Handlung, dass ihr da so ein Monstrum durch den Wald marschieren lasst und die Mauern bewacht, oder?“, spottete eines der Ninjamon auf ihrer Seite. „Und wenn?“, fragte Renji provokativ. „Ganz schlechte Idee.“ Das Ninjamon zog drohend sein Schwert. „Nein, bitte, das ist ein Missverständnis“, kuschte schon das erste Bearmon bei dem Anblick blanken Stahls. „Wir wollen keinen Ärger, wie immer. Das sind nur Gäste.“ „Die ihr vorsichtshalber auf eure lächerliche Mauer stellt, oder was?“, frotzelte das kleine, dicke Digimon. „Aber schön, das zu hören.“ „Wirst aufmüpfig, ja?“, eckte Renji an. „Kleine Digimon sollten den Mund halten, nicht wahr, Meramon?“ „Ich hab ja solche Angst“, sagte das Ninjamon trocken. „Mach den ersten Schritt, und du bist tot.“ Renji besah sich das im Abendlicht funkelnde Schwert. Sein goldenes Glühen war unheilverkündend … Taneo sollte verdammt sein! Wo war er jetzt mit seinen Plänen? Im Dorf wimmelte es vor Ninjamon. Er war ja von Anfang an gegen diese Sache gewesen. Sie hätten längst wieder in der Menschenwelt sein können, aber nein! „Pfft“, machte er. „Ich hab keinen Bock, gegen so einen Kümmerling zu kämpfen. Hau einfach ab.“ Die Ninjamon in der Nähe grinsten. „Werden wir, sobald wir haben, was wir wollen.“   „Das ist ja ein herzlicher Empfang, oder nicht?“ Das Ninjamon, welches dem Bearmon, das mit den DigiRittern verhandelt hatte, kameradschaftlich den Arm um die Schulter legte, lachte mit sehr lauter, markanter Stimme. „Brüder, was meint ihr? Sogar eine Ehrengarde gibt es. Ein Tyrannomon! Nicht übel, alter Bär, gar nicht übel.“ Das Bearmon ließ sich mit unglücklicher Miene drücken. Kouki hatte genug gesehen. Der Plan war fehlgeschlagen, aber sei es drum. Die Ninjamon waren einfach aufgetaucht, wie hergezaubert. Wahrscheinlich waren sie Meister der Tarnung. Ihnen blieb aber immer noch der Kampf. „Verschwindet“, sagte er grimmig. „Oder es wird euch leid tun.“ Das Ninjamon lachte nur. Es schien der Anführer der Bande zu sein. Wie viele es insgesamt waren, konnte er nicht zählen, aber die Bearmon schienen eine Heidenangst zu haben, ihnen im Nahkampf zu begegnen. Der Bandit beachtete Kouki gar nicht weiter. „Ihr könnt euch glücklich schätzen, Bearmon, es gibt etwas zu feiern. Wir haben seit heute ein neuntes Mitglied in unserer Bruderschaft. Das wäre doch eine Extraportion von eurem feinen Honig wert, oder?“ Die Bearmon sahen nicht einmal so aus, als würden sie Widerstand leisten wollen. Kouki vermutete, dass die Ninjamon viel stärker waren als sie, und da sie sich in ihrer Mitte aufhielten, war es zu gefährlich für sie. „Vergesst es!“, hörte er Taneos Stimme. Er kam mit Tageko, Kokuwarmon und Mushroomon zwischen den Gebäuden hindurch auf das Dorfzentrum zu, misstrauisch beobachtet von zwei Ninjamon. Offenbar würden die Ninjas keinen Ärger machen, solange sie nicht provoziert wurden, und man durfte sich frei in dem Dorf bewegen. „Renji, Meramon, kommt her!“ „Was meinst du, vergesst es?“, fragte das Anführer-Ninjamon schief grinsend. „Ihr seid zu spät“, erklärte Taneo ruhig. „Das Dorf steht jetzt unter unserem Schutz. Wir sind die DigiRitter, und wir haben bereits zwei Asuras getötet. Wir haben hier gegessen und werden die Bearmon verteidigen. Ihr werdet nicht länger gebraucht.“ „Habt ihr das gehört?“ Ninjamon winkte auch seine Gefolgsleute heran, sodass sich alle im Dorfzentrum drängten. „Sie wollen uns drohen!“ „Das Dorf ist ab heute unser Revier“, beharrte Taneo. „Wir lassen euch hier nicht wildern.“ Gut gemacht, Taneo, dachte Kouki. Wenn er den Ninjamon vorspielte, dass auch sie nur eine Bande von Rabauken waren, die die Bearmon erpressen wollten, gab es für die Ninjamon keinen Grund, die Dorfbewohner mit hineinzuziehen. Er sah zu dem Haustitanen, der selbst aus der Ferne erschreckend groß war, aber vermutlich bemerkte Jagari gar nicht, was im Dorf los war. Ein Schweißtropfen lief Kouki übers Kinn. „Und du glaubst, ihr dahergelaufenes Pack seid uns gewachsen?“ Lachend zogen auch die letzten Ninjamon ihre Klingen. Die Spannung in der Luft war beinahe zu fühlen. Als Renji und Meramon, auch von zwei Ninjamon verfolgt, zum Dorfplatz schritten, sah Kouki, dass ein anderes der Ninjadigimon sich von ihm und Gatomon abwandte. Das war die erste Chance, die sich für einen wirksamen Angriff bot. „Gatomon“, flüsterte er. „Das da vorne.“ „Verstanden.“ Das Katzendigimon schnellte nach vorn. Es verursachte dabei kein Geräusch, die Krallen auf seinen Handschuhen blitzten im letzten Licht des Tages – aber das Attentat schlug fehl. Wie aus dem Nichts sauste ein Wurfstern heran und bohrte sich vor Gatomons Füßen in den Boden, das darüber hinwegsetzte, aber das Geräusch alarmierte sein Opfer. Das Ninjamon machte einen kunstvollen Satz rückwärts auf eines der Hausdächer, und der Tanz ging los. Die Ninjamon wurden jedes für sich zu einem rotbraunen Schemen, die zwischen den Hütten verschwanden und wieder auftauchten. Die Bearmon suchten schreiend ihr Heil in der Flucht. Als Erstes nahmen die Banditen Gatomon aufs Korn. Aus allen Richtungen hagelte es Wurfsterne, zwei davon parierte das Katzenwesen mit den bloßen Krallen, dann sprang es dem Ninjamon auf das Dach hinterher, das mit seinem Katana auf es einhackte. Kouki feuerte sein Digimon an, während Meramon ziel- und planlos Feuerbälle um sich warf. „Nein!“, rief Taneo. „Kein Feuer!“ „Halt den Rand, was sollen wir sonst machen?“, schrie Renji zurück, der sich plötzlich selbst von zwei Ninjamon umstellt sah. Zwei explosive Pilze flogen heran, zielten genau auf die Ninjamon, doch schnell wie der Wind verschwanden sie wieder. Man sah kaum, wie sie sich bewegten, so flink waren sie. „Verdammt, wie ich solche Biester hasste“, fluchte Ogremon, das in die Defensive gedrängt wurde. Es stand mit dem Rücken zur Wand und parierte mit seiner Knochenkeule Schwerthieb um Schwerthieb, ohne auch nur einen Angriff versuchen zu können. Tyrannomon stampfte wild durch das Dorf und brüllte, doch es spuckte kein Feuer und war wegen seiner Größe ein leichtes Ziel. Von vier Seiten bohrten sich Wurfsterne in seinen Körper, die es vor Schmerz aufröhren ließ. Als zwei der kugelförmigen Digimon heranschossen und ihm die Schwerter in den Hals stießen, glühte es gelblich auf und schrumpfte, bis es wieder Elecmon war, das am Boden zusammenbrach. Kouki schluckte. Gatomon lieferte sich einen hitzigen Kampf mit dem Ninjamon auf dem Dachgiebel der Hütte, doch das andere Digimon war zu schnell, selbst für seine raschen Pfoten. „Katzenauge!“, rief es und fixierte Ninjamon – das sich plötzlich in Luft auflöste. Das Katzendigimon erstarrte. „Hinter dir!“, rief Kouki. Das Nachbild war noch nicht ganz in der hereinbrechenden Dunkelheit verschwunden, als das echte Ninjamon Gatomon in den Rücken fiel. Sein Schwert glühte auf und fing Flammen und traf Koukis Digimon am Rücken. Schreiend fiel es zu Boden. Kouki wollte zu ihm laufen, aber das Ninjamon mit dem brennenden Schwert versperrte ihm grinsend den Weg. Gatomons Fell brannte weiter, bis es zu Salamon zurückdigitierte. Er knirschte mit den Zähnen. Die Ninjamon waren zu schnell für sie! Mushroomon schoss wie verrückt Pilze um sich, aber es traf kein einziges Mal. Zwei Ninjamon umkreisten es, so schnell, dass es aussah, als wären es zwanzig. Mushroomon versuchte sich mitzudrehen oder sich wenigstens zu verteidigen, als eines der beiden plötzlich direkt vor ihm stand und zum Schlag ausholte. Dem Pilzdigimon gelang es gerade noch, die Hand zu heben, und direkt vor seiner Kappe explodierte sein Geschoss und schleuderte es rückwärts gegen eine Hauswand. Das Ninjamon schlug einen Salto in der Luft und blieb unversehrt. „Wir verlieren!“, schrie Kouki panisch. „Meramon, tu was!“ Renji, der von zwei Ninjamon mit brennenden Schwertern über den Dorfplatz gejagt wurde – ihr Lachen verkündete eindeutig, dass sie das sehr amüsant fanden –, keuchte schwer. Sein Digimon-Partner blieb von den Waffen der kleinen Teufel unberührt, aber diese hatten das erkannt und warfen Rauchbomben nach ihm, um seine Sicht zu verschleiern. „Kokuwamon!“ Kouki fuhr herum. Da war Taneo, der auf sein Digimon zulief. Es hatte sich auf ein Ninjamon stürzen wollen, war aber mit einem rasanten Schwerthieb davon geschleudert worden. „Dreckskerl“, knurrte Taneo. Fünf Schritte trennten ihn noch von Kokuwamon, das sich mühsam und benommen aufrappelte. Wie aus heiterem Himmel landete ein Ninjamon direkt vor ihm. Sein Katana blitzte kurz auf, und dann sah Kouki, wie es Taneo damit den Kopf abschlug.   Jagari hatte schon die ganze Zeit so ein mieses Gefühl gehabt, und als er die Bearmon über die Mauer springen und in allen Richtungen aus dem Dorf stürmen sah, wie Ratten, die das sinkende Schiff verließen, wusste er, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Er lief zu der Programmwand und kommentierte die Notfallzeile des Codes ein. Das Haus hörte mit der Patrouille auf und stampfte direkt auf das Dorf zu, alle Kameras richteten sich darauf. „Sie kämpfen“, murmelte Fumiko, die in einem der Sessel saß und ihr Ei streichelte. Eine finstere Falte erschien auf ihrer Stirn, als sie die Bildschirme beobachtete. Über den Holzdächern blitzte immer wieder etwas auf. Jagari hatte sich schon gedacht, dass sein Überwachungsnetz zu grobmaschig war. „Das Haus wird wenig bringen“, murmelte das Mädchen. „Es sei denn, du willst das Dorf zu Kleinholz verarbeiten.“ „Vielleicht geht es eh nicht anders.“ Jagari hustete. „Wir könnten zumindest die anderen rausholen.“ Hoffentlich ging es Tyrannomon gut … Er sah es nicht, obwohl es die Hütten überragen müsste. Er kaute auf seiner Daumenkuppe. Hoffentlich hatte es sich nicht auch in so einen glitzernden Sturm aufgelöst …   Taneos Gesicht schien in Flammen zu stehen. Es fühlte sich an, als hätte der Hieb ihm den halben Schädel gespaltet. Er kauerte auf Händen und Knien auf dem Boden und brachte nur ein ersticktes Stöhnen über die Lippen. Er konnte nichts sehen, alles war schwarz, er war blind! Er spürte, wie etwas Warmes, Nasses über sein Gesicht lief. Es drang in seinen Mund und auf der Zunge schmeckte er einen metallischen Geschmack. Erst nach und nach klärte sich sein Blickfeld und er sah verschwommen den festgestampften Boden unter ihm. Blutstropfen fielen darauf, mehr und noch mehr, und wo sie versickerten, hinterließen sie dunkle Flecken. Er wollte die Hand auf sein Gesicht pressen, um den Schmerz und das Blut zurückzuhalten, wagte es aber nicht. Ein Gerangel entstand um ihn herum. Ninjamon hatten ihn eingekreist und hinderten seine Freunde daran, zu ihm zu laufen. Aus den Augenwinkeln sah er tränenverschleiert Meramon, das sich nicht bewegte. „Sehr brav!“, drang die Stimme des Ninjamon-Anführers an seine Ohren. Das kugelförmige Digimon schob sich in sein Sichtfeld. Es hatte ein recht kleines Bearmon gepackt und ihm das Schwert an die Kehle gelegt. „Du wirst dich nicht mehr einmischen, Großer. Du erwischst uns sowieso nicht. Treibt die anderen zusammen“, bellte es einen Befehl und Taneo sah durch einen Vorhang aus Schmerztränen, wie seine Gefährten Kouki und die anderen umkreisten. Das gefangene Bearmon wimmerte. „Abschaum“, presste Taneo hervor und stand langsam auf. Der Schmerz in seinem Kopf begann übelst zu pochen. Er straffte die Schultern und starrte den Ninjamon-Anführer finster an. „Hast du was gesagt?“, fragte dieser liebenswürdig. „Da hab ich ihn wohl nicht tief genug erwischt“, sinnierte das Ninjamon, das ihn geschlagen hatte. Sein Katana war sauber, aber seine Ninjamütze war mit Blutspritzern verziert. Taneo ballte die Fäuste. „Ihr seid Abschaum“, wiederholte er knurrend. „Ihr nehmt Geiseln und trampelt auf anderen herum, nur weil ihr glaubt, dass ihr stärker seid!“ „Hast du etwa was dagegen?“, lachte Ninjamon und nahm das Bearmon stärker in den Schwitzkasten. „Ob ich was dagegen habe?“ Taneo funkelte es an und zwang seinen Zorn nieder. In den Augen des Ninjamons sah er etwas funkeln, das bis jetzt noch nicht da gewesen war. Wahrscheinlich hatte der Schlag ihm die halbe Nase abgehackt und es war schockiert, weil er so hässlich aussah. Nicht, dass Ninjamon selbst Nasen hätten. „Oh ja, ich habe was dagegen“, sagte er ruhig. Sein Blut lief ihm übers Kinn, als er den Kopf hob. Er schmeckte es wieder auf seiner Zunge und spürte wieder den flammenden Schmerz, als er sprach. Jedes Wort, das über seine Lippen kam, schien die Wunde weiter aufzureißen. „Man kann jemanden mögen oder hassen oder ignorieren“, erklärte er. „Man kann freundlich zu ihm sein, wenn man ihn mag, oder ihn bekämpfen, wenn man ihn hasst. Jeder hat jemanden, den er nicht leiden kann und den er sich zum Feind gemacht hat, das ist normal. Und manchmal töten Feinde einander, weil sie sich nur mehr bekämpfen und keinen Ausweg mehr finden. Aber andere zu terrorisieren, sie zu demütigen, nur zum Spaß oder um das eigene Ego zu befriedigen, das ist unverzeihlich. Niemand kann einem etwas vorwerfen, wenn man seine Feinde bekämpft – aber was ihr macht, ist etwas völlig anderes! Ihr lasst die Bearmon und die anderen Dörfer in Furcht leben, und das ist schlimmer als zu sterben, und ihr verspottet sie und seid dabei noch so feige, Geiseln zu nehmen!“ „Taneo, lass es“, sagte Tageko beschwörend. Sie war ganz in der Nähe, aber er drehte sich nicht um. „Du redest sehr viel“, befand der Anführer. „Reden ist einfach. Das tun viele. Lass doch sehen, was du dagegen unternehmen kannst.“ „Das kannst du haben.“ Taneo ballte wieder die Fäuste und biss die Zähne zusammen. Der sengende Schmerz machte ihn rasend, benebelte seinen sonst so kühlen Verstand. „Ich bin ein DigiRitter, hat Gennai gesagt. Ich weiß nicht genau, warum, aber man hat mich auserwählt, diese Welt zu retten. Und wenn ich das angeblich kann, dann kann ich euch auch die Leviten lesen!“ Ein Licht drang aus Taneos Tasche, wo sein DigiVice war. Ninjamon grinste schief. „Dann wecke ich dich jetzt erst mal aus deiner Illusion auf, indem ich das Bearmon hier in zwei Teile schneide.“ Die Reflexion des Schwerts änderte sich, als es die Klinge am Hals des Digimons ansetzte. „Kokuwamon!“, brüllte Taneo und das helle Strahlen griff auf seinen Partner über.   Kouki konnte den Blick erst von Taneos verzerrtem Gesicht abwenden, dessen untere Hälfte eine blutige Maske geworden war, als Kokuwamon golden zu glühen begann. Er erwartete eine Digitation, aber als das Leuchten verrauchte – war das Digimon verschwunden. Im nächsten Moment flog das Schwert des Ninjamon-Anführers davon. Es wirbelte in der Luft herum wie ein Kreisel, und noch während der Bandit ihm mit ungläubiger Miene hinterhersah, wurde er zur Seite geschleudert und krachte hart gegen eine Hauswand. Das gefangene Bearmon taumelte davon und lief auf den nächsten Hütteneingang zu. Zwei weitere Ninjamon versperrten ihm den Weg, doch auch sie wurden wie von einer plötzlichen Bö umgeworfen. „Tötet sie!“, brüllte der Anführer, der sich aufrappelte. „Tötet sie alle!“ Gleich drei Ninjamon sprangen auf die Dächer und warfen ihre Shuriken auf Taneo, der nicht von der Stelle wich, die Fäuste immer noch geballt. Bevor die Wurfsterne ihn erreichten, prallten sie an etwas ab und fielen klimpernd zu Boden, einer bohrte sich in den hölzernen Türrahmen einer Hütte. Die Luft vor Taneo schien kurz zu flimmern, als wie aus dem Nichts ein Digimon vor ihm auftauchte. Kouki blinzelte. War das Kokuwamons nächste Form? Anders konnte er sich sein Auftauchen nicht erklären … aber während all ihre Digimon zumindest ein wenig größer wurden, wenn sie digitierten, schien es eher geschrumpft zu sein. Es sah aus wie ein Ball oder eine Kanonenkugel mit freundlichem Gesicht, das aber zu einer grimmigen Miene verzogen war. Kurze Arme und Beine ragten daraus hervor, und die Füße und Hände des Digimons steckten in Sportschuhen und nietenbesetzten Handschuhen. Auf seiner Stirn prangte ein großes, stilisiertes, goldenes Blitz-Symbol. Taneo flüsterte ihm etwas zu und das Digimon antwortete, aber Kouki konnte sie nicht verstehen, da die Ninjamon alle durcheinander riefen. „Macht schon!“, brüllte der Anführer und diesmal klang seine Stimme schrill. Mit gezückten Schwertern liefen die Banditen auf das Digimon zu, das sich abermals in Luft auflöste, und nur den Bruchteil einer Sekunde später alle Angreifer von den Füßen riss. Ein brennendes Katana segelte durch die Luft, Ninjamon schrien auf. „Ihr Stümper!“, knurrte der Anführer und warf sich selbst wieder in den Kampf. Es rannte um Taneo herum und erzeugte die Illusion, dass es mehr als nur ein Ninjamon wäre – und trotzdem pflückte ein heftiger Schlag genau das richtige aus dem Ring, kurz bevor es Taneo angreifen konnte. Kouki verstand. Die Ninjamon waren so schnell, dass sie kaum mit freiem Auge zu verfolgen waren, daher konnte sie kaum ein Angriff erwischen – aber Taneos Digimon war so schnell, dass es überhaupt nicht mehr zu sehen war. Und dagegen konnten sie sich nicht verteidigen. Während der Ninjamon-Anführer im hohen Bogen durch die Luft geschleudert wurde, warf er sich herum und hielt plötzlich ein halbes Dutzend Wurfsterne auf einmal in der Hand, mit denen er auf Taneo zielte. „Hör auf!“, schrillte eine Stimme durch das Dorf, und vor Ninjamon begann die Luft zu knistern. Im nächsten Augenblick traf ein blauer Blitz den Banditen mitten im Flug, und er schrie hässlich auf und zerstob zu einer Splitterwolke, während der Kugelblitz von einem Dach zum nächsten sprang und noch zwei Ninjamon vernichtete, die mit brennenden Schwertern auf Tageko und Kouki zuspringen wollten. Dann erschien das Digimon wieder direkt vor Taneo und ließ angriffslustig die Fäuste kreisen. „Meint ihr nicht, dass das reicht?“, rief Taneo mit klarer Stimme über das Schlachtfeld. Die restlichen Ninjamon verharrten. „Ihr habt keine Chance gegen uns. Haut ab und lasst diese Dörfer in Ruhe. Verzieht euch am besten irgendwo anders hin und werdet richtige Söldner oder so was. Vielleicht kommt ihr wirklich gut gegen die Asuras an.“ Er machte eine dramatische Pause und sagte dann düster: „Wenn es irgendjemandem von euch aber einfällt, nochmal harmlose Digimon zu terrorisieren, auch nur sie zu bedrohen, oder wenn ihr uns noch einmal angreift, dann werden Thunderboltmon und ich kurzen Prozess mit euch machen.“ Die Ninjamon sahen einander an, unschlüssig, nun, da ihr Anführer tot war, und Kouki hielt den Atem an. Schließlich warf das erste von ihnen demonstrativ sein Katana fort. Nach und nach taten es ihm die anderen gleich, als Geste der Unterwerfung. Neben dem Dorf krachte etwas und als Kouki aufsah, beugte sich gerade Jagaris Haustitan über das Dorf. Er winkte ihm zu und signalisierte ihm in der Tauchersprache, dass alles in Ordnung war.   Renji fand es lustig, dass Taneos Käfer sogar noch kleiner war, nachdem er digitiert war. Aber selbst er konnte nicht leugnen, dass diese Digitation in letzter Sekunde gekommen war. Taneo und sein Digimon – Thunderboltmon hatte er es genannt? – überwachten persönlich und mit Argusaugen den geordneten Abzug der Ninjamon, die feierlich schworen, keinen Fuß mehr in das Dorf und überhaupt den Wald der Vier Jahreszeiten zu setzen. Sie sagten, sie würden anerkennen, dass der Wald nun unter dem Schutz der DigiRitter stand, und der neue Anführer, den sie schnell gewählt hatten, bekräftigte, dass die DigiRitter ja eigentlich auch stets für ihr Wohl kämpften. Das hinderte sie aber nicht daran, ihre Schwerter aufzuklauben. Vermutlich machte es keinen Unterschied. Sie gaben aber viel zu schnell auf, fand Renji. „Jetzt habt ihr es also auch geschafft“, sagte Kouki kameradschaftlich zu Taneo und Thunderboltmon, während Fumiko und Jagari die Schäden im Dorf begutachteten und die Bearmon durchzählten, die sich wieder zurück ins Dorf wagten. „Gut gemacht.“ „Danke“, sagte Taneo, lächelte schwach und verzog das Gesicht. „So, die Ninjamon sind weg, Zeit, dich zu verarzten“, sagt Tageko und klatschte in die Hände, ehe sie Taneo am Handgelenk packte und resolut in eine der Hütten zerrte. Das Blut in seinem Gesicht war zum größten Teil getrocknet, aber er sah immer noch grauenvoll aus, und es musste höllisch wehtun. „Der Kleine ist echt zäh“, murmelte Renji. „Kriegst du’s mit der Angst zu tun?“, hänselte ihn Kouki grinsend. „Pah. Wenn Meramon ein wenig flinker wäre, hätten wir das auch so geschafft.“ Er bedachte Candlemon mit einem strafenden Blick, an dem wie immer jeder Vorwurf einfach abprallte. „Dann sieh zu, dass ich das nächste Mal zu was Schnellem digitiere“, grinste es. „Ogremon“, sagte Kouki, als das grünhäutige Digimon zu ihnen stieß. Renji mochte es nicht. „Ist mit dir alles in Ordnung?“ „Was soll denn nicht in Ordnung sein? Das waren doch nur Mücken“, grunzte Ogremon. „Ich kämpfe lieber gegen große Digimon, die sich auch zur Wehr setzen können. Wenn ich eines von denen mal erwischt hätte, wäre es flöten gegangen.“ „Aber du hast keines erwischt“, erinnerte Kouki es. Ogremon grummelte nur etwas und verzog sich. Das Bearmon, das ihnen den ganzen Schlamassel eingebrockt hatte, kam zu ihnen und dankte ihnen überschwänglich. „Bedank dich lieber bei Taneo“, sagte Kouki. „Ach, lass es, das tut’s doch auch“, grinste Renji. „Wir werden euch zu Ehren noch ein großes Fest geben. Wir werden die Nacht durchfeiern, wie wir es schon lange nicht mehr getan haben“, verkündete der Teddybär. „Äh, nein danke“, wehrte Kouki verlegen ab. „Wir wissen das schon zu schätzen und so … aber wir sollten wirklich wieder in unsere Welt zurückkehren.“ Damit hatte er recht. Sie hatten zwar am Nachmittag alle ein paar Stunden geschlafen, während sie auf die Ninjamon gewartet hatten, aber ihr Schlafrhythmus war wohl komplett im Eimer und wenn Renji erst im Morgengrauen heimkäme, müsste er sich auch noch eine Ausrede für die zweite Nacht in der DigiWelt überlegen. Bearmon war damit nicht glücklich. „Wenn ihr geht, wer wird uns dann beschützen?“ „Die Ninjamon werden schon nicht zurückkehren“, sagte Kouki zuversichtlich. „Aber wir müssen uns demnächst um die Asuras kümmern. Stimmt’s, Renji?“ „Äh, ja.“ Kouki hatte erzählt, dass er ein Asura in der Form eines Vampirs gesehen hatte und dass seine Handlanger versucht hatten, einen Weg zu finden, um selbst zu digitieren. Sie hatten ihm im Gegenzug von Gennai berichtet. Renji überließ es ihm, mit dem Bearmon zu diskutieren, und sah zu den Sternen hoch, die sich mittlerweile zeigten. Nach Elecmons und Kokuwamons Digitationen kam er sich irgendwie … überflüssig vor. Er seufzte. Fumiko hatte seit dem Kampf noch nicht mit ihm gesprochen, sondern sich nur für Taneos kleinen Kratzer interessiert. „Vielleicht brauche ich auch irgendeine männliche Narbe“, murmelte er. Candlemon hörte ihn. „Soll ich dir eine Brandnarbe verpassen?“ „Halt die Klappe.“   „Mach sowas nie wieder“, beschwor Tageko Taneo, als sie begann, ihn zu verarzten. Er saß auf der Kante eines der kurzen Bearmon-Betten und sie betrachtete stirnrunzelnd sein Gesicht. „Mir wäre fast das Herz stehen geblieben. Es hast so ausgesehen, als hätte es dich geköpft.“ „Und wie sieht es jetzt aus?“, fragte Taneo, als sie das getrocknete Blut mit einem feuchten Taschentuch abgetupft hatte. Er klang beklommen, aber das wäre Tageko wohl auch, wenn ein Schwertschnitt ihr Gesicht entstellt hätte. Sie saugte an ihrer Oberlippe und überlegte sich, was sie Taneo sagen konnte. „Hab schon Schlimmeres gesehen“, meinte sie dann. „Aber Schöneres auch.“ „Ja. Schöneres auch.“ Der Schnitt begann auf seinem Nasenrücken und zog sich schräg nach links über seine Wange, bis er knapp vor seinem Ohrläppchen endete. Er war ziemlich tief, so tief, das auch jetzt noch Blut und Wundflüssigkeit hervor sickerten, und man sah das Weiß seines Nasenbeins schimmern. „Wir müssen es auf jeden Fall ausspülen, damit es sich nicht entzündet“, sagte Tageko, als sie endlich den Blick davon abwenden konnte. „Wenn wir daheim sind, sieh zu, dass du die Wunde desinfizierst. Vielleicht gehört sie auch genäht. Wir sollten schleunigst wieder in unsere Welt zurück, ich hab hier nur das Allernötigste.“ Sie zog Verbandszeug aus ihrem Rucksack und tränkte ein Dreieckstuch mit Wasser. Damit und mit ihrer Wasserflasche versuchte sie, die Wunde zu säubern. Taneo zuckte. Es musste höllisch wehtun – zum Glück war das Mineralwasser nicht prickelnd. Tageko hatte stilles Wasser lieber, weil es nach dem Sport angenehmer zu trinken war. „Hast du auch einen Spiegel dabei?“, fragte er. „Nein“, log sie. „Warte damit, bis du zuhause bist. Ich verbinde es jetzt.“ Es war lange her, seit sie einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht hatte, den ihr ihre Mutter aufgezwungen hatte. Sie versuchte sich in Erinnerung zu rufen, wie man solche Wunden verbinden sollte. Letztendlich legte sie eine mit desinfizierender Salbe beschmierte sterile Auflage auf die Wunde und wickelte Taneos halben Kopf in die Mullbinden. Die Enden klebte sie mit Klebeband fest. „Fertig.“ Er betastete sein Gesicht. „Ich fühle mich wie eine Mumie“, sagte er trocken. Tageko packte alles zusammen „Lass auf jeden Fall noch einen Arzt drüber schauen, ja?“ „Und was erzähle ich ihm?“, fragte er mutlos. „Keine Ahnung.“ Sie zuckte mit den Schultern. Ihre Schuldigkeit war getan. „Erfinde einfach irgendwas.“   Es war fast elf Uhr, als sie den Monitor erreichten. Hier, bei dem Bächlein, verabschiedeten sie sich von Ogremon. Jagari hatte auch den Haustitan hergebracht. Sie konnten ihn schlecht in die Menschenwelt mitnehmen, also programmierte er ihn darauf, hier zu warten und jedes Digimon zu verscheuchen, das ihm zu nahe kam. Das würde auch die Asuras von ihm fernhalten. „Danke, dass du uns geholfen hast. Du warst echt eine Hilfe.“ Kouki ergriff Ogremons Arm fest und es drückte so heftig zurück, dass er zusammenzuckte. „Keine Ursache“, sagte das Digimon. „War zwar nicht so aufregend, wie ich es von Menschen gewohnt bin, aber ich hab was erlebt. Wenn ihr mal wieder eine starke Hand braucht, hört euch einfach um. Ich hinterlasse meistens eine Menge Gerüchte.“ Es lachte rau. Kouki nickte. „Tut mir leid, dass wir deinen Erzfeind nicht gefunden haben.“ „Ah, mach dir keinen Kopf. Ich hab ohnehin nicht damit gerechnet, dass Leomon so schnell wieder auftaucht. Das ist das Leben eines Kriegers, man trifft Kampfgefährten und trennt sich dann bald wieder von ihnen. Nichts Großartiges.“ Kouki fiel etwas ein. „Oh, das hätte ich fast vergessen!“ Er nahm das Bündel von seiner Schulter und schüttelte Ogremons Mantel aus. Klimpernd fielen die federleichten Skulpturen zu Boden. „Such dir vier davon aus. So war es abgemacht.“ „Ach, behalt diese Dinger. Damit kann ich ja sowieso nichts anfangen. Stell sie dir in deine Hütte und lass sie verstauben“, winkte Ogremon ab, nahm aber den Mantel entgegen. „Also, man sieht sich vielleicht.“ Es setzte seinen Hut auf und trottete, ohne zurückzublicken, von dannen und verschwand im Unterholz. „Es sieht grauenhaft aus“, sagte Fumiko, „aber es hat einen weichen Kern.“ „Ja“, sagte Kouki und betrachtete die Skulpturen zu seinen Füßen. „Sind eigentlich hübsche Dinger“, sagte Renji und hob eine davon auf. Das heißt, er versuchte es. Die rote, eiförmige Figur mit dem Sonnensymbol darauf, aus der eine Klinge ragte, bewegte sich nicht, so sehr er auch daran zerrte. Renji runzelte die Stirn. „Was zum …“ Er versuchte das blauschwarze, längliche Ding hochzuheben. „Verdammt, wie konntest du das tragen? Die sind ja sauschwer!“ Kouki starrte ihn verdutzt an und hob das rote Ei hoch. „Was denn? Die haben ja kaum ein Gewicht. Willst du mich veralbern?“ Jetzt gingen auch die anderen DigiRitter in die Hocke. „Das gibt’s ja nicht“, ächzte Fumiko und zerrte ergebnislos an der grünen Skulptur. Jagari gab ebenfalls schwer atmend auf und hustete. Als Taneo sich ebenfalls bücken wollte, verbot es ihm Tageko. „Du nicht. Du darfst jetzt erst mal nichts Schweres heben.“ Die Digimon hatten keine Probleme damit, die Skulpturen aufzuheben. Kouki wurde immer verwirrter. „Das bedeutet wohl, dass du auch ein Digimon bist“, feixte Renji. „Ha-ha“, machte er säuerlich. „Ihr wollt euch doch nur drücken. Dann trag ich sie eben alleine.“ Er lieh sich Tagekos Schlafsack aus, stopfte die Skulpturen hinein und warf ihn sich über die Schulter. Die Älteste hatte die Arme verschränkt und tippte ungeduldig mit dem Finger auf den Oberarm. „Können wir dann?“ „Klar. Zeigt her, wie das geht.“ „Ihr zuerst“, bestimmte Tageko. „Sonst bleibt mir am Ende wieder jemand zurück.“ „Alles klar, Mama.“ Renji bückte sich vor den Fernseher, drückte den Knopf und hielt sein DigiVice davor. Der Bildschirm erwachte zum Leben und saugte ihn ein. Während sie alle nacheinander wieder in ihre Welt wechselten, freute sich Kouki tierisch auf sein eigenes Bett.   „Es ist also wahr?“, fragte LordMyotismon. „So scheint es.“ Wisemons Gestalt war in dem Spiegel zu sehen, der in der Dunkelheit der Kammer bläulich schimmerte. „Puppetmons Haus scheint völlig außer Rand und Band, und Pumpkinmon ist nirgends zu finden. Die DigiRitter scheinen wieder in ihre eigene Welt zurückgekehrt zu sein.“ LordMyotismon führte den Kelch zu seinen Lippen. Ihr Anführer hatte es kontaktiert; er war das Einzige, das einen immer aktiven Ehrenspiegel in LordMyotismons Gemächern hatte. Er hatte den Tod eines der ihren gespürt. „Warum hat Pumpkinmon die DigiRitter auf Karatenmons Gebiet herausgefordert? Woher wusste es überhaupt, wo sie waren?“ „Eine berechtigte Frage“, schnurrte Persiamons Stimme aus einem anderen Spiegel. „Pumpkinmon war schon immer ein Luftkopf, der nur an Spiele denkt. Als ich es in seinem Versteck gesucht habe, war es nicht dort. Es war sogar so unverantwortlich, zuzulassen, dass jemand die DigiArmorEier stiehlt, wie ich herausgefunden habe.“ „Wenn Pumpkinmon tot ist, an wen ist das Mantra von Meister Puppetmons Haus dann gebunden?“, fragte LordMyotismon. Wenn sein Besitzer starb, fiel für gewöhnlich auch das Haus in sich zusammen, bis man es wieder beschwor. „Nach allem, was ich herausgefunden habe, nutzt es noch die Lebensenergie von dem, der es als Letztes gerufen hat. Pumpkinmon hat die Beschwörung unsauber durchgeführt, scheint mir“, berichtete Wisemon. „NeoDevimon“, murmelte LordMyotismon. „Ich werde dafür sorgen, dass es die Verbindung auflöst.“ Es stellte den Kelch auf seine Armlehne und faltete die Hände. „Wir dürfen keinen Fehler mehr machen“, sagte es sachlich. „Die DigiRitter werden seit jeher unterschätzt. Wir müssen gnadenlos zuschlagen und sie zermalmen, sobald sie das nächste Mal einen Fuß in unsere Welt setzen.“ „Ihr wollt also gleich schwere Geschütze auffahren, LordMyotismon?“ Persiamon kicherte. „Da wollt Ihr mich doch bestimmt nicht dabeihaben, oder?“ LordMyotismon ignorierte es. Es überlegte sich seinen nächsten Zug genau. Es brauchte Digimon, eine Menge starker Digimon auf dem Ultra-Level. Sofern Pumpkinmons Tod nur ein Glücksfall gewesen war – und es war immerhin das schwächste der Asura gewesen –, hätten die DigiRitter ihnen nichts entgegenzusetzen. „Wisemon, halte Ausschau nach unserem Jäger. Sag ihm, ich wüsste, wo sich die Beute zeigen wird.“ Kapitel 14: Die Wunden einer Welt --------------------------------- Sie landeten alle wieder vor Jagaris PC in seinem Zimmer. Fast alle. „Wo ist Kouki schon wieder?“, fragte Renji fast panisch. „Sagt bloß, er ist dort geblieben“, stöhnte Tageko. War alles umsonst gewesen? Oder – war alles nur ein Traum gewesen? „Du bist doch als Letzte durch das Tor gegangen“, resümierte Taneo. „Er konnte doch gar nicht zurückbleiben, oder?“ Da piepte Renjis Handy in seiner Tasche. „Das heißt wohl, wir sind wirklich wieder zurück“, sagte er grinsend, als wäre es die Erkenntnis des Jahres, und warf einen Blick auf das Display. „Eine SMS von Kouki. Er ist in seinem Zimmer rausgekommen.“ Erleichtertes Aufatmen ging durch die Runde. „Also ist jeder von uns dort wieder aus der DigiWelt gekommen, wo er sie betreten hat“, überlegte Jagari. „Beim letzten Mal war es genauso, oder?“ „Glaub schon“, murmelte Tageko und hob Budmon auf, das erst aussah, als wollte es sich ihrem Griff entziehen. Die Digimon waren wieder auf ihre niedrigste Form zurückdigitiert. Die DigiRitter beschlossen, nun, da sie Kouki wiederhatten, erst mal einfach nur darauf zu warten, dass Gennai sie kontaktierte. Sie schrieben ihren Entschluss Kouki, der zustimmte, und verließen dann Jagaris Haus mit ihren Digimon.   Tageko erwartete ein Donnerwetter. Sie hatte ihre Geschwister einen vollen Tag länger als abgemacht allein gelassen und war unauffindbar gewesen. Ihre Mutter und ihre Tante hatten sich als Aufpasser abgewechselt, aber ihre Tante hatte einen Termin platzen lassen müssen und ihre Mutter musste hundemüde zur nächsten Schicht. Entsprechend ungehalten war sie, als Tageko lange nach Einbruch der Dunkelheit zuhause ankam. Wo war sie gewesen, mit wem, was fiel ihr eigentlich ein, und hatte sie denn gar kein Verantwortungsgefühl, das alles prasselte auf sie ein. Tageko ließ es gleichmütig über sich ergehen. Am Ende kam noch heraus, dass ihre Mutter sich Sorgen gemacht hatte. Sie hatte sogar bei Tagekos Freundin angerufen, die angeblich die Party geschmissen hatte, und diese hatte zum Glück schnell geschaltet und sie gedeckt. Tageko musste sich unbedingt tausendmal bei ihr bedanken. Der Schelte folgten ausreichende Reue und Zerknirschtheit, dann verzog sich Tageko auf ihr Zimmer. Als sie die Tür hinter sich schloss, atmete sie tief durch. „Als Mutter macht man sich eben ständig Sorgen!“, hatte sie ihr vorgeworfen, als Tageko gemeint hatte, dass sie alt genug wäre, um auf sich selbst aufzupassen. Wie schön, dass ihre Mutter das wusste – wo sie doch kaum zuhause war und Tageko die Ersatzmutter für ihre Geschwister und für die anderen DigiRitter gleichzeitig spielen durfte. Seufzend ließ sie Budmon, das sie in ihrem Rucksack versteckt hatte – den hatte sie angeblich dabei gehabt, weil sie bei der Party ihren Schlafsack, Knabberzeug und Spiele gebraucht hatte –, auf den Boden hopsen. Es sah aus, als würde es sich gleich unter dem Bett verkriechen wollen, als wäre Tageko nun gefährlich, nur weil sie plötzlich verhältnismäßig riesig war. Dann sah es sie aber aus großen Augen an. „Bist du … böse auf mich?“, piepste es schüchtern. „Warum? Weil alle anderen digitiert sind, und du nicht?“ Die Kastanie mit dem Blatt zuckte zusammen. Volltreffer. Tageko packte gewissenhaft ihren Rucksack aus. Sie würde sich noch eine Dusche genehmigen – die brauchte sie nach diesem Abenteuer dringend – und dann in ihr Bett springen und schlafen, als gäbe es kein Morgen mehr. Morgen war Sonntag. Wenigstens etwas. Als sie sich aus ihrem Schrank einen frischen Pyjama herrichtete, sprang Budmon auf das Bett. „Ich gebe mein … mein Bestes, Tageko. Damit ich auch … Ich meine …“ „Vergiss es.“ Sie schlug die Schranktür zu. „Es ist mir sogar lieber, wenn du nicht weiter digitierst.“ Budmon machte sich nur noch kleiner, als es ohnehin war, und wirkte betreten. Es wagte nicht, irgendetwas zu erwidern.   Renji erwartete ein Donnerwetter. Er hatte auch nicht erwartet, ungeschoren davonzukommen, als er so spät nach fast zwei Tagen Abwesenheit mit einem lässigen „Bin wieder da!“ heimkehrte. „Wo bist du gewesen?“, fuhr seine Mutter ihn an. „Hab bei ‘nem Freund gepennt“, meinte er achselzuckend. „Und das kannst du uns nicht vorher sagen?“ Seine Mutter, von der er die blonden Haare, nicht aber ihre dichte Lockenpracht – zum Glück – geerbt hatte, stemmte die Hände in die Hüften. „Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, was wir uns für Sorgen gemacht haben? Ich war nahe dran, die Polizei zu rufen! Und jetzt tauchst du einfach so wieder auf, als wäre nichts gewesen?“ „Ist schon gut, Momo“, sagte sein Vater. Zum Glück war er auch da. Er saß vor dem Fernseher und schaute Fußball, irgendeine alte Aufzeichnung. Für viel anderes konnte er sich in der Glotze nicht begeistern, aber wenigstens kam er auch immer zu den Spielen seines Sohnes. „Nein, es ist nicht gut“, beharrte seine Mutter. „Wenn du dich in irgendwelchen zwielichtigen Clubs rumtreibst, sag es gleich. Da gibt es nur den Abschaum der Gesellschaft, und die werfen mit Drogen nur so um sich.“ „Für was hältst du mich eigentlich?“, fragt Renji genervt. „Für einen Junkie?“ „Nein, ich halte dich für dümmer, als mein Sohn sein dürfte. Was, wenn dich jemand entführt hätte?“ Renjis Vater brach in schallendes Gelächter aus. „Als ob den jemand haben wollte!“ „Vielen Dank“, meinte Renji säuerlich. „Du bist keine Hilfe!“, fuhr Momoka Oyara ihren Mann an. „Ist doch nicht so wild“, meinte sein Vater und drückte erstmals auf Pause. „Ich hab in meiner Jugend viel schlimmere Sachen angestellt. Renji weiß schon, was er tut. Stimmt’s, Sohnemann?“ „Klar“, grinste Renji. Seiner Mutter konnte er nur beikommen, wenn er seinen Vater auf seiner Seite hatte. „Pass nur auf, dass du nicht in schlechte Gesellschaft gerätst. Und hüte dich vor Frauen wie deiner Mutter.“ Dafür bekam er einen Schlag mit einer Zeitungsrolle verpasst und jammerte gespielt. „Pass du lieber auf!“ Während sein Vater zu hören bekam, wie unverantwortlich er doch bei seiner Erziehung war, schlich sich Renji durch das Kreuzfeuer in sein Zimmer. „Noch mal Schwein gehabt“, murmelte er grinsend, als er den Lichtschalter betätigte. „Fürs Erste.“ Kyaromon befreite sich aus seinem Gefängnis unter seiner Jacke, sprang zu Boden und schüttelte sich. „Wenn du mich meinst, ich bin hier“, rief es keck. „Und hier bleibst du auch. Wehe, du gehst aus meinem Zimmer.“ „Ha! Und wenn doch?“ Er grinste vielsagend. „Hamsterkäfig.“ „Was ist ein Hamster?“ „Sowas wie du. Nur nicht so vorlaut.“ Renji musterte sein Digimon stirnrunzelnd. „Sag mal, bist du überhaupt stubenrein?“ Als er es letztens zuhause gelassen hatte, war es anscheinend durch ein gekipptes Fenster bis in den Garten gelangt, aber er wusste nicht, ob es dort draußen sein Geschäft verrichtet hatte oder einfach nur neugierig gewesen war. „Was heißt stubenrein?“ Renji seufzte. „Alter, du machst mich fertig.“ Und Kyaromon kicherte.   Fumiko erwartete ein Donnerwetter. Sie hatte doch tatsächlich nicht daran gedacht, dass es ein mehrtägiger Ausflug werden könnte. Ihre Eltern waren aufgelöst und weinten beide, als sie ihre Tochter wiederhatten – ihre doch so fragile und verletzliche Fumiko. Während sie sie stürmisch umarmten, bemerkten sie auch das Ei, das sie zu verstecken versucht hatte, und stellten sie zur Rede. Letztendlich kopierte sie Tagekos Aussage und schmuggelte sich einfach bei der angeblichen Party mit ein. Der Name von Tagekos Freundin wäre ihr entfallen, und sie wären beim Karaoke gewesen und das Ei wäre der Preis für die schlechteste Sängerin gewesen. Danach hätten sie bei besagter Freundin übernachtet, viel Spaß gehabt und auch noch den folgenden Tag verbracht. Sie hoffte nur, dass ihre Geschichte nicht ausgeklügelter als Tagekos eigene war. Ihr Vater, ein kleiner, glatzköpfiger Mann, wollte unbedingt die Familie des Mädchens anrufen und sich bedanken, aber Fumiko gab vor, auch die Adresse und Telefonnummer vergessen zu haben, und versprach, es über Tageko ausrichten zu lassen. Danach wurde sie nur zu Tageko ausgefragt – sie hätte sie im Sommercamp kennengelernt – und dann wurde das kalte Abendessen für sie aufgewärmt. Sie kam letztendlich ohne Strafe davon, aber mit einer Verwarnung und der klaren Anweisung, das nächste Mal vorher Bescheid zu sagen. Fumiko behauptete, dass ihr Handy defekt gewesen wäre, was nicht ganz der Unwahrheit entsprach; nachdem sie wieder in diese Welt zurückgekehrt waren, waren für sie Benachrichtigungen von mindestens zwanzig verpassten Anrufen eingetrudelt. Als sie nachts hundemüde in ihr Bett fiel, legte sie das Ei neben sich und knipste das Licht aus, damit sie den Riss auf dessen Oberfläche nicht sehen musste. „Wie lange willst du mich noch warten lassen?“, murmelte sie. „Oder bist du tot?“ Das Ei war eiskalt. Vielleicht klammerte sie sich an eine Illusion. Oder es war ein Fehler gewesen, dass sie ein DigiRitter geworden war. Ich war vollkommen nutzlos, dachte sie bedrückt. Sie hasste es, in der Schuld von anderen zu stehen. „Wenn du nicht bald schlüpfst, benutze ich dich das nächste Mal als Geschoss“, drohte sie dem Ei schlaftrunken. Nutzloses Ding. Sie konnte aber nicht einschlafen, ehe sie nicht auch das Ei zugedeckt hatte.   Taneo erwartete ein Donnerwetter. Er hatte vorausgeplant und sich bei Kentarou ein Alibi besorgt, aber seine Eltern waren dennoch wütend, weil er ihren Plan, gemeinsam einen Themenpark zu besuchen – nämlich den, in dem sie sich vor über fünfzehn Jahren kennen gelernt hatten –, in den Wind geschlagen hatte. Er hatte ohnehin keine große Lust gehabt, mitzukommen, und meinte, sicherlich hätte es ihnen in trauter Zweisamkeit auch besser gefallen. Das war aber nicht der Hauptgrund der Standpauke. Es war nach Mitternacht, als er heimgekommen war, und seine Verletzung war offensichtlich. Obwohl es zuerst den Anschein gehabt hatte, dass Tageko mit seiner Wunde nichts mehr zu tun haben wollte, hatte sie nach dem Weltenwechsel ihre Meinung noch einmal geändert. Sie hatte ihn in ein Krankenhaus begleitet, wo man die Wunde noch einmal desinfiziert und dann sogar genäht hatte. An der Tür zum Behandlungszimmer der Nachtambulanz hatte Tagekos Sympathie dann endgültig geendet und sie hatte ihn alleine mit Kapurimon mit der U-Bahn heimfahren lassen. Immer noch tat jede Bewegung seiner Gesichtsmuskeln weh. Auf dem Heimweg hatte er sich eine weitere Ausrede einfallen lassen und Kentarou, der wie immer noch wach war, davon ins Bild gesetzt. „Als ich bei dir war, bin ich ausgerutscht und durch ein Fenster geflogen“, sagte er ihm übers Handy. „Ach, komm schon“, lachte sein Cousin. „So rutschig sind die Böden bei mir nicht. Soll ich eine Scheibe einschlagen, damit deine Geschichte Hand und Fuß hat?“ „Es reicht, wenn du das Gleiche erzählst.“ „Geht klar. Was ist denn passiert?“ „Erinnerst du dich an meine Paradimensionaltheorie?“ „Jep. Soll heißen?“ „Soll heißen, du wirst es mir nicht glauben. Ich erzähle es dir, wenn du die Geheimnisse von meinem Gerät entschlüsselt hast.“ Kentarou gähnte am anderen Ende der Leitung. „Schön. Ich häng mich dran.“ Offenbar hatte er also noch nicht damit angefangen. Hoffentlich war Taneos Verletzung seiner Motivation dienlich. Dann hätte sie etwas Gutes. Die Narbe würde gigantisch sein, hatte der Arzt versprochen, und er durfte demnächst nichts Schweres heben. Entsprechend war die Reaktion seiner Eltern darauf. Auf jeden Fall dämpfte der Schock ihre Wut über den verpatzten Familienausflug. Seine Mutter tat, als würde sie ihn am liebsten anketten; sein Vater war über Kentarous Fahrlässigkeit entsetzt und rief ihn sogar noch an. Taneo wusste, dass das seinen Cousin nicht die Bohne beeindrucken würde, also nahm er ihn gern als Schutzschild her. Beim Zähneputzen, das der pure Horror war – er konnte auch den Mund nicht ohne Schmerzen weit öffnen –, betrachtete er den Schnitt erstmals richtig, der ihn ein Leben lang zeichnen sollte. Er öffnete den Verband, den er bekommen hatte. Die Wunde war hässlich, und die Narbe würde noch hässlicher werden. Wenigstens würde es Renjis Freunden nun nicht mehr einfallen, ihn als kleinen Jungen und Muttersöhnchen abzustempeln. Wenn es ein Zeichen für echte Härte gab, dann doch wohl eine Narbe quer durchs ganze Gesicht. Eine hässliche Narbe. Er rümpfte über sich selbst die Nase. Sogar das tat weh. „Beschäftigt dich etwas?“, fragte Kapurimon mit seiner piepsigen Stimme, die nicht einmal bei einer Digitation wirklich weichen wollte, als er nach diesen turbulenten Stunden mit einem aufgebrummten Hausarrest für den Sonntag in seinem Bett lag und sich aufs Ausschlafen am nächsten Morgen freute. „Nein“, murmelte er. „Ich bin nur müde.“ Er zögerte. „Ich bin froh, dass du digitiert bist. Du hast mir wirklich geholfen.“ Kapurimon sprang auf seine Brust und ließ sich von ihm über den pelzigen Schwanz streicheln. „Die anderen haben auch geholfen“, erinnerte es ihn. Taneo lächelte. „Das stimmt. Wir haben ganze Arbeit geleistet.“   Jagari erwartete ein Donnerwetter. Seine Mutter war zwar hocherfreut gewesen, als er ihr erzählt hatte, dass ein paar Freunde zu Besuch kämen, und hatte ihm auf seine Bitte hin sogar sturmfreie Bude gewährt – aber es war schließlich nie die Rede davon gewesen, dass er mit diesen Freunden einen mehrtägigen Ausflug machen würde. Camping übers Wochenende, und das bei seinem gesundheitlichen Zustand? Dennoch fiel die Schelte vergleichsweise gering aus. Seine Erkältung war schlimmer geworden, und mehr als alles andere war seine Mutter besorgt. Sie schimpfte sogar über seine Freunde, dass sie so unverantwortlich gewesen waren, ihn zu diesem Ausflug mitzuschleppen, noch dazu ohne ein Wort zu sagen! Sie wollte ihre Namen und Anschriften wissen, um ihren Eltern die Leviten zu lesen, aber Jagari verweigerte es ihr vehement. „Es sind meine Freunde“, sagte er. „Du hast immer gesagt, ich soll mir Freunde suchen. Jetzt willst du sie mir verscheuchen?“ Da seufzte sie und setzte sich an sein Bett, strich ihm die Haare aus der glühenden Stirn. „Ach, mein Jagari. Ich will nur nicht, dass du in schlechte Gesellschaft kommst, verstehst du?“ Er nickte. „Sie sind in Ordnung. Ich stelle sie dir auch mal vor. Wenn ich wieder gesund bin. Und du mir versprichst, nicht mit ihnen zu schimpfen.“ Sie redeten noch lange und das Gespräch drehte sich im Kreis. Jagaris Eltern waren geschieden. Sein Vater verdiente gut in der Neurowissenschaft und unterstützte die kaputte Familie so gut es ging, und er hatte auch ein gutes Verhältnis zu Jagari. Dennoch sah er ihn eher selten, seinen erwachsenen Bruder ebenso, und seine Mutter war es, die sich um ihn kümmerte. Unter der Bettdecke, neben der Wand, wo man es nicht sehen konnte, versteckte sich Motimon und lauschte den Worten, die ausgetauscht wurden.   Kouki erwartete kein Donnerwetter, was ihn verwunderte. Er legte sich einfach ins Bett, kaum dass er zuhause war, und sah zu, wie Salamon die Umgebung erkundete. Yuki hatte ein Hundekörbchen gehabt. Sollte er das wohl Salamon zur Verfügung stellen? Irgendwie erschien es ihm falsch. „Sag mal, Kouki“, fragte ihn der kleine Hund schließlich, „wo soll ich eigentlich schlafen?“ Er zuckte mit den Schultern. „Wo du willst.“ Als Kouki sich umdrehte, hüpfte sein neuer Freund auf die Bettdecke und rollte sich neben seinen Beinen zusammen. Er erwachte am nächsten Morgen früh, als seine kleine Schwester ihn anstupste. Grummelnd wälzte er sich herum. „Was willst du?“, fragte er. „Wo hast du den Hund her?“, fragte Aya. „Hund?“ Kouki blinzelte sich den Schlaf aus den Augen. Salamon. Es war ebenfalls aufgewacht und starrte Aya aus großen Augen an. „Oh, das … ist eine lange Geschichte. Ich erzähl sie euch beim Frühstück.“ Vorausgesetzt, bis dahin fällt mir was Passendes ein. „Hat er einen Namen? Ist er ein Männchen oder ein Weibchen?“ Aya streckte die Hand nach Salamon aus, das zurückwich. „Ein … Männchen, glaube ich“, überlegte Kouki und sah sein Digimon prüfend an. „Und er heißt Salamon.“ „Salamon?“ Aya zog eine Schnute. „Das ist ein blöder Name.“ Salamon sah aus, als würde es protestieren, also sagte Kouki schnell, ehe es sich verraten konnte: „Raus aus meinem Zimmer, du kleine Nervensäge. Ich will mich umziehen, ja? Ich komme dann gleich.“ Nachdem seine Schwester mit wippenden braunen Zöpfen bei der Tür rausgeschlüpft war, erklärte Kouki Salamon seinen Plan. „Also, ich werde es so einrichten, dass du ein Hund bist, ja? Aya hat dich schon gesehen, und ich kann meiner Familie unmöglich was von der DigiWelt erzählen. Sprich also nur, wenn wir ganz sicher allein sind, okay? Ansonsten darfst du jaulen und bellen.“ Salamon schien eingeschnappt zu sein. „Sie hat gesagt, mein Name ist blöd.“ Kouki lachte. „So ist meine Schwester eben. Du wirst sie mögen lernen.“ „Soll das heißen …“ Salamon unterbrach sich. „Darf ich denn ab jetzt bei dir wohnen?“ Er zögerte. „Klar. Du bist doch mein Freund, oder?“ Da lächelte es. Eine halbe Stunde später war Salamon offiziell in die Familie Nagara integriert. Es wäre ein Welpe, den ein Schulfreund abgeben wollte, und geimpft und stubenrein. Da sie alle so traurig wegen Yuki gewesen waren, hätte er sich gedacht, er würde die Gelegenheit nutzen. Es ist nur eine Lüge, dachte er dabei. Salamon ist kein Ersatz für Yuki. Es ist auch kein Haustier, sondern mein Freund und Partner. Was seine Abwesenheit anbelangte, so schienen sich seine Eltern damit abzufinden, dass er bei Renji übernachtet hatte. Kouki konnte es kaum glauben, dass dieser das eingefädelt hatte. Heute Nacht war er angeblich still und heimlich heimgekommen und schlafen gegangen. Die Einzige, die beim Frühstück nicht anwesend war, war Nanami. Seine ältere Schwester half in einem Café aus und hatte heute Frühschicht. Sie von Salamon zu überzeugen würde nicht so einfach werden, dazu war sie Kouki zu ähnlich, wie er wusste.   „Ich weiß wirklich nicht, ob das was bringt“, seufzte Tageko genervt und trommelte mit den Fingern über den Einband des obersten der Bücher, die sich vor ihr stapelten. Taneo hatte sie mit gezielten Griffen aus den Regalen gezogen und ging sie systematisch durch, und sie hatte er hergebeten, ihm dabei zu helfen. Kouki wollte auch noch vorbeikommen, aber er hatte Tafeldienst und anscheinend Stress mit seinem Klassenlehrer, wenn sie das richtig verstanden hatte. Tageko hoffte, dass er sie bald ablöste; mit Taneo abzuhängen war … seltsam. Ihre Freundinnen würden sich fragen, ob sie plötzlich auf Erstklässer stand. Taneos Wunde wäre Grund genug gewesen, die Schule für die nächsten Tage bleiben zu lassen. Sein Verband bandagierte sein halbes Gesicht ein. Gelbliche Flecken von einer desinfizierenden Salbe hatten sich durch den Stoff gedrückt. Er war auch ohne Ranzen in die Schule gekommen; ein Notizbuch und ein Kugelschreiber genügten ihm. Offenbar hatte ihn sein Klassenlehrer in der ersten Stunde nach Hause schicken wollen, aber Taneo konnte ein richtiger Sturkopf sein, wenn er wollte. Und jemanden mit einem frisch verbundenen, mehr als zehn Zentimeter langen Schnitt im Gesicht reizte man wohl besser nicht so weit, dass er sich aufregen musste. Wie auch immer er es geschafft hatte: Man hatte ihm gestattet, weiter zur Schule zu gehen. Tageko hatte ihn deswegen schon getadelt; sie konnte seinen Entschluss nicht nachvollziehen. Wollte er unbedingt in der Nähe der anderen DigiRitter sein? Der Sonntag war ein ruhiger Tag gewesen. Tageko hatte kurz bei allen angerufen, um sich zu erkundigen, ob sie gut nachhause gekommen waren. Irgendwie hatte es sie wirklich interessiert. Sie wollte nicht, dass den anderen etwas zustieß, weil sie nicht gut genug auf sie aufgepasst hatte … aber sie hätte doch schlecht alle nachhause begleiten können. Trotz ihrer Besorgnis oder vielleicht gerade deswegen waren ihre Fragen doch eher ruppig und kühl hinübergekommen, und niemand hatte ihr besonders herzlich geantwortet. Sie hatte geseufzt, als sie das Handy weglegte. Wenn Kouki einen Rundruf gemacht hätte, hätte er sicher für ein wärmeres Gesprächsklima sorgen können. Immerhin, Taneo hatte sie gebeten, ihn heute in die Bibliothek zu begleiten. Er wollte etwas über die Asuras herausfinden, hatte er gesagt. „Das kannst du doch alles im Internet nachlesen“, brummte sie missmutig. „Warum also die Schulbibliothek?“ „Ich habe in letzter Zeit zu viele schlechte Erfahrungen mit Computern gemacht“, sagte er, ohne dass er von dem Buch aufsah, das er gerade bearbeitete, ein dicker Schinken mit kleingedruckten Schriftzeichen und violettem Einband. Tageko seufzte erneut und sah aus dem Fenster in den Pausenhof. Als sie vor einer Woche hier gewesen war, hatte sich Frost an den Scheiben festgesetzt gehabt, aber das Tauwetter der letzten Tage hatte sämtliche Spuren davon verschwinden lassen. Sie saßen an einem der Lesetische, die die Fensterfront flankierten. Der Rest des Raumes war mit deckenhohen Regalen aus hellem Holz vollgestellt, in die sich saubere Linien aus bunten Buchrücken drängten. „Denkst du etwa, die Asuras könnten das Internet beherrschen oder so? Mach dich nicht lächerlich“, sagte sie mit einiger Verspätung. „Ich will nur kein Risiko eingehen.“ Er blätterte um. „Nach dem, was wir erlebt haben, finde ich vieles nicht mehr so lächerlich wie vorher, weißt du?“ Ehe Tageko noch einmal seufzen konnte – was tat sie überhaupt hier? – sagte eine Stimme hinter ihr: „Hast du schon mal das hier gesehen?“ Fumiko hatte die Bibliothek betreten. Unter die Achsel hatte sie ein Buch geklemmt, das dem von Taneo verdächtig ähnlich sah. Er sah kurz auf, dann untersuchte er die Bandnummer der beiden Wälzer. „Das hab ich gesucht. Wo war das?“ „Ich hab’s mir heute Morgen ausgeliehen.“ Sie zog sich einen Stuhl heran. „Damit ich in Shinobu-senseis Stunde eine Beschäftigung habe. Seht euch mal dieses Kapitel an.“ Sie schlug das Buch an einem Eselsohr auf und strich die Seite glatt. Wie Tageko dem Einband entnahm, ging es um einen Vergleich von Hinduismus und Buddhismus. Auf der Seite, die Fumiko ihnen zeigte, war ein knallbuntes Bild eines Wesens mit sechs Armen zu sehen. In zwei Händen hielt es Schwerter, in zwei anderen etwas, das man nicht identifizieren konnte. Fumiko tippte mit der Fingerspitze auf den Text daneben. „Hier steht, dass die Asuras im Hinduismus böse Geister sind, oder Dämonen. Manchmal sind sie auch Gottheiten oder werden überhaupt als Überbegriff für Dämonen und Geister hergenommen.“ Das war nicht unbedingt etwas Neues für Tageko, aber sie übte sich in Geduld. „Interessant ist vor allem der Abschnitt hier. Da steht, dass die Asuras ursprünglich gar nicht böse waren. Zumindest das Wort Asura hat ursprünglich möglicherweise einfach mächtig bedeutet. Die Asuras waren also sogar so etwas wie göttliche Wesen, die dann aber bei den großen Hindu-Göttern in Ungnade gefallen sind, und zwar nicht, weil sie etwas Böses getan haben, sondern weil ihr Wissen und ihre Macht die Götter bedroht hat.“ „SkullScorpiomon kam mir nicht gerade weise und gutartig vor“, warf Taneo ein. „Und das schwarze Tyrannomon und Pumpkinmon auch nicht.“ „Wir reden hier von hinduistischer Mythologie“, sagte Tageko. „Wäre es nicht seltsam, wenn man das einfach so auf reale Digimon umlegen könnte?“ Ein Satz, in dem sowohl Digimon als auch real vorkamen, schien sich in ihrem Mund immer noch quer zu stellen. „Die Asuras liegen in ständigem Kampf mit den Devas“, las Fumiko vor. „Das sind auch göttliche Wesen, aber sie sind die Guten. Der König der Asuras ist Bali. Die Asuras, die letztendlich als böse dargestellt werden, haben allerlei schlechte Eigenschaften, die ihren Charakter ausmachen. Ignoranz, Hass, Stolz, Prahlerei, Neid, Begierde. Solche Dinge.“ Sie sah die anderen beiden an. „Aber die Asuras müssen nicht immer einfach die Bösen sein. Im Zarathustrismus gibt es sie zum Beispiel auch, aber das sind sie im Vergleich zu den Devas sogar eher die Guten.“ Das war der Moment, als Taneos Aufmerksamkeit plötzlich von etwas angezogen wurde, das sich draußen im Pausenhof abspielte. Er reckte den Hals und sein Blick verfinsterte sich. Ohne ein Wort stand er auf, sein Stuhl scherte lautstart über den Linoleumboden. So hastig, dass man gerade nicht von Laufen sprechen konnte, ging er auf die Tür zu. „Was hat er denn?“, fragte Tageko. Fumiko stand auf und sah aus dem Fenster. „Ich glaube, ich weiß es“, murmelte sie und klang selbst nicht sonderlich erbaut.   Seine Wunde schmerzte, als er die Treppe hinunterhetzte. Ein Schwall kalter Luft begrüßte ihn im Pausenhof, und vor seinem Mund gefror sein Atem zu einer weißen Wolke. „Was macht ihr da?“, fragte er schneidend. Renji und seine Kumpane standen in der Ecke des Hofes, wieder einmal um Shuichi gedrängt, den einer von ihnen gerade im Schwitzkasten hatte. Sie drehten sich zu Taneo um, als sie ihn hörten. „Was will der Kleine denn schon wieder?“, rief einer von ihnen. Renji verzog den Mund, schwieg aber. „Was soll das? Lasst ihn verdammt nochmal endlich in Ruhe!“, sagte Taneo, trotz seiner Wut so deutlich es ging. „Sonst was?“ Der eine Junge zog den Schwitzkasten enger, sodass Shuichi mit hochrotem Kopf wimmerte. „Was hast du denn mit deinem Gesicht gemacht? Versucht, deinen nicht vorhandenen Bart zu stutzen?“ Aus irgendeinem Grund fanden sie das alle drei urkomisch. „Renji!“, wandte sich Taneo an den DigiRitter. „Was soll das?“ Renji blies sich eine Strähne aus der Stirn. „Der Kerl hat uns beim Schulwart verpetzt. Hat ihm gesteckt, dass wir den Tisch in der Garderobe zerdeppert haben.“ Taneo erinnerte sich. In der Mittagspause hatte er das Möbelstück selbst gesehen. Irgendjemand war wohl darauf gesprungen, und die uralte Tischplatte war mittendurch gebrochen. „Das war ich nicht“, winselte Shuichi. „Ich schwör’s!“ „Wie war das?“, fragte der größere Junge nahe an seinem Ohr. „Ich hab dich nicht verstanden, da hat anscheinend gerade eine Maus gequiekt, die dich übertönt hat.“ „Er hat gesagt, er war es nicht!“, knurrte Taneo. „Jetzt lass ihn endlich los, oder soll ich einen Lehrer holen?“ Der Junge schnaubte und stieß Shuichi von sich, der hinter Taneo in Deckung ging. „Schaut euch nur an. Jämmerlich. Mit Lehrern drohen ist wohl das Einzige, was du kannst.“ „Und zu dritt auf einem Erstklässler herumhacken ist ja so viel mutiger“, sagte Taneo trocken und starrte Renji an. „Ich habe geglaubt, du hättest dich geändert. Aber anscheinend bist du noch immer dasselbe Ekelpaket.“ „Was quatscht der Knirps schon wieder?“, lachten Renjis Kumpane. Renji selbst wich erst seinem Blick aus und begegnete ihm dann zornig. „Ach was? Glaubst du, wir sind jetzt plötzlich beste Kumpels? Außerdem, der Kleine war der Einzige, der gesehen hat, wie wir auf dem Tisch gegaberlt haben!“ „Weil ihr ihn wieder mal erpresst habt“, vermutete Taneo. „Und wennschon! Was geht dich das überhaupt an?“ „Reg dich doch nicht so auf, Renji“, krähte einer der anderen. „Der Kleine ist doch nur mutig, weil er sich cool vorkommt mit seinem Verband. Glaubst du, da ist echt ‘ne Verletzung drunter? Der hat doch in Wahrheit die Hosen voll!“ Der Blick, mit dem Renji Taneo begegnete, sagte eindeutig aus, dass er sehr wohl noch wusste, was Taneo in der DigiWelt alles geleistet hatte. Trotzdem zuckte er gleichgültig mit den Schultern. „Ab jetzt lasst ihr Shuichi in Ruhe, klar? Wenn ihr nicht verpetzt werden wollt, solltet ihr euch einfach an die Regeln halten.“ Taneo sah immer noch nur Renji an und sprach beschwörend. „Ach ja?“ Renji funkelte ihn zornig an, ihn, der es wagte, hier vor seinen Freunden Forderungen zu stellen. „Hör mal zu, ich steck vielleicht gemeinsam mit dir in diesem komischen Abenteuer drin, aber nur weil ich mich mit jemandem wie dir abgeben muss, heißt das nicht, dass ich dich deswegen mögen muss. Und schon gar nicht, dass ich plötzlich alles tue, was du sagst!“ Taneo biss die Zähne zusammen. „Gleichfalls“, sagte er kalt. „Wir beide werden wohl nie Freunde werden, schätze ich.“ „Darauf kannst du Gift nehmen!“, gab Renji abfällig zurück. „Drüben kannst du dich vielleicht wie der große Macker aufspielen, aber hier nicht! Das hier ist immer noch die Realität!“ „Komm, Shuichi, gehen wir.“ Der Gerettete folgte Taneo verdattert, der mit großen Schritten den Schulhof durchmaß und nur mühsam seine Enttäuschung verbergen konnte. Es war ja wohl mehr als dumm gewesen: Hatte er ernsthaft geglaubt, ein paar gemeinsame Abenteuer in der DigiWelt und ein gemeinsamer Feind, den sie bekämpfen mussten, würden Renji und ihn auf eine Seite stellen? Er hörte mit halbem Ohr, wie Renjis Kumpel ihn überrascht fragten, wovon sie beide eigentlich geredet hatten. Shuichis dahergedrucksten Dank hörte er gar nicht.   Alles in allem war es ein mehr als ätzender Montag gewesen. Kouki war heilfroh, endlich nachhause gehen zu dürfen. Er hatte ein Alibi für die Nächte, die er fort gewesen war, nicht aber für den verpassten Unterricht. Mangels Alternative hatte er seinem Klassenlehrer eine so wirre und unverständliche Erklärung aufgetischt, dass er irgendwann seufzend gemeint hatte, es wäre schon gut. Und einen Eintrag über ihn verfasst hatte. Und ihn zum Putzdienst verdonnert hatte. Als Kouki endlich damit fertig gewesen, war er zur Bibliothek gelaufen, doch die anderen hatte er wohl verpasst. Eben schlenderte er durch die Fußgängerzone nachhause, als sein Blick von einem Fenster angezogen wurde. Es war kein gewöhnliches Schaufenster mit leblosen Puppen, sondern eine Schule, die Kampfsportunterricht gab. Durch die dicke Scheibe, die fast die ganze Front einnahm, konnte man unter den bezeichnenden chinesischen Lettern in eine helle Trainingshalle sehen, deren Boden mit Matten ausgelegt war. Kouki interessierte sich nicht für Kampfkünste, aber eine der Gestalten in den typischen, weiten weißen Mänteln kannte er. Eben packte Fumiko einen deutlich schwereren Schüler und beförderte ihn sauber über ihre Schulter zu Boden. Dabei bewegte sie sich so dynamisch, dass ihr zu einem Zopf gebundenes schwarzes Haar hinter ihr herflog und Kouki der Mund offen stehen blieb. Auch wenn er sich nicht wirklich mit Kung Fu auskannte: Er hatte gehört, dass eine der Grundprinzipien es war, die Schwere des Gegners zum eigenen Vorteil auszunutzen. Da hatte Fumiko leichtes Spiel: Die meisten anderen waren Jungen, die mindestens einen Kopf größer waren als sie. Kouki beobachtete sie, wie sie sich eine verirrte Strähne aus dem Gesicht strich und sich wieder am Rand der Matte einreihte. Ein gelber Gürtel zierte ihre Hüfte. Der Lehrer erkärte etwas, dann waren die nächsten Schüler dran. Kouki beschloss, vor dem Haupteingang der Kampfsportschule auf sie zu warten. Als sie etwas mehr als eine halbe Stunde später durch die gläserne Doppelschiebetür trat, ihre Sporttasche über der Schulter, sah sie ihn überrascht an. „Nagara-kun.“ „Hi“, sagte er lächelnd. „Sorry. Als ich endlich in der Bibliothek war, wart ihr schon alle weg.“ „Kein Problem. Es war ohnehin nicht sehr ergiebig.“ Sie gingen in dieselbe Richtung – zur Busstation. Kouki erinnerte sich, dass er Fumiko hier in der Nähe schon mal getroffen hatte, aber sie wohnte wohl woanders. „Ich wusste gar nicht, dass du Kung Fu machst“, sagte Kouki, um das Schweigen zu brechen. „Ich hab vor Jahren angefangen, als ich noch ein Kind war“, erzählte sie. „Meine Eltern haben gemeint, es wäre ganz gut für mich, wenn ich mich verteidigen könnte. Wirklich gemocht hab ich den Sport nie. Ich habe es bis zum gelben Gürtel gebracht, aber vor einem Jahr oder so hab ich aufgehört.“ „Und jetzt fängst du wieder an?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Was bleibt mir anderes übrig? Ihr habt jeder ein Digimon, das für euch kämpft. Ich kann höchsten versuchen, selbst was auf die Reihe zu bekommen.“ „Oh.“ Kouki wünschte sich, er hätte nichts gesagt. Das mit ihrem DigiEi musste sie sehr belasten. Er verschränkte die Hände im Genick. „Du weißt aber schon, dass du auch einfach uns das Kämpfen überlassen könntest? Niemand wird dir deswegen böse sein.“ „Könnte ich schon, aber ich will nicht“, sagte sie entschlossen. Kouki wollte eben seine Bewunderung für sie aussprechen, als ihre Handys klingelten – zeitgleich. Eine SMS von Jagari, die er zweifellos an die ganze Truppe geschickt hatte. Kommt alle zu mir, stand darin. Gennai hat von sich hören lassen. Kapitel 15: Die Lichtsamen -------------------------- Tageko war die Letzte, die vor Jagaris Haustür stand. Seine Mutter machte auf. Ihre Miene schwankte irgendwo zwischen erfreut und vorwurfsvoll, und Tageko überlegte, was sie tun würde, wenn sie diese Fremde einfach wieder rauswerfen würde, aber dann ließ sie sie eintreten. „Jagari wartet in seinem Zimmer.“ Sie schüttelte den Kopf. „So was, so viele Gäste, und bis gerade eben hat er kein Wort gesagt. Dabei sollte er sich ja eigentlich ausruhen.“ „Es war recht kurzfristig“, beeilte sich Tageko zu sagen. „Tut mir leid, wenn es für Sie ungelegen ist.“ Die Frau seufzte. „Naja, es ist eben so. Komm rein.“  Sie ging wieder in die Küche, während Tageko sich die Schuhe auszog. Es duftete nach einem einfachen Abendessen. Tageko klopfte an Jagaris Tür. Sofort wurde sie geöffnet, nur einen Spalt breit, und Jagaris Auge suchte hektisch den Flur links und rechts von ihr ab. „Komm rein, schnell“, flüsterte er dann. Sie wunderte sich über dieses Getue, schlüpfte aber in das Zimmer, kaum dass er die Tür nur noch ein kleines Stück weiter öffnete. „Es freut mich, deine Bekanntschaft zu machen, Tageko“, begrüßte sie der Mann in der weiten Kutte, den sie aus der Videobotschaft kannte. Perplex ließ sie den Mund offen stehen. Jagari hatte mit keinem Wort erwähnt, dass Gennai persönlich hergekommen war. War das überhaupt möglich? Da stand er, groß gewachsen und würdevoll, jung und gleichzeitig mit weisem Blick, mitten in Jagaris Zimmer. Die DigiRitter hatten sich um ihn versammelt wie um einen Prediger. Motimon saß auf dem Schreibtisch, und Taneo hatte Kapurimon mitgebracht, die anderen Digimon waren nirgends zu sehen. Taneo und Renji standen in den jeweils entgegengesetzten Ecken des Raums, und Tageko fielen die unterkühlten, unglücklichen Blicke auf, die die beiden einander zuwarfen. Was war im Pausenhof zwischen ihnen vorgefallen? Sie hatte nicht nachgefragt, als Taneo zurück in die Bibliothek gekommen war und verkündet hatte, dass sie für heute mit dem Recherchieren aufhören würden. „Jetzt sind wir alle“, sagte Jagari mit leuchtenden Augen. „Ich musste meine Mutter quasi auf Knien anflehen, dass ihr mich besuchen dürft“, flüsterte er Tageko zu. „Wegen meiner Erkältung und so.“ „Aha“, war das Einzige, was der immer noch völlig entgeisterten Tageko dazu einfiel. Gennai nickte. „Dann können wir endlich ungestört reden. Es tut mir leid, dass es mir nicht schon früher gelungen ist, persönlich mit euch Kontakt aufzunehmen, aber die Asuras sind sehr wachsam.“ „Dann können Sie uns jetzt endlich Wie, Was und Wo sagen?“, fragte Kouki. „Was das mit den DigiRittern und Digimon soll, und warum gerade wir in einer fremden Welt gegen diese Asuras kämpfen sollen?“ „Alles zu seiner Zeit“, sagte Gennai. „Ich werde versuchen, all eure Fragen zu beantworten, allerdings weiß ich nicht, wie lange ich dazu Gelegenheit habe. Einiges werdet ihr gewiss schon in Erfahrung gebracht haben. Damit würde ich gerne beginnen.“ „Wir wissen, dass die DigiWelt eine Art Parallelwelt zu unserer ist“, sagte Jagari, „und dass wir sie über Computer erreichen können. Die Asuras bedrohen sie.“ Gennai nickte. „Das ist nicht ganz richtig, aber wir werden auf dieser Annahme aufsetzen.“ „Bevor Sie weiterreden: Wer oder was sind Sie eigentlich? Sind Sie auch ein DigiRitter? Oder etwas in der Art?“, fragte Tageko. „Diese Frage höre ich häufig von den Auserwählten. Ich bin weder Mensch noch Digimon, allerdings fürchte ich, euch allein mit Worten nicht begreiflich machen zu können, was ich bin.“ „Ich vermute ja, Sie sind ein biodigitaler Hybrid“, sagte Jagari fest. „Hä?“, machte Renji. Tageko verstand in etwa, was der Jüngste damit meinte, aber Gennai sagte nichts mehr dazu. „Gut, belassen wir’s dabei. Und die DigiWelt? Was ist sie? Und wo ist sie?“ Diese Frage zumindest konnte Gennai verständlich beantworten. „Die DigiWelt ist eine von vielen Welten, die neben eurer existieren. Im Gegensatz zu eurer Welt besteht sie rein aus Daten.“ „Aus Daten?“, fragte Jagari. „So ist es. Die Digimon bestehen aus Daten, alle Bäume und Gegenstände, sogar ihr werdet, wenn ihr die DigiWelt betretet, in Daten umgewandelt. Ich muss euch aber darauf hinweisen, dass diese Daten notwendig sind für eine Rückwandlung. Solltet ihr euch in der DigiWelt verletzen oder sterben, wirkt sich das auch auf eure Körper in dieser Welt aus.“ Die DigiRitter versuchten, das zu verdauen. Taneo befühlte seine Narbe. „Weiter im Text: Was können Sie uns über die Asuras sagen?“, fragte Tageko. „Die Asuras sind die Wächter der Finsternis. Die zwölf Anhänger und treuen Diener der Meister der Dunkelheit.“ „Meister der Dunkelheit?“, hakte Kouki nach. „Das wird irgendwie immer finsterer“, murmelte Renji. „Hier muss ich etwas ausholen. Vor fast acht Jahren wurde, so wie ihr heute, eine Gruppe DigiRitter auserwählt, um die DigiWelt vor Zerstörung und Dunkelheit zu bewahren. Damals erschien eine finstere Macht, genährt vom Hass all der Digimon-Arten, die im Laufe der Zeit durch die Digitation ausgestorben sind.“ „Moment!“, sagte Tageko. „Ich dachte, eine Digitation wäre es, wenn unsere Digimon von einem Level auf das nächste gelangen?“ „Wobei deines ja immer noch derselbe Schwächling ist“, feixte Renji seinen obligatorischen unnötigen Kommentar. Sie ignorierte ihn auch einfach. „Vielleicht bedeutet es gleichzeitig auch sowas wie bei uns die Evolution“, überlegte Jagari. „Demnach entwickeln sich auch die Digimon kontinuierlich weiter, und wer keinen Platz mehr in der Welt hat, wird ausselektiert.“ Gennai nickte. „So ist es.“ „Aber sie wollten nicht tot bleiben, oder wie?“ Renji raufte sich den Kopf. „Mann, das wird mir allmählich zu wirr mit diesem ganzen Pseudo-Reinkarnationskram.“ „Ich bin überrascht, dass du überhaupt mitzudenken versuchst“, gab Tageko kühl zurück. „Ach, halt doch den Mund, Frau Oberschlau!“ „Und die DigiRitter kämpften gegen diese Macht?“, nahm Taneo den Faden wieder auf. Wieder nickte Gennai. „Acht Kinder aus eurer Welt wurden dazu bestimmt, das finstere Apocalymon zu besiegen, dessen Form die dunkle Macht annahm. Es ernannte die vier Meister der Dunkelheit, um seinen Willen auszuführen. Diese schafften es, die Kraft der vier Digimon-Gottheiten, die über die DigiWelt wachen, zu versiegeln und sie in tiefen Schlaf zu versetzen. Nach vielen Kämpfen gelang es den DigiRittern, sie zu besiegen und die Ordnung in der DigiWelt wiederherzustellen.“ „Diese Typen müssen irre stark gewesen sein“, murmelte Kouki entmutigt. „Wir schaffen es ja nicht mal, mit den Dienern von diesen Meistern der Dunkelheit fertigzuwerden.“ „Eines verstehe ich nicht, Gennai“, sagte Taneo. „Wenn sie doch die Meister der Dunkelheit und dieses Apocalymon besiegt haben, warum dann nicht auch die Asuras?“ „Die Asuras halfen den Meistern der Dunkelheit, die vier Gottheiten zu bekämpfen. Dabei wurden sie fast vernichtet. Nur ein winziger Teil ihrer Kräfte verblieb, und sie fielen in einen Schlaf, ähnlich dem der Götter selbst. Wir dachten zunächst, sie seien völlig zerstört worden, und werteten es als einen Sieg. Aber das alte Sprichwort hat sich wieder einmal bewahrheitet: Wo es Licht gibt, gibt es auch Schatten. Als nach Apocalymons Fall drei der vier Gottheiten erwachten und nach und nach ihre Macht zurückerlangten, wuchs in gleichem Maße die dunkle Energie in den Asuras.“ „Glauben Sie, die Meister der Dunkelheit haben sie absichtlich an den Rand der Vernichtung getrieben? Um über die Gottheiten zu wachen, falls sie versagen sollten?“, fragte Taneo. „Wen interessiert denn, was irgendsolche komischen Digimon vorhatten?“ Renji rollte mit den Augen und fing sich einen giftigen Blick von ihm ein. „Das weiß ich nicht, aber ich glaube nicht. Die Meister der Dunkelheit hatten gewiss nicht vor, den DigiRittern zu unterliegen.“ „Und jetzt sind die Asuras also wieder erwacht?“, fragte Kouki. „Vor kurzem erlangten sie ihre gesamte Macht wieder und traten auf die Bildfläche. Das Erste, was sie taten, war, die drei göttlichen Wächter wieder zu versiegeln.“ „Ich höre immer nur drei Götter“, warf Taneo ein. „Ich dachte, es wären vier?“ Gennai nickte. „Aus Gründen, die sich uns selbst noch nicht offenbart haben, erwachte das mächtige Zhuquiaomon nicht aus seinem Schlaf, auch nach Apocalymons Vernichtung nicht. Doch selbst, wenn es den anderen beigestanden hätte, bezweifle ich, dass es viel geändert hätte. Die Asuras haben die Fähigkeit, die göttlichen Wächter zu versiegeln, von ihren Herren geerbt. Es ist die letzte und heimtückischste Geißel, die noch von dem Übel übrig ist, das einst als Apocalymon in die DigiWelt kam.“ „Wie darf man sich das vorstellen?“, schnaubte Fumiko. „Die Asuras schlafen irgendwo in der DigiWelt, und keiner kommt auf die Idee, deswegen etwas zu unternehmen? Irgendwer muss doch gemerkt haben, dass sie noch nicht tot sind!“ Gennai begegnete ihrem herausfordernden Blick ruhig. „Natürlich erfuhren wir irgendwann von ihnen, doch selbst die Götterdigimon hatten keinen Zugriff auf sie. Die letzten Lebensfunken der Asuras befanden sich nicht in der DigiWelt, sondern in einer Art Zwischenwelt, wo sie wieder und wieder einen ewigen Kreislauf des Sterbens und der Wiedergeburt erlebten, bis zu dem Moment, in dem ihnen die Rückkehr in die DigiWelt gelang. So etwas ist schon einmal vorgekommen. Das Digimon, dem damals die Rückkehr gelang, war dabei über seine Grenzen hinausgewachsen. Wir können von Glück reden, dass die Asuras ihre ursprüngliche Form behalten haben.“ Tageko erinnerte sich an die Zeilen, die sie in den hinduistischen Schriften gelesen hatte. Tod und Wiedergeburt … Samsara. Dann musste für die Asuras die DigiWelt das Nirvana sein, das sie endlich erreicht hatten. „War das nicht abzusehen?“, fragte Renji. „Ich meine, hättet ihr euch nicht irgendwie darauf vorbereiten können, dass die zurückkommen?“ „Das haben wir. Ihr wurdet als neue DigiRitter ausgewählt, eure Partner wurden für euch bestimmt, und eure DigiVices gefertigt.“ „Das ist ja wohl ein schlechter Witz“, schnaubte Renji und wandte sich demonstrativ ab. „Selbst in der Dunklen Welt erlebten die Asuras den Fall ihrer Meister mit“, fuhr Gennai fort, „und sie schworen sich, nicht ebenfalls den Fehler zu machen, die DigiRitter zu unterschätzen. Sie bekämpften nicht nur die Gottheiten und ihre Getreuen, sondern versuchten auch mit allen Mitteln zu verhindern, dass ihr in die DigiWelt gelangt. Wir mussten große Opfer bringen, um eure Ernennung wahr werden zu lassen. Ihr müsst äußerst wachsam sein, ihre Heimtücke kennt keine Grenzen. Sie werden versuchen, euch mit allem, was sie haben, zu vernichten, ehe ihr eine Gefahr für sie werden könnt.“ „Das sind ja tolle Aussichten“, murrte Renji. „Auch ihr müsst euch beeilen“, setzte Gennai noch eins drauf. „Während wir hier reden, wächst die Macht der Asuras stetig an.“ „Wie das?“, fragte Taneo. Zum ersten Mal sah der gefasste Gennai etwas betrübt aus. „Einst wurde die Harmonie in der DigiWelt von sechs Heiligen Steinen gefestigt, die die Macht der Gottheiten in sich trugen. Zwischen euch und den DigiRittern, die Apocalymon besiegten, liegt noch eine weitere Generation von DigiRittern, und diese DigiRitter kämpften gegen ein Digimon, das es sich zum Ziel gemacht hatte, die Heiligen Steine zu zerstören, ehe es geläutert wurde. Dabei wurden fünf der Steine vernichtet. Um ihre Macht zu ersetzen, säte das weise Azulongmon Lichtsamen an diesen Orten. Diese Samen wurden von den Asuras infiziert. Nach und nach wird das Licht von Dunkelheit überwuchert.“ „Wie ein Virus?“, fragte Jagari. „So kann man es sagen. Unglücklicherweise mussten wir den letzten Heiligen Stein opfern, um euch eure DigiVices zukommen zu lassen. Nun sorgen nur noch diese Lichtsamen für die Ordnung in der DigiWelt. Wenn die Dunkelheit sie jedoch völlig verschlungen hat, wird statt Ordnung Chaos regieren. Die Samen werden dann statt der Macht des Lichts die Macht der Dunkelheit verbreiten.“ „Und was bezwecken die Asuras damit? Einfach nur die DigiWelt zu beherrschen, oder wie?“, fragte Taneo. „Darüber kann ich nur Vermutungen anstellen. Die Meister der Dunkelheit erhielten von Apocalymon die Macht, die DigiWelt zu einem einzigen, großen Berg zu verformen, über den sie herrschten. Vielleicht wollen die Asuras ihren Meistern tatsächlich nacheifern. Die Heiligen Steine verhindern aber auch, dass die Grenzen zwischen den Welten zusammenbrechen. Indem sie die Lichtsamen kontaminieren, könnten die Asuras auch bezwecken, in eure Welt oder eine andere zu gelangen oder sie zu vereinen.“ Tageko lief es kalt über den Rücken. Sie stellte sich vor, wie SkullScorpiomon in den Straßen von Tokio Amok lief. Ob die Armee es wohl mit Panzern und Bomben aufhalten könnte? Auf jeden Fall würde es Opfer und Zerstörung geben. „Wie können wir das verhindern?“, fragte Taneo. „Ich höre hier immer wir“, knurrte Renji. „Du bist eben auch ein DigiRitter.“ „Bin ich das? Hat mich irgendjemand gefragt?“, ereiferte er sich. „Ich denk nicht dran, den Kopf hinzuhalten, damit ihn mir irgend so ein verrücktes Digimon abschlägt, nur weil ein Typ, der nicht mal ein Mensch ist, und irgendwelche Gottheiten, von denen ich heute zum ersten Mal höre, das von mir verlangen! Oder glaubt ihr die ganze Geschichte mit den Auserwählten wirklich?“ „Hast du nicht zugehört?“, fragte Tageko kühl, während Taneo zornig die Zähne zusammenbiss. „Das geht uns alle was an. Sie könnten in die Menschenwelt kommen!“ „Dann können wir immer noch schauen, was wir tun können. Verdammt, was interessiert mich diese kranke Welt, von der wahrscheinlich noch nie jemand was gehört hat?“ „Renji“, seufzte Kouki. „Du hast doch gesehen, was in der DigiWelt los ist! Da gibt es genauso wie bei uns friedliche Einwohner, und die Asuras bedrohen den Frieden!“, sagte Taneo impulsiv. „Hast du das Bearmon-Dorf vergessen? Da drüben gibt es Krieg und Leid! Wir sind die DigiRitter, und unsere Digimon können uns helfen. Wenn sowas in unserer Welt passiert, können wir kaum was dagegen tun, aber in der DigiWelt haben wir diese Möglichkeit.“ Keines seiner Worte erreichte Renji, der einfach auf Durchzug schaltete. „Sei vernünftig, Oyara-kun“, sagte Fumiko. „Dein Kyaromon ist auch in der DigiWelt zuhause. Willst du, dass es seine Heimat verliert?“, fragte Kouki. „Nein, aber …“ Renji stockte, als er sah, wie ihn alle durchdringend ansahen. „Leute“, keuchte er, „ist das euer Ernst? Wollt ihr euch wirklich mit den Asuras anlegen?“ „Wir sind die Einzigen, die es können“, sagte Taneo ernst und wandte sich an Gennai. „Das stimmt doch, oder?“ Renji schrumpfte in seiner Ecke in sich zusammen. Er hätte jetzt gehen können. Tageko konnte merkwürdigerweise nachfühlen, wie es ihm ging. Ihr behagte der Gedanke, sich so einer Gefahr auszusetzen, auch nicht. Sie rechnete es ihm hoch an, dass er blieb. Zugegeben hätte sie das freilich nie. Gennai, der ihrer Diskussion schweigend zugehört hatte, nickte. „Eure DigiVices besitzen die Fähigkeit, die kontaminierten Lichtsamen zu reinigen.“ Die DigiRitter holten die Geräte hervor, die wie kleine Klapphandys aussahen, und betrachteten sie interessiert. „Wenn ihr sie auf die Lichter richtet, werden sie nach und nach von der Dunkelheit befreit. Je nachdem, wie weit die Infektion fortgeschritten ist, kann es eine Weile dauern. Und ihr müsst damit rechnen, dass die Asuras euch dort auflauern werden. Das Licht eurer DigiVices beinhaltet ein Serum, das eine weitere Infektion verhindern kann. Die Samen, die ihr völlig reinigt, werden nie wieder von der dunklen Macht befallen werden. Wenn die Asuras das herausfinden, werden sie die Orte streng überwachen. Und bedenkt: Ein einziger verdunkelter Samen kann das Gleichgewicht der DigiWelt zerstören. Erst wenn alle gereinigt sind, sind die Asuras bezwungen.“ Dieser Ankündigung folgte schwere Stille. Tageko konnte sich gut vorstellen, was in den Köpfen der anderen vorging – außer vielleicht in Renjis, der immer noch schmollte, und Jagaris, dessen Mienenspiel zwischen leuchtender Begeisterung und Erschrecken schwankte. Um die Asuras zu bekämpfen, mussten sie die Lichtsaaten reinigen, und diese wiederum wurden von den Asuras bewacht. Das bedeutete, ihre Feinde wussten, wo sie auftauchen würden. „Wir sind ihnen doch nicht gewachsen“, sagte Fumiko irgendwann mutlos. „Oder täusche ich mich? Sie sind alle viel stärker als wir.“ „Wir haben schon eines besiegt“, erinnerte Taneo sie. „Wir wissen doch gar nicht, ob das dunkle Tyrannomon überhaupt ein Asura war“, hielt Fumiko dagegen. „Ich meinte das andere. Pumpkinmon.“ „Das soll ein Asura gewesen sein?“, lachte Renji unecht. „Wenn, dann hat es sich nur aufgespielt. So, wie du es gern tust. Außerdem warst du der Einzige, der es gesehen hat und behauptet, es sei ein Asura. Dass ich nicht lache!“ „Ich habe es auch gesehen“, mischte sich Jagari ein. „Und es hat wirklich gesagt, dass es ein Asura ist.“ „Klar, ihr Verlierer steckt ja unter einer Decke“, schnaube Renji. „Was ist eigentlich dein Problem?“, fragte Tageko genervt. Gennai beendete den Streit. „Unter den Asuras ist tatsächlich ein Pumpkinmon. Ich weiß nicht, ob es tot ist, aber es scheint das schwächste von ihnen gewesen zu sein. Im Allgemeinen haben eure Digimon das Level, auf dem die Asuras sind, noch nicht erreicht.“ „Tolle Aussichten“, murrte Renji. „Gibt es vielleicht eine Möglichkeit, unsere Digimon noch weiter digitieren zu lassen?“, fragte Kouki. „Die früheren DigiRitter müssen ja wohl auch etwas in der Art getan haben.“ „Für den ursprünglichen Plan, sie das Ultra-Level erreichen zu lassen, hatten die Gottheiten nicht mehr genügend Kraft“, hagelte es weitere schlechte Neuigkeiten. „Ihr müsst einen anderen Weg finden, sie digitieren zu lassen.“ „Das wird ja immer besser!“, stöhnte Renji und griff sich theatralisch an die Stirn. „Kannst du jetzt endlich mal den Rand halten?“, zischte Tageko. „Ich werde versuchen, euch eine Karte der DigiWelt zukommen zu lassen, damit ihr die Orte mit den Lichtsamen findet“, sagte Gennai. „Ich fürchte, euch allein die Gegenden zu beschreiben, wird nicht ausreichen. Es könnte aber ein wenig dauern, ehe ich Gelegenheit habe, euch die Informationen zu übermitteln. Dann werde ich euch auch alles sagen, was ich über die Asuras in Erfahrung bringen kann, und euch vielleicht noch ein paar Hilfsmittel geben“, griff er die schon länger im Raum schwebende Frage auf. Mit wachsender Mutlosigkeit sahen die DigiRitter einander an, ehe sich Kouki gegen die Stirn klatschte. „Ich glaube, ich weiß, wo einer dieser Lichtsamen ist“, rief er. Alle blickten ihn erwartungsvoll an. „Das ist mir erst jetzt wieder eingefallen! Als ich mit Ogremon unterwegs war, kamen wir an einer Schlucht vorbei. Da drin leuchtete etwas, aber es war von schwarzen Flecken übersät. Ich weiß noch genau, wie ich mich gefühlt habe, als wir vorbeigingen. Es war total beklemmend, als würde mich etwas Böses, Kaltes einkreisen … Ihr könnt euch das nicht vorstellen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das einer der Lichtsamen war!“ „Da hast du recht“, sagte Gennai „Einer der Samen liegt tatsächlich am Grund einer Schlucht.“ „Meinst du, du findest dort wieder hin?“, fragte Taneo. Kouki zuckte mit den Schultern. „Glaub schon. Dort in der Nähe gibt es ein Restaurant, das lässt sich vielleicht recht einfach finden. Ich denke, wir sollten uns als Erstes diesen Samen vornehmen, bis Gennai uns die Position der anderen zukommen lassen kann. Hat wer was dagegen?“ Tageko hatte sogar eine Menge dagegen. Die beständigen schlimmen Nachrichten hatten ihre Entschlossenheit gehörig ins Wanken gebracht. Es klang fast aussichtslos. Sie könnten verletzt werden, gar sterben, die ganze Schar der DigiRitter und ihre Digimon, und sie musste schließlich auf sie aufpassen. Aber unter Gennais gleichmütigem Blick konnte sie irgendwie nicht direkt widersprechen. Es war wohl so etwas wie Pflichtgefühl. „Wir sollten eine Nacht darüber schlafen“, sagte sie daher. „Dann entscheiden wir, was wir weiter tun.“ Ob wir noch etwas tun, fügte sie in Gedanken hinzu. Gennai nickte. „Tut das, aber bedenkt, dass die Asuras stärker werden, je mehr die infizierten Samen die Macht der Dunkelheit verbreiten.“ „Ich habe da noch eine andere Frage“, murmelte Fumiko. Sie klang fast anklagend, und Tageko konnte sich denken, was sie als Nächstes sagen würde. „Alle haben ihre Partnerdigimon bekommen, aber meines ist noch immer nicht aus dem Ei geschlüpft. Warum? Wird es jemals schlüpfen?“ Gennai sah sie seltsam an. Wieder blitzte eine Spur Bedauern in seinen gleichmäßigen Zügen auf. „Das kann sein. Als mich die Asuras angriffen und ich eure DigiEier und DigiVices in Sicherheit brachte, wurde eines der Eier beschädigt. Es tut mir leid.“ „Und was ist jetzt damit?“ Fumikos Stimme wurde lauter. „Wird es je schlüpfen? Oder ist es tot?“ „Das ist schwer zu sagen“, antwortete Gennai ausweichend. Tageko hasste ihn in dem Moment dafür, immer so vage zu sein. „Für gewöhnlich erscheinen Digimon, wenn sie sterben, wieder als DigiEier in der Stadt des Ewigen Anfangs.  Es kommt nur ganz selten vor, dass ein Digimon in seinem Ei stirbt. Ich habe leider keine Antwort auf deine Frage.“ Fumiko ließ enttäuscht die Schultern hängen. Tageko trat zu ihr und nahm sie in den Arm, um ihr Trost zu spenden. „Habt ihr noch weitere Fragen?“ Gennai schien die Unterhaltung lästig zu sein, oder täuschte sich Tageko? Als wollte er nicht, dass man ihn derart löcherte. „Ja, ich.“ Kouki öffnete den Rucksack, den er mitgebracht hatte. Darin lagen die seltsamen Statuen, die er ihnen gezeigt hatte. „Die hier hab ich in der DigiWelt gefunden. Wissen Sie, was das ist?“ Es war wohl die aufregendste Reaktion, zu der sich Gennai an diesem Tag hinreißen ließ: Er blickte erstaunt in den Rucksack. „In der Tat. Das sind die DigiArmorEier, legendäre Artefakte, die nur von wenigen Digimon genutzt werden können. Für euch waren sie eigentlich nicht vorgesehen. Sie gerieten in den Besitz der Asuras, als ich eure DigiVices rettete.“ „Das da sind DigiEier?“, fragte Jagari ungläubig. „Den DigiArmorEiern wohnt die Kraft verschiedener Wappen inne. Diese Wappen entsprachen den Wesenszügen der DigiRitter, die vor euch in die DigiWelt gerufen wurden. Mit ihrer Hilfe konnten ihre Digimon digitieren. Ursprünglich war auch für jeden von euch eines der herkömmlichen Wappen geplant gewesen.“ Er sah Kouki an. „Aufrichtigkeit.“ Sein Blick glitt zu Jagari. „Wissen.“ Zu Fumiko. „Freundschaft.“ Taneo. „Mut.“ Tageko. „Zuverlässigkeit.“ Zu Renji. „Und Liebe.“ „Was?“, platzte Renji heraus. „Warum muss gerade ich so ein schwules Wappen haben?“ „Du hast mir doch oft genug gesagt, dass du in mich verliebt bist, oder?“, fragte Fumiko schnippisch. „Wenn du jetzt sagst, dass deine Gefühle für mich schwul sind, was soll ich dann davon halten?“ „Was? Aber … ich …“ Renji, der offenbar nicht begriff, dass sie einen Scherz gemacht hatte, starrte sie sprachlos aus tellergroßen Augen an. Tageko wagte nicht zu lachen, um diesen göttlichen Moment möglichst lange hinauszuzögern. „Dieser Plan wurde letztendlich verworfen“, sagte Gennai. „Wir hatten keine Zeit, eure DigiVices auf die Wappen abzustimmen.“ Er musterte Kouki forschend. „Aber du sagst, du kannst die DigiArmorEier hochheben?“ „Klar. Sie sind federleicht.“ „Jedes?“ „Äh, ja.“ Er kratzte sich am Kopf. „Wir anderen konnten das nicht“, sagte Tageko. „Was bedeutet das?“ Renji gab etwas von sich, das wie Angeber klang, aber sie war sich nicht sicher. „Das ist interessant“, sagte Gennai. „Ich werde Nachforschungen anstellen. Bewahre die ArmorEier am besten in der Menschenwelt auf. Sie sollten den Asuras nicht noch einmal in die Hände fallen.“ Er sah auf den Computerbildschirm zurück. „Es wird nun Zeit für mich, zu gehen. Ich zähle auf euch, DigiRitter. Die ganze DigiWelt tut das. Wir sehen uns wieder.“ Und dann war er weg. Ohne noch eine weitere ihrer tausend Fragen abzuwarten, wurde er von dem Monitor verschluckt wie Sand von einem Staubsauger, und er hinterließ beklommene Stille in den Reihen der DigiRitter. Sie hatten nun ein Ziel – die Lichtsamen reinigen und dabei die Asuras zerstören –, aber sie waren weiter davon entfernt denn je.   Obwohl sie die Entscheidung, was nun zu tun war, vertagen wollten, endete der Abend trotzdem damit, dass die DigiRitter sich von Jagaris Mutter bewirten ließen, während sie angeregt über ihr Gespräch mit Gennai diskutierten. Renji und Taneo waren einander ausnahmsweise in einem Punkt einig: Gennai hatte sie kaum einen Schritt weitergebracht. Er hatte ihnen gesagt, was sie zu tun hätten, aber ihre Aufgabe war weit schwieriger, als sie gefürchtet hatten. Fast alle sprachen sich dafür aus, es dennoch zu versuchen. Taneo meinte, es wäre ihre Pflicht, die DigiWelt zu retten, man hätte sie immerhin dafür auserwählt und ihnen zu diesem Zweck Digimon-Partner gegeben. Kapurimon hüpfte bestätigend auf und ab. Fumiko war auch dafür. Zwar war sie zerknirscht, was ihr DigiEi anging, aber sie wollte dennoch nicht untätig bleiben. Kouki, dem die Grausamkeit der Asuras und die Freundlichkeit anderer Digimon noch gut im Gedächtnis saßen, wollte ebenfalls versuchen, die DigiWelt zu retten, und Tageko sah sich gezwungen, mit den Entscheidungen ihrer Schützlinge mitzulaufen, um sie davor zu bewahren, auf eigene Faust in den sicheren Untergang zu rennen. Da sie sie wohl nicht umstimmen konnte, würde sie mitkommen müssen, egal wie wenig Lust sie auch dazu hatte. Jagari war etwas ängstlich, gleichzeitig fand er die DigiWelt aber so faszinierend, dass er es laut eigener Aussage kaum erwarten konnte, dorthin zurückzukehren. Renji war nicht stur genug, um sich lange zu widersetzen – zwar maulte er noch eine Weile herum, aber seine Einstellung weichte schließlich auf. „Wenn ich mitkomme, gehst du dann mal mit mir aus, Fumiko-chan?“, fragte er im Scherz „Reden wir darüber, wenn wir die Asuras besiegt haben“, gab sie zurück. Die Frage, ob sie es ebenfalls scherzhaft gemeint hatte, gab ihm dann lange zu denken. Schließlich sprachen sich alle DigiRitter mehr oder minder entschlossen dafür aus, den Lichtsamen aufs Korn zu nehmen, den Kouki gesichtet hatte. Als sie soweit waren, war die Sonne längst untergegangen. Einen Plan schmiedeten sie noch, weil sie gerade so schön in Fahrt waren. Hier wurden sie sich schneller einig, obwohl Renji prinzipiell gegen alles war, was Taneo vorschlug, ohne selbst Ideen vorzubringen. Irgendwann herrschte Tageko ihn an, endlich den Mund zu halten oder etwas Besseres vorzuschlagen, und dann schmollte er eine Zeitlang. Taneo kalkulierte verschiedene Faktoren ein: Die ihnen bereits bekannten Gebiete der DigiWelt, die ihnen bekannten Asuras, Dörfer und Orte, an denen freundlich gesinnte Digimon lebten, ihre eigenen Fähigkeiten und das lebende Haus, das in der DigiWelt noch auf sie wartete. In jedem Fall wollten sie warten, bis Jagari wieder völlig gesund war. Es war fast Mitternacht, als sie sich schließlich verabschiedeten. Freitags versammelten sie sich nach Jagaris Anruf schließlich wieder im Hause Morino. Der Kampf um die Lichtsamen würde nun beginnen. Kapitel 16: Muttergefühle ------------------------- Es war eindeutig dieselbe Stelle, aber der Haustitan war verschwunden. Stattdessen krochen riesige Digimon am Rand des Bächleins und im Wald umher, eine ganze Menge riesiger, fies aussehender Digimon. Da waren große, schleimige Schnecken, Pflanzen mit lebendigen Tentakeln, gepanzerte, fliegende Bälle mit Kettensägen und Digimon, die an ein Meramon mit Metallrüstung erinnerten. Alles in allem waren es vielleicht dreißig oder vierzig, und in den Baumkronen versteckten sich sicher noch mehr. An der Stelle, wo sie das riesige Haus mit seinem Verteidigungsprogramm zurückgelassen hatten, scharrte SkullScorpiomon ungeduldig mit den knöchernen Krallen. Unweit von ihm stand ein obskures Digimon mit langen Gliedmaßen, das ebenfalls eine Aura aus Autorität umgab, bedachte man, in welch respektvollem Abstand die Dienerkreaturen um es herumstapften. Und dann war da noch ein Hund mit drei Köpfen zu sehen. Als Kouki ihn sah, packte er hastig seinen Feldstecher ein und kletterte vom Baum, damit er nicht etwa gewittert wurde. „Du hattest recht“, sagte er zu Taneo, als er zu seinen Freunden zurückging. „Sie haben das Haus tatsächlich gefunden und warten darauf, dass wieder wieder durch diesen Fernseher in die DigiWelt gehen. Und das Haus ist fort.“ Die DigiRitter hatten wohlweißlich einen Fernseher in einem der angrenzenden Gebiete benutzt. Taneo hatte vorausgesehen, dass man ihnen eine Falle stellen würde. Er war wirklich gut im Austüfteln von Schlachtplänen. „Also müssen wir jetzt zu Fuß weiter“, murmelte Tageko. „Und wir haben einen sarken Verbündeten verloren.“ Sie hatte einen schweren Rucksack geschultert. Die DigiRitter hatten alles an Ausrüstung eingepackt, was ihnen nützlich erschien, doch Tagekos Gepäck toppte alles. „Wenn wir Glück haben, konzentrieren sie sich so sehr auf diese Stelle, dass wir leichtes Spiel bei den Lichtsamen haben“, sagte Taneo. „Weißt du noch ungefähr den Weg zu diesem Restaurant, Kouki?“ Er überlegte kurz. „Wenn wir den Fernseher großräumig umgehen, müssten wir in zwei oder drei Stunden dort sein.“   Sie fanden das Restaurant tatsächlich auf Anhieb. Bei dem köstlichen Duft, der aus den Fenstern wehte, lief ihnen das Wasser im Mund zusammen, aber Tageko und Taneo beschlossen, dass sie drinnen nichts essen würden – zumal der Besitzer nur Dollar akzeptierte, wie Kouki wusste. Je weniger Augen sie sahen, desto besser. Sie sahen sich nach dem Weg um, der ins Gebirge führte, als ein ekliges, gelbes Digimon angehüpft kam, das zum Glück keinesfalls bedrohlich wirkte. „Sucht ihr was Bestimmtes?“, fragte es. Seine Stimme klang schleimig, dümmlich und es war schwer zu verstehen – was vielleicht daran lag, dass ihm die hühnergroße Zunge beim Reden aus dem Mund hing. „Ich bin Sukamon, der beste Fremdenführer hier in der Gegend. Wenn ihr euch verirrt habt, bin ich euer Digimon.“ „Euer Digimon!“, fügte die kleine, violette Maus, die auf ihm saß, nicht weniger dümmlich hinzu. „Das könnte vielleicht wirklich praktisch sein“, überlegte Kouki. „Ich bin mir nicht mehr ganz sicher, welchen Weg wir damals genommen haben … Wir suchen die Schlucht mit dem Lichtsamen, falls du die kennst. Was für eine Währung nimmst du?“ „Oh, die erste Führung ist immer gratis“, sagte Sukamon händereibend. „Ist immer gratis!“, rief die Maus. „Moment.“ Tageko sank vor dem Digimon auf ein Knie, damit sie auf gleicher Höhe waren, und sah es mit zweifelndem Blick bohrend an. „Du kommst mir schon sehr merkwürdig vor. Eine Gratisführung? Das erscheint mir doch zu verdächtig.“ Dem Sukamon brach der Schweiß aus, was auf seiner glatten gelben Haut gut zu sehen war. „Na gut, na gut, du hast mich erwischt“, sagte es und wedelte abwehrend mit den dürren Armen – seinen einzigen Extremitäten, obwohl man die Zunge fast dazurechnen konnte. „Wenn wir am Ziel angekommen sind, würd ich gern von euch zum Essen eingeladen werden. Vielleicht macht ihr ja ein Picknick dort, oder wir kommen hierher zurück …“ „Hierher sicher nicht“, sagte Tageko trocken. „Am Ende treffen wir noch mehr so schmierige Kreaturen wie dich.“ „Du kannst was von unseren Lunchboxen haben“, bot Kouki an. „Oh, danke, danke“, sabberte das Digimon. Die Maus sprang von seinem Kopf. „Ich bezahle schnell die Rechnung. Geht schon mal vor, wir treffen uns in der Schlucht.“ Es huschte auf das Restaurant zu. „Dann nichts wie los“, sagte Sukamon und hüpfte voraus. „Sag mal, meinst du, das ist eine gute Idee?“, raunte Tageko Kouki zu. „Dieses Digimon gefällt mir nicht.“ „Ach, keine Sorge“ meinte er lächelnd. „Es macht doch einen strunzdummen Eindruck. Sicher ist es harmlos.“ „Hoffentlich“, brummte sie zweifelnd.   „Troopmon! Troopmon!“ Das kleine Chipmon stürzte Hals über Kopf bei der Tür von Digitamamons Restaurant herein und lief auf Troopmons Tisch zu, kletterte an der Stuhllehne hoch und sprang auf die Tischplatte, wo es erstmal keuchend nach Luft schnappte. „Was ist?“, fragte Troopmon mit seiner heiseren Stimme. Es schlürfte einen Schluck Kakao durch seine Gasmaske. „Menschen … Sukamon … Berge!“ Chipmon musste nach Atem schöpfen, dann setzte es erneut an. „Sukamon führt ein paar Menschen in die Berge! Sie wollen zu der Schlucht, in der der Lichtsamen steckt! Sukamon führt sie sicher auf Umwegen dahin, also werden sie lange brauchen!“ „Was geht mich das an?“, knurrte Troopmon ungehalten und machte Anstalten, das kleine Mausdigimon von seinem Tisch zu wischen. „Es sind Menschen!“, rief Chipmon. „Die Asuras suchen doch nach Menschen, das weiß hier jeder! Letztens war sogar Persiamon hier und hat sich nach ihnen erkundigt!“ „Und?“ „Du als Kopfgeldjäger könntest dich bei ihnen gutstellen! Sie zahlen dir sicher einen hohen Preis, ganz bestimmt!“ Troopmon setzte das Glas auf dem Tisch an. „Da ist was dran“, brummte es heiser und überlegte. „Mal sehen … die Klaffenden Berge, das müsste Karatenmons Gebiet sein. Ausgezeichnet.“ Es stand auf, warf Veggiemon ein paar Münzen zu und machte Anstalten zu gehen. „He!“, rief Chipmon. „Sukamon und ich bekommen einen Anteil, vergiss das nicht!“ „In dem Glas ist noch ein letzter Schluck.“ Troopmon deutete auf seinen Kakao. „Das müsste reichen.“ Chipmon starrte es aus großen Augen an. „Das reicht nicht!“, ereiferte es sich, verstummte aber, als Troopmon sein Gewehr auf es richtete. „Ich … ich meine … doch, das ist natürlich mehr als genug …“, piepste es kleinlaut. Ohne ein weiteres Wort ging Troopmon nach draußen. Am Rand des Sees tauchte wie aus dem Nichts sein Waffenbruder Monitormon auf. „Haben wir gerade jemanden in der Nähe von Karatenmons Höhle?“, fragte es das Digimon, dessen Kopf ein riesiger Bildschirm war. „Das rote Monitormon müsste dort irgendwo sein.“ „Verbinde mich mit ihm. Es soll Karatenmon eine Nachricht überbringen.“ „Da wird es aber nicht erfreut sein.“ „Ist mir egal. Ich will auf Nummer sicher gehen.“ Karatenmon war von allen Asuras vermutlich am einfachsten zu finden. In der Nähe seiner Höhle war es oft bei irgendwelchen rituellen Morgenübungen zu sehen. Natürlich widerstrebte es anderen Digimon, seine Höhle zu betreten, selbst Kopfgeldjägern wie Troopmons Monitormon-Freunden – aber es würde Karatenmon wissen lassen, dass es ihm bald die DigiRitter bringen würde, und rückfragen, wie viel sie ihm wert seien. Bekam es nicht genug für sie, würde sich schon ein anderer Abnehmer finden. Es bemerkte nicht den haarigen Schatten, der hinter ihm aus dem Restaurant kam und sich eiligst auf den Weg in Richtung Gebirge machte.   „Und das da vorn ist der, ähm, der …. der, der Wellenfelsen.“ Sie kamen an einer Steilwand vorbei und Sukamon deutete auf einen Stein, der tatsächlich eine wellige Oberfläche hatte. „Das hast du dir doch gerade ausgedacht“, sagte Jagari anklagend. Die ganze Zeit ging das nun schon so. Sie waren seit Stunden unterwegs und hatten nur eine einzige Pause gemacht. Selbst nachdem das Digimon den versprochenen Snack aus ihren Bentous bekommen hatte, wurde es nicht müde, sich wichtig zu machen. Sukamon antwortete nicht, sondern hüpfte zu Fumiko. „Na, meine Süße? Wie gefällt es dir in der DigiWelt?“ Fumiko achtete stur auf den Weg. „Schrecklich. Zu viele hässlichen Gestalten.“ Sukamon sah nicht so aus, als hätte es den Seitenhieb verstanden, aber es wirkte ob ihrer rüden Antwort dennoch geknickt und hopste wieder an die Spitze der Prozession. Nicht lange darauf erreichten sie eine Schlucht. „Da vorne ist es!“, sagte das gelbe Digimon. Es hätte gar nicht darauf zeigen müssen. Noch ehe sie den Lichtsamen sahen, überkam sie das beklemmende, stickige Gefühl, von dem Kouki gesprochen hatte. Als würde etwas abgrundtief Böses und Kaltes auf sie in dieser Schlucht lauern … Sie mussten sich regelrecht zwingen, einen Schritt vor den anderen zu setzen. „Kalt, nicht wahr? Deswegen kommen so selten Digimon hier her. Ihr habt Glück, dass ihr mich getroffen habt“, sagte Sukamon. Der Samen war so, wie Kouki ihn in Erinnerung hatte, nur dass das strahlende, formlose Weiß nun noch mehr von schwarzen Pocken durchsetzt war. Es erschien ihm falsch, dass so reines Licht derart befleckt wurde, und er war froh, etwas dagegen unternehmen zu können. Als sie auf den Samen, der mitten in der Schlucht knapp über dem Boden schwebte, zutraten, merkten sie, dass sie erwartet wurden. „Ihr seid also endlich hier.“ „Was ist das denn für ein komisches Ding?“, platzte Renji heraus. Nanimon hatte die irrwitzig kleinen Arme verschränkt und starrte ihnen unter seiner Sonnenbrille entgegen. „So sieht man sich wieder, Menschenjunge!“, rief es Kouki zu. „Wir haben noch eine Rechnung offen!“ „Was willst du von uns?“, fragte Salamon alarmiert. „Das wisst ihr sehr genau! Ihr habt mich gedemütigt und um meine Rache gebracht!“ „He, langsam“, wehrte Kouki ab. „Ich war nur der Schiedsrichter. Und Salamon hat gar nichts getan.“ „Kennst du den Witzbold etwa?“, fragte Renji. „Flüchtig“, seufzte Kouki. „Ich werde dir zeigen, was er heißt, mich lächerlich zu machen. Komm her!“, brüllte Nanimon. „Ist das Ding ein Asura?“, fragte Taneo. „Oh, nein“, antwortete Kouki. „Es heißt Nanimon. Es ist harmlos – denke ich.“ „Harmlos?“, stieß Nanimon aus und sein runder Kopf färbte sich rot. „Na warte, dir geb ich harmlos!“ Knurrend und schnaufend rannte es auf ihn zu. „Kouki, pass auf!“ Salamon warf sich dazwischen und sprang das wütende Digimon an, doch ein Fausthieb von Nanimon schleuderte es davon. „Du kommst später dran!“, versprach es, als der kleine Hund über den kantigen Boden der Schlucht schlitterte. Salamon rappelte sich sofort wieder auf und stieß ein Knurren aus – dann hüllte gleißendes Licht das Digimon ein. Als es verschwand, rannte Gatomon auf allen Vieren zu seinem Partner. „Kokuwamon!“, rief Taneo, als Nanimon immer näher kam. Das Käferdigimon flog ihm mit blitzenden Kontakten entgegen, und Nanimon war so dumm, erneut zuzuschlagen. Sein Boxhandschuh geriet mitten in die elektrische Zange, und mit einem zitternden, hohen Schrei hielt das Digimon inne, die Glieder unkontrolliert zuckend und mit blauen Blitzen, die über seinen Körper liefen. Im nächsten Moment war Gatomon heran. „Blitzpfote!“ Nun war es sein Schlag, der Nanimon umwarf und aufgrund seiner Körperform über den Boden kollern ließ. „Reizend“, sagte Tageko eben sarkastisch – als sich direkt vor ihren Füßen ein kleiner, grüner Blitz in den Boden fraß. Die DigiRitter zuckten zusammen und wirbelten herum, auf der Suche nach dem neuen Angreifer. Schon regnete es weitere Blitze. „Kouki, weich aus!“ Gatomon sprang seinem Partner gegen die Brust und bewahrte ihn damit davor, getroffen zu werden. Jagari hatte inzwischen den Übeltäter ausgemacht. „Da oben!“, rief er und deutete auf den schmalen Gebirgspfad, dem Kouki damals mit Ogremon gefolgt war. Man sah undeutlich eine Gestalt, die in ihre Richtung sah – und immer wieder kleine, grüne Blitze auf sie schoss, die überall in der Schlucht herniederhagelten. „Weißt du, wer das  –“, wollte Kouki Sukamon fragen, doch das Digimon hatte sich aus dem Staub gemacht. Er fluchte. Das war ja auch zu schön gewesen, um wahr zu sein.   „Geht alle in Deckung!“, rief Taneo. Das war einfacher gesagt als getan. Es gab in der Schlucht keine Sträucher oder Ähnliches, hinter dem man Schutz suchen könnte, und irgendwie widerstrebte es ihnen, sich hinter dem Lichtsamen zu verstecken. Letztendlich kauerten sie sich alle hinter irgendwelche Felsbrocken, die sich an den Steilwänden gesammelt hatten, oder versteckten sich in Felsnischen. Während Taneo sich mit dem Rücken gegen den kantigen Brocken lehnte, Kokuwamon fest im Arm, dachte er fieberhaft darüber nach, wer es diesmal auf sie abgesehen hatte. Ein Verbündeter Nanimons? Gar ein Asura? Oder ein Untergebener von ihnen? Seine Gedanken wurden unterbrochen, als Renji sich keuchend wie nach einem Marathonlauf mit Candlemon im Schlepptau über den Felsen schwang und neben Taneo hockte. Kurz starrte er seinen Mitflüchtling an, und Taneo konnte an seinem Mienenspiel sehen, dass ein Schwall verschiedenster Gedanken durch sein Gehirn raste. Schließlich verzog er das Gesicht, sprang wieder auf und lief weiter, wieder aus der Deckung heraus. Candlemon hopste ihm verwirrt hinterher. War das zu fassen? „Bleib hier, du Idiot!“, brüllte Taneo ihm nach. War Renjis Abneigung ihm gegenüber so groß, dass er lieber ins Verderben rannte, als sich hinter dem gleichen Felsen zu verstecken?   Tageko blieb fast das Herz stehen, als sie, nachdem sie all ihre Schützlinge schon in Sicherheit geglaubt hatte, Renji plötzlich wieder ohne Deckung durch die Schlucht rennen sah. Hatte er den Verstand verloren? Das Digimon auf der Klippe nahm ihn natürlich sofort ins Visier. Die ersten Blitze schlugen direkt neben Renji ein, bald würde es sich geeicht haben … In hellem Licht digitierte Candlemon zu Meramon und warf sich schützend über seinen Partner. Gerade rechtzeitig. Der nächste Blitz hätte Renji direkt getroffen. Nun fuhr er in Meramons flammenden Rücken und wurde absorbiert, doch das Digimon ließ dennoch ein schmerzerfülltes Stöhnen hören. Tageko hörte Renji mit geweiteten Augen irgendetwas rufen, dann wandte sich Meramon knurrend um, holte aus und schleuderte einen Feuerball himmelwärts. Er traf die Steilwand über dem Scharfschützen und zerplatzte daran, aber mehr als kleine Steinchen riss er nicht los. Plötzlich sprang Mushroomon neben Tageko auf und warf einen seiner Pilze nach dem Angreifer. Auch dieser traf nicht, sondern war etwas zu tief gezielt – dafür nahm der Schütze nun Tagekos Partner aufs Korn und sandte ein Stakkato aus Blitzen in seine Richtung. Mushroomon duckte sich hastig wieder, aber  es entging dem Angriff nur um Haaresbreite. „Hast du sie noch alle?“, fuhr Tageko es an. Ihr Herz pochte so sehr, dass es wohl zum baldigen Zerspringen bereit war. „Wie kannst du in so einem Moment nur aus der Deckung gehen? Willst du, dass es dich erwischt?“ Mushroomon zuckte ob der Schelte zusammen. „Ich wollte doch nur …“ „Dich leichtsinnig in Gefahr begeben? Bleib verdammt nochmal unten, hast du verstanden?“ Das Digimon senkte betreten den Kopf, aber Tageko hakte noch einmal nach. „Hast du verstanden?“ „Ja“, murmelte es kleinlaut.   Von seinem Versteck in einer Felsnische aus sah Jagari, wo Nanimon abgeblieben war. Es schien sich noch mit Gatomon zu duellieren, im Schatten der Steilwand, die von dem Pfad oben aus schwierig einzusehen war. Eben liefen die beiden wieder aufeinander zu, als wären sie Ritter, die einander vom Pferd stoßen wollten. Kurz bevor sie sich erreichten, machte Gatomon einen Satz, landete auf der Glatze des völlig überrumpelten Nanimon, sprang von dort aus weiter und drehte sich in der Luft herum. „Katzenauge!“ „Ha! Was soll das sein?“ Was Jagari befürchtete, trat ein. Nanimons Sonnenbrille schien es vor Gatomons Augen zu schützen. Das Boxerdigimon holte aus und fegte Koukis Partner direkt aus der Luft wie eine Fliege. „Das sieht schlecht aus, Elecmon“, sagte er. Er lugte über die Schulter und versuchte, die anderen zu finden. Das Dauerfeuer von oben hatte aufgehört. Ganz in der Nähe sah er Taneos Haarschopf über einen Geröllbrocken ragen. Von Kokuwamon sah er nur, dass es plötzlich in hellem Licht zu Thunderboltmon digitierte – und dann quasi verschwand. Hatten die beiden einen Plan? Sofort wurde Jagaris Aufmerksamkeit wieder von Nanimon angezogen, das sich mit entschlossen verzogenem Mund auf Kouki stürzen wollte. Dieser drängte sich mit dem Rücken gegen die Felswand und sah der laufenden Kugel mit zusammengebissenen Zähnen entgegen, die mit erhobenen Fäusten auf ihn zustürmte – so lange, bis Meramon sich vor ihm aufbaute und sich drohend die Hände rieb. Jagari registrierte beiläufig, dass Renji irgendwo abgetaucht war. Man hörte sogar seine Stiefel quietschen, als Nanimon abbremste. „Du hältst du wohl für sehr wichtig, weil du so groß bist!“, blaffte es Meramon an. „Wo kommst du überhaupt her, verdammt?“ „Das würde dich wohl brennend interessieren, was?“, entgegnete Meramon grinsend. In seiner Hand flammte eine Feuerkugel auf, der Nanimon nur durch einen gewagten und wenig anmutigen Sprung entging. Jagari atmete erleichtert auf, als er Kouki wieder in Sicherheit sah … jedenfalls bis das Digimon oben auf dem Pfad seine Position gewechselt hatte und sie alle erneut ins Visier nahm. So weit sollte es nicht kommen. Plötzlich hörte man von oben einen dumpfen Schlag, und ein Blitzen wurde sichtbar – nicht grün, sondern blau. Thunderboltmon war unbemerkt zu dem Scharfschützen hinaufgeflogen – und es dauerte keine Sekunde, als man auch schon einen dunklen, menschenähnlichen Körper von der Klippe stürzen sah. Taneos Digimon schoss kreuz und quer durch seine Flugbahn und attackierte es noch im Fallen wieder und wieder mit seinem kugelförmigen Körper. Schließlich richtete das fremde Digimon seine Waffe auf den Boden der Schlucht und feuerte einen durchgängigen Blitz, so stark wie noch nie zuvor. Es benutzte ihn als umgekehrten Schubantrieb und dämpfte somit seinen eigenen Aufprall. Trotzdem knallte es so hart auf den Felsenboden, dass Erde und Staub aufwirbelte. „Gut gemacht, Thunderboltmon!“, rief Taneo. Sein Digimon schraubte sich blitzschnell wieder in den Himmel, um mit seinem nächsten Angriff zu warten, bis sein Feind wieder sichtbar wurde. Jagari sah seine Zeit gekommen. „Jetzt sind wir dran, Elecmon“, sagte er und sein DigiVice leuchtete auf. Es war gut, dass sein Partner nun augenscheinlich willkürlich digitieren konnte. Der Boden erzitterte unter Tyrannomons schweren Krallen. Der riesige, rote Dinosaurier warf brüllend ein Maul voll Flammen auf den Schatten, der sich aus der Staubwolke erhob. „Jagari, Tyrannomon! Ihr stehlt uns die Show, verdammt!“ Renji war wieder aus seiner Felsnische aufgetaucht, aber Jagari kümmerte sich ausnahmsweise nicht um seine Worte – zumal das fremde Digimon keine Sekunde später aus dem Wirbel aus Flammen und Staub hervorrannte. Genauer gesagt watschelte es auf seinen krummen, kurzen Beinen, aber so schnell, dass Tyrannomons Flammenwerfer es nicht erwischte. Erstmals konnte Jagari es genau erkennen. Es sah aus, als trüge es einen militärischen ABC-Anzug, dazu hatte es eine passende Waffe in der Hand. Es rutschte gekonnt zwischen Tyrannomons Beinen hindurch und deckte den Riesen dabei mit einem Schwall grüner Blitze aus deren Mündung ein. Jagaris Partner knurrte auf und zuckte zusammen.   Als das Digimon wieder aus der Feuerwolke herausbrach, die es eigentlich hätte erledigen sollen, mussten die DigiRitter hektisch neue Verstecke suchen. Taneo fluchte. Ein Schweißtropfen lief ihm über die Wange. Er wollte es nicht zugeben, aber er hatte vor einem Digimon mit einer Schusswaffe mehr Angst als vor solchen Giganten wie dem schwarzen Tyrannomon, das sie bei ihrem letzten Besuch in der DigiWelt gesehen hatten. Selbst die Schwerter der Ninjamon waren ihm tausendmal lieber. Ein einziger Schuss aus der Ferne konnte sie verletzen, oder gar töten … Seine Narbe brannte wieder. Fieberhaft überlegte er, was nun zu tun wäre. Immerhin konnten sie das Digimon jetzt, da es direkt vor ihrer Nase war, bekämpfen. Taneos Blick wanderte zu dem Lichtsamen mit seinem unansehnlichen Fleckenmuster. Und wenn das Digimon ein Asura war? Dann war es vermutlich nicht so einfach kleinzukriegen … Es sah, nüchtern betrachtet, zwar nicht bedrohlich aus, aber das hatte Pumpkinmon auch nicht getan. Wenn es ihm gelang, den Lichtsamen zu reinigen, konnte er es vielleicht ablenken oder seine Motivation brechen … besser als untätig herumzusitzen war es allemal. „Gebt mir Deckung!“ Er lief los. Sofort wandte sich das finstere Digimon ihm zu – und sofort stieß Thunderboltmon wie ein Raubvogel vom Himmel herab und deckte es mit neuen Stößen ein. Nahe der Steilwand sah Taneo, wie Nanimon ächzend Gatomons und Meramons Attacken auswich. Gut, es war also auch beschäftigt. Keuchend, die Narbe in seinem Gesicht ein Mund, der Schmerzen spie, blieb er hinter dem Lichtsamen stehen, wo er vielleicht nicht so gut gesehen wurde. Er griff nach seinem DigiVice und richtete es auf das befleckte Licht. Das kleine Display glühte auf, und ein einzelner, weißer Lichtstrahl verband es plötzlich mit dem Samen. Taneo meinte zu sehen, wie die schwarzen Flecken etwas ausblichen. Doch das war nicht alles, was passierte. Auch goldenes Licht erfüllte die Schlucht. Zuerst dachte Taneo, ein weiteres Digimon seiner Freunde wäre digitiert, doch als er am  Lichtsamen vorbei lugte, sah er mit Entsetzen, dass sich Thunderboltmon mitten in seinem Kampf zurückverwandelte. Plötzlich viel langsamer und weniger gefährlich, wurde es von einem grünen Schuss seines Feindes erwischt und quer durch die Schlucht geschleudert. „Kokuwamon!“ Taneos Blick flackerte zu dem DigiVice, das er immer noch erhoben hatte. Digitierten ihre Digimon etwa zurück, sobald sie damit den Lichtsamen reinigen wollten?   „Tageko, wir müssen ihnen helfen!“, sagte Mushroomon mit Nachdruck, wagte aber nicht, seine Partnerin anzusehen. Sie hatten nur kurz das Versteck gewechselt und waren wieder hinter einem Felsen in Deckung gegangen. Seither hatte Tageko das Geschehen mit wachsendem Unwohlsein verfolgt. Erst war Renji losgerannt, nun Taneo – war sie denn hier die einzig Vernünftige? „Tageko!“, drängte Mushroomon. „Sei ruhig! Wir werden gar nichts tun!“, fuhr Tageko ihr Digimon etwas zu scharf an. „Ich laufe los und versuche, Taneo irgendwie in Sicherheit zu bringen. Du wartest hier.“ Sie wollte schon loslaufen, aber der Handschuh des Pilzdigimons schloss sich um ihr Handgelenk. „Aber ich kann dir helfen! Allein ist es zu gefährlich!“ „Lass mich los! Die anderen brauchen mich!“ „Sie brauchen uns!“ „Du kannst nicht so schnell laufen wie ich. Ich bin Staffelläuferin. Du würdest mich nur aufhalten“, erklärte Tageko kühl und nüchtern. „Und ich werde nicht kämpfen. Ich suche mir drüben bei Taneo eine neue Deckung, dann warten wir ab. Lass mich los!“ „Das kann ich aber nicht zulassen!“ Mushroomon lief rot an, was bei einem Pilz seltsam aussah, aber es schien all seinen Mut aufzubringen, Tageko die Stirn zu bieten. „Ich komme mit und beschütze dich!“ „Und das kann ich nicht zulassen“, beharrte sie. „Ich kann auf mich selbst aufpassen. Wenn du auch noch da draußen bist, muss ich mich um euch alle kümmern – dazu bin ich im Moment nicht entspannt genug, okay?“ Mushroomon machte zögerlich den Mund auf, ohne sie indes loszulassen. „A-aber … wenn ich digitieren könnte …“ „Das wirst du nicht.“ „Die anderen haben es auch geschafft!“ „Nein – hör zu, ich will nicht, dass du digitierst, hast du verstanden?“ Tageko sah ihrem Partner fest in die Augen. „Du wirst nicht digitieren, und damit basta! Ich dachte, das hätten wir besprochen.“ „Aber wieso nicht?“, jammerte Mushroomon. Sein Widerstand schien dahinzuschwinden. Der Griff um Tagekos Handgelenk wurde lockerer. „Warum darf ich nicht digitieren? Warum darf ich nicht kämpfen, Tageko?“ Sie biss sich auf die Lippen. Nun war sie es, die dem Blick ihres Partners auswich. „Darum“, murmelte sie.   „Ich löse dich ab.“ Taneo warf Fumiko einen überraschten Blick zu. Sie hatte sich an der Steilwand vorgetastet und war zu ihm hinter den Samen geschlichen. Als er nicht reagierte, hob sie kurzerhand ihr eigenes DigiVice und richtete es auf den Lichtsamen. Die schwarzen Flecken zogen sich unter dem neuen Licht zurück, das war zu sehen, aber sie taten es langsam, sehr langsam. Es würde noch eine Ewigkeit dauern. „Na los“, drängte sie ihn. „Ich übernehme. Lass Kokuwamon wieder digitieren. Hast du gesehen, wie flink dieses Biest ist? Thunderboltmon kann als Einziges den Lockvogel spielen, damit es nicht auf uns Menschen schießt. Ich übernehme den Samen.“ Sie senkte bitter die Stimme. „Wenigstens hat es was Gutes, dass mein Ei nicht geschlüpft ist. Nun geh schon!“ Taneo nickte dankbar und senkte sein DigiVice. Fumiko hoffte nur, dass Kokuwamon eine zweite Digitation gelang – doch kaum eine Sekunde später leuchtete das Käferdigimon, das am Fuß der Klippe gelandet war, wieder golden auf. Vielleicht konnten sie etwas Zeit gewinnen … Etwas Zeit, bis dieser blöde Lichtfunken endlich sauber war! Die schwarzen Flecken wehrten sich sichtlich mit aller Macht. Es war, als versuchte man mit Wasser alleine eine seit Jahren verdreckte, schimmlige Wand zu waschen. „Ihr steht da ja komplett ungeschützt rum!“, tönte eine hämische Stimme hinter ihnen. Fumiko und Taneo wirbelten herum. Nanimon kam angelaufen – wie zum Kuckuck war es an Gatomon und Meramon vorbeigekommen? Waren sie nun auch mit dem unbekannten Digimon beschäftigt? Taneo wich vorsichtig ein wenig zurück, sein Blick huschte immer wieder zu Fumiko, die stur vor dem Lichtsamen stehen blieb. „Fumiko, wir …“ Nanimon holte vorfreudig mit seinen Boxhandschuhen aus, als es sie erreichte – und in einer blitzartigen Judo-Bewegung packte Fumiko seinen Arm, schleuderte das Digimon über ihre Schulter und ließ es hart auf dem Boden aufschlagen. Das Mädchen richtete sofort wieder das DigiVice auf den Samen, das nicht aufgehört hatte zu leuchten, so als wäre Nanimon nur eine lästige Fliege gewesen, die es zu verscheuchen galt. Einen Moment lang glotzten alle Fumiko an, sowohl Taneo als auch Renji und Meramon, die eben angelaufen kamen, und versuchten zu verstehen, was gerade geschehen war – und am verwirrtesten war sicherlich Nanimon selbst, das nicht begriff, warum es plötzlich auf dem Boden lag, immer noch von Fumiko am Arm gepackt.   Tagekos und Mushroomons Streit war immer lauter geworden. Sie spürte schon rote Flecken in ihrem Gesicht brennen. Warum konnte nicht wenigstens ihr Digimon mit ein wenig Hirn gesegnet sein? „Zum letzten Mal, du wirst nicht digitieren, und du wirst nicht kämpfen! Hör auf, mit mir darüber zu diskutieren!“ „Aber wenn ich digitieren würde, könnte ich dich beschützen und nicht umgekehrt!“ „Das ist es ja eben! Glaubst du, du könntest mich und die anderen beschützen, wenn du so unvernünftig bist? „Aber ich … Ich …“ Aus Mushroomons Augen liefen bereits Tränen. „Tageko, lass es mich wenigstens versuchen …“ „Nein! Wie oft denn noch? Überleg mal logisch – wie soll ich auf dich aufpassen, wenn du dich in so ein monströses Etwas wie Tyrannomon verwandelst? Du bleibst hier in Sicherheit, das ist mein letztes Wort!“ „Du bist nicht meine Mutter!“, schrie Mushroomon aufgelöst. Offenbar hatte es die Verhältnisse bei ihr zuhause studiert. Das war ein Satz, den Tagekos jüngere Geschwister ihr gern entgegenwarfen. „Biologisch gesehen vielleicht nicht, aber ich bin dein Partner, und ich bin die Älteste in diesem Haufen von Verrückten. Irgendjemand muss einen kühlen Kopf bewahren und dafür sorgen, dass wir alle wieder heil nach Hause kommen.“ Tageko strich sich energisch eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Und das bin nun mal ich. Sonst kann das niemand übernehmen, verstehst du? Wenn schon die anderen nicht auf mich hören, dann sei wenigstens du folgsam!“ „Aber ich kann dir doch helfen! Ich helfe dir, alle nachhause zu bringen! Du kannst nicht immer versuchen, mich aus jedem Kampf rauszuhalten – du bist ja auch nicht mehr auf deine Mutter angewiesen!“ „Habe ich denn eine andere Wahl?“, rief Tageko. Wer sollte den Laden schmeißen, wenn nicht sie? So war es daheim, weil ihre Mutter kaum zuhause war, und so war es hier mit den DigiRittern. Sie hatte nicht darum gebeten, alle Verantwortung zu schultern, aber wenn es niemand sonst tat … Oder sollte sie die Last mit Musrhoomon teilen? Plötzlich zögerte sie und sah ihrem Digimon tief in die Augen. Es meinte es ehrlich, es wollte ihr helfen. Aber wenn sie wirklich so etwas wie eine Mutter für es darstellen wollte, wie sie es für ihre Geschwister sein musste – konnte sie dann guten Gewissens zulassen, dass Mushroomon sich in Gefahr begab? Sie mochte das Digimon, in der kurzen Zeit, die sie einander kannten, war es ihr ans Herz gewachsen. Wäre es nicht unverantwortlich, es an die Front zu schicken, selbst wenn sie mit ihm ging? „Du hast einmal gesagt, dass du es anstrengend findest, dich um deine Geschwister zu kümmern“, sagte Mushroomon leise. Hatte sie? Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, aber vielleicht war es ihr eines Abends herausgerutscht. „Du hast gesagt, die wären so unreif und könnten nicht auf sich selbst aufpassen, und deswegen wäre es deine Plicht, dich um sie zu kümmern. Aber was, wenn sie einmal nicht mehr unreif sind? Wenn sie irgendwann genug gelernt haben, um nicht mehr von dir oder deiner Mutter abhängig zu sein? Willst du sie dann immer noch zurückhalten? Ich könnte über mich hinauswachsen, jetzt, wenn du mich nur lässt. Bitte, Tageko. Lass mich reifer werden. Dann kann ich mich dafür revanchieren, dass du bisher auf mich aufgepasst hast.“ Ich könnte über mich hinauswachsen. Tageko starrte es an. Was, wenn es genau andersherum war? Wenn sie einfach nur nicht gewollt hatte, dass Mushroomon über sie hinauswuchs? Hatte sie sich zu sehr an ihre Rolle als Ersatzmutter gewöhnt, dass sie diesen Zustand um jeden Preis erhalten wollte? Plötzlich zweifelte sie an sich selbst. Was bisher selbstverständlich war, begann zu bröckeln. Ihre Knie wurden weich, und sie sank zu Boden. Konnte es tatsächlich sein, dass sie ihr Digimon daran hinderte, reifer zu werden? Aus den Augenwinkeln sah sie ihr DigiVice leuchten. Mushroomon tat einen Schritt an ihr vorbei und senkte den Blick. „Ich werde jetzt kämpfen“, sagte es leise. „Tut mir leid.“ „Nein.“ Tageko nahm seine Hand. „Mir tut es leid, Mushroomon.“ Sie schluckte und suchte den Blick ihres Digimons, und ihm ihre Entschlossenheit zu vermitteln. „Kämpfen wir Seite an Seite. Und zeigen wir es diesem Ding.“ Mushroomon lächelte sie strahlend an – und glühte in goldenem Licht auf. Seine Umrisse wuchsen, und Tagekos Herz pochte heftig. Sie hatte es zugelassen … Ihr Schützling begab sich auf eine Stufe, auf der er selbst zurecht kommen musste.   Meramon und Renji stapften zu dem am Boden liegenden Nanimon. „Hey“, knurrte er. „Hände weg von Fumiko-chan!“ Nanimon brach beim Anblick des Flammendigimons in kalten Schweiß aus. „Das ist ein Missverständnis!“, rief es und deutete hektisch auf seinen Arm. Fumiko hielt es immer noch fest. In dem Moment sahen sie das Licht hinter dem Felsen, hinter dem sich Tageko und Mushroomon versteckt hatten. „Sieh an“, bemerkte Renji lässig. „Die Frau Lehrerin hat es also auch geschafft. Jetzt sind all unsere Digimon digitiert, das heißt, ihr seid ziemlich im Arsch, oder?“ Nanimon sah sich hektisch um, wagte aber nicht, aufzustehen. „Moment mal, ich gehöre gar nicht zu ihm!“, rief es angsterfüllt. „Wie gesagt, das ist alles ein Riesenmissverständnis! Ich habe nur gehört, dass es euch hier irgendwo suchen wird, das ist alles! Ich bin nur wegen dem braunhaarigen Jungen hier … Wenn ich es mir recht überlege, bin ich eigentlich rein zufällig vorbeigekommen, ja, rein zufällig!“ Renji gähnte. „Ja, sicher. Zu dir kommen wir schon noch. Meramon, das andere scheint mir gefährlicher zu sein.“ Er warf einen Seitenblick zu Fumiko. Sie würdigte weder ihn noch das Digimon, das sie über die Schulter geworfen hatte, eines Blickes, sondern konzentrierte sich rein auf den Lichtsamen. Renji fand sie im Moment so bewundernswert, dass er nicht mal ein Wort an sie richten konnte.   Seite an Seite traten Tageko und ihr Partner in die offene Schlucht. Woodmon sah aus wie ein Holzstamm, in den jemand ein Gesicht geschnitzt hatte. Seine Beine waren stachelige Wurzeln, seine Arme hohle, dicke Äste. Es war größer als ein Van. Das Digimon im Kampfanzug, dessen Namen sie immer noch nicht kannten, schien wenig beeindruckt. Kokuwamon hatte sein höheres Level dieses Mal nicht lange durchgehalten und ruhte sich erschöpft bei Taneo aus, der sich wieder dem Lichtsamen gewidmet hatte. Mit blitzenden Kontakten bedrohte es nebenbei Nanimon, das Fumiko schließlich losgelassen hatte und das nun stumm dem Spektakel in der Mitte der Schlucht zusah. Die anderen Digimon hatten ihren bewaffneten Feind  eingekreist. „Passt auf“, sagte Gatomon. „Es ist ziemlich schnell.“ Woodmon holte mit den Astarmen aus. „Zweigpeitsche!“ Die Äste schossen in die Länge, und es schlug von oben zu. Das Digimon wich mit ein paar trippelnden Schritten aus, und die Äste krachten laut auf den blanken Schluchtboden. In der gleichen Bewegung legte ihr Feind an und sandte einen Hagel aus Blitzen gegen Woodmons Stamm. Kleine Stückchen sprangen aus seiner Borke. Tageko zuckte zusammen. „Woodmon, bist du okay?“ „Alles in Ordnung“, sagte ihr Digimon. Die hellen Augen, die in dunklen Höhlen steckten, suchten die Schlucht ab. „Aber ich habe eine Idee.“ „Glaubt ihr, ihr könntet mir irgendwie beikommen?“, richtete das fremde Digimon zum ersten Mal das Wort an sie. Vielleicht war es ein Fortschritt, wenn es sie für ein paar Worte wert hielt. Seine Stimme klang sehr heiser und gedämpft hinter der Maske. „Ich habe schon das Kopfgeld für Digimon kassiert, die doppelt so groß waren wie du.“ „Tyrannomon, Gatomon, springt!“, rief Woodmon und ließ den beiden keine Zeit, den Befehl zu hinterfragen. Es holte weit aus, streckte die Arme bis zum linken Rand der Schlucht, und schlug in einem weit ausholenden Bogen erneut zu. Seine Arme schrammten über die Felswand, wurden noch länger und füllten die gesamte Breite der Schlucht aus. Der Halbkreis, den sie beschrieben, reichte fast bis zum Lichtsamen. Tyrannomon und Gatomon gelang es gerade noch, über die baumdicken Äste zu springen, die wie eine kleine Mauer durch die Schlucht schnellten. Tageko verstand, als es das feindliche Digimon davonlaufen und dabei wirkungslos auf die herannahende Äste schießen sah. Es mochte auf seinen kleinen Beinen erstaunlich schnell sein, aber es konnte nicht besonders hoch springen. Die Zweigpeitsche erwischte es seitlich an der Hüfte und schleuderte es gegen die rechte Felswand, wo Woodmon es eisern festhielt. „Jetzt!“, rief Woodmon. Gatomon schoss los wie ein Pfeil von der Sehne. Seine Blitzpfote schlug dem Digimon die Waffe aus der Hand. Dann kamen Meramon und Tyrannomon an die Reihe und tauchten es, mitsamt den Ästen, die es festhielten, in ein zuckendes, brodelndes Flammenmeer. Diesmal sahen sie die Datensplitter, die davonstoben. Sie hatten es geschafft. Woodmon zog die angekokelten Äste zurück, und Tageko fiel ein Stein vom Herzen. Sie hoffte inständig, dass sie ihren Entschluss nicht bereuen würde – aber Woodmon wirkte wirklich zuverlässig. Jagari und Kouki kamen aus ihrer Deckung hervor und beglückwünschten Tageko und Woodmon herzlich, und das war ihr fast schon wieder peinlich. Kapitel 17: Rabenschwingen -------------------------- „Ihr könnt uns dann mal mit dem Lichtsamen helfen“, meinte Fumiko betont beiläufig. „Das dauert hier nämlich ganz schön lange.“ Die anderen wollten eben zu ihr und Taneo laufen, als Kouki einen Schatten erblickte, der durch die Schlucht schnellte. Er erstarrte. „Fumiko! Taneo! Passt auf, weg da!“ Sekunden später hatte der Schatten sie erreicht, und Kouki glaubte Flügelschlagen zu vernehmen. Fumiko warf sich zur Seite, Taneos Reaktion wäre fast zu spät gekommen, als genau dort, wo sie gestanden waren, noch ein Digimon vom Himmel stieß. Schwarze Rabenschwingen peitschten dem Jungen von den Beinen, und trotz der Fallgeschwindigkeit landete das Wesen sanft und anmutig. Als die DigiVices den Lichtsamen nicht weiterhin bestrahlten, breiteten sich langsam wieder die dunklen Flecken aus, doch die DigiRitter konnten nicht anders, als den Neuankömmling zu bestaunen. Er trug eine Art Samurairüstung und ging auf zwei Beinen, aber der Rest seines Körpers war eindeutig einem Raben nachempfunden. Selbst das Gesicht war eine schlichte Rabenfratze mit einem zahnbewehrten Schnabel. Nanimon sprang in diesem unbeobachteten Moment auf. „Das ist … Das … Das ist Karatenmon, ein Asura!“, rief es aus. Die anderen wandten sich erschrocken zu ihm um, doch Kouki hatte so etwas schon vermutet. „Ein Asura?“, fragte Jagari. „Was weißt du sonst noch über es? Warte!“, rief er, als Nanimon einen noch überstürzteren Abgang machte als Sukamon vorhin. „Ich bin doch nicht lebensmüde!“, schallte es aus der Staubwolke, die es hinterließ. Ein Asura also, dachte Kouki unbehaglich und schluckte schwer. „Ich vernahm die Botschaft, die DigiRitter befänden sich in meinem Territorium“, sagte Karatenmon mit einer für einen Raben überraschend angenehmen Stimme. „Man enthielt mir vor, an welchem Ort, doch als ich einen Einsturz im Gewebe des Chaos fühlte, wusste ich, dass ihr meinen Chaossamen attackiertet.“ „Wenn du was dagegen hast, komm nur hier!“, rief Renji kampfeslustig. Der Sieg von gerade eben schien ihn angespornt zu haben. „Unsere Digimon sind alle digitiert ... Bis auf Taneos Käfer“, fügte er verächtlich hinzu. „Gennai hat gesagt, die Asuras wären uns um ein Level überlegen“, warnte Jagari. „Na und? Wir sind eindeutig in der Überzahl! Los, wir pfeffern dem Adler das Gefieder!“ „Ich glaube, es soll ein Rabe sein“, murmelte Kouki, aber Renji hörte ihn nicht. Ihre Digimon stellten sich in einer Linie vor Karatenmon auf, das sich immer noch nicht von der Stelle gerührt hatte und nun gemächlich zwei bronzene Schwerter zog, die mit einem lauten Scharren aus der Scheide glitten. „Tod denen, die sich uns in den Weg stellen“, sagte es feierlich. „Mögen die Verlierer des heutigen Kampfes die Sieger aus dem Jenseits beglückwünschen. Mögen die Sieger die Verlierer ob ihres Mutes ehren.“ Es trat ein paar Schritte vor, und der Tanz ging los.   Taneo verfluchte ihr Pech. Ausgerechnet jetzt, wo sie mit diesem anderen, unbekannten Kopfgeldjäger so viel zu tun gehabt hatten, obwohl das ja wirklich nicht sonderlich gefährlich ausgesehen hatte oder zerstörerisch gewesen wäre, tauchte noch ein leibhaftiges, echtes Asura auf! Renji konnte so große Reden schwingen, wie er wollte – ihre Digimon waren müde, das wusste Taneo nur zu gut, und am ausgelaugtesten von allen war Kokuwamon. Und dabei schien es kaum etwas zu geben, das sie nun tun konnten: Karatenmon musste besiegt werden, sonst konnten sie den Lichtsamen nicht säubern. Das hier war ihre Mission: die Asuras zu vernichten, und nicht, gegen irgendwelche anderen Digimon zu kämpfen, die sie, warum auch immer, herausforderten. Die Ersten, die angriffen, waren Tyrannomon und Meramon. Ein Feuerball und eine Stichflamme heizten die Luft auf, pflanzten eine brennende Blüte auf den Felsenboden, doch als sich die Flammen legten, war von Karatenmon nicht die Spur zu sehen. „Über euch!“, schrie Taneo. Karatenmon fuhr mit ausgestrecktem Schwert mitten unter ihre Digimon, die schnell zurücksprangen. Das Schwert bohrte sich bis zum Heft in den Boden, und das Asura zog es mühelos wieder heraus. „Zweigpeitsche!“ „Blitzpfote!“ Woodmons Zweige trafen Karatenmon mit voller Wucht gegen die Brust und schoben es meterweit zurück, doch wäre diese räumliche Versetzung nicht gewesen, hätte man meinen können, es hätte gar nicht getroffen. Karatenmon zeigte sich nicht im Geringsten beeindruckt. „Blitzpfote!" Gatomon sauste heran und verpasste Karatenmon einen Schlag ins Gesicht. Man sah es elektrisch blitzen, aber es zuckte nicht einmal. „Eure Versuche sind fruchtlos“, konstatierte Karatenmon. Mit dem Handrücken schlug es Gatomon zur Seite. Wie eine lästige Fliege, dachte Taneo. „Verdammt, gebt euch ein bisschen mehr Mühe“, rief Renji hysterisch. „Taneo“, sagte Fumiko neben ihm plötzlich. „Machen wir weiter, solange sie kämpfen.“ Er nickte. Gemeinsam richteten sie wieder ihre DigiVices auf den Lichtsamen. Karatenmon bemerkte das. Mit blitzenden Augen wandte es sich zu ihnen um. „Störet nicht das Chaos, das wir gesät.“ Es machte drohend einige Schritte auf die beiden zu. „Meramon, halt es auf!“, rief Renji. Der brennende Mann stellte sich Karatenmon entgegen und packte seine Handgelenke, die immer noch die Schwerter hielten, drückte sie auseinander und ließ es keinen Schritt mehr tun. „Ha“, keuchte es vor Anstrengung. „Was sagst du jetzt?“ Die beiden Digimon waren ungefähr gleich groß. Und dennoch zitterten Meramons Arme ungleich mehr. Karatenmon wirkte dagegen wie die Ruhe in Person. „Nicht übel“, murmelte es. „Dein Mut soll geehrt werden.“ Damit breitete es seine Flügel aus. Das pechschwarze Gefieder leuchtete plötzlich in bläulichem Weiß. „Meramon, pass auf!“ Taneo konnte gar nicht sagen, wer da gerufen hatte. Renji vermutlich. Aus Karatenmons Schwingen brachen dutzende gleißende Lichtspeere hervor und pflügten durch Meramons Flammenkörper. War dieser sonst in der Lage, so einige Attacken wegzustecken, so zerfetzte es ihn jetzt regelrecht. In einem Wirbel aus Flammen wurde Meramon zurückgeschleudert, selbst seine brennenden Hände verpufften einfach in roten Funken, und als sich der Feuersturm verzog, lag Candlemon reglos am Boden. Keine zwei Sekunden später war Renji bei ihm und schrie es völlig aufgelöst an, ob es in Ordnung wäre. Als ob er das nicht sehen würde. Karatenmon wäre es jetzt ein Leichtes gewesen, den beiden den Gnadenstoß zu verpassen, doch es steckte stattdessen seine Schwerter weg. „Mir die Stirn zu bieten, wagen nicht viele. Ich werde eure Tapferkeit belohnen. Ihr beide sollt von meinem Zorn verschont bleiben.“ Damit ging es mit schweren Schritten an den beiden vorbei auf den Lichtsamen zu. Taneo knirschte mit den Zähnen und streckte sein DigiVice noch weiter dem befleckten Licht entgegen, als könnte er die Säuberung dadurch beschleunigen. Und die Flecken gingen so unendlich langsam weg …   „Gatomon! Ihr anderen! Haltet es auf!“, schrie Kouki. Karatenmon ignorierte sie völlig und schien es nicht eilig zu haben, zu Taneo und Fumiko zu treten. Woodmons lange Äste schnellten von hinten auf es zu, doch diesmal wickelten sie sich um Karatenmons Schultern und zerrten es zurück. Gatomon lief auf den Ästen entlang, bis es direkt unter Karatenmons Rabenschnabel stand. „Katzenauge!“ Das Asura reagierte gar nicht auf seinen lähmenden Blick. Es sah kurz über seine Schulter, zog dann wieder ein Schwert, wobei es die gummiartigen Zweige gar nicht zu stören schienen, und hackte erst den einen, dann den anderen Ast ab und war wieder frei. Woodmon ächzte. Gatomon wollte es nochmal anspringen und ihm einen Pfotenhieb verpassen, aber Karatenmon streckte nur die freie Hand aus und bekam den Kopf der Katze zu fassen. Fast gleichgültig warf er es im hohen Bogen über die Schulter. „Gatomon!“ Kouki hechtete, von der ganzen Aufregung völlig außer Atem, zu seinem Partner. Es war bei Bewusstsein, aber sein Fell war ganz zerschunden und dreckig. Gatomon hustete. „Kouki … Es hat keinen Sinn. Ich kann Karatenmon nichts anhaben … Es geht einfach nicht!“ „Sag sowas nicht! Wir versuchen es einfach nochmal!“, versuchte Kouki ihm Mut zu machen. „Nein. Ich bin euch keine Hilfe. Geh das Licht reinigen … das bringt mehr!“ Kouki haderte einen Moment mit sich selbst, aber sie hatten keine Zeit zu verlieren, und Gatomon hatte recht. Ihre einzige Hoffnung war der Lichtsamen, und dann … Was dann? Sicherlich würde Karatenmon sie nicht ungeschoren davonkommen lassen. Aber er wollte auf keinen Fall gar nichts tun! Mit fliegenden Beinen rannte er, einen Bogen um Karatenmon schlagend, zu Taneo und Fumiko und richtete sein DigiVice auf den Samen. „Renji!“, rief er. „Komm her und hilf mit!“ Renji kniete immer noch vor Candlemon und war sichtlich fassungslos, dass sein Partner so einfach besiegt worden war – als würde er erst jetzt erkennen, dass zwischen Karatenmon und dem Digimon von vorhin Welten lagen. „Beweg dich, Oyara-kun!“, schrie auch Fumiko aus voller Kehle. Jetzt erst sah er auf. Für einen Moment wirkte er, als wäre er in Trance, dann lief er zu ihnen.   Fumiko sah, dass sich Tyrannomon zwischen sie und das Asura gestellt hatte. Wenigstens etwas – das massige Digimon konnte Karatenmon vielleicht ein wenig aufhalten. Alles, was sie brauchten, war Zeit – eine ganze Menge Zeit. Ihnen war nicht mal ein kleines bisschen vergönnt. Karatenmon wich dem nächsten Flammenatem nicht mehr aus, sondern ging stur geradeaus weiter, nur eine Hand vor den Kopf haltend. Als es bei Tyrannomon angelangt war, das nervös zurückwich, stieß es ihm das Bronzeschwert in den Leib. Der Dinosaurier brüllte auf und digitierte ebenfalls wieder zurück. Fumiko fluchte entsetzt. Jetzt war nur noch Woodmon übrig! War der Kräfteunterschied zwischen ihnen tatsächlich so gewaltig? Wenn doch nur ihr blödes DigiEi endlich schlüpfen würde! Wenn es doch nur schon geschlüpft wäre! Sie atmete tief durch. Neben ihr standen Kouki, Renji und Taneo, und auch Jagari kam eben angelaufen, um sich an der Reinigung zu beteiligen, jetzt, da Tyrannomon wieder zu Elecmon geworden war. Sie senkte ihr DigiVice. „Macht weiter“, sagte sie tonlos. Vier Augenpaare starrten sie an. „Was hast du vor?“, fragte Taneo. „Macht einfach weiter. Ich werde sehen, was ich tun kann.“ Entschlossen trat Fumiko Karatenmon entgegen, was ihm immerhin ein überraschtes Blinzeln entlockte. Sie nahm lockere Kampfstellung ein. Kouki begriff, was sie vorhatte. „Bist du verrückt?“, rief er aus. „Es ist viel zu groß für dich!“ „Je größer der Gegner, desto besser“, stieß Fumiko durch zusammengebissene Zähne und ging leicht in die Knie. In Wahrheit brach ihr der kalte Schweiß aus, und nur mit Mühe konnte sie ihre Muskeln am Zittern hindern. „Fumiko-chan, tu das nicht!“ Renji machte Anstalten, zu ihr zu laufen, daher zischte sie: „Bleib, wo du bist! Kümmert euch nicht um mich, ich versuche euch Zeit zu verschaffen!“ Karatenmon blieb vor ihr stehen. Aus der Nähe kam es ihr noch viel größer vor. „Tritt aus dem Weg, oder mein Schlag soll dich ereilen.“ Fumiko schnaubte nervös. „Du scheinst mir ein recht ehrenvolles Digimon zu sein. Was hältst du von einem Duell?“ „Wenn du es wünschst.“ Karatenmon drehte sein Schwert in der Hand. „Aber zunächst muss ich den Frevel beenden, der dem Gewebe des Chaos widerfährt.“ „Gut, dann nicht.“ Fumiko zwang sich zur Ruhe und stellte sich vor, sie stünde in ihrer Kampfschule, auf einer der weichen, blauen Matten, einem dümmlichen Mitschüler gegenüber. Karatenmon machte all ihre Vorstellungskraft zunichte, als es schnell wie ein Pfeil auf sie zusprang, das Schwert von sich gereckt. Fumiko reagierte reflexartig. Sie machte einen Schritt nach vorn, duckte sich an der Klinge vorbei, fand mit dem Fuß sicheren Halt und drehte sich dabei halb. Ihre Hände packten Karatenmons dicken Arm, sie vollendete die Drehung – und wuchtete das Digimon über ihre Schulter. Es ging überraschend leicht, seinen Schwung gegen es zu verwenden. Sie wagte schon zu hoffen, als Karatenmon plötzlich noch leichter wurde … Sie hörte, wie es ruckartig die Flügel öffnete, als es über sie hinwegfiel, und sich selbst in der Luft drehte. Plötzlich war Fumiko es, die den Boden unter den Füßen verlor. Mit einem überraschten Aufschrei wurde sie nach oben gerissen, und als vollführten sie und Karatenmon eine bizarre Choreografie, landete das Digimon wieder fest auf den Beinen und schleuderte sie über seine Schulter hinweg. Der Aufprall trieb Fumiko sämtliche Luft aus der Lunge. Ihre Rippen knackten, und sie schlitterte meterweit über rauen Felsenboden, ehe sie liegenblieb.   „Fumiko-chan!“ Renji hatte entsetzt Fumikos Aufschlagen auf dem harten Boden verfolgt. „Bleib hier! Wehe, du rührst dich von der Stelle“, knurrte Taneo. Über sein Gesicht liefen Schweißbäche, obwohl er seit geraumer Zeit nur dastand und mit seinem DigiVice den Lichtsamen bestrahlte. „Von dir lass ich mir gar nichts sagen“, blaffte Renji. „Fumiko ist verletzt!“ „Sei vernünftig! Sie hat uns etwas Zeit verschafft; du machst ihr Opfer nur zunichte, wenn du jetzt zu ihr rennst!“ Bei dem Wort Opfer setzte Renjis Denken aus. Er riss sein DigiVice fort, ignorierte das Fluchen seiner Kameraden und lief zu Fumiko, die sich stöhnend wieder aufrappelte. Sie sah schrecklich aus. Ihre Hände waren aufgeschürft, und aus ihrer Nase und von einer Platzwunde an der Stirn lief Blut. Am schlimmsten traf Renji jedoch ihr fassungsloser Blick. „Was …“, hauchte sie. „Fumiko-chan! Was ist, bist du in Ordnung?“ „Warum zum Teufel bist du nicht bei dem Licht geblieben?“, fauchte sie ihn an. „A-aber ich …“, murmelte er schockiert. „Hilf sofort den anderen – los! Ich komm schon klar!“ Zerknirscht erhob er sich wieder, während auch Fumiko sich aufrappelte. „Soll ich dich … stützen?“ „Bist du eigentlich strunzdämlich?“, schrie sie ihn an. „Lauf endlich!“ Renji schluckte die Beleidigung, ohne sie zur Kenntnis zu nehmen. Er sprintete los, zurück zu den anderen, während Fumiko ihm hinterherhumpelte.   „Euer Frevel soll nicht ungesühnt bleiben“, verkündete Karatenmon soeben und hob sein Schwert vor den DigiRittern, als Woodmons nachgewachsene Arme es einmal mehr umklammerten. Ein Ast wickelte sich um seine Schwerthand, der andere um seine Hüfte. Diesmal schien das Rabendigimon wirklich ungehalten. Es stieß sich ab, schwang sich mit so heftigen Flügelschlägen in die Lüfte, dass den DigiRittern Staub in die Gesichter geweht wurde, und zerrte Woodmon hinter sich her. Jagari glaubte nicht recht zu sehen. Das Digimon, das nur wenig größer als ein sehr großer Mensch war, hob einen Baum in die Höhe, der fast die Ausmaße eines Kleinbusses hatte. Woodmon kreischte und pendelte am Ende seiner eigenen Äste hin und her, wagte es aber nicht, loszulassen. Auf halber Höhe stieß Karatenmon dann wie ein Raubvogel herab, hieb mit beiden Schwertern überkreuz auf Woodmons Stamm und krachte mit ihm zusammen wieder zu Boden, direkt vor den DigiRittern. Die Staubwolke legte sich, Mushroomon kämpfte sich daraus hervor. Alle ihre Digimon waren am Ende. „Dieser Kampf war nicht im Ansatz eine Herausforderung“, stellte Karatenmon fest. Seit es aufgetaucht war, hatte es sich keinen sichtbaren Kratzer eingehandelt. Es war einfach nicht fair! Hätte dieses verdammte Imba-Digimon zu einem Computerspiel gehört, hätte Jagari die DVD mitsamt ihrer Box in eine Ecke seines Zimmers gepfeffert und es von seiner Festplatte gelöscht! Nur dass es kein Spiel war. Genausowenig, wie er und seine Freunde nach dem, was jetzt auf sie zukam, wiederauferstehen würden … Mit einem Mal hatte er Todesangst. Nur weil die anderen verbissen ausharrten und weiter den Lichtsamen reinigten, lief er nicht davon. Aber es waren immer noch so viele dunkle Flecken auf dem Licht … Auch Tageko war zu dem Samen gesprintet, und Fumiko hatte sich ebenfalls wieder in ihre Reihen geschleppt. Sie sah furchtbar aus, aber Jagari bewunderte sie für ihren Mut vorhin. „Auf geht’s! Wir müssen unsere Partner beschützen!“, ertönte die piepsige Stimme von Salamon. „Ja!“, riefen die anderen Digimon im Chor. Sie sahen aus wie Plüschtiere, wie sie sich zwischen die DigiRitter und Karatenmon stellten. Nacheinander warfen sie ihre Attacken auf das Raben-Asura. Explosive Pilze, Stromstöße, Salamons schrilles Jaulen, kleine Feuerbälle … nichts rang ihm auch nur ein Zucken ab. „Die Augen!“, schrie Kouki plötzlich. „Zielt auf seine Augen! Blendet es!“ Sofort traf ein Pilz Karatenmons Kopf, und Elecmon traf zielgenau die Augen in dem Rabenschädel. Selbst Jagari kam der Blitz so hell vor, dass er am liebsten die Lider zusammengekniffen hätte. „Meine Sicht auf euch ist anderer Art, als ihr vermuten mögt“, stellte Karatenmon in seiner schleppenden, altertümlichen Sprechweise fest. „Ich sehe euch immer noch deutlich vor mir.“ „Pass auf!“ Tageko riss Kouki um, als das eine Schwert in ihre Richtung schnellte und knapp über ihren Köpfen vorbeipfiff. Als Nächstes musste Taneo zur Seite springen, der gegen Renji stieß. Das zweite Schwert hätte ihn beinahe entzweigehauen. „Nicht nachgeben!“ Salamon kommandierte die kleine Digimon-Truppe. Sie alle sprangen das Asura an und versuchten, es bewegungsunfähig zu machen. Karatenmon hielt tatsächlich inne, wohl aber eher, weil es die lästigen Kleinen abstreifen wollte.   „Du solltest vielleicht fliehen, Renji“, sagte Kouki plötzlich. Renji sah ihn verwundert an und versuchte zu erkennen, ob er ihn verarschte, aber Koukis Blick sagte ihm, dass er es ernst meinte. „Das finde ich auch“, murmelte Tageko. Sie sah ihn nicht an, sondern fixierte weiter den Lichtsamen, den immer noch einige Flecken verunzierten. „Es hat versprochen, dich zu verschonen. Wir kommen hier vermutlich nicht wieder raus – aber wenn du es nicht verärgerst, entkommst du vielleicht. Dann kannst du auf eine neue Gelegenheit warten.“ Renji starrte sie fassungslos an, einen nach dem anderen. Sie alle nickten, einige sofort, einige zögerlich. Sogar Taneo. Karatenmon schüttelte die kleinen Digimon ab wie Fliegen und trat wieder heran, ein Schwert mit beiden Händen ergriffen, andächtig wie ein Scharfrichter. Renji biss die Zähne zusammen und schlug die Lider nieder. Er senkte sein DigiVice, das den Lichtfluss erneut unterbrach, und wandte sich um. „Wie ihr meint.“ Obwohl die anderen vorgeschlagen hatten, dass er floh, herrschte plötzlich Totenstille, als bereuten sie es doch. Renji lächelte schwach. „Du hast gesagt, dass du mich gehen lässt“, sagte er zu Karatenmon. „So ist es. Nimm dein Digimon und kreuze nie wieder meine Wege.“ „Weil du das gesagt hast, haben mir meine Freunde angeboten, wie ein Feigling dazustehen. Deswegen wirst du es zurücknehmen!“ Renji stürmte los, sprang mit aller Kraft in die Höhe und bekam Karatenmons Schnabel zu fassen, das mit einem erstaunten Laut rückwärts taumelte. Seine Freunde riefen überrascht durcheinander. „Habt ihr echt geglaubt, ich laufe jetzt einfach davon?“, keuchte Renji, als es ihn abzuschütteln versuchte. „Nachdem sogar Fumiko-chan ihren Mut bewiesen hat? Vergesst es! Bin ich ein DigiRitter, oder nicht?“ Er sah Karatenmons Schwert aus den Augenwinkeln aufblitzen und die anderen aufschreien, also reagierte er blitzschnell und verpasste dem Digimon einen mächtigen Tritt gegen die Brust, wie er eines Torschützenkönigs würdig gewesen wäre. Dann ließ er sich fallen. Karatenmon verlor nicht das Gleichgewicht, wie er gehofft hatte, aber immerhin erwischte es ihn nicht, und er hatte seinen Freunden einige Sekunden erkämpft. Im nächsten Moment traf ihm Karatenmon Faust und ließ ihn Sterne sehen.   Als Fumiko sah, wie Renji zu Boden ging, schwand ihre letzte Hoffnung. War es nicht sinnlos, so lange weiterzukämpfen, wenn das Ergebnis schon feststand? „Verdammt, werd endlich sauber!“, schrie Kouki dem Licht entgegen. Sie gaben hier ihr Allerletztes, und es waren immer noch drei große Schmutzflecken übrig! Hatten ihre bisherigen Mühen überhaupt irgendetwas gebracht? Die Digimon, die sich wieder hartnäckig an Karatenmon klammern wollten, fegte es einfach mit Fußtritten zur Seite. Diesmal zog es beide Schwerter. „So lasst uns diese Farce nun beenden.“ Enttäuscht stöhnte Fumiko auf. Resigniert senkte sie das DigiVice, hockte sich zu Füßen des Lichts, das sich einfach nicht reinigen ließ, und öffnete ihren Rucksack, holte das DigiEi mit dem Sprung in der Schale heraus. „Verdammt, schlüpf endlich!“, herrschte sie es an. „Wird’s bald? Du nutzloses, nutzloses Ding!“ Sie hatte Tränen in den Augen, als sie es packte und mit aller Kraft gegen Karatenmon warf. Womöglich würden sie alle sterben, nur weil ihr Digimon nicht da war – oder weil sie versagt und es nicht zum Schlüpfen gebracht hatte. Das Ei traf Karatenmon gegen die Brust und fiel von dort zu Boden. Der Rabenmensch bedachte es mit einem flüchtigen Blick, dann schritt er darüber hinweg. „Ihr nagtet lange genug an den Früchten unserer harten Arbeit. Keiner von euch soll verschont werden.“ Karatenmon breitete seine Schwingen aus und schoss senkrecht in die Höhe, schwebte auf der Stelle über ihnen. Einmal mehr glühten seine Federn auf, und jeder wusste, was jetzt kam. „Macht weiter! Nicht nachlassen!“, schrie Kouki. Renji hatte sich wieder herangeschleppt und noch im Liegen wieder sein DigiVice auf die letzten verbleibenden Flecken gerichtet. Jagari schrie einfach nur, ohne ein Wort hervorzubringen. Es hatte keinen Sinn. Sie würden es nicht rechtzeitig schaffen. Das Licht in Karatenmons Gefieder wurde zu blauweißen Speeren, die auf sie herabhagelten.   Werden wir jetzt sterben?, ging Kouki durch den Kopf. Wir werden sicher sterben!   Renji biss die Zähne zusammen, dass es schmerzte. Das ist so ungerecht!   Dieser blöde Lichtsamen!, fluchte Fumiko innerlich.   Jagari konnte keinen klaren Gedanken fassen, er fixierte nur den Lichtsamen und den hartnäckige, dunklen Ausschlag darauf. Die Stimme, die in seinen Ohren gellte, war seine eigene.   Taneo hatte die tränenden Augen weit aufgerissen. Soll es denn jetzt so enden, nach all unserer Mühe?   Ich habe versagt, war das Letzte, was Tageko durch den Kopf ging, ehe die Speere einschlugen.   Da war ein Knall, da war unendlicher, zäher Schmerz, dann eine Stille wie Watte, im Hals kratzende Luft, ein kühler Hauch, das Gefühl, durchbohrt zu werden … Zuerst sah Taneo nur schwarz. War er tot oder blind? Wie sich herausstellte, keins von beiden. Er lag auf dem Boden, spürte etwas Eisiges in seinem Rücken brennen … Ja, es war sowohl stechend kalt als auch bestialisch heiß. Als er sich umsah, schalteten seine Emotionen ab. Es war, als weigerte sich sein Gehirn, anzuerkennen, was es sah. Sie waren allesamt niedergestreckt worden, aber sie lebten. Sie waren hingefallen, wo sie gestanden waren, sie alle, und in ihren Rücken und Beinen und Armen steckten blauweiße Lichtscherben, sie waren damit gespickt wie Igel! Ihre Digimon lagen überall zwischen ihren Körpern umher, ebenfalls durchbohrt wie Nadelkissen. Er konnte Kokuwamon sehen, das reglos neben ihm lag und sich von den Beinen aufwärts langsam in Daten auflöste, genau wie die anderen. Die Digimon hatten sich geopfert und waren zwischen ihre Partner und die Attacke gesprungen. Vermutlich waren sie nur deshalb noch am Leben. Und noch etwas sah Taneo. Jagari hatte offenbar das Bewusstsein verloren – zumindest hoffte er, dass er nicht tot war –, aber die anderen hatten immer noch die Arme mit den DigiVices von sich gestreckt, deren Displays den Lichtsamen reinigten. Und als Taneo den Blick hob, sah er, wie eben der letzte finstere Fleck verblasste. Plötzlich war es ganz schnell gegangen. Er wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Sie hatten es geschafft – aber zu welchem Preis? Ihre Digimon lösten sich bereits auf, und Karatenmon straffte die Federn sicherlich bereits zu einem nächsten Angriff. Die Lichtstränge, die aus ihren DigiVices wuchsen, brachen abrupt ab, und die Lichtsaat war plötzlich wunderschön anzusehen. Etwas stülpte sich auswärts, splitterte ihnen in einer Wolke aus tausend reinweißen Glühwürmchen entgegen und regnete wie glitzernde Schneeflocken über sie. Taneo spürte, wie etwas Sanftes, Warmes die eisigen Stacheln aus seinem Fleisch zog, und der Schmerz war plötzlich weg. Der Schauer aus Licht überrollte auch die anderen wie eine Meereswelle, und ihre Digimon schlugen plötzlich allesamt wieder die Augen auf. Die Stacheln in ihren Körpern lösten sich in Nichts auf. War es sonst immer goldenes Licht, das ihre Digitationen begleitete, so war es nun klar und silbern, und mit einem Mal standen Tyrannomon, Meramon, Gatomon, Thunderboltmon und Woodmon wieder schützend über ihren am Boden liegenden Partnern und beäugten ihre unversehrten Körper ungläubig. „Das ist … Das ist …“ Gatomon fand keine Worte dafür. „Ha!“ Meramon schlug die brennenden Fäuste zusammen. „Ich fühle mich wie neu geboren!“ „Ihr Störenfriede!“, erscholl es von oben. Zum ersten Mal klang Karatenmon nicht besonnen, sondern zornig. „Wie könnt ihr es wagen, das Gewebe des Chaos durcheinanderzubringen, ihr Frevler! Verflucht sollt ihr sein! Nie mehr sollt ihr das Tageslicht erblicken, mögen eure Seelen für immer einen Kreislauf der Verdammnis durchwandern!“ Diesmal leuchteten seine Schwingen noch heller. Taneo schluckte. Ihre Digimon waren wieder digitiert, ja, aber er wusste ganz einfach, dass sie der nächsten Attacke dennoch nicht standhalten konnten. Oder der danach, oder danach … Er sah zu dem Licht, das plötzlich so unendlich schön und beruhigend war. Er konnte sich gut vorstellen, dass diese helle Saat dazu gedacht war, die DigiWelt zusammenzuhalten. Hatte es denn gar keine Bedeutung, dass sie sie gereinigt hatten? Gab es nicht irgendwo eine höhere Macht oder irgendetwas, das sie dafür belohnte? Dann sah er es. Etwas abseits des eigentlichen Lichtes kreiste eine kleine, schillernde Lichtkugel, wie eine Seifenblase, blasser als der Samen, aber trotzdem kräftig. Sie zog ihre Bahnen nur wenige Zentimeter von Taneos ausgestreckter Hand. „Ihr, die ihr den Zorn der Asuras erweckt habt!“, ertönte Karatenmons aufgebrachte Stimme. Das Leuchten am Himmel veränderte sich, schien den Atem anzuhalten. „Sterbt!“ Während irgendjemand von ihnen schrill aufschrie, robbte sich Taneo, einem Impuls folgend, auf das Licht zu, bekam die schillernde Blase mit der Hand zu fassen und zerdrückte sie. Wie ein elektrischer Blitz lief das Licht über seinen Körper und füllte sein DigiVice, das plötzlich so stark vibrierte, dass er es kaum noch halten konnte. Dann hagelten die Energiestacheln aus Karatenmons Gefieder auf sie herab.   Manche Schatten wuselten davon, andere wurden riesig groß. Die DigiRitter lagen auf dem Flecken Schluchtboden vor dem Lichtsamen, der völlig beschattet schien. Etwas Großes verdunkelte die Felsen, während um sie herum alles in gleißendes Licht getaucht war. Gennai hatte es oft genug betont, und vorher hatte Kouki es von Wisemon gehört. Ihre Feinde waren Geschöpfe, die sich der Dunkelheit verschrieben hatten, und gerade eben hatten sie dunkle Flecken in strahlendem Licht gereinigt. Das alles ging ihm durch den Kopf, als er dieses Schauspiel sah. Doch dieses eine Mal war der Schatten ihr Freund, denn er bedeutete, dass Karatenmons Lichtstacheln sie nicht erwischt hatten … Rings um sie herum war der Boden von flimmerndem Licht durchsiebt. Blinzelnd drehte er sich auf den Rücken. Ja, eindeutig, da war ein Schatten, ein großer, zackiger Schatten, der das Licht abwehrte … Kouki verstand die Welt nicht mehr. Er glaubte, die Umrisse eines Drachen zu erkennen, der sich gegen die anprasselnden Lichtnadeln stemmte. Dann verblasste das Leuchten, und selbst das normale Tageslicht kam ihn nach Karatenmons Attacke dunkel vor. Der Umriss vor ihnen blieb. „Was ist geschehen?“, hörte er Tageko murmeln, dann sog sie scharf die Luft ein. Kouki konnte es ihr nicht verdenken, als er das Digimon sah, das plötzlich aufgetaucht war. Es war tatsächlich halb Drache, halb Mensch. Vier rote, ausgefranste Flügel hielten es in der Luft, obwohl sie nicht so aussahen, als könnten sie sein Gewicht alleine tragen. Es war mit einer Art Rüstung gepanzert, von tiefem Dunkelblau, und hatte krallenbewehrte Hände und Füße. Sein Steißbein endete in einem Drachenschwanz, der wild umherpeitschte, und auf dem Kopf trug das Digimon einen braunen Helm mit zwei Hörnern. Sein Maul war mit spitzen Zähnen gespickt, die es offenbarte, als es Karatenmon eine Mischung aus Fauchen und Brüllen entgegenwarf. Kouki schluckte. Es sah wirklich furchteinflößend aus – hoffentlich war es auf ihrer Seite. „Was … Was ist denn jetzt los?“, stammelte Jagari, der wieder zu sich gekommen war. „Ist eines unserer Digimon digitiert?“ Kouki warf einen Blick zu Fumikos Ei, das immer noch verwaist am Boden lag, wie durch ein Wunder von den Lichtstacheln unversehrt geblieben. Für einen Moment war ihm der Gedanke gekommen, es könnte endlich geschlüpft sein. „Meramon, Tyrannomon, Gatomon und das Baumstamm-Untier von Tageko“, zählte Renji die Digimon durch, die noch in Abwehrhaltung vor ihnen standen. „Heilige … Ist dieses Biest Thunderboltmon?“ Das Digimon stieß ein neuerliches Röhren aus. „Ich bin Cyberdramon!“, grollte es so laut, dass sein Echo von allen Seiten der Schlucht widerhallte. An seiner Stimme erkannte man das ehemals so kleine Digimon nicht mehr. Es streckte die Krallenhand nach Karatenmon aus. „Und du wirst dafür bezahlen, was du Taneo und den anderen angetan hast!“ Mit einer Geschwindigkeit, die man seinem massigen Körper gar nicht zugetraut hätte, schoss es durch die Lüfte auf das Asura zu. Seine Klauen glühten auf. „Ausradierkralle!“ Karatenmon erwartete es hoch über dem Rand der Schlucht. Es zog seine beiden Schwerter und parierte den Angriff damit – und riss die Augen auf, als das bronzefarbene Metall von grünem Rost aufgefressen wurde, kaum dass Cyberdramon es berührt hatte. Plötzlich waren von seinen Waffen nur noch Stümpfe übrig, und Cyberdramon hämmerte ihm einen Helm gegen den Rabenschnabel. Mit einem empörten Krächzen stürzte Karatenmon ab. Kouki traute seinen Augen kam. Hatten sie nun eine Chance? Er wagte wieder zu hoffen. „Weiter, Cyberdramon! Du schaffst es!“, feuerte Taneo seinen Partner heiser an. Das DigiVice in seiner Hand pulsierte in hellem Licht. Taneo schien gar nicht zu merken, dass seine Wunde sich wieder geöffnet hatte. Dünne Blutfäden sickerten zwischen den Nähten hervor. Karatenmon fing seinen Sturz mit eleganten Flügelschlägen ab und segelte durch die Schlucht. Cyberdramon übernahm nun die Rolle des Raubvogels und stieß auf es hinab, doch Karatenmon wich aus. Das Drachendigimon krachte mit solcher Gewalt in den Boden, dass es einen Krater hineinstanzte, verfolgte das Rabendigimon aber sofort wieder knurrend. Seine glühenden Pranken hatte es ausgestreckt, und sie pflügten zwei mächtige Furchen in den Boden. Irgendwann warf sich das Asura herum. Diesmal schien es um heroische Sprüche verlegen zu sein. Stumm schleuderte es Cyberdramon neue Lichtstacheln entgegen – und dieses flog, die Krallen ausgestreckt, genau in sie hinein. Das bläuliche Licht wurde von schmutzigem Grün durchsetzt, als sich die Attacke einfach auflöste. Renji, der vergessen zu haben schien, dass dieses Digimon Taneo gehörte, stieß einen bewundernden Pfiff aus. Karatenmon schien zu begreifen, dass sich das Blatt gewendet hatte. Es schlug kräftig mit den Flügeln. „Ein würdiger Gegner“, rief es. „Doch lass uns diesen Kampf vertagen. Diese Saat ist bereits euer.“ Damit schickte es sich an, sich aus dem Staub zu machen. „Nicht so schnell!“ Woodmon schickte ihm einmal mehr seine Astarme hinterher, bekam seine Beine zu fassen und stemmte die Wurzeln in den Boden, um es festzuhalten. Karatenmons Flügelschläge drohten, es abermals mitzureißen, als auch schon Meramon über die Äste nach oben lief. Seine Füße hinterließen verkohlte Abdrücke im Holz. Es hängte sich an Karatenmons Bein. „Denkst du, du kommst so einfach davon?“ Sein Schwung zerrte das Rabendigimon weit genug zum Boden zurück, dass auch Tyrannomon es springend erreichen konnte. Es schloss seinen gewaltigen Kiefer um Karatenmons anderes Bein und gab somit den Ausschlag. Obwohl das Asura mit den Flügeln flatterte, so heftig es konnte, kam es nicht mehr in die Höhe. Cyberdramon landete genau vor ihm. „Es ist aus!“, verkündete es und führte seine Klauen zusammen. „Ausradierkralle!“ „Das werdet ihr bereuen“, sagte Karatenmon ruhig. Cyberdramons Krallen erstrahlten, und ein gleißender Energiestrahl brach daraus hervor, durchschlug den Brustkorb des Rabendigimons und brannte ein metertiefes Loch in die Felswand dahinter. Mit einem letzten, lang andauernden Krächzen zersplitterte das Asura in tausend Datensplitter. Dann war es vorbei. Betäubende Stille machte sich in der Schlucht breit. Als die DigiRitter hörbar aufatmeten, verwandelten sich ihre Digimon zurück – Cyberdramon wurde wieder zu Kapurimon, dem kleinen, behelmten Fellknäuel, das es bei ihrer ersten Begegnung gewesen war. Taneo lief auf es zu und hob es vom Boden auf. „Wahnsinn“, murmelte er. „War ich … also …“, murmelte Kapurimon. War es verlegen, weil es plötzlich so wild gewesen war? „Du warst spitze.“ Taneo strich ihm lächelnd über den Helm. Renji war der erste von den anderen, der nach gut einer Minute die Sprache wiederfand. „Wie jetzt – soll das heißen, dieser Wicht Taneo hat mit seinem Fellball jetzt schon zwei Asuras erledigt?“ „In der Tat.“ Kouki trat grinsend zu Taneo, schlang einen Arm um ihn und zerzauste dem Jüngeren die Haare, der schwach protestierte. „Lass uns auch mal was übrig, ja?“ „Ist mit dir alles in Ordnung, Fumiko?“, erkundigte sich Tageko. „Lass mich mal einen Blick drauf werfen.“ „Ist nur ein Kratzer“, murmelte Fumiko, als sie sich die Wunde an ihrer Stirn ansah. „Seht mal!“ Jagari deutete aufgeregt zu Karatenmons Datenresten. Kouki sah sofort, was er meinte. Anders als bei den anderen Digimon, deren Datensplitter sich einfach überall in der Gegend verstreuten und dann verschwanden, sammelten sich die glitzernden Punkte und trieben in einem breiten Strom himmelwärts und dann in eine bestimmte Richtung davon. „Werden sie von etwas angezogen?“, überlegte er. „Das war bei Pumpkinmon genauso“, sagte Taneo. „Vielleicht fliegen sie zu irgendeinem Asura-Friedhof oder so.“ „Hoffen wir’s.“ Tageko blickte den Datenresten misstrauisch hinterher. „Dann haben wir jetzt also endlich ein Digimon, das es mit einem Asura aufnehmen kann“, meinte Jagari und strahlte Taneo an. Natürlich gefiel Renji nicht, dass der Junge Bewunderung erntete. „Soweit ich gesehen hab, haben unsere Digimon alle zusammengearbeitet. Also war es nicht allein sein Verdienst.“ „Das stimmt so nicht ganz. Ja, sie haben mit vereinten Kräften Karatenmon am Fliehen gehindert. Aber Cyberdramon war das Einzige, das ihm überhaupt etwas anhaben konnte“, sagte Fumiko, so nüchtern und unparteiisch, dass selbst Renji nichts erwiderte. „Vielleicht sollten wir dann von hier verschwinden“, meinte Tageko. „Gennai hat zwar gesagt, dass die Asuras gereinigte Lichtsamen nicht wieder infizieren können, aber sie werden sicher irgendwie gespürt haben, was los ist. Wenn wir Pech haben, tauchen die anderen bald hier auf.“ Sie ließ den Blick über die versammelten Digimon und DigiRitter schweifen. „Und irgendetwas sagt mir, dass wir nicht in der Verfassung sind, noch so einen Kampf zu bestreiten.“ Kapitel 18: Von charmanten Jungen und selbstgerechten Idealisten ---------------------------------------------------------------- Tagekos Ankunft in ihrem trauten Heim wurde wieder einmal von einem tiefen Seufzer begleitet. Überrascht nahm sie zur Kenntnis, dass ihre Mutter zuhause war und mit den Zwillingen ein Brettspiel am Küchentisch spielte. „Hi“, sagte sie misstrauisch. Airu sah sie vor dem Fernseher sitzen. „Hallo, Tageko.“ Ihre Mutter klang erschöpft. Was sicher nicht daran lag, dass sie im Begriff war, die vor ihr liegende Partie zu verlieren. „Ich dachte, Tante Tomo wäre heute mit Kindersitten dran?“ Tageko hatte vorgegeben, heute den ganzen Nachmittag mit schulischen Arbeiten beschäftigt zu sein, und dabei ein schlechtes Gewissen gehabt, weil nun wieder ihre Tante eingespannt werden würde, um auf die Kleinen aufzupassen. „Ach das, ja …“ Als fiele es ihr erst jetzt wieder ein, musterte ihre Mutter sie mit einem merkwürdigem Blick. „Ich wollte sowieso mit dir darüber reden, wenn du nachhause kommst. Weißt du, ich habe erkannt, dass ich dir in letzter Zeit viel zu viel Verantwortung aufgebürdet habe.“ „Kein Problem“, murmelte Tageko, bar jeder Antwort. Was war hier plötzlich im Busch? „Nein, wirklich. Du bist ein Teenager mit einem eigenen Leben. Ich habe das irgendwie vergessen.“ Ihre Mutter fuhr sich durch die Haare, während der kleine Hideto einen Jubelruf und seine Schwester Gejammer ausstießen. Die Partie war entschieden. „Ich war in letzter Zeit einfach viel zu selten zuhause. Tut mir leid. Das wird sich jetzt ändern.“ Sie lächelte leise. „Schließlich sind dein Vater und ich für deine Geschwister verantwortlich, und nicht du.“ „Mama …“, murmelte Tageko sprachlos. Sie ging den Terminplan ihrer Mutter durch. Heute hatte sie tagsüber Dienst gehabt, und am Abend wollte sie doch eigentlich …“ „Ich habe mit Hiroki gesprochen“, fiel ihre Mutter in ihre Gedanken. „Wir sind übereingekommen, dass wir uns eine kleine Auszeit geben wollen, damit ich mich ein wenig mehr um meine Familie kümmern kann.“ „Ihr habt Schluss gemacht?“, platzte es aus Tageko heraus. Nicht, dass sie es sonderlich bedauert hätte. Sie hatte den Modeschöpfer ohnedies nie besonders gut leiden können. So wie sie das verstand, wäre es ihm lieber gewesen, die Familie Mida hätte nur aus ihrer Mutter allein bestanden. „Das habe ich nicht gesagt“, erwiderte ihre Mutter streng. „Wir machen einfach nur ein wenig Pause. Hiroki hat mit seiner neuen Kollektion auch ziemlich viel zu tun, und unsere Station soll in ein paar Wochen in zwei Bereiche aufgeteilt werden. Dann habe ich nur noch die halbe Verantwortung, haben sie gesagt. Bis dahin wollen wir warten.“ „Okay, das … freut mich“, murmelte Tageko. „Dass du wieder mehr Zeit für uns haben wirst, meine ich. Also, ich … ich geh dann mal duschen.“ „Wir haben schon zu Abend gegessen. Ein bisschen was steht noch in der Mikrowelle. Na was ist denn da los? Habt ihr mich einfach ausgelassen? Na wartet, ich hol euch schon noch ein!“ „Danke“, sagte Tageko noch, als ihre Mutter sich wieder dem Spiel widmete, das die Zwillinge einfach ohne sie begonnen hatten. Auf dem Weg in ihr Zimmer konnte sie sich dennoch eines Lächelns nicht erwehren. Vielleicht hatte nicht nur sie heute eine wichtige Erkenntnis gehabt. Nachdem sie ihren Rucksack auf ihr Zimmer gebracht hatte, nahm sie Budmon mit ins Bad. Nach den letzten beiden Ausflügen in die DigiWelt war sie schlau genug gewesen, Ersatzkleidung mitzunehmen, damit ihrer Mutter nicht auffiel, wie verdreckt sie von ihren vermeintlichen Schulaufgaben heimkehrte. Als sie vor dem Wäscheschlucker ihre Wanderkleidung noch einmal inspizierte, entfuhr ihr ein weiterer Seufzer. Die Klamotten waren wohl eher ein Fall für den Müllschlucker: Der Stoff war an mehreren Stellen zerrissen, vor allem dort, wo Karatenmons Lichtstacheln ihn durchbohrt hatten. Bei dem Anblick schauderte sie. Wenn der Lichtsamen sie nicht von der Attacke des Asuras geheilt hätte, wären sie vielleicht alle tot. Sie warf die Klamotten vorerst in eine Ecke und beschloss, doch ein Bad zu nehmen. Während sie das Wasser einließ, fiel ihr Blick auf Budmon. „Willst du auch baden?“ Budmon war immer noch ob Tagekos großer Wohnung eingeschüchtert, aber es war schon wesentlich selbstbewusster als noch vor kurzem. Es sprang sogar aus eigenem Antrieb von Tagekos Schulter auf den Wannenrand. „Da hinein?“ „Ja. Hast du noch nie gebadet?“ Nein, hat es nicht, fiel ihr ein. Es war ja erst vor wenigen Tagen aus seinem Ei geschlüpft, und Tageko hatte bisher keine Notwendigkeit gesehen, es zu waschen. Jeglicher Schmutz schien während der ganzen Herumdigitiererei von dem Digimon abzugehen. Eigentlich praktisch. „Überleg‘s dir halt. Ich weiß nicht, ob ein Digimon wie du Wasser besonders mag“, meinte sie. Budmon beobachtete sie genau, wie sie in die Wange stieg, und beschloss dann, es vorsichtig auch auszuprobieren. Es versuchte über die Wand der Badewanne zu klettern, rutschte dabei ab und ließ das Wasser in alle Richtungen spritzen, als es heineinplumpste. Prustend tauchte es wieder auf. „Hilfe! Tageko, es will mich töten!“ Milde schmunzelnd hob Tageko das Digimon aus dem Wasser. „Und? Angenehm?“ Das Digimon schüttelte sich, aber sie wusste nicht, ob das nun als Antwort galt. „Dabei müssten Pflanzen es eigentlich mögen, gegossen zu werden.“ „Ich habe noch keine Pflanze gesehen, die unter Wasser wächst“, gab Budmon anklagend zur Antwort. „Die gibt es aber.“ Tageko überlegte kurz. „Warte einen Moment.“ Sie stieg aus der Wanne, füllte das Waschbecken bis zu einer Höhe, die für Budmon angenehm wäre, und setzte ihr Digimon vorsichtig hinein. „Wie ist das?“ Budmon sah sich um und plantschte ein wenig mit seinem Blatt. „Besser“, sagte es schließlich. „Und schön warm.“ „Gut, dann ist das ab heute deine Badewanne. Wenn du möchtest.“ Tageko ließ sich wieder in ihre eigene sinken. Es tat gut, den Dampf und das Badeöl einzuatmen, und sie fühlte, wie ihre müden Muskeln belebt zu kribbeln begannen. Vor sich hindämmernd, ließ sie den Tag Revue passieren. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass sie tatsächlich gegen eine finstere Macht kämpften, die eine Welt bedrohte, von der sie fünfzehn Jahre ihres Lebens keine Ahnung gehabt hatte. Und doch war Budmon hier und paddelte friedlich mit seinem Blatt in ihrem Waschbecken herum. Tageko fragte sich, was ihre Freundinnen von der Geschichte halten würden. Wahrscheinlich würden sie kein Wort glauben. Am liebsten hätte Tageko sie an ihrer Seite gewusst, sie waren alle vernünftig und keine solchen Hitzköpfe wie die anderen DigiRitter – wobei sie zugeben musste, dass sich ihre Meinung Renji, Kouki, Taneo und Jagari gegenüber langsam änderte. Nachdem sie eiligst und ohne weitere Zwischenfälle zum Fernseher zurückgekehrt waren, hatten sie weitere Schritte besprochen. Sie waren übereingekommen zu warten, bis sich Gennai wieder meldete. Einen Lichtsamen hatten sie immerhin gereinigt, auch wenn es gefühlte Stunden gedauert hatte; die Dunkelheit würde jetzt wohl langsamer über die DigiWelt hereinbrechen. Und sie konnten sich auch nicht nur mit der DigiWelt beschäftigen: Selbst wenn ihre Mutter nun versprochen hatte, sich wieder mehr um Tagekos Geschwister zu kümmern, gab es da immer noch die Schule. Für Typen wie Taneo war es vielleicht in Ordnung, sie zum Wohle der DigiWelt zu vernachlässigen, aber Tageko dachte weiter. Selbst wenn sie die DigiWelt retteten, würden sie in der Menschenwelt keinen Heller dafür bekommen. Und wenn die Asura sie nicht irgendwann doch erwischten, mussten sie später noch von irgendetwas leben. Budmon quietschte auf, als es sich mit dem Seifenspender spielte und einen Schuss Flüssigseife in die Augen bekam. Was waren das nur für seltsame Wesen, die sich in einem Moment so groß und vernünftig geben konnten, und sich danach wieder wie Babys benahmen? Den dritten Seufzer innerhalb einer Stunde hielt Tageko zurück, als sie sich wieder aus der wohligen Wärme hochquälte, um ihrem Digimon die Augen auszuwaschen. Auch wenn alles immer so verdammt kompliziert war, ein klein wenig hatte sich ja gebessert.   „Kannst du eigentlich in unserer Welt auch digitieren?“, fragte Taneo unvermittelt, als er und Kapurimon in seinem Zimmer im Dunkeln saßen und nach draußen spähten, wo dicke, sanfte Schneeflocken auf die Straße fielen. Es war längst dunkel gewesen, als sie nachhause gekommen waren, obwohl in der DigiWelt erst die Sonne untergegangen war. Taneo hasste den Winter – aber er mochte den Schnee. Er war so schön weiß, rein und geduldig, und es machte ihm offenbar nichts aus, wenn er auf den Straßen von Salz und Autoreifen zermatscht wurde oder am nächsten Tag in der Sonne schmolz, er segelte dennoch vom Himmel herab, zuversichtlich und stur. „Gibt es so etwas auch in der DigiWelt?“, fragte Kapurimon. „Glaub schon. Wir werden vermutlich auch in den Norden kommen. Wenn es solche Klimazonen gibt wie bei uns, sollten wir dort auch Schnee vorfinden.“ Er überlegte. „In diesem Wald mit den verschiedenen Jahreszeiten könnte es auch Schnee geben. Wir sollten ihn mal erkunden, wenn wir die Asuras besiegt haben.“ Das hatte er auf jeden Fall vor. Sobald die Gefahr gebannt war, wollte er diese wundersame Welt, die so zum Greifen nahe an seiner eigenen lag, erkunden. „Also, kannst du nun auch hier digitieren, oder nicht?“ „Ich weiß es nicht. Wir müssten es ausprobieren.“ „Gut.“ Taneo nahm sein DigiVice zur Hand. „Versuch, zu Kokuwamon zu digitieren. Mach einfach das, was du immer machst, wenn du digitierst. Warte.“ Er zog schnell die Vorhänge zu und machte das Licht an. Das Glühen der Digitation durfte nicht zu auffällig sein. „Jetzt.“ Kapurimon nickte und schaute angestrengt drein. Nichts passierte. „Muss ich erst wieder in Gefahr sein?“, überlegte Taneo. „Sonst hat es doch außer dem ersten Mal auch immer geklappt.“ „Ich geb mir Mühe“, erklärte Kapurimon und kniff die Augen zusammen. Dann knurrte sein Magen. Taneo lachte. „So ist das also. Kannst du mir nicht sagen, dass du Hunger hast?“ Verlegen versteckte Kapurimon seinen Kopf hinter dem buschigen Schwanz. „Ich hol dir was. Danach versuchen wir’s nochmal, ja?“   „Gut gemacht, Fumiko. Die nächsten.“ Fumiko half ihrem Trainingspartner auf, sie verbeugten sich förmlich und verließen den Kampfbereich. Das Mädchen war dennoch nicht zufrieden mit sich, obwohl sie nun schon den dritten Gegner auf die Matte geschickt hatte. Für Nanimon hatten ihre Judo-Künste gereicht, aber Karatenmon war ihrem Angriff einfach so entschlüpft. Sie musste noch viel besser werden, darum war sie auch trotz der Proteste ihrer Eltern zu diesem Samstagtraining gegangen. Am besten, sie hielt auf den Schwarzen Gürtel zu. Bei ihrem unnützen Ei … Mittlerweile war sie fast sicher, dass es tot war. Wenn es letztens, in höchster Not, nicht geschlüpft war, wann dann? Es stimmte sie nicht länger verärgert, sondern eher traurig. Dieses kleine, noch ungeborene Ding … Wenn sie an all die anderen dachte, die mit ihren Digimon Spaß hatten, wurde ihr ganz beklommen zumute. Bisher hatte sie noch Hoffnung gehegt und das Ungeborene angespornt oder beschimpft, aber diese Hoffnung war nun dahin. Nichts als Wehmut war geblieben. Und trotzdem hatte sie sich nicht dazu durchringen können, es in der Schlucht liegen zu lassen. Mit leerem Blick sah sie zu, wie sich die anderen Kampfschüler aneinander abmühten. Wenn sie die Asuras nicht mit menschlichen Kampfkünsten besiegen konnte, durfte sie sich dann überhaupt einen DigiRitter nennen? Das Training endete gegen vier Uhr. Nachdem sie sich umgezogen hatte und mit ihrer Sporttasche in den leichten Nieselschauer hinaustrat, in den sich der Schneefall verwandelt hatte, blieb sie überrascht stehen, weil sie etwas wie ein Déjà-vu ereilte. „Nagara-kun?“, murmelte sie. Kouki hob grinsend die Hand. Er hatte eine Kapuze übergezogen, sein braunes Haar stand wirr daraus hervor. In der Hand hielt er ein paar Einkaufstaschen; offenbar hatte er irgendeine Besorgung erledigt. „Hi“, sagte er. „Kouki reicht.“ „Hm?“, machte sie verwirrt. „Meinst du nicht, dass du uns schön langsam mit Vornamen anreden kannst? Immerhin sind wir alle sowas wie Freunde.“ „Ach ja … okay. Kouki.“ „Schon besser.“ Er grinste weiter, als sie gemeinsam zur Busstation trotteten. „Was ist los? Du wirkst ein bisschen neben der Spur.“ „Ach, nichts.“ Sie sah, wie sich unter Koukis Kapuze etwas bewegte, und kurz lugte Salamon zwischen seinem Kopf und dem Kapuzenrand hervor. Das Digimon lächelte. „Hallo.“ „Hallo“, gab Fumiko zurück. Wieder fühlte sie einen Stich, als sie die beiden sah, aber sie riss sich zusammen. „Wieso bist du eigentlich hier?“ „Keine Ahnung. Kein besonderer Grund“, behauptete er. „Ich musste was erledigen, da dachte ich, ich nehm diesen Weg. Dann hab ich dich wieder mal da drin gesehen. Du bist ja echt fleißig.“ „Was bleibt mir anderes übrig?“, murrte sie bitter und hatte das Gefühl, dass sie dieses Gespräch schon mal geführt hatten. „Willst du einen Regenschirm?“, fragte er unvermittelt. „Ich hab einen dabei.“ Fumiko sah in den Himmel. Richtig, es nieselte – irgendwie hatte sie es gar nicht richtig gemerkt. „Danke, es geht schon. Ich hab selbst einen. Ist nicht der Rede wert.“ „Na dann.“ Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Sie sah Kouki an, dass er, um die Stille zu durchbrechen, am liebsten nach ihrem Ei fragen würde. Fumiko rechnete es ihm hoch an, dass er es nicht tat. Einen Häuserblock weiter läutete ihr Handy. Fumiko holte es hervor, sah auf das Display und runzelte die Stirn. „Wessen Idee war es eigentlich, Nummern auszutauschen?“, grummelte sie unwillig. Nein, sie war heute wirklich nicht gut gelaunt. Sie wusste es selbst: Tageko hatte es vorgeschlagen, nachdem sie zum zweiten Mal aus der DigiWelt zurückgekehrt waren und auf Gennai gewartet hatten. Kouki beugte sich neugierig zu ihr. „Von Renji?“, fragte er grinsend. „Er will mit mir auf ein Konzert gehen.“ Fumiko rollte die Augen. „Angeblich hat er die Karten einem Freund teuer abgekauft, weil sie schon ewig ausverkauft sind. Soll ich ihm das glauben?“ „Hört sich nach etwas an, was Renji tun würde.“ „Er hätte mich ruhig vorher fragen können. Tja, Pech gehabt“, meinte sie schnippisch. Kouki lachte leise. „Hey, wieso gibst du ihm nicht eine Chance? Ich kenne ihn besser als du. Er ist nicht so ein Aas, wie ihr vielleicht glaubt.“ „Das bezweifle ich ja gar nicht“, hörte sich Fumiko sagen. „Aber selbst wenn er der charmanteste Junge auf der Welt wäre, ändert das nichts daran, dass ich nichts an ihm finde. Er ist eben einfach nicht mein Typ.“ Kouki zuckte mit den Schultern. „Du musst es ja wissen.“   „Wow, Ares! Dachte schon, du lässt dich gar nicht mehr blicken! Wo warst du die letzten Tage? Du hast den großen Raid am Freitag verpasst!“ „Sorry, hatte zu tun“, sagte Jagari in sein Headset. Tatsächlich war der Raid etwas gewesen, das er auf keinen Fall verpassen wollte – zumindest hatte er das gedacht, bevor man ihnen offenbart hatte, dass sie eiligst eine gewisse andere Welt retten sollten. Das war um so vieles besser als alle RPGs, die er kannte! Fast, als wäre der Traum, dem er so lange in virtuellen Welten hinterhergejagt hatte, plötzlich Wirklichkeit geworden. In einer virtuellen Welt. Mit Wesen, die sie durch bestimmte Aktionen hochleveln konnten. Eigentlich müsste sich Jagari ja voll in seinem Element fühlen, aber … „Du hast echt was verpasst. Dieser DarkMaster412 hat die Bosse einen nach dem anderen geowned. Wir mussten nur noch die Items aufklauben.“ Ich wäre selbst fast geowned worden, dachte Jagari unbehaglich. „Sorry, es ging nicht.“ „Naja, kann man nichts machen. Zocken wir ‘ne Runde NBW?“ „Eigentlich … würd ich lieber was anderes machen. Mehr was … Theoretisches.“ „Ach so? Einen Schlachtplan erstellen, damit du beim nächsten Raid aufholen kannst?“ „Ja. Ja, so ähnlich.“ Das letzte Abenteuer war alles andere als traumhaft gewesen. Sie wären beinahe getötet worden, standen noch näher an der Schwelle zum Jenseits als die beiden Male davor – und sie mussten wieder dorthin. Streng genommen grenzte es an Wahnsinn. „Stell dir vor, du steuerst fünf Figuren. Jede hat eigene Fähigkeiten. Eine davon kann sich für gewisse Zeit einen Power-Boost holen und wird viel stärker. Warte, ich versuch’s dir im Level-Editor zusammenzubauen.“ „Wofür brauchst du’s denn? Ist das ein neues Spiel?“ Wenn es nur so wäre … Diese fantastische Welt, die sie entdeckt hatten, war gleichzeitig wunder- und gefahrenvoll. Und das Schlimmste war, dass es einige dieser Gefahren gezielt auf sie abgesehen hatten. Ihm war nicht länger nur unwohl bei der Sache. Jagari hatte Angst. Er war nicht so mutig wie Taneo oder Fumiko. Er brauchte einen Plan, etwas, das auch den anderen nützen konnte. Obwohl er nichts über die verbleibenden Asuras wusste, modellierte er BurstingStinger eine Gruppe Spielfiguren, erklärte ihm, welche Fähigkeiten sie hätten, und hob die von Taneos Cyberdramon nochmal hervor. Dann beschrieb er, so gut es ging, SkullScorpiomon und auch die beiden bereits erledigten Asuras. BurstingStinger war in Online-Rollenspielen immer eine Art Koordinator. Vielleicht kam er auf eine nützliche Strategie oder Formation. Wenn er mir damit einmal das Leben rettet, wird er es wohl nie erfahren.   „Sag mal, Kouki, hast du nächstes Wochenende schon was vor?“ Diese ganz harmlose Frage von Renjis Seiten, als sie sich am Montag in der Umkleide die Schuhe fürs Fußballtraining schnürten, ließ plötzlich ein schlechtes Gewissen in Kouki hochsteigen, der ahnte, was als Nächstes kam. „Wieso?“ „Ich hätte da Karten für so ein Konzert. Nächsten Samstag. Ich wollte ja eigentlich mit Fumiko hin, aber sie will nicht.“ Er zog einen Schmollmund. Kouki nickte mitfühlend. Er wusste, dass Fumiko ihm unverblümt gesimst hatte, dass sie keine Lust hatte, mit ihm irgendwohin zu gehen. „Wieso fragst du nicht jemand anderen? Deine Kumpels vielleicht?“, schlug Kouki vor. Irgendwie war es ihm unangenehm, dass nun er eingeladen wurde. „Ein paar sind sowieso dort, den anderen hab ich die Karten ja abgekauft. Wie stellst du dir das vor?“ Kouki überlegte. „Jagari ist vielleicht nicht der Typ für Konzerte. Tageko vielleicht?“ „Bloß nicht! Die würde mich ja am liebsten an die Leine nehmen. Außerdem, was sollen die Leute denken, wenn ich mit der da aufkreuze?“ Vermutlich gar nichts, sinnierte Kouki. „Dann frag doch Taneo.“ „Den? Eher beiß ich mir selbst den Kopf ab.“ „Was hast du eigentlich gegen ihn?“, fragte Kouki irritiert. Er hatte die beiden oft gegeneinander wettern sehen, aber nie den Grund herausgefunden. Oder lag es immer noch an dieser Geschichte mit Shuichi, von dem Tag, als sie ihre DigiVices gefunden hatten? „Nichts“, schnaubte Renji. „Er ist nur so ein selbstgerechter Stinkstiefel. Und er weiß immer alles besser. Der Typ kotzt mich echt an.“ Kouki seufzte. „Hör mal, vielleicht solltet ihr mal ordentlich miteinander reden. Die Sache regeln. Wir sitzen immerhin alle im selben Boot.“ Es wäre nicht nur von Vorteil, wenn sie sich vertragen würden, weil sie als DigiRitter zusammenhalten mussten. Kouki hatte genug davon, dass ihre Gruppe sich so wenig verstand. Renji mochte Taneo nicht, Taneo mochte Renji nicht. Fumiko ließ Renji am liebsten links liegen, und von Tageko war er sich nicht sicher, ob sie sie nicht allesamt verachtete. Jemand musste Ordnung in dieses Chaos bringen, und wenn er dieser Jemand war – auch kein Problem. „Wieso denn? Damit ich mir noch mehr davon anhören soll, wie scheiße ich doch bin, und ich gefälligst mein Leben so führen soll wie er? Er ist ein verträumter Idealist, so sieht’s aus, und mit der Narbe glaubt er, dass er männlicher dasteht. Außerdem ist sein Digimon als Einziges auf das Level der Asuras digitiert. Ich werd‘ den Teufel tun und jetzt wie ein großer Bewunderer angekrochen kommen. Kommst du nun mit auf das Konzert, oder nicht?“ Kouki stieß einen langen Seufzer aus. „Na schön – wer spielt überhaupt?“ „CDF. Die kennst du, oder?“ Kouki überlegte ein wenig. „Gothic?“ „Alternative. Komm jetzt, wegen dem ganzen Gerede über den großen Kuromori-sama sind wir die Letzten.“ Und das aus Renjis Mund.   Es war am Donnerstagnachmittag, als er die befürchtete Nachricht erhielt. Jagari hatte eben einen zermürbenden Schultag hinter sich gebracht, an dem er nicht viel mehr zur Klassengemeinschaft beigetragen hatte, als ab und zu ein paar spezifische Infos zu neuen Computertechnologien einzuwerfen. Ansonsten war er still auf seinem Platz gesessen. Seine Klassenkameraden interessierten sich nicht für ihn, und umgekehrt war es genauso. Vermutlich hatten sie auch nicht dieselben Interessen als er, und wenn, dann blieben sie damit hinter’m Berg. Nur ein Mädchen hatte ihn heute angesprochen – Jagari argwöhnte, dass es dasselbe war, das ihm damals seine Unterlagen ins Haus gebracht hatte – und sich schüchtern erkundigt, wie es ihm ginge, weil er ja krank gewesen war. Er hatte sie recht schnell abgewimmelt – überhaupt fand er es eine merkwürdige Frage. Wenn er schon in der Schule war, konnte es ihm doch nicht so schlecht gehen. Er hatte ihr natürlich nicht erklärt, dass er schon am Wochenende wieder topfit gewesen war und seine Mutter nur überredet hatte, zur Sicherheit bis Mittwoch zuhause bleiben zu dürfen. Schule war im Moment sein geringstes Problem, gleich vor seinen Klassenkollegen. Als er müde seine Schuhe im Flur auszog, seiner Mutter ein „Bin wieder da!“ zurief und sich dann in sein Zimmer verzog, um mit BurstingStinger zu chatten – Hunger hatte er noch keinen –, bemerkte er in seinem Maileingang eine neue Nachricht. Keine Absendeadresse, schlicht ein Name. Gennai. Jagari stöhnte innerlich auf und überlegte, ob er sie einfach nicht öffnen sollte. Vielleicht könnten sie dem Spuk in der DigiWelt dann entfliehen. Er schalt sich dafür, so verantwortungslos zu sein, und klickte die Mail an. Genau wie beim letzten Mal enthielt sie keinen Text – sondern nur einen etwas ungewöhnlichen Anhang. Der Computerbildschirm glühte blau auf, und Jagari ging auf Abstand. Kurz darauf hatte sich Gennai mit seiner weiten Robe und dem ernsten Blick vor ihm materialisiert. „Sei mir gegrüßt“, begann er ohne Umschweife. „Ich habe Neuigkeiten. Ihr solltet sie alle hören.“ Kapitel 19: Erst das Vergnügen, dann die Arbeit ----------------------------------------------- Auf dem Weg zu Jagari war sie überrascht, an einer Straßenkreuzung Renji zu begegnen. Er starrte sie genauso erstaunt an. Tageko hatte gar nicht gewusst, dass sie einen ähnlichen Weg hatten. Renji ließ seinen Blick schweifen, als suche er nach einer Fluchtmöglichkeit, dann schien er mental mit den Achseln zu zucken und sie trotteten nebeneinander her, schweigsam und ohne sich zu begrüßen. Irgendwann wurde es Tageko dennoch zu blöd. „Hi“, sagte sie laut. Er zog die Augenbrauen hoch und grinste kurz. „Hey.“ Und dann schwiegen sie wieder. Was sollte sie mit ihm reden? Hatte sie überhaupt schon einmal mit Renji gesprochen, ohne ihn für irgendetwas zu tadeln? Tageko konnte sich gar nicht erinnern. Renji schien auch nach einem Gesprächsthema zu suchen – denn er wählte kurzerhand das Wetter aus. „Ätzend, dieser Winter, oder?“ Tageko hob den Blick zum Himmel. Die letzten zwei Tage hatte es in einer Tour genieselt. Die Wolken über Tokio waren bleigrau und hässlich, und es war scheußlich kalt. Die Nässe kroch einem in die Kleidung, wurde an der Haut zu Kälte, und kroch weiter bis in die Knochen. „Wem sagst du das“, murmelte sie. „Ich wünschte, es wäre schon Sommer.“ „Jep.“ Renji kickte eine Blechdose vom Bürgersteig, die zielgenau von einem Laternenmast abprallte und in den angrenzenden Garten segelte. „Dann müssten wir nicht immer so warme Klamotten mitnehmen, wenn wir in die DigiWelt wollen. Bei dem ständigen Heiß-Kalt-Wechsel müssen wir ja irgendwann einen Klimaschock kriegen.“ „Hm“, machte Tageko. Sie dachte wehmütig an den letzten Sommer zurück. Da fiel ihr etwas ein. „Warst du nicht auch in dem Camp letzten August?“ „Du etwa auch? Bist mir nicht aufgefallen.“ „Umso besser“, meinte sie kühl. „Was denn? Was wirst du jetzt zickig?“ „Was genau soll jetzt daran zickig gewesen sein?“ „Alles?“, schlug Renji vor. Tageko wollte ihm schon über den Mund fahren, beherrschte sich aber. Stattdessen drängte sich ihr ein genervtes Seufzen auf, das sie ebenfalls unterdrückte, und sie schwieg. Sie hatte es satt, mit ihm zu streiten – schon, weil sich ihr Dialog offensichtlich viel besser entfaltete, wenn sie sich gegenseitig anmotzen konnten. „Ich fand das Camp echt cool“, sagte Renji nach einer Weile, als wäre nichts gewesen. „Aber mir wär’s lieber gewesen, wenn wir an den Strand gefahren wären. Da kann man Beachsoccer spielen und Beachvolleyball und einen Haufen cooler Sachen machen. Und man kann in der Sonne braten, und wenn’s zu heiß wird, kann man sich im Meer abkühlen“, schwärmte er. Danke für die Info, hätte sie beinahe sarkastisch gesagt, besann sich aber eines Besseren. „Wie war das noch mit dem Heiß-Kalt-Klimaschock?“, fragte sie und lächelte leicht. Renji grinste. „Im Sommer ist das in Ordnung.“ Jagaris Haus kam in Sicht. „Echt schade, dass wir diese lästigen Asuras bekämpfen müssen“, sagte er plötzlich. „In der DigiWelt ist ja gerade kein Winter. Zumindest gibt’s da momentan auch andere Jahreszeiten. Wäre doch ein Traum, wenn wir einen Sommerurlaub in der DigiWelt veranstalten könnten.“ Tageko sah ihn überrascht an. Daran hatte sie wirklich nicht gedacht. „Das ist in der Tat eine gute Idee.“ „Unglaublich!“ Er starrte sie mit offenem Mund an. „Die Frau Lehrerin gibt mir recht? Das muss ein Jahrhundertereignis sein!“ „Das liegt daran, dass du sonst nur Müll von dir gibst“, versetzte Tageko spitz. „Außerdem geht es nicht. Wir müssen die DigiWelt retten und sie nicht zum Urlaubsparadies machen.“ „Leider“, murmelte er.   „Ich habe gute Nachrichten für euch“, begann Gennai, als alle DigiRitter wieder einmal bei Jagari versammelt waren. Seine Mutter war außer sich vor Freude, schon wieder ein so volles Haus zu haben, und bestand darauf, sie alle zu bewirten. Jagari wollte Gennai trotz allem nicht alleine in seinem Zimmer verstecken, also ließ er sie Kekse und Saft vor die Tür bringen. Damit war sie letztendlich zufrieden. „Wir haben einen Lichtsamen gereinigt“, kam ihm Taneo zuvor. Gennai nickte. „In der Tat. Die Veränderung war sofort spürbar. Dadurch, dass einer der Samen nun auf ewig vor der Dunkelheit geschützt ist, habt ihr der DigiWelt eine Menge Zeit gegeben. Die Asuras werden es nun nicht mehr schaffen, die Grenzen zwischen den Welten vollends einzubrechen.“ Ein erleichtertes Aufatmen ging durch die Runde. Also müssten tatsächlich alle fünf Lichtsamen kontaminiert sein, damit die Asuras in ihre Welt kommen konnten. Gennai schien sich darin zu gefallen, ihre Hoffnungen zu zerstören. „Dennoch ist es möglich, dass sich durch die Phasenverschiebung kleine Teile eurer Welt mit der DigiWelt kreuzen, sollten die anderen Samen ihre schützende Kraft verlieren. Der Kampf ist noch lange nicht gewonnen.“ „Aber die Pläne der Asuras wurden aufgehalten, oder?“, fragte Jagari. „Sie wollten die Lichtsamen beflecken, um die Macht der Dunkelheit zu verbreiten, richtig?“ „Das können sie immer noch mit den verbleibenden vier Samen tun“, erklärte Gennai. „Selbst wenn nur ein einziger befleckter Samen übrigbleibt, mehrt es die Macht der Asuras. Auch wenn es länger dauert, irgendwann wird ewige Nacht über die DigiWelt fallen, und dann wird ihre Macht zu groß sein, um sie noch aufzuhalten.“ Als er ihre mutlosen Gesichter sah, fügte er hinzu: „Allerdings habt ihr der DigiWelt wirklich wertvolle Zeit verschafft. Zeit, die wir dringend brauchen. Wenn wir es geschickt anstellen, können wir alle Lichter rechtzeitig reinigen. Dafür habe ich euch Informationen mitgebracht.“ Er deutete auf Jagaris Computer. „Ihr habt bereits eine Karte der Gebiete der DigiWelt. Ich habe darin eingezeichnet, wo sich die anderen vier Lichtsamen befinden. Und hier ist noch etwas, das euch nützlich sein könnte.“ Jagari starrte auf das Ding, das Gennai aus seiner Kutte hervorholte. Es sah aus wie eine Art Fliegerbrille mit eckigen, in Aluminium eingerahmten Gläsern. „Was soll das sein?“, platzte es aus Renji heraus. „Sie gehörte ursprünglich einem der früheren DigiRitter, wurde aber bei einem Kampf beschädigt und von ihm in der DigiWelt zurückgelassen. Ich hielt es für passend, sie euch zukommen zu lassen. Ich vermute, sie ist auch bequem zu tragen.“ „Und was genau sollen wir damit machen? Durchsehen?“, witzelte Renji. „So ist es. Ich habe sie ein wenig modifiziert und einen Digimon-Analyzer darin eingebaut. Damit könnt ihr die Daten über alle Digimon abrufen, denen ihr begegnet.“ Er reichte die Brille Jagari, der ihm am nächsten stand. Neugierig setzte er sie auf. Ob sie so eine Art VR-Brille war? Das Glas schien trüb zu sein, etwas bläulich, aber er konnte die anderen gut sehen. „Und?“, fragte Taneo. Jagari wandte sich dem Schreibtisch zu, auf dem Motimon saß, das ihn gespannt beobachtete – die anderen hatten ihre Digimon sicherheitshalber zuhause gelassen. In der Sekunde, als die Brille das Digimon erfasste, blinkten im Glas helle Schriftzeichen auf und umgaben Motimon mit einem Kranz aus Informationen, wie es in Super-Hightech-Spionagesystemen in Agentenfilmen oft vorkam. „Irre!“, stieß er aus. „Was siehst du?“, drängte Kouki. „Da steht, dass Motimon auf dem Ausbildungslevel ist. Und dass seine Attacke Seifenblasen sind. Und noch ein paar Dinge.“ „Das heißt, wir erfahren damit in etwa, wie stark ein Digimon ist und was es kann?“, fragte Taneo. „Unter anderem. Die DigiRitter vor euch hatten einen ähnlichen Analyzer. Soweit ich weiß, war er ihnen sehr nützlich.“ Jagari nahm die Brille wieder ab und fuhr sich durch das Haar, um seine Frisur wieder in Ordnung zu bringen. „Spitze! Wer soll sie bekommen?“ „Du nicht“, ätzte Renji. „Du drehst sonst jedes Mal komplett durch, wenn du sie aufsetzt.“ „Renji Oyara“, ermahnte ihn Tageko und betonte jede Silbe seines Namens. „Ich glaube, du hast dich soeben selbst für die Brille disqualifiziert.“ „Nimm sie ruhig“, meinte Kouki aufmunternd zu Jagari. „Du kennst dich am besten mit sowas aus.“ „Darf ich wirklich?“, fragte Jagari mit leuchtenden Augen. „Vielleicht sollten wir einen Anführer bestimmen“, meinte Taneo plötzlich. „Der bekommt dann auch die Brille.“ Jagari sah ihn enttäuscht an und fühlte sich in den Rücken gefallen. „Wieso brauchen wir einen Anführer?“, fragte Kouki. „Demokratie ist doch am besten. Bisher hat es doch auch geklappt.“ „Wir könnten die Brille jeden Tag weitergeben“, meinte Tageko. „Dann kommt jeder mal dran.“ Jagari argwöhnte, dass sie nur versuchte, ihre Autorität zu wahren. „Gut. So machen wir’s“, bestimmte Kouki. „Pro Tag in der DigiWelt tauschen wir die Brille.“ Gennai räusperte sich und die DigiRitter wandten sich wieder ihm zu. „Ich habe die Daten einiger Asuras auf Jagaris PC geladen. Leider bin ich den wenigsten selbst begegnet, und Azulongmon kam nicht mehr dazu, mir genaue Auskunft über sie zu geben.“ Jagari öffnete den Ordner, auf den Gennai zeigte. Bilder von mehreren Digimon mitsamt einer knappen Beschreibung erschienen. Es waren dieselben Informationen aufgelistet, die auch die Brille bei Motimon angezeigt hatte – nur wirkten sie deutlich eindrucksvoller. „SkullScorpiomon“, las Jagari vor, als er ein freigestelltes Bild des hässlichen Skelettdigimons vor sich hatte. „Ultra-Level. Sind die Asuras alle auf dem Ultra-Level?“ Motimon war auf dem Ausbildungs-Level – da schien einiges dazwischen zu liegen. „Die meisten“, erklärte Gennai. In der Sammlung waren außer SkullScorpiomon noch Pumpkinmon, Karatenmon, LordMyotismon und der Hund mit den drei Köpfen, den Kouki schon einmal gesehen hatte. Cerberusmon hieß das Wesen. Es war also auch ein Asura. Dann gab es noch das Bild von einem gewissen Arkadimon – einem wahren Ungetüm aus Klauen und Klingen. Außer dem Namen und dem Level – Ultra – gab es jedoch zu keinem der Felder Informationen, dafür war das Bild mit einem großen Fragezeichen hinterlegt. „Was ist das?“, fragte Jagari. „Arkadimon ist ein Digimon, das es eigentlich gar nicht geben dürfte“, sagte Gennai geheimnisvoll. „Ich vermute, die Asuras haben es von einem Ort, an dem pure Finsternis herrscht. Es war Arkadimon, das versuchte, eure DigiVices und DigiEier zu stehlen. Der letzte Heilige Stein wurde geopfert, um seine Macht zu bannen, aber ich weiß nicht, was mit ihm geschah. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob es tot ist.“ Jagari klickte weiter, doch die Liste war zuende. „Das war’s? Waren die Asuras nicht zu zwölft?“ „Wie gesagt kenne ich die anderen Asuras nicht genau. Ihr müsst nach wie vor wachsam sein. Die Brille ist jedoch so konzipiert, dass sie Asuras sofort von gewöhnlichen Digimon unterscheidet.“ „Wenigstens etwas“, murmelte Tageko. „Wir sollten uns langsam einen neuen Plan überlegen“, sagte Taneo und richtete das Wort an Gennai. „Welchen der Lichtsamen sollten wir am besten als Nächstes reinigen, was meinen Sie?“ Der Mann mit der Kutte ließ sich mit der Antwort Zeit. „Die Asuras haben herausgefunden, dass ihr einen Samen gesäubert habt“, erklärte er schließlich. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie nun die anderen genau beobachten und verteidigen.“ „Das macht nichts. Cyberdramon kann es mit den Asuras aufnehmen“, gab sich Taneo überzeugt. „Wir wissen sicher, dass zwei Asuras tot sind. Ein drittes hat Gennai entmachtet. SkullScorpiomon ist ein Jäger, richtig? Es sucht also nach uns. Bleiben noch acht Asuras und vier Samen. Cyberdramon wird also gegen zwei auf einmal kämpfen müssen“, warf Tageko mit brachialer Logik ein. „Aber irgendwas müssen wir doch tun können!“ „Ich hätte eine Idee“, beteiligte sich ausnahmsweise auch Gennai an ihrem Kriegsrat. „Jagari, öffne bitte den anderen Ordner.“ Ein zweiter Folder war auf Jagaris Desktop erschienen, und er enthielt Bilder von den Lichtsamen, die außerdem mit der Karte verknüpft waren, die die einzelnen Gebiete zeigte, die sie per Fernseher erreichen konnten. „Hier“, sagte Gennai. „Wie ich seht, liegt diese Lichtsaat auf dem Meeresgrund. Es ist nicht weit von der Küste, aber man braucht ein Meeresdigimon, um dorthin zu kommen. Azulongmon war die letzte Gottheit, die die Asuras gebannt haben. Wie gesagt war ich bei dem Kampf nicht zugegen, aber er hat an Land stattgefunden, und alle Asuras waren dabei.“ „Sie meinen also, weil die Asuras sich alle an Land fortbewegen, sind wir im Wasser relativ sicher?“, hakte Tageko nach. „Was, wenn eine Amphibie oder etwas in der Art darunter ist?“ „Wir sprechen hier von Digimon“, warf Fumiko ein. „Kann es nicht auch eines geben, das schwimmen, laufen und fliegen gleichzeitig kann?“ „Es ist nur eine Idee von mir“, wehrte Gennai ab. „Die Entscheidung liegt bei euch.“ „Trotzdem“, murmelte Taneo. „Die Wahrscheinlichkeit, dass wir im Wasser ungestört sind, ist höher als an Land. Und irgendwo müssen wir anfangen.“ „Und wie kommen wir selbst dorthin, du Genie?“, fragte Renji. „Kannst du so tief tauchen, oder was?“ „Da kann ich Abhilfe schaffen“, sagte Gennai. „Falls es nun das ist, was ihr tun wollt.“ Die Diskussion wogte noch ein wenig hin und her, aber schließlich sprachen sich alle dafür aus, es bei dem Lichtsamen unter Wasser zu versuchen – und zwar so bald wie möglich. „Morgen kann ich nicht“, sagte Tageko sofort, als Taneo den Freitag vorschlug. „Da habe ich Kinderdienst.“ „Was ist dann mit Samstag? Da könnten wir den ganzen Tag in der DigiWelt verbringen“, meinte Kouki. Damit waren alle einverstanden. Nun lag es an Gennai, das passende Transportmittel zu finden. Er entschuldigte sich für einige Stunden und verschwand wieder im Computer – wohlgemerkt ohne ein DigiVice benutzen zu müssen. Er schien nach Belieben die Welt wechseln zu können, aber etwas anderes war von diesem rätselhalfen Mann wohl nicht zu erwarten.   Um sich die Wartezeit zu verkürzen – niemand wollte gehen, ehe Gennai die versprochenen Nachrichten brachte –, beschlossen sie, etwas zu spielen. Jagari wollte ihnen unbedingt seine Computerspiele zeigen, doch abgesehen davon, dass sich nicht jeder der DigiRitter dafür interessierte, besaß er kaum Multiplayer, und gar keine, die für sechs Person gedacht waren. Der Haushalt Morino schien über keine Brettspiele zu verfügen, aber Karten ließen sich auftreiben. Die DigiRitter verließen Jagaris Zimmer und versammelten sich um den Küchentisch, sehr zur Freude von Jagaris Mutter, die ihre Gäste endlich richtig zu Gesicht bekam. Während sie spielten, wurden sie von ihr nach Strich und Faden verwöhnt – und gelobt. Was für nette Mädchen Fumiko und Tageko doch wären, wie stattlich sie Renji und Kouki fand … einzig Taneo betrachtete sie mit ein wenig Unbehagen, was an seiner Narbe liegen mochte, aber nach einer Weile hatte sie auch ihn in ihr Herz geschlossen. Eine so fröhliche Runde wären sie und alle so nett, obwohl Kouki nicht fand, dass sie sonderlich fröhlich wirkten, und wenn man bedachte, mit welchen Worten Renji Jagari noch vor wenigen Tagen bezeichnet hatte, war nett auch ein wenig weit hergeholt. Aber das Spiel trug tatsächlich dazu bei, dass sie ein wenig lockerer wurden. Zwar spielte Taneo etwas zu verbissen und ernst, aber Kouki fühlte, dass sie auf einem guten Weg waren, einander näher kennenzulernen. Wenn sie viel miteinander unternahmen, würden sie vielleicht auch mehr miteinander anfangen können, dachte er. Nachdem er ausgeschieden war, rückte er seinen Stuhl ein wenig zurück und beobachtet die anderen. Renjis Augen wanderten von links nach rechts und von rechts nach links über sein Blatt, Tageko hatte die Stirn gerunzelt und Jagari lugte siegessicher über den Rand seiner Karten hervor. Es war Fumikos Zug. „Psst.“ Kouki beugte sich ein wenig zu ihr. „Die mittlere“, flüsterte er. Sie warf ihm einen fragenden Blick zu. „Vertrau mir.“ „Hey, Kouki, nicht einsagen!“, empörte sich Jagari. Fumiko nahm die mittlere Karte und knallte sie auf den Tisch. Die anderen stöhnten auf, als sie den Zug nicht erwidern konnten. Nach und nach gaben sie hohe Karten zu. Kouki grinste triumphierend. Er hatte genau mitgezählt und wusste, welche Karten sie unmöglich haben konnten. Aber er hatte die Rechnung ohne Taneo gemacht. „Tut mir leid“, meinte er lächelnd und warf eine Trumpfkarte in die Mitte. „Die gehören mir.“ Während er die Karten einhamsterte, sagte Kouki zerknirscht zu Fumiko: „Sorry. Hab nicht gedacht, dass er sich einen Trumpf aufhebt.“ „Schon okay“, murmelte sie zurück, aber irgendwie klang sie eher amüsiert. „Was turtelt ihr denn da so rum?“, fragte Renji laut, der neben ihm saß. „Kouki, lass mich auch neben Fumiko-chan sitzen!“ „Wir turteln doch nicht!“, gab Kouki zurück. „Wenn du mich im nächsten Spiel schlägst, darfst du neben mir sitzen, Renji“, erwiderte Fumiko keck. Renji riss die Augen auf und beugte sich zu Kouki herüber. „Hast du gehört? Sie hat mich beim Vornamen genannt! Das ist ein Fortschritt, meinst du nicht?“ Kouki verbiss sich eine Antwort und lächelte nur leidvoll, während er daran dachte, dass Renji das wohl allein ihm zu verdanken hatte. Nach jedem Spiel ging Jagari kurz in sein Zimmer, um nach seinem Computer zu sehen. Die große Uhr an der Wand zeigte halb acht, als er schließlich die anderen holte.   „Ich habe ein Digimon aufgetrieben, das euch übermorgen zu dem Lichtsamen am Meeresgrund bringen wird“, sagte Gennai. „Wir haben darüber gesprochen, wie es am besten funktioniert, dass ihr ihn reinigen könnt. Wenn alles gutgeht, werdet ihr nicht einmal nass werden.“ „Perfekt“, sagte Kouki. „Wie sieht das Gebiet denn aus?“ Jagari deutete auf die Gebietskarte. „Ein Küstenlandstrich“, sagte er. „Ach nein.“ Renji rollte mit den Augen. „Ich weiß, dass es euch tagsüber lieber wäre, aber das Digimon und ich sind übereingekommen, dass die Aktion nachts sicherer ist. Seid am Abend hier in diesem Gebiet.“ Gennai deutete auf ein angrenzendes Quadrat auf der Karte. „Das ist weit genug von dem Samen weg, dass die Asuras euch nicht gleich finden sollten. Es ist ein einsamer Strand, umgeben von einigen hohen Felsen. Euer Transportdigimon wird euch abholen, wenn die Sonne untergeht, dann taucht es euch zu dem Samen. Seid ihr einverstanden?“ „Können wir diesem Digimon trauen?“, fragte Fumiko. Was mochte es wohl für ein Wesen sein, das sie, ohne dass sie nass wurden, zum Meeresgrund bringen konnte? „Dafür verbürge ich mich. Es hat schon mit früheren DigiRitter-Generationen zusammengearbeitet und ist sehr zuverlässig.“ „Gut. Das klingt nach einem Plan“, sagte Tageko zufrieden. „Seid dennoch vorsichtig. Ich wünsche euch viel Glück.“ Gennai wollte sich wieder verabschieden. „Eine Sache noch, Gennai“, hielt Taneo ihn zurück. „Als wir den letzten Samen gereinigt haben, ist Thunderboltmon zu Cyberdramon digitiert. Da war so ein … Licht, das frei herumgeflogen ist, und ich habe es berührt. Heißt das, auch die anderen können digitieren, wenn wir noch einen Samen säubern?“ Gennai sah ihn nachdenklich an. „Ja, das ist gut möglich. Azulongmon hat immer wieder im Laufe der Zeit den Digimon der DigiRitter das Licht der Digitation verliehen. Die Lichtsaaten entspringen ebenfalls seiner heiligen Energie. Wenn eines eurer DigiVices darauf reagiert hat, werden es auch die anderen tun.“ „Nur, damit ich es ganz verstehe“, murmelte Jagari. „Wenn wir einen Lichtsamen reinigen, wird Azulongmons Kraft freigesetzt, und dann kann wieder eines unserer Digimon digitieren?“ „So ist es. Ich wusste nicht, dass es auf diesem Weg möglich ist, aber es klingt plausibel.“ „Das ist toll!“ Jagari sah strahlend in die Runde. „Die Asuras werden stärker, je mehr sie die Samen kontaminieren, aber wir werden stärker, wenn wir sie reinigen!“ Fumiko ließ sich das durch den Kopf gehen. Somit würden ihre Erfolgschancen bei jeder Reinigung steigen. Nur sie war wieder mal die Einzige, die nicht davon profitierte. Gennai verschwand wieder im Computermonitor, hatte dabei aber einen nachdenklichen Gesichtsausdruck aufgesetzt. Die anderen waren sehr euphorisch, als sie sich höflich von Frau Morino verabschiedeten und sich ihre Schuhe anzogen. Plötzlich hielt Renji inne. „Ein Strand, hat er gesagt.“ Sein Blick suchte Tagekos. „Denkst du, was ich denke?“ Fumiko hob eine Augenbraue. Seit wann glaubte Renji, Tagekos Gedanken zu kennen? „Wir sollen vorsichtig sein“, erwiderte sie. „Ich glaube daher nicht, dass wir …“ „Aber Gennai hat gesagt, die Asuras würden uns dort nicht suchen! Und warum sollten sie auch? Die sind ja damit beschäftigt, ihre Lichter zu bewachen. Komm schon, das ist doch eine einmalige Gelegenheit.“ „Worum geht’s?“, fragte Fumiko, die langsam neugierig wurde. „Wir haben vorhin darüber gesprochen, dass ein Ausflug an den Strand ganz schön wäre“, erklärte Renji strahlend. „Bei uns ist ja so ein Sauwetter, aber in der DigiWelt … Wir könnten einen Tag am Strand verbringen!“ „Sollten wir nicht eigentlich die Asuras bekämpfen?“ „Schon, aber das Digimon kommt erst am Abend. Wir könnten schon früher in die DigiWelt gehen und uns einen schönen Tag machen. Mal Urlaub von all dem Stress!“ „Ich finde die Idee gut“, meinte Kouki. „Ein wenig Entspannen tut uns allen gut, und wir könnten ruhig auch mal was gemeinsam unternehmen, ohne gleich um unser Leben zu kämpfen. Sie wie heute.“ „Au ja!“, rief Jagari. „Wir haben die perfekte Gelegenheit! Wer kann schon von sich behaupten, mitten im Winter in der DigiWelt am Strand liegen zu können?“ „Wir wissen aber nicht, ob dort nicht auch Winter ist“, wandte Tageko ein. „Gennai hat nur gesagt, dass es ein Strand ist. Dort kann genauso gut Tundra sein.“ „Wenn die Breitengrade in etwa so beschaffen sind wie bei uns, sollte es sogar heißer sein als in der Gegend, wo wir das letzte Mal waren“, sagte Jagari. „Also ich werde das ausnutzen“, legte Renji fest. „Diese ewige Kälte hängt mir zum Hals raus. Wer nicht will, kann es ja bleiben lassen und am Abend nachkommen.“ „Taneo, was ist mit dir?“, fragte Jagari. Der Angesprochene zuckte mit den Achseln. „Warum eigentlich nicht? Ich finde auch, dass dieses Regenwetter aufs Gemüt schlägt.“ Tageko seufzte, aber offenbar siegte diesmal nicht allein ihre Vernunft. „Fumiko, willst du auch?“ Sie überlegte. Je mehr sie darüber redeten, desto mehr Lust bekam sie eigentlich. Theoretisch sollte es nicht allzu gefährlich sein, und wenn sie in der Nähe des Fernsehers blieben, konnten sie zur Not auch flüchten. „Ich bin dabei“, sagte sie. „Ich kann auch gekühlte Getränke und Knabberzeug mitnehmen.“ „Gute Idee. Jeder sollte was mitbringen“, meinte Kouki. Aufgeregt schnatterten sie durcheinander. Fumiko traute ihren Ohren kaum. Sie planten tatsächlich, etwas gemeinsam zu unternehmen. Als freundschaftliche Gruppe, nicht als zweckmäßige Verbündete. Es war ein angenehmes Gefühl, und es vertrieb sogar ein wenig ihre Melancholie. Kapitel 20: Ein Tag am Strand ----------------------------- Kouki seufzte tief auf. Er beschattete die Augen mit der Hand und blinzelte gegen die Sonne an, die noch nicht sehr hoch stand und dennoch so kräftig in ihre Richtung stach, dass er froh war, Sonnencreme eingepackt zu haben. Der Himmel war strahlend blau mit nur wenigen weißen Schäfchenwolken. Die Luft roch nach Hitze und Salz. Und das Ende März. Das tiefblaue Meer glitzerte so hell, dass es in den Augen wehtat, sanft schaukelnde Wellen trieben die Lichtflecken hin und her, ehe sie mit einem sachten Rauschen schäumende Wogen über den Strand spülten. Sie hatten Glück gehabt; zwar war der Küstenlandstrich, der etwa zwei Kilometer lang war, von hohen, schroffen Felsen begrenzt, der Strand selbst aber bestand aus Sand, der warm und hell zwischen den Zehen quoll. Erst weiter draußen im Ozean ragten wieder Felsen auf. Der Fernseher, durch den sie gekommen waren, hatte sie direkt hier ausgespuckt, mit prächtigem Ausblick auf den Horizont. Und es war heiß, wunderbar heiß. Genau das Richtige gegen die winterliche Kälte, die in ihren Knochen steckte. Kouki konnte sich nicht vorstellen, dass es irgendwo in der DigiWelt schöner war. Hätte jemand geahnt, was in den vielen Taschen der fünf Jugendlichen gewesen war, die am Samstagmorgen wieder mal ins Hause Morino spaziert waren, hätte er darüber nur den Kopf schütteln können. Allerlei Strandzeug wurde nun ausgepackt, Luftmatratzen, Decken, Schwimmbälle, Tauchermasken, Getränkekühlboxen. Tageko hatte sogar eine zusammenklappbare Strandliege mitgebracht. „Jetzt müssen wir nur noch einen Platz zum Umziehen finden“, meinte Kouki und ließ den Blick schweifen. „Dort hinten, die Felsen werden’s tun.“ „Wir müssen gar nicht in die Felsen gehen, sieh mal!“ Jagari deutete auf eine kleine, hölzerne Strandkabine weiter hinten auf dem blendenden Feld aus Sand. „Irre“, lachte Kouki. „Wie kommt die denn hierher?“ „Erster!“ Jagari lief sofort los. Elecmon wollte ihm hinterher, stolperte aber in dem für es recht tiefen Sand über seine eigenen Füße und landete mit dem Kopf voraus in einem Meer aus winzigen Körnern. Kouki schüttelte den Kopf. „Kindskopf“, murmelte ausgerechnet Renji. „Lass ihn doch. Du siehst doch, wie er sich freut“, sagte Kouki. „Wie sieht’s aus? Von mir aus dürfen die Mädchen als Nächstes.“ „Wie charmant von dir“, spottete Tageko. „Ich hab meinen Bikini schon an.“ „Dann geh ich als Nächste“, sagte Fumiko, die eben ihre Stranddecke richtete. „Ihr Jungs zieht besser Streichhölzer“, merkte Tageko mit blitzenden Augen an. „Und wehe, ich muss euch trennen, weil ihr zu streiten anfangt.“ Kouki, Renji und Taneo warfen sich einen verwunderten Blick zu. Hatte Tageko gerade einen Scherz gemacht?   Letztlich befolgten sie ihren Rat. Kouki durfte sich als Letzter umziehen, nach Renji. Geduldig wartete er vor der Strandkabine, die aus hellem Bambus oder etwas Ähnlichem bestand und auf der Rückseite nur eine Art Vorhang aus ähnlichem Material besaß. „Warum müsst ihr euch eigentlich dort drin umziehen?“, fragte Salamon, das neben ihm im Sand lag, ebenfalls dankbar über die Wärme. „Naja, es gehört sich nicht, wenn man sich vor aller Augen umzieht“, erklärte Kouki. „Wieso nicht?“ „Wieso bist du plötzlich so neugierig?“ Kouki kniete sich hin und kitzelte Salamon zwischen den Ohren. Mit einer Mischung aus Jauchzen und Kreischen sprang es davon. „So, du bist dran.“ Renji kam aus der Kabine, seine Klamotten unterm Arm. Er trug eine knielange Badehose mit Khaki-Muster. Als Kouki an ihm vorbeigehen wollte, hielt er ihn zurück. „Ich weiß jetzt, wie ich Fumiko rumkriegen kann“, sagte er mit gedämpfter Stimme. „Ach ja?“ „Mir ist es eben klar geworden. Immer, wenn wir uns gesehen haben, hatten wir Winterkleidung an – oder Herbstklamotten, oder etwas, mit dem man gut wandern und bergsteigen kann. Oder unsere Schuluniformen, in der Schule.“ „Ich weiß nicht ganz, worauf du hinauswillst.“ Kouki zog die Stirn kraus. Renji packte ihn an den Schultern und drehte hin herum, sodass er zum Strand zurückblickte. „Sieh dir Fumiko an!  Sieht sie nicht umwerfend aus?“ Fumiko lag auf ihrer Decke neben Tagekos Strandliege, eine Sonnenbrille vor dem Gesicht, und badete in der Sonne. Ihr Haar hatte sie einstweilen wieder zu einem Pferdeschwanz gebunden. „Sie sieht aus wie immer“, sagte er. „Sie trägt einen Bikini!“, erklärte Renji, als würde Kouki es sonst nicht sehen. „Hat sie nicht eine tolle Figur?“ Kouki sah noch einmal zu den Mädchen. Tageko war eindeutig athletischer, aber dass Fumiko attraktiv war, wusste er, auch ohne sie im Bikini erleben zu müssen. „Mir ist immer noch nicht ganz klar, worauf du hinauswillst.“ „Ist doch ganz einfach!“ Renji schlug sich gegen die Brust. „Wer einen tollen Körper hat, muss ihn zeigen! Und ich bin groß, schlank, sportlich, habe breite Schultern, einen knackigen Hintern und zumindest andeutungsweise einen Waschbrettbauch.“ Vor allem hast du ein ungeheuerliches Selbstbewusstsein, dachte Kouki, verbiss sich aber jeden Kommentar. „Fumiko-chan hat mich noch nie mit nacktem Oberkörper gesehen“, fuhr Renji fort. „Wenn ich so, wie ich jetzt bin, ein paar unauffällige Posen mache, muss das irgendeine Reaktion bei ihr hervorrufen.“ „Na, wenn du meinst“, sagte Kouki wenig überzeugt. Er klopfte Renji auf die Schulter. „Ich wünsch dir jedenfalls viel Glück.“ Als Kouki umgezogen mit Salamon zurückkam, warf er seine Klamotten auf eine der Decken und atmete noch einmal tief die salzige Luft ein. Mushroomon und Candlemon spielten im Sand und versuchten etwas wie eine Burg zu bauen, wobei sie Candlemons Wachs als Mörtel verwendeten. Jagari und Elecmon konnte er nirgends entdecken. Taneo war dabei, eine Luftmatratze aufzublasen, aber das würde wohl noch eine ganze Weile dauern. „Soll ich dir nicht helfen?“, bot sich Kokuwamon an. „Du würdest mit deinen Zangen höchstens ein Loch hineinstechen. Außerdem bräuchtest du einen … elastischeren Mund.“ „Aber ich darf doch dann auch mal damit fahren, oder?“ „Das ist eine Luftmatratze, damit fährt man nicht, man lässt sich einfach von den Wellen treiben.“ „Ist das nicht langweilig?“ Während Taneo Kokuwamon zu erklären versuchte, was der Zweck einer Luftmatratze war, breitete Kouki seine Strandmatte neben den Mädchen aus, die die Sonne und den Ausblick auf das Meer genossen. Renji spazierte auffällig beiläufig an ihm vorbei. „Toller Tag, oder?“ Er hatte eine teure Sonnenbrille auf, die einen Satz machte, wann immer er die Augenbrauen hob. Vor Fumiko blieb er stehen, wandte ihr den Rücken zu und betrachtete das Meer. Mit einem genießerischen Seufzer streckte er sich, als wollte er sich fürs Schwimmen aufwärmen, und wie zufällig betonte er dabei seine Muskeln. Fumiko hob ihre Sonnenbrille hoch. „Renji?“ „Ja, Fumiko-chan?“, flötete Renji und drehte sich mit einem strahlenden Lächeln um. „Du stehst mir in der Sonne.“ Während Renji wie ein geprügelter Hund davontrottete, konnte sich Kouki ein Grinsen nicht verkneifen. Da hatte er jetzt seine Reaktion. „Hey, Leute!“ Jagari kam durch den Sand angelaufen, Elecmon auf seinen Fersen. „Ihr erratet nie, was ich gefunden habe!“ In der einen Hand hielt er einen Dango-Spieß, in der anderen ein Eis am Stiel. „Da hinten gibt’s sogar eine Strandbude!“ Die DigiRitter sahen ihn überrascht an. „Wirklich?“, fragte Taneo. „Klar! Was glaubst du, wo ich das her habe?“ Elecmon machte einen Satz und schnappte sich den Dango-Spieß im Flug. Jagari schien nichts dagegen zu haben. „Und womit hast du bezahlt?“, fragte Kouki skeptisch. „Mit Dollar?“ „Mit Muscheln.“ „Muscheln?“, riefen die anderen unisono.   Der Besitzer der Strandbar war eine kleine, violette Krabbe, die auf dem Tresen saß. „Oh, noch mehr Kundschaft, wie wunderbar“, sagte sie und verhakte die Scherenarme ineinander, als würde sie sich die Hände reiben. „Ihr seid die Ersten, die mich diese Woche besuchen kommen. Ich werde euch gute Preise machen.“ „Es ist ein Crabmon auf dem Rookie-Level“, flüsterte Jagari den anderen zu. Er trug heute die Brille, die sie von Gennai bekommen hatten. „Nimmst du wirklich Muscheln als Bezahlung?“, fragte Tageko, während die anderen inspizierten, was es alles zu kaufen gab. Das Angebot reichte von Snacks über Eis bis hin zu Schmuckstücken, wie man sie von Strandpromenaden her kennt: geschnitzte Anhänger, falsche Perlenketten, billige Ringe und Halsketten, sogar kleine Figuren, die mit etwas Fantasie Digimon darstellten, die sie schon einmal gesehen hatten. „Klar“, sagte Crabmon. „Ich liebe Muscheln.“ „Willst du nicht echtes Geld?“, hakte Tageko nach. Es wollte ihr nicht in den Kopf, dass jemand an einem Strand Muscheln als Bezahlung nahm. „Pah, was soll ich denn mit diesem Papierkram!“, begehrte Crabmon auf. „Muscheln sind schöner! Sie klappern schön, und es gibt viele verschiedene! Und ich habe ja keine Zeit, alle Muscheln hier am Strand zu sammeln, seit ich das Geschäft übernommen habe. Aber wenn ich diesen Kram hier gegen Muscheln tausche, bekomme ich mehr zusammen, als wenn ich selbst welche suchen würde.“ Es schien sehr überzeugt von seinem Geschäftsmodell. Die DigiRitter sahen sich etwas ratlos an.   „Das ist doch lächerlich“, klagte Fumiko, als sie alle den Strand entlanggingen, immer in der Nähe der schäumenden Wellen, und nach Muscheln suchten. „Warum nimmt es nicht einfach das Geld? Soll es damit doch Muschelsucher bezahlen.“ „Digimon können wohl sehr merkwürdig sein“, sagte Tageko. Fumiko seufzte. Sie wollte lieber in der Sonne liegen, anstatt für einen kleinen Snack auf Muscheljagd zu gehen. Genervt hob sie einen Stein auf, der aus dem Sand ragte, und holte aus, um ihn ins Meer zu schleudern. „Nein!“ Renji und Kouki stürmten wie der Blitz zu ihr und fielen ihr in den Arm. „Was ist?“, fragte sie, während sie ihr den Stein aus der Hand nahmen. „Da sind Muscheln drauf, siehst du nicht?“ Renji hielt ihr die Unterseite des Steins hin und Kouki deutete darauf. „Die sind ja winzig“, meinte Fumiko stirnrunzelnd. „Dafür kriegt ihr nicht mal einen Eisstiel.“ Crabmon schien da anderer Meinung zu sein. „Oh, so kleine, toll! Die sind am wertvollsten von allen!“ Es hüpfte überglücklich auf seinem Verkaufstresen auf und ab. Fumiko fühlte sich wie im falschen Film. „Die kleinen sieht man viel schwerer als die großen, darum ist es nicht so leicht, sie zu finden. Was wollt ihr dafür haben?“   Letzten Endes reichte ihre Ausbeute aus, um alle mit schmackhaftem Eis zu versorgen. Renji bestand darauf, dass Fumiko sich noch einen Anhänger oder irgendein Schmuckstück dazu kaufte. „Es würde toll an dir aussehen!“ „Ich habe aber keine Muscheln mehr.“ „Aber du hast noch ein Souvenir gut, hat Crabmon gesagt. Für die letzte kleine Muschel.“ „Die kleinen Muscheln habt ihr gefunden, also gehören sie dir und Kouki.“ „Aber du hast den Stein aufgehoben.“ „Und ich hätte ihn weggeworfen.“ Während die beiden einander das Recht zuschoben, über die letzte Muschel zu verfügen, sah Taneo, wie Kouki an Renji herantrat und ihm etwas ins Ohr flüsterte, und plötzlich erschein ein breites Grinsen auf Renjis Gesicht. Zwei Minuten später hatte Fumiko einen Anhänger mit einem geschnitzten Fischdigimon daran umgehängt, den Renji von der letzten Muschel gekauft und ihr dann geschenkt hatte. „Du bist unverbesserlich“, sagte sie. Renji grinste immer noch.   Die Zeit bis zum Mittag verbrachten sie jeder für sich. Jagari versuchte, seinen MP3-Player zum Laufen zu bekommen, aber auch der funktionierte in der DigiWelt nicht. Missmutig betrachtete er den tiefblauen Himmel und zählte die spärlichen Wolken. Taneo trieb mit seiner Luftmatratze draußen im Meer, und Tageko hoffte, dass ihn nicht plötzlich ein Digimon aus der Tiefe angreifen würde. Kokuwamon hockte bei ihm und sah in die sanft schaukelnden Wellen, was sie etwas beruhigte. Kouki und Renji redeten über Fußball, die Digimon hatten ihre Sandburg fertiggebaut und tollten jetzt am Strand herum. Fumiko döste neben ihr vor sich hin, und Tageko streckte sich genüsslich auf ihrer Liege. Es war in der Tat eine gute Idee gewesen, herzukommen. Abends würde Gennais Kontaktdigimon sie gar nicht weit von hier abholen, und dann würde es wahrscheinlich wieder gefährlich werden, aber als Urlaubsresort für zwischendurch hatte die DigiWelt schon was für sich. Nach einer Weile beschlossen Kouki und Renji, ins Wasser zu gehen. Kouki schlug ein Wettschwimmen bis zu Taneos Luftmatratze vor. Renji gewann, und er ließ es sich in seinem lachenden Siegestaumel nicht nehmen, sie umzukippen und Taneo ins Wasser zu schmeißen, der sich prustend und fluchend wieder in die Höhe arbeitete. Dafür bekam Renji Schelte von Tageko, und Kokuwamon drohte, ihn unter Strom zu setzen, aber am ehesten zusammengestaucht wirkte er, als Fumikos vernichtender Blick ihn traf. Entschuldigen wollte er sich wohl aus Prinzip nicht. Zu Mittag öffneten sie die Lunchboxen, die sie mitgebracht hatten, und setzten sich auf die größte Decke. Es fiel ihnen sogar leicht, ein Gespräch in Gang zu bringen, auch wenn Kouki und Renji am meisten schwatzten. Aber selbst die Digimon, die sich bei den Gesprächen ihrer Partner meist zurückhielten, plauderten munter drauf los. Sie erzählten viel von der DigiWelt, und Tageko wunderte sich, warum sie darüber so gut Bescheid wussten, wenn sie erst kurz vor ihrer Ankunft aus ihren Eiern geschlüpft waren. Entweder hatte ihnen jemand in ihrer Zeit im Wald viel erzählt, oder es war eine Art Instinkt, der ihnen in die Wiege gelegt worden war. „Gehst du eigentlich auch schwimmen?“, fragte Elecmon Candlemon. Jagaris Digimon hatte bereits eine Runde im Wasser gedreht. „Ha! Wenn ich ins Wasser gehe, verdampft doch der Ozean!“, gab Candlemon zurück. „Renji, dein Verhalten färbt auf dein Digimon ab“, sagte Tageko trocken und alle lachten, während er sich empörte, dass er nie so schamlos prahlen würde. Nach dem Essen spielten sie Schwarzer Peter. Kouki verlor zweimal und bekam mit einem wasserfesten Stift zwei schwarze Punkte auf die Stirn gemalt. „Du müsstest dir ein Pokerface zulegen“, riet Taneo. „Dein Gesichtsausdruck verrät dich immer.“ „Was, echt?“ Kouki konnte es kaum glauben. Es stimmte, dass er bei solchen Spielen oft Pech hatte. Er setzte sich seine Sonnenbrille wieder auf und verlor trotzdem auch ein drittes Mal. Als ihnen zu heiß wurde, beschlossen auch die Mädchen, ins Wasser zu gehen. Die Wellen waren jetzt höher, und das Meer war noch empfindlich kalt. Renji wollte wieder einmal Eindruck schinden und warf sich mitten in die nächste Woge. Der Kälteschock ließ ihn aufjaulen. „Hey, Renji! Du machst Salamon Konkurrenz!“, rief Kouki vom Strand aus. „Schnauze!“ Fumiko brauchte kaum länger als Renji, um sich an das Wasser zu gewöhnen, aber sie tat es ohne einen Laut. Nur Tageko watete eher zögerlich hinein und schwamm dann mit kräftigen Zügen in Richtung offenes Meer. Nach einer Weile wurde Renji übermütig und begann Fumiko nasszuspritzen. Empört schützte sie ihr Gesicht mit den Händen und versuchte sich zu revanchieren. Kouki schwamm zu ihr. „Komm, dem zeigen wir’s!“ „Hey, zwei gegen einen ist nicht fair!“, rief Renji, als er sich zwei Salzwassermaschinengewehren gegenübersah, die ihm kaum erlaubten zu sprechen. Er wandte ihnen den Rücken zu und sah sich hilfesuchend um. Tageko war zu weit draußen, und mit Taneo würde er nicht zusammenarbeiten. Also winkte er Jagari zu, der noch am Strand saß. „Jagari! Du musst mir helfen!“ Der Jüngste von ihnen kam mit verdutztem Gesicht angeschwommen, als könnte er nicht fassen, dass Renji ihn um Hilfe bat. Kouki und Fumiko erwartete ihn bereits mit fiesem Grinsen, und die Wasserschlacht begann erneut.   Als Tageko zurückkehrte, hatten sie die Kampflinien geändert und waren dazu übergegangen, Belagerungstürme zu bauen. Fumiko saß auf Koukis Schultern, Jagari auf Renjis, der seinem Gesichtsausdruck nach viel darum gegeben hätte, selbst Auge in Auge mit seinem Schwarm zu sein, aber er wäre für Jagari viel zu schwer gewesen. Unter anfeuernden Rufen ihrer Turmfundamente verkrallten Jagari und Fumiko die Hände ineinander, bereit, mit dem Rangeln zu beginnen. Plötzlich wurde Jagaris Miene ängstlich. „Aber keine Judo-Griffe, ja?“ Fumiko antwortete nur mit einem gespielt bösen Lächeln, dann ging der Kampf los. Tageko schwamm, bis sie wieder Sand unter den Füßen spürte. In dem Moment, in dem sie sich aufrichtete, landeten gerade beide Kontrahenten platschend im Wasser und tauchten prustend wieder auf. „Warum hast du Fumiko nicht besser festgehalten?“, motzte Renji Kouki an. „Sag mal, auf wessen Seite stehst du eigentlich?“ Jagari wischte sich das Salzwasser aus den brennenden Augen, und kurz darauf fingen alle beide zu lachen an.   Später am Nachmittag trauten sich einige Wolken vor die Sonne, und Kouki schlug vor, Volleyball zu spielen. Er hatte ein Netz mitgebracht, das er mit Renjis Hilfe im Sand aufstellte – zwar nicht ganz gerade, aber es würde gehen. Dann zogen die beiden mit den Füßen Furchen durch den Sand, um das Feld zu markieren. „Es ist immer noch zu heiß für sowas“, sagte Tageko. „Sei kein Frosch“, erwiderte Renji. „Da sind doch genug Wolken, und so wie das Netz steht, muss nicht mal jemand gegen die Sonne spielen.“ „Der Sand glüht ja noch förmlich.“ „Dann musst du die Füße eben ein wenig eingraben. Tiefer im Sand ist es kühler, weißt du?“ Renjis Augen funkelten. „Wenn du damit zufrieden bist, immer am selben Platz zu stehen, heißt das.“ „Komm schon, Tageko“, bat sie Kouki mit einem treuherzigen Blick, den er trotzdem lieber Salamon hätte überlassen sollen. „Du bist doch eine Sportlerin, oder?“ „Es ist noch nicht mal vier Uhr. Es ist viel zu heiß, am Ende kollabiert einer von euch.“ „Ich doch nicht“, rief Renji sofort aus. „Wie sieht’s bei dir aus, Kouki, würdest du kollabieren?“ „Nie im Leben“, grinste er. „Siehst du!“ Als Tageko nur den Kopf schüttelte, fügte Renji hinzu: „Außerdem haben wir Winter.“ „Solche schlauen Sprüche helfen euch auch nicht weiter.“ Tageko verschränkte bestimmt die Arme. „Dann wirst du aber als Einzige zusehen. Jagari ist auch dabei, oder?“ Renji sah seinen Wasserschlachtkameraden gewinnend an, der sich nervös das Haar aus dem Gesicht strich. „Ich, also … Ich weiß nicht …“ „Was ist mit Taneo?“, fragte Kouki. „Nie im Leben“, sagte dieser bestimmt. Renji stöhnte auf. „Mensch, seid nicht solche Spielverderber! Wir sind sechs Leute, sechs! Das ist die perfekte Anzahl! Jetzt, wo wir das Netz schon aufgebaut haben …“ „Spielt doch mit den Digimon, wenn ihr unbedingt wollt“, schlug Tageko genervt vor. Kouki betrachtete ihre Partner misstrauisch. „Oh ja, dürfen wir?“, fragte Salamon mit leuchtenden Augen. „Ich weiß nicht … können Digimon überhaupt Volleyball spielen?“ Es sah nicht so aus, als könnten sie den Ball mit den Händen übers Netz befördern – außer vielleicht Mushroomon, aber ob das mit seinen Stummelbeinen auch einen Ball erwischen würde … „Kommt ihr jetzt endlich?“ Fumiko stand bereits im Feld, den Ball in der Hand. „Siehst du? Fumiko spielt auch mit“, sagte Renji zu Tageko. „Bitte, Tageko“, fügte Kouki hinzu. „Wir sechs, und die Digimon als Verstärkung, ja? Wär doch gut, um unser Teamwork zu schulen.“ Als sie genervt seufzte, wussten die beiden, dass sie gewonnen hatten. Gutes Zureden von Koukis und Fumikos – und Kokuwamons – Seite überzeugte auch Taneo, und Jagari schloss sich ihnen an. Der Ball musste erst einige Male hin und her fliegen, ehe sie eine faire Teamkonstellation fanden. Die Digimon hielten sich erstaunlich gut. Sie waren flink, und ihre Partner erlaubten ihnen, den Ball auch mit dem Kopf anzustoßen. Jagari, der eher unsportlich war, hatte seine Schwierigkeiten, und Taneo schien mit dem Spiel überhaupt nicht zurechtzukommen. Nach einem verlorenen Satz erbat er sich eine Auszeit und schmollte am Feldrand, aber nach einer Weile schien ihn der Ehrgeiz zu packen und er spielte wieder mit.   Als sie alle schwitzten und Renji bereits knallrot war – natürlich hatte er darauf verzichtet, sich einzucremen –, gingen sie sich wieder abkühlen. Tageko überredete Fumiko, mit ihr ein wenig zu den Felsen weiter draußen zu schwimmen, da das Meer wieder ruhiger war. Hinter ihnen blieben die Jungen am Stand und hatten die nächste, ausgelassene Wasserschlacht begonnen – alle gegen Renji, da sie ihn davon abhalten wollten, ständig auf Taneo loszugehen. Die Digimon tollten wieder am Strand herum – Salamon und Mushroomon waren wasserscheu, Candlemon sowieso, und Kokuwamon flog lieber herum. „Sie sind so kindisch“, murmelte Tageko zwischen zwei kräftigen Schwimmzügen, als die Schreie an ihre Ohren wehten. „Kindisch oder nicht“, erwiderte Fumiko, „sie wirken, als hätten sie großen Spaß. Ist doch die Hauptsache an einem Urlaubstag, oder?“ Tageko seufzte. „Gewonnen“, sagte sie. „Sie sollten sich nur noch etwas Energie für später aufheben, wenn wir wieder kämpfen müssen.“ „Du machst dir zu viele Sorgen.“ Sie erreichten einen der Felsen. Er war von Algen glitschig, aber schroff genug, um auf ihn zu klettern. Nebeneinander legten sie sich auf den warmen Stein und ruhten sich in der Sonne aus.   Als der Abend kam, sahen sie alle wehmütig zu, wie die Sonne im Westen versank und der Himmel rötlich wurde. Er sah immer noch prächtig aus – aber eben abendlich. Sie trockneten sich ab und zogen sich um. Taneo fühlte bereits die Erschöpfung vom Schwimmen und Spielen und hoffte, dass sie sie nicht zu sehr beeinträchtigen würde bei dem, was jetzt kam. Es hatte wohl einen Grund, warum man Vergnügen nicht über die Arbeit stellen sollte. Durch den Fernseher machten sie einen Abstecher zurück ins Hause Morino. Jagari hatte seine Zimmertür abgeschlossen, damit sie ungestört in der Menschenwelt landen konnten. Sie luden nur die Badesachen ab, dann betraten sie wieder die DigiWelt. Der Strandabschnitt, den Gennai ihnen gezeigt hatte, lag etwas nördlich von ihrem Badestrand. Sie mussten über scharfkantige Steine klettern, was viel mehr Zeit in Anspruch nahm, als sie gedacht hatten. Taneo hoffte, dass sie nicht zu spät kamen. Die Bucht war tatsächlich von hohen Felsen geschützt. Der Strand hier war eine Ansammlung von Geröll und Felsen. Sie setzten sich auf einen guten Aussichtspunkt und warteten. Das Digimon kam, als der letzte Sonnenstrahl verschwand und es merklich kühler geworden war. Es tauchte direkt in der Bucht auf. Eine Wasserfontäne schoss gen Himmel und die DigiRitter stießen erstaunte Rufe aus. Taneo wusste nicht, was er erwartete hatte, vermutlich eine Art Unterseebot oder eine Schildkröte mit einem Panzer aus Luftblasen, aber sicher keinen Wal. Kapitel 21: Unterseekampf ------------------------- „Bist du … das Digimon, von dem Gennai …“, stammelte Tageko, völlig überwältig von diesem Ding, das vor ihnen aufgetaucht war wie eine riesige, braune Insel. „Ja“, sagte das Digimon. Es war riesig, doch es hatte eine sanfte Stimme. „Ich soll euch abholen. Ich bin Whamon.“ „Das ist ja irre!“, rief Jagari. Er hatte wieder die Analyzer-Brille aufgesetzt. „Es ist auf dem Ultra-Level, und seine Attacke heißt Düsenpfeil.“ Tageko wollte lieber gar keine Attacke von diesem Monster sehen. „Wir sollten uns beeilen“, sagte Whamon. „Steigt in mein Maul, wir werden tauchen.“ Es öffnete seinen gewaltigen Rachen und entblößte gewaltige Zähne. Intensiver, irgendwie alter Salzgeruch schlug ihnen entgegen. Keiner rührte sich. „Da hinein?“, fragte Tageko skeptisch. „Für wie blöd hältst du uns?“ „Ihr könnt mir vertrauen“, beruhigte sie Whamon. Es konnte sprechen, ohne den Kiefer zu bewegen; seine Stimme schien direkt aus seinem Innern zu dröhnen. Immer noch zögerten sie. Taneo ging schließlich auf das Digimon zu, doch Tageko hielt ihn zurück. „Beeilt euch“, drängte Whamon. „Ich schwimme zwar öfters in diesen Gewässern, aber man könnte Verdacht schöpfen, wenn ich zu lange hierbleibe.“ Die DigiRitter sahen einander nochmals an. Jeder suchte nach Zustimmung in den Blicken der anderen. „Ich habe gehört, Whamon sind freundliche Digimon“, sagte Elecmon. „Gehört heißt nicht gewusst“, erwiderte Tageko. „Was ist jetzt? Wollt ihr den Samen nun finden oder nicht?“ Taneo stand schon bei den ersten beiden Zähnen, die ihn überragten. Tageko atmete tief durch, dann straffte sie die Schultern. Die anderen folgten ihr und Taneo in das riesige Maul, an den Zähnen vorbei bis zu einer gewaltigen Zunge. Fast lautlos schlossen sich Whamons Kiefer wieder, und es war plötzlich völlig dunkel. Tageko war gar nicht wohl in ihrer Haut. „Nicht erschrecken“, warnte sie Whamon vor. Sie erschraken trotzdem. Plötzlich bäumten sich Zunge und Maul auf. Unter lautem Schreien verloren sie den Halt und purzelten tiefer in Whamons Rachen – und dann kam etwas, das nur die Speiseröhre sein konnte. Sie rutschten auf glitschigem, rosa Fleisch tiefer und tiefer, über raue Unebenheiten hinweg. Tageko gelang es, sich an einem Knoten in der Röhrenwand festzuhalten. Die anderen rauschten kreischend an ihr vorüber. „Fumiko!“, schrie sie. „Taneo! Haltet euch irgendwo fest!“ Schon waren sie in der Dunkelheit verschwunden. Tageko hing für einen Moment entsetzt in Whamons Speiseröhre, als sie etwas heranbrodeln hörte. Sie hob den Blick und stieß einen weiteren Schrei aus. Auf sie herab stürzte ein wahrer Wasserfall aus Salzwasser, riss sie von ihrem Haltegriff fort und spülte sie die Röhre hinab. Sie konnte noch nicht lange fallen, dennoch meinte sie eine Ohnmacht kommen zu spüren. Dann, plötzlich, wurde es hell vor ihr. Sie stürzte in eine größere Höhle, in der weiches Licht sie auffing – wortwörtlich. Es schien vom Boden auszugehen, und je näher sie ihm kam, desto mehr wurde ihr Fall abgebremst, bis sie völlig sanft auf den Füßen aufsetzte. Ihre Knie waren so weich, dass sie sofort nachgaben. Tageko landete auf einem ekligen, fleischigen Boden, weich und warm und nachgiebig – lebendig. Es musste Whamons Magen sein. Die anderen waren ebenfalls hier. „Seid ihr alle in Ordnung?“, rief Tageko aufgelöst. „Uns geht’s gut.“ Kouki richtete sich auf und hielt sich das Kreuz. „Verdammt, wo sind wir?“ „Dreimal darfst du raten. Dieses Digimon hat uns gefressen“, stellte Fumiko fest. „Werden wir jetzt verdaut?“ Jagari sah sich ängstlich um. Die Wände des Magens schienen ein eigenes Licht abzusondern, es war geradezu unnatürlich hell hier drin. Ein dünner Film Salzwasser war von dem Schwall vorhin noch übrig; obwohl es aberhunderte Liter sein mussten, hatten sich in der riesigen vermeintlichen Höhle verlaufen. Obwohl ihr davor ekelte, tauchte Tageko den Finger in das Wasser und betastete den Boden. „Sieht nicht so aus“, murmelte sie. Wasser, ja. Es war nicht etwa ätzend. Falls Whamon etwas wie Magensäure besaß, hielt es sie zurück. „Renji! Renji, wach auf!“ Candlemon sprang auf Renjis Brust herum. Seine Rufe klangen verspielt, nicht etwa alarmiert. Nach einer Weile zuckte sein Partner zusammen und fuhr in die Höhe. „Was? Was ist? Wo … Wo sind wir?“ „In meinem Magen seid ihr sicher“, dröhnte Whamons Stimme von allen Seiten und verursachte Gänsehaut. „Wir sind bereits auf Tauchgang. In zehn oder fünfzehn Minuten sollten wir den Lichtsamen erreicht haben.“ „Du hättest uns vorwarnen können“, meinte Tageko säuerlich. Ihre Klamotten waren völlig durchnässt – außerdem stank es in Whamons Inneren. Man merkte gar nicht, dass sie unter Wasser unterwegs waren. Allerdings war es ein beklemmendes Gefühl, nur das rohe Fleisch Whamons zu sehen, gespenstisch hell, ohne eine Spur von echtem Tageslicht. „Ein Fenster wäre praktisch“, murmelte Renji. Jagari legte seine Angst bald ab und lief begeistert herum. „Das ist … Das ist Wahnsinn! Wir sind im Magen von einem Wal! Das ist wie mit … wie mit …“ „Noah?“, schlug Renji vor. „Genau!“ „War der mit dem Wal nicht Jona?“, fragte Kouki stirnrunzelnd. „Ist doch schnuppe“, gab Renji zurück und stapfte übellaunig hin und her. Candlemon musste zur Seite hopsen, sonst hätte er es niedergetrampelt. „Sind wir endlich da? Ich halt’s keine Minute mehr aus hier drin.“ „Was ist ein Wal, Taneo?“, fragte Kokuwamon. „Naja … Es gibt so ähnliche Wesen wie Whamon in unserer Welt. Man nennt sie Wale.“ „Oh!“ Kokuwamon schien beeindruckt. „Und bist du auch schon mal im Bauch eines Wals in deiner Welt gewesen?“ „Nicht, dass ich wüsste.“ „Wir sind da“, verkündete Whamon. Man spürte keinen Ruck, als es innehielt. „Haltet Eure DigiVices bereit.“ „Wie sollen wir denn überhaupt hinauskommen?“, fragte Tageko. Warum hatte sie nicht schon eher daran gedacht? Der Samen lag ja am Grunde des Ozeans, vermutlich würde der Wasserdruck allein sie zermalmen. Ihre Sorgen waren unbegründet. Plötzlich leuchtete vor ihnen ein Fleck der Wand viel heller als noch zuvor, dann noch stärker, dann bildeten sich schwarze Punkte darauf. Gleichzeitig ging ein tiefes Grollen durch Whamons Körper. „Was ist …“ Taneo unterbrach sich, als der Lichtsamen zum Vorschein kam. Er war einfach durch die Wand gesickert, wie Röntgenstrahlen, und hielt auf die Mitte des Magens zu. Erst jetzt wurde Tageko klar, dass Whamon in den Samen hineingeschwommen war und nicht etwa umgekehrt. Schließlich konnten sie ihn in seiner ganzen Pracht und Verdorbenheit betrachten. Die Kontaminierung war viel weiter fortgeschritten als bei Karatenmons Samen. Fast zwei Drittel des Lichtsamens waren in Dunkelheit gehüllt, und es war eisig kalt geworden in Whamons Körper. „Schnell“, ertönte die Stimme des Wals gepresst. „Reinigt ihn … Ich fühle, dass diese Dunkelheit nicht gut für mich ist.“ Tagekos Blick wanderte zu der Wand des Magens, durch die der Samen geschwebt war. Sie hatte sich schwarz gefärbt, und nach und nach lösten sich kleine Fleischfetzen davon und zerstoben zu Datenwolken. Das Grollen wiederholte sich. Tageko wurde klar, dass es sich um Whamons Stöhnen handelte. „Lasst uns keine Zeit verlieren“, sagte sie und richtete ihr DigiVice auf den Samen. Die anderen taten es ihr gleich. Sechs heilende Strahlen bohrten sich in den fast schwarzen Stern. Wenigstens waren sie diesmal nicht unter Dauerfeuer. Die schwarzen Flecken gingen ebenso zäh zurück wie bei der letzten Lichtsaat, die sie gereinigt hatten. Als gerade einmal die Hälfte davon verschwunden war, tropfte etwas von der Decke und landete genau auf Tagekos Schulter. Es kam so unerwartet, dass sie einen spitzen Schrei ausstieß. Etwas Nasses, sich Bewegendes war dort gelandet – Tageko hatte nur den Eindruck eines riesigen Auges, das sie anstarrte, dann fegte sie das Ding mit einer vor Ekel hektischen Bewegung von ihrer Schulter. „Was ist das?“, murmelte Taneo. „Seht mal, da!“ Fumiko stieß ihren Finger nach oben. Sie legten die Köpfe in den Nacken. „Oh, sch…“, brachte Tageko hervor.   Das Ding, das auf Tageko gelandet war, war nicht das Einzige seiner Art. Von oben, aus der Speiseröhre, kam eine ganze Wolke kleiner, wabbelnder Kreaturen. Sie sahen aus wie blaue Schleimbatzen und hatten jeweils ein einziges, glotzendes Auge. Einige klatschten wie ein Kometenschauer rings um die DigiRitter auf den Boden, die anderen blieben in der Luft schweben. „Was sind das für Dinger?“, rief Taneo schrill. „Wie kommen die hier rein?“ Die DigiRitter hatten die Reinigung noch nicht unterbrochen. „Schlechte Nachrichten“, tönte Whamon. „Man hat uns entdeckt. Diese Digimon haben sich durch meine Atemöffnung gequetscht.“ „Na toll“, murmelte Taneo. „Überlasst das uns.“ Die Digimon stellten sich in einem Kreis um ihre Partner auf. Salamon übernahm das Reden. „Die sehen nicht besonders stark aus, und es wird Zeit, dass wir auch etwas tun! Seid ihr bereit?“ Die anderen vier stießen zustimmende Rufe aus. „Viel Glück“, sagte Kouki. „Wir kümmern uns weiter um den Samen. Aber passt auf, dass ihr Whamon nicht verletzt!“ Die Digimon stürzten sich auf die blauen Geisterchen. Sie schienen tatsächlich nicht stark zu sein; alles was sie taten, war, schillernde Seifenblasen hervorzuwürgen. Als Mushroomon eines der Dinger mit der Faust davonschlug, prallte es gegen Taneos Rücken, der erschrocken zusammenzuckte. Es fühlte sich weich und schleimig an. Er konnte sich gut vorstellen, dass es wie eine Schnecke durch kleinste Ritzen schlüpfen konnte. „Da kommen noch mehr!“, rief Candlemon erfreut. Tatsächlich: Durch die Speiseröhre kam Verstärkung – nur dass es diesmal andere Digimon waren. Auch diese waren blau, aber sie liefen auf einer Art Fuß, dessen Krallen sie in Whamons Innereien schlugen, um an den Wänden laufen zu können. Auch sie waren mit glänzendem Schleim überzogen, sicherlich von ihren eigenen Seifenblasen. Taneo fühlte sich, als wäre er in einem Video für den Biologieunterricht, in dem Bakterien und allerlei schädliche Mikroorganismen für das menschliche Auge erfassbar dargestellt waren. Wie auch immer, diese zweite Art war nicht merklich stärker als die anderen, und die Reinigung ging gut voran. Dann geschah etwas Unerwartetes. Eine der Geister-Bakterien, die von Kokuwamon in die Enge getrieben wurde, machte eine Verwandlung durch. Sie glühte kurz auf, und als das Licht verebbte, war sie zu einem der Krallenwesen geworden. Taneo zog die Stirn kraus. Das Licht kam ihm verdammt bekannt vor … Als es ein zweites und drittes Mal passierte, konnte er es nicht mehr leugnen – und schon gar nicht, als selbst eines der Krallendigimon sich aufbäumte, fauchte, und in gelbem Licht zu einem neuen, größeren Digimon wurde. Nun sah es aus wie eine Qualle mit riesigem Mund und riesigen, bösen Augen. „Passt auf!“, rief Taneo. „Sie digitieren!“ „Was?“ Die anderen wandten sich ihm zu. „Sie digitieren! Was soll das sonst sein, was die da machen?“ „Aber das kann nicht sein“, sagte Tageko. „Gennai hat gesagt, die DigiRitter sind die Einzigen, die Digimon einfach so digitieren lassen können!“ „Das Große heißt Keramon“, sagte Jagari, der wieder die Brille aufgesetzt hatte. „Es ist auf dem Rookie-Level … Ich glaube, du hast recht, Taneo!“ Kouki murmelte etwas, das nach Wisemon klang. „Passt auf, ich seid auf dem gleichen Level!“, rief Taneo den Digimon zu. Und es blieb nicht bei dem einen Keramon. Während ihre Partner Monster um Monster zerschlugen und in Datenteilchen verwandelten, digitierten scheinbar wahllos weitere Digimon aus der blauen Wolke. Bald waren es zehn Keramon oder mehr, und mit jedem weiteren wendete sich das Blatt. Die scheußlichen Quallen mit ihren Tentakeln und viel zu langen, klobigen Händen öffneten die Mäuler und schossen unansehnliche Schleimkugeln ab, die an den Digimon zerplatzten, regelrecht explodierten. Nun waren es ihre Partner, die sich einem Attackenhagel ausgeliefert sahen. „Verdammt, so geht das nicht.“ Tageko nahm ihr DigiVice zurück und ließ die anderen bei der Säuberung allein. „Woodmon und ich übernehmen die. Komm, Mushroomon!“ Ihr Digimon war offensichtlich froh, dass sie es um seine Hilfe bat. Tageko hob ihr DigiVice, und in einem Licht, das weit eindrucksvoller war als das ihrer Feinde, digitierte Mushroomon zu Woodmon. Seine Zweigpeitschen zuckten nach den Angreifern, doch die Keramon waren verblüffend flink – pumpend wie Quallen schossen sie außer Reichweite. Die Äste pulverisierten die anderen Digimon, wo sie sie trafen. „Sie sind zu schnell“, sagte Tageko zerknirscht. „Macht ohne mich weiter“, sagte Taneo zu den anderen. „Wenn es um Schnelligkeit geht, kenne ich da das richtige Digimon.“ Kokuwamon digitierte zu Thunderboltmon, das schnell wie ein Blitz durch Whamons Magen zuckte. „Kugelblitz!“ Nacheinander wurden die Keramon auf der Flucht getroffen und vernichtet. Da ging ein Rumpeln und Beben durch Whamon, das sie alle von den Füßen warf. Das Fleisch um sie herum schien in Bewegung zu geraten, verkrampfte sich. „Was ist los, Whamon?“, rief Fumiko. Noch ein Beben. Es war, als bearbeitete etwas Whamon von außen mit Schlägen … „Beeilt euch“, kam Whamons Stimme schmerzerfüllt. „Es sieht so aus, als wäre ihr Anführer eingetroffen.“ Taneo sog scharf die Luft ein. „Ein Asura?“ „Das kann ich nicht sagen. Ich kann hier nicht angreifen, also macht schnell weiter.“ Jetzt wurde es also eng … Tageko ließ sich vollständig von Taneo ablösen und richtete ihr DigiVice wieder auf den Samen. Nicht mehr lange, und es war geschafft … Ein weiterer Schlag, wie ein Donner, der von überallher widerhallte. Whamon stöhnte wieder, und diesmal hörte man seine Qual gut heraus. „Halt durch, Whamon!“, schrie Taneo. Die Schläge kamen häufiger. Es war tatsächlich, als würde etwas von außen auf Whamon einprügeln. Was für ein Wesen mochte das sein, das einem derartigen Riesen etwas anhaben konnte? „Gleich … gleich …“ Von Tagekos Stirn lief ein Schweißtropfen. Fumiko und Kouki hatten die Zähne zusammengebissen, Renji fluchte unentwegt. Jagari war blass geworden, aber er wich nicht zurück. Wenn das Asura Whamon hier auf dem Meeresgrund tötete … Ein Ruck ging durch den Magen, doch diesmal kam er von dem Lichtsamen, als der letzte dunkle Schandfleck verschwand. Eine glitzernde Welle ergoss sich über die DigiRitter. Taneo atmete tief durch … Das Hellrosa der Umgebung wurde von wunderschönem Silber durchsetzt. „Los, Whamon!“, brüllte Taneo, dass seine Stimmbänder schmerzten. Ein weiterer Schlag ertönte, noch wütender, als wolle dieses Etwas von draußen unbedingt herein. Wie schon einmal zuvor digitierten auch die anderen Digimon in silbernem Licht, als hätten sie plötzlich eine solche Menge an Kraft, dass sie nicht wussten, wohin damit. Mit vereinten Kräften zerschlugen sie die verbleibenden Parasitendigimon. Whamon drehte sich, der Lichtfunken, nun wunderschön und rein, schwebte davon.  „Jemand muss sich das Licht schnappen!“, rief Jagari und deutete auf die glühende Kugel, die sich daraus erhob. „Schnell!“ Kouki, der dem Samen am nächsten stand, stürzte vor, packte die Lichtblase mit der Hand und zerquetschte sie. Licht schoss seinen Körper entlang, drang in sein DigiVice und ließ es aufglühen. „Hab es!“, rief er. „Haltet euch fest“, sagte Whamon. Ein weiterer Ruck ging durch seinen Körper, als es pfeilschnell davon schwamm. Bang warteten die DigiRitter darauf, dass es das Asura abhängte, wo auch immer es war … Es war in dem Moment höllisch, nicht sehen zu können, was sich draußen abspielte. Schließlich, nach einer Ewigkeit, in der sie die restlichen kleinen blauen Digimon vernichtet hatten, hielt Whamon merkbar an. Der Boden glühte wieder auf, und dasselbe Licht, das ihren Sturz abgefedert hatte, hob sie in die Höhe und wieder in die Speiseröhre …   „Schnell. Ich weiß nicht, wie weit es hinter uns ist“, sagte Whamon, als sie durch sein geöffnetes Maul nach draußen liefen. Der Felsenstrand erwartete sie, und es war tiefste Nacht. Die Sterne am Himmel waren fast so schön wie die frische Luft. Whamon sah furchtbar aus. Seine Haut war an mehreren Stellen eingedrückt, aufgeschlitzt, und eine Wunde sah sogar … versengt aus, obwohl es die ganze Zeit unter Wasser gewesen war. Auch an der freien Luft sickerten seine Daten aus seinem Leib, und der Ozean rund um es färbte sich so rosa wie seine Eingeweide. Was immer hinter ihnen her war, es … „Es soll nur kommen.“ Taneo drehte sich zu Whamon um, das DigiVice in der zur Faust geballten Hand. „Thunderboltmon, sei bereit zu digitieren.“ „Du willst kämpfen?“, fragte Tageko. „Schlag dir das aus dem Kopf! Wir haben den Samen gereinigt, wir fliehen!“ „Nein, wir fliehen nicht!“, gab er wie ein stures Kind zurück. „Die Samen reichen nicht, wir müssen auch die Asuras besiegen! Und Koukis Digimon hat jetzt auch die Macht zur Ultra-Digitation, das müssen wir ausnutzen!“ „Aber …“ Tageko war offenbar verblüfft, wie entschlossen er war. „Es kommt“, sagte Whamon und nahm ihnen damit die Entscheidung ab. Das Digimon kam ihn einem spritzenden Wirbel aus Wasser zum Vorschein, und eine Welle schwappte über den Strand, sprühte Salzwasser in ihre Augen und Haare und ließ ihre Kleider, die getrocknet waren, sich wieder regelrecht mit Wasser vollsaugen. Jagari hatte sich schon gedacht, dass ein Digimon, das Whamon derart attackieren konnte, beachtlich groß sein musste, und das war es auch. Und im Vergleich zu Whamon, das wie ein sanfter Riese wirkte, sah dieses hier aggressiv und zornig aus. Es war schwierig, es zu beschreiben. Zuerst glaubte Jagari, ein Knäuel aus mehreren Schlangen vor sich zu haben, die sich ineinander verstrickt hatten. Erst nach und nach erkannte er, dass die Schlangenköpfe sich tatsächlich einen Rumpf teilten. Es waren insgesamt acht, und keine zwei glichen einander. Das Digimon war nur halb so groß wie Whamon, aber dennoch ein wahrer Riese, und die Köpfe zuckten wild umher. „DigiRitter“, fauchte einer von ihnen und ließ eine gespaltene Zunge hervorschnellen. Geschlitzte Schlangenaugen musterten sie. „Wie konntet ihr es wagen, meinen Samen zu entstellen?“ Sie waren alle zurückgewichen, als die Welle auf sie gestürzt war. Tageko hockte am Boden und hielt sich ihren Knöchel – hatte sie sich ihn an den tückischen Felsen, aus denen der Strand bestand, verknackst? Jagari vergaß beinahe, seine Brille herunterzuziehen, um das Digimon zu analysieren. „Es heißt Orochimon!“, rief er außer Atem. Salz war in seine Augen geraten und brannte, als er die Daten las, die der Analyzer ihm ausspuckte. „Level – Ultra. Attacke – Sake-Power.“ Da war noch etwas, das die Brille bei den anderen Digimon, die er heute schon untersucht hatte, nicht angezeigt hatte. Im Hintergrund des Digimons blinkte ein Schriftzug, dessen Bedeutung er verstand, ehe er ihn entziffern konnte. „Und es ist ein Asura“, fügte er hinzu, was jeder von ihnen bereits gewusst hatte. „Thunderboltmon, mach dich bereit“, sagte Taneo nur. Sein Digimon schoss blitzschnell vor ihn, und in dem altbekannten Glühen wurde es zu dem eindrucksvollen wie furchterregenden Cyberdramon. „Kouki, lass Gatomon auch digitieren! Zusammen schaffen wir es!“ Kouki nickte ihm zu, dann Gatomon. „Kann’s losgehen?“ „Ich geb mein Bestes!“ Kouki hob sein leuchtendes DigiVice, Gatomon spannte sich an … nichts passierte. Verblüfft warfen sich die beiden einen Blick zu. „Ich … Kouki, es funktioniert nicht!“ „Was? Warum?“ Jagari sah, wie Kouki der Schweiß ausbrach. Sein DigiVice glühte nicht stetig wie das von Taneo, sondern blinkte wie verrückt. „Macht schon!“, ächzte Taneo. Einer von Orochimons Schlangenköpfen stieß auf sie hernieder. Cyberdramon flog ihm direkt ins Maul. „Ausradierkralle!“ Glühende Klauen gruben sich tief in die schuppige Haut seines Feindes, zersetzten sie, ließen grüne Flecken darüberwuchern … doch anders als bei Karatenmon gab es einfach zu viel zu zersetzen. Orochimon war zu riesig, als dass es schnell zu besiegen gewesen wäre. „Sake-Power!“ Aus dem Maul, in das Cyberdramon sich gekrallt hatte, quoll eine Stichflamme hervor. Taneos Digimon brüllte, als es in loderndes Feuer getaucht war. „Cyberdramon!“, rief er entsetzt. „Kouki, Gatomon, macht schon!“ „Es funktioniert nicht!“, rief Kouki verzweifelt. „Ich weiß auch nicht, warum!“ Nach einer schrecklichen Minute übernahm Tageko das Kommando. „Ihr anderen, greift an! Helft Cyberdramon!“ Tyrannomons und Meramons Flammen waren praktisch wirkungslos. Auf die Entfernung wurden sie immer schwächer und hinterließen kaum mehr als Brandflecken auf der Schlangenhaut. Jagari begann zu zittern. Orochimons Kopf holte aus und schleuderte Cyberdramon so wuchtig von sich, dass Felsen dort zersplitterten, wo es landete. Mit einem Aufschrei begann Taneo über die Brocken zu seinem Digimon zu klettern. „Ist das alles, was ihr könnt?“, fragte Orochimons Hauptkopf und beugte sich beängstigend nahe zu Kouki. „Was ist mit dir? Du willst deinen Partner digitieren lassen, schaffst es aber nicht?“ „Und wenn es so wäre?“, fragte Kouki mit zusammengebissenen Zähnen. „Kouki, geh zurück!“ Gatomon stellte sich vor ihn, die anderen Digimon umrundeten ihn, um ihn zu schützen, falls nötig. Orochimon lachte zischelnd – und fast alle Köpfe fielen in das Gelächter mit ein. „Selbst meine Handlanger haben es geschafft zu digitieren!“ Der Kopf schwenkte herum, betrachtete Kouki von allen Seiten. „Oder … bist du etwa der Menschenjunge, den Wisemon auf LordMyotismons Geheiß gefangen hat?“ Kouki schluckte. „Und wenn es so wäre?“, wiederholte er halbherzig, eher trotzig. „Dann müssen wir dir danken. Es ist der Verdienst von dir und deinem Digimon, dass wir das Licht der Digitation erlangt haben.“ Jagari lief ein Schauer über den Rücken. Er glaubte zu ahnen, was das bedeutete, aber er wollte es nicht wahrhaben. Die Digitation war bisher ihre einzige Waffe gegen die Asuras gewesen; wenn sie nun selbst Digimon digitieren lassen konnten, wie die Keramon in Whamons Bauch … „LordMyotismon hat uns erzählt, dass Wisemon versehentlich etwas in deinem DigiVice zerstört hat, und in den Daten deines Gatomons“, fuhr Orochimon hämisch fort. „Dein Digimon wird nie weiter als bis zu seinem jetzigen Level digitieren können! Diese Möglichkeit habt ihr für immer verloren!“ Kouki sah aus wie mit kaltem Wasser übergossen. Mit offenem Mund starrte er Orochimon an, dann Gatomon, das die Ohren hängen ließ. „Ist das … wahr?“ Sein Partner hob die Schultern. „Es fühlt sich an, als wäre es wahr. Mehr kann ich nicht sagen. Da ist etwas, das mich blockiert, etwas, das fehlt …“ Kouki biss die Zähne zusammen. „Oh nein …“ „Kapurimon! Ist alles in Ordnung?“ Jagari sah, dass Taneo den Krater erreicht hatte, den sein Digimon in die Felsen geschlagen hatte. Offenbar war es bereits zurückdigitiert. „Ihr seid wirklich ein trauriger Haufen.“ Orochimons Köpfe tasteten nach vorn, sahen jeden von ihnen an. „Dein Digimon kann nicht digitieren.“ Es wandte sich Fumiko zu. „Du hast nicht einmal ein Digimon, wie es aussieht. Und ihr anderen seid Waschlappen.“ Das Asura lachte wieder vielstimmig. „Es muss Ironie des Schicksals sein. Gatomon hat sozusagen die Fähigkeit zu digitieren an uns weitergereicht. Dafür sollt ihr mit einem schmerzlosen Tod belohnt werden!“ In dem Moment, in dem sie nur erstarrt mitverfolgen konnten, wie sich Orochimons feuerspeiender, halb von Cyberdramon zerfetzter Kopf erneut aufbäumte, kam wieder Leben in Whamon, das bisher wie ein gestrandeter Wal dagelegen war. Das Digimon warf sich gegen das Asura, das fauchend mit den Köpfen nach ihm schnappte. „Beeilt euch, DigiRitter“, rief Whamon, klang aber erschöpft. „Kehrt in eure Welt zurück, fürs Erste. Ich beschäftige es.“ „Whamon, nicht!“, rief Taneo, Kapurimon auf dem Arm. „Das wagst du nicht!“, spie Orochimon dem größeren Digimon entgegen, das es rammte und weiter aufs Meer hinaus schob. Dort umkreiste es das Asura, immer schneller werdend. „Düsenpfeil!“ „Schnell jetzt!“ Tageko packte Taneo an der Schulter und drehte ihn herum, ehe er etwas Dummes machen konnte – er sah aus, als wollte er Whamon immer noch zur Hilfe kommen. Auch Jagari löste sich von dem Anblick der einander bekämpfenden Ozeanriesen. Sie hasteten schließlich über die Felsen zurück. Tageko humpelte leicht. Es war dunkel und kalt dort, wo der Fernseher sie erst heute Morgen an einem wunderbaren Ferienstrand ausgespuckt hatten. Und es war totenstill – ob der Kampf im Meer noch andauerte, konnte niemand sagen, aber Jagari glaubte nicht, dass Whamon eine Chance hatte. Der Fernseher saugte sie ein, doch diesmal hatten sie etwas von dem Schrecken mitgenommen, den sie in der DigiWelt erlebt hatten. Um das zu wissen, brauchte Jagari nur in Koukis leere Augen zu sehen.   „Geschieht dir recht“, zischte Orochimon Whamons Überresten zu, die sich langsam aber sicher endgültig auflösten. „Was mischst du dich auch in Angelegenheiten, die dich nichts angehen?“ Das Wasser neben ihm kräuselte sich, und daraus erhob sich ein blanker Spiegel. Er war wie immer zweigeteilt; LordMyotismons Umrisse waren in einer Hälfte sichtbar, aus der zweiten kam seine Stimme. „Was gibt es Neues?“, fragte es. Orochimon fauchte. „Sie haben tatsächlich geglaubt, die Chaossaat auf dem Meeresgrund wäre unbewacht.“ „Demnach hast du sie davon abgehalten, sie zu reinigen?“ „Das nicht.“ Orochimon war nicht nur zu stolz, um Reue zu zeigen, es war auch zu stolz, überhaupt welche zu empfinden. „Sie sind entkommen, und das Gefüge des Chaos ist auch an diesem Ort eingebrochen. Allerdings gibt es gute Neuigkeiten bezüglich meiner Untergebenen.“ „Ich höre.“ „Es hat funktioniert. Sie konnten digitieren, wie Ihr es versprochen habt. Allerdings hatten sie nicht Gelegenheit, es weiter als bis zum Rookie-Levle zu versuchen. Vermutlich würde das Licht der Digitation aber auch auf uns wirken.“ LordMyotismon trank einen Schluck Wein, ehe es antwortete. „Vermutlich. Aber wir sollten nichts riskieren. Ich habe Anweisungen erhalten, es an keinem Asura auszuprobieren, der bereits auf dem Ultra-Level ist, nicht, solange es nicht zwingend notwendig ist.“ Also hatte der Anführer LordMyotismon Vorschriften gemacht. Das schmeckte dem Vampirdigimon mit Sicherheit nicht. „Nicht auf dem Ultra-Level, ja? Dann gibt es doch trotzdem jemanden, der dafür in Frage kommt.“ „So ist es. Ich muss nur versuchen, ihn zu erreichen.“ Orochimon wusste, was es meinte. Es nickte mit seinem Hauptkopf. „Übrigens, der Junge, der in Eurer Gewalt war. Sein Digimon kann tatsächlich nicht weiter als bis zum Champion-Level digitieren.“ „Das würde ich ihm auch raten. War er aufgebracht deswegen?“ Orochimon kicherte zischelnd. „Er schien ziemlich geknickt.“ Das Asura meinte, in LordMyotismons Schatten ein Lächeln leuchten zu sehen. Kapitel 22: Dornen ------------------ Anders als die letzten Male brachen die DigiRitter nicht gleich nach Hause auf. Als sie in Jagaris Zimmer standen, waren ihre Klamotten immer noch klamm, ihnen war kalt, und sie schwiegen. Sie hatten den Lichtsamen gesäubert. Ihr eigentliches Ziel war erreicht. Für Kouki fühlte es sich trotzdem wie eine Niederlage an. Er ließ sich ungefragt auf Jagaris Schreibtischsessel nieder und starrte trübsinnig vor sich hin. Salamon legte sich ihm zu Füßen, und er kraulte es hinter den Ohren. „Wollt ihr … vielleicht etwas Tee?“, fragte Jagari in das kühle Schweigen hinein. „Wäre genau das Richtige“, murmelte Fumiko. Jagari nickte und verschwand aus dem Zimmer. Im Flur war es dunkel; es war kurz nach Mitternacht. Tageko trat zu Kouki. „Alles okay?“ Er sah auf, und erst jetzt merkte er, dass alle Blicke auf ihm klebten. Er bemühte sich um ein gequältes Lächeln. „Klar. Es ist nichts. Dann können wir eben nicht weiter digitieren, oder, Salamon? Was macht das schon?“ Sein Lächeln wurde mit jedem Wort bitterer, und er sah wieder ins Nichts. Und es machte doch etwas. Sie hatten eines von Azulongmons Lichtern verschwendet, das sie dringend im Kampf gegen die Asuras gebraucht hätten, aber am meisten tat es ihm um Salamon leid. Es musste sich unvollständig fühlen, verkrüppelt … Nicht fähig zu sein, wozu es eigentlich fähig sein sollte, um seine Aufgabe zu erfüllen. Und alles nur, weil er damals Hals über Kopf vor ihm davongelaufen war, wegen Yuki – warum war er nur so verflucht dumm gewesen? „Kouki … es tut mir leid“, flüsterte Salamon. „Du musst dich nicht entschuldigen. Wenn, dann ist es meine Schuld. Nur wegen mir hat Wisemon uns gefangen und diese Experimente an dir durchgeführt.“ Und zu allem Überfluss konnte der Feind nun auch noch digitieren. Die anderen sahen ihn nur stumm an, selbst Renji hielt die Klappe. Kouki hatte ihnen damals erzählt, dass man versucht hatte, Salamon zur Digitation zu zwingen, aber er hatte nie geglaubt, dass diese Versuche ein solches Ergebnis liefern würden … Und er hatte eigentlich geglaubt, Gatomons Digitation hätte das Experiment fehlschlagen lassen. Er konnte sich dumpf erinnern, dass Wisemon hektisch versucht hatte, seine Daten zu retten, während sie geflohen waren … Offenbar war es ihm gelungen. Wäre das alles doch nicht passiert! Was war er auch in einer fremden Welt einfach davongerannt? Hätte Wisemon sie nicht gefangen; wäre Salamon nicht zurückgekommen, um ihn zu beschützen, dann könnte es jetzt genauso digitieren wie die anderen! Und Whamon wäre noch am Leben. Kouki war sich sicher, dass es tot war. Jedes Digimon, das ihnen helfen wollte, war gestorben – erst Piximon, dann Whamon. Und Kouki hatte es nicht verhindern können … „Mach dir um mich keinen Kopf. Ich bin in Ordnung. Wie du sagst, dann kann ich eben nicht weiter digitieren, was soll’s.“ Salamon rieb den Kopf an seinem Hosenbein. Sein Blick war dennoch traurig. Kouki spürte, wie jemand seine Hand drückte. Er sah auf und bemerkte Fumiko, die ihn ernst ansah. „Gebt nicht auf. Ihr beide“, sagte sie. Nicht mehr. Kein Ratschlag, kein leeres Mutmachen. Kouki schämte sich, als ihm klarwurde, dass er sie mit seiner Trauer ebenfalls verletzte. Fumikos Digimon war gar nicht erst geschlüpft, und trotzdem kämpfte sie tapfer mit – stand es ihm da zu, Trübsal zu blasen? Salamon war am Leben. Er atmete tief aus. Plötzlich waren seine Augen feucht. Was sollte das, würde er jetzt auch noch zu heulen anfangen? Er war einfach froh über Fumikos Beistand. „Danke“, murmelte er. „Ich werde LordMyotismon das büßen lassen. Und dein Digimon räche ich auch, Fumiko.“ Ihre Miene wurde nachdenklich, aber sie schwieg. Salamon schloss die Augen und rollte sich zu Koukis Füßen zusammen. Die Tür ging einen Spalt auf und Jagari schob sich herein, ein Tablett mit einer Teekanne und elf Tassen darauf. Schweigend goss er Tee ein, auch für die Digimon, und drückte die erste Kouki in die Hand. Die Hitze prickelte durch seine Finger, und der erste Schluck verbrannte seine Zunge, löste ihn aber von seiner Apathie. „Sorry“, murmelte er. „Macht euch keine Sorgen. Es ist lächerlich, über so etwas zu verzweifeln. Wir haben Wichtigeres zu tun. Und verloren ist noch gar nichts, wir haben immerhin den Lichtsamen gereinigt. Bleiben nur noch drei.“ Sie verabredeten sich für den nächsten Tag im Park, um weitere Schritte zu besprechen. Jagari versprach, zu versuchen, mit Gennai in Kontakt zu treten. Sie legten wieder warme Kleidung an, um die Winternacht zu überstehen. Es war gegen ein Uhr, als sie sich auf den Weg machten. „Ich hab dich doch nicht verletzt, oder?“, fragte Kouki Salamon, als sein Haus in Sicht kam. Das Digimon schüttelte den Kopf. „Macht es dir auch wirklich nichts aus, wenn ich nicht digitieren kann?“ Zur Antwort drückte er es fest. „Ich würde dich genauso mögen, wenn du für immer Nyaromon geblieben wärst.“   Der Tag war trüb und feucht, die Hochhäuser grau und traurig. Reif bedeckte den Boden, das Gras im Park war gefroren. Die DigiRitter waren warm eingepackt. Renji sehnte sich schon nach dem nächsten Strandurlaub. Bei einer Parkbank hatten sie sich versammelt, Renji, Fumiko und Kouki hockten auf der Lehne, weil das wärmer war, als auf der Sitzfläche zu sitzen. Die anderen standen daneben. Vor ihren Mündern bildeten sich weiße Atemwolken. Nur wenige Leute waren heute Morgen im Park unterwegs, aber für sie mussten die DigiRitter wie eine bunt zusammengewürfelte Clique wirken, die einfach zusammen abhingen, um einen langweiligen Sonntag über die Runden zu bringen. Renji fand, dass er schon viel zu oft mit den anderen zusammen war. Bald würden seine Freunde zu spotten beginnen, aber er würde einfach sagen, er hätte es endlich geschafft, mit Fumiko Zeit zu verbringen. So gesehen stimmte das ja auch. „Wir haben also das Problem, dass die Asuras nun auch digitieren können, oder zumindest ihre Handlanger“, eröffnete Tageko die Krisensitzung. „Und Cyberdramon ist bisher unser einziges Ultra-Digimon. Tut mir leid, Kouki.“ „Schon okay.“ „Ich hab übrigens versucht, Gennai zu erreichen“, sagte Jagari. „Leider ohne Erfolg.“ „Wie geht es eigentlich deinem Knöchel?“, fragte Fumiko Tageko. Die Ältere winkte ab. „Halb so wild. Ich hab ihn nur ein bisschen übertreten. Sowas passiert mir öfter – ich hab was Kaltes draufgelegt, und jetzt spüre ich kaum noch, dass da was war. Wichtiger ist, was können wir als Nächstes unternehmen? Momentan scheinen wir nur wenige Optionen zu haben.“ „Wir haben die Karte mit den Lichtsamen. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als einfach den nächsten aufs Korn zu nehmen“, sagte Fumiko. „Aber wie sollen wir das anstellen?“, fragte Taneo. „Der Samen unter Wasser war relativ einfach zu säubern, aber jetzt gibt es noch zehn Asuras und drei Samen. Wir müssen in jedem Fall drei von ihnen besiegen.“ Er sagte nicht, dass sie Orochimon besser hätten vernichten sollen, aber irgendwie hingen diese Worte trotzdem in der Luft. Wenn der kleine Mistkerl anfing, Kouki Vorwürfe zu machen, würde Renji ihm eine in die Fresse geben. „Fangen wir mal ganz rhetorisch an“, sagte Tageko, die wieder einmal Gesprächsführerin war. „Wann hättet ihr nächste Woche Zeit, wieder in die DigiWelt zu gehen?“ „Dort drüben herrscht Chaos“, sagte Taneo. „Willst du wirklich, dass wir uns erst einen Termin suchen, wann jeder zufällig Zeit hat?“ „Kouki und ich sind am Wochenende bei einem Konzert“, sagte Renji und warf Taneo einen abfälligen Blick zu. „Wir haben auch noch ein Leben, weißt du?“ „Während in der DigiWelt andere ihr Leben verlieren“, gab Taneo zurück. „Hör mal, du Klugscheißer …“, begann Renji, doch Tageko unterbrach ihn. „Ihr fangt jetzt nicht wieder an zu streiten!“ „Sonst schicken wir euch zu einer Paartherapie“, fügte Fumiko trocken hinzu. Renji verbot sich, aufzufahren. Er hatte heute ziemlich schlechte Laune, aber Fumiko sollte nicht darunter leiden. Wenn, dann Taneo allein. „Wir kommen wohl zu keinem Ergebnis“, seufzte Tageko. „Wieder einmal. Am besten, jeder überlegt, was wir tun könnten. Und wann. Wir vertagen uns nochmal auf morgen. Zur Mittagspause im Hof?“ Renji war davon gar nicht begeistert, aber Tageko war plötzlich noch pflichtbewusster als sonst. Als würde die Hobbymutter plötzlich auch die gesamte DigiWelt unter ihre Fittiche nehmen wollen.   „Du wolltest mich sprechen?“ „Ah, na endlich.“ Kentarou grinste ihm entgegen. „Ich hab das, was du wolltest“, sagte er ohne Umschweife. „Habt ihr euren Kumpel schon wieder gefunden?“ „Längst.“ Taneo setzte sich ungefragt auf den Hocker neben Kentarous Schreibtisch. Nirgendwo sonst im Raum schien Platz zu sein, überall lagen oder standen Computer, Computerteile, Kabel oder sonstige technische Spielereien herum, die Hälfte davon eingeschaltet. Gäbe es die Klimaanlage nicht, wäre Kentarou gewiss schon am Elektrosmog erstickt. „Aber wir können es trotzdem brauchen.“ „Gut, dann gibt mir mal dein …wie nanntest du es noch?“ „DigiVice.“ Taneo reichte es ihm. Kentarou drückte ein paar der winzigen Knöpfe darauf und sah dabei immer wieder auf seinen Bildschirm. Irgendwann piepste es. „Tada! Hier hast du deinen DigiVice-Radar.“ Er zeigte Taneo noch einmal langsam die Tastenkombination. „Ein wenig lästig, dass die Buttons nicht beschriftet sind. Schlechtes Interface-Design.“ „Danke, Kentarou.“ Taneo betrachtete das winzige Display. Ein roter Punkt blinkte in dessen Zentrum, der wohl das DigiVice selbst darstellte. Weiter oben blinkte ein zweiter, hellrosa. „Was ist das?“ „Mein Computer. Ich hab ja alle Daten runtergeladen, erinnerst du dich? So hab ich die Prozedur getestet. Ich hatte ja keine echten DigiVice dafür. Aber er sollte die DigiVices deiner Kumpel genauso anzeigen.“ Taneo nickte dankbar. „Das hilft mir ungemein weiter. Hast du sonst noch was darüber herausgefunden?“ „Jede Menge.“ Kentarou drehte den Monitor in Taneos Richtung und deutete auf Zahlenkolonnen, die ihm ohne den Kontext nichts sagten. „In dem Ding sind gewisse Daten gespeichert – jede Menge Daten. Sie scheinen eine Art Organismus zu simulieren, aber ganz sicher bin ich mir da nicht. Außerdem sind da mehrere Entwicklungsstadien, und die Datenmengen steigen bei denen exponentiell an. Ich frage mich, ob das irgendeine Bauanleitung für digitales Leben ist, wie für ein hochkomplexes VR-System.“ Taneo sah auf seinen Rucksack. Er war ein wenig geöffnet, aber dank des Dämmerlichts hier drin konnte man Kokuwamon nicht sehen, als es hervor lugte. „Wenn du es schon ansprichst …“ Er zog die Klappe ganz auf und nickte einem Partner zu. Kokuwamon ließ die Flügel surren und flatterte auf seine Schulter. Kentarou warf es fast vom Stuhl. „Verflucht, was …“ „Das ist mein Beweis für die Existenz dieser anderen Welt“, erklärte Taneo. „Und vermutlich die Erklärung für die ganzen Daten, die du gesehen hast.“ „Was ist das? Kein Roboter, oder?“ „Das ist Kokuwamon, ein Digimon. Sie bevölkern die andere Welt. Ich hab dir noch nichts von ihm erzählt, oder?“ „Di-Digimon?“, murmelte Kentarou. Taneo überlegte kurz. „Scann doch nochmal mein DigiVice, bitte. Ich möchte sehen, ob sich was verändert hat.“ Kentarou starrte immer noch Kokuwamon an, das plötzlich den Mund öffnete. „Hallo, freut mich, dich kennenzulernen.“ „Heilige …“, entfuhr es Kentarou, als das Digimon ihn ansprach. „Was ist jetzt?“, fragte Taneo. „Jaja, äh, gib her.“ Ohne den Blick lange von dem Käferdigimon abzuwenden, schraubte Kentarou das DigiVice wieder auf, schloss einen wahren Kabelwald daran an und ließ die Finger einer Hand über eine Tastatur fliegen. „Du hast recht, da sind zwei neue Entwicklungsstadien dazugekommen.“ Er runzelte die Stirn. „Ich hoffe, ich soll die nicht auch noch analysieren. Das sind so viele Daten, da wird mein Computer die Nacht durchlaufen, und ich kann mir eine neue Festplatte dafür anschaffen. Mindestens.“ „Tu es bitte trotzdem. Kokuwamon hat dich doch neugierig gemacht, oder?“ Kentarou seufzte. „Und wie. Verdammt. Ich schätze mal, es soll unter uns bleiben?“ „Richtig geschätzt“, grinste Taneo. Dann fiel ihm etwas ein. „Übrigens, ich brauche dich noch für was anderes.“ Sein Cousin lehnte sich stöhnend zurück. „Langsam sollte ich wohl überlegen, ob ich für meine Hilfe nicht Geld verlangen sollte.“ „Jedes Digimon hat gewisse Attacken. Die scheinen festgelegt zu sein.“ Sonst würde die Analyzer-Brille nicht bei jedem Digimon explizit die Attacken anzeigen. „Und in der anderen Welt besteht alles aus Daten. Die Attacken bestehen also aus Daten, und wir auch. Die DigiVices ebenso, einfach alles. Und du sagst, Kokuwamons Daten sind auf dem DigiVice gespeichert?“ „Vermutlich“, murmelte Kentarou. „Obwohl dein Käfer momentan nicht aussieht, als bestünde er aus Daten. Aber jetzt, wo du es erwähnst … Ich habe in dem ganzen Datensauhaufen aus deinem DigiVice noch ein verdammt komplexes Programm gefunden, das ich nicht mal zur Hälfte verstehe. Es scheint irgendetwas umzuwandeln. Der Output sind Daten mit einer ähnlichen Signatur wie diese Entwicklungsstadien. Aber dieses Programm kann ich beim besten Willen nicht entschlüsseln. Das ist Alien-Technologie, wenn du mich fragst.“ „Das hat vermutlich etwas damit zu tun, dass wir in Daten umgewandelt werden, wenn wir die DigiWelt betreten. Wir müssen dazu unsere DigiVices vor einen Computerbildschirm halten.“ „Ihr betretet diese Welt durch Computerbildschirme?“ „Ja.“ „Dann zeig es mir!“ Kentarou drehte den Monitor noch weiter. „Jetzt, sofort. Geh in die DigiWelt, und nimm mich mit. Das will ich mir ansehen.“ Taneo lachte. Kentarou war ja so berechenbar. „Ich weiß nicht, ob es dir dort gefallen würde.“ „Das lass mal meine Sorge sein.“ „Ich lasse es deine Sorge sein, mich ausreden zu lassen. Wenn du mir ein bestimmtes Programm schreibst, denk ich darüber nach, dich mal mitzunehmen.“ „Du bist ein Tyrann“, schmollte Kentarou. „Nach allem, was ich für dich getan habe.“ „Tu nicht so unschuldig. Ich gehe auch nicht zum Spaß in die DigiWelt. Wir haben dort was Wichtiges zu erledigen.“ Taneo lächelte. „Übrigens ist es verdammt gefährlich.“ Kentarou betrachtete ihn eine Weile nachdenklich und schien dann zu dem Entschluss zu kommen, nicht nachzuhaken. „Also, was willst du?“ „Die Attacken, von denen ich gesprochen habe. Das größte Datenmuster, das du findest, stammt vermutlich von Cyberdramon. Seine Attacke heißt Ausradierkralle, wenn dir das weiterhilft. Versuch, die Daten dafür zu isolieren und sie an etwas anderes dranzuhängen.“ „Wie, dranhängen?“ „Wenn alles in der DigiWelt aus Daten besteht, muss es doch dort viel einfacher sein, Dinge zu kombinieren. Such die Daten aus dem DigiVice und versuche sie zu duplizieren, nämlich so, dass sie nicht nur Cyberdramon bekommt, wenn es digi… wenn es sich entwickelt, sondern beispielsweise auch ich, weil ich ja auch aus Daten bestehe.“ Kentarou schüttelte den Kopf. „Ich glaube, ich weiß, worauf du hinauswillst, aber ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass das funktioniert.“ „Versuch es trotzdem“, bat er ihn. „Ich habe in den letzten Tagen eine Menge gesehen, was ich nicht für möglich gehalten habe.“ „Du verstehst es echt, mich immer neugieriger zu machen“, seufzte Kentarou. „Also gut, lass dein DigiVice über Nacht hier. Ich spiele alles nochmal runter und dann leg ich ein paar Nachtschichten ein.“   Zuerst schien es, als käme Renji in der Mittagspause gar nicht. Fumiko war enttäuscht von ihm; eigentlich hatte sie geglaubt, ihre Gemeinschaft wäre ihm wichtiger als seine zweifelhaften Freunde. Tageko seufzte und wollte eben beginnen, als er, wichtigtuerisch und cool – und auffallend auffällig – durch eine der Türen in den Pausenhof marschierte. „Hab ich was verpasst?“ „Wir wollten gerade anfangen“, sagte Taneo. „Hab ich was verpasst?“, fragte Renji erneut und ignorierte den Jüngeren, wohl nur zu dem Zweck, um ihn zu ärgern. „Am besten erzählst du gleich mal, was für Ideen du für unsere weitere Vorgehensweise hast“, meinte Tageko säuerlich. „Das geht schnell. Gar keine. Und ihr?“ Kollektives Seufzen. „Entschuldigt mal, wir haben uns in eine Ecke manövriert“, rechtfertigte er sich. „Die verfluchten Asuras sind in der Überzahl!“ Taneo hatte sich wenigstens etwas einfallen lassen. „Ich würde sagen, wir nehmen uns als Nächstes den Lichtsamen vor, der klimatisch am nächstschlechtesten liegt. Den unter Wasser konnten wir immerhin recht ungestört säubern. Es gibt noch einen in einer Eiswüste, oder, Jagari?“ Der blonde Junge nickte heftig. „Du willst von der Saukälte hier in eine noch kältere Saukälte gehen?“, fragte Renji wenig begeistert. „Ich finde die Idee gut“, sagte Kouki. „Wir kennen jetzt ein weiteres Asura. Wenn Orochimon eine wirkliche Schlange ist, kann es sich inmitten von Schnee wahrscheinlich nicht bewegen. Selbst wenn Digimon nicht so funktionieren, ich glaube nicht, dass es uns hoch im Norden auflauern wird. Es müsste außerdem die halbe DigiWelt durchqueren, und wir können mit den Toren zu jedem beliebigen Ort. LordMyotismon scheint mir auch eher der Typ, der lieber in seiner Kammer sitzt und Wein trinkt. Und mit SkullScorpiomon müssen wir sowieso überall rechnen.“ „Schön“, brummte Renji. „Dafür sind vier andere Asuras Schneemonster und lauern uns dort auf.“ „Unwahrscheinlich“, erwiderte Taneo. „Hat dich jemand gefragt?“, schnauzte Renji ihn an. „Oyara-kun, du benimmst dich kindisch“, stellte Fumiko fest. Renji erstarrte förmlich zu Stein, als sie ihn wieder mit seinem Nachnamen ansprach. Fortan hielt er die Klappe. Kouki zwinkerte Fumiko verhalten zu, fischte sein Handy heraus und tippte etwas. Kurz darauf spürte sie ihr eigenes vibrieren. Während die anderen noch das Für und Wider besprachen, las sie heimlich Koukis SMS. Super, Renji-Zähmerin! Sie lächelte. Sie beschlossen, den Orten mit den drei verbleibenden Samen noch einen Besuch abzustatten. Das war zwar gefährlich, aber solange sie erst so wenige Asuras kannten, waren sie schwer im Nachteil. Vielleicht lernten sie einige ihrer Feinde so besser kennen und fanden etwas über ihre Stellungen heraus. „Orochimon“, murmelte Tageko und zog die Stirn kraus. „Wie Yamata no Orochi. Und es sah auch so aus. Ist das nicht seltsam? Die Asuras sind Wesen aus dem Hinduismus. Yamata no Orochi ist der Schlangendrache aus dem Shintoismus. Aber Orochimon ist ein Asura. Ich frage mich, ob es diese Digimon gibt, weil etwas an der Mythologie dran ist, oder ob es sie gibt, eben weil in der Mythologie von solchen Wesen erzählt wird. Was war vorher da?“ „Ist doch völlig egal, sie sind unsere Feinde und fertig“, sagte Renji, dem dieser Gedankengang wohl zu hoch war. „Yamata no Orochi wurde von Susanoo erschlagen, oder?“, fragte Fumiko und seufzte. „Kann es nicht einfach ein Susanoomon geben, das Orochimon für uns besiegt?“ „Schön wär‘s“, schnaubte Tageko. „Wisst ihr, ich hab mir was überlegt“, begann Jagari. „Wieso bitten wir nicht die früheren DigiRitter um Hilfe?“ Die anderen sahen ihn überrascht an. Nicht einmal Fumiko hatte daran gedacht. „Gute Idee!“, rief Kouki. „Die waren ja mega-mächtig, wenn das stimmt, was Gennai gesagt hat.“ „Und wie wollt ihr sie finden?“, fragte Tageko. „Wir könnten Gennai fragen“, meine Jagari. „Glaubt ihr wirklich, dass wir sie belästigen sollten?“ Taneo runzelte die Stirn. „Ich schätze, sie haben es auch alleine schaffen müssen. Außerdem ist das Jahre her, wer weiß, ob sie noch in der Stadt sind. Wenn sie überhaupt Japaner sind.“ „Ein Versuch kann nicht schaden. Mit ihrer Hilfe könnten wir das ganz schnell erledigen.“ „Ich glaube, wir schaffen das allein“, beharrte Taneo. „Warum hat man uns sonst ausgewählt, wenn es doch wieder die älteren Generationen erledigen sollten?“ Das war ein Argument. „Ich glaube, mir wäre es peinlich, sie zu fragen“, murmelte Kouki und kratzte sich an der Backe. „Wir haben uns nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Vielleicht sollten wir warten, bis wir keine andere Option mehr haben.“ Dabei beließen sie es, zumal sie ohne Gennai wohl kaum mit den anderen DigiRittern Kontakt aufnehmen konnten.   Gennai tauchte noch am selben Abend wieder in Jagaris Zimmer auf und ließ ihn die anderen verständigen. Jagaris Mutter war diesmal außer Haus, und so hatten sie sturmfrei und versammelten sich um den Küchentisch. „Ich habe gute Nachrichten“, sagte Gennai. „Wir auch. Gute und schlechte“, sagte Kouki. „Ist etwas vorgefallen?“ „Wir haben den Samen gereinigt“, sagte Taneo, als Kouki nicht weitersprach. „Allerdings ist Whamon gestorben. Es hat sich für uns geopfert. Und wir haben erfahren, dass Gatomon nicht weiter digitieren kann.“ „Ich verstehe.“ Gennai senkte den Kopf. „Zufällig wollte ich mit dir und Salamon sprechen, Kouki.“ „Mit uns?“ Die beiden blinzelten ihn verwirrt an. „Hast du die DigiArmorEier noch?“ „Äh, ja, klar“, murmelte Kouki. „Mir hat es keine Ruhe gelassen, dass du sie aufheben konntest. Also habe ich nachgeforscht. Es liegt an deiner Verbindung zu Salamon.“ Salamon und sein Partner sahen einander verdutzt an, und Gennai fuhr fort: „Nur wenige Digimon tragen die alte Kraft in sich, die nötig ist, um auf das Armor-Level zu digitieren. Dein Salamon scheint eines davon zu sein.“ „Aber Salamon kann nicht weiter als bis zu Gatomon digitieren“, sagte Kouki. „Diese Möglichkeit haben die Asuras ihm genommen.“ „Es muss auch nicht in diese Richtung digitieren. Es kann stattdessen digitieren.“ Nun machte sich Kouki erstmals Hoffnung. „Was genau meinen Sie? Heißt das, Salamon wird digitieren können?“ Sein Digimon sah Gennai mit großen Augen an. „Das heißt es.“ Kouki unterdrückte den Impuls, aufzuspringen und Salamon herumzuwirbeln. „In der Vergangenheit konnten die Digimon der DigiRitter zu zwei ArmorEiern, deren Wappen ihrem Innersten am ehesten entsprachen, digitieren. Die Regeln der DigiWelt haben sich seither etwas geändert, so wie auch eure Welt in ständigem Wandel ist. Da du offenbar alle ArmorEier aufheben kannst, scheinen Digimon mit der alten Kraft nicht länger an zwei bestimmte Eier gebunden zu sein. Du solltest versuchen, Salamon mit allen acht digitieren zu lassen.“ „Und das geht?“ Kouki war verblüfft. „Wenn die anderen DigiRitter nur jeweils zwei besessen haben, warum sollten wir dann alle acht benutzen können?“ „Ich kann dir nicht versprechen, dass es funktioniert. Aber ein Grundstein der Partnerschaft von Digimon und Menschen ist das Digitieren. Wenn dein Digimon von sich aus nicht mehr auf das nächste Level digitieren kann, sucht sich das Heilige Licht vielleicht ein weiteres Ventil. Hast du das Licht, das der letzte Samen emittierte, aufgenommen?“ „Äh, ja.“ Gennai nickte. „Dann wird es dir mit Sicherheit helfen.“ Kouki war sich nicht sicher, ob er das verstanden hatte, aber es zu versuchen, konnte nicht schaden. „Und wie benutze ich sie?“ „Du musst den DigiArmorEiern befehlen, zu erstrahlen. Nimm das hier.“ Gennai reichte ihm eine Art PDA, aufklappbar, mit breitem Display und stylischem Design. „Das ist ein DGX-Terminal. Ich habe es extra für dich angefertigt. Trage es immer bei dir. Wenn du die ArmorEier einmal hast erstrahlen lassen, werden allen notwendigen Daten darin gespeichert. Dann musst du die Eier nicht immer bei dir tragen, wenn du dein Digimon digitieren lassen willst.“ Kouki konnte sein Glück kaum fassen. Am liebsten würde er nach Hause laufen und diese neue Digitation gleich ausprobieren. „Apropos, Gennai“, sagte Jagari. „Wir haben überlegt, ob wir nicht die alten DigiRitter um Hilfe bitten können.“ „Die DigiRitter vor euch haben ihre Aufgabe bereits erfüllt“, sagte Gennai sofort. „Ihre DigiVices können das Tor zur DigiWelt nicht mehr öffnen, und ich wüsste weder, wie ich sie erreichen kann, noch, wo ihre Digimon sich aufhalten. Und es gibt noch ein Problem. Es ist eine ungeschriebene Regel, dass nur Kinder die DigiWelt betreten können. Ausnahmen mag es geben, und ihr seid bereits älter als die DigiRitter vor euch damals, doch die Regel besteht, und viele von ihnen sind heute bereits erwachsen.“ Enttäuscht ließen sie die Köpfe hängen. „Was soll’s.“ Kouki sprang auf. „Wenn Salamon wieder digitieren kann, schaffen wir es auch allein!“ Salamon jaulte zustimmend. Und so wurde der nächste Ausflug in die DigiWelt für Mittwochabend anberaumt.   In der DigiWelt war es schon finster, aber sie würden ohnehin nur die Lage auskundschaften. Taneo hatte vorgeschlagen, sich in Gruppen zu zweit aufzuteilen, aber Tageko wollte um jeden Preis zusammenbleiben, zumal Cyberdramon ihre einzige Chance war, sollten sie gegen die Asuras kämpfen müssen. Kouki hatte seine ArmorEier ausprobiert, aber er schwieg nur grinsend, wenn ihn jemand danach fragte. Offenbar wollte er die anderen im richtigen Moment überraschen. Renji hatte Klamotten im Khaki-Stil angezogen und sogar sein Gesicht mit Tarnfarbe beschmiert. Auf den ersten Blick hielt Fumiko das für kindisch, auf den zweiten war es eigentlich eine ganz gute Idee, solange ihre Feinde sie nicht rochen oder hörten. Zuerst prüften sie die Stelle, an der sie damals ihren Haustitan zurückgelassen hatten. Niemand lauerte dort noch auf sie. Also hatten die Asuras ihre Truppen wahrscheinlich zu den drei verbleibenden Samen gebracht. Der Samen in der Schneelandschaft war der Erste, den sie aufs Korn nahmen. Eisig kalt war es dort, der Wind schneidend, und Schneeflocken stürzten auf sie ein, während sie sich durch kniehohe Wehen kämpften, durch ein Fichtenwäldchen auf die Stelle zu, die Gennais Fotografie am ehesten entsprach. Dort wurde es noch kälter, obwohl der Samen nicht sehr kontaminiert war. Er glühte in der Nähe einer Steilwand vor sich hin und tauchte den umliegenden Schnee in gespenstisches Licht. Die DigiRitter lagen auf der Klippe und spähten hinunter. Kein Digimon war in Sicht. Sie wurden sich nicht einig, ob das gut oder schlecht war, aber immerhin hatten sie das Gelände kennenglernt. Der zweite Samen schwebte in einer Art Ruine, die vermutlich ein guter Ort für Hinterhalte aller Art war. Sie konnten nicht sehen, wie viele Digimon sich in dem alten Gemäuer versteckten. Kokuwamon flog hoch, konnte in der Dunkelheit aber nur erkennen, dass sich in dem staubigen Innenhof etwas bewegte. Taneo ließ es zu Cyberdramon digitieren, weil er eine Idee hatte, und flog mit der Brille nach oben, doch sie schien nicht zu funktionieren, wenn er selbst die Digimon nicht ausmachen konnte. Der dritte schließlich lag auf einem weiten Feld. Hier würde man sie schnell entdecken, aber auch sie würden die Asuras von weitem kommen sehen. Ehe sie dorthin kamen, mussten sie durch einen dichten Wald wandern, der an eine Seite des Feldes grenzte. Hier kam Renjis Tarnung erst richtig zum Einsatz. „Wir hätten doch bei Tageslicht herkommen sollen“, brummte Taneo. „Die Asuras nehmen uns sicher viel besser wahr als wir sie.“ „Wir sind schon mal hier, also lasst uns einfach den richtigen Weg finden, ja?“, versuchte Kouki ihn aufzumuntern. Das Problem war eben jener Weg: Der Wald war sehr dicht und mit zahllosen Dornen gespickt, die in der Dunkelheit nach Beute hungerten. Verschlungene, in der Finsternis kaum auszumachende Pfade führten kreuz und quer durch den gesamten Wald, aber niemand wagte es, die Deckung zu verlassen und sich dem Samen auf freiem Feld zu nähern – zumal sie auch in diesem Fall erst einen Weg nach draußen hätten finden müssen, denn der Fernseher, der sie ausgespuckt hatte, lag ebenfalls mitten in dieser übergroßen Dornenhecke. Tageko hatte ihnen nur erlaubt, mit ihren Handys zu leuchten, und deren Akku wurde in der DigiWelt erschreckend rasch leer. Schon nach kurzer Zeit hatten sie sich gründlich verirrt. Kouki leuchtete zögerlich die drei schmalen Trampelpfade aus, die sich vor ihnen wie die Zinken einer Gabel ausstreckten. „Und wohin jetzt?“ „Wir teilen uns auf“, brummte Renji. „Ist doch klar. Sonst laufen wir wieder im Kreis.“ „Wir werden sicher nicht –“, begann Tageko sofort, aber Taneo unterbrach sie. „Ich bin Renjis Meinung. Wir sind hier relativ geschützt, und die ganze Zeit ist uns noch kein Digimon begegnet. Außerdem stehen die Chancen gut, dass der Samen ohnehin so stark bewacht wird, dass wir alle zusammen nichts ausrichten können. Da ist es besser, wenn wir ihn schnell finden und wieder verschwinden.“ „Interessant, dass du meiner Meinung bist, weil du möglichst schnell wieder abhauen willst“, ätzte Renji. „Interessant, dass du mal eine vernünftige Idee vorgebracht hast – wenn auch wohl aus unvernünftigen Gründen.“ „Wie war das?“, fuhr Renji auf, doch Fumiko ging dazwischen. „Hört schon auf. Der Wald drückt aufs Gemüt, ja, aber wir müssen nicht gleich die ganze DigiWelt von unserer Anwesenheit informieren.“ Da es drei Wege gab, würde es also drei Zweierteams geben, und da man Renji und Taneo nicht in eine Gruppe stecken konnte, war die Einteilung schnell über die Bühne. Taneo würde mit Jagari den rechten Pfad erkunden, Tageko würde auf dem mittleren Pfad auf Renji aufpassen, wie sie sagte, und für den linken blieben nur noch Kouki und Fumiko, der Renji sicher den ganzen Weg nachtrauern würde. Sie vereinbarten, sich in einer halben Stunde wieder hier zu treffen, egal ob sie einen Ausgang fanden oder nicht.   „Die Brille steht dir“, sagte Fumiko nach einer Weile, als sie schweigend eine Art Tunnel aus Dornen entlanggetrottet waren. Die Stille und die feindselige, stachelige Umgebung schlugen wirklich aufs Gemüt. Das einzige Geräusch waren die Dornen, die im Wind aneinander schabten, und deren Wispern würde sich mit ihrem Flüstern  überlagern. „Findest du? Danke.“ Kouki strich über das kühle Metall der Analyzer-Brille. Er fragte sich, wer ihr ursprünglicher Besitzer gewesen war. Für einen Moment achtete er nicht auf den Weg. „Autsch! Verdammt!“ Die Dunkelheit raschelte. „Was ist?“ „Dornen“, jammerte er. Die fiesen Dinger hatten sich nicht nur in seinen Arm gebohrt, sondern waren auch darin abgebrochen. Missmutig zog er die Stacheln aus der Haut. „Was du nicht sagst“, lachte sie leise. „Ich finde das nicht witzig!“, empörte er sich. „Ich schon.“ „Kouki könnte im Meer schwimmen und würde sich beschweren, dass es so nass ist“, sagte Salamon. „So, wie er beim Essen hinterher immer jammert, dass er jetzt satt ist.“ Fumiko prustete los. „Das ist nicht wahr! Hör auf, solchen Unsinn zu verbreiten!“, zischte Kouki, musste aber selbst schmunzeln. Fumikos Lachen war ansteckend – und wenn er es sich recht überlegte, sah er sie selten lachen. Sie waren sicherlich ein gutes Team – beide hatten einen verkrüppelten Partner. Immerhin hatte die Sache mit den ArmorDigitationen funktioniert. Salamon war dadurch wieder viel selbstbewusster geworden. „Hat dein Ei eigentlich schon irgendeine Reaktion von sich gegeben? Hast du es dabei?“ Schlagartig verdüsterte sich Fumikos Laune wieder, und Kouki fühlte sich schuldig. Er konnte sie nicht sehen, aber er hörte es an der Art, wie sie sagte: „Nein. Reglos wie ein Stein. Es ist in meinem Rucksack. Vielleicht sollte ich anfangen, in der DigiWelt herumzufragen. Womöglich weiß jemand, wie ich es zum Schlüpfen bringe.“ „Tut mir leid“, murmelte Kouki betreten. „Was denn? Ist doch nicht deine Schuld.“ „Es wird schlüpfen, ganz sicher“, sagte er mit aller Zuversicht, die er aufbringen konnte. „Glaubst du? Ich denke ehrlich gesagt nicht, dass es noch lebt.“ „Doch, irgendwann wird es soweit sein. Und dann werden unsere Digimon miteinander spielen.“ „Es würde mich hassen, für alles, was ich schon über es gesagt habe“, murmelte Fumiko und erinnerte sich vermutlich daran, wie sie das Ei auf Karatenmon geworfen hatte. Sie zuckte zusammen, als Salamon aus dem Stand auf ihre Schulter sprang. Dieses Kunststück hatte es perfektioniert. „Ich bin sicher, es wird ein wunderbares Digimon sein, das zu dir passt, und darum wird es auch freundlich sein und dich nicht hassen.“ Fumiko lächelte schwach. Wieder spürte Kouki es mehr, als dass er es sah. „Danke“, seufzte sie. „Ihr zwei seid echt nett.“ „Och, nicht der Rede wert.“ Verlegen versuchte Kouki, das Thema zu wechseln. Es fiel ihm nicht schwer, da in diesem Moment vor ihnen ein Lichtschimmer sichtbar wurde. Überrascht, dann erfreut sahen die drei einander an und liefen darauf zu. Das Dickicht lichtete sich, und vor ihnen breitete sich groß und weit das Feld mit dem Lichtsamen aus, der in der Ferne vor sich hin funkelte. Von der Kälte spürte man hier noch nichts, aber Kouki meinte, schattenhafte Gestalten auf der Ebene umherstreifen zu sehen. „Wirkt bewacht“, murmelte er. „Handys aus!“, zischte Fumiko plötzlich. Kouki gehorchte und schaltete das Display ab. „Da ist etwas ganz in der Nähe“, flüsterte sie und wies auf einen Schatten, der unweit des Waldrands daherkroch – als ob er selbst gerade an einer anderen Stelle aus dem Wald gekommen wäre. Nach einer Weile konnten sie ihn im Sternenlicht besser ausmachen. Die Gestalt teilte sich – ein großer Schatten und ein kleiner. Ein Mensch und sein Digimon. „Keine Sorge“, flüsterte Kouki erleichtert. „Die anderen haben anscheinend auch einen Weg nach draußen gefunden.“ „Wenn sie aus der Richtung kommen, müssten sie unseren Weg gekreuzt haben“, erinnerte ihn Fumiko. „Meinst du, es ist eine Falle?“ Irgendwo weiter links raschelte etwas, nicht in den Dornen, sondern darüber, in den Baumwipfeln. Die beiden Gestalten kamen näher und gingen in nicht mal zwanzig Schritten Entfernung an Fumiko und Kouki vorbei. Sie beide duckten sich unter einen Dornbusch, aber die Gestalten sahen nicht in ihre Richtung. Kouki konnte nun Einzelheiten erkennen. Es war ein Junge, aber nicht Renji, an den er im ersten Moment gedacht hatte. Dieser Junge hatte dunkles Haar und blasse Haut, und seine Schritte wirkten, als wäre er in einem Traum und bekäme nichts von seiner Umgebung mit. Das Digimon, das neben ihm her trippelte, sah aus wie eine überdimensionierte, grüne Raupe. „Die Brille“, zischte Fumiko in sein Ohr. Kouki zog den Apparat über seine Augen. „Es heißt Wormmon“, sagte er. „Rookie-Level. Bei dem Jungen zeigt der Analyzer nichts an – also ist er wirklich ein Mensch!“ Er war schon drauf und dran, zu rufen, als er in den Augenwinkeln eine Bewegung bemerkte. In den Baumkronen bewegte sich nun wieder etwas, sprang von Ast zu Ast, ganz in ihrer Nähe. Kouki sah gelbes Fell und einen affenartigen Körperbau, und etwas schnüffelte und grunzte. Er hielt die Luft an und presste sich neben Fumiko zu Boden. Salamon war sogar in den Dornenstrauch gehuscht. Mit angehaltenem Atem warteten sie. Als das Digimon näher kam, klopfte Koukis Herz so laut, dass er befürchtete, man könnte es hören. Instinktiv tastete er nach Fumikos Hand. Sie war eiskalt, genau wie seine eigene. Nüchtern betrachtet konnte es auch ein freundlich gesinntes Digimon sein, aber sie hatten ja bereits festgestellt, dass die Asuras auch Untergebene hatten, und hier in der Nähe eines wahrscheinlich gut bewachten Lichtsamens war es ratsamer, jedes Leben als feindselig einzustufen. Als das Digimon weitergehuscht war, tiefer in den Wald hinein, und man nichts mehr von ihm hörte, atmeten die beiden erleichtert aus. Ein Seufzen kam aus dem Dornenstrauch. „Deine Hand“, sagte Fumiko, als sie sich wieder aufgerichtet hatten. „Oh – sorry!“ Kouki zuckte zurück. „Ich, äh, wollte dir nur Mut machen.“ „Sicher, dass du dir nicht Mut holen wolltest? Du hast gezittert wie Espenlaub“, meinte sie mit blitzenden Augen. „Hab ich nicht!“ „Kouki, du wirst rot“, gab Salamon seinen Senf dazu. „Von wegen! Als ob du das in der Dunkelheit sehen könntest! Noch eine Bemerkung, und du gehst ohne Abendessen ins Bett.“ Als sie wieder auf die Lichtung sahen, waren der Junge und sein Digimon verschwunden. Kapitel 23: Der Hüter der DigiArmorEier --------------------------------------- Renji beneidete Kouki um sein Glück, mit Fumiko Zeit verbringen zu dürfen.  Wieder einmal brachten er und Tageko kein vernünftiges Gespräch in Gang – was auch nicht zwingend schlecht war, immerhin wollten sie unbemerkt bleiben. Wieso musste es bei diesem Samen so kompliziert sein, dass sie erst einen Weg aus diesem Gestrüpp finden mussten? Die anderen waren so einfach auszukundschaften gewesen. Und warum konnten sie nicht einfach den Samen in der Eislandschaft säubern und dann weitersehen? Taneo war eindeutig übervorsichtig. Zumindest glaubte Renji, dass die ganze Unternehmung auf seinem Mist gewachsen war. Immerhin konnten sie ihre Handyakkus schonen: Candlemon leuchtete hell genug, um den Pfad aus der Dunkelheit zu reißen. Tageko war davon nicht erbaut: „Kannst du das Licht nicht abstellen?“ „Ha! Nur über meine Leiche!“, rief es. Vermutlich stimmte das sogar. „Lass es“, sagte Renji zu Tageko. „So brechen wir uns wenigstens nicht die Beine.“ „Aber man sieht es kilometerweit.“ „Kannst du mal aufhören, ständig zu meckern? Es nervt.“ „Ich …“ Tageko schüttelte den Kopf, als wäre er einer Antwort gar nicht wert. Auch gut. „Da vorn ist jemand“, meldete Mushroomon plötzlich, das die Vorhut bildete. Tageko schob Renji und Candlemon tiefer ins Dickicht, wo sie verharrten, doch natürlich war Candlemons Schein nicht unbemerkt geblieben. Zwei schwache Schimmerlichter näherten sich ihnen, und Tageko seufzte erleichtert auf. „Taneo. Jagari. Ihr seid das.“ „Habt ihr euch verirrt?“, musste Renji ätzen. Jagari schüttelte den Kopf. „Wir sind nur unserem Weg gefolgt. Da war keine Abzweigung.“ „Na toll.“ Tageko schürzte die Lippen. „Bei uns war’s genauso.“ „Vielleicht hatten Kouki und Fumiko mehr Erfolg“, meinte Taneo. „Wir sollten …“ Er kam nicht dazu, auszusprechen. Plötzlich raschelte etwas im Unterholz, dort, wo eigentlich Dornen sein müssten, und nur Sekunden später wand sich ein pelziger Körper daraus hervor, den Stacheln geschickt ausweichend – aber nicht geschickt genug, um auch Taneo auszuweichen. In vollem Lauf prallte das Etwas gegen ihn und landete mit einem spitzen Schrei auf ihm. Noch ehe sie den vermeintlichen Angreifer genau gesehen hatten, wichen die anderen zurück. Die Digimon spannten sich an, und Kokuwamon würde wahrscheinlich im nächsten Moment in verräterischem Licht zu Thunderboltmon digitieren, als das fremde Digimon sich stöhnend hochstemmte – dann zurückzuckte, an den Rand des Halbkreises sprang, den die anderen gebildet hatten, und kampfbereit die großen Krallenhände hob. „Wer seid ihr?“, rief es außer Atem, die Stimme hell und angenehm. „Gehört ihr zu den Asuras?“ „Sehen wir so aus?“, gab Jagari zurück. Die Augenbrauen des Digimons zuckten, als es sie nacheinander musterte. Taneo kam erst jetzt wieder auf die Beine, der faule Kerl. „Naja … nicht wirklich“, räumte es kleinlaut ein. Wenn Renji das Digimon mit einem Wort beschreiben müsste: Katze. Zumindest die erhobenen Pranken waren mit Fell überzogen und endeten in Krallen, und es hatte große Ohren. Der Rest seines Gesichts wirkte fast menschlich. Renjis Blick glitt tiefer. Eine Katze mit Brüsten. Die DigiWelt war wirklich ein verrückter Ort. „Den Analyzer hat Kouki, oder?“, fragte Tageko. Die anderen nickten. Tagekos Augen wurden schmal. „Wer bist du?“ „Oh!“ Das Digimon schlug sich die Hand vor den Mund. Ein violetter, durchsichtiger Schleier bedeckte die untere Hälfte seines Gesichts. „Entschuldigt, ich hab mich so erschrocken, dass hier jemand war … Ich bin Persiamon. Ihr erzählt den Asuras aber nicht, dass ihr mich hier getroffen habt, oder?“ Das Klimpern seiner Lider hatte etwas Versprechendes, genauso wie seine Stimme. Jagari starrte es mit offenem Mund an. Wahrscheinlich war er gerade seiner ersten großen Liebe begegnet, dachte Renji amüsiert. „Wir sind Feinde der Asuras“, sagte Taneo stirnrunzelnd. „Was machst du hier? Kennst du dich in diesem Wald aus?“ Persiamon lächelte ihn strahlend an. „Wie schön! Ich bin auf der Flucht, wisst ihr. Und ja, ich habe früher viel Zeit in diesem Wald verbracht. Da war er aber noch nicht so … dornig. Ihr seht stark aus – beschützt ihr mich?“ Es kam nahe auf Jagari zu und sah ihm direkt in die Augen, ein gewinnendes Lächeln aufgesetzt. Wenn er noch länger aufs Schlucken vergaß, würde er bald zu Sabbern anfangen. Das würde lustig aussehen. Renji verfluchte die DigiWelt dafür, seinem Handy die Fähigkeit genommen zu haben, Fotos zu schießen. Schade, dass Taneo relativ unberührt blieb. „Ich, also, wir …“, stotterte Jagari. „Kommt darauf an“, fiel Taneo ihm ins Wort. „Was haben wir davon?“ Er wusste absolut nicht, wie man mit Frauen umging. Kein Wunder, dass er keine Freundin hatte. Oder hatte er? Renji hatte keine Ahnung, aber er konnte es weder glauben, noch könnte er es akzeptieren. „Oh, wie grausam.“ Persiamon blies die Backen auf und versuchte offenbar, noch niedlicher zu wirken. Wäre es eine echte Frau gewesen, ohne das gepunktete Fell, die beiden Schwänze und die langen Krallen, wäre es sicher eine exotische Schönheit oder etwas in der Art gewesen, mit dem langen rötlichen Haar und den vielen goldenen Ringen und anderen Schmuckstücken. Nicht, dass Renji auf so etwas abfuhr. „Bist du also auch ein Feind der Asuras? Oder läufst du nur vor ihnen davon?“, fragte Tageko kühl. „Im Moment beides.“ Persiamons Kichern klang süß und rein, auch wenn Renji nicht wusste, was daran so lustig sein sollte. Dann verdüsterte sich die Miene des Katzendigimons. „Ich war hier mit meinen Kameraden unterwegs, aber wir wurden getrennt. Viele Digimon sind hier, die für die Asuras arbeiten.“ „Was für Kameraden?“, hakte Taneo nach. „Digimon, die beschlossen haben, den Asuras die Stirn zu bieten. Einige Monzaemon, Greymon und Meramon.“ Renji wusste nicht, was die anderen für Digimon waren, aber Meramon klangen gut. „Ist doch super. Wenn wir uns mit denen zusammentun, haben wir vielleicht nicht so viel Stress.“ Vielleicht lag darin die Antwort: sich mit anderen zusammentun und so um die Lichtsamen zu kämpfen. Allerdings waren ihre Verbündeten bisher stets getötet worden, und Renji war trotz allem niemand, der das wiederholen wollte. „Wenn ich wüsste, wo sie im Moment sind, würde ich euch zu ihnen führen“, seufzte Persiamon. „Und du kämpfst auch gegen die Asuras?“ Jagari hatte seine Sprache wiedergefunden, aber sie troff geradezu vor unverhohlener Bewunderung. „Oh, nein.“ Persiamon grinste entwaffnend. „Meine Hauptaufgabe ist es, niedlich zu sein.“ Das Digimon machte eine katzentypische Geste mit der Pranke, die in der Tat ziemlich putzig aussah. „Ich bin die Figur, die alle zusammenhält. Ich war früher eine Prinzessin, wisst ihr? In einem Schloss, das hier ganz in der Nähe stand – aber die Asuras haben es angegriffen und alle außer mir getötet. Sie sind so grausam!“ „Du bist aus der Richtung dieser Lichtung gekommen. Weißt du, wie es dort aussieht?“ Tageko klang so ungerührt, dass Renji sie dafür hasste. Es war doch eigentlich eine verdammt traurige Geschichte, oder unterlag er einfach nur Persiamons Zauber? Persiamons Ohren zuckten. „Oh ja! Digimon. Viele, viele Digimon, die unter der Herrschaft der Asuras stehen. Ich habe gehört, sie beschützen diese seltsamen befleckten Lichter, die überall in der Dunkelheit vor sich hin schwelen. Sie haben eine Menge Wächter hier im Süden. Nur das Licht im eisigen Norden wird von einem einzigen Digimon beschützt, heißt es.“ Die DigiRitter sahen einander vielsagend an. „Dann ist der Samen dort wirklich die erste Wahl“, meinte Taneo. Tageko schüttelte den Kopf. „Ich traue diesem Digimon nicht.“ „Du traust ihm nur nicht, weil es besser aussieht als du“, meinte Renji und fing sich einen funkelnden Blick ein. Candlemons Flamme schien für einen Moment heller und amüsierter zu lodern. „Du glaubst mir, oder?“ Das Katzendigimon beugte sich zu Jagari – es war ein wenig größer als er – und strich ihm über den Kopf. „Ich weiß es, du hast eine gute Digimonkenntnis.“ Persiamons Blick wurde wieder nachdenklich. „Nur könnten die Asuras mehr Digimon nach Norden bringen, bis ihr dort seid …“ „Das macht nichts“, platzte Jagari heraus. „Wir können ganz einfach dorthin gelangen, und ganz schnell.“ „Wirklich?“ Persiamons Augen leuchteten vor Bewunderung. „Das musst du mir erklären.“ „Es gibt da diese Fernseher, die …“ „Jagari, das reicht“, sagte Tageko scharf. „Wir wissen immer noch nicht, ob wir ihm trauen können.“ „Es gibt Falten, wenn du so oft die Stirn runzelst, Süße“, meinte Persiamon abfällig. „Aber ich sehe schon, ich bin hier überflüssig. Wenn ihr mir nicht traut, kann auch nicht darauf zählen, dass ihr mich beschützt.“ Es machte Anstalten, wieder ins Dornengestrüpp zu treten, als könnte es die kleinsten, ungefährlichen Wege darin erkennen. „Warte!“, rief Jagari. „So hat sie es nicht gemeint. Bleib doch bei uns, bis wir deine Kameraden gefunden haben. Zusammen sind wir stärker!“ „Genau! Ich würde gerne andere Meramon kennenlernen“, sagte Candlemon. „Ich kann nämlich selbst zu einem werden!“ „Das glaube ich dir, aber vielleicht ein andermal“, meinte Persiamon bedauernd. „Ich kann spüren, wenn ich unerwünscht bin. Ich würde nur eure Gruppe zerreißen – ich weiß, wie es ist, wenn jemand auf mich eifersüchtig ist.“ Tageko sah aus, als würde sie kochen. „Wie du sagst. Du bist hier nicht erwünscht.“ Persiamon zuckte mit den Schultern. „Wirklich schade, dennoch. Falls wir uns wieder begegnen in unserem Kampf für das Gerechte, lasst mich euch meine Kameraden vorstellen, ja?“ Es zwinkerte Jagari zum Abschied zu, und weg war es. Renji stieß die Luft aus. „Wow. Was genau war das jetzt eigentlich?“ „Das kann ich dir sagen“, murmelte Tageko mürrisch. „Äußerst verdächtig, das war das.“ „Ach komm, nur weil Jagari das Digimon so angestarrt hat, wie dich noch kein Typ angesehen hat?“ „Ich habe es nicht angestarrt!“, empörte sich Jagari. „Doch, hast du“, grinste Renji. „Es hat ausgesehen, als würden dir gleich die Glubscher aus dem Kopf fallen.“ „Seid leise“, warnte Tageko beherrscht. „Wir sind immer noch in Feindesland.“ „Was es gesagt hat, hat sich einigermaßen mit unserer eigenen Erkundungstour gedeckt“, sagte Taneo nachdenklich. Das hasste Renji an ihm – unter anderem. Dass er nie auf ein Späßchen einstieg und immer gleich auf vernünftig machte. Langweiler. „Psst“, kam es aus einer Richtung, und erneut innerhalb weniger Minuten zuckten die DigiRitter zusammen. Diesmal waren es Fumiko und Kouki, die, mit ihren Handys leuchtend, auf sie zukamen und dabei ungewöhnlich oft die Köpfe in den Nacken legten, um die umliegenden Baumkronen zu beobachten. „Wie habt ihr uns gefunden?“, frage Jagari. „Ihr wart so laut wie eine Gänseherde“, meinte Fumiko. Renji hob einen Finger. „Ich war leise.“ „Hattet ihr Erfolg?“, fragte Tageko unumwunden. „Ja. Wir haben einen Weg auf die Lichtung gefunden und ein wenig dort herumgeschnüffelt“, berichtete Kouki. „Alles Weitere später. Wir sollten sofort von hier verschwinden.“ „Warum?“, fragte Jagari. Irgendwo in der Nähe raschelte es in den Baumkronen. „Es sind Feinde auf Patrouille, auch hier im Wald“, erklärte Fumiko. „Wir wissen, was wir wissen wollten. Zurück zum Fernseher – ich könnte eine schöne Tasse Tee gebrauchen.“ „Feinde?“ Jagari war anzusehen, dass er sich Sorgen machte. „Nur die Ruhe. Persiamon wird ein wenig mit den Wimpern klimpern, und sie werden es in Ruhe lassen“, spöttelte Renji. „Wer ist Persiamon?“, fragte Kouki stirnrunzelnd. Fumiko räusperte sich vernehmlich. „Egal, es hat Zeit für später“, sagte er. „Kommt.“   Es war ein krasser Gegensatz von dem dunklen, dornigen Wald zur heimeligen Stube der Morinos – Kouki sprach außerdem davon, ihre Treffen zu Jagaris Entlastung auch mal woanders abzuhalten –, in der sie mit dem von Fumiko vorgeschlagenen Tee schließlich über ihre Erlebnisse reflektierten. Zuallererst musste Kouki etwas loswerden: „Wir haben einen anderen Menschen gesehen! Mit seinem Digimon, außerhalb des Dornenwalds! Ich bin sicher, dass es auch ein DigiRitter war!“ „Oder eine Falle“, warf Tageko ein. Sie hatte beschlossen, heute niemandem mehr zu trauen. „Der Digimon-Analyzer hat jedenfalls nicht angezeigt, dass er ein Digimon wäre.“ „Er könnte immer noch ein Trugbild gewesen sein, um uns aus dem Wald zu locken.“ „Er hat sich tatsächlich … seltsam bewegt“, räumte Fumiko ein. „Hat Gennai nicht gesagt, es gäbe keine anderen DigiRitter im Dienst?“ Nacheinander stimmten ihr die anderen zu. Für Kouki schien das Thema noch nicht vom Tisch, aber Tagekos Geduld an diesem Tag war restlos erschöpft. Sie wollte schnell eine Entscheidung treffen und dann mit ihrer Aufgabe weitermachen. Taneo erzählte nüchtern von ihrer Begegnung mit Persiamon und den Informationen, die es ihnen gegeben hatte. Auch diesmal äußerte Tageko ihr Misstrauen, aber die anderen wollten es noch einmal in der Eisregion versuchen. Sie konnten schließlich immer noch schnell verschwinden. So öffneten sie ein zweites Mal das Tor in die Schneelandschaft, warm gekleidet und aufgewärmt, entschlossen, die Säuberung schnell hinter sich zu bringen. Der eisige Sturm hatte aufgehört, das weiße Feld mit dem Lichtsamen lag so einsam da wie vorher – fast. Ein einzelnes Digimon erwartete sie.   Dampf stieg aus Cerberusmons Maul auf, als es vorfreudig knurrte. Seine Krallen bohrten sich knirschend in den Schnee. Sechs DigiRitter tauchten aus der Dunkelheit auf, darum bemüht, kein Geräusch zu machen. „Ich habe euch erwartet, Menschen“, grollte es. Als es vor einer Weile hier vorbeigekommen war, hatte es ihren Geruch aufgeschnappt. Sie waren schon einmal in der Nähe gewesen – kurz genug, dass es sie nicht erwischt hatte. Cerberusmon hatte geahnt, das sie zurückkommen würden. Der Junge, der zuvorderst ging, schien es mit seiner Brille zu untersuchen. „Cerberusmon“, sagte er. „Ein Asura.“ „Also los“, sagte der kleinere Braunhaarige grimmig. „Hol deine Leute hervor! Kämpfen wir!“ Cerberusmon lachte knurrend. „Um euch zu besiegen, brauche ich keine Unterstützung.“ Die beiden größeren Menschen nickten einander zu. „Also hat Persiamon die Wahrheit gesagt“, meinte das Mädchen. Cerberusmon dachte nicht über ihre Worte nach. Es stürzte sich direkt auf seine Feinde, die ihm endlich vor die Schnauze spaziert waren.   „Hier war es. Kannst du sie wittern?“, fragte Persiamon. SkullScorpiomon schwenkte seinen Knochenkopf hin und her. Der Dornenwald war völlig still. „Scheint nicht so, als wären sie noch hier. Bist du dir ganz sicher?“ „Nun … hundertprozentig nicht“, sagte das Katzendigimon ausweichend. „Wir sollten Cerberusmon aus dem Norden holen. Mit seiner Nase können wir sicher ihre Spur aufnehmen.“ SkullScorpiomon krächzte. „Wir brauchen es nicht. Ich sehe mich um. Wenn sie noch hier sind, finden wir sie.“ Persiamon hob seufzend die Schultern. „Wie du meinst.“   Der Feuerball sauste im hohen Bogen auf das Hundedigimon zu und schlug irgendwo in seiner Nähe ein. Schnee stob auf, gemischt mit zischendem Dampf. Für kurze Zeit war Cerberusmon verschwunden. „Ihr Vollpfosten“, murrte Tageko, an Renji und Meramon gewandt. Im nächsten Moment schoss Cerberusmon aus dem Nebel, das Maul weit aufgerissen. Grüne Flammen quollen daraus hervor. Tyrannomon warf sich geistesgegenwärtig zwischen das Feuer und die DigiRitter und bekam die volle Ladung loderndes Grün ab. Der Dinosaurier stürzte rückwärts und digitierte dabei zu Elecmon zurück. „Ha! Du willst mit Feuer kämpfen?“ Meramon rannte los, um Cerberusmon aus nächster Nähe zu attackieren. Wieder spie der Höllenhund einen Schwall grüner Flammen, in die Meramon ruhigen Gewissens hineinlief. Immerhin konnte Feuer ihm nichts anhaben. Dachte Kouki zumindest. Man hörte in dem Toben von Rot und Grün nur sein Stöhnen, dann verebbte der Feuerschein und man sah Candlemon erschöpft auf dem Boden kauern. „Verdammt, Candlemon!“, rief Renji. Kouki wollte ihn zurückhalten, doch er war bereits losgelaufen. Cerberusmon nahm ihn knurrend ins Visier – und von oben fuhr ein gleißender Blitz auf es herab, dem es in letzter Sekunde auswich. Cyberdramon kreiste über ihm. Taneo analysierte blitzschnell die Lage. „Woodmon, du musst versuchen, es mit deinen Ästen zu erwischen, dann können wir es treffen!“ Cerberusmon stieß ein kehliges Lachen aus. „Ihr dummen Menschen.“ Und plötzlich erschienen überall auf der Eisebene … Löcher. Elecmon stürzte mit einem Schrei in eine bodenlose, schwarze Leere, nicht weit von ihm entfernt verschluckte ein weiteres Loch das bewusstlose Candlemon. Auch unter Woodmon tat sich der Boden auf und es begann zu fallen. „Cyberdramon!“, rief es und warf seine Äste in die Höhe. Das Drachenwesen verstand. Es packte die langen Holzarme und hinderte Woodmon am Abstürzen. „Bring es in Sicherheit, Cyberdramon!“, rief Taneo. „Es ist zu langsam, um gegen Cerberusmon anzukommen!“ „Danke für dein Vertrauen“, murmelte Tageko, doch es klang eher rhetorisch. Cyberdramon flog zu einem nahen Schneehügel und setzte Woodmon dort ab. „Wann gebt ihr endlich auf?“, knurrte Cerberusmon. „Fliehen bringt euch gar nichts.“ „Ich glaube, es wird Zeit, dass wir einschreiten, Gatomon“, sagte Kouki, dessen Partner noch auf seinen Einsatz gewartet hatte, und zückte das DGX-Terminal, das er von Gennai bekommen hatte. Die anderen sahen ihn erwartungsvoll an, neugierig darauf, was er tun würde. „DigiArmorEi des Wissens, erstrahle!“ Ein violetter Strahl schoss aus der Antenne des Gerätes und drang in Gatomons glühende Gestalt. Es digitierte – und war hinterher nicht mehr wiederzuerkennen. Butterflymon war ein golden gepanzertes Insekt mit spitzen Krallen und Schmetterlingsflügeln, das sich mit beachtlicher Geschwindigkeit in den Kampf stürzte. Wie eine irre Wespe umkreiste es Cerberusmon, das irritiert knurrte und versuchte, sich mit ihm mitzudrehen. All seine Feuerangriffe gingen ins Leere, und gegen das fliegende Digimon konnte es auch mit seinen Löchern nichts ausrichten. „Nicht schlecht, Kouki“, meinte Renji halbherzig und versuchte, in das Loch zu spähen, in dem Candlemon verschwunden war. Nur pechschwarze Finsternis war zu sehen. Er saß sichtlich auf Nadeln. „Mach so weiter“, sagte Taneo, und Cyberdramon flog seinen nächsten Angriff. Cerberusmon vollbrachte irgendwie das Kunststück, der Ausradierkralle zu entgehen und Butterflymon mit seinem langen, reptilienartigen Schwanz zu erwischen. Der Schmetterling taumelte. „Nein, so geht es doch nicht“, murmelte Kouki. Immer noch hielt er sein DGX-Terminal in der Hand. „DigiArmorEi des Mutes, erstrahle!“ Gatomon und Kouki hatten Gennais Rat befolgt und alle acht ArmorEier ausprobiert. Das Ergebnis war eine riesengroße Erleichterung gewesen. Vielleicht kam es niemals an Cyberdramons Stärke heran, doch Gatomon konnte nun so viele verschiedene Formen annehmen, dass für jede Gelegenheit etwas Nützliches dabei war. Das violette Licht verließ Butterflymon, und es wurde wieder zu Gatomon. Kaum hatte das DGX-Terminal das Licht aufgenommen, sandte es einen orangeroten Strahl aus und Koukis Partner digitiert wieder. Diesmal wurde es zu Lynxmon, einer Großkatze, deren Fell ebenso brannte wie Meramons Haut. Cerberusmon lachte nur knurrend. Es schien auf denselben Vergleich gekommen zu sein und erinnerte sich noch an Meramons eigenes Schicksal. „Du weißt, was du zu tun hast!“, feuerte Kouki Lynxmon an. Das Digimon schlug die Krallen fester in das Eis. Zuerst sah es aus, als geschähe gar nichts, dann jedoch konnte man gut den Nebel sehen, der rings um es herum aufstieg. Das Eis schmolz, wurde zu Wasser, wurde zu Dampf – und zwar in Windeseile. Und wie zuvor Cerberusmon selbst, wurde auch Lynxmon nun von dem Schleier gänzlich verdeckt. „Denkst du etwa, ich könnte dich nicht riechen?“ Cerberusmon schien Koukis Partner nun zu seinem persönlichen Feind erklärt zu haben, denn es ignorierte die anderen fast völlig. So merkte es auch nicht, wie Kouki ein weiteres ArmorEi aus seinem Terminal erstrahlen ließ, während es einen grünen Feuerstrahl auf die Reise schickte. Die Antwort auf die Attacke kam prompt in Form eines hellen Strahls, der Cerberusmon an der Schnauze erwischte. Knurrend schüttelte sich das Digimon und versprühte weiter Flammen in die Richtung, aus der der Angriff gekommen war. Dann erst sah es den kleinen, rosa Hasen, der aus dem Dampf gehoppelt kam, schnell genug, um den Attacken zu entgehen und immer wieder Strahlen aus seiner Stirn zu schießen. „Das ist echt … beeindruckend, Kouki“, murmelte Fumiko. „Es kann zu so vielen Digimon werden …“ Kouki nickte, stolz über ihr Lob. „Und das da heißt Rabbitmon.“ Weitere Flammen loderten über den Boden. Taneos Blick ging suchend hin und her. „Das Eis“, murmelte er. „Es bricht auf.“ Jetzt erkannte Kouki es auch. Die viele Hitze, zuerst von Meramon, dann von Lynxmon und natürlich von Cerberusmons Flammen, hatte die Eisebene in ein Planschbecken verwandelt. Bis zu den Knöcheln standen die Digimon im Schmelzwasser … und an manchen Stellen war das Eis darunter brüchig geworden. Das hier war nicht einfach nur eine schneebedeckte Ebene – es war in Wahrheit eine Art Teich, dessen Eisdecke langsam dünner wurde. „Candlemon, kannst du mich hören?“, rief Renji eben in das Loch hinein. Verzweifelt ging er darum herum. „Renji, bleib zurück, sonst fällst du auch hinein!“, rief Jagari ihm zu, doch er war ebenfalls vor der Öffnung, in der Elecmon verschwunden war, in die Knie gegangen. „Ihr beiden solltet den Samen reinigen“, sagte Taneo. Das hörte Renji plötzlich. Mit wutverzerrtem Gesicht starrte er den Jüngeren an. „Sag mir nicht, was ich tun soll! Candlemon ist da reingefallen, und ich gehe hier erst wieder weg, wenn ich es gerettet habe!“ Taneo schnaubte, schwieg aber und sah in den Himmel, wo Cyberdramon immer noch darauf wartete, Cerberusmons Flinkheit auszutricksen. „Woodmon soll zurückdigitieren“, sagte Taneo plötzlich zu Tageko. „Mushroomon soll das Eis bombardieren. Ich habe einen Plan.“ Das Mädchen sah ihn kurz an, dann nickte sie, rief Woodmon ein entsprechendes Kommando zu und zückte ihr DigiVice. In weitem Bogen lief sie um den Kampfplatz und richtete das Gerät auf den Lichtsamen, der dort sein beflecktes Licht absonderte. Als die Reinigung begann, wurde aus Woodmon wieder Mushroomon, das sogleich begann, seine explosiven Pilze zu schleudern. „Ihr dummen Kinder“, knurrte Cerberusmon, das sich selbst im Visier der Attacke glaubte. Es wich den Pilzen nicht einmal aus, von denen es ab und zu einer traf. Sie verursachten keinen Kratzer auf seinem dunklen Panzer. „Das Eis muss brechen“, sagte Taneo und nickte Kouki zu. „Verstanden. Rabbitmon, wir machen weiter wie vorher! DigiArmorEi des Mutes, erstrahle!“ Kaum dass sein Partner wieder zu Lynxmon geworden war, spürte Kouki, wie eine Hitzewelle über ihn schwappte. Die brennende Katze war nur durch ein Luftflimmern zu sehen, und schon stieg erneut Dampf auf. „Willst du dich wieder im Nebel verstecken?“, fragte Cerberusmon herausfordernd, tat einen Schritt – und verharrte, während rings um es herum immer noch explosive Pilze hernieder krachten. Das Eis knarrte, Kouki konnte es deutlich hören. Er meinte, dort, wo kein Dampf die Sicht behinderte, Risse im Boden zu sehen, die sich immer weiter verästelten. Cerberusmon schien Taneos Plan durchschaut zu haben, denn es senkte angriffslustig den Kopf. „Ihr denkt, ich lasse das zu? Meine Höllentore werden erst diesen lächerlichen Teich trinken – und danach euer Blut!“ Plötzlich rief Tageko vom Lichtsamen aus: „Fumiko! Wo ist Fumiko?“ „Was?“ Kouki wirbelte herum. Er hatte sich so auf Lynxmon und Cerberusmon konzentriert, dass ihm nicht aufgefallen war, wie sie sich von der Gruppe entfernt hatte. Lange musste er nicht suchen. Cerberusmon stemmte sich eben gegen die verbliebenen Eisschichten, um seine Löcher zu erschaffen, als Fumiko von hinten durch den Dampf sprang. Das Hundedigimon schien ebenfalls nur auf Lynxmon und die anderen Digimon geachtet zu haben – oder es hatte einfach nicht mit so viel Dreistigkeit gerechnet. Fumiko landete genau auf seinem Rücken und krallte die Hände in seine Mähne. Cerberusmon brüllte vor Wut und Überraschung. Kouki und Tageko schrien ebenfalls auf. Er konnte nicht einmal darüber nachdenken, welche Digitation sie jetzt vor dem sicheren Tod bewahren könnte – war sie denn völlig wahnsinnig? Was, wenn ihr etwas zustieß? Der schwarz gepanzerte Hund bäumte sich auf und versuchte das Mädchen abzuwerfen, doch Fumiko hielt sich wacker. Unter dem wilden Rodeo begann das Eis zu knirschen und Wasser zu gluckern. Mushroomon hatte sein Dauerfeuer eingestellt. „Cyberdramon, sieh zu, ob du sie von ihm wegbekommst!“, rief Taneo eben, als das Unvermeidliche geschah. Cerberusmon sprang wild in die Höhe, schüttelte und wand sich – und Fumiko verlor den Halt. Mit einem erstickten Schrei wurde sie von seinem Rücken geschleudert – und brach mit einem lauten Klatschen durch die dünne Eisdecke; Cerberusmon nur kurz nach ihr. „Fumiko!“, brüllte Kouki. Prustend tauchte das Mädchen aus dem Wasser auf. Der Dampfschleier war so gut wie verraucht, aber er konnte in dem aufgebrochenen Teich etwas grün Schimmern sehen … Konnte Cerberusmon etwa auch unter Wasser Feuer speien? Plötzlich wusste er wieder, was er tun konnte. „DigiArmorEi der Zuverlässigkeit, erstrahle!“, rief er. „Hilf ihr, Tylomon!“ Lynxmon wurde wieder zu Gatomon und verwandelte sich dann in eine Art Reptilien-Maschinen-Fisch, blau gepanzert, mit scharfen Flossen und Zähnen. Tylomon stürzte sich ins Wasser und war sofort unter Fumiko, schob sie mit der Schnauze auf den Rand des Teichs zu. „Nicht mich“, wehrte sie sich. „Erledigt Cerberusmon, los!“ „Tut, was sie sagt“, sagte Taneo. „Unter Wasser kann Tylomon Cerberusmon aushebeln.“ „Aber Fumiko …“ „Mach schon!“ Kouki biss die Zähne zusammen. Wie konnte Taneo nur so ruhig bleiben? „Tylomon, wirf es in die Luft!“ Das grüne Glühen verschwand wieder und Cerberusmons Kopf wurde sichtbar. Es paddelte vorfreudig knurrend auf Fumiko zu – dann schlossen sich hellblaue Kiefer um seinen Hals und ließen das Knurren zu einem Winseln werden. Tylomon riss es mit sich, zerrte es in die Tiefe, holte aus und bäumte sich aus dem Wasser auf, seine Beute in die Luft schleudernd. Cerberusmon drehte sich, flog nur einen Meter hoch – aber Cyberdramon reichte das. Kaum dass der Höllenhund nicht mehr ausweichen konnte, traf ihn seine Ausradierkralle mit voller Wucht. Cerberusmon stieß ein Kreischen aus, das man einem Hund nie zutrauen würde, dann zersplitterte es in Daten, die in den Himmel trieben und schließlich einer unsichtbaren Röhre zu folgen schienen. Gleichzeitig stieß Jagari einen kleinen Schrei aus. Als Kouki den Kopf drehte, sah er, dass die schwarzen Löcher verschwunden waren. Elecmon und Candlemon lagen dort, wo sie von ihnen verschluckt worden waren. Beide waren bei Bewusstsein und blickten sich verwirrt um. Tylomon schwamm mit Fumiko auf dem Rücken ans Ufer. Das Mädchen war klatschnass und zitterte in der Kälte. Das Waser konnte nur unwesentlich wärmer gewesen sein als der Gefrierpunkt. Ihre Zähne klapperten hörbar, als sie über das Schneefeld auf den Lichtsamen zu taumelte. Salamon trottete neben ihr her. „Alles in Ordnung? Hast du dir was getan?“, fragte Tageko besorgt, die sogar die Säuberung des Samens unterbrochen hatte. „Nichts passiert“, behauptete Fumiko, aber die Kälte schüttelte sie regelrecht durch. Ihr Haar klebte ihr nass auf dem Rücken. „Was ist denn passiert?“, fragte Renji mit großen Augen, als er sie sah. Es war, als wäre er selbst in einem dunklen Loch gefangen gewesen und hätte nichts von dem, was um ihn herum geschah, mitbekommen. „Sie hat es ganz allein mit Cerberusmon aufgenommen, während du nur gejammert hast“, sagte Tageko vorwurfsvoll. Kouki fand, dass sie ein wenig zu streng mit ihm war. Renji hatte sich einfach Sorgen um seinen Partner gemacht. Dieser überging die zweite Hälfte von Tagekos Satz allerdings und starrte Fumiko teils bewundernd, teils ungläubig an. „Äh, ja … Das ist meine Fumiko-chan!“, meinte er dann verdattert. Fumiko verdrehte die Augen. „Könnt ihr dann zu gaffen aufhören, damit wir uns um den blöden Samen kümmern können?“ „Das übernehmen wir. Du gehst in unsere Welt zurück“, bestimmte Tageko. „Hier holst du dir den Tod.“ Fumiko nickte nur langsam. Ihr Gesicht war kreidebleich. „Und jemand sollte dich begleiten“, fügte Tageko nach kurzem Zögern hinzu. „Das mache ich“, bot sich Renji sofort an. „Nicht nötig. Der Fernseher ist ja nicht weit weg“, meinte Fumiko, doch man verstand ihre zittrigen Worte kaum, und niemand hörte auf sie. „Besser wäre es, wenn Kouki oder ich es übernehmen würden“, sagte Taneo. „Ihr anderen könnt durch den Samen eine neue Digitation erlernen.“ „Dann soll Kouki mit ihr gehen“, meinte Renji und verschränkte die Arme. „Gut. Dann haben wir Cyberdramon, falls noch ein Asura auftauchen sollte.“ „Okay, dann viel Glück“, sagte Kouki, zog seine Jacke aus und hängte sie Fumiko großzügig über die schlotternden Schultern, was eher eine nette Geste war, als dass es tatsächlich etwas nützte. „Sagt uns dann Bescheid, wer das Licht bekommen hat.“   In Jagaris guter Stube war es stockdunkel, als sie ankamen. Seine Mutter war also noch nicht wieder zurück. Fumiko hatte in weiser Voraussicht Kleider zum Wechseln zu ihrem Treffpunkt mitgebracht. Während sie sich in Jagaris Zimmer umzog, setzte Kouki in der Küche Tee auf. Schweigend wartete er, während er dem Föhn im Badezimmer lauschte. „Ziemlich finster hier“, stellte Fumiko fest, als sie den Raum betrat. Sie trug nun Jogginghosen und eine weite Strickweste. Ihr Haar war immer noch feucht, obwohl sie es geföhnt hatte. „Irgendwie wollte ich es nicht taghell haben. Wegen Salamon.“ Er hatte nur die Tischlampe eingeschaltet. Sein Partner hatte es sich auf einem Stuhl bequem gemacht und war eingeschlafen. „Danke“, sagte Fumiko, als sie sich auf die Eckbank setzten und er ihr eine Tasse Früchtetee reichte. Der Duft hing schon angenehm im Raum. „Es war übrigens leichtsinnig. Das, was du da vorhin abgezogen hast“, murmelte Kouki, als sie eine Weile schweigend nebeneinander gesessen waren. Fumiko hatte sich ganz auf die Bank gesetzt, die Beine angezogen und betrachtete ihren Tee, der noch zu heiß zum Trinken war. „Leichtsinnig? Nicht vielleicht mutig?“, fragte sie tonlos. „Ich fand’s irre mutig“, gab Kouki schließlich zu. „Aber so mutig, dass es schon wieder verrückt war. Darum leichtsinnig.“ „Was soll ich denn machen? Nur herumstehen und darauf warten, dass eure Digimon die ganze Arbeit erledigen? Ich hab nachgedacht, mir ist eingefallen, wie ich euch helfen könnte, und das hab ich getan.“ „Trotzdem, du hättest …“ Kouki seufzte, als ihr Blick ihn traf. Es lag eine gewisse Bitterkeit darin, eine gewisse Härte. „Tut mir leid. Ich will nur nicht, dass dir was passiert.“ „Ob du’s glaubst oder nicht, ich auch nicht.“ „Schon klar, aber …“ Heute war er wirklich nicht besonders wortgewandt. „Weißt du noch, vor unserem ersten Ausflug in die DigiWelt? Ich hab dich vor einem Hund gerettet. Ich bin mir ehrlich gesagt ein wenig heldenhaft vorgekommen.“ Er grinste. „Aber wenn ich mir Cerberusmon so ansehe, muss man wohl eher Hunde vor dir retten.“ „War das jetzt etwa ein Kompliment?“, fragte sie mit einem schiefen Lächeln. „Es sollte eins werden. Aber die Wahrheit war’s auch.“ Fumiko nippte vorsichtig an ihrer Tasse. „Du kennst dich mit Hunden aus, oder? Damals hast du so gewirkt.“ „Tatsächlich? Ich meine, ja. Wir hatten einen Hund. Yuki. Er wurde an dem Tag überfahren, an dem wir unsere DigiVices bekommen haben.“ „Oh“, machte sie. „Tut mir leid.“ „Ach, keine Sorge“, winkte er ab. Sie selbst war mit ihrem ungeborenen Digimon auch nicht gerade besser dran. „Meine kleine Schwester hat es ziemlich hart getroffen, aber Salamon hat sie beruhigt.“ „Du hast eine Schwester?“ Er grinste. „Ich hab sogar zwei davon. Was ist mit dir?“ Sie hatten nie über solche Sachen geredet, fiel ihm auf. Irgendwie war das schade. „Ich bin allein.“ Irgendetwas an der Art, wie sie das sagte, klang schmerzhaft. „Vielleicht fassen mich meine Eltern deswegen mit Samthandschuhen an. Wenn’s nach ihnen ginge, würde ich wohl nur für die Schule und die Nachhilfe außer Haus gehen.“ „So schlimm wird’s doch wohl nicht sein, oder?“, fragte Kouki. „Schlimmer. Ich mag sie echt sehr gern, aber sie sind furchtbar altmodisch. Mein Vater arbeitet bei einer mittelgroßen Firma, meine Mutter schmeißt den Haushalt. Mich würden sie am liebsten in die gleiche Richtung erziehen. Nur nicht zu viel von der Welt sehen, damit ich armes zerbrechliches Mädchen mich nicht an irgendwelchen Steinen in meinem Weg stoße“, sagte sie sarkastisch. „Klingt furchtbar“, murmelte er und sah nachdenklich zur Decke. „Aber das hast du nicht vor, oder?“ „Darauf kannst du Gift nehmen.“ „Sondern? Was willst du denn mal machen? Beruflich, meine ich.“ Es interessierte ihn tatsächlich. „Hm.“ Sie nahm wieder einen Schluck Tee, als müsse sie sich ihre Worte erst zurechtlegen. „Ich würde gern mal im Tourismus-Bereich arbeiten.“ „So als Rezeptionistin?“ Er konnte sich Fumiko gut mit einem schicken, dunklen Kostüm vorstellen, das Haar sorgfältig zusammengebunden, wie sie die Dinge in einer Lobby schmiss. „Eher als Hotelmanagerin“, erklärte sie schmunzelnd. „Was ist mit dir? Hast du Zukunftspläne?“ Er schnaubte. „Eigentlich keine. Früher wollte ich mal was mit Fußball machen, aber das wird wohl eher nichts.“ „Wieso?“ „Weil ich nicht gut genug bin. Ich könnte nicht davon leben. Außerdem ist es mein Hobby. Ich will eigentlich gar nicht, dass ich so ernsthaft dahinter sein muss.“ „Kann ich verstehen.“ Da erneut peinliches Schweigen aufzukommen drohte, sagte Kouki schnell: „Eigentlich seltsam. Wir sollen gemeinsam die Welt retten und haben kaum Gelegenheit, über so was Alltägliches zu reden. Wir alle nicht.“ „Weil der Alltag mit dem Welt-Retten nur wenig zu tun hat“, versetzte sie. „Trotzdem. Wir sollten mehr miteinander unternehmen. Nicht nur in der DigiWelt. Das würde uns mehr zusammenschweißen.“ Er zögerte, sprach es dann aber trotzdem aus. „Wir beide zum Beispiel.“ Sie sah ihm forschend in die Augen. „Was schlägst du denn vor?“ Kouki hoffte einfach mal, dass sie sich auf seinen letzten Satz bezog. „Hm“, machte er nachdenklich. „Am Samstag gehen Renji und ich auf dieses Konzert … Du willst nicht zufällig doch mitkommen? Wir kriegen sicher noch irgendwo eine Karte her.“ Fumiko lachte leise. „Sicher, dass das eine gute Idee ist?“ „Stimmt … Wohl eher nicht. Wollen wir vielleicht mal ganz locker irgendwohin essen gehen? Ich kenne ein Sushi-Restaurant, nicht weit von der Schule. Ist echt lecker dort. Ich lade dich ein.“ „Sushi klingt gut, aber einladen lasse ich mich nicht“, sagte sie sofort. „Hey“, meinte er gespielt empört. „Das gilt ja wohl nicht. Da will ich einmal den Gentleman raushängen lassen, und du lässt mich nicht?“ Sie schmunzelte. „Was hältst du davon, wenn ich ganz einfach Gentlewoman spiele und dich stattdessen einlade?“ Kouki wollte eben protestieren, als er aus Jagaris Zimmer Stimmen hörte, allen voran Renjis Maulen. Die anderen waren wieder da.  Kapitel 24: Forming, Storming … Performing! ------------------------------------------- Kouki und Fumiko standen auf, als sie die Küche betraten und nasse Fußspuren hinterließen. „Wie sieht’s aus?“, fragte er. „Der Samen ist sauber“, sagte Taneo. „Macht drei von fünf“, ergänzte Jagari zufrieden. „Und wir haben jetzt ein neues Ultra-Digimon“, fügte Tageko noch hinzu. „Ja, weil du dir das Licht einfach unter den Nagel gerissen hast“, knurrte Renji. „Wir hatten vorher ausgemacht, wer es bekommt, schon vergessen?“ „Deine Argumente waren aber nicht stichhaltig“, brummte er beleidigt. „Und, zu was wird dein Woodmon, Tageko?“, unterbrach Fumiko die beiden. „Es sieht schwach aus“, meinte Renji sofort. „Schwächer als vorher. Nur größer. Eine Blume mit Gesicht.“ „Blossomon würde Meramon sicher locker in die Tasche stecken, gäbe es auch nur den leisesten Grund, warum sie gegeneinander kämpfen sollten“, meinte Tageko und tätschelte Budmon, das auf ihrer Schulter saß. Das kleine Digimon war sichtlich stolz. Offenbar hatte sein Selbstbewusstsein einen ordentlichen Schub erlebt. „Da fällt mir was auf, Taneo, Kouki“, sagte Jagari plötzlich, der Motimon im Arm hielt, und deutete auf das Kokuwamon auf Taneos Schulter, dann auf das schlafende Salamon. „Warum sind eure Digimon nicht auch zurückdigitiert? Die sind bei dem Kampf noch dazu am meisten digitiert; das muss doch anstrengend gewesen sein?“ Kouki zuckte mit den Schultern. „Salamon ist schon immer Salamon in dieser Welt geblieben. Wahrscheinlich, weil Wisemon seine Digitationen gestört hat. Vielleicht ist das ein Nebeneffekt.“ „Hm. Und Kokuwamon?“ Taneo lächelte und streichelte dem Käferdigimon über den Kopf. „Wir haben trainiert.“ „Trainiert?“ „Erzähl’s ihnen.“ Kokuwamon flatterte in die Höhe und sagte: „Ich bin ein paar Mal in dieser Welt zu Thunderboltmon digitiert und hab versucht, das Level so lange wie möglich zu halten. Es klappt immer besser.“ Es landete wieder in Taneos Armen. „Ich schätze, das hat seiner Ausdauer gutgetan“, schloss dieser. Renji hatte dafür nur ein abfälliges Schnauben übrig. „Lass es hier nur nicht zu Cyberdramon werden, sonst glauben die Leute, Godzilla ist zurückgekehrt.“ Fumiko unterdrückte ein Gähnen, und Tageko nahm das als Zeichen, dass sie für heute fertig waren. „Wir haben unser Ziel also doch noch erreicht. Ab jetzt wird es noch schwieriger, die Asuras zu bekämpfen, aber immerhin haben wir jetzt zwei Ultra-Digimon. Lasst uns für heute Schluss machen und morgen in der Schule über alles Weitere nachdenken.“ Die anderen nickten. Taneo sah dabei aber irgendwie nachdenklich aus, fand Kouki.   „Cerberusmon ist tot“, sagte ihr Anführer, als sie sich das nächste Mal über LordMyotismons Spiegel unterhielten. „Na so was“, kommentierte Persiamon. „Offenbar haben die DigiRitter auch seinen Chaossamen geheilt“, sagte LordMyotismon. „Sie haben eines von uns isoliert angegriffen, nachdem sie Persiamon und SkullScorpiomon auf eine falsche Spur gelockt haben.“ „Das sind ja wirklich ganz gerissene Kerlchen“, meinte Persiamon und wandte sich an das Vampirdigimon. „Ihr seht jetzt wohl hoffentlich ein, dass wir uns nicht zurückhalten dürfen. Gebt endlich die Kraft der Digitation an uns frei, LordMyotismon! Wenn wir auf das Mega-Level digitieren, können wir sie mit Leichtigkeit besiegen.“ „Wofür du dich mit Freuden zur Verfügung stellen würdest, nicht wahr?“, fragte Orochimon säuerlich. „Natürlich“, sagte Persiamon frei heraus. „Irgendjemand muss es ja tun.“ LordMyotismon nippte an seinem Weinglas, ehe es antwortete. Zu dumm, dass man in seinem Gesicht nicht lesen konnte. Mit der Maske und seinen pupillenlosen Augen war das ein hoffnungsloses Unterfangen. „Wir werden keines von uns dem Risiko aussetzen, dass etwas fehlschlägt. Nicht so einfach jedenfalls. Erst werden wir prüfen, wie die Digitation vom Champion- auf das Ultra-Level für ein Asura funktioniert.“ „Ihr habt doch nur Angst, dass ich stärker werden könnte als Ihr“, murrte Persiamon beleidigt. Was musste denn noch geschehen, damit dieses sture Digimon endlich einlenkte? „Mir Angst zu unterstellen, ist lächerlich“, sagte LordMyotismon ungerührt. „Ich bin lediglich vorsichtig.“ „Welch wunderbare Eigenschaft“, sagte Persiamon zuckersüß. „Da fällt mir ein, ich habe eine interessante Information für Euch. Zufällig habe ich herausgefunden, wie die DigiRitter die DigiWelt betreten. Eigentlich hätten wir selbst darauf kommen können. Es sind diese Fernseher, die überall in der DigiWelt herumstehen.“   „Also, Vorschläge?“, eröffnete Tageko das Treffen der DigiRitter. Draußen regnete es, darum hatten sie sich heute in der Bibliothek versammelt – hier waren sie auch ziemlich ungestört. Tageko machte sich zwar Sorgen, dass jemand lauschte, noch dazu weil es hier so still war, aber diejenigen würden wohl einfach denken, hier spräche eine Gruppe Schüler den Plot eines Theaterstücks oder einen Plan in einem Computerspiel oder sonst was durch. „Wir gehen in die DigiWelt und holen uns den nächsten Samen“, sagte Renji entschlossen. „Das nächste Licht meinst du. Damit Meramon auch digitieren kann“, erkannte Kouki grinsend. „Gute Idee. Ich stimme deinem Vorschlag zu – das nächste Licht gehört mir!“ „Das war kein Vorschlag“, lachte Kouki. „Fall mir nicht in den Rücken“, zischte Renji ihm scherzhaft zu. „Ich finde, wir sollten warten“, sagte Taneo. „Natürlich!“, rief Renji aus. „Hätte ich mir denken können! Taneo ist einfach ein unverbesserlicher Querulant.“ Tageko rollte die Augen. „Hier ist niemand ein Querulant. Jeder begründet seine Meinung. Dein Grund ist, dass du eines der Lichter haben willst. Taneo?“ Renji schürzte die Lippen, während der Jüngere sagte: „Nach der Sache mit Cerberusmon werden sie noch vorsichtiger sein. Die Samen sind jetzt sicher noch besser bewacht. Wenn uns mehr als zwei Asuras gleichzeitig angreifen, könnte es schon brenzlig werden. Aber wenn einige Tage nichts passiert, wird ihre Wachsamkeit sicher wieder nachlassen. Wenn nicht, reibt sie das sicher emotional auf und schwächt sie damit. Sagen wir, eine Woche. Bis dahin haben sich die Wogen wieder geglättet. Dann, unerwartet, schlagen wir zu.“ „Finde ich gut“, meinte Jagari. „Einwände, Renji?“, fragte Tageko  vorsichtshalber, doch Renji überraschte sie. „Nein“, brummte er. „Dann hab ich wenigstens eine Woche Ruhe vor euch.“ „Er meint es nicht so“, versuchte Kouki die anderen zu beschwichtigen. „Ich weiß“, sagte Taneo ungerührt. „Er meint nur mich.“ Tageko seufzte. „Jungs. Ihr stellt echt jedes alte Ehepaar in den Schatten.“ „Ich finde auch, dass es langsam reicht. Wir sind ein Team, wir sollten zusammenhalten!“, sagte Kouki. „Wir sind eben kein Team“, brummte Renji. „Wir sitzen nur im selben Boot.“ „Forming, storming, norming, performing“, sagte Tageko plötzlich. „Hä?“ Die anderen sahen sie verwirrt an. „Das hab ich letztens in einer Zeitschrift gelesen. Die vier Phasen der Teambildung. Erst findet man sich notgedrungen zusammen, dann stößt man auf Differenzen, und damit die Zusammenarbeit klappt, muss man die überwinden und gemeinsame Normen erstellen.“ „Fein. Mein Vorschlag für eine gemeinsame Norm ist, Taneo rauszuschmeißen“, sagte Renji. „Oyara-kun“, sagte Fumiko kalt. „Kann es sein, dass du gar nicht beleidigt bist, weil er dir widersprochen hat, sondern dass du nur aus Prinzip gegen ihn sein willst?“ Renji schwieg verkniffen, doch Tageko kam das nur zu plausibel vor. „Du glaubst wahrscheinlich, dass du immer mit ihm anecken musst, weil ihr schon so begonnen habt, oder?“, fragte Tageko. „Ach, hört endlich auf mit diesem dämlichen Psychologisieren“, maulte Renji und stand auf. „Das ist lächerlich. Ich gehe.“ „Fumiko wird nie wieder ein Wort mit dir reden, wenn du jetzt einfach gehst“, sagte Kouki schnell. Renji sah erst ihn, dann Fumiko abfällig an. „Mir doch egal. Sie mag mich ja sowieso nicht.“ Das saß. Tageko nickte Fumiko zu und versuchte, so flehentlich wie möglich auszusehen. Das Mädchen verstand – und ihre Offenheit tat Renji sicher gut. „Ich habe nie gesagt, dass ich dich nicht mag, Renji“, sagte sie. „Ich sagte, dass du nicht mein Typ bist. Als Mitglied unseres Teams schätze ich dich sehr.“ Er war schon auf halbem Weg zur Tür und drehte sich wieder um. „Meinst du das ernst?“ Ein schwacher Hoffnungsschimmer tauchte in seinen Augen auf. „Klar“, sagte sie. Renji seufzte. „Also schön, ich geb mir Mühe. Ich tu einfach so, als würde ich Taneo noch nicht kennen. Dann können wir neu anfangen. Wie klingt das?“ „Das ging ja schnell“, meinte Tageko spöttisch. Renji wirkte wie ein kleines Kind auf sie, das seine Streicheleinheiten brauchte und sich dann doch mit Freuden nach dem Wind richtete. „Einverstanden, Taneo?“, fragte sie. Bitte, sag einfach ja. „Nein“, sagte er. Tageko stöhnte auf. Taneo fixierte Renji mit einem finsteren Blick. „Ich kann nicht so tun, als wäre alles Friede, Freude, Eierkuchen, solange er Jungen wie Shuichi mobbt.“ „Ich mobbe ihn doch gar nicht!“, stieß er aus. „Ich pumpe ihn halt ab und zu ein wenig an, na und? Außerdem ist das letzte Mal schon Ewigkeiten her.“ „Du und deine Freunde spielt euch als die großen Helden der Schule auf und macht euch über andere Schüler lustig, demütigt sie und erpresst sie“, sagte Taneo kalt. „Und ihr wollt ernsthaft, dass ich mit jemandem wie ihm gemeinsame Normen bilde?“ Nun war er es, der aufstand und zur Tür ging. „Dass manche Leute auf anderen herumhacken, ist doch ganz normal!“, rief Renji ihm nach. Tageko hob die Augenbrauen. Was sollte das für eine Rechtfertigung sein? Auf der anderen Seite fand sie Taneos Anschuldigungen auch ziemlich hart. „Vielleicht. Aber es muss nicht sein“, beharrte Taneo. Kurz bevor er die Tür hinter sich schloss, sagte er noch leise: „Sei froh, dass du kein Asura bist, Renji.“ Nachdem er gegangen war, senkte sich bleierne Stille über die anderen DigiRitter. Speziell Renji war kreidebleich geworden. Das war wohl so ziemlich das Heftigste gewesen, das Taneo ihm an den Kopf schleudern konnte. „Was ist mit ihm?“, murmelte er, aber es klang so, als würde er mit sich selbst sprechen. „Ich hab doch nur ein wenig Spaß gemacht. Der soll sich nicht so aufspielen. Sowas hab ich nicht nötig.“ Schließlich stand auch er mit einem Ruck auf und stapfte ohne ein weiteres Wort auf der anderen Seite aus der Bibliothek.   Taneo kochte innerlich. Was dachten sich die anderen eigentlich? Hatten sie keine Augen im Kopf? Oder interessierte es sie einfach nicht, was ihre Kameraden so trieben, wenn sie nicht gerade mit ihnen in der DigiWelt waren? Oder war er vielleicht selbst der Idiot? Sah er das alles viel zu eng? Er konnte es nun mal nicht ausstehen, wenn irgendjemand einem anderen das Leben zur Hölle machte – oder es auch nur ein bisschen verdüsterte. Typen wie Renji waren eine dunkle Regenwolke im Leben derer, die von ihnen unterdrückt wurden. Selbst sein Grund, in die DigiWelt zu gehen, troff nur so vor Selbstsucht. Kouki mochte hundertmal mit ihm befreundet sein, aber Taneo musste die Freunde seiner Freunde nicht mögen. Mit finsterem Gemüt ging er in die Klasse zurück. Es war Mittagspause; nur wenig war los. Sollte er mit Shuichi über die Sache sprechen? Dass er neuerdings gezwungenermaßen mit Renji abhing? Dann kam ihm der rettende Einfall. Er würde die beiden einfach miteinander konfrontieren. Shuichi sollte vor allen sagen, was Renji ihm schon alles angetan hatte. Dann sollte sich der entschuldigen, und danach würde Taneo darüber nachdenken, ob sie mit einer blanken Tafel beginnen konnten. Kurz entschlossen suchte er Shuichis Klasse auf, doch er war nicht da – und von seinen Mitschülern hatte ihn heute offenbar noch niemand gesehen. Also war er krank? Auch gut, bis nächste Woche würde er ihn schon irgendwie erwischen.   Was bildete der Knilch sich eigentlich ein? War er Renjis Mutter? Ihn mit einem Asura zu vergleichen, das war … Renji fand keine Worte dafür. Er trat im unteren Stock des Stiegenhauses unter den Treppenstufen gegen die Wand, wieder und wieder, um seinem Ärger Luft zu machen. Was sollte das? In Wahrheit hatte er gedacht, Taneo würde ihn nicht mehr so stören wie zu Beginn ihres gemeinsamen Abenteuers. Nun musste er diese Meinung gründlich überdenken! War er so ein schlechter Mensch? Glaubte Taneo, jeden, der nicht ganz seinen Vorstellungen von einem mustergültigen Moralapostel entsprach, als Bösewicht abstempeln zu müssen? Wütend warf sich Renji nun mit dem Rücken selbst gegen die Wand und verschränkte grübelnd die Arme. Waren seine Spielchen denn so schlimm? Das bisschen Geld, das er von Shuichi ergattert hatte, war doch wohl kaum der Rede wert. Außerdem hatte er den Jungen nie bedroht oder geschlagen, er hatte ihm die paar läppischen Yen immer freiwillig übergeben, das konnte jeder von Renjis Freunden bezeugen! Taneo hatte kein Recht, sich zum Richter aufzuschwingen. Wer war er schon? Nur ein kleiner Junge, der sich plötzlich als Held fühlte. Dabei hatte er nichts getan, was Renji je beeindruckt hatte, nicht mal eine Freundin hatte der Schlaumeier! Gut, er hatte anscheinend im Alleingang ein Asura umgeblasen, aber das konnte er genau genommen nicht mal beweisen. Immer noch wütend, ging Renji in Richtung Klassenzimmer. Er traf seine Kumpels auf dem Weg dorthin. „Auch schon wieder da?“, fragte Hiro. „Wo hast du gesteckt?“ „Hab meine Zeit mit einem Idioten verschwendet“, brummte Renji nur. „Und? Hast du’s ihm gezeigt?“ „Was gezeigt?“ „Was wohl? Er wird sich doch nicht wieder mit dir anlegen, oder?“ „Verdammt nochmal, hör auf so zu reden, als sei ich ein verfluchter Schlägertyp!“, fuhr Renji ihn an. Hiro hob abwehrend die Hände. „Was hast du denn, Mann? Davon spricht ja gar keiner.“ „Das will ich hoffen.“ Renji ging an ihnen vorbei in die Klasse, schmiss sich auf seinen Stuhl und brütete finster weiter. „Alter, was ist los mit dir?“, fragte ihn nun Norihiko. „Mit dem falschen Fuß aufgestanden?“ Renji wollte nicht mit ihnen reden. „Hab glänzende Laune, merkt man das nicht?“ „Klar“, schnaubte Norihiko. „Hiro und ich haben übrigens grad unsere Pläne für nach der Schule abgecheckt. Kommst du mit? Oder hängst du lieber wieder mit deinen neuen Kumpels ab?“ „Das sind nicht meine Kumpels!“, blaffte Renji. Offenbar war er schon viel zu oft mit Taneo und den anderen gesehen worden. Na toll. „Wie auch immer.“ Norihiko zuckte die Achseln. „Wir wollen ‘nen Sprung in diese neue Karaoke-Bar machen. Chiemi-chan aus der Parallelklasse und ihre Freundinnen gehen dorthin, mit ein wenig Glück können wir uns bei denen dranhängen.“ „Keine Lust.“ „Mann, komm schon. Deine, wie hieß sie, Fumiko hast du doch schon abgeschrieben, oder? Die hängt ja lieber mit diesem Nagara aus der 3A ab.“ „Was?“ Renji hob fragend die Augenbrauen. „Koharu hat sie mal außerhalb der Schule mit ihm abhängen sehen“, erklärte Hiro wichtig. Koharu war die Klassentratsche. Es geschah nicht viel, von dem sie keinen Wind bekam. „Vielleicht ist’s auch falscher Alarm“, winkte Hiro ab. „Ich glaub auch nicht, dass deine Fumiko sich mit so ‘ner Flasche abgibt.“ „Halt den Rand“, knurrte Renji. „Kouki ist ein guter Kumpel von mir.“ „Jetzt auf einmal wieder?“ Norihiko ließ eine Augenbraue hochwandern. „Gerade hast du was anderes gesagt.“ „Ach, lass mich in Ruhe.“ Renji drehte sich demonstrativ zur Seite und sah aus dem Fenster. Es regnete immer noch. „Naja, ist ja wohl deine Sache“, meinte Norihiko nach einer schweigenden Weile. „Musst ja nicht mitkommen. Was meinst du, Hiro, holen wir uns bei diesem Shuichi noch ein wenig Kohle für heute Nachmittag?“, meinte er dann feixend. „Und den lasst ihr auch in Ruhe!“, fuhr Renji auf. „Pumpt doch eure Eltern an, wenn ihr euch euer Taschengeld nicht ordentlich einteilen könnt.“ Ehe er es gemerkt hatte, war er aufgesprungen. Die beiden starrten ihn entsetzt an, aber er würde seine Worte nicht zurücknehmen. Das fehlte ihm gerade noch, dass Taneo einen neuen Angriffspunkt gewinnen würde.   Es war Samstagnachmittag, und es war proppenvoll in der grauen Veranstaltungshalle am Rand von Odaiba. Kouki sah sich um und stellte fest, dass die Mehrheit der Anwesenden Mädchen in seinem Alter waren, immer wieder durchwachsen von älteren. In der vordersten Reihe drängte sich eine kleine, bunte Schar, die sogar ein Plakat hochhielt, auf dem irgendwelche Lobeshymnen für ein Bandmitglied geschrieben waren. „Das wird super“, behauptete Renji. „Ich hoffe, sie fangen bald an.“ Kouki musste ihm zustimmen. Der Auftritt der Band war längst überfällig. Über der Bühne hing ein breites Banner mit ihrem Namen, düster verziert und doch geschmackvoll, und ein edles, schwarz glänzendes Schlagzeug stand bereit, aber noch war keine Spur von den Musikern zu sehen. Es gab keine Vorband oder Ähnliches, und sie standen sich seit geraumer Zeit die Beine in den Bauch. „Fumiko verpasst echt was“, war sich Renji sicher. „Wahrscheinlich sitzt sie nur zuhause rum und hat ein langweiliges Wochenende.“ Kouki konnte ihm unmöglich erzählen, dass er und Fumiko sich gestern Nachmittag in dem Sushi-Lokal verabredet hatten und danach noch in einer Karaoke-Bar waren. Also schwieg er. Endlich verfinsterten sich die Deckenlampen, von vorne nach hinten. Es sah tatsächlich so aus, als würde eine Wolke aus Finsternis durch die Halle kriechen. Aufgeregtes Gekreische wurde laut, andere hielten den Atem an. Kouki war schon gespannt. Auf die Bühne sickerte düsteres, violettes Licht und betonte die Rauchschwaden, die sich dort kringelten. Vor dem Schlagzeug schien etwas Rotes zu blubbern, das wie eine träge, warme Lavalampe aussah. Dann setzte aus den Lautsprechern, immer noch bei völliger Abwesenheit der Band, die leicht melancholische Melodie einer Violine ein. Renji stieß Kouki aufgeregt an. „Das Lied kenn ich! Das wird World Burning!“ Kouki nickte abwesend. Er würde wohl keinen einzigen Song kennen, aber er nahm sich vor, sich gut in Renjis Musikgeschmack einzuhören. Der Lärm aus dem Publikum wurde lauter, je länger das Intro dauerte – und erreichte einen ersten Höhepunkt, als wie aus dem Nichts der Gitarrist auf der Bühne auftauchte. Er trat einfach aus den schwirrenden Schatten, schwarz gekleidet, mit dunklen, fetzig zur Seite gegelten Harren, und griff die Melodie mit seiner E-Gitarre auf. Nach einigen Takten erschien, auf ähnlich gespenstische Weise, der Bassist, der ihn unterstützte. Das tiefe Zupfen des Basses wurde fast von den flotteren Gitarrensaiten übertönt, fand Kouki – und von dem schrillen Gekreische des eines Mädchens direkt neben seinem Ohr, das zu springen begann, als es den gutaussehenden Musiker in seinem offenen Ledergilet, das seine Brust entblößte, erblickte. Dann, plötzlich, wich die Düsternis im hinteren Bereich der Bühne zurück, als das rote Leuchten stärker wurde. Der Drummer saß bereits an seinem Schlagzeug und stimmte in die Melodie ein, die immer kraftvoller und lebendiger wirkte, bis keine Spur mehr von der Violinenmelancholie übrig war. Und als die Akkorde ein weiteres Mal von vorn begannen, sprang der Sänger von der Seite auf die Bühne, das Mikrofon in Händen, und begrüßte die Menge mit einem lauten: „Get ready!“ Das Gekreische der weiblichen Fans war diesmal nicht mehr zu überbieten, aber auch die männlichen jubelten ordentlich mit, als ihre Helden endlich auf der Bühne versammelt waren. Kouki erkannte, dass dieser Song gut für den Einstieg gewählt war. Nach seinem ersten Ruf hatte der Sänger erst mal ein paar Takte Pause, in denen das Publikum laute Jubelschreie auf ihn hageln lassen konnte. Er sah aber auch wirklich unverschämt gut aus, mit fülligem, in stylische Form gebrachtem blondem Haar, das einen starken Kontrast zu seiner schwarzen Kleidung bildete, und einem leichten, rätselhaften Lächeln auf den Lippen. Schließlich ließ er das Mikrofon durch die Luft wirbeln, fing es gekonnt wieder auf und begann zu singen.   „Follow me The fireworks are blazing See The beasts are now arising Come, feel The ashes raining down on Us“   Die Fangemeinde war nach den ersten Zeilen schon am Ausflippen, schrie den Text mit oder etwas anderes, das Kouki nicht verstand. Er konnte es schwer beurteilen, aber er nahm an, dass der Sänger eine gute Stimme hatte und die anderen Bandmitglieder an ihren Instrumenten auch nicht übel waren. Vor allem der schwarzhaarige Gitarrist malträtierte die Saiten, als hinge sein Leben davon ab.   „The fortune wheel is turning, turning Turning like a Ferris wheel The landscape’s burning Now, who will stop our fall?“   Der Drummer vollführte ein paar Extra-Schläge, das Tempo änderte sich kurz und Gitarrist  und Bassist bewegten stumm die Lippen mit, als der – so vermutete Kouki – Refrain begann.   „Let us save the world From burning Let us rumble with our lives Just stand still and watch the countdown When the time is over and the heat is rising, we will thrive Pour the rain, pour it out To quench the fires without doubt“   Kouki verstand nicht ganz, worum es in dem Lied ging, aber er fand den Text eigentlich ziemlich cool, und er wurde kraftvoll und überzeugend vorgetragen. Er ertappte sich dabei, wie er mit der Schuhspitze den Takt mitklopfte. Renji wiegte sich ebenfalls zur Musik und hatte sein übliches Grinsen aufgesetzt.   „Stand Don’t dare to kneel before it Now’s The time and we will change it Fight Don’t let me down, we will not Fail   The fortune wheel is turning, turning Turning like a Ferris wheel The landscape’s burning Now, who will stop our fall?”   Der Refrain wiederholte sich, dann legte der Gitarrist ein kurzes, aber beeindruckendes Solo hin, dass einige von den Fans weiter hinten aufjohlen ließ. Die Melodie änderte sich, der Schlagzeuger hämmerte nicht mehr ganz so schnell, als sie auf die Bridge zusteuerten.   „Our mission Is not yet fulfilled Too much evil Is fighting all of our Dreams The fire, the heat, burning the wheel of time But the wheel will never stop its turning now!   All our hearts won’t ever be yours Although our life’s end is so close No, you will never take our souls We link our hearts together and shout it out loud!“   Mehrere Kehlen schrien das letzte Wort mit, der Refrain wurde noch einmal wiederholt, dann endete der Song mit einem letzten, einsamen Powerchord. Und dann brandete stimmbänderzerfetzender Jubel auf. Renji und Kouki applaudierten. „Gefällt’s dir?“, rief Renji. „Kann man sagen. Sie sind nicht übel.“ „Nicht wahr? Fumiko verpasst echt was.“ Der Sänger fuhr sich durch das Haar. Ein erschöpftes Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab, das jetzt schon vor Schweiß glänzte. „Danke!“, rief er in sein Mikrofon. „Es ist großartig, euch heute hier zu haben! Unglaublich, dass wir so ein volles Haus haben!“ Kouki blinzelte. Wo hatte der Typ plötzlich die Gitarre her? Schwarz und glänzend hing sie vor ihm. Er musste sie vom Bühnenrand geholt haben, als seine Kollegen das letzte Lied hatten ausklingen lassen. Der Sänger montierte sein Mikrofon auf dem Ständer vor ihm, um die Hände zum Spielen frei zu haben. „Der nächste Song ist für euch, für unsere treuen Fans, die uns noch nie enttäuscht haben!“ Ein Trommelwirbel, und ein deutlich langsamerer, andächtigerer Song begann.   „Sometimes I feel like I’m down Sometimes I really feel not right Sometimes the walls are breaking down on me   Sometimes I need a little smile Sometimes the coldness reaches my heart Sometimes I feel that I could need a little warmth of you”   Der Refrain wurde noch einmal schwerfälliger, getragener.   „And you Never ever Disappointed me You were there to catch me and Now I will never fall   A time will come When my strings are cut One by one But you Will weave the net anew“   „Kouki!”, brüllte Renji plötzlich in sein Ohr, dass ein schmerzender Stich es durchfuhr. Auf seine ärgerlich gerunzelte Stirn hin deutete sein Freund nach schräg vorne. „Sieh mal. Diese Bohnenstange da, ist das nicht …“ Er wurde von der Stimme des Sängers übertönt, die wieder aus den Lautsprechern schallte und die zweite Strophe begann, aber Kouki hatte sie auch erkannt.   „Sometimes my kisses feel not sound Sometimes the fever’s burning my lips Sometimes my screams have gotten loud and sore   Sometimes I do not know what’s right Sometimes forgetting all my love Sometimes my feelings will not reach my heart no more“   Tageko überragte die Mädchentraube, die sie umgab, ein wenig, weswegen man sie gut sehen konnte. Das orangerote Haar trug sie heute offen, dazu passende Ohrringe und ein helles Top. Kouki sah von hier nicht einmal ihr Profil ganz, aber er hätte trotzdem nicht gedacht, dass sie sich so schick machen konnte. Ehe Renji ihn davon abhalten konnte, drängte er sich durch die Menge auf Tageko zu. Seinem Freund blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen, während die Band nach dem zweiten Refrain das Solo und die Bridge anspielten. Je weiter sie nach vorne kamen, desto stärker wummerten die tiefen Töne.   „Sometimes I feel the loneliness craving in my soul Sometimes the heat in my blood starts to freeze out slow Someday my body will be old and meek and weak But still I dare, forever going on“   Der letzte Kehrvers hatte begonnen, als sie bei Tageko ankamen und Kouki ihr grinsend zuwinkte. Sie hob die Augenbrauen. „Was macht ihr denn hier?“, fragte sie, als der Song endete und die Fans jubelten und pfiffen. „Wir arbeiten hier als Security“, sagte Renji trocken. „Wonach sieht‘s denn aus?“ „Ich wusste gar nicht, dass du solche Musik hörst“, sagte Kouki wahrheitsgemäß. „Über Geschmack lässt sich schließlich nicht streiten“, meinte sie. „Hätte nicht gedacht, dass wir irgend sowas wie eine Gemeinsamkeit hätten“, feixte Renji. „Kennst du sie?“, mischte sich eines der umstehenden Mädchen ein. Kouki glaubte, es schon einmal gesehen zu haben. Also war Tageko mit einigen Freundinnen hier. „Ähm, ja. Ein …“ „Wenn du jetzt sagst, ein wenig, bin ich beleidigt“, fiel ihr Kouki zwinkernd ins Wort. Der Sänger erhob wieder die Stimme, und Tageko nickte nach vorn. „Seid einfach still und hört lieber der Musik zu“, rief sie gegen den Lärm an. „Gefällt euch das?“, fragte der Sänger erwartungsvoll und streckte dem Publikum das Mikrofon entgegen. Ein langgezogenes, verschwommenes „Jaaaa!“ erklang aus hunderten Hälsen. „Dann wird euch der nächste Song vielleicht auch gefallen! Er ist aus unserem neuen Album Night Prevailing. Hier kommt Nightinhale!“, verkündete der junge Mann. „Was soll denn das bitte für ein Wortspiel sein?“, fragte Tageko während dem einleitenden Trommelwirbel. „Hör einfach zu, das ist gut“, behauptete Renji.   „As the break of dawn is conquering the world I see the creatures that befall our wonderful land“   Es klang sehr entrückt, vor allem, da er die Textzeilen fast flüsterte, aber die Fans jubelten trotzdem. Vermutlich würden sie über alles jubeln, was ihnen hier geboten würde – andernfalls wären sie nicht hergekommen. Kouki versuchte es zu genießen, aber ganz so leicht wie Renji fiel es ihm doch nicht. Außerdem war er immer noch überrascht, ausgerechnet Tageko hier anzutreffen.   „We band together, sworn to fight And we will never give in now With you together we can stop it all before it’s too late No fear and no regret tonight The black thunder we resist All you need is just a heart of love and never-dying pride“   Für das düstere Image der Band war das eindeutig ein positiver Song – soweit Kouki den Text verstand. Er wertete das als positiv.   „Come, inhale the night Make it right Eat and swallow the darkness away from me Inhale the night Daybreak’s close And never will I forget all the pain that you once cried“   Renji stieß Kouki grinsend an und deutete auf Tageko, die wie in Gedanken verloren begonnen hatte, im Takt auf den Zehenspitzen zu wippen. Eines der Mädchen neben ihr war sogar ziemlich blass geworden und hatte zu allem Überfluss noch Tränen in den Augen – Kouki würde das sprichwörtliche Groupieleben nie verstehen.   „As the darkness marches on Midnight still so far away It’s the hour of the countless ones, the fallen and depraved I won’t ever let you down Come, race forward with all might Our power is the bond of all our hearts and our souls“   Der Refrain begann wieder, und der Sänger, der bisher fleißig mitgespielt hatte, überließ dem anderen Gitarristen wieder die Arbeit und hielt dem Publikum stattdessen sein Mikro hin. Lauthals sangen alle den Text, Renji am falschesten von allen. Schließlich wartete die Band noch mit einer dritten Strophe auf, um dann mit einem veränderten Chorus abzuschließen.   „Now the time of ghosts is here All the nightmares bare to see Look behind, see what it is that sends the shivers down your spine All the shadows have no depth They are flat and dark and plain Can just see them if they’re attaching themselves onto you   Come, inhale the night Breathe the night away Swallow the darkness Come, inhale“   Und wieder einmal gab es tosenden Applaus. Irgendein Ruf schallte durch die Halle, und mehrere Fans griffen ihn auf: „CDF! CDF!“ Renji entblödete sich nicht, mitzumachen – auch wenn er stattdessen „Ausziehen! Ausziehen!“ rief. Tageko rollte mit den Augen. „Beware!“, flüsterte der Sänger gleich auf Englisch weiter. „Twilight is calling.“ Wieder ein paar einleitende Trommelschläge, Gitarrengeschrumme, und ein sanfteres Lied setzte ein, dessen Text Kouki dieses Mal gut verstand.   „Once, in a time of darkness, never-ending pain Hope was lost and evil pounded, blinding our eyes Blackened skies and thunderstorms sent down the burning A whole world sent straight into demise   This was our time Thus, we unite Defeating all the evil monsters lurking in the night   Will you stay by my side Will you stay Forever I am fighting the night Forever defeating my demons with pride Will you stay by my side?“   Es ging also um den Kampf des Guten gegen das Böse oder etwas Ähnliches. Renji schrie Kouki wieder etwas ins Ohr, doch er verstand ihn nicht.   „Still, we must carry on, the price we had to pay We gave for free and fought the darkness, peace to be restored Growing power, growing feelings, we will save the day Hope for all innocent, stop the evil horde   We will not fail We will prevail We fight to teach the darkness to fear the brilliant light“   „Was?“, schrie Kouki zurück und beugte sich zu ihm, aber Renji winkte ab und vertröstete ihn auf später, während der Sänger im Refrain wieder darum bat, dass jemand an seiner Seite bleiben möge. Nach dem diesmal längeren, erfrischend fröhlichen Solo kam wieder mal eine Bridge, die zum letzten Refrain überleitete.   „And in the end Sun rose again The evil ones were sent to sleep, the morning shone so bright   Will you stay by my side Will you stay Forever I am fighting the night Forever defeating my demons with pride Will you stay by my side?“   Die letzten Beckenschläge des Drummers verklangen. Kouki hörte Renji nur wie durch Watte, so laut war es hier drin. „Hey, was meint ihr? Passt doch irgendwie total zu uns, oder?“, fragte er. „Was meinst du?“ „Naja, zu uns. Uns dreien, und den anderen.“ Da hatte er eigentlich recht. Der Text war vage genug, um alles Mögliche zu meinen, aber Kouki hatte das Lied gefallen, und irgendwie war es cool, sich darin eingearbeitet zu fühlen. „Wir sollten das als Schachthymne oder so nehmen“, schlug Renji vor. „Gute Idee. Gleich nachdem du uns ein Banner gestickt hast“, spottete Tageko. „Sticken ist immer noch Frauensache.“ „Ihr scheint euch gut zu verstehen“, sagte das Mädchen von vorhin. Tageko winkte lässig ab. „Nein, wir sind es nur längst gewohnt, aufeinander rumzuhacken.“ Renji verzog das Gesicht, mies gelaunt, weil sie nicht auf seine Provokation einging. Der Sänger atmete mittlerweile schwer, aber er tat es mit einem Lächeln. Der Bassist klopfte ihm auf die Schulter, und der junge Mann durchkämmte einmal mehr mit den Fingern das sicher schon feuchte, blonde Haar. „Nachdem wir schon so einiges aus unserem Repertoire zum Besten gegeben haben, ist es wohl an der Zeit, dass ich unseren neuesten Fans sage, wer hier die Instrumente so quält. Also“, er deutete auf den Jungen links neben sich. „Hibiko am Bass.“ Hibiko spielte ein paar dumpfe Töne, seine Fans jubelten, aber immerhin kreischte Kouki niemand mehr ins Ohr. „Der Trommelwirbler mit den zittrigen Händen hinter mir: Geki!“ Das Publikum lachte heiter, Gekis Drumsticks verschwammen förmlich, als er damit auf sein Set hämmerte. „Und da drüben, unser erster Gitarrist.“ Der Frontmann deutete nach rechts auf den grinsenden Schwarzhaarigen. „Jemand, der immerhin zittrige Finger hat: Ren.“ Auch er spielte ein paar schnelle Takte und fing sich sein obligatorisches Jauchzen ein. Dann, als der Sänger keine Anstalten machte, weiterzusprechen, begann das Publikum zu rufen: „Yami! Yami!“ Er grinste. „Und mich vorzustellen, lohnt sich nicht, weil ihr wahrscheinlich viel lieber das nächste Lied hören wollt.“ Mit zwei Schritten war der erste Gitarrist bei ihm, riss ihm gespielt das Mikrofon aus der Hand und rief hinein: „Ladies and Gentlemen: der Mann, der sich nicht gern mit Selbstlob überhäuft und das deshalb immer jemand anderen tun lässt. Zweiter Gitarrist und Sänger, Yami!“ Er erntete definitiv den meisten Jubel. Ein älteres Mädchen in der vordersten Reihe warf irgendetwas auf die Bühne, das lange Banner, das Kouki vorher gesehen hatte, wackelte, als seine Stützpfeilerinnen auf und ab hüpften. „Siehst du, so schnell geht das“, sagte Ren und gab dem grinsenden Yami das Mikrofon zurück. Wieder hörte man Lacher aus dem Publikum. Laut verkündete der Sänger dann: „Wir sind Creators of Darkness’ Fear und wir spielen jetzt für euch: The Rise Of The Noble Ones!“ Es kamen noch weitere Songs, und Kouki erinnerte sich hinterher gar nicht mehr an alle. Das Konzert neigte sich dem Ende zu, aber selbst nach der Zugabe verlangten die Fans noch nach mehr. „Ihr wart wirklich ein Klasse Publikum!“, rief Yami dazwischen. „Wir hoffen, es hat euch so gut gefallen wie uns!“ Wieder ertönte ein kollektives „Jaaaa!“, und gleich danach brandeten die Zugabe-Rufe erneut auf. Yami lachte. „Leute, irgendwann müssen wir unsere Finger auch mal wieder ausruhen. Ich habe dafür eine Neuigkeit für euch, und ihr werdet verstehen, dass wir deswegen jede Pause nehmen müssen, die wir kriegen. Also – für jene, die es noch nicht wissen, unser neues Album ist ab Mitte Mai überall in Japan erhältlich. Und danach gehen Creators of Darkness‘ Fear auf ihre erste Welttournee!“ Wieder Wirbel und Hochstimmung. Kouki fragte sich, wie man so lange so laut schreien konnte, wie es diese Halle tat. „Und der erste Stop wird in Osaka sein, am zwanzigsten Juni, also wer von euch es bis dorthin schafft – wir sehen uns!“ Wieder wurden sie bejubelt, und danach spielten die vier noch ein winzig kurzes Stück. Als sie von der Bühne verschwanden – in grellem Licht diesmal, während sie in Finsternis gekommen waren –, schwappte das Publikum in Richtung der Saaltüren. Es dauerte ewig, bis Kouki, Renji, Tageko und ihre drei Freundinnen wieder an der frischen Luft waren. Mittlerweile war es dunkel geworden. War es wirklich schon nach sechs Uhr? Kouki hatte jedes Zeitgefühl verloren. „Woah, das war geil“, entschied Renji und streckte sich. „Geil ist nicht das Wort, das ich nehmen würde, aber es war ganz okay“, sagte Tageko. „Gib’s zu, du stehst doch sicher auch auf einen von denen, oder?“ Renji grinste frech. „Auf den Sänger oder auf den Bassisten. Es ist immer der Sänger oder der Bassist.“ „Bei Tageko kann ich mir das eigentlich nicht vorstellen“, warf Kouki ein, als er ihren abfälligen Blick sah. Dann überlegte er kurz. „Bei Fumiko übrigens auch nicht.“ „Fumiko würde niemals auf so einen oberflächlichen Typen hereinfallen!“, rief Renji, als hätte er irgendetwas in diese Richtung behauptet. „Damit implizierst du erstens, dass sie oberflächlich sind, und zweitens, dass es ihr Ziel wäre, irgendwelche Mädchen um den Finger zu wickeln“, meinte Tageko trocken. „Klar sind sie das“, behauptete Renji, und was immer er damit zum Ausdruck bringen wollte, verlor seine Wirkung, als er hinzufügte: „Ah, ich wünschte, ich wäre auch so wie die.“ Sie verabschiedeten sich von Tageko und den anderen und gingen zu zweit zur nächsten U-Bahn-Station. Kouki fand, dass es ein gelungener Nachmittag gewesen war – auch wenn er sich nach wie vor fühlte, als hätte ihm jemand Wolle in die Ohren gestopft. „Danke fürs Mitnehmen, übrigens.“ „Kein Ding. Freut mich, wenn’s dir gefallen hat.“ Sie stiegen in die nächste U-Bahn. „Ich wette, ich hab eins ihrer Lieder im Kopf, wenn wir das nächste Mal in der DigiWelt gegen dunkle Gestalten kämpfen“, sinnierte Renji. Bei der nächsten Station musste er umsteigen; Kouki fuhr weiter. Als er allein war, beschloss er, Fumiko eine SMS zu schreiben und ihr zu sagen, dass das Konzert ganz nett gewesen war. Kapitel 25: Jäger und Gejagte ----------------------------- Jagari hatte sich lange nicht mehr so gut auf Nightmare Bastion Wonderworld konzentrieren können. Für diesen Samstag war ein weiterer Raid angesetzt worden. BurstingStinger war auch mit von der Partie, außerdem noch fast dreißig andere, die sich in den Kopf gesetzt hatten, die Höhle der Verbotenen Träume zu durchqueren und das riesige, schweineartige Etwas in deren Herzen zu besiegen, das in Zockerkreisen gern scherzhaft das Ferkel genannt wurde. Seine Abenteuer in der DigiWelt hatten irgendwie dazu geführt, dass Jagari nun gelassener war. Er steigerte sich nicht mehr so sehr in das Spiel hinein. Diese Distanz brachte ihm einen besseren Überblick, mehr strategisches Denken … Man könnte sagen, obwohl das Spielen nicht mehr so viel Spaß machte, fiel es ihm dennoch leichter. Er erreichte mehr, was wiederum sein Vergnügen steigerte, und außerdem war es noch immer eine Sache von Ehrgeiz, diese Höhle zu bezwingen. Nach zwei Stunden Spielzeit waren etwa zehn Spieler ausgeschieden. Jagari lehnte sich seufzend zurück, als die Charaktere sich gegenseitig in einer leergeräumten Grotte heilten. Er bewegte seinen Nacken, der zu schmerzen begonnen hatte, und schüttelte seine Hände aus. „Du bis ja wie neu geboren, LordAres“, hörte er BurstingStinger im Teamspeak. „Danke. Du bist auch nicht schlecht.“ In der Punktewertung, die am Rand seines Bildschirms eingeblendet wurde, war Stinger nur einen Platz unter ihm selbst. Die ersten drei in der Rangliste würden sie wohl trotzdem nicht mehr einholen. PirateTask, Kewliiii und DarkMaster412 waren fast tausend Punkte in Führung, aber ihre Figuren waren auch um etliches stärker als Jagaris Magier. Sie besprachen die weitere Taktik. Es gab nur noch zwei Heiler in ihrer Gruppe, das war übel. Die stärksten Gegner lagen noch vor ihnen. Jagari wünschte sich, Taneo dabei zu haben. Ob er ihn für NBW begeistern konnte? Die Top drei dieses Raids waren auch keine üblen Strategen, aber Taneo hätte sie sicher in den Schatten gestellt. Jagari wurde schließlich ein Platz in den hinteren Gefechtsreihen zugewiesen, von wo aus er zaubern sollte. Dann ging es weiter, über schmale Stege und Schluchten voll Höllenfeuer, aus dem brennende Dämonen sprangen. Es ging auf Mitternacht zu, als der klägliche Rest von ihrer Truppe vor einem riesigen Tor aus schwarzem Metall stand. „Passt auf, dahinter wartet das Ferkel“, hörte Jagari PirateTask über sein Headset. „Leute, wir betreten gleich unerobertes Terrain.“ Das Wort gibt’s nicht, schrieb Kewliiii in den Chat. Von diesem Spieler hatte Jagari noch nie die Stimme gehört. Aus der Art, wie sie schrieb, vermutete Jagari, dass Kewliiii ein Mädchen war, das sein Geschlecht verschleiern wollte. Heilt nochmal, dann gehen wir rein, schrieb nun auch DarkMaster412. „Leute, legt euch endlich mal ein Mikro zu. Eure Anweisungen kommen sonst immer zu spät“, meinte Jagari feixend. „Dafür habt ihr ja mich“, sagte PirateTask. „Stinger, du gehst in die vordere Reihe. Ares, bleib hinten. Wenn alle geheilt sind, geht’s los.“ „Zu acht schaffen wir das nie“, meinte BurstingStinger mutlos. Das wird schon, machte Kewliiii ihm Mut. Der letzte verbleibende Heiler opferte all sein Mana, um seine Kameraden zu stärken. Jagari erzeugte ein paar Buffs, und PirateTask öffnete die Tür. Das Schwarz des Ladeschirms erschien, und als es wieder verschwand, fanden sich die Spielfiguren Auge in Auge mit sieben riesigen Flammen-Berserkern. Der Tanz ging los. Weiter hinten, unter einem Lavafall, wartete das Ferkel mit seiner gigantischen, zackigen Axt. Noch griff es zum Glück nicht ein. Die Berserker waren schwierig genug. BurstingStinger erwischte es als Ersten. Jagari hörte ihn durch sein Headset aufheulen, als sein Schwertkämpfer von der Feuerpeitsche eines Berserkers zu Asche verwandelt wurde. „Verdammt nochmal! Nicht mal bis zum Ferkel gekommen!“ „Entspann dich, ich geb dir was von der Ausbeute ab“, versprach Jagari. „Wow, super. Bist ‘n klasse Kumpel, Ares. Also dann, viel Glück noch.“ Da Stinger nicht mehr sehen konnte, wie der Kampf lief, sondern irgendwo vor der Höhle wiedergeboren wurde, klinkte er sich aus dem Teamspeak aus. Jagari bekam vor Aufregung mittlerweile schweißfeuchte Hände. Lange hatte er die Spannung in diesem Spiel vermisst. Der letzte Flammen-Berserker fiel und ließ ein feuriges Ei fallen. Kewliiii sammelte es ein, und jeder der verbliebenen Mitspieler erhielt es in seinem Inventar. Dann stand nur noch das Ferkel persönlich zwischen ihnen und der riesigen Schatzkiste, über die Ströme aus Lava liefen. Verdammt gut gemacht, fand Jagari. Für ein Spiel zumindest. Das Ferkel hatte noch nie jemand besiegt. Nur noch fünf von ihnen waren übrig, und das Ding zog Jagari die Hälfte seiner Lebenspunkte ab, allein durch einen Schrei, den es ausstieß und der sie alle traf. „Hoho, das Ferkel quiekt ja hässlich!“, krähte PirateTask. „Passt auf, es geht angeblich immer zuerst auf die Magier.“ Ihre Angriffe prasselten auf den Bossgegner ein, verursachen aber kaum Schaden. „Verdammt, kann den keiner irgendeine coole Spezialfähigkeit einsetzen?“, ächzte Jagari, als er nur durch einen Hitzeschild die nächste Attacke überlebte. DarkMaster412 schien sich dazu berufen zu fühlen. Er lief direkt vor das Ferkel, sein Vampirkrieger ließ den Stab über dem Kopf wirbeln, und violettes Licht glühte um seinen Körper herum auf, verbreitete sich immer weiter und ließ die ganze Höhle schimmern. „Alter!“ PirateTask stieß einen Pfiff aus. „So einen Move hab ich noch nie gesehen.“ Dann ging alles gleichzeitig. Das Licht schwappte in alle Richtungen davon, überrollte das Ferkel, dessen Lebenspunkte rasten dem Nullpunkt entgegen, das violette Strahlen wurde immer greller, Jagaris DigiVice, das neben ihm auf seinem Schreibtisch lag, glühte auf, und dann wurde plötzlich der Bildschirm finster. Im ersten Moment begriff Jagari nicht, was los war. „H-hey!“, war das Erste, das er herausbrachte. „Nicht jetzt!“, stöhnte er. Stromausfall? Nein, der PC arbeitete noch. Hatte der Monitor etwas? „Leute, hört ihr mich noch?“, rief er in sein Headset-Mikro. „Ich höre dich noch“, krächzte eine metallische Stimme aus den Lautsprechern und ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Der Bildschirm flammte wieder auf, die Höhle wurde sichtbar. Die Leichen der anderen Spielfiguren lagen herum, irgendetwas musste sie getötet haben. Das Ferkel selbst lag besiegt unter dem Lavastrom und wurde langsam transparent. Jagaris Magier lebte noch mit einem einzigen HP. War das Zufall? DarkMaster412 stand vor ihm. Sie waren die Letzten, die in diesem Dungeon am Leben waren. Er sollte sich freuen … aber warum machte sein Mitspieler keine Anstalten, den Schlüssel zur Truhe aufzuheben, den das Ferkel verloren hatte? Wie hatte er diesen Endgegner überhaupt mit einer einzigen Attacke überwältigen können? „Ich bin mir jetzt sicher“, hörte er die Stimme des anderen wieder. Jagaris Schrecken klang langsam ab. Also hatte DarkMaster einfach nur eine hässliche Stimme und sich deshalb immer nur schriftlich mitgeteilt … „Du bist es. Du bist einer von ihnen.“ „Was meinst du?“, fragte Jagari. „Ich habe es gespürt ... das DigiVice, das neben dir liegt.“ Jagari sprang von seinem Stuhl auf. Er sah aus den Augenwikeln, wie Motimon auf seinem Bett zusammenzuckte. Was? „Wer … Wer bist du?“ Der Vampirkrieger … veränderte sich. Was das möglich? Was war das für ein Ding, das da verpixelt vor Jagaris Magier stand? Gab es diese Spielfigur überhaupt? Hatte das ganze verdammte Spiel einen Virus? Die Arme des Wesens reichten bis zum Boden, sein Kopf war mit Metall gepanzert – es sah viel zu futuristisch aus für eine Figur aus Nightmare Bastion Wonderworld. Und es wuchs, es wurde immer größer, bis es den ganzen Bildschirm einnahm. „Wir warten auf euch“, schnarrte das Wesen. Die Stimme schien nicht mehr nur allein aus dem Headset zu kommen, sondern … direkt aus dem Bildschirm? War so etwas möglich? „Ihr solltet euch nicht zu viel Zeit lassen. Unser Jäger ist ungeduldig. Er schlachtet eine Menge Unschuldiger ab. Ich soll euch ausrichten, dass er euch herausfordert, in den Dörfern in der Nähe des Walds der Vier Jahreszeiten.“ Endlich fiel bei Jagari der Groschen. „DarkMaster … du bist ein … ein …“ Die Verpixelung verschwand, der Kopf des Wesens wurde auf Jagaris Bildschirm sichtbar, als stünden sie sich direkt gegenüber. Drei Augenpaare funkelten ihn aus einem gehörnten, goldenen Helm an. Und damit nicht genug. Zwei mit goldenen Krallen bewehrte Hände drückten gegen die Innenseite des Monitors, als wollte dieses Ding ausbrechen. Und genau das tat es. Die Hände sickerten durch die Oberfläche des Bildschirms, als bestünde sie aus Wasser. Zwei braune, nach altem Leder riechende Arme schoben sich in Jagaris Zimmer, packten die Ränder des Monitors, als wollte das Wesen sich daraus hervorziehen. „Motimon!“, schrie Jagari panisch. Der Kaugummigeist war zur Stelle, ehe er seinen Namen zuende gerufen hatte. Sein DigiVice erglühte wieder, ließ Motimon zu Elecmon werden – doch weiter konnte es unmöglich gehen, ohne sein Haus zu zerstören. Die nunmehr stumme Maske folgte den Armen, breite, dunkel gepanzerte Schultern wurden sichtbar. Elecmon sprang auf den Schreibtisch, aber sein Stromschlag würde dem Ding sicher nichts anhaben, wenn es wirklich ein Asura war … Strom! Geistesgegenwärtig beugte sich Jagari unter den Schreibtisch und riss den Stecker aus dem Computergehäuse, dann den des Bildschirms aus seinem Verteiler. Ein hässliches Zischen wurde laut, und als Jagari schweißgebadet den Kopf hob, waren der Bildschirm tot und das Digimon verschwunden.   „Und … fertig. Sorry, dass ich dich so lange hab warten lassen.“ „Schon okay. Aber warn mich besser das nächste Mal schon am Telefon vor, dass du noch ein paar Feinschliffe vornehmen willst.“ Taneo nahm sein DigiVice von Kentarou entgegen. Sein Cousin zuckte grinsend mit den Schultern. „Wenn mir im letzten Moment noch einfällt, was man verbessern könnte, gibt’s eben einen Hotfix. Und der hier hat eben ein paar Stunden gedauert. Leb damit.“ „Ich hab ja gesagt, schon okay.“ Prüfend beobachtete er das kleine Gerät. Äußerlich sah es aus wie immer. „Sieh zu, dass du die Tastenkombination nicht vergisst“, warnte Kentarou ihn. „Ich konnte keinen neuen Schalter einbauen, also musste ich mit denen Vorlieb nehmen, die schon drauf waren.“ Taneo nickte und wollte eben etwas zu Kokuwamon sagen, als sein Handy klingelte. „Entschuldige“, sagte er zu seinem Cousin und hob ab. „Hallo?“ „Taneo?“ Jagaris Stimme klang zittrig und schwach, wie nach einem Dauerlauf. Taneo runzelte alarmiert die Stirn. „Was ist los?“ „Ein … Ein Digimon!“, brachte der Junge heraus. „Ein Asura! In meinem Computer!“ Taneos Stirnrunzeln vertiefte sich. „Wie meinst du das, in deinem Computer?“ „Es wollte herausklettern! Aus dem Bildschirm!“ Jagari war so aufgelöst, dass sich seine Stimme überschlug. „Ich hab ganz normal NBW gezockt, und auf einmal war einer der Mitspieler … Taneo, es hat mit mir gesprochen! Und es hat gesagt, dass SkullScorpiomon … o Gott …“ „Reiß dich zusammen“, sagte Taneo beschwörend. „Erzähl mir genau, was passiert ist. Geht es dir gut?“ „Nein – ja! Ich hab den Stecker rausgezogen, da ist es verschwunden. Aber die DigiWelt … Taneo, sie wollen uns erpressen! SkullScorpiomon nimmt sie als Geiseln!“ „Wen, Jagari? Hol tief Luft und liefere mir einen ganzen, klaren Satz!“ Langsam wurde Taneo ungeduldig. Irgendetwas Schlimmes ging vor, so viel hatte er verstanden. Er konnte hören, wie Jagari schluckte. „SkullScorpiomon wartet auf uns. Es greift die Dörfer in der Nähe von diesem Jahreszeitenwald an, weil wir nicht in die DigiWelt zurückkommen.“ „Also hat es dich herausgefordert“, stellte Taneo fest. „Diese Mistkerle.“ „Ich weiß nicht, was ich tun soll! Es wird die Digimon dort sicher töten, aber ich kann nicht alleine … Was sollen wir tun?“ „Ganz ruhig, Jagari. Hast du den anderen schon Bescheid gesagt?“ „Den anderen – was? Nein. Du warst der Erste. Soll ich … sie auch anrufen? Wollen wir uns bei mir treffen? Ich weiß nur nicht, was meine Mutter sagt, wenn wir mitten in der Nacht … Und was ist, wenn sie schlafen?“ Taneo warf Kokuwamon einen prüfenden Blick zu, dann Kentarou. „Hör zu, Jagari“, sagte er beruhigend, „leg dich hin und ruh dich ein wenig aus. Oder trink eine Tasse Tee.“ „A-aber SkullScorpiomon …“ „Überlass das einfach mir, okay? Tu, was ich dir sage, und entspann dich ein wenig. Ich melde mich, wenn ich dich brauche, ja?“ „Ich … ja, okay …“, murmelte Jagari. „Gut. Bis dann.“ „Ähm, ja – warte, Taneo. Danke“, brachte er heraus. Taneo legte auf und sah Kokuwamon grimmig an. „Bist du bereit für ein nächtliches Abenteuer?“ Der Käfer entfaltete knatternd die Flügel. „Immer.“ „Kentarou, ich darf doch sicher kurz deinen Computer benutzen?“ „Klar. Hört sich ja spannend an.“ Kentarous Sommersprossengesicht grinste vorfreudig. „Du hast nicht vergessen, was du mir versprochen hast, oder? Nimmst du mich mit, wenn du in die DigiWelt gehst?“ „Heute nicht“, sagte Taneo ernst. „Aber irgendwann bestimmt.“   Die Sterne beleuchteten eine Verwüstung aus zerfurchter Erde und eingestürzten Holzhütten. Die Bäume in der Nähe entsprachen dem Herbst, trostlos und blattlos, und wie ihre Skelette ragte SkullScorpiomons Silhouette im Dorfzentrum auf. Es klackerte vorfreudig mit den Scheren. „Da seid ihr ja“, geiferte es. „Hat euch NeoDevimons Einladung also erreicht. Nanu?“ Es stierte mit seinen kleinen Augen in die Dunkelheit. „Wo sind die anderen?“ Taneo und Cyberdramon traten auf es zu. „Mehr als uns braucht es nicht, um dich zu besiegen“, erklärte er grimmig. SkullScorpiomon lackte keckernd. „Du spuckst wohl gern große Töne!“ „Du spuckst gleich Blut“, knurrte Taneo. „Oder diese Datenreste oder was immer das ist, das aus toten Digimon herausfliegt! Was hast du den armen Digimon angetan?“ „Welchen Digimon?“ Skullscorpiomon präsentierte überheblich die Scherenarme. „Siehst du hier irgendwelche Digimon?“ Tatsächlich war das Dorf leer. Taneo biss die Zähne zusammen. „Sie waren unschuldig“, zischte er. „Diese Digimon hatten nichts mit unserem Kampf zu tun. Wir wären früher oder später von alleine wieder hergekommen. Ich wäre sogar gekommen, wenn du den Digimon nur gedroht hättest. Du hättest sie nicht umbringen müssen!“ Er blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sein Tonfall wurde kalt. „Immerhin hast du uns die Mühe erspart, dich zu suchen. Jetzt wirst du büßen.“ „Genug geredet“, beschloss das Jägerdigimon. Sein Maul öffnete sich, und ein Schwall gleißender Lichtblitze schoss daraus hervor. Es hielt sich gar nicht erst mit Cyberdramon auf – Taneo war das Ziel. Sein Digimon baute sich schützend vor ihm auf, die Krallen glühend. Licht traf auf Licht, und die beiden Attacken löschen sich aus. Dann ging Cyberdramon zum Angriff über, seine Flügel peitschten Taneos Haar durch. „Ausradierkralle!“ Die Krallen leuchteten wieder, Energie sammelte sich in einem Ball und stieß auf das Asura zu. Doch das Skorpiondigimon war flink. Seine knochendürren Gliedmaßen trippelten über aufgewühlte Erde, brachten es in Sicherheit. Der Lichtstrahl pflügte durch den Boden, knapp außer Reichweite. „Zu langsam!“, fauchte es hämisch. „Aber wir können fliegen“, gab Taneo zurück. Cyberdramon schoss in die Lüfte und stieß wie ein Raubvogel auf den Skorpion herab. Wieder sprang SkullScorpiomon gerade rechtzeitig fort von ihm. Sein Schwanz zuckte, der im Sternenlicht blitzenden Klinge entging Cyberdramon um Haaresbreite. Dann wirbelte das Asura herum und verpasste seinem Gegner einen Hieb mit seiner linken Schere, so gewaltig, dass es Cyberdramon in eine der leeren Holzhütten krachen ließ. Späne und Balken stoben auf, knickten wie Streichhölzer, das Digimon wurde halb darunter begraben. „Hab ich dich“, gackerte SkullSkorpiomon und entließ ein weiteres Blitzstakkato auf Cyberdramon. Dieses aktivierte wieder seine Ausradierkralle, löschte den Angriff zuverlässig aus, ehe er seinen Körper erreichen konnte. Schwerfällig und unter Dauerfeuer richtete es sich auf, seine Flügel warfen den hölzernen Ballast ab. „Nicht aufgeben, Cyberdramon!“, rief Taneo. „Halte dich an unseren Plan!“ Mit einem lauten Knurren stemmte sich Cyberdramon gegen das Nadelprasseln, kämpfte sich einen Schritt nach vorn, dann noch einen, schlug mit den Flügeln, um Schwung zu holen. SkullScorpiomon hielt eisern die Stellung, spie unermüdlich Nadeln und hielt bereits die riesigen Scheren bereit. Es dauerte eine schiere Ewigkeit, ehe Cyberdramon direkt vor ihm stand, kaum noch zu erkennen in dem Blitzgewitter, das da in der Dunkelheit tobte. SkullScorpiomons Scheren öffneten sich – und Cyberdramon riss die glühenden Arme auseinander, schlug die Greifarme des Digimons zur Seite. Im gleichen Moment trafen Hunderte und Aberhunderte glühende Stacheln seine Brust, doch es war noch nicht am Ende. „Ausradierkralle!“ Seine Klauen fuhren senkrecht auf SkullScorpiomon herab, ließen Wellen aus Energie über dessen Knochenkörper rasen. Ein Windstoß wurde entfacht, der das Digimon fast von seinen dürren Beinen riss. Dann glühte Cyberdramon auf, digitierte zu Kokuwamon zurück und lag wehrlos am Boden. „Kokuwamon!“ Taneo stürmte zu seinem Digimonpartner. Wo der Kampf getobt hatte, war der Boden umgepflügt wie auf einem frischen Acker. Keuchend schwenkte SkullScorpiomon zu ihm herum. Das Digimon war übel mitgenommen. Cyberdramons letzte Ausradierkralle hatte einen rechten Scherenarm abgerissen, und sein Knochenpanzer wirkte brüchig und zerfetzt. „Dachtet ihr, mit so einer läppischen Attacke könntet ihr mich besiegen?“, krächzte es. Taneo blieb stehen und setzte ein ungerührtes Gesicht auf. „Nein“, gab er zu. „Aber vielleicht mit zwei von der Sorte.“ SkullScorpiomon öffnete den Mund zu einer verwirrten Erwiderung. Taneo grub die Absätze seiner Sneakers in die weiche Erde, um festen Stand zu gewinnen. Seine Hand, die blind die Knöpfe seines DigiVices gedrückt hatte, zog sich zurück, und er krümmte die Finger, duckte sich. Das kleine Gerät, das Kentarou modifiziert hatte, glühte in einem Licht, wie es Taneo noch nie gesehen hatte, dumpfer, grünlich und trotzdem so ähnlich wie jedes Mal bei Kokuwamons Digitationen. Er fühlte unbändige Kraft aus dem Licht hervorsteigen, fühlte, dass er nur danach greifen musste, um sie in sich aufzusaugen … Und er griff danach. Etwas sammelte sich in seinen Händen, seine Fingernägel begannen zu schimmern. Perplex verharrte SkullScorpiomon, doch auch Taneo konnte für den Moment nur staunen. Fühlte sich so Cyberdramon, wenn es eine Attacke entließ? Er meinte, etwas würde ihn verbrennen … Diese Kraft durfte nicht in seinem Körper bleiben, er musste sie auf etwas richten … Taneo atmete tief durch, konzentrierte sich. Die Kraft nahm eine Form an, die er gut kannte. Zeit, abzurechnen. „Ausradierkralle!“, brüllte er und stieß seine Hände von sich. Der Windsturm, den er entfesselte, hätte ihn fast umgeworfen, wie der Rückstoß einer gewaltigen Waffe. Sein Haar, seine Kleider flatterten, Erdkrumen und kleine Steine flogen neben ihm davon, als der Lichtstrahl aus seinen Fingern brach und SkullScorpiomon frontal traf. Das Asura krächzte schrill, wurde hintenüber gerissen. „Wie? Wie?“ Bis zum Schluss konnte es seine Fassungslosigkeit nicht zum Ausdruck bringen. Er zerbrach wie eine Glasskulptur, löste sich in die altbekannten Datenreste auf, die sich sammelten und gen Himmel trieben. Taneo hatte keine Gegelenheit, sie zu beobachten. Er fühlte sich schwindlig, und … Sein DigiVice blinkte wie verrückt. Mit fahrigen, taub gewordenen Fingern nahm er es vom Gürtel. Das Display flackerte, grün und orange und gelb und grün und grün … Dann flimmerten die Farben durcheinander, mit Taneo zuckte zusammen, als unterhalb er obersten Glasschicht plötzlich ein kleiner Riss aufklaffte. Im gleichen Moment stöhnte Kokuwamon auf, glühte in befremdlichem Licht, flackerte und digitierte zurück. Mit einem erschrockenen Schrei stürzte er zu ihm. „Kapurimon! Was ist mit dir? Kapurimon!“, rief er, obwohl das Digimon nicht einmal mehr wie Kapurimon aussah, eher wie eine kleine, metallisch graue Maus mit blitzförmigen Ohren. Die Äuglein waren schmal, zusammengepresst. Wieder und wieder rief Taneo seinen Namen, bis es endlich wieder aufwachte. „Taneo …“, piepste es. Er drückte es an seine Brust. „Oh, Gottseidank! Was ist mit dir? Alles in Ordnung?“ „Ich fühle mich nur so müde …“ „Du bist zurückdigitiert … Warte, ich bringe dich zurück zu Kentarou, wir päppeln dich wieder auf!“ Schon stand er auf, lief über den verwüsteten Dorfplatz und suchte das Waldstück, das sie durch einen Fernseher betreten hatten. In der Ferne grollte Donner. „Was ist denn passiert?“, murmelte das Digimon. Taneo schwieg, zwängte sich durch das Unterholz. „Es hat geklappt“, sagte er dann. „Wirklich?“ Die Augen des Digimons glänzten. Taneo wandte den Blick ab. Er schämte sich. „Leider nicht ganz so, wie ich gehofft habe.“ Er besah sich wieder das DigiVice mit dem Sprung im Display. Er war klein, aber … Es war doch kein Schaden für sein Digimon entstanden, oder? Er betete, dass es okay war. „Dieses Attacken-Kopieren … Das ist wohl nicht wirklich ausgereift“, murmelte er, während der Fernseher in Sicht kam. „Dein Cousin kann es sicher richten“, versuchte es ihm Mut zu machen – selbst jetzt noch, dabei fühlte er sich schuldig! Das war unverantwortlich gewesen! Verdammt, was, wenn Kapurimon irgendetwas passiert wäre? „Nein“, sagte er entschlossen und presste die Lippen fest zusammen. „Genug von dem Thema. Wir belassen es bei diesem Experiment.“ Kapitel 26: Die Finsterzitadelle -------------------------------- Der kommende Montag war ungewöhnlich warm für diese Jahrezeit, und so trafen sie sich am Vormittag im Schulhof. Jagari lugte immer wieder nervös zu Taneo, ob dieser etwas über die Vorkommnisse in der DigiWelt zu verlieren gedachte, aber der Junge wirkte wie immer. „Also, Vorschläge?“, fragte Tageko in die Runde. „Diese Woche wieder in die DigiWelt? Ja – nein?“ „Gute Frage“, sagte Taneo. „Eine lange Auszeit haben wir noch nicht genommen. Vermutlich erwarten sie uns noch immer.“ „Ich bin dafür, dass wir rübergehen“, sagte ausgerechnet Renji. „Auf der faulen Haut liegen können wir später auch noch, wenn wir sie besiegt haben. Ich bin hochmotiviert!“, erklärte er grinsend. Tageko nickte. „Wir stimmen einfach per Mehrheit ab“, beschloss sie. „Ich bin dagegen. Die Sache ist nämlich die – das neue Schuljahr hat erst begonnen, aber es sieht jetzt schon schwer aus, mit dem Lernen mitzukommen. Oder geht es nur mir so?“ „Die paar Prüfungen.“ Renji winkte ab. „Sei nicht so selbstsüchtig.“ Gerade von ihm klang das seltsam, aber Jagari enthielt sich jedes Kommentars. „Ich bin nicht selbstsüchtig“, entgegnete Tageko. „Vergesst nicht, dass wir unfreiwillig in diese Sache hineingerutscht sind.“ „Trotzdem helfen wir freiwillig, die DigiWelt zu retten“, warf Kouki ein. „Eben. Obwohl uns streng genommen niemand gefragt hat, nehmen wir das alles auf uns. Wir haben alle Samen bis auf zwei gereinigt. Der DigiWelt droht also keine ewige Dunkelheit mehr, da einige der Lichter wieder funktionstüchtig sind. Ich finde, es wäre dumm, unsere eigene Zukunft über der der DigiWelt zu vergessen, wenn diese gar nicht mehr so düster aussieht. Und wenn wir in der Schule schlecht abschneiden, bekommt das unserer eigenen Zukunft schlecht.“ Die anderen ließen ihre Worte sickern. „Wenn ich ehrlich bin“, meinte Kouki mit einem unlgücklichen Lachen, „wäre mir ein wenig Auszeit auch ganz recht. Meine Noten sind wirklich bescheiden. Meine Hausaufgaben und diese Sachen auch. Und daran ist die DigiWelt nicht ganz unschuldig, will ich meinen. Wenn es eh nicht ganz sicher ist, ob wir nicht noch warten sollen, dann lasst uns warten. In der Goldenen Woche haben wir außerdem viel besser Zeit.“ „A-aber …“, begann Jagari, „auch wenn wir die Samen gereinigt haben, solange die Asuras am Leben sind, kann sonstwas in der DigiWelt passieren!“ „Wir können die Asuras sowieso nicht direkt angreifen“, meinte Tageko. „Wenn, dann müssen wir die Lichtsamen erwischen und uns stärkere Digimon besorgen. Und dabei nützt uns das Überraschungsmoment mehr.“ „Aber … die Asuras töten unschuldige Digimon!“, platzte es aus Jagari heraus. „Das ist nicht gesagt“, meinte Tageko beschwichtigend. „Bisher schienen sie es vor allem auf uns …“ „Ein Asura hat es mir am Computer gesagt!“, rief Jagari, das Gesicht gerötet. Sofort schnellten alle Blicke zu ihm. „Und ich hab es Taneo weitergesagt“, fügte Jagari kleinlaut hinzu. Nun wandten sich aller Augen an Taneo. „Wir brauchen uns keine Sorgen mehr darüber zu machen“, sagte Taneo nach einem Moment des Schweigens. „SkullScorpiomon hat versucht,  unschuldige Dorfdigimon als Geiseln zu nehmen. Dank der Ausradierkralle kann es das nun nicht mehr tun.“ Die anderen starrten ihn entgeistert an. „W-wann hattest du vor, uns das zu sagen?“, fragte Tageko irritiert. Taneo zuckte mit den Schultern. „Ich wollte es nicht geheim halten. Wenn es sich ergeben hätte, hätte ich es sicher erwähnt.“ „Du hast ganz alleine mit Cyberdramon SkullScorpiomon besiegt?“, fragte Kouki überrascht. Auch Jagari konnte sich eines bewundernden Blickes nicht erwehren. „Das war mehr als leichtsinnig“, schalt ihn Tageko. Taneo biss die Zähne zusammen. „Das weiß ich selbst. Kokuwamon ist danach auf sein niedrigstes Level zurückdigitiert. Ich … glaube, es wäre sogar fast gestorben.“ Er umschloss sein DigiVice fest mit der Faust. „Keine Alleingänge mehr, ja?“, fragte Tageko. Taneo nickte. „Versprochen. Ich wäre übrigens auch dafür, dass wir noch warten, bis die Goldene Woche beginnt. Durch meine Aktion sind die Asuras sicher immer noch wachsam. Das war erst in der Nacht auf gestern. Und ich glaube, Kokuwamon braucht noch eine Weile, um wieder seine volle Stärke zurückzuerlangen.“ Er warf Jagari einen Blick zu. „Und ich glaube, es war ihnen eine Lehre.“ „Du meinst, weil sie uns erpressen wollten?“, fragte Fumiko. Taneo nickte. „Sie wollten uns in die DigiWelt locken, weil wir ihrer Meinung nach zu lange inaktiv waren. Die anderen wussten von SkullScorpiomons Taten. Jetzt haben sie eine klare Botschaft erhalten. Wir kommen schon wieder zurück und kämpfen gegen euch. Aber wenn ihr uns einzeln herausfordert, bekommt euch das schlecht. Das haben wir ihnen mitgeteilt.“ „Aber dann kann es immer noch passieren, dass sie uns alle auf einmal herausfordern“, meinte Kouki besorgt. „Ehrlich gesagt hab ich vor dem Moment schon ziemlichen Bammel.“ „So etwas könnten wir ohnehin nicht abwehren“, erkärte Tageko. „Ob bei den Lichtsaaten oder woanders. Gegen alle Asuras auf einmal kommen wir nicht an.“ „Dafür schlagen wir zu, wenn ihre Anspannung etwas nachgelassen hat“, meinte Taneo. „Und bis dahin denke ich mir eine neue Strategie aus.“ So wurde beschlossen, dass die DigiRitter erst wieder Ende April in die DigiWelt gehen würden, wenn endlich schulfrei war.   „Der Plan gefällt mir nicht“, meinte Renji. „Es ist aber nicht so, als wäre ich müde oder so.“ Jagari gähnte. „Ich finde ihn gut“, widersprach Kouki. Es war Montag, der dreißigste April und damit der erste Tag der Goldenen Woche – und es war kurz vor drei Uhr nachts. „Die Asuras werden kaum wissen, wann wir Ferien haben. Für uns ist es der günstigste aller Zeitpunkte. Es ist jetzt fast einen Monat her, seit wir zuletzt in der DigiWelt waren, sie sind sicher ungeduldig oder wenig aufmerksam.“ Um Jagari etwas zu entlasten, hatten sie sich dieses Mal bei Renji getroffen. Seine Eltern waren auf einem Kurzurlaub bei irgendwelchen heißen Quellen und hatten ihren Sohn zuhause gelassen. Die Nachbarn schliefen bereits, als die DigiRitter im Schutz der Dunkelheit bei der Wohnung der Oyaras klingelten. Renji hatte sie in sein Zimmer geführt. Fumiko hatte nie ein unordentlicheres Zimmer gesehen. Wäsche lag kreuz und quer, Poster von Fuballspielern blätterten bereits von den Wänden, auf dem Schreibtisch herrschte ein Chaos aus Zetteln und Büchern, das wohl noch von Renjis Versuchen stammte, für die Prüfungen zu lernen. Sein Computer war an und surrte laut. „Was meinst du?“, fragte Tageko, an Fumiko gewandt. „Wo hat er seine Pornomagazine versteckt?“ Sie überlegte nur kurz. „Es ist Renji, von dem wir hier reden“, sagte sie und streckte deutend den Arm aus. „In der Schreibtsichschublade.“ Als Tageko einen Schritt darauf zumachte, sprang ihr Renji förmlich in den Weg. „Hey!“, rief er. „Nichts anfassen, ja? Das ist privat.“ „Genau das vermuten wir ja“, flötete Tageko, und Fumiko musste gegen ihren Willen lachen. „Können wir dann mal?“, drängte Jagari, der bereits vor dem Computer stand. „Lass sie doch“, grinste Kouki. „Wenn Tageko mal einen Witz macht, muss man den auskosten.“ Renji drängte sich, gröber als notwendig gewesen wäre, an seinen Monitor und entdeckte, dass er bereits angemeldet war. „Du – sag mal, hast du gerade mein Passwort gehackt, du kleiner Computerfreak?“, fuhr er Jagari entgeistert an. „Gehackt nicht gerade“, erlärte dieser und grinste dabei sogar. „Aber wenn du ein einziges Enter als Passwort hast, muss man nicht lange raten.“ „Immerhin ist es Renji, um den es hier geht“, fügte Fumiko trocken hinzu, und diesmal lachte Tageko. „Ha-ha“, knurrte Renji. „Schön, dass ihr euch in meinen vier Wänden so amüsiert. Können wir dann los?“ Sofort wurden alle wieder ernst und präsentierten ihre DigiVices. Renji spielte mit seinem DigiVice Gennais Karte auf seinen PC, wählte ein Gebiet an und dann ließen sie sich alle auf altbewährte Art in den Monitor saugen. Sie hatten eines der Gebiete genommen, das an das Feld mit dem Lichtsamen grenzte. Dieses Mal allerdings das, das dem Dornenwald gegenüberlag. Wenn Fumiko sich nicht irrte, musste in der Richtung zwar auch ein Wald liegen, aber vielleicht ein nicht ganz so undurchdringlicher. Sie würden die Ebene im Schutz der Dunkelheit mit Zwei Ultra-Digimon überrennen und den Samen reinigen, ehe die Asuras eine Gegenoffensive starten konnten. Taneos Plan hatte ursprünglich sogar vorgesehen, dass sie sich aufteilten und jeder aus einer anderen Richtung kommen würden, aber Tageko hatte es vehement abgelehnt, dass sie sich trennten. Sie war in letzter Zeit mehr und mehr in die Rolle der Anführerin geschlüpft, während Taneo immer mehr ihr strategischer Berater wurde. Fumiko hoffte, dieses Mal auch ihren Beitrag leisten zu können. Sie sollte die Erste sein, die den Samen reinigte – eine schmerzliche Erinnerung daran, dass ihr Digimon immer noch nicht mehr als ein lebloses Ei war. Der bunte Sog war wie immer, und als sie in der DigiWelt landeten, umgab sie pechschwarze Dunkelheit – aber Fumiko merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Der Boden war rau und hart, und es roch auch nicht nach Wald, sondern nach … einer Gruft? „Wo sind wir?“, fragte Jagari ängstlich. Eine Taschenlampe wurde angeknipst, und Tageko beleuchtete grauschwarze, glatte Steinwände, über ihnen ein Gewölbe, und auf der anderen Seite wieder eine Wand. Sie runzelte die Stirn. „Du hast dich nicht zufällig vertippt, oder, Renji?“, fragte Kouki vorsichtig. „Seh ich so blöd aus?“, schnappte Renji. „Verflucht, was soll das?“ „Seht mal.“ Fumikos Stimme klang ausdruckslos. Sie hatte ihre eigene Taschenlampe eingeschaltet und den Strahl auf einen Haufen viereckiger Geräte gelenkt, der hinter ihnen emporragte. Fernseher. Ein gutes Dutzend Fernseher, die eigentlich woanders liegen sollten … In dem Moment, in dem sie die Geräte bemerkten, fuhr von oben nach unten ein roter Blitz durch sie. Mit einem ohrenbetäubenden Klirren zerbarsten alle Monitorgläser auf einmal und sprühten den DigiRittern als Scherbenhagel entgegen, eine viertel Sekunde später zerbarsten die Fernseher selbst. Gestank breitete sich in dem Raum aus, ähnlich dem einer überhitzten Automobilkupplung. Renji und Kouki fluchten wie aus einem Mund. Taneo packte sein DigiVice, Kokuwamon erhob sich bereits flatternd, die anderen wichen zurück ... Von der Decke tropfte etwas, ein großer, schleimiger blauer Klumpen. Wie ein Gummiball  sprang er vom Boden wieder in die Höhe, hielt in der Luft an, wurde flach und breit. Vor ihnen schwebte eine Art Spiegel aus Wasser oder Eis oder undurchsichtigem Glas, der in der Mitte entzweiklappte. In der oberen Hälfte wurde eine vampirähnliche Gestalt sichtbar. „Willkommen in meiner Zitadelle, DigiRitter“, sagte das Digimon süffisant. „Ich habe bereits auf euch gewartet.“ „LordMyotismon“, stieß Kouki aus. Das Vampirdigimon rollte eine Weintraube zwischen den Fingern. Seine Stimme erklang aus dem blinden Spiegel, als es sagte: „Dachtet ihr, wir wüssten nicht, wohin ihr als Nächstes gehen würdet? Zum Glück sind wir auf das Geheimnis dieser Fernseher gestoßen. Eine Schande, dass wir sie nie gründlicher untersucht haben Zu Zeiten unserer Herren kamen die Menschen noch auf anderem Wege auf die DigiWelt.“ Irgendwo quietschte etwas. Die DigiRitter fuhren herum. „Euer Empfangskomitee“, erklärte LordMyotismon. „Ich wünsche euch ein passendes Ende, DigiRitter.“ Es zerquetschte die Weintraube zwischen seinen Fingern, dann erlosch das Bild. Das Flattern kleiner Flügel ertönte in dem staubigen Raum, die Lichtnadeln der Taschenlampen stocherten durch die Dunkelheit. Etwas huschte durch den erhellten Bereich, zu schnell, um es zu erkennen. Und plötzlich ging das Licht an, Fackeln an den Wänden entzündeten sich wie von selbst. Und beleuchteten eine wuselnde Wolke aus kleinen, dunkelblauen Digimon, die rings um sie herum ausschwärmten. „Fledermäuse!“, kreischte Jagari. Tageko trug heute die Analyzer-Brille und schob sie sich vors Gesicht. „DemiDevimon“, sagte sie – und erstarrte. „Lauft!“, schrie sie plötzlich. „Die können doch unmöglich so …“, begann Kouki, als sie ihn einfach am Handgelenk packte und mit sich zerrte. Die anderen beeilten sich, ihnen zu folgen. Sie setzten über den geschmolzenen Haufen der Fernsehgeräte und stürmten bis zur anderen Wand des Raums, in der eine schwere Eisentür eingelassen war. Gut, dass sie nun etwas sehen konnten …   Der Schreck saß Jagari noch in den Gliedern, und nach nur wenigen Schritten hatte er Seitenstechen. Er konnte kaum ruhig atmen … Die schwarze Masse hinter ihnen quoll ihnen hinterher, er sah Flügel wackeln, hohe Stimmen schrien etwas – und ein Pfeilhagel ergoss sich über die DigiRitter. Fumiko hob schreiend die Arme über ihren Kopf, Renji stieß einen fast komisch anmutenden Laut aus und duckte sich im Laufen, und Tageko legte einen Sprint hin, zu dem wohl nur sie fähig war, den armen Kouki regelrecht hinter sich her schleifend. Taneo und Jagari fielen zurück, aber Elecmons Blitzschlag pulverisierte die spitzen Geschosse, die sich auf sie herabsenkten. Überall im Raum prasselten die Dinger zu Boden und zerbrachen auf hartem Gestein. Pilze flogen in den Schwarm der DemiDevimon, lösten staubige Explosionen aus. Kokuwamon war verschwunden, aber Jagari vermutete, dass der Schatten, der ein DemiDevimon nach dem anderen aus der Wolke pflückte und pulverisierte, Thunderboltmon war. Die Ersten erreichten die Tür. „Passt auf die Spritzen auf!“, schrie Kouki, während Tageko an der Klinke arbeitete, wütend dagegen schlug und gegen die Tür trat. Spritzen? Erst jetzt wurde Jagari bewusst, was die Dinger waren, die die DemiDevimon schleuderten. Die weißen Kanülen waren nur den Bruchteil einer Sekunde zu sehen, ehe sie zerschellten – aber sie waren riesig, die blitzenden Nadeln an der Spitze mindestens zehn Zentimeter lang. „Abgesperrt?“, fragte Fumiko atemlos, als sie die Tür erreichte. Hinter ihnen wütete ein Kampf, Digimon gegen Digimon. „Klemmt“, sagte Tageko nur und stemmte sich ächzend gegen das Eisen. „Macht Platz!“ Renji hielt gar nicht erst inne. Mit der Schulter voraus warf er sich gegen die Tür, und mit einem kurzen Quietschen gab sie nach. Der Junge stolperte, überschlug sich auf gefliestem Boden. Die anderen folgten in den breiten Flur, zuletzt die Digimon. Eine Spritze flog noch durch die Öffnung, einige weitere zerplatzten an der Tür, als Kouki und Fumiko sie zuwarfen. Jagari sank zu Boden und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Sind alle da?“, fragte Tageko. „Das solltest du fragen, bevor ihr die Tür zuschmeißt“, meinte Renji trocken. Er hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht seine Schulter. Jagari warf einen Blick in die Runde und nickte. Es schien allen gut zu gehen. „Gottseidank“, seufzte Tageko. „Die Spritzen haben niemanden erwischt, oder?“ Alle verneinten. „Wieso?“, fragte Jagari. „Die Attacke dieser Biester heißt offenbar Giftpfeile“, sagte Tageko nur. „Oh.“   „Wo sind wir hier nur gelandet?“ Renjis Frage war rhetorisch, aber Kouki antwortete trotzdem. „In LordMyotismons Zitadelle, wie es scheint.“ „Und wie kommen wir wieder raus?“ „Das musst du Myotismon schon selbst fragen.“ Der Gang war so breit wie eine Straße in der Innenstadt. Säulen schmückten glatte Wände aus schwarzem Stein, an einigen davon brannten Fackeln. Auch die Decke war schwarz; es war, als wollte die Düsternis sie einsaugen. „Vor oder zurück“, sagte Fumiko. „In eine andere Richtung können wir nicht.“ Sie entschieden die Richtung durch Abstimmung. Renji war es herzlich egal – beide Wege sahen gleich aus. Ihre Schritte hallten laut in dem Flur wieder, richtig unheimlich war das. Es fehlten nur die rostigen Rüstungen, und er hätte sich wie in einer westlichen Ritterburg gefühlt. In einer Spukburg. Vorsichtshalber waren alle Digimon aufs Champion-Level digitiert. Tageko hatte gemeint, die DemiDevimon wären nur Rookies gewesen, aber es waren verdammt viele, und wer wusste schon, was sich in den Schatten hinter den Säulen noch so alles verstecken konnte? Fürs Erste nichts. Sie erreichten eine Biegung, und dahinter teilte sich der Gang sternförmig. „Auch das noch“, brummte Taneo. „Irgendetwas sagt mir, dass wir mitten in einem Labyrinth sind.“ Der Ansicht war Renji auch, obwohl er es freilich nicht zugab. Er sah sich um, auf der Suche nach irgendeiner Besonderheit, vielleicht einem Pfeil oder einer Art Wandschmuck oder einfach irgendwas, aber die Gänge sahen alle gleich aus. Sie waren nur nicht mehr so breit. „Gut. Die nächste Abstimmung?“ „Wir können ewig so weitermachen“, seufzte Tageko, als Kouki plötzlich den Finger an die Lippen legte und nach links deutete. Aus einem der Gänge drang ein leises Klacken. Zumindest dort schien jemand zu sein. Aber war es eine Falle? Die DigiRitter musterten einander und nickten fast kollektiv. Auf Zehenspitzen schlichen sie in die Richtung, die Digimon zuvorderst. Dieser Gang war von weiteren eisernen Türen gesäumt. Sie wagten nicht, auch nur eine einzige davon zu öffnen. Hoffentlich würden sie ebenfalls quietschen, wenn in ihrem Rücken Feinde daraus hervorströmen sollten. Eine einzelne Tür stand einen Spalt offen. Das regelmäßige Klicken kam eindeutig aus diesem Raum. Die DigiRitter und ihre Digimon bauten sich davor auf, nickten einander wieder zu, dann drückte Renji die Tür auf. Es war wohl eine Kerkerzelle oder etwas Ähnliches. Gitterstäbe teilten den Raum, der niedrig und ebenfalls ganz aus Stein war. Die Stäbe hatten etwas Ungewöhnliches an sich, sie glänzten schwarz, wie es in dem schummrigen Licht eigentlich unmöglich sein müsste – fast war es, als hätte jeder Stab eine Aura aus pechschwarzer Düsternis. Die DigiRitter hüteten sich, zu nahe zu treten. Ein Digimon war in der zweiten Hälfte der Kammer eingeschlossen, deren Wände das gleiche Schwarz zur Schau stellten. Es wandte ihnen den Rücken zu, weiß wie ein Geist und mit einem Hexenhut auf dem Kopf. Langsam drehte es sich herum, etwas Buntes in seinen Händen löste sich in Luft auf, zu schnell, als dass Renji es hätte erkennen können. Eine hässliche Gespensterfratze musterte sie. „Wer seid ihr denn, frage ich mich?“ Die Stimme klang leise, erschöpft. „Selbe Frage“, sagte Kouki und man merkte den Unterschied in der Kraft der Stimme. Sofort zischte Tageko ihm ein Psst zu. „Ich? Ich bin ein einfaches Soulmon“, erklärte das Digimon und wandte sich ihnen nun ganz zu. „Du siehst mir aus wie ein Bakemon. Mit denen hatte ich schon zu tun“, entgegnete Kouki. „Waren nicht die angenehmsten Zeitgenossen.“ Soulmons Mund krümmte sich ein wenig. Vielleicht wollte es lächeln – sein Gebiss sah einfach nur schaurig aus. „Bakemon sind Soulmon ohne Benehmen. Soulmon sind Bakemon mit Stil. Egal, welches Digimon man ist, manche können sich ihre Herren aussuchen, andere nicht“, sagte es rätselhaft. „Und hast du dir zufällig ein gewisses Asura als Herrn ausgesucht, wenn wir schon dabei sind?“, fragte Fumiko mit blitzenden Augen. „In dem Fall säße ich nicht hier fest. Aber warum sprechen wir nicht von euch? Ich habe noch nie Menschen in der Finsterzitadelle gesehen. Was tut ihr hier?“ „Erwähntes Asura töten“, sagte Taneo. „Was?“, fügte er pikiert hinzu, als er Tagekos strafenden Blick sah. „Verstehe. Sehr schön. LordMyotismons Arroganz ist unzumutbar.“ „Können wir dir irgendwie helfen?“, fragte Jagari unschuldig. Renji traute diesem Digimon nicht über den Weg. „Um mir zu helfen, tut, weswegen ihr gekommen seid. Vielleicht kann ich euch helfen. Bakemon sind dumm, Soulmon sind weise. Soulmon sind Bakemon mit einer Seele. Habt ihr irgendwelche Fragen? Ich beantworte auch Tiefgründiges und diskutiere gerne über jeden Aspekt des Seins. Der Sinn des Lebens? Die Macht, die die Welten zusammenhält? Die Gefühle verstorbener Digimon? Ich spüre, dass es euch interessiert. Ich spüre die Kraft und die Lebensenergie in euch Menschen. Vielleicht kann ich eure Zukunft vorhersagen? Du scheinst einen Lebenswillen zu besitzen, der dich weit bringt, Mädchen. Du wirst ein höheres Alter erreichen als ihr anderen“, sagte es und deutete auf Fumiko, ehe es sich dann Taneo zuwandte. „Oder aber … du, Junge, übertriffst es noch. Ich spüre …“ „Uns reicht, wenn du uns sagst, in welcher Richtung wir den Ausgang finden“, unterbrach Kouki den Redeschwall. Der schwachen Stimme zuzuhören war ohnehin langweilig geworden. „Den Ausgang? Oder LordMyotismon?“ „Beides, aber mach klar, was was ist“, grinste Kouki. „Wie ihr wünscht.“   Soulmon verwehrte es ihnen letztlich zu versuchen, die Gitterstäbe aufzubrechen. Das wäre unmöglich und gefährlich, sagte es, solange LordMyotismon lebte. Offenbar hatte es sich gegen das Asura aufgelehnt und war deswegen hier eingesperrt – mehr war nicht aus ihm herauszubringen. Fumiko war froh, als sie wieder auf den Gang traten. Das Geistdigimon war ihr unheimlich – nicht weil es ein Geist war, sondern weil sie das Gefühl hatte, dass es besser war, ihm nicht zuzuhören. Ob sie nun den Ausgang suchten oder den Thronsaal der Zitadelle, in dem LordMyotismon sich aufhalten musste, der erste Teil des Weges war derselbe. Sie gingen zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren, öffneten eine Eisentür in einiger Entfernung, immer wachsam, ob Soulmon sie nicht doch austricksen wollte. Zuerst hatte es den Anschein, denn die Halle, in die sie kamen, war voller Geister. Ein großer Luster wachte über den Raum, der langgezogen und vollgerammelt war mit hölzernen Tischen. Darauf lagen graue Fleischkeulen und allerlei unappetitliches Zeug. Offenbar speisten LordMyotismons Anhänger hier. Und besagte Anhänger waren grüne Geister mit behandschuhten Fäusten und quietschbunten Sombreros, die Tageko als Ponchomon identifizierte. Fröhliches Geplapper erstarb, als sie die DigiRitter bemerkten. Dann öffneten die Digimon wieder ihre Münder – doch statt Lachen und Schwatzen quollen Feuerbälle daraus hervor. Es war nicht notwendig, dass eines ihrer Digimon auf das Ultra-Level digitierte, sie bezwangen die Geister auch so. Fumiko fand es nur frustrierend, dass wieder einmal alle anderen die Arbeit übernahmen. Die Ponchomon flogen außerhalb ihrer Reichweite, und sie war sich nicht einmal sicher, ob ihre Judo-Kniffe bei Geistern fruchteten. Als die grünen Körper sich in Datenströme auflösten und nun wohl endgültig das Digimon-Jenseits betraten, erwachte zu guter Letzt auch noch der Luster zum Leben. In den Kerzenflammen wurden Gesichter erkennbar, und sie sprangen den DigiRittern regelrecht entgegen. Meramon machte es sich zur Aufgabe, die Flämmchen, die aussahen wie jene auf seinem Kopf als Candlemon, persönlich auszulöschen, und kurz darauf waren sie Geschichte – aber erst, nachdem Woodmon half, weil es nichts brachte, Feuer mit Feuer zu bekämpfen. Die DigiRitter durchquerten den Raum und kletterten eine steile Wendeltreppe nach unten, folgten einem weiteren Gang, einer neuerlichen Biegung, den nächsten Treppenstufen. Das erste richtig gefährliche Digimon, das sich ihnen in den Weg stellte, war ein Devidramon-Dämonendrache, so groß wie der Gang, in dem sie sich befanden. Ursprünglich ein Impmon auf dem Rookie-Level, digitierte es direkt vor ihren Augen und sperrte ein geiferndes Maul auf – allerdings hatte seine massige Gestalt wenig Möglichkeiten, den Attacken der Digimon auszuweichen. Tyrannomon klammerte sich schließlich an es, während Kouki seine ArmorEier ausspielte, Devidramon schwächte und es Meramon überließ, ihm den Rest zu geben. Langsam waren sie ein eingespieltes Team, fand Fumiko. Alle, nur sie nicht. Irgendwann – es war beachtenswert, dass Taneo sich immer noch an Soulmons Wegbeschreibung erinnerte – erreichten sie einen weiteren, recht breiten Gang mit grauen Bodenfliesen. In einer Richtung lag nun – angeblich – der Thronsaal, in der anderen die Freiheit. „Was meint ihr?“, fragte Kouki. „Kämpfen oder fliehen?“ „Fliehen“, sagte Tageko sofort. „Hier gibt es keinen Lichtsamen.“ „Und es ist unheimlich hier“, ergänzte Jagari. „Wie mutig“, ätzte Renji. „Ich bin für Kämpfen.“ „Es wäre eine willkommene Gelegenheit, ein weiteres Asura loszuwerden. LordMyotismon wirkt auf mich nicht wie jemand, der sich von seinen Kollegen im Kampf helfen lässt“, überlegte Taneo. „Fliehen“, sagte Renji daraufhin. Als ihn Taneos funkelnder Blick traf, hob er abwehrend die Arme. „War ja nur’n Scherz.“ „Was ist mit dir, Fumiko?“, fragte Kouki. „Warum sagst du nichts dazu?“ Sie verschränkte unbehaglich die Arme. „Ich sollte da nicht mitbestimmen. Kämpfen werdet sowieso ihr, eure Meinung zählt also viel eher.“ „Unsinn. Wir sind ein Team, oder?“, Kouki warf einen gewinnenden Blick in die Runde, und die anderen nickten. „Also schön.“ Fumiko seufzte. „Ich bin auch für Kämpfen. Die Digimon sehen noch nicht allzu erschöpft aus. Vielleicht können wir LordMyotismon wirklich bezwingen.“ „Dann kämpfen wir“, beschloss Kouki, und Tageko gab schließlich nach. Allzu weit konnte der Thronsaal nicht entfernt sein, als die Anspannung wuchs. Die Fackeln waren hier so spärlich, dass sie wieder ihre Taschenlampen brauchten. Im Licht funkelten weitere Eisentüren, ansonsten schluckten die schwarzen Wände jede Helligkeit. Taneo, der als Erster ging, schien etwas zu entdecken, denn plötzlich leuchtete er den Boden direkt vor sich ab. Tageko kam interessiert näher. „Was hast du da?“ Plötzlich flammte ein Licht vor ihnen auf, nur ganz kurz, als hätte jemand ein Foto von ihnen geschossen. „Das war eben super-unauffällig“, knurrte Renji. „Was hast du jetzt wieder angerichtet?“, stöhnte Tageko auf. „Kann man dich nicht einmal die Führung übernehmen lassen?“ „Was war das?“, fragte Jagari ängstlich. Die ganze Zeit schon sah er sich gehetzt um, als ob dieses bisschen Dunkelheit ihn in seinem tiefsten Innern furchtbar erschütterte. Dieser Feigling. „Eine Digimon-Attacke war das nicht, oder?“ Fumiko warf Kouki einen fragenden Blick zu. Was er wohl dazu zu sagen hatte? Wobei, was interessierte sie schon seine Meinung? Er hatte doch ohnehin meistens keinen Plan von dem, was gerade geschah. Er spürte ihren Blick. „Ist was?“, fragte er heiser. „Nein. Was soll sein?“ „Was starrst du dann so blöd?“ „Könnt ihr mal den Rand halten?“, knurrte Renji. „So hört uns jedes Asura in drei Kilometern Entfernung.“ „Sagt gerade der Richtige“, kommentierte Tageko. „Wie war das?“, fuhr er sie gereizt an. „Du sollst deinen Mund halten, du dämlicher Idiot!“ Taneo schnaubte ob ihres Streits und ging schweigend weiter. „Hey, wo willst du hin? Bist du dir plötzlich zu gut für uns?“, rief Tageko ihm hinterher. „Bleib sofort stehen, du kleiner Klugscheißer!“ „Halt doch dein verdammtes Maul!“, giftete er, blieb aber stehen. „Als ob ich irgendeinen von euch bräuchte, um LordMyotismon zu besiegen. Thunderboltmon und ich schaffen das alleine!“ „So sieht’s aus“, piepste auch Thunderboltmon, das sich wohl besonders toll vorkam, wie es dort über Taneos Schulter schwebte. „Ha! Du bist ja ein Schwächling! Was willst du schon tun?“, fragte Meramon. „Dich steck ich immer noch mit links in die Tasche.“ Tyrannomon lachte brüllend, und die beiden funkelten es an. „Mir reicht’s. Macht doch alle, was ihr wollt“, knurrte Kouki resigniert und stapfte einfach auf einen der Seitengänge zu, die von hier abzweigten. Gatomon würdigte die anderen keines Blickes und folgte ihm. „Gute Idee. Seht doch, wo ihr bleibt.“ Tageko rümpfte die Nase und betrat mit Woodmon einen anderen. „Idioten“, sagte sie noch zum Abschluss. Was Fumiko mit zwei Kindern und einem Riesenbaby allein ließ. Schnaubend drehte sie sich um. Sie würde schon einen anderen Weg zu LordMyotismon finden. Und falls nicht, würde sie einfach die Finsterzitadelle verlassen. Wenn sich die anderen mit ihren Digimon so toll vorkamen, sollten sie doch die Arbeit übernehmen, und überhaupt, was kümmerte sie die DigiWelt?   Nachdem auch Fumiko verschwunden war, beschloss Renji auf Jagari rumzuhacken – einfach, weil er Lust dazu hatte und weil es selten dämlich aussah, wie der Kleine mit dem einen Auge, das man durch seine Frisur sehen konnte, herumstarrte und dabei zornig die Stirn runzelte. „Willst du nicht auch lieber abhauen und zu Mami laufen?“ „Pass lieber auf, Renji“, sagte Jagari böse. „Tyrannomon ist größer als du!“ „Oh, da hab ich jetzt aber Angst. Glaubst du, es hätte irgendeine Chance gegen Meramon? Selbst auf dem Ultra-Level nicht!“ „Tyrannomon könnte dich mit links in die Tasche stecken! Es ist viel stärker als all eure Digimon zusammen!“ „Wenn das so ist, zeig uns doch, was es kann. Versuch doch, LordMyotismon zu besiegen, und ich nehm alles zurück. Vielleicht“, sagte Renji überheblich. „Das tu ich auch! Du wirst schon sehen!“ Jagari zeigte ihm noch den Mittelfinger und wollte an ihm vorbei gehen, aber Renji stieß ihn zurück. „Halt! Königsweg. Den breiten Flur nehme ich. Du kannst ja sonst einen Weg zum Thronsaal suchen. Versuch doch, LordMyotismon zu erwischen, bevor Meramon und ich ihm einheizen.“ Jagari ballte in stummer Wut die Fäuste, sah aus, als wollte er Renji anspucken, und stapfte dann in den Gang, den Tageko zuvor betreten hatte. „Ja, genau! Lauf nur unserer netten Anführerin hinterher! Als ob die noch mehr Schmeicheleien bräuchte!“, rief Renji noch, ehe Jagari in den Schatten des Seitenganges verschwand. „Bist du bald fertig mit Rumschreien?“, ragte Taneo trocken. „Nein. Fast!“, brüllte Renji. „So, jetzt bin ich fertig.“ „Toll. Können wir dann?“ „Du hast mir gar nichts zu sagen, Penner“, knurrte Renji, aber sie setzten sich beide gleichzeitig in Bewegung und folgten dem Gang. „Ich schwöre dir, wenn wir LordMyotismon in den Arsch getreten haben und irgendwo einen Lichtsamen finden, gehört er mir!“ „Der Lichtsamen ist ganz woanders. Aber von mir aus, ich brauche ihn ja nicht mehr.“ „Angeber. Sieh lieber zu, dass Cyberdramon nicht episch versagt.“  Kapitel 27: Der König der Vampire --------------------------------- Mit zornumwölkter Miene sah Tageko Jagari in einigem Abstand zu sich stehen, gerade, als die Faust des metallischen Digimons gegen Woodmons Rinde krachte und es im hohen Bogen durch den Gang schleuderte. Natürlich rührte der kleine Schädling keinen Finger, um ihnen zu helfen, Tyrannomon ebenso wenig – aber das machte nichts. Tageko wurde mit diesem hässlichen Digimon auch alleine fertig, das dreist genug war, sich ihnen in den Weg zu stellen. SkullMeramon, verriet ihr die Analyzer-Brille. Auf dem Ultra-Level. „Woodmon, du musst digitieren“, rief sie und streckte die Hand mit dem DigiVice aus. Das baumähnliche Digimon glühte auf – und sah mit einem Mal nicht mehr so robust, dafür größer und furchterregender aus. „Spiralblume!“ Die Blumen auf Blossomons Tentakeln rotierten, dass man sie nur noch als verschwommene braune Schatten erkennen konnte. Wie Giftschlangen stießen sie auf das Metalldigimon herab, das die erste Blume wegschlug und vor allen weiteren davonsprang. Mit klirrenden Stiefeln landete es auf dem glatten Boden der Zitadelle. „Was für ein netter Zeitvertreib.“ Seine Stimme klang heiser, aber nicht menschlich. „LordMyotismon wird es mir hoffentlich gönnen, euch persönlich zur Hölle zu schicken.“ SkullMeramon öffnete den Mund in seiner Metallmaske, und eine blaue Stichflamme schoss daraus hervor.   „Links! Nochmal! Jetzt rechts! Wieder links!“ Kouki kam mit den Kommandos kaum nach. Rabbitmon schoss flink wie ein Wiesel zwischen den Beinen des riesigen Digimons hindurch, das es zu zertrampeln versuchte. LordMyotismon ließ die Gänge nahe seines Thronsaals wohl von seinen stärksten Dienern bewachen – auch wenn Kouki dieses Monstrum eher in den Hauptgang gestellt hätte. Es sah aus wie ein übergroßer Elefant ohne Augen, dafür mit metallenem Rüssel. Der Leib war mit struppigem Fell bedeckt, sodass es ein bisschen an ein Mammut erinnerte. Seine schiere Größe füllte den schmalen Gang fast vollständig aus – was es Kouki einerseits unmöglich machte, an ihm vorbeizugelangen, andererseits seinem Gegner kaum Bewegungsfreiraum ließ. „Wir versuchen was anderes“, rief er, als Rabbitmon unter dem dröhnenden Stampfen der Elefantenbeine keine Gelegenheit bekam, seinerseits anzugreifen. Kouki hielt das DGX-Terminal in der Hand. „DigiArmorEi des Mutes, erstrahle!“ Rabbitmon rollte sich aus der Ein-Mammut-Stampede hervor, wurde kurz zu Gatomon und dann sofort zu Lynxmon, noch ehe es wieder auf den Füßen zu stehen kam. Der erwünschte Effekt trat ein: Das Mammut stieß ein erschrockenes Tröten aus, als plötzlich Flammen an seinen Beinen hochschlugen. Mit einem Satz, den Kouki einem so plumpen Digimon nie zugetraut hätte und der die Wände des Ganges erzittern ließ, brachte es sich in Sicherheit. „Gut“, rief Kouki erfreut. „Wir brauchen die anderen nicht. Dieses Ding schaffen wir, selbst wenn wir nur zu zweit sind! Wir haben schließlich noch eine eigene Rechnung mit LordMyotismon offen!“ Lynxmon fauchte und sprang das Mammutdigimon mit von sich gestreckten Krallen an.   Wieder einmal nippte LordMyotismon an seinem Weinglas, und dabei dachte es nach, wie es den DigiRittern wohl eben gehen mochte. Sie waren den DemiDevimon zwar entwischt, aber gemäß seinem Plan müssten sie sich mittlerweile in den Gängen der Festung verstreut haben, wo sie seine Soldaten pflücken würden wie reife Beeren. Es saß in dem bequemen Stuhl inmitten seines Thronsaals. Der Saal war riesig, die Decke hoch genug, dass die Lichtstrahlen, die tagsüber durch die schmalen Fensterschlitze kam, LordMyotismon nicht störten. Viel eher sorgten sie für Zwielicht, Zwielicht von der Art, die schwerer mit Blicken zu durchdringen war als Finsternis, an die sich Augen gewöhnen konnte. Zumindest galt das für Digimon – Menschen würden in dieser Halle ohnehin nicht lange genug leben. LordMyotismon ließ das Weinglas los, als es Schritte vom Gang draußen hörte. Es schwebte wie von Zauberhand davon und verschwand in den Schatten des Saals. Das Digimon war gespannt, welcher der sechs DigiRitter sich wohl in den Hauptgang verirrt hatte. Die Schritte kamen näher – aber irgendetwas stimmte daran nicht. Ein DigiRitter samt Partner, das hätte zwei Paar Füße gemacht. Doch da waren eindeutig drei zu hören, als wäre da noch ein Wesen, das sie begleitete … Ehe LordMyotismons übernatürliche Sinne die Schritte der Größe und Gestalt ihrer Verursacher zuweisen konnten, waren seine Gäste schon an dem riesigen, eisernen Tor angelangt, das einen Spaltbreit offen stand. Und tatsächlich schoben sich gleich zwei Menschen hindurch: Ein großer, schlaksiger mit blonden, kurzen Haaren, dem ein Meramon auf dem Fuß folgte, und ein etwas kleinerer, braunhaariger mit einer Narbe quer im Gesicht. Sie traten ein, erstarrten halb, als sie LordMyotismon auf seinem Thron sitzen sahen wie einen Schatten, stellten sich dann aber unweit des Tores auf und sahen entschlossen und grimmig aus. LordMyotismon seinerseits brauchte nur Sekunden, um seine Überraschung zu überspielen. „Sieh an“, sagte es laut. „Zwei DigiRitter haben den Weg in meinen Thronsaal gefunden, und das Seite an Seite. Ehe ihr nun sterben werdet, verratet mir, wie ihr meiner Attacke entkommen seid.“ Die beiden Jungen sahen sich an. „Attacke? Wovon redet es?“, fragte der mit der Narbe. „Ist doch egal. Hauen wir ein paar Mal auf es drauf, und es wird nie wieder was reden“, meinte der Blonde. „Wie ich dich kenne, hast du wieder einen oberschlauen Plan, oder? Lass mal hören. Wenn ich ihn gut finde, halt ich mich vielleicht sogar mal dran.“ Nun war LordMyotismon wirklich verblüfft. Was war mit den beiden geschehen? „Wie kommt es, dass ihr euch nicht zerstritten habt? Ich bin mir sicher, dass meine Albtraumwelle euch alle erwischt hat.“ „Es meint sicher diesen seltsamen Lichtblitz“, murmelte der Junge mit der Narbe. „Also war das doch keine Einbildung?“, sinnierte der andere. Natürlich hatten sie keine Ahnung, was die Albtraumwelle mit ihnen angestellt hatte. Aber bei diesen beiden hatte sie nicht funktioniert, und ihre Ahnungslosigkeit kam für LordMyotismon einer Beleidigung gleich. „Die Attacke hätte euren Geist verändern, die Ströme in euren Gehirnen umkehren müssen“, erklärte es deshalb. „Ihr hätte beginnen müssen, euch zu hassen. Hat sich eure Gruppe nicht entzweit?“ „Jetzt wo du es sagst, ich hab eine Stinkwut auf die anderen“, knurrte der Blonde. „Ich auch“, murmelte der andere. „Verstehe. Das war seine Schuld.“ „Ich frage euch ein letztes Mal. Wie kann es sein, dass ihr beide weiterhin gegen mich zusammenarbeiten wollt?“ LordMyotismon wurde langsam ungeduldig. „Wieso nicht?“ Die DigiRitter schienen ebenso verwirrt wie das Asura. „Du bist unser Feind“, erklärte der kleinere nur. „Ihr müsstet euch gegenseitig beschimpfen. Ihr müsstet euch verfluchen, euch hassen. Warum tut ihr das nicht?“ „Tun wir doch.“ Der Blonde starrte den anderen ratlos an. „Ich kann Taneo nicht ausstehen. Was ist mit dir?“ „Selbiges. Es ist genau wie immer“, meinte der andere säuerlich. „Aber deswegen werden wir dich trotzdem für all das, was du der DigiWelt angetan hast, büßen lassen.“ „Richtig. Wir verkloppen dich, dann können wir heim und müssen uns für den Rest der Woche nicht mehr sehen. Klingt doch gut, oder?“, fragte der Blonde, und der andere nickte. Nun war LordMyotismon wirklich sprachlos.   Man konnte nicht behaupten, dass Fumiko sich vor Spinnen fürchtete. Ebenso wenig konnte sie verstehen, wie man beim Anblick eines achtbeinigen Tierchens derart in Panik geraten konnte wie zum Beispiel ihre Freundin Aiko. Diese war einmal kreischend auf einen Stuhl gesprungen, als eine Spinne zu ihren Füßen gekrabbelt war. Fumiko war auch gesprungen, allerdings mit dem Absatz auf die Spinne drauf, vornehmlich, um Aikos Geschrei abzustellen. Nein, Fumiko fürchtete sich definitiv nicht vor Spinnen. Dennoch war es eine Sache, harmlose Insekten zu zertreten, und eine ganz andere, fast selbst von einem riesigen, achtbeinigen Ungetüm zertreten zu werden. Fumiko war schon ziemlich weit gekommen. Der breite Gang hatte ein paar leichte Biegungen gemacht, aber wenn die Finsterzitadelle nicht gerade so groß war, dass selbst ihre Bewohner auf ihren täglichen Rundgängen mehrere Kilometer zurücklegten, hätte bald ein Ausgang in Sicht kommen müssen. Stattdessen war ein haariges Etwas vor ihr in der Dunkelheit aufgetaucht, so groß wie ein Nashorn. Kouki hatte ihr mal von seiner Begegnung mit einem solchen Wesen erzählt – es war ein Dokugumon. Fumiko war einem violetten, sicherlich giftigen Sprühregen mehr durch Glück entkommen und hatte dann auf dem Absatz kehrtgemacht. Momentan rannte sie den Gang wieder zurück, den sie eben gekommen war. Sie hörte nur ihre Schritte, die laut auf dem Stein widerhallten, und ihr eigenes, keuchendes Atmen. Die seidigen Spinnenbeine hinter ihr waren fast lautlos. Sie hatte es aufgegeben, über ihr DigiEi nachzugrübeln. Sie hatte es sogar dieses Mal mit, aber sie wusste, dass es ohnehin nicht schlüpfen würde. Immer wieder geriet sie in Versuchung, sich einfach umzudrehen und den Kampf mit dem Dokugumon aufzunehmen. Ihre sogenannten Freunde würden staunen! Nur die Tatsache, dass keiner von ihnen ihr zusehen konnte, hielt sie vermutlich davon ab. Und die Tatsache, dass es ohne Digimon vermutlich nicht ratsam war, eine gigantische Giftspinne herauszufordern. Der Idiot Renji hätte es vielleicht getan, aber sie würde sich etwas anderes einfallen lassen. Fumiko biss die Zähne zusammen und rannte weiter. Sie hatte Zeit, bis sie die anderen irgendwo erreichte. Bis dahin musste ihr eine Idee gekommen und das Spinnenvieh tot sein.   Renji fand LordMyotismon lange nicht so bedrohlich wie zum Beispiel Orochimon. Das sollte das Digimon sein, das Kouki so übel mitgespielt hatte? Er war wirklich ein Weichei. „Los, Meramon. Zeigen wir’s ihm.“ Wenn Taneo einen Plan hatte, sollte er den gefälligst mit ihren Handlungen abstimmen. Meramon stieß ein vorfreudiges Fauchen aus. Ein Feuerball verließ seine rechte Hand, dann noch einer seine linke, und beide waren auf LordMyotismon gezielt, das sich wohl zu gut dafür war, von seinem bequemen Sessel auf der kleinen Empore aufzustehen. Dann würden sie es halt im Sitzen fertigmachen. Das Vampirdigimon hob nur die Arme. Meramons Feuerkugeln zerbarsten wirkungslos an seinen Handflächen. „Ihr überrascht mich immer wieder, DigiRitter“, sagte es ruhig. „Doch hier endet eure Reise. Eure Freunde kämpfen im Moment gegen meine stärksten Diener. Ihr werdet meine Zitadelle niemals wieder verlassen.“ Renji war es herzlich egal, wie es um seine angeblichen Freunde stand. Nur LordMyotismons plötzliches Lächeln, das spitze Eckzähne entblößte, beunruhigte ihn. „Denkst du, ich würde dich nicht spüren?“ Wie beiläufig schlug es nach hinten, als wollte es eine lästige Fliege verscheuchen. Ein dumpfes Geräusch begleitete seinen Treffer. Thunderboltmon, für das menschliche Auge unsichtbar gewesen, wurde davongeschleudert. Taneo nagte an seiner Daumenkuppe. „War das alles, was Meramon draufhat, Renji?“, fragte er. „Hä? Ich hör wohl nicht recht. Wessen Digimon wurde denn eben fortgeklatscht?“ Taneo zeigte ihm einfach die kalte Schulter und wandte sich direkt an Meramon. „War das alles?“ „Ha! Wirst du gleich sehen!“ Angestachelt schleuderte das Flammendigimon weitere Feuerkugeln auf Myotismon, das diese mühelos abwehrte und nur überheblich weiterlächelte. Es griff seinerseits nicht an, sondern schien abzuwarten und sich eine geeignete Strategie auszudenken. Und genau dieses Denken war sein Fehler. Das erkannte sogar Renji. Plötzlich erstarb das Lächeln des Vampirdigimons. Das war genau in dem Moment, als ein riesiger, glühender Schatten hinter ihm auftauchte, und in dem Licht der folgenden Ausradierkralle sah Renji, wie zumindest der hübsche Sessel sich in Staub auflöste. Dann zwang die plötzliche Helligkeit ihn, die Augen zusammenzukneifen. Meramon hörte mit seinem sinnlosen Bombardement nicht etwa auf, sondern verstärkte noch seine Bemühungen, so lange, bis auch Renji wieder etwas sah. Im ersten Moment konnte er sich gar nicht auf seine Sinne konzentrieren. Etwas in seinem Unterbewusstsein blitzte auf, ganz kurz nur, als wäre eine Luftblase in seinem Geist geplatzt, die etwas anderem den Platz weggenommen hatte, der nun wieder davon gefüllt wurde. Plötzlich konnte er klarer denken als noch vor einem Moment – und er stieß einen lautlosen Fluch aus. Er hatte seine Freunde in Gedanken beschimpft. Hatte ihnen Dinge unterstellt, die sie nicht verdienten, selbst Kouki und Fumiko. Sogar Taneo kam ihm plötzlich nicht mehr so abstoßend vor. Er hatte gewusst, dass LordMyotismon einen Trick angewandt hatte, um sie alle auseinanderzubringen, aber erst jetzt, da der Bann gebrochen war, begriff er das Ausmaß des Zaubers. Und er begriff, dass ihm seine Freunde doch etwas bedeuteten. Mehr, als er sich immer hatte eingestehen wollen. Denn das waren sie – Freunde. Irgendwie. Renji ballte die Fäuste, wütend auf sich selbst, weil ihn dieser Gedanke so unvorbereitet traf, nachdem sie sich erst vor kurzem in die Haare gekommen waren. Und wütend auf LordMyotismon. Für einen Moment hoffte er, dass das Asura noch lebte, damit er es sein konnte, der ihm den Garaus machte. Er sah sich die Verwüstung an, die Cyberdramon hinterlassen hatte. Der Marmorboden war aufgebrochen, als hätte ein riesiger Wurm darin gewütet. Von dem Sessel war tatsächlich nichts mehr zu sehen, von LordMyotismon auch nicht mehr gerade viel. Taneo ließ ein nachdenkliches Geräusch hören, als er es ebenfalls bemerkte.   Jagari hatte irgendwann beschlossen, dass Tageko alleine nicht fähig war, dieses Digimon zu bezwingen. Obwohl sie ihn wütend angezischt hatte, sie und Blossomon allein machen zu lassen – oder vielleicht gerade deswegen –, hatte er Tyrannomon angewiesen, mitzumischen. Das Metalldigimon hielt sich selbst gegen zwei Gegner gut, aber ihr Teamwork war auch grottenschlecht. Genauso wie Jagari Tageko den alleinigen Triumph nicht gönnte, eckten auch ihre Digimon immer wieder aneinander an. Bis plötzlich etwas in Jagaris Bewusstsein aufflammte und er und Tageko sich verdattert anstarrten. Was hatten sie einander eben noch zugeschrien? Sie mussten von Sinnen gewesen sein. Und sie bekamen sogar die Gelegenheit, in Ruhe darüber zu sprechen. Das Metalldigimon zuckte plötzlich zusammen und schien zu horchen. Dann verschwand es. Einfach so. Die metallverstärkten Gliedmaßen begannen in einem Gelb aufzuglühen, das mit dem Licht der Digitation absolut nichts zu tun hatte, dann wurde es durscheinend. Auf seiner Stirn glühte ein sternförmiges Symbol auf, das eben noch nicht dagewesen war. War es dieses Zeichen, das es verschlang? Nachdem der Stern als Letztes erloschen war, sahen sich Tageko, Blossomon, Jagari und Tyrannomon ratlos an. Ihr Weg war plötzlich frei.   Vom Hals abwärts hatte sich LordMyotismon in Daten aufgelöst. Sein Kopf jedoch schwebte knappe zwei Meter über dem zersplitterten Boden und musterte seine Feinde ungerührt. „Sieh an“, brachte das Digimon ohne Mühe über die Lippen. „Ich dachte mir, dass die DigiRitter nicht zu unterschätzen sind. Nun gut. Ich werde euch als würdige Gegner anerkennen.“ „Buhuu, dein Kopf alleine ist ja so furchteinflößend!“, spottete Renji. Mit einem Mal flammte direkt vor ihren Füßen etwas auf, das Taneo in dem Halbdunkel, das einem Augenschmerzen bereitete, noch nicht bemerkt hatte: Ein Mosaik, das in den Marmor eingelassen war und das die Konturen eines stilisierten Sterns nachbildete. Und ebendieser Stern glühte nun in unheimlichem Licht. Und er spuckte etwas aus. Als würden sie von unten durch den Boden geschoben, wuchsen drei Digimon aus dem Mosaik. Da waren ein Mann mit blauer Haarmähne und einer Metallrüstung, ein gepanzertes Mammut und eine gigantische, haarige Spinne. Und damit nicht genug, erschien im nächsten Moment eine blauweiße Masse: Ein Schwarm aus Bakemon und den DemiDevimon, denen sie im Raum mit den Fernsehern begegnet waren. „Ich nehm alles zurück“, murmelte Renji. „Ich werde meinen Sieg auskosten“, erklärte LordMyotismon. „Ihr dürft euch nun mit meinen Häschern die Zeit vertreiben. Ich lasse es mir nicht nehmen, die Macht, die ich durch einen von euch erhalten habe, an euch auszuprobieren. Die Unzulänglichkeit meiner Albtraumwelle habe ich nicht vergessen. Wir werden sehen, ob ihr meinen Attacken auch noch entkommen könnt, wenn ich erst auf das Mega-Level digitiert bin.“ Das Einzige, an das Taneo noch denken konnte, war ein stiller Fluch. Dann stürzten sich die feindlichen Digimon mit lautem Geheul auf sie.   „Hörst du das?“, rief Kouki. Sie waren auf dem Weg zum Thronsaal – so hoffte er. Aus der Richtung, in die er auf Nefertimons Rücken unterwegs war, ertönten eindeutig Schreie und Kampfgeräusche. „Das müssen die anderen sein“, sagte Nefertimon überflüssigerweise. Kouki machte sich schwere Vorwürfe. Wie hatte er nur so dumm sein und zulassen können, dass sie sich trennten? Dass er in einer Art Trance gewesen sein musste, machte es nicht besser. Er hoffte inständig, dass es den anderen gut ging.   Cyberdramon pflügte wie der Sensenmann persönlich durch die dunkle Fledermauswolke. Seine glühenden Krallen zogen nichts als gähnende Leere nach sich, durch die noch einige Datenreste flogen. Taneo schien nach wenigen Sekunden wieder seinen kühlen Kopf zurückgewonnen zu haben. Renji hoffte für ihn, dass er nicht vergessen würde, dass das nur durch Meramon möglich gewesen war. Das Flammendigimon hatte die ersten Geister zerlegt, die sich auf sie gestürzt hatten, und die Spritzen geschmolzen, die die DemiDevimon geschleudert hatten. Ohne Meramon stünde Taneo jetzt nicht mehr aufrecht. Im Moment brüllte Taneo Cyberdramon Befehle zu. Für Renji war alles zu hektisch geworden. Es war kein Problem für ihn, bei einem Fußballspiel mit zweiundzwanzig Spielern am Feld den Überblick zu behalten. Aber die Digimon, die hier in der Halle ohne Sinn und System herumschwirrten, mussten auf die Hundert zugehen. „Wir müssen durchbrechen!“, rief Taneo Renji irgendwann zu. „LordMyotismon versucht zu digitieren!“ „Das sagt sich so leicht!“, ächzte Renji. Sie taten seit Sekunden, die ihm wie Stunden vorkamen, nichts anderes, als sich immer weiter zum Tor zurückdrängen zu lassen. Rings um sie herum prasselten Spritzen auf den Boden. Cyberdramon dezimierte die feindlichen Ränge immer weiter, aber die ließen sich davon nicht einschüchtern und griffen die DigiRitter mit allem an, was sie hatten. Meramon kam kaum mit seinen Attacken hinterher. Alles rings um Renji kreischte und heulte und zerbarst und zerklirrte – der Lärm schmerzte in den Ohren. Und nur Glück hatte bisher verhindert, dass sie ein Opfer der giftigen Spritzen wurden. Dann prallte irgendetwas gegen das fliegende Cyberdramon – Renji hatte nur den Eindruck von blitzendem Metall und blauen Flammen – und das Blatt wendete sich. Plötzlich griff ein halbes Dutzend blauer Hände nach Meramon, umklammerte seine flammenden Glieder. Falls Bakemon Schmerzen spüren konnten, musste es ungeheuerlich brennen, aber sie blieben stur. Meramon versuchte hilflos freizukommen, aber es konnte sich nicht mehr bewegen. Was Renji und Taneo in freie Schusslinie brachte. Sofort löste sich ein Schemen aus dem dunkelbunten Wirbel und eine massige, pelzige Gestalt stürmte unter lautem Elefantentröten auf sie zu. „Spring du nach rechts“, murmelte Taneo gehetzt, als sie den Boden unter ihren Füßen erzittern spürten. „Machst du Witze?“, entfuhr es ihm. Diesem Ding da, ausweichen? Unmöglich! Als es so nah war, dass es unmöglich noch die Richtung ändern konnte, versuchte er es doch. Sein Herz pochte so schnell, seine Sinne waren derart überfordert, dass er gar nicht die Zeit hatte, sich zu fürchten. Renji warf sich mit aller Kraft zur Seite, landete hart auf dem Marmor, rollte sich ab, sprang wieder auf und sah über die Schulter zurück. Taneo lag ein paar Meter entfernt auf dem Boden, aber er war auch gesprungen, nicht umgerannt worden. Und genau genommen hätten sie sich sogar das sparen können. Ein roter Dinosaurier war plötzlich im Thronsaal aufgetaucht und dem Mammut buchstäblich in die Stoßzähne gefallen. Renji hätte nie gedacht, dass er sich einmal freuen würde, Tyrannomon zu sehen. Jagaris Partner hatte den Elefanten mit sehnigen Armen gepackt und versuchte ihn von sich wegzudrücken. „Leute!“ Er sah Jagari und Tageko durch den Torflügel kommen, der nun weiter geöffnet war. Dahinter schob sich auch Blossomon in den Thronsaal und schoss sofort einige seiner rotierenden Blumen ab, um die Bakemon zu pulverisieren, die Renji und Taneo zu nahe kommen wollten. Jagari winkte aufgeregt und lief sogar zuvorderst. „Habt ihr uns etwa vergessen?“ Der Kleine strahlte übers ganze Gesicht. Offenbar machte ihm sein Heldeneinsatz wesentlich mehr Spaß als Renji, dem alle Knochen wehtaten. Selbst Tageko gestattete sich ein leichtes Schmunzeln. In dem Moment bäumte der Elefant sich auf und stieß Tyrannomon einfach fort. Sofort war Blossomon an seiner Stelle und malträtierte den Dickhäuter mit seinen Spiralblumen. Tyrannomon rappelte sich unter Jagaris Anfeuerungsrufen wieder auf und übergoss die Bakemon, die Meramon festhielten, mit einem feurigen Hauch. Teamarbeit konnte ja doch ganz nützlich sein. Renji reihte sich in die rufenden DigiRitter ein, die ihre Digimon mit Worten und Befehlen – in Taneos Fall – unterstützten. Und zum ersten Mal fühlte er sich als dieser Gruppe zugehörig.   Kurz nachdem Mammothmon endlich zu Staub zerfiel wie die Tiere, denen es nachempfunden war, gelang es auch Cyberdramon, die Oberhand im Kampf gegen SkullMeramon zu gewinnen – vornehmlich, weil es fliegen konnte. Dennoch digitierte es zurück, kaum dass das feurige Metallskelett in seine Einzelteile zersprungen war. Tageko schätzte schnell die Lage ab. Die Wolke aus Bakemon und DemiDevimon, die sie noch von LordMyotismon trennte, war eindeutig lichter geworden. Es war weniger als eine Minute her, seit sie den Thronsaal erreicht hatten. „LordMyotismon!“, schrie Taneo. „Wir müssen es erwischen! Es will digitieren!“ „Es will was?“, ächzte Tageko. Der schwebende Kopf war auch ihr aufgefallen – er war auch nicht zu übersehen. Mittlerweile glühte er nämlich, und es war diesmal eindeutig das Licht der Digitation, auch wenn seine Farbe mehr und mehr ins Blutrote verlief. Tyrannomon stampfte eben Dokugumon in Grund und Boden, als Tageko hinter sich Schritte hörte. Schwer atmend und mit gerötetem Gesicht kam Fumiko hereingelaufen. Tageko war erleichtert; also musste sie nur noch hoffen, dass auch Kouki wohlauf war. Das Mädchen lehnte sich an den Torflügel und rang nach Luft. „Leute“, brachte sie hervor. „Tut … mir leid.“ „Keine Ursache“, meinte Tageko, die genau verstand. In dem Moment löste sich das letzte DemiDevimon in Daten auf. Nur noch der Kopf von LordMyotismon trennte sie von ihrem Sieg – und der war doch wohl einfach zu zerstören! „Ihr solltet euer Ende einfach einsehen“, ließ das Asura eben vernehmen. „Ich habe bis zum Äußersten gewartet, doch ihr lasst mir keine Wahl.“ „Schnappt es euch!“, rief Taneo heiser. Selbst Kokuwamon in seinen Armen flatterte noch einmal in die Höhe. Alle ihre Digimon liefen oder flogen auf LordMyotismon zu, bereit, es mit ihren Attacken plattzuwalzen – als der schaurige Kopf plötzlich etwas tat. Waren das Fledermäuse, die plötzlich vor ihm aufflatterten? Noch mehr Digimon? Nein – es war mehr als das. Schnell wie Schatten breiteten sich die Wesen im ganzen Raum aus und stahlen Tageko die Sicht. Egal, die Flügel der kleinen Biester waren nicht einmal zu spüren, es würde vorübergehen. Die Finsternis blieb. Erst dachte Tageko, sie würde immer noch von dunklen Schwingen umwirbelt werden. Als sie die erschrockenen Laute der anderen hörte, klammerte sich plötzlich eisige Panik an ihre Kehle. Die Fledermäuse waren nirgends mehr zu sehen – aber vor ihren Augen blieb alles schwarz! Sie war blind! Tageko hörte Jagari entsetzt aufschreien, dann ein Poltern, als jemand oder etwas zu Boden fiel. Sie selbst taumelte vor Schreck, versuchte, sich irgendwo festzuhalten, fand aber nichts. Nur seelenlose Schwärze umgab sie. Wären die Geräusche nicht gewesen, hätte sie sich mutterseelenallein gefühlt. „Kokuwamon!“, hörte sie Taneo brüllen. „Schnapp es dir!“ Als Antwort kam nur LordMyotismons Lachen – aus verschiedenen Richtungen. Tageko zuckte zusammen. Das Asura klang ganz nah … Wo war es? Sahen die Digimon es etwa auch nicht? „Du Feigling!“, schrie Renji irgendwo neben ihr. „Hast du sonst nichts drauf, dass du ständig so billige Tricks anwenden musst?“ Das Lachen wurde nur lauter. Etwas zischte, etwas krachte, aber LordMyotismon lachte unerschütterlich weiter. Tageko klopfte das Herz bis zum Hals. War diese … Dunkelheit vor ihren Augen irreparabel? Spielte das überhaupt noch eine Rolle, wenn das Asura erst das nächste Level erreicht hatte? So machtlos hatte sie sich noch nie gefühlt.   LordMyotismon beobachtete, wie seine Opfer hilflos im Raum umherwankten. Die DigiRitter waren ohne ihr Augenlicht wie Neugeborene. Ihre Digimon versuchten blindlings nach ihm zu schlagen oder schossen Attacken in die Luft, aber sie würden sich eher gegenseitig verletzen, als dass sie LordMyotismon gefährlich werden konnten. Es hatte seine magischen Spiegel überall im Thronsaal erscheinen lassen. Jeder einzelne nahm seine Stimme auf und gab sie wieder. Während LordMyotismons Kopf ruhig durch die Halle schwebte, hatten seine Feinde keine Ahnung, wo genau es sich befand. Es hatte alle DigiRitter und ihre Digimon in seinem Nachtraub eingefangen – alle bis auf den erbarmungswürdigen Jungen mit seinem verstümmelten Salamon. LordMyotismon erinnerte sich daran, dass es nicht weiter als bis zu Gatomon digitieren konnte. Selbst wenn die beiden noch auftauchen würden, konnte dieses kümmerliche Digimon seinen Kopf nicht erreichen. Zur Sicherheit schwebte es nur wenige Zentimeter unterhalb der Saaldecke, weit, weit über den geblendeten Digimon. Und LordMyotismons Digitation war fast vollkommen, das spürte es. Schon sah es seine eigene Gestalt verschwimmen, größer und breiter werden, immer noch rötlich leuchtend, aber bald würde es feste Form annehmen, die DigiRitter vernichten und ganz nebenbei das mächtigste seiner Art sein. Der Gedanke gefiel ihm … Plötzlich nahm es ein fremdes Digimon hinter sich wahr. Im ersten Moment glaubte LordMyotismon, seine bevorstehende Digitation würde seine Sinne täuschen, doch als es den Kopf wandte, flog da tatsächliche ein Digimon auf es zu, das gar nicht da sein dürfe – es flog! LordMyotismon öffnete verblüfft den Mund, als es ein Nefertimon durch die kalte, staubige Luft des Thronsaals auf sich zuschießen sah, und auf dem Rücken saß der Junge, Kouki, dessen Digimon eigentlich jede Möglichkeit der Digitation hätte genommen sein sollen! Unmöglich! LordMyotismon spürte, wie sein Gesicht sich auflöste, bereit, in die nächste Form hinüberzugleiten – und es wusste, dass es verwundbar war. Für eine halbe Sekunde verspürte das Asura, das sich als das schrecklichste der zwölf sah, selbst Schrecken. „Nachtraub!“, stieß es hervor, um die neuen Feinde ebenfalls in Dunkelheit zu hüllen, doch im selben Moment spreizte Nefertimon die Vorderpranken. „Rosettastein!“ Die Stimme hallte von den Wänden des Thronsaals und sogar von den Spiegeln wider, war wie ein donnernder Applaus für einen Sieg, der eigentlich LordMyotismons hätte sein sollen. Und wie der Donner einem Blitz folgt, folgte die Stimme den leuchtend roten Steinen, die aus Nefertimons Beinschonern schossen und sich genau zwischen LordMyotismons Augen bohrten. Es stieß einen hässlichen Schrei aus, als das Rot seiner Digitation plötzlich erstickt wurde und es fühlte, wie seine Gestalt nun zu verschwinden, nein, entzweizubrechen begann. Kurz verdoppelte sich das Bild vor seinen Augen, als das Nefertimon mit wehenden, majestätisch weißen Schwingen vorbeirauschte. LordMyotismon hatte den Eindruck, dass der Junge auf seinem Rücken noch etwas sagte. „Das waren wir dir schuldig.“ LordMyotismon spürte, wie unsichtbare Kräfte es auseinanderrissen, und dann befand es sich selbst in ewiger Finsternis. Kapitel 28: Schlangenbeschwörer und Herzensangelegenheiten ---------------------------------------------------------- Nach und nach klärte sich Jagaris Blick wieder, ohne dass er wusste, was los war oder wie viel Zeit eigentlich vergangen war, seit LordMyotismons Attacke sie erwischt hatte. Zuerst war er so froh darüber, wieder sehen zu können, dass ihm Tränen über die Wangen liefen. Hastig wischte er sie weg. „Hey.“ Jagari zuckte zurück, vornehmlich, weil er immer noch nur Umrisse sah, aber schließlich erkannte er Kouki, der sich zu ihnen gesellte. „Was ist geschehen?“, murmelte Tageko. Sie war ganz in der Nähe, stützte sich an der Wand ab. „Hast du es …?“ „Ja.“ Kouki schien ungewöhnlich ernst. Er legte die Hand in die Flanke seines Digimons und sah irgendwie traurig aus. Tageko stieß einen erleichterten Seufzer aus. Nach und nach scharten sich auch die anderen um den Helden der Stunde. Fumiko machte einen Schritt auf sie zu, verharrte aber, als sie seinem Blick begegnete. Als sie sich vergewissert hatten, dass keine bösartigen Digimon mehr am Leben waren, digitierten ihre Partner zurück. Auch sie wirkten völlig verausgabt. Gegen so viele Digimon hintereinander hatten sie noch nie gekämpft. In Stichworten tauschten Tageko und Kouki aus, was ihnen seit diesem hirnrissigen Streit widerfahren war. Kouki entschuldigte sich ebenfalls für sein Verhalten, sah dabei aber eigentlich nur Fumiko an. Taneo erkundete derweilen den Saal und meinte dann, sie sollten sich beeilen und von hier verschwinden. Auch für Jagaris Geschmack konnten sie gar nicht schnell genug aus diesen gruseligen Hallen rauskommen, und ihrem Tempo sah man ihre Erschöpfung an. Taneo bestand darauf, Soulmon zu befreien, da es offenbar die Wahrheit gesagt hatte. Er wurde mit den Argumenten überstimmt, dass dem Geistdigimon dennoch nicht zu trauen wäre, machte dann aber Anstalten, sich allein auf den Weg zu machen. Resigniert beschloss Tageko, dass sie alle gemeinsam gehen und dabei keine Zeit verschwenden würden. Sie fanden Soulmons Verlies jedoch leer vor. Die Gitterstäbe, die beim letzten Mal so seltsam schwarz geglüht hatten, waren nun ganz gewöhnlich, wenn auch unbeschädigt. Wahrscheinlich war LordMyotismons Kraft auch an diesem Ort versiegt und das Geistdigimon von alleine freigekommen. Schließlich folgten die DigiRitter dem Weg nach draußen, und Jagari hatte irgendwie das Gefühl, dass selbst außerhalb der Finsterzitadelle kein Licht scheinen würde, kein Mond und keine Sterne, nie wieder. Im ersten Moment schien er fast recht zu behalten. Der lange Gang endete an einem gigantischen Tor aus schwarzem Stein, das natürlich geschlossen war. Mit letzter Kraft digitierte Elecmon erneut, weil Tyrannomon ihr kräftigstes Champion-Digimon war, und drückte das Tor nur einen kleinen Spalt auf, der sie schließlich in tiefdunkle Nacht hinaus spuckte. Erst war Jagari ganz beklommen zumute, dann verschwanden die Wolken vor den Sternen und ein samtener Nachthimmel ließ sich erkennen. Sie befanden sich mitten in den Bergen, wo ein schneidend kalter Wind fauchte. Die Zitadelle schien selbst mit einem Berg zu verschmelzen; wäre da nicht der schwarze Fleck des Tores, hätte man gar nicht den Eindruck, dass hier Digimon leben könnten. „Und wohin jetzt?“, fragte Jagari unsicher und fröstelte. In jeder Richtung war nur grauer Fels zu sehen. Kokuwamon flog in die Höhe und sah sich um, doch auch es konnte wenig erkennen. „Das könnte eine kalte Nacht werden“, meinte Tageko und schien es ernst zu meinen. Es war ein schwerer Fehler gewesen, keine Vorräte mitzunehmen. Sie hatten eigentlich den Lichtsamen überrennen und flugs wieder heimkehren wollen, nun waren sie in den Bergen gestrandet. In eine Höhle in einer schaurig geformten Bergflanke, eine halbe Wegstunde vom Eingang der Festung entfernt, schlugen die DigiRitter ihr Nachtlager auf. Es stellte sich heraus, dass Tageko Schokoriegel mitgebracht hatte, die sie an alle verteilte. Jagaris Hunger stachelten sie eher an, als dass sie ihn stillten. Schließlich versuchten sie, ein wenig Schlaf zu finden. Auch hier war es scheußlich kalt, also schlug Kouki vor, dass sie sich eng aneinander schmiegen sollten. Das hatte natürlich eine peinliche Diskussion mit Renji zur Folge, die damit endete, dass je die beiden Mädchen und Mushroomon, Renji und Kouki mit ihren Digimon, und Jagari und Taneo mit den ihren auf einem Fleck des Felsenbodens landeten. Candlemons Flamme war die einzige Lichtquelle, und gesprochen wurde überhaupt nicht mehr. Kouki schien immer noch wegen irgendetwas bedrückt zu sein, und seine Stimmung färbte auf die anderen ab. Jagari streichelte Elecmons warmes Fell, bis er in einen kalten und unruhigen Schlaf fiel.   Kouki fand keine Ruhe. Er kraulte Salamon im Nacken und dachte nach. Eigentlich hatte er gedacht, wenn er es an LordMyotismon rächte, würde es ihnen beiden besser gehen. Das Gegenteil war der Fall. Irgendwie hatte es alte Wunden aufgerissen. Aber immerhin war LordMyotismon definitiv überrascht gewesen, als es Salamons neue Form gesehen hatte. Salamon bemerkte, dass Koukis Hand innehielt. Es drehte das Köpfchen und vergrub es von sich aus in seiner Handfläche. Er lächelte. Plötzlich wusste er genau, was sein Digimon dachte. Es war noch alles genau wie vorher. Sie hatten sich schon vor geraumer Zeit mit Salamons Verstümmelung abgefunden und das Beste daraus gemacht. Es lohnte sich nicht, jetzt wieder darüber nachzugrübeln. Mit dem heutigen Tag war das Thema abgeschlossen. Er wusste, dass Salamon genauso empfand. Sie waren immer noch zusammen, ein eingeschworenes Team. Und das würden sie bleiben.   Was hätte Tageko nicht alles für einen ordentlichen Kaffee gegeben. Sie streckte sich in der Morgenluft, die noch kälter schien als bei Nacht, und betrachtete die Landschaft vor ihrer Höhle. Sie sah Schattierungen von Düsterweiß bis zu bleichem Schwarz. Die Sonne stand schon recht hoch; sie hatten länger geschlafen, als sie gewollt hatte. Zum Glück war nichts passiert. Auf ihrer mentalen Liste vermerkte Tageko, niemals mehr ohne vollständige Ausrüstung in die DigiWelt zu gehen, egal, wie lange sie zu bleiben beabsichtigten. Kouki ging es wieder besser. Er und Salamon scherzten über das fehlende Frühstück, was bei Renji auf eine saure Reaktion stieß. Es war wahrscheinlich gut, dass wieder ein wenig Normalität einkehrte. Da ihre Digimon unmöglich noch einmal kämpfen konnten, gingen sie schließlich das Risiko ein, sich aufzuteilen und nach Wegen zu suchen, auf denen sie dieses Niemandsland verlassen konnten. Es war Kokuwamon, das von einem Pfad in ein grünes Tal berichtete, als sie sich gegen Mittag wieder trafen. Das Tal selbst erreichten sie mit schmerzenden Beinen, knurrenden Mägen und Blasen an den Füßen erst am Abend. Es war weit gefehlt, die Gegend fruchtbar zu nennen; das Grün war so blass, dass vermutlich nur der Kontrast zu den umliegenden Bergen ihm den Eindruck dieser Farbe verlieh. Und zu ihrer großen Enttäuschung war es vollständig unbewohnt; die paar steinernen Gebilde, die Kokuwamon entdeckt hatte, waren, sofern sie überhaupt Wohngebäude darstellten, verlassen. Tageko begann sich schon ernsthafte Sorgen zu machen, als Jagari aufgeregt angelaufen kam und berichtete, dass er im hintersten Winkel des Tals in einer kleinen Felsnische einen Fernseher gefunden hatte. Fast gierig, als könnten LordMyotismons davongetriebene Datenreste auch dieses Tor in die Menschenwelt zerstören, drängten sich die DigiRitter vor das Gerät und landeten wieder in ihrer Heimat.   „Wenn das mal kein Schuss in den Ofen war“, seufzte Renji. „Das kannst du laut sagen. Wir wären fast gestorben, mal wieder – und wir sind nicht mal in die Nähe eines Samens gekommen“, meinte Tageko. „So würde ich das nicht sehen“, sagte Fumiko. „Ein Asura weniger ist auch eine Leistung.“ Dagegen konnte niemand etwas sagen. Da alle so hungrig wie der sprichwörtliche Bär waren, verköstigte Renji sie mit allem, was sein Kühlschrank hergab. Danach machten sie sich auf den Weg nachhause, da sie auch so müde wie ein Bär waren, den man aus seinem wohlverdienten Winterschlaf geweckt hatte. Fürs Erste schmiedete niemand Pläne für die Zukunft, sie waren einfach nur froh, das jüngste Abenteuer überstanden zu haben. Am nächsten Tag überraschte sie alle eine SMS von Kouki. Es ging um nichts, was mit der DigiWelt zu tun hatte; er fragte die anderen einfach nur, ob sie Zeit und Lust hätten, gemeinsam ins Kino zu gehen. Sogar Renji kam, und das Staunen der anderen brachte ihn sichtlich in Verlegenheit. Budmon, Motimon und Kyaromon waren klein genug, dass sie sie ebenfalls in den Kinosaal schmuggeln konnten. Unter den Jacken ihrer Partner lugten sie hervor und betrachteten fasziniert die bewegten Bilder auf der Leinwand. Zum Glück hatte Kouki eine Komödie gewählt. Wäre es ein Horrorfilm gewesen, wären sie vielleicht digitiert und hätten gegen die scheinbar riesigen Monster gekämpft, dachte Jagari belustigt. Als sie, immer noch lachend, aus dem Kino spazierten, entschieden sie, beim nächsten McDonald‘s zu Abend zu essen. Sie erwähnten die DigiWelt immer noch gelegentlich, aber es lief nicht auf striktes Planen hinaus wie üblicherweise. Für Jagari fühlte es sich tatsächlich so an, als wäre er mit Freunden unterwegs. Es war ein schöner Abend. Als Renji sich zum vierten Mal Pommes nachgeholt hatte und als Letzter noch aß, räusperte sich Fumiko. „Ich habe was anzukündigen.“ Sofort waren die anderen still und sahen sie erwartungsvoll an. „Also … Ich habe ja demnächst Geburtstag und dachte mir … Ich will euch gern einladen. Die Party ist am sechsundzwanzigsten bei mir zu Hause. Würde mich freuen, wenn ihr Zeit habt.“ Sie sah die anderen nacheinander an und Jagari meinte ein gespanntes Funkeln in ihren Augen zu sehen. „Klar kommen wir!“, rief Kouki sofort. „Stimmt’s, Renji?“ „Darauf kannst du einen lassen“, grinste der blonde Junge und verschonte sie sogar mit seinem typischen Fumiko-chan-Gesäusel. Tageko lächelte. „Gerne.“ Auch Taneo nickte lächelnd. Jagari schluckte. Wie lange war es her, dass er auf einer Geburtstagsparty eingeladen gewesen war? Das letzte Mal musste in der Grundschule gewesen sein, wenn überhaupt. Er konnte gar nicht in Worte fassen, wie sehr er sich freute. „Ich … Ich komme sehr gerne!“, sagte er laut und so schnell, dass er sich verhaspelte. „Was ist mit uns?“, rief Kyaromon unter Renjis Jacke hervor. „Pscht!“, herrschte sein Partner ihn an. Fumiko lächelte es an. „Die Digimon sind natürlich auch alle eingeladen.“ Kyaromon jauchzte vor Freude auf und sprang aus seinem Versteck hervor, um auf Renjis Kopf herumzutanzen. Während Renji versuchte, es wieder einzufangen, ehe man es sah, beschlichen Jagari dunkle Zweifel. Zählte eine Einladung von Fumiko überhaupt? Zählte sie so richtig? Er wusste, dass er im Grunde kaum Freunde hatte, die er persönlich kannte. Vielleicht gar keine. Was waren dann Fumiko und die anderen für ihn? Er machte sich nichts vor; wenn sie nicht im selben Boot säßen wegen der DigiWelt und ihrer Mission, wäre Fumiko nie auf die Idee gekommen, ihn einzuladen. Für Kouki und die anderen war es vielleicht selbstverständlich, mit irgendjemandem ausgelassen zu feiern. Für ihn nicht. Selbst wenn Fumiko mit ihnen als Freunde feiern wollte und nicht als Kollegen oder etwas in der Art – wer sagte ihm, dass sie ihn nicht nur dabeihaben wollte, weil es seltsam aussähe, bekäme er als Einziger keine Einladung? Motimon bemerkte seinen Stimmungswechsel sofort. „Was ist denn los, Jagari?“, fragte er leise. „Nichts“, murmelte Jagari und stand auf. „Ich geh mal auf die Toilette.“ Als er die Türen am hinteren Ende der McDonald‘s-Filiale ansteuerte, meinte er Tagekos Blicke im Rücken zu spüren, aber vielleicht täuschte er sich.   „Wo willst du denn so eilig hin?“ Wisemon fuhr erschrocken herum. Persiamon hatte nicht geglaubt, dass man den Forscher so einfach überraschen konnte – offenbar funktionierte es, wenn man samtweiche Pfoten hatte. „Oh, Persiamon, welche Ehre. Ich würde Euch einen Stuhl anbieten, aber wie Ihr seht, sind wir gerade am Aufbrechen.“ Wenn man es schon in seinem Gesicht nicht sehen konnte, so machten wenigstens die Hände, die es nicht stillhalten konnten, auf seine Nervosität aufmerksam. Clockmon hastete eben mit einem Stapel gelb glühender Röhren durch das Labor. Als es Persiamon bemerkte, stockte es kurz im Schritt, verbeugte sich und ging dann mit normaler Geschwindigkeit – und auffällig unauffällig – weiter. Die beiden hatten sich eiligst daran gemacht, nach dem Tod ihres Schirmherrn dessen Labor zu räumen. Nun wirkte es, als hätte jegliche Hast ihren Sinn verloren, da ein anderes Asura sie erwischt hatte, noch bevor sie klammheimlich verschwinden konnten. „Wollt ihr beide etwa Urlaub machen?“, fragte Persiamon süffisant. „Nein. Ja. Das heißt, wir …“ Wisemon verstummte und tat, als würde es das Computerpult hinter sich putzen. Sein Benehmen war einigermaßen witzig. Als es dann noch ein Reagenzglas verschüttete, dessen Inhalt gelblich über die Armaturen tropfte, lachte Persiamon glockenhell auf und trat näher. „Ich hörte, du hast einige interessante Forschungen betrieben. Du hast ein künstliches Licht der Digitation entwickelt, ist es nicht so?“ „Nun das, ja, wie soll ich sagen … LordMyotismon hat mir streng untersagt, es auszutesten, weil …“ „Aber LordMyotismon ist nicht mehr hier. Zu seinem eigenen Pech war es zu feige, die Gelegenheit sofort am Schopf zu packen.“ Persiamons Krallen strichen über Wisemons Kutte, dort, wo sein Hals war. „Ich habe viel zu lange mit dem Digitieren gewartet. Ich bin sicher, du bist über einen neuen Arbeitgeber froh – auch wenn meine Geduld beinahe erschöpft ist. Und du suchst doch sicher nach neuen Forschungsdaten. Warum ziehen wir nicht beide einen Vorteil aus LordMyotismons Ableben?“, schnurrte es.   Fumiko war froh, dass alle zu ihrer Geburtstagsfeier erscheinen wollten. Auch wenn sie es nicht offen zeigte, freute sie sich schon sehr darauf, obwohl es noch fast einen Monat bis dahin war. Die Goldene Woche verging natürlich viel zu schnell. Auch in Bezug auf die DigiWelt verbrachten die DigiRitter sie recht sorglos. Natürlich lagen sie nicht auf der faulen Haut, aber Taneo und Tageko wollten nach dem letzten Reinfall einen besseren Überblick über die DigiWelt gewinnen, und das beinhaltete nur Spionage- und keine Kampfaufgaben. Jeweils zu zweit erkundeten die DigiRitter neue und bekannte Gebiete, stellten fest, wo die Fernseher gestohlen worden waren, und fragten einheimische Digimon über die Asuras aus. Dabei gingen sie sehr verdeckt vor; Kouki meinte einmal im Scherz, er fühle sich wie ein Undercover-Agent, und so falsch war das gar nicht. Jagari verzeichnete die Ergebnisse aller Erkundungstouren genau auf seiner Karte. Taneo ergänzte sie mit Anmerkungen wie der Gefahrenstufe eines Eintritts in die DigiWelt an der Stelle oder der Wahrscheinlichkeit, dass die Asuras dort einfallen oder zumindest den Fernseher an sich reißen würden. Die beiden Jüngeren arbeiteten in der Zeit recht eng zusammen. Ein Bekannter von Jagari hatte offenbar einen Schlachtplan für ihre Digimon ausgearbeitet, und daran tüftelten sie eine Weile herum, verfeinerten ihn und bezogen sogar das Terrain, das Klima und mögliche Wetterbedingungen in den einzelnen Gebieten in ihre Berechnungen. Irgendwann nannte Kouki Jagaris Zimmer, in dem sie sich oft stundenlang verschanzten, taktisches Hauptquartier. Ansonsten wiederholten sie den gemeinsamen Abend und sahen sich bei Kouki DVDs an oder gingen zu sechst in ein Game-Center. Jagari wirkte bei jedem der Treffen, als bedrückte ihn etwas, aber Fumiko kam nicht darauf, was es sein könnte. Er mied die meiste Gespräche, machte überall mit und hatte ganz offensichtlich Spaß dabei, aber es war, als würde dann und wann ein Schatten über sein Gesicht laufen, wenn er sich an etwas erinnerte. Die Digimon fühlten sich in dieser Zeit etwas vernachlässigt. Einige von ihnen könnten die DigiRitter zwar mitnehmen; da es für die anderen allerdings unfair gewesen wäre, ließen sie sie meist bei Taneo oder Kouki daheim, wo sie – möglichst leise – spielen konnten. Kokuwamon schien es zum ersten Mal zu bereuen, dass es in der Realen Welt auf dem Rookie-Level bleiben konnte. Am Abend des Sonntags, bevor die Schule wieder losging, hatten sie sich mal wieder bei Jagari im Zimmer versammelt. Es war ein einfacher Snackabend mit anschließendem strategischem Meeting, und auch die Digimon waren dabei. Zuvor machten Fumiko und Kouki jedoch eine Verkündigung, von der sie nicht sicher war, wie sie bei den anderen ankommen würde. Renjis Reaktion war natürlich die ausdrucksstärkste; seine Kinnlade klappte buchstäblich nach unten. „Ihr … ihr seid jetzt zusammen?“ „Tja, hat sich irgendwie so ergeben.“ Kouki zuckte lächelnd mit den Schultern und drückte Fumikos Hand. „Tut mir leid, Kumpel. Aber wir wollten’s dir auch nicht verschweigen.“ Renji schluckte, starrte von Kouki zu Fumiko und wieder zurück. „Schon okay. Kein Problem“, meinte er dann und grinste. „Freut mich für euch.“ Fumiko fiel ein Stein vom Herzen. Sie hatte befürchtet, dass Renji ein Riesentheater daraus machen würde, aber offenbar waren seine Gefühle für sie tatsächlich rein aus Stolz und Ehre oder so etwas geboren. Nicht, dass sie in der Hinsicht Skrupel gehabt oder sich etwas aus seinen Einwänden gemacht hätte, aber sie wollte auch nicht absichtlich das Team gefährden. Sie hatte sich in der Goldenen Woche auch ein paar Mal allein mit Kouki getroffen. Sie waren essen gegangen oder einfach nur spazieren – seltener zum Karaoke, seit Kouki einmal lachend angemerkt hatte, wie schrecklich Fumiko sang, was leider der Wahrheit entsprach. Diese Momente waren irgendwie die schönsten in der ganzen Woche gewesen. Anfangs hatte sie sich eingeredet, sie würde Kouki nur von seinen Sorgen wegen Salamon ablenken wollen und bräuchte selbst etwas Beistand wegen ihrem ungeborenen Partner, aber natürlich war dem nicht so. „Das ist toll. Glückwunsch, Fumiko“, meinte Tageko lächelnd. „Danke.“ Sie lächelte zurück. „Hey, und was ist mit mir? Hab ich keinen Glückwunsch verdient?“, empörte sich Kouki scherzhaft. „Hmm“, sinnierte Tageko. „Eigentlich schon, aber ich dachte, du hast schon eine ganze Wagenladung Glück gehabt, dass Fumiko dich genommen hat.“ Kouki lachte selbst über diesen Scherz. „Wie kam das eigentlich so schnell? Ich meine, es ist schon ziemlich unerwartet“, meinte Jagari. Fumiko und Kouki sahen einander an. „Tja, keine Ahnung“, meinte er. „Wir haben schon länger was gemeinsam unternommen und, naja“, er zuckte mit den Schultern, „neulich haben wir uns gesagt, machen wir’s doch offiziell.“ „Hä? Das mit euch läuft schon länger?“, rief Renji aus. „Ich hab überhaupt nichts davon gemerkt!“ Seinen Worten folgte neues Gelächter auf dem Fuß. Renji schürzte wichtig die Lippen. „Also schön. Kouki kann ich Fumiko-chan wohl überlassen. Fumiko, du hast dir da einen guten Kerl aufgerissen.“ „Ich weiß“, erklärte sie grinsend. „Und du hörst jetzt auf mit deiner Wichtigtuerei.“ Tageko boxte Renji gut gelaunt gegen den Arm. „Ich würde sagen, das gehört gefeiert, meint ihr nicht?“ „Das klingt aber gar nicht nach dir, Frau Lehrerin“, ahmte Renji die Stimme eines quengelnden Kindes nach. „Ob der kleine Renji mitdarf, muss ich mir auch noch gut überlegen.“ Fumiko fand, es hätte ein sehr lustiger und unbeschwerter Abend sein können, hätten sie nicht noch über ihre weiteren Schritte in der DigiWelt sprechen müssen. Zum wahrscheinlich ersten Mal verabscheute sie die Existenz der digitalen Welt.   Der Plan war ziemlich komplex. Taneo bestand darauf, dass sie ihn sich alle gut einprägten. Renji hatte aufgehört, ihn mit Zwischenrufen zu diskreditieren, stattdessen fluchte er nur, weil er sich die ganzen Einstiegspunkte und Abzweigungen, die Taneo miteinkalkuliert hatte, kaum merken konnte. Sie würden denselben Samen wie beim letzten Versuch aufs Korn nehmen. In dieser Woche hatte sich in seiner Nähe nur Orochimon blicken lassen. Gemeinsam hatten sie gegen das Digimon vermutlich eine reelle Chance. Das größte Risiko barg die Tatsache, dass viele der gewöhnlichen Digimon, die in benachbarten Gebieten wohnten, gar nicht wussten, wer die einzelnen Asuras waren, und außer Orochimon kannten auch die DigiRitter keines mehr. Taneo war jedoch zu dem Schluss gekommen, dass die Asuras sich in ihrem Verhalten wohl von anderen Digimon unterscheiden müssten, und außerdem kamen kaum fremde, starke Digimon in das Gebiet mit dem Dornenwald. Er hatte daher die Theorie aufgestellt, dass die Asuras noch etwas anderes planten, vielleicht irgendwo in der DigiWelt gegen Rebellen oder etwas in der Art kämpften und deswegen die Samen relativ unbewacht blieben. Ansonsten war der Plan jedoch idiotensicher, wie er behauptete. Im schlimmsten Fall würden sie fliehen und auf eine neue Gelegenheit warten, sich des Samens anzunehmen. Allzu groß war die Gefahr diesmal nicht, dafür hatte er gesorgt. Als sie am Mittwoch nach der Schule von Tagekos Computer aus aufbrachen – ihre Mutter hatte an diesem Tag frei und unternahm mit Tagekos Geschwistern einen Ausflug –, berührte Fumiko sacht Koukis Hand. Sie waren die Letzten, die in die DigiWelt gehen würden. „Danke“, sagte sie tonlos. „Wofür?“ „Dass du mich mitkommen lässt. Ich kann mir vorstellen, dass dir nicht wohl dabei ist.“ „Weil du kein Digimon hast und wir jetzt zusammen sind?“ Kouki lachte. „Du siehst zu viele kitschige Filme. Ich hab deine Judo-Griffe noch nicht vergessen.“ Er hatte sie einmal aufgefordert, ihre Kampfkünste an ihm auszuprobieren. Allein bei der Erinnerung tat ihm noch alles weh. „Ich bin sogar sehr dafür, dass du mitkommst. Ich hoffe nämlich, dass du mich beschützt, wenn es hart auf hart kommt.“ Fumiko schmunzelte. „Trotzdem danke. Wollen wir los?“ „Gironimo!“   Der Nachmittag war fast ein Abend. Irgendwie schien der Himmel rötlich zu sein, wo er nicht von Wolken bedeckt war. Die DigiRitter näherten sich von verschiedenen Richtungen dem Samen. Taneo und Jagari hatten zuvor schon ausgekundschaftet, in welchen Gebieten es noch Fernseher gab. Je zu zweit machten sie sich auf die Reise zu dem Gebiet mit dem dornigen Wald und dem Feld mit dem Lichtsamen, und hatten dabei schwere Last zu tragen. Orochimon schlief sogar direkt auf dem Feld, das von der Ferne gesehen wie ein riesiges, kariertes Tischtuch aussah. Der Gedanke brachte Taneo zum Schmunzeln. Wenn sein Plan aufging, würde ihnen das Essen nicht allzu schwer im Magen liegen. Das Asura bemerkte sie schon aus der Ferne. „Willkommen!“, grollte es und bäumte sich auf. Seine Köpfe zuckten in die verschiedenen Richtungen, und noch ehe es sich auf einen von ihnen konzentrieren konnte, griffen die DigiRitter auch schon an. Cyberdramon übernahm die Attacken aus mittelgroßer Distanz. Orochimon war an Land sehr träge und konnte seinen geschossenen Ausradierkrallen kaum ausweichen, die sich zischend in seine Haut fraßen. Allein seine schiere Größe rettete das Asura vor der sofortigen Vernichtung. Natürlich richtete es nun sein ganzes Augenmerk auf Cyberdramon, hob seinen feuerspeienden Kopf und rief: „Sake-Power!“ Der Feuerstoß kam genau wie erwartet. Nicht umsonst war Renji mit Taneo gegangen, obwohl sie erst ein einziges Mal gut zusammengearbeitet hatten. Meramon warf sich vor das Drachendigimon, das mit seinen Angriffen innehielt – und bekam die volle Ladung des Feuerstoßes ab. Taneo unterdrückte den Impuls, an den Fingernägeln kauen zu wollen. Würde es gutgehen? Es ging gut. Als die Flammen versiegten, war Meramons Größe auf das Vierfache angeschwollen. Auch wenn es sich nun erschöpft nach hinten sinken ließ und dabei Quadratmeter von Wiese versengte, es ging ihm gut. Und im nächsten Moment schoss Cyberdramon wieder seine Ausradierkralle auf das Asura. Dann waren auch die anderen da. Orochimon robbte sich langsam in Cyberdramons Nähe, als es hinter sich die anderen DigiRitter heranlaufen sah. Es musste glauben, Taneo wolle es von seinem Schatz weglocken – eisern hielt es die Stellung und peitschte mit seinem Schwanz nach Blossomon und Tyrannomon. „Ihr seid viel frecher als beim letzten Mal“, stellte es fest. „Lästig.“ Taneo konnte Jagari etwas zur Erwiderung schreien hören, aber er verstand die Worte nicht. Wie geplant verschoss Blossomon seine Spiralblumen und umwickelte damit mehr oder weniger Orochimon Schwanz. Das riesige Schlangendigimon befreite sich mühelos aus dem Würgegriff, indem es Blossomon einfach fortschleuderte, aber die kurze Zeit, in der es abgelenkt war, reichten Nefertimon und Kouki und Fumiko, die auf seinem Rücken saßen. Sie umflogen Orochimons Hauptkopf und deckten ihn mit einem vernichtenden Hagel aus Edelsteinen ein. Indessen spielte Tyrannomon weiter das lästige Insekt, das die Haut des Asuras verbrannte. In ohnmächtiger Wut brüllte Orochimon auf und schlug um sich. Es bewegte sich nun tatsächlich auf Cyberdramon zu und versuchte eine neuerliche Sake-Power. „Meramon soll nichts tun“, sagte Taneo. „Nur angreifen.“ Er wollte es nicht ein weiteres Mal der Feuerattacke aussetzen. Wer wusste schon, wie viel es ertragen konnte? Cyberdramon schaffte es auch so, auszuweichen. „Tu, was er sagt“, sagte Renji. Meramon rappelte sich hoch und lief in weitem Bogen um das Digimon herum. Dank seiner neuen Größe war es viel schneller, wenngleich der Boden unter seinen Schritten erzitterte. Im Laufen schoss es Feuerbälle auf Orochimons Körper ab und verminderte damit zusätzlich seine Zielgenauigkeit. Der nächste Teil des Plans wurde gestartet. Orochimon robbte sich weiter auf Taneo und Cyberdramon zu, die es als die größte Gefahr erachtete. Kaum dass es die Digimon in seinem Rücken vernachlässigt hatte, setzte Nefertimon Fumiko beim Samen ab, die begann, ihn mit ihrem DigiVice zu reinigen. Orochimon schien die Veränderung in seinem Netz aus Chaos zu spüren, denn sein neuerliches Fauchen klang schon fast verzweifelt. Es drehte den Kopf nach Fumiko um – und wurde prompt von einer ganzen Ladung Spiralblumen, Feuerstößen und Rosettasteinen begrüßt, die seine Sicht vernebelten. „Was auch immer die Asuras planen, sie hätten es sich sparen können, ein einzelnes von ihnen an einen Ort zu stellen. Wir sind mittlerweile gut genug, es mit Orochimon aufzunehmen. Und jetzt werden wir ein neues Ultra-Digimon dazugewinnen“, sagte Taneo. Renji antwortete nichts, aber vielleicht bedeutete sein grimmiger Gesichtsausdruck auch einfach, dass er beeindruckt war. Mit voller Kraft preschte Orochimon zu Fumiko zurück. Meramon stellte sich schützend vor sie und das Asura war schlau genug, es nicht erneut mit Feuer anzuhauchen. Stattdessen krachte es direkt in das Flammendigimon und fegte es mit seiner schieren Masse fort. Und noch bevor es in den tobenden Flammen, die aufstoben, seine Orientierung wiederfand, kam Cyberdramon wie aus dem Nichts herangeflogen, die Krallen ausgestreckt, und schlitzte den Hauptkörper des Asuras vom Rücken bis zum Kopf auf. Der nächste Schrei des Digimons war ein fassungsloser, wenn auch immer noch genauso wütend. „Verdammte DigiRitter!“, fauchte es, während seine Nebenköpfe zuckten wie unter Strom. „Ihr werdet niemals gewinnen, hört ihr? Unsere Geheimwaffe ist bald wieder einsatzbereit! Selbst wenn ihr alle Samen reinigt, solange einer von uns am Leben ist, werden wir einen Weg finden, die DigiWelt ins Chaos zu stürzen!“ „Wenn du meinst“, sagte Taneo unbeeindruckt, obwohl Orochimon ihn nicht hören konnte. Das Digimon bäumte sich ein letztes Mal auf, dann knallte sein Körper mit grausamer Endgültigkeit auf das Feld, zuckte noch kurz und löste sich auf. Wie schon zuvor erlebten die  DigiRitter das Phänomen, dass seine Daten nicht einfach im Nichts verlorengingen, sondern sich stattdessen am Abendhimmel sammelten und dann gen Westen trieben.   „Gut gemacht.“ Fumiko lächelte, während sie das DigiVice noch zu dem Samen hielt, dessen warzige schwarze Flecken langsam weniger wurden. „Die Ultra-Digimon bleiben, wie sie sind“, bestimmte Taneo. „Der Rest digitiert zurück. Reinigt den Samen.“ Plötzlich stockte er und warf den anderen einen Blick zu. „Wenn ihr alle einverstanden seid.“ Kouki grinste. „Klar. Machen wir es so.“ Renji zuckte mit den Achseln. Während Blossomon und Cyberdramon Wache standen und die anderen den Samen bearbeiteten, packten Taneo und Tageko ihre Rucksäcke aus. Eigentlich hätten sie schon viel früher auf diese Idee kommen können, dachte Tageko. Immerhin hatte schon Piximon einen Fernseher bei sich getragen und LordMyotismon hatte sogar mehrere gesammelt. Die Fernseher waren so schwer, wie es alte Röhrenmonitore eben waren, aber sie waren nicht sonderlich groß. In einem ordentlichen Reiserucksack hatten sie schon Platz. Auch Koukis Rucksack öffneten sie, damit drei Fernseher in der Nähe des Lichtsamens aufgestellt waren. Es sah ein wenig wie eine kleine Basis aus. Renjis Fernseher ließen sie vorerst in dessen Gepäck – wenn alle Stricke rissen und sie fliehen mussten, hatten sie noch einen auf Reserve. Der Samen wurde heller und heller, und bald erlosch auch das unangenehme Gefühl, das sie in seiner Nähe empfanden. Das schöne, schimmernde Licht, das die DigiWelt stabilisierte, übernahm wieder die Kontrolle. Und da sagte Taneo schließlich, wie vereinbart: „Stopp.“ Gehorsam senkten sie die DigiVices. Ein letzter, schwarzer Pilz klammerte sich noch an den Samen wie ein unförmiges Muttermal. „Bist du sicher, dass du es so machen willst?“, fragte Tageko noch einmal nach. „Es ist eine gute Gelegenheit, das schnell hinter uns zu bringen.“ „Das werden wir so oder so. Sofern die Asuras nicht wissen, was wir vorhaben, werden sie kommen, wenn sie es können.“ So warteten sie mit dem fast gereinigten Samen, warteten auf einen Angreifer. Die Digimon waren wieder digitiert – es fiel ihnen nun leichter, das mehrmals hintereinander zu tun. Sollte sich ein weiteres Asura zeigen, um den Samen zu verteidigen, würden sie es aufs Korn nehmen – und sobald das geschah, würde Fumiko den Samen fertigmachen. Und wenn sie das oder die herannahenden Asuras nicht besiegen konnten, würden sie durch die Fernseher in ihre eigene Welt fliehen. Es gab wenig Spielraum für die Asuras, Taneos Plan zu durchkreuzen. Ob deshalb niemand auftauchte, war schwer zu sagen. Vielleicht waren tatsächlich alle anderen Asuras anderweitig beschäftigt. Sie warteten fast eine Stunde, ehe Taneo die anderen abstimmen ließ – offenbar hatte er über Renjis verändertes Verhalten nachgedacht und war zu dem Schluss gekommen, dass er mit seiner gebieterischen Art selbst nicht ganz unschuldig an ihren Reibereien war. Tageko hielt diese Entwicklung für positiv. Schließlich waren sie einstimmig dafür, die Sache zu beenden. „Gehen wir unseren Sieg feiern“, sagte Renji und streckte sich. Fumiko hob ihr DigiVice ein letztes Mal. Der Strahl, der daraus hervorschoss, war wie ein Schuss, der die Dunkelheit mit einem Schlag zerstörte. Ein wohliges Gefühl durchströmte sie alle, dann tauchte die schillernde Blase aus dem Samen auf. Renji sah Jagari erwartungsvoll an. „Nimm ihn“, sagte der kleinere Junge. „So war es abgemacht.“ „Danke, Mann.“ Renji klopfte ihm fröhlich auf die Schulter und packte die Blase, zerdrückte sie zwischen seinen Fingern. Das Licht wurde von seinem DigiVice aufgesaugt, und fast sofort digitierte Meramon. „Meramon, du siehst beschissen aus“, war Renjis Kommentar zur neuen Form seines Digimon-Partners. „Ha. Ich bin jetzt nicht mehr Meramon.“ Das Digimon schlug die eisernen Fäuste gegeneinander. „Ich bin jetzt Volcanomon!“ Es hatte eine humanoide Gestalt, war aber ganz und gar von hellen Stahlplatten umgeben, die es ein wenig wie einen Roboter wirken ließen. Seine Beine steckten in grüne Hosen, vom Gesicht sah man nur Schwärze und gelbe Punktaugen. Volcanomon stand ein wenig nach vorn gebeugt, vielleicht weil aus seinem Rücken eine Art Mini-Vulkan spross. „Warum siehst du nicht furchterregender aus?“, beschwerte sich Renji. Die anderen lachten. „Hebt euch das für später auf“, meinte Kouki dann. „Es gibt keinen Grund mehr, hierzubleiben.“ Während sich die anderen den Fernsehern zuwandten, sah Tageko in die Richtung, in der Orochimons Überreste verschwunden waren, und fragte sich, was es wohl mit dieser Geheimwaffe gemeint hatte.   In dieser Nacht feierten sie noch ausgiebig bei Tageko. Sie hatte Snacks und Tee bereitgestellt und außerdem eine ultra-schokoladige Torte gebacken – oder gekauft? Renji wollte sie eigentlich fragen, fürchtete aber, dann kein Stück abzukriegen. „Du scheinst dir ziemlich sicher gewesen zu sein, dass wir Erfolg haben“, stellte Fumiko fest. Tageko lächelte schwach. „Seht es als Beweis meines Vertrauens in euch.“ Sie stellte die Torte auf den Tisch, während Jagari Teller austeilte. Während dem Essen herrschte heitere Stimmung. Renji scherzte viel mit Kyaromon über dessen neue Digitation. Er freute sich sehr, trotz seiner skeptischen Worte, dass sein Partner nun endlich auch das Ultra-Level erreicht hatte. Nun hinkte er nicht mehr hinter Taneo her – auch wenn ihm das plötzlich nicht mehr so wichtig vorkam. Fumiko und Kouki waren ein wenig seltsam drauf. Einerseits wirkten sie, als wollten sie einander am liebsten in die Arme springen, andererseits verhielten sie sich nun in Gegenwart der anderen so verklemmt, dass es beinahe witzig aussah. Und ausgerechnet Kouki! Renji vergönnte ihm seine Freundin. Nichts konnte ihm heute mehr die Laune vermiesen. Schade nur, dass der Tag nicht mehr lange dauerte. Jagari machte den Mund beim Essen kaum auf, bemerkte Renji irgendwann gegen Ende, aber er beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken. Leute, die er nicht verstand, konnten seine Stimmung nur allzu schnell trüben.   Als sie sich gegen Mitternacht in der Diele des Hauses Mida verabschiedeten, nahm Tageko Taneo zur Seite. „Ist dir das mit Jagari aufgefallen?“, flüsterte sie ihm zu, während die anderen im Vorraum lachend die Schuhe anzogen. „Was denn?“ „Er ist neuerdings so … anders. Als würde ihn etwas bedrücken. Ich mache mir Sorgen um ihn.“ Tageko sah stirnrunzelnd nach draußen, wo Jagari etwas abseits der anderen stand und keinen Versuch startete, an ihren Gesprächen teilzunehmen. Taneo wiederum sah sie stirnrunzelnd an. Tageko war überraschend feinfühlig, was innere Spannungen anging. Vielleicht fühlte sie sich immer noch ein wenig verantwortlich für ihre Teammitglieder. „Denkst du, Renji hat ihn überrumpelt?“ Sie schüttelte den Kopf. „Er war schon vorher so. Seit einigen Tagen.“ „Und was erwartest du jetzt von mir?“ Sie zögerte. „Du … verstehst dich doch mit ihm.“ „Nicht besser oder schlechter als mit euch anderen.“ „Aber er versteht sich besser mit dir. Und ich glaube, er braucht ein Gespräch. Du wärst die beste Ansprechperson dafür. Dir würde er sich anvertrauen.“ Autsch. Taneo hatte wenig Erfahrung damit, die Schulter zum Ausweinen zu sein. „Und wenn du mit ihm redest?“ „Dann heißt es wieder, ich bemuttere ihn.“ Sie schürzte die Lippen. „Bitte, mach es einfach, ja? Ihr steht euch näher. Wenn ich mit ihm rede … Er würde es auch komisch finden.“ Und du auch, dachte er. Schließlich seufzte er. „Ich kann es ja mal versuchen.“ Manchmal schadete es ja nicht, neue Erfahrungen zu machen. Kapitel 29: Einkaufsbummel -------------------------- Das Einkaufszentrum brummte vor Leben an diesem sonnenwarmen Freitag. Kouki hatte gar nicht richtig mitbekommen, wie der Frühling den Winter niedergetrampelt hatte. Wenn er das Haus verließ, um mit Salamon – angeblich – Gassi zu gehen, hatte er immer noch das Gefühl, er müsste sich in dicke Schichten Kleidung einpacken. Die Blumen waren spät dran gewesen, die tote Erde zu sprengen, und der Stadtrand quoll über vor frischem Grün. Der Frühling war definitiv ein Launenbesserer. Kouki fragte sich, inwieweit seine Gefühle für Fumiko auch nur Frühlingsgefühle waren, und ob das nun was Schlechtes oder ein glücklicher Zufall war. Fumiko gehörte definitiv nicht zu den Mädchen, die beim Shoppen einen Riesenaufstand machten, Stunden brauchten, um sich ein Paar Schuhe zu kaufen, und ihren männlichen Begleitern Tonnen von Einkaufstaschen aufbürdeten. Interessanterweise kam ihm dieser Gedanke erst, als sie schon zwei Stunden quer durch das Meer aus Schaufensterpuppen, Glitzerkram hinter dicken Scheiben, Gaming-Zellen und weiteren Geschäften gewatet waren. Kouki kannte sie gut genug, um gar nicht erst derartige Befürchtungen gehegt zu haben – neunzig Prozent der wenigen Einkäufe, die sie bisher getätigt hatten, gehörten Salamon. Eigentlich hatte er gemischte Gefühle dabei, seinen Digimonpartner auf sein Date mitzunehmen, aber Salamon konnte verdammt quengelig sein, und Fumiko hatte sich als Erste erweichen lassen. Und er hatte es ja oft genug allein mit seinen Schwestern zuhause gelassen, so oft, dass es sich schon über Aya beschwert hatte, die gar nicht genug von dem neuen kleinen Hund bekam. In einem Juwelier, den sie just aus Spaß betreten hatten, besahen sie sich für sie unerschwingliche Kostbarkeiten mit ernsten Gesichtern, als verstünden sie etwas davon. Kouki verlangte dann genauso ernst von der Verkäuferin zu wissen, wie groß der Reinheitsgrad einer bestimmten Goldkette war und wie viel Karat das wären. Die gute Dame war bis zum Schluss nicht sicher, ob er es ernst meinte oder sie veräppelte. Sie verließen das kleine Glitzergeschäft. Kouki machte zum Abschluss noch einen Witz; Fumiko lachte und hakte sich bei ihm unter. „Hab ich dir eigentlich schon mal gesagt, dass du dich anders als sonst benimmst, wenn wir zu zweit unterwegs sind?“, fragte er. „Wirklich?“ „Ja.“ Kouki sah grübelnd zur Decke des Einkaufszentrums, wo die Lampen wie weiße Balken glühten. „Aber wenn ich‘s mir recht überlege, dann erst, seit wir zusammen sind.“ „Oh“, machte sie und wich seinem Blick aus. „Das wär mir gar nicht aufgefallen. Ist das … gut oder schlecht?“ Kouki lachte. „Es gefällt mir.“   Ein leises Summen kündigte Thunderboltmon an, ansonsten ließ nichts vermuten, dass es überhaupt in der Nähe war. Taneo hielt eine Hand auf und wie ein dressierter Falke landete es darauf – so schnell, dass es schon fast wie hingezaubert wirkte. „Wie war das?“, fragte es mit seiner hohen Stimme. „Perfekt“, antwortete Taneo lächelnd. Mittlerweile hatte sein Partner seine alte Stärke zurückerlangt und sogar übertroffen. Es konnte nun als Thunderboltmon überall mit ihm unterwegs sein, ohne dass ein Mensch es bemerkte. „Worauf warten wir?“, fragte es, und er merkte, dass er neben dem Gartenzaun stehen geblieben war. „Auf nichts. Komm.“ Thunderboltmon verschwand wieder, und Taneo durchquerte den Garten und drückte auf die Türklingel.   „Kouki, schau!“ „Du sollst doch in der Tasche bleiben!“, sagte Kouki ärgerlich und drückte Salamons Köpfchen wieder in seine Sporttasche zurück. „Aber da drüben!“ Fumiko warf einen Blick auf den Laden, auf den Salamons Pfote zeigte. Er verkaufte Kleintierzubehör, und in der Auslage thronte auf einem majestätischen Kissen ein riesiger, bunt getupfter Gummiknochen. „Hundespielzeug“, stieß Kouki wie einen Fluch aus. Wie Fumiko von ihm erfahren hatte, war Spielzeug jeder Art Salamons neu entflammtes Hobby. Immerhin schien es darauf zu verzichten, die Schuhe der Familie Nagara zu zerkauen, aber ihm wurde in letzter Zeit schnell langweilig. Vor allem in dem Monat, in dem sie sich mit dem Kämpfen zurückgehalten hatten, hatte es Beschäftigung gebraucht. „Lass es doch“, meinte Fumiko. Kouki seufzte. „Vielleicht kriegst du den Knochen, Salamon. Aber nur, wenn du für den Rest von unserem Einkaufsbummel brav bist und in der Tasche bleibst.“ „Aber hier drinnen seh‘ ich nichts!“ Kouki seufzte erneut. „Wieso lässt du es nicht einfach heraus? Hier laufen genug Leute mit Hunden rum. Es würde doch gar nicht auffallen.“ Fumiko deutete auf einen Hundebesitzer, der ihnen entgegenkam. „Weil mein Hund die Angewohnheit hat, nie sein Schnäuzchen zu halten, wenn er soll“, sagte Kouki und stupste Salamons Schnauze, das kicherte. Sie setzten sich wieder in Bewegung. Als der Mann mit dem Hund näher kam, beschlich Fumiko ein Gefühl, als ob … Nein, bildete sie es sich ein? Als sie aneinander vorbei gingen, ohne dass der Mann von ihnen Notiz nahm, blieb sie stehen und sah ihm stirnrunzelnd nach. „Hast du was?“, fragte Kouki, der schon in paar Schritte weitermarschiert war. Fumiko schüttelte bedächtig den Kopf. „Nein, ich … dachte nur …“ Ihr Kopfschütteln wurde energischer. „Wahrscheinlich täusche ich mich.“ Sie drehte sich wieder zu ihrem Freund um und wollte schon zu ihm aufschließen, als eine Stimme hinter ihr ertönte. „Déjà-vu.“ Mit einem überraschten Seufzer drehte sie sich abermals um und bemerkte, dass der Mann mit dem Hund auch stehen geblieben war und in ihre Richtung sah. Ein wissendes Lächeln zierte sein Gesicht – das Allerweltsgesicht schlechthin. Hätte er sich abgewandt, hätte sie vergessen, wie er aussah. Sie hatte sich nicht daran erinnert. Schon eher an den Wintermantel mit dem hochgeschlagenen Kragen – und vor allem an den riesigen Kampfhund. „Einem Sprichwort zufolge läuft man sich immer zweimal über den Weg“, sagte der Mann mit einem warmen Lächeln. „Ich wusste doch, dass ich ihn kenne“, murmelte Fumiko, mehr zu sich selbst. „Hm? Wer ist das denn?“, fragte Kouki neugierig. „Erinnerst du dich nicht?“, fragte sie, den Hund nicht aus den Augen lassend. „Du warst doch auch dabei.“ „Ah!“ Jetzt schien der Groschen bei ihm zu fallen. „Sie … Sie sind … Das war Ihr Hund, der Fumiko damals angefallen ist!“ Sie spürte, wie er ihre Hand drückte. „Kouki“, flüsterte Salamon, das den anderen Hund wohl witterte. Kouki hielt seine Hand über die Tasche, um es daran zu hindern, herauszuspähen. Dann zwang er sich sichtlich zu einem Lächeln und sagte in versöhnlichem Ton: „Ich hoffe, dass Sie Ihren Hund mittlerweile besser unter Kontrolle haben.“ „Nun ja, teils, teils.“ Der Mann musterte sein Monstrum von einem Kampfhund etwas ratlos. Fumiko kannte sich zu wenig mit Hunderassen aus, um diese eindeutig bestimmen zu können, aber er war wirklich riesig. „Üblicherweise tut er, was ich sage. Und dann gibt es wieder Momente, in denen, naja, er seinen eigenen Willen durchsetzt.“ „Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen ein paar Tipps geben“, bot Kouki an. „Ich kenn mich mit Hunden gut aus.“ Der Mann schenkte ihm ein breites Lächeln. „Danke. Aber ich mag es, dass er einen freien Willen hat.“ „Naja, aber …“ Kouki stockte kurz. „Das ist ja schön und gut, aber Sie sollten Ihren Hund schon richtig abrichten.“ „Kouki!“, zischte Salamon wieder. „Schscht!“ Er drückte das Köpfchen, das sich keck aus der Tasche erheben wollte, mit sanfter Gewalt wieder hinein. „Sie müssen Ihrem Hund zeigen, dass Sie der Boss sind. Schließlich sind sie Rudeltiere, die brauchen einen Anführer.“ Stirnrunzelnd besah sich der Mann seinen Hund, der im Moment artig neben ihm hockte. „Hm, das mag schon sein, aber ich weiß nicht, ob so die Kameradschaft zwischen uns wirklich funktionieren würde. Egal, wer nun der Anführer ist, ich bin der Auffassung, dass jedes Individuum seine eigenen Entscheidungen treffen sollte.“ „Auch wenn das bedeutet, dass Ihr Hund wieder Menschen angreift?“, fragte Fumiko trocken. „Aber ganz besonders dann!“ Das Lächeln des Mannes wurde zu einem breiten Grinsen. Er legte den Kopf schief und breitete gewinnend die Arme aus. „Vor allem, wenn es sich dabei um kleine Mädchen handelt, die ein DigiVice in ihrer Tasche herumschleppen.“ Zunächst begriff Fumiko gar nicht, was er da gerade gesagt hatte. Sie wollte ihn schon einen Spinner nennen und auf dem Absatz kehrtmachen, als ihr der letzte Teil seines Satzes ins Bewusstsein sickerte. „W-was?“ Salamon schüttelte Koukis Hand ab und sein Kopf schoss förmlich aus der Sporttasche. „Kouki, irgendwas stimmt mit ihm nicht!“, rief es schrill. „Salamon!“, zischte Kouki wütend, aber der Mann schien sich nicht an einem sprechenden Welpen zu stören. Er lachte nur leise in sich hinein und breitete erneut die Arme aus. „Erlaubt mir, dass ich meinem Hund zeige, wie man es richtig macht!“ Plötzlich loderten in seinen beiden Händen meterhohe Flammen auf. Fumiko reagierte als Erste. „Weg hier!“ Sie schoss davon wie eine Kanonenkugel, prallte dabei so gegen Kouki, dass sie ihn mit sich reißen konnte. Ihre Schuhe donnerten hart gegen den Linoleumboden des Einkaufszentrums. Links und rechts von ihnen zerplatzten fauchend Feuerbälle und spritzten ihnen glühende Luft ins Gesicht. Die Hitze raubte ihnen den Atem. Binnen Sekunden erhob sich ein markdurchdringendes Geschrei, als all die harmlosen Einkaufsbummler die Flammen bemerkten. Schritte trampelten in jede Richtung davon, Leiber prallten gegeneinander, als würde das Feuer sie fortwehen. Eine dritte Stichflamme züngelte knapp über Fumikos Kopf hinweg. Sie hörte Kouki neben sich keuchen. „Das gibt’s doch nicht!“, japste er. „Ist er ein Digimon?“ Fumiko fand nicht die Muße, über diese Frage nachzudenken. Wohin rannten sie? Konnte der Mann sie einholen? Die Feuerbälle waren nun schlechter gezielt, zerbarsten an Schaufenstern oder dem großen Springbrunnen in der Mitte der Halle. Eine Hitzewelle rollte an ihnen vorbei, und als die Flammen versiegten, war der Boden geschmolzen. Der Gestank von etwas Geschmortem lag in der Luft. Gackerndes Gelächter kündete davon, dass der Angreifer einen irren Spaß hatte. Dann übertönte es das schrille Läuten des Feueralarms. Aus einer Gischt aus Funken und Rauchfetzen schälten sich die Rolltreppen, die in die zweite Etage führten. Ohne lange zu überlegen, stürmten Fumiko und Kouki hinauf. Ihre Lungen brannten, jeder keuchende Atemzug füllte sie mit geschmolzener Luft. „Kouki, ich muss digitieren!“, schrie Salamon aus seiner Tasche. „Du kannst doch nicht hier mitten im Kaufhaus digitieren!“, stieß er atemlos hervor. Sie hatten die obere Etage fast erreicht, als ein feuerroter Komet genau am Treppenabsatz einschlug. Die Flammen stoben auseinander und gaben den Blick auf den verrückten Mann frei, der jetzt plötzlich direkt vor ihnen stand. Vor ihren Augen fiel der größte Teil seines Mantels in kleinen, glühenden Fetzen von ihm ab und offenbarte ein dürres Gerippe von einem Körper, das in orangerote Kleidung gehüllt war. Auch das Gesicht verwandelte sich, wurde grau und pergamentartig, als wäre es schon vor langer Zeit völlig ausgedörrt. Der Mund wurde noch breiter, dicke Schnüre schienen ihn am Kiefer zu halten, und auf dem Kopf erschien eine Art Hexenhut. Fumiko hatte keinen Zweifel mehr daran, dass das da ein Digimon war. Gebannt von dem Anblick dachten sie erst gar nicht daran, ihre Flucht fortzusetzen. Die Rolltreppe schob sie unbarmherzig näher an das Wesen heran. Ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Kehle. „Ach, hätte ich nur damals schon geahnt, welche Schwierigkeiten ihr uns noch bereiten würdet. Dann wäre ich meinem vierbeinigen Freund zur Hilfe gekommen. Das hat man nun davon, wenn man in einer fremden Welt möglichst keine Aufmerksamkeit erregen soll!“ Die letzten Worte spie es ihnen förmlich entgegen. Plötzlich schwenkte es einen Zauberstab, der wie ein überdimensioniertes Streichholz aussah, und ein neuer Feuerball schoss auf sie zu. Mit Kampfgeheul sprang Salamon aus Koukis Tasche und wurde voll erwischt. Im hohen Bogen flog es rückwärts durch die Luft und landete irgendwo unten im rauchverhangenen Erdgeschoss des Einkaufszentrums. Salamons Schrei löste die beiden aus ihrer Starrte. Diesmal war es Kouki, der Fumiko mit sich riss. Sie schwangen sich auf die benachbarte Rolltreppe und stürmten wieder hinunter, auf der Flucht vor diesem Digimon, das schneller war als der Wind. „Kouki, lass mich digitieren!“, rief Salamon irgendwo zwischen Rauch und Feuer. Immerhin lebte es also noch … Und kurz darauf sahen sie, dass es bereits zu Gatomon digitiert war. „Also gut!“, brüllte Kouki, als sie unten ankamen und er fast gestolpert wäre. In seiner Hand hielt er sein DGX-Terminal. „DigiArmorEi des Lichts, erstrahle!“   Das Untier verwandelte sich, aber gleichzeitig stieg er ein Level auf und machte es mit einem weiteren Streich platt. Schadenspunkte flackerten überall auf dem Bildschirm auf, nachdem Jagari einen Flächenzauber auf die übrigen Ghule losgelassen hatte. Das war ja fast zu einfach. Es pochte an seine Zimmertür. „Jagari?“ Seine Mutter. Was wollte sie schon wieder? „Dein Freund ist da.“ „Was?“ Verwirrt setzte er das Headset ab. Wer kam ihn denn heute besuchen? Als er sich umdrehte, stand die Tür bereits offen. „Taneo!“, rief er aus. Der Junge nickte ihm zu. „Kann ich reinkommen?“ Kurze Zeit später saßen sie beide in seinem Zimmer. Seine Mutter hatte ihnen zwei Gläser Holundersaft gebracht und sich wieder in die Küche verzogen. Jagari blieb in seinem Schreibtischsessel sitzen. Taneo hatte sich ungefragt auf Jagaris Bett bei Motimon niedergelassen. Thunderboltmon war auf Taneos Schulter erschienen, kaum dass sie allein waren. Jagari empfand tiefe Bewunderung dafür, dass es ihm gelang, ein so hohes Level in der Menschenwelt zu halten. Die beiden Digimon tollten kurz darauf über das Bett und den Schrank, was dank ihrer Körpergröße ein richtiger Abenteuerspielplatz für sie sein musste. Taneos Blick ruhte auf Jagari, dass ihm ganz unwohl dabei wurde. Schließlich seufzte der andere Junge. „Also, wie fange ich am besten an? Tageko hat gesagt, dass ich mal mit dir reden soll.“ „Ach ja?“, fragte Jagari misstrauisch. Taneo war derjenige von seinen Freunden, den er noch am ehesten wirklich als Freund sah, aber dennoch, wenn er nur herkam, weil ihre Cliquenmutter das von ihm verlangte … „Sie macht sich Sorgen. Und wenn ich’s mir recht überlege, ich auch.“ „Wieso denn?“, seufzte er, hatte aber schon eine konkrete Ahnung. „Du scheinst in letzter Zeit irgendwie … neben der Spur zu sein.“ „Was soll das heißen, neben der Spur?“ „Naja.“ Taneo betrachtete seine eigenen Hände, die einander kneteten. Offenbar fühlte er sich nicht ganz wohl in seiner Haut. „Du bist sehr passiv …“ „Na und?“, fiel Jagari ihm viel zu aggressiv ins Wort. „Ist das schlecht? Es kann doch nicht jeder immer am Reden sein!“ „Nein, aber gar nicht zu reden und unglücklich dreinzusehen ist auch nicht richtig“, entgegnete Taneo ruhig. „Was willst du denn von mir?“, fragte er ungehalten und lehnte sich in seinem Sessel zurück, die Decke betrachtend. „Ich will, dass du mir sagst, was dich bedrückt. Dann suchen wir eine Lösung.“ Jagari rollte mit den Augen. Er wusste selbst nicht, warum er auf einmal so gereizt war. Vielleicht, weil er einfach nicht darüber reden wollte. Es war unangenehm und peinlich und außerdem … Ging es Taneo überhaupt etwas an? „Ist es wegen Renji?“, fragte der, als Jagari schwieg. Er stöhnte. „Oh nein, bitte, brich wegen mir nicht wieder einen Streit mit ihm vom Zaun, ja?“ „Sag’s mir einfach. Fühlst du dich von ihm übergangen?“ „Nein! Es war ja abgemacht, dass er …“ „Du hast dein Recht aber auch nicht verteidigt.“ Sein neuerliches Stöhnen klang in seinen eigenen Ohren hässlich, wie das Röhren eines wilden Tiers. „Verstehst du, ich muss doch nicht unbedingt mit einem starken Digimon kämpfen! Wenn ich euch das Kämpfen überlasse, ist das viel klüger!“ Taneo legte den Kopf schief und musterte ihn durchdringend. „Kann es sein, dass du ziemlich an dir selbst zweifelst?“ „Nein, gar nicht“, behauptete Jagari. Taneo nickte. „Stimmt. Du zweifelst an Motimon.“ Ihre Digimon, die auf dem Schrank herumturnten, hielten inne. Jagari sah in Motimons treue Augen. Er hoffte, dass es das nicht ebenfalls glaubte. „Hältst du es für so schwach?“, fragte Taneo. „Jetzt hör mir mal zu …“, brauste Jagari auf, wurde aber sofort unterbrochen. „Du hörst zu!“ Taneo suchte nach Worten, dann hob er seufzend die Hände. „Ich hab’s gewusst. Ich bin der falsche Typ für so etwas. Tageko meinte, wir könnten da gemeinsam eine Lösung finden, aber …“ Er lachte leise und hob die Schultern. „Weißt du, ich bin eher jemand, der handelt und keine großen Reden schwingt.“ „Sag das nicht“, rief Jagari aus. „Ich finde, was du sagst, hat immer Hand und Fuß!“ „Tja, wenn es um Kampfpläne geht“, meinte Taneo bitter. Seine rechte Hand massierte die linke. Eine Weile sagte er nichts, dann, plötzlich: „Kann es sein, dass das dein Problem ist?“ „Hm?“ „Ich weiß nicht genau, was dich davon abhält, dich einfach richtig in unsere Gruppe zu integrieren. Und mit uns Spaß zu haben.“ Er sah geistesabwesend aus dem Fenster. „Mich hält meistens die Verantwortung davon ab. Aber die Abenteuer in der DigiWelt machen mir Spaß, auch wenn ich mich zwingen müsste, euch das zu zeigen. Ich glaube aber nicht, dass es bei dir auch daran liegt. Dass du versuchst, den Vernünftigen zu mimen. Also, was ist es, Jagari? Hast du auch etwas, worin du nicht gut bist? Wo du dich den anderen unterlegen fühlst?“ Jagari brummte nur etwas Unverständliches. „Ich werte das mal als Ja. Hör zu, Jagari. So wie ich zum Beispiel nicht der große Beziehungsguru bin oder wie immer man das nennt, hast auch du verschiedene Stärken und Schwächen. Das ist völlig in Ordnung. Das einzig Wichtige ist, dass man seine Grenzen kennt. Und je nachdem welcher Typ Mensch man ist, lebt man, so gut man kann.“ Motimon kam über das Bett gewatschelt und sprang auf Jagaris Schoß. Abwesend begann Jagari es zu streicheln. In Taneos Hosentasche vibrierte sein Handy, aber er bewegte sich nicht. Jagari wusste, dass er ihn immer noch unverwandt anstarrte. Schließlich seufzte er schwer. „Na schön. Ich sag dir, was ich glaube, was mit mir los ist. Ich versuch’s.“ Taneo lächelte leise. „Gut.“ Kapitel 30: Von Pflaumenmus und Leitungswasser ---------------------------------------------- Kouki riss das Handy von seinem Ohr. „Das gibt’s ja nicht! Wo sind die alle?“, rief er verzweifelt. Er hatte erst Renji angerufen, dann Taneo, und keiner von beiden hatte abgehoben. Nefertimon flog eine weitere halsbrecherische Kurve, um einem Feuerball zu entgehen, der daraufhin gegen eine Glaswand im zweiten Stock klatschte. Fumikos Arme umklammerten ihn fest von hinten. Das Flammendigimon raste wie eine Sternschnuppe hinter ihnen her. Nefertimon flog die Schleife zuende und nahm es ins Visier. „Rosettastein!“ Aus den Schmuckplatten an seinen Pfoten schossen Rubine wie ein Bienenschwarm. In einer eleganten Pirouette wich das Feuerdigimon aus, die Steine zerschmetterten dafür drei Meter Wand und eine der hübschen Säulen, die das Einkaufszentrum zierten. „Nefertimon, du darfst hier auf keinen Fall was kaputtmachen!“, rief Kouki. „Ich glaube nicht, dass das noch eine Rolle spielt“, sagte Fumiko, gerade laut genug, dass er sie über den Lärm hören konnte. Immer noch waren Menschen unter ihnen auf der Flucht, in alle möglichen Richtungen, rannten über geschmolzenen Fußboden und schwelende Glutherde. An der hohen Decke und in den Geschäften waren Sprinkler angegangen, die das Feuer einigermaßen unter Kontrolle gehalten hätten, kämen nicht ständig neue, gierig leckende, orangerote Zungen hinzu. Eine Stimme befahl über die Lautsprecher, dass alle Ruhe bewahren und die Notausgänge benutzen sollten – entweder hatte jene Stimme noch nichts von diesem randalierenden Digimon gehört, oder sie war einfach überfordert mit der Situation. Kouki meinte schon die Alarmsirenen von Polizei und Feuerwehr zu hören, aber vielleicht war das reines Wunschdenken. Nefertimons Flügel peitschten so heftig durch die Luft, dass sie Federn ließen. Es flog noch höher; Kouki und Fumiko waren von dem kalten Sprühregen bereits bis auf die Haut durchnässt. Vielleicht war das gut so. Plötzlich vibrierte das Handy in seine Hand. „Endlich!“ Er hob ab, ohne auf das Display zu sehen. „Hallo?“ „Hey Mann, was geht?“, hörte er Renji nuscheln. „Ich hab grad so schön gepennt.“ „Dann raus aus dem Bett! Komm sofort ins Mercurio-Einkaufszentrum!“, brüllte Kouki. „Ins …“ Renji schien den Hintergrundlärm zu bemerken. „Scheiße, was ist los, Mann?“ „Wirst du schon sehen! Nimm Candlemon mit! Und beeil dich! Und ruf die anderen an! Uns geht’s hier an den Kragen!“ Neue Feuersäulen fauchten an ihnen vorbei, malten verzogene Muster an die Decke. Nefertimon flog einen halben Looping, als ein Feuerball von schräg rechts kam und seinen Flügel streifte. Es taumelte in der Luft, für einen Moment glaubte Kouki, dass sie gleich von seinem Rücken geschleudert würden, und krallte sich in seinem Fell fest. Ein zweiter Stoß erschütterte das Sphinx-Digimon und Koukis Handy entglitt ihm. Mit zusammengebissenen Zähnen sah er es in die Tiefe segeln. Hoffentlich erreichte Renji die anderen … Wobei schon ein Wunder geschehen müsste, damit sie rechtzeitig hier wären … „Kouki, da vorne!“ Fumiko deutete auf einen Keramikladen oder etwas in der Art. Große Vasen, verzierte Platten und Wände mit ausgestellten Fliesen führten tief in die Eingeweide des Einkaufszentrums. „Wenn die die Flammen aushalten, erwischt es uns nicht so leicht! Nefertimon kann mit uns auf dem Rücken nicht richtig kämpfen!“ Das ist keine gute Idee, dachte er, aber eine bessere hatte er auch nicht. Mit der zusätzlichen Last war Nefertimon einfach zu langsam. Er sah den rechten Flügel seines Partners an, der verkohlt war und noch rauchte. „Also schön.“ Nefertimon landete auf der Galerie im ersten Stock und ließ sie absteigen. Sofort gingen sie hinter den künstlichen Wällen aus Keramikplatten in Deckung – und hofften, dass sie standhielten. „Na endlich!“, rief das Flammendigimon erfreut. „Ich dachte schon, ich muss euch ewig jagen!“ „Du stehst also auf Feuer?“, schrie Kouki zurück. Ein Strahl aus Licht raubte Nefertimon seine Gestalt und kehrte zurück in das DGX-Terminal. „DigiArmorEi des Mutes, erstrahle!“ Lynxmon stürzte sich auf den Feuermann, mitten durch ein Sperrfeuer aus Flammenkugeln hindurch, und riss ihn aus der Luft. Sie prallten auf den geschmolzenen Boden, der noch mehr Wellen schlug, als Lynxmon die Umgebung aufheizte. Das Digimon versuchte sich zu befreien, sah aber nicht so aus, als würde es Schmerzen leiden. „Das bringt nichts, Kouki“, erkannte Fumiko. Sie spähten hinter der Mauer in der Auslage ins Erdgeschoss hinunter. „Okay, probieren wir was anderes!“ Er ließ Gatomon zu Rabbitmon werden, das blitzschnell auf Abstand ging und den Feuerbällen gekonnt auswich. Immer wieder beschoss es den Feuermann mit Energiestrahlen, doch der wehrte sie einfach mit seinen behandschuhten Händen ab, aus denen jedes Mal Funken stoben. „Es ist zu stark!“, rief Fumiko. Kouki biss die Zähne zusammen. Dann verwehten plötzlich zwei wirbelnde, grünbraune Spiralen die Rauchschwaden. Das Digimon streckte erneut die Arme aus, doch dieses Mal erwischte die Attacke es mit solcher Wucht, dass es rückwärts gegen die Wand geschleudert wurde, die unter dem Aufprall nachgab und zerbarst. Schutt und Putz rieselten herab, und für einen Moment erstarb das wütende Flammenfauchen. „Tageko!“, riefen Fumiko und Kouki wie aus einer Kehle, sprangen hinter ihrer Deckung hervor und rannten auf die nächstbeste Rolltreppe zu. Wenn Tageko unten bei ihren Digimon stand, gab es keinen Grund, nicht dasselbe zu tun. Ihre Freundin lief ihnen entgegen. „Sorry, dass ich so spät komme! Renji hat mir bescheidgesagt!“ Blossomon bearbeitete das Digimon in der Staubwolke mit seinen Spiralblumen, und Rabbitmon schoss ebenfalls fleißig. Ob sie auch trafen, sah Kouki nicht. Er und Fumiko blieben vor Tageko stehen und atmeten erst einmal tief durch. „Wow“, sagte er dann. „Sowas nenn ich Rettung in letzter Minute.“ Tageko lächelte schief. „Zwei Minuten später, und der Film hätte angefangen.“ Kouki brauchte einen Moment – und einen spitzen Schrei, der von jenseits des Kampfplatzes kam –, bis er verstand. Tageko war offenbar mit ihren Freundinnen im Kino gewesen, gleich im Gebäude nebenan. Er meinte, zwischen den Rauchschwaden die anderen Staffelläuferinnen zu erkennen, die mit ungläubig geweiteten Augen auf die kämpfenden Digimon zeigten und irgendetwas kreischten. Tageko fuhr herum. „Ihr solltet doch draußen warten!“, rief sie und stöhnte im nächsten Atemzug auf. „Ihnen das zu erklären, wird schwierig.“ Im nächsten Moment schoss ein Komet aus der Staubwolke hervor, auf die Blossomon immer noch einprügelte, zog einen Bogen durch das demolierte Einkaufszentrum – und landete direkt hinter Tagekos Freundinnen. Ein neuer Aufschrei wehte an Koukis Ohr, als Flammen nach allen Seiten spritzten, dann stand das Digimon hinter den Mädchen und legte wie beschützend die Arme um zwei von ihnen. „Versuchen wir es eben so“, verkündete es mit gesenktem Kopf, sodass man seine Augen nicht sah. An der Spitze seines Zauberstabs glühte ein neuer Feuerball auf. „Lass sie sofort gehen!“, schrie Tageko. Das Digimon kicherte. „Und wenn nicht?“   „Das Ganze hängt also mit Fumikos Geburtstagsfeier zusammen“, fasste Taneo zusammen. „Die Einladung hat dich ins Grübeln gebracht, ob du überhaupt erwünscht bist oder ob sie dich nur obligatorisch eingeladen hat. Und das hat dazu geführt, dass du über deine Stellung bei uns ins Zweifeln gekommen bist. Und dass du nicht weißt, ob wir Freunde oder nur Kollegen sind. Ob wir dich als Freund sehen, als Freund haben wollen.“ Jagari wich seinem Blick aus. „Das ist nicht ganz das, was ich gesagt habe.“ „Ich habe aber das herausgehört. Stimmt es nicht?“ Der blonde Junge schluckte. „Wenn du es so trocken sagst, klingt es echt erbärmlich“, sagte er leise. „Wenn man Gedanken und Gefühle rational analysiert, klingen sie meistens erbärmlich. Aber da jeder denkt und fühlt, kann man gewisse Sachen nachvollziehen.“ Taneo sah ihn ruhig an. „Willst du meine Meinung dazu hören?“ Jagari nickte. „Also, ich denke, es spielt keine Rolle.“ Jetzt horchte er ungläubig auf. „Du glaubst, es spielt keine Rolle? Tut mir leid, wenn ich dir deine Zeit stehle. Ich wollte es ja eigentlich nicht erzählen.“ Er verschränkte missmutig die Arme. „Du verstehst mich nicht. Es spielt keine Rolle, ob wir dich als Freund oder Kollegen sehen. Nicht so, wie du glaubst. Wenn wir zusammen sind, hast du das Gefühl, dass dich irgendjemand von uns ablehnt? Von Renjis gelegentlichem Rummotzen mal abgesehen.“ „Nicht wirklich, aber …“ „Eben. Wenn es ein Problem für uns darstellt, wenn wir eine klare Unterscheidung zwischen Freund und Kollege machen würden, dann wären wir selbst schuld, wenn wir es dir nicht irgendwie mitteilen. Und ich hätte auch noch nicht bemerkt, dass irgendjemand hinter deinem Rücken schlecht über dich redet. Die Umkehrung ist wichtiger: Was sind wir für dich?“ Jagari druckste herum. „Ich weiß nicht. Ich … habe schon länger keine … richtigen Freunde gehabt. Ich weiß nicht, ob ich je welche hatte. Also kann ich nicht sagen, wie es sich anfühlt.“ Taneo unterdrückte ein Seufzen und beschloss, geduldig zu sein. „Dann vergiss für einen Moment die Wörter Freund und Kollege. Bis du gern mit uns zusammen? Kannst du in unserer Gegenwart lachen und freust du dich, wenn wir was zusammen unternehmen?“ „Ich … ja! Der Kinobesuch war super, und …“ Jagari wich wieder seinem Blick aus und schrumpfte in sich zusammen, als müsste er sich schämen. „Und ich habe mich auch zum ersten Mal irgendwo zugehörig gefühlt, als Fumiko mich eingeladen hat. Dann kamen die Zweifel …“ „Das bedeutet, du siehst uns als Freunde“, stellte Taneo fest. „Oder hättest uns gern als Freunde. Du könntest uns das ganz einfach spüren lassen, indem du nicht ständig glaubst, dass du das nicht verdienst. Du stehst dir selbst im Weg.“ „Das weiß ich ja, aber …“ Jagari lehnte sich seufzend zurück. „Wenn ihr mich nicht als Freund haben wollt, dann spielt es ja keine Rolle, was ich will.“ Taneo hob eine Augenbraue. „Und warum glaubst du, dass wir dich nicht dabeihaben wollen? Hat das irgendjemand zu dir gesagt? Womöglich ein Asura? Oder ein Typ auf der Straße, der weder dich noch uns kennt?“ Jagari schwieg. „Wusstest du, dass Kouki kein Pflaumenmus mag?“, fragte Taneo unvermittelt. „Hä? Äh, nein, was hat das …“ „Ich weiß es auch nicht. Aber könnte doch sein, oder? Ich werde ihm zur Sicherheit nie welches vorsetzen. Fragen werde ich ihn aber auch nicht, weil ich nicht sicher bin, ob er es nicht nur aus Höflichkeit nicht ablehnt. Übrigens könnte es sein, dass er eine Unverträglichkeit gegenüber Leitungswasser hat. Ich werde ihm sicherheitshalber nie was zu trinken anbieten. Außerdem ist er schwul. Als Fumiko ihn gefragt hat, ob sie nicht ein Paar werden wollen, wollte er sie nur nicht verletzen, aber er kann mit Mädchen nichts anfangen. Woher ich das weiß? Tu ich nicht. Aber es könnte sein. Also tu ich ihm am besten einen Gefallen und versuche, die beiden auseinanderzubringen. Wenn ich mich doch irre, nehme ich hinterher die ganze Verantwortung auf mich, ich Held.“ Taneo sah Jagari forschend an. „Klingt das nicht ziemlich dämlich?“ „Ziemlich, ja.“ „Es ist genau das, was du auch tust.“ Er ließ ihn erst mal eine Weile darüber nachdenken. „Jagari, wenn du uns als Freunde sehen willst, hab einfach Spaß mit uns, so wie es sich für Freunde gehört. Wenn wir dich ablehnen, sollen wir dir das gefälligst zeigen. Wenn wir dir gegenüber kühl sind, weißt du sofort, dass etwas nicht stimmt. Ansonsten kannst du tausendmal vermuten, dass wir uns nur nicht trauen, dich abzuweisen. Klammere dich nicht an eine Vorstellung, für die es keine Beweise gibt.“ „Aber wir haben … Ohne diese Sache mit der DigiWelt hätten wir uns nie kennengelernt!“ „Das stimmt. Und?“ „Was heißt hier und? Wir sind nur in einem Team gelandet, weil uns irgendeine Macht zufällig auserwählt hat! Darum haben wir uns zusammengerauft und Sachen miteinander unternommen.“ „Und?“ Jagari funkelte ihn an. Taneo brachte ihn wohl gerade ziemlich auf die Palme. „Und das heißt, dass ihr sonst nie mit mir zu tun gehabt hättet! Zwei Fußballer, eine Läuferin, ein stilles Mädchen und du? Wie hätten wir je Freunde werden können, wenn es die DigiWelt nicht gäbe?“ „Ist es dann nicht gut, dass es sie gibt?“ Jagari stöhnte. „Du verstehst mich einfach nicht.“ „Ich verstehe dich schon. Ich hab längst verstanden, wie du denkst. Sei mir nicht böse, aber du bist bescheuert.“ Er lächelte leise, als er Jagaris verdutztes Gesicht sah. „Wir wären keine Freunde, hätten wir uns nicht unter bestimmten Umständen kennengelernt. Wie viele Freundschaften entstehen, glaubst du, ganz ohne irgendwelche Umstände? Hast du je erlebt, dass Leute in der U-Bahn dicke Freunde werden? Es ist ein Fakt, dass das mit der DigiWelt passiert ist. Hätten wir uns anders kennengelernt? Vermutlich nicht. Wären Renji und Kouki Freunde geworden, wenn sie nicht beide gern Fußball spielen würden? Hätte sich Renji mit den anderen Affen in seiner Klasse befreunden können, wenn ganz Japan durch ein Erdbeben zerstört worden wäre? Ich erzähle dir, wie sich meine Großeltern kennen gelernt haben. Es war im Krieg. Mein Großvater war verwundet und wurde von seinen Leuten zurückgelassen. Er hat sich in ein Dorf geschleppt. Meine Großmutter hat ihn gefunden und gepflegt. Sie haben sich verliebt und nach dem Krieg geheiratet. Wie eine Bilderbuchgeschichte, oder? Jetzt sag mir, ob ihre Liebe deswegen weniger wert war. Oder ob es einfach nicht gilt, da sie einander unter besonderen Umständen kennengelernt haben. Dürfte es mich also gar nicht geben? Alle möglichen Sachen passieren zufällig. Ich finde, je unglaublicher diese Zufälle sind, desto wertvoller sind die Auswirkungen. Die DigiWelt und die Gefahren dort haben uns zu Freunden gemacht, na und? Seit Urzeiten werden Leute zu Freunden, weil sie einander helfen. Ich glaube sogar, dass die Gefahr das Innere der Menschen nach außen kehrt. Wäre es absolut unmöglich, dass wir Freunde, ein Team werden, genetisch bedingt oder schicksalsbehaftet oder warum auch immer, dann hätten wir uns längst zerstritten.“ Jagari schien kein Gegenargument einzufallen. Beinharte Logik und Dinge auseinanderzunehmen, die andere ohne Grund für selbstverständlich hielten, waren zwei von Taneos Stärken. „Wie ist es mit dir?“, fragte Jagari plötzlich. „Was meinst du?“ „Was denkst du über unsere Clique? Fühlst du dich als vollwertiges Mitglied? Nein, Quatsch, natürlich tust du das, aber findest du, wir sind Freunde?“ Taneo war erst verdutzt. Mit so einer Gegenfrage hatte er nicht gerechnet. Dann lächelte er. „Ich denke eigentlich nicht in Schubladen wie Freunde und Nicht-Freunde, und dass es irgendwo eine Grenze zwischen Bekannten, Leuten, die man mag, und Freunden gibt. Wenn mich jemand fragt, wer die Menschen sind, die ich am ehesten als Freunde ansehe, dann seid ihr das. Vielleicht die einen mehr, die anderen weniger.“ Er dachte an Renji, obwohl er ihn längst nicht mehr so schlecht leiden konnte wie früher. Das brachte ihn auf eine Idee. „Ist wohl alles ein dynamischer Prozess. Ich glaube, wenn wir die Asuras erst besiegt haben, werden wir noch unglaublich viel Spaß in der DigiWelt haben. Nicht als Zweckgemeinschaft, sondern als Freunde, die die Fremdartigkeit dort genießen. Wir werden so richtig zusammenwachsen.“ Jagari lächelte ob dieser Aussicht. „Du kannst besser Reden schwingen, als du zugibst“, stellte er fest. Taneo lachte, ein wenig verlegen. „Man tut, was man kann. Und was wirst du jetzt tun? Gibst du uns eine Chance? Und dir?“ Der Junge lächelte immer noch. „Ich werde es versuchen. Ernsthaft. Sorry, dass ich so ein Weichei bin.“ „Bist du nicht. Überhaupt nicht. Immerhin denkst du drüber nach, was andere denken könnten. Renji hätte solche Zweifel zum Beispiel nie.“ Jagari lachte. Es klang ein wenig erlöst. Vielleicht durfte Taneo sich tatsächlich auf die Schulter klopfen. „Und vergiss nicht: Tageko hat sich Sorgen um dich gemacht. Ich hab mir die Mühe gemacht, mit dir zu reden. Kouki würde sich sowieso mit jedem auf der Welt anfreunden, wenn er könnte. Renji vergessen wir mal, aber ich bin mir ziemlich sicher, wenn er was gegen dich hätte, würde er das auch sagen. Und Fumiko hat dich auch eingeladen. Wir sehen dich als Freund, Jagari, also versuch das nicht in deinen Gedanken irgendwie zu überschreiben, okay?“ Taneo akzeptierte Jagaris „Danke“ mit einem Nicken und fischte sein Handy aus der Tasche. Kouki hatte ihn angerufen, dann Renji.   „Wir fangen damit an, dass ihr eure Digimon zurückdigitieren lasst“, verkündete der Flammenmann. Fumiko hörte Kouki fluchen, aber durch die Rauchschwaden konnte sie ihn nicht sehen. „Sie haben nichts damit zu tun!“, rief er betont langsam, um Zeit zu schinden. „Jetzt haben sie es“, kicherte das Digimon. Fumiko setzte langsam einen Fuß vor den anderen. Der Boden war teilweise geschmolzen, teilweise von Glutnestern bedeckt wie von orangeroten Spinnenweben. Es stank nach verbranntem Gummi und Plastik, und der Qualm war dick und schwarz. Ob das Digimon sie bemerkte? Ein schwaches Licht glühte auf. Wahrscheinlich Rabbitmon, das zu Gatomon zurückdigitierte. „Brav. Jetzt das andere.“ Fumiko war nun nahe genug dran, um zu hören, wie das Flammendigimon kichernd zu Tagekos Freundinnen sagte: „Na, meine Hübschen? Ich überlege gerade, ob ich nicht eine von euch pro forma braten sollte, damit sie wissen, wie ernst es mir ist.“ Das Mädchen stieß ein Wimmern aus, als der Feuerball heller loderte. Durch den letzten Rauchvorhang griff Fumiko zu und erwischte den dürren Oberarm des Flammenmannes. Er stieß einen verblüfften Laut aus, als er von seinen Geiseln weggerissen und wuchtig über Fumikos Schulter geschleudert wurde. Sein Aufprall auf dem Boden hatte fast etwas Komisches. „Lauft“, keuchte Fumiko, und die Mädchen stürzten los. „Du kleine …“ Das Digimon verwandelte sich in einen Ball aus einander umkreisenden Flammen und schoss wie ein Komet in die Höhe – nur um von einer wirbelnden Spiralblume gegen die Wand gedonnert zu werden. Blossomon musste Fumikos Plan antizipiert haben. Tagekos Freundinnen fielen ihr weinend in die Arme. Kouki ließ indessen das ArmorEi der Aufrichtigkeit erstrahlen, und Gatomon wurde zu Kabukimon, das aussah wie ein traditioneller japanischer Theater-Tänzer. Aus seinen Blütenhänden strömten Energiestrahlen, mit denen es das feindliche Digimon malträtierte. Fürs Erste schien es beschäftigt. „Leute!“, ertönte eine Stimme aus dem vorderen Teil des Einkaufszentrums. „Renji, na endlich!“, rief Kouki erfreut. Renji kam, schwitzend und keuchend, mit hochrotem Kopf und Candlemon huckepack, durch die Halle gerannt. „Sorry, Alter, was glaubst du, wie schwer es war, bei all den rauslaufenden Leuten hier reinzukommen? So ein paar Spinner wollten mich doch ernsthaft gleich wieder mit sich reißen!“ Er erreichte die anderen und schlug ein, nickte sogar Tageko und Fumiko zu. Sie hatten sich wieder alle an einem Fleck versammelt, die beiden anderen Mädchen bleich vor Angst, während in einem hohen Bogen über ihnen das Flammendigimon Attacken abwehrte. „Wir könnten Volcanomon gebrauchen“, sagte Kouki. Renji grinste. „Feuer mit Feuer bekämpfen? Hab’s geschnallt. Runter mit dir, du bist mir zu schwer!“ „Ha! Wartet nur!“ Candlemon sprang von Renjis Schultern und landete als Meramon auf dem Boden. Eine Wolke aus Hitze ging von dem Digimon aus, als es so nah stand. Dann digitierte es weiter und wurde zu seiner neuen, roboterhaften Gestalt. „Wir müssen es irgendwo festnageln“, sagte Tageko mit Blick auf das über ihren Köpfen inmitten eines Flammenkranzes umherschwirrende Digimon. „Alles klar, passt auf!“ Volcanomon hielt plötzlich ein Schnurlosmikrofon in der Hand. Der Vulkan auf seinem Rücken krachte eine dünne Feuersäule in die Höhe. „Big-Bang-Stimme!“ Es schien ein lautloser Schrei zu sein, der aus seinem Mund kam, aber man sah deutlich, wie die Schallwellen die Luft kräuselten, wellenförmig auf das feindliche Digimon zu, es umkreisten – und dann wie eine Kneifzange zupackten. Plötzlich streckte der Flammenmann die Glieder aus, als hätte ihn jemand mitten in der Luft gekreuzigt – und hörte auf auszuweichen. „Jetzt!“, rief Blossomon und schoss seine Spiralblumen ab. „Alles klar!“ Kabukimon griff ebenfalls an. Die Attacken prasselten mit vernichtender Wucht auf das Digimon ein, und auch Volcanomons Big-Bang-Stimme schien es zu schwächen. Flammen wirbelten auf, die Haut des Digimons begann stellenweise zu glühen wie alte Kohlen im Grill, auf die jemand pustete. „Übrigens“, sagte Renji beiläufig, während sie das Ende ihres Feindes verfolgten, und zog die Analyzer-Brille aus seiner Jackentasche. „Ach, du hattest sie“, stellte Kouki fest. Renji hielt sich die Gläser vor die Augen und grinste. „Das da ist … war ein Ultra-Digimon namens FlaWizardmon. Und noch ein kleiner Bonus.“ Sein Grinsen wurde breiter. „Es war ein Asura.“ In einer Flammenexplosion verging FlaWizardmon. Seine Datenreste sammelten sich an der Decke des Einkaufszentrums, aber sie flogen nicht in eine bestimmte Richtung davon wie die der Asuras, die sie bisher besiegt hatten. Stattdessen verblassten sie und verschwanden einfach. Waren sie in die DigiWelt zurückgekehrt? Tagekos Handy klingelte. „Taneo?“, meldete sie sich. „Ja? Wahrscheinlich. Nein, keine Ahnung.“ Sie sah Kouki an. „Ist dein Handy aus?“ „Ich muss erst mal nachsehen, ob das überhaupt noch existiert“, meinte er schulterzuckend. „Nein, es ist alles okay. Da war ein Asura, aber wir haben es besiegt“, telefonierte Tageko weiter. Fumiko ließ den Blick über das zerstörte Einkaufszentrum schweifen. Nun konnte man definitiv Sirenen hören, die auch gar nicht mehr weit entfernt waren. Der Kampf schien ewig gedauert zu haben, wahrscheinlich waren aber nur einige Minuten vergangen, seit FlaWizardmon sich ihnen gezeigt hatte. Die Digimon kehrten zu ihnen zurück. Tageko, hinter die sich immer noch ihre Freundinnen aus dem Staffelläuferinnen-Team drängten, versicherte Taneo wiederholt, dass alles in Ordnung war – so als wollte sie den Moment möglichst hinauszögern, da sie den Mädchen Rede und Antwort stehen musste. „Nicht übel“, grollte plötzlich eine Stimme und ließ die DigiRitter herumfahren. Aus dem Rauchvorhang tappe eine dunkle Gestalt. Fumiko schluckte. Es war der große Hund des Mannes. Den hatte sie total vergessen. „Hat der Hund gerade gesprochen?“, fragte Renji verblüfft. „Kouki, das habe ich dir zu sagen versucht“, sagte Kabukimon. „Nicht nur der Mann war komisch, sondern sein Hund auch!“ „Aber er sieht doch gar nicht aus wie ein Digimon … oder?“ Kouki runzelte die Stirn. Fumiko dachte ebenfalls darüber nach. Es wirkte zwar wie ein etwas groß geratener Hund, aber sie hatte noch nie einen von dieser Rasse gesehen, auch nicht in Zeitschriften oder Ähnlichem. Außerdem hatte sich schon FlaWizardmon vor ihren Augen verwandelt. Renji hatte die Brille wieder aufgesetzt. „Dobermon“, erklärte er. „Level: Champion. Noch ein Asura.“ „Endlich kann ich meine Tarnung aufgeben“, seufzte das Digimon. Noch war es nicht nähergekommen. Ein Champion gegen zwei Ultras und Koukis Armor-Digimon, das klang doch nicht übel für sie, oder? Trotzdem spannte Fumiko sich an. Das Biest war ihr von Anfang an nicht geheuer gewesen. Wenn man bedachte, dass sie damals ein leibhaftiges Asura angefallen war … Ihr rieselte ein Schauer über den Rücken. „Taneo, warte“, sagte Tageko, die immer noch telefonierte. „Vielleicht kommst du zur Sicherheit auch her. Ja, ins Einkaufszentrum. Es ist noch eines aufgetaucht.“ „Warum denn? Das schaffen wir doch mit links“, meinte Renji großspurig. Die Sirenen wurden scheppernd laut. Bald würde es hier vor Einsatzkräften wimmeln. Dann geschah etwas mit Dobermon. Seine Augen … nein, das war es nicht. Alles an ihm, beginnend mit den hellen Flächen, den Augäpfeln, Zähnen und Krallen, dann die braunen und dann die schwarzen Flecken im Fell, begannen rot zu leuchten. So etwas hatte sie doch schon mal gesehen … „LordMyotismon hat mir diese Kraft schon vor einiger Zeit gegeben“, grollte das Asura. „Es wird Zeit, sie endlich einzusetzen.“ „Es digitiert!“, rief Kouki. „Schnell, greift es an!“ Doch es war bereits zu spät. So lange LordMyotismon mit seiner Digitation gebraucht hatte, so schnell ging es offenbar für ein Asura auf einem niedrigeren Level. Schon stand aufrecht ein Digimon vor ihnen, das wie ein Werwolf mit Hosen aussah, das Fell pechschwarz und grau meliert. „Okay …. jetzt ist es auf dem Ultra-Level. DunkelWereGarurumon“, berichtete Renji. Irgendwo wurden aufgeregte Menschenstimmen laut. „Wir müssen es besiegen, ehe die Feuerwehr da ist“, sagte Tageko hektisch. „Wenn uns hier irgendjemand sieht, haben wir ein Riesenproblem!“ Fumiko starrte das Wolfsdigimon an, das ihren Blick hämisch erwiderte. Kapitel 31: Das Verbotene ------------------------- Hier oben zerrte der Wind ziemlich in Tagekos Haar. Sie hatten es irgendwie geschafft, auf das Dach des Einkaufszentrums zu gelangen, und das bevor die Einsatzkräfte die schwelende Halle gestürmt hatten. DunkelWereGarurumon hatten sie ebenfalls hierher locken können, allerdings war der Preis hoch gewesen. Sie hatten sich mehr auf ihre Flucht als auf ihre Verteidigung konzentriert und ihre Karten hatten sich seither drastisch verschlechtert. Das Asura hatte Volcanomon zuerst aufs Korn genommen, wie um die größere Gefahr gleich aus dem Weg zu räumen. Mittlerweile war es zurück zu Kyaromon digitiert. Kouki schrie sich neben Tageko heiser und ließ Gatomon von einer Armor-Form zur nächsten wechseln, doch DunkelWereGarurumon war flink und selbst wenn sein Digimon einmal traf, machte es ihm kaum etwas aus. Fumiko war von Tageko mit der Aufgabe betraut worden, sich mit ihren Freundinnen im Stiegenhaus zu verschanzen – dort war es eng und DunkelWereGarurumon würde es sich vielleicht zweimal überlegen, ob es sie dort angreifen würde. Tageko wollte nicht, dass Fumiko ihre Judo-Künste auspacken musste, um schon wieder selbst gegen ein Digimon zu kämpfen. Hoffentlich kam es nicht dazu. So aber blieb alles an ihr und Blossomon hängen. Das Pflanzendigimon war groß und kassierte eine Menge Schläge und Tritte, während DunkelWereGarurumon seine Spiralblumen und Ranken abwehrte oder einfach nur auswich. Es war nicht so zerstörerisch wie FlaWizardmon, aber dafür viel präziser. Dichte Wolken dräuten am Himmel und die bleigrauen Lichtverhältnisse ließen den Kampf auf dem spiegelglatten Dach des Einkaufszentrums irgendwie unwirklich wirken. Tiefe Furchen von Digimonkrallen durchzogen Glas und Beton. Von jenseits der Dachkannte blitzten überall die Blaulichter der Einsatzwagen herauf, man hörte Leute etwas rufen. Tageko schwitzte in ihrer dünnen Jacke. Hoffentlich blieb der Kampf unbemerkt – oder war es vermessen, sich das zu wünschen? Seit seiner Digitation hatte DunkelWereGarurumon kein Wort mehr gesagt. Es knurrte nur hin und wieder, wenn es Schläge austeilte. Blossomon wurde Stück für Stück an den Rand der Plattform getrieben. Wenn es stürzte, war alles vorbei. Dann traf ein vernichtender Fußtritt Lynxmon und beförderte es quer über das Dach. Nahe der Kante blieb es liegen und digitierte zu Salamon zurück. Kouki lief zu seinem Partner. Noch einer weniger. Tageko biss sich auf die Unterlippe. Ihre Digimon waren noch erschöpft vom letzten Kampf … Es musste doch einen Weg geben, DunkelWereGarurumon zu besiegen! Die Rettung kam auf leisen Schwingen wie ein Tarnkappenbomber. Das Asura bemerkte sie eher zufällig durch einen raschen Blick, machte einen Riesensatz rückwärts, landete auf den Händen und stieß sich wieder ab, als sich ein gleißender Strahl in das Dach fraß. „Cyberdramon!“, rief Kouki erfreut, als er das Digimon hoch am Himmel heranfliegen sah. Direkt über dem Feind ließ es etwas fallen, das im Flug gelb aufleuchtete – und mit tosender Wucht stürzte Tyrannomon auf DunkelWereGarurumon hernieder. Dann war es erst mal still. Cyberdramon landete und setzte Taneo und Jagari ab, die beide ziemlich durchgefroren wirkten. „Tut mir leid“, sagte Taneo. „Ich hab zunächst nicht auf mein Handy gesehen. Ist alles in Ordnung?“ „Klar. Wir haben euch das da übriggelassen“, meinte Renji und deutete lässig auf DunkelWereGarurumon, auf dem momentan ein riesiger Dinosaurier saß. Durch den in diesem Moment ein Beben lief. „Jagari“, knurrte er, und dann … Es sah fast komisch aus. Tyrannomon wurde von dem viel kleineren Digimon hochgehoben, an einer einzigen Zehe gepackt und quer über das Dach geschleudert. Das Glas dort bekam Risse, hielt aber. Taneo musste Cyberdramon gar kein Zeichen geben. Kaum dass DunkelWereGarurumon wieder aufrecht stand, schoss das Digimon schon auf es zu, erwischte es mit seinen Klauen – und dann war es vorbei. Das Asura stieß ein Jaulen aus, als Cyberdramons glühende Krallen es wie Wachs schmolzen. Seine Daten explodierten förmlich und verschwanden dann auf ähnliche Weise wie FlaWizardmons.   Fünf Minuten später hatte Cyberdramon sechs DigiRitter, ihre anderen Digimon und zwei Unbeteiligte auf das oberste Deck eines nahen Parkhauses gebraucht. Dort digitierte es zurück. Tageko wandte sich ihren Freundinnen zu, die halb ohnmächtig vor Angst waren. „Ich muss euch wohl etwas beichten …“ „Du … bist du … Hast du …“, begann eins der Mädchen zittrig. „Waren das dieselben Monster wie damals, als es diesen Nebel in der Vorstadt gab? Und als diese komischen Türme aufgetaucht sind?“, fragte das andere gefasster. Tageko seufzte, aber es klang erleichtert. Die früheren Vorkommnisse machten es einfacher, die Sache zu erklären. „Ja. Sie heißen Digimon. Und die hier seht, sind unsere Freunde. Das da ist Budmon.“ Sie hielt ihnen das kleine Digimon entgegen, das sich schüchtern noch kleiner machte. Während Tageko ihren Freundinnen erzählte, dass sie wohl oder übel gegen bösartige Digimon kämpfen mussten und das am besten geheim bleiben sollte, trat Taneo an Koukis Seite, der nachdenklich zum Einkaufszentrum zurücksah. Von hier aus sah die Zerstörung gar nicht so schlimm aus, aber das Gelände war abgeriegelt worden und man sah immer noch Blaulicht und neugierige Menschenmassen. Er fragte sich, wann das Mercurio das nächste Mal öffnen würde. „Wir dürfen jetzt keine Zeit mehr verlieren“, sagte Taneo. Kouki schwieg. „Wenn die Asuras bereits in unsere Welt gelangen können, müssen wir diesen Kampf so schnell wie möglich beenden.“ „Sie sind nicht erst jetzt in unsere Welt gekommen“, erwiderte Kouki beklommen. „Sie waren von Anfang an da.“ „Wie meinst du das?“ „Ich bin diesen beiden schon einmal begegnet – Fumiko auch. Das war, bevor wir zum ersten Mal in die DigiWelt gegangen sind. Ich glaube, sie sind durch dasselbe Tor gekommen, durch das Gennai uns unsere DigiVices geschickt hat.“ „Verstehe“, murmelte Taneo. „Aber du hast recht.“ Kouki deutete auf Tagekos Freundinnen, von denen eine es immerhin wagte, Budmon zu berühren. „Wir sollten auf jeden Fall verhindern, dass Menschen in unsere Kämpfe reingezogen werden.“ Taneo schnaubte. „Macht das einen Unterschied? Ob unschuldige Menschen oder unschuldige Digimon, es ist unsere Aufgabe, beide vor den Asuras zu schützen. Das Problem ist höchstens, dass Menschen deren Anblick nicht gewohnt sind. Und dass wir hier schneller Probleme mit der Polizei oder anderen … Autoritäten kriegen.“ Kouki schwieg wieder eine Weile nachdenklich. Salamon kam zu ihm und er hob es hoch, streichelte es. „Es ist sicher nicht falsch, wenn wir bald wieder in Aktion treten. Sorry, wenn du glaubst, ich hätte vor Liebestollheit die Welt vergessen“, meinte er mit einem schiefen Grinsen und einem Blick auf Fumiko, die eben sehr ruhig auf Tagekos andere Freundin einredete, die noch ziemlich aufgelöst wirkte. „Hab ich nicht behauptet. Wir müssen uns alle zusammenreißen. Morgen Treffen bei dir?“ „Geht klar.“   Die Sache mit dem Einkaufszentrum zog große Wellen nach sich. Die Medien berichteten wechselweise von einem Selbstmordattentäter mit Sprengstoffgürtel und einem Amokläufer mit Flammenwerfer. Über Digimon kam nur in Internetforen etwas, die sonst Verschwörungstheorien diskutierten, und wahrscheinlich würden auch die Klatschblätter diesbezügliche Vermutungen drucken lassen. Alles in allem waren sich die DigiRitter einig, dass sie noch mal glimpflich davongekommen waren. Tagekos Freundinnen würden angeblich auch dichthalten. „Wir haben ein neues Problem“, sagte Jagari. Immerhin er schien wie ausgewechselt, fand Tageko. Taneo dürfte gute Arbeit geleistet haben. Unter seiner einseitigen Frisur steckte wieder ein strahlendes Gesicht und er war hochmotiviert, klappte seinen Laptop auf und zeigte ihnen die Karte der DigiWelt. „Ich habe daheim probiert, Tore zu öffnen. Es geht nicht. In dem ganzen Bereich um den letzten Lichtsamen herum gibt es nur ein einziges Tor, das mein DigiVice öffnen konnte.“ Neugierig beugten sich die anderen vor. „Lass mich raten, das, das direkt in das Gebiet mit dieser Wüstenruine führt?“, fragte Taneo. „Genau. Das nächste funktioniere Tor ist ewig weit entfernt. Mindestens tausend Kilometer.“ „Und was sagt uns das?“, fragte Kouki. „Dass die Asuras nicht untätig waren. Diesmal ist es keine Falle, sondern eine Herausforderung“, sagte Taneo grimmig. „Du meinst, sie haben die Fernseher zerstört, um uns direkt zu dem Samen zu locken?“, fragte Tageko. „Sieht so aus. Sie wollen vielleicht nicht, dass wir so etwas wie mit Orochimon nochmal abziehen.“ „Wie viele von den Biestern leben jetzt eigentlich noch?“, fragte Renji. „Allzu viele können’s ja gar nicht mehr sein, oder?“ „Mal sehen.“ Jagari zählte sie an den Fingern ab. „Da waren Pumpkinmon und Karatenmon. SkullScorpiomon, Orochimon, Cerberusmon, LordMyotismon. Und DunkelWereGarurumon und FlaWizardmon. Macht acht.“ „Demnach gibt es noch vier“, sagte Fumiko. „Immer noch?“, rief Renji enttäuscht aus. „Ich dachte, wir hätten schon viel mehr erwischt.“ „Und wir kennen die vier übrigen nicht“, gab Kouki zu bedenken. Sein Blick glitt sehnsüchtig durch den Raum, dann lächelte er. „Irgendwie würd ich mir wünschen, Gennai würde mal wieder aufkreuzen und uns einen Tipp geben.“ „Das eine funktionierende Tor zu betreten hieße das tun, was die Asuras von uns wollen“, sagte Taneo. „Aber tausend Kilometer? Wollen wir so lange durch die DigiWelt reisen?“, fragte Tageko zweifelnd. „Wir haben drei Ultra-Digimon. Wenn uns alle vier Asuras dort erwarten, haben wir unter Umständen ein Problem. Wenn sie wieder gleich nach unserer Ankunft den Fernseher zerstören, erst recht. Wir könnten wieder aus irgendeiner anderen Richtung kommen. Wir legen so viel Distanz wie möglich pro Tag zurück. Wir nehmen einen unbeschädigten Fernseher mit, verstecken ihn am Abend irgendwo und reisen zurück in unsere Welt. Hier ruhen wir uns aus und am nächsten Tag nach der Schule machen wir weiter. So bringen wir den Fernseher stückchenweise vorwärts. Wenn wir auf Cyberdramon und Nefertimon fliegen, sind wir in ein paar Tagen bei der Ruine.“ „Und wenn die Asuras unseren Fernseher nachts finden, können wir von vorne anfangen“, entgegnete Renji. „Und wir kommen sowieso irgendwann bei der Ruine an, also wo ist der Unterschied?“ „Der Fernseher, den die Asuras für uns vorgesehen haben, könnte über einer Stachelgrube hängen“, sagte Tageko nur. „Oh.“   So entschieden sich die DigiRitter für ein trotziges und kräftezehrendes Vorhaben, das sie am Sonntag starten wollten und dann stückchenweise immer nach der Schule verfolgen wollten. Für Jagari sah das ein wenig wie ein Computerspiel aus, an dem man immer ein bisschen weiterspielte. Seit dem Gespräch mit Taneo fühlte er sich tatsächlich besser. Objektiv betrachtet konnte man wirklich nicht sagen, dass die anderen ihn irgendwie ausgrenzten. Und er hatte sich damit abgefunden, dass bei einer Freundschaft nicht zählte, wie man zueinander gekommen war. Auf Nefertimons Rücken saßen immer Kouki und Fumiko; Cyberdramon trug die anderen und war deshalb nicht so schnell wie sonst. Sie brauchten bis zum Mittwochabend, ehe sie die Wüste mit der Ruine erreichten. Dort versteckten sie ihren Fernseher in einer Felshöhle. Am Donnerstag würden sie extra früh losreisen und sich den Lichtsamen holen – selbst wenn das bedeutete, gegen vier Asuras gleichzeitig kämpfen zu müssen.   In fast feierlichem Schweigen schritten die DigiRitter und ihre Digimon durch den Sand. Kouki wusste nicht, ob er oder Fumiko zuerst nach der Hand des jeweils anderen gegriffen hatte. Der Himmel war von grauen Wolken bedeckt, obwohl sie in einer Wüste waren. Das konnte kein gutes Omen sein. Sie hatten die Ruine bereits einmal gesehen, doch nun prangte eine riesige metallische Kuppel darauf wie eine graue Warze. Die Asuras hatten den Zugang aus der Luft abgeschnitten. „Falls es gefährlich wird, fliehen wir sofort“, schärfte Tageko den anderen ein. Sie und Taneo gingen, flankiert von Cyberdramon und Blossomon, zuvorderst. Selbst Renji verzichtete auf eine genervte Antwort. Ein weiteres übles Omen. Sie mussten unter einem halb verfallenen Torbogen mit merkwürdigen Schriftzeichen darauf hindurch. Dabei traten sie in den Schatten der Kuppel, der sich wie ein zähes Gewicht auf ihre Schulter legte. Der letzte Lichtsamen … Sie mussten alles geben … Kouki drückt Fumikos Hand viel zu fest, aber sie gab keinen Mucks von sich. Die Ruine war vielleicht mal eine Arena gewesen, vielleicht aber auch irgendetwas, was es heute nirgendwo mehr gab. Zerborstene braune Mauern, keine mehr höher als hüfthoch, ragten aus Sanddünen hervor. Das Feld wurde umrahmt von Tribünen oder Logen, die so baufällig wirkten, dass es ein Wunder war, dass die gewaltige stählerne Kuppel, die auf ihnen ruhte, sie nicht einfach zerbröseln ließ. An der Unterseite hatte die Kuppel kleine eckige Lampen oder Fenster, die gedämpftes gelbes Licht in die Arena fallen ließ. Es wirkte, als schwebte ein riesiges UFO über der Ruine. Der letzte Lichtsamen war nicht im inneren Feld der Ruine zu sehen. Vielleicht war er in den oberen Logen des Gebäudes … Aber wahrscheinlich war er dort, wo das Asura ein weiteres unheilverkündendes Gerät aufgestellt hatte. „NeoDevimon“, sagte Kouki düster, der die Analyzer-Brille trug. „Level: Ultra. Ein Asura.“ Im hinteren Bereich des Gebäudes schien etwas Großes gewütet zu haben. Die Mauern waren vernichtet, als hätte eine Riesenfaust eine Handvoll Steine herausgebrochen. Sand hatte die Zerstörung zur Hälfte bedeckt, und ein metallischer Zylinder, groß wie ein Kleinwagen, steckte dort in dem Geröll. Der schwarze Rauch, der daraus hervorquoll, erweckte den Eindruck eines riesigen Kochtopfs, das Glühen an der Unterseite war das eines Gasherds. Wenn dem so war, dann war das skurrile Digimon, das dahinterstand, der Koch. NeoDevimon hatte Glieder wie ein Mensch, aber die Proportionen waren völlig falsch. Die Arme reichten bis zum Boden, die klauenbewehrten Hände und die schwarzen Stiefel waren doppelt so groß wie der Kopf, der von einer goldenen Maske mit Spinnenaugen bedeckt war. Die Kleidung des Digimons bestand aus Leder mit Goldplatten, die Brust war entblößt, wirkte aber roboterhaft und grau. Aus seinem Rücken sprossen große, rote Hautflügel. „Willkommen“, sagte das Asura. Die DigiRitter blieben stehen, ihre Partner nahmen kampfbereit Aufstellung. „Das ist es!“, rief Jagari plötzlich. „Das Digimon war bei mir auf dem Bildschirm! Es hat NBW gespielt!“ „Hä?“, fragte Renji. NeoDevimon kicherte. Selbst seine Stimme klang metallisch. „Ihr Menschenkinder begebt euch mehr und mehr in die Nähe unserer Digitalen Welt. Es war mir ein Leichtes, die virtuellen Welten, die ihr selbst erschaffen habt, zu durchsuchen. Ich wusste, irgendwann würde ich auf einen von euch treffen.“ „Es war ein Fehler, dass du hier allein auf uns wartest“, sagte Taneo. „Du hast keine Chance.“ „Aber ich bin nicht mehr lange allein“, entgegnete NeoDevimon. „Ich dachte schon, ich müsste ewig auf euch warten. Es wurde bereits kompliziert, es zu bändigen, so sehr hat die Chaossaat es genährt.“ „Wovon redest du?“, fragte Kouki. „Ist doch egal! Draufhauen und gut ist’s!“, sagte Renji. „Volcanomon!“ „Ha! Gern!“ Volcanomon führte sein Mikrofon zu den Lippen. In dem Moment schoss ein Strahl schwarz gefärbten Lichts aus dem Zylinder himmelwärts. Mehr Rauch quoll hervor, floss über den Boden, als würde der Kochtopf übergehen – und dann zwängten sich zwei rot glänzende Sicheln heraus, dann blasse Arme, ein Kopf mit Stacheln … Der Zylinder kippte um, glasige Flüssigkeit schwappte heraus und versickerte in Sand und Geröll und ein Digimon wurde ausgespuckt. Seine Haut war rosa, die Augen schmal, der Kopf geformt wie der eines Nagetiers. Eine einzelne Kralle steckte an jedem seiner Füße und ein dünner Schwanz peitschte durch die Luft. Mit seltsamen klickenden Geräuschen sah sich das Wesen um und schnupperte. „Okay …“, machte Renji. Ihre Digimon spannten sich an. Kouki schob sich die Brille wieder über die Augen, doch sie zeigte nichts an. „Ist das denn überhaupt ein Digimon?“, fragte er zweifelnd. „Was sollte es denn sonst sein?“, fragte Fumiko verwundert. NeoDevimon lachte scheppernd. „Es hat lange gedauert, es wieder digitieren zu lassen. Darf ich vorstellen? Arkadimon, das Verbotene!“ Endlich erschien ein Bild vor Koukis Augen. Die Brille zeigte das Wesen an, schrieb aber keine Daten dazu. „Arkadimon? Davon hat doch Gennai gesprochen!“, rief Jagari. „Er hat gesagt, es wäre vom Licht des letzten Heiligen Steins gebannt worden! Kouki, schalte mal durch die gespeicherten Digimon, da war ein Bild von ihm!“ Er tat wie geheißen und fand das Digimon schließlich – ein furchterregendes Ungetüm namens Arkadimon auf dem Ultra-Level, das dem hier aber nur entfernt ähnlich sah. Das rosa Ding ging den DigiRittern ja kaum bis zur Schulter! „Ich vermute, es ist noch nicht wieder auf dem Ultra-Level.“ Er schaltete wieder auf die normale Ansicht. Nun erkannte die Brille auch das Level des Digimons vor ihnen. „Rookie“, berichtete er. Renji brach in schallendes Gelächter aus. Auch die anderen entspannten sich merklich. Ein Rookie-Digimon war nun wirklich keine Gefahr mehr für sie. NeoDevimon klimperte mit seinen goldenen Krallen. „Unterschätzt besser nicht die Macht des …“ Weiter kam es nicht.   Tageko hatte von Anfang an befürchtet, dass an diesem Arkadimon etwas faul war – es sah so harmlos aus, dass es schon wieder verdächtig war. Sein Kopf zuckte schnuppernd hin und her, und irgendwann schien es zu bemerken, dass NeoDevimon ihm am nächsten stand. Es streckte eine seine Sicheln aus – und diese dehnte sich, wurde zu einem einzigen, flexiblen Stachel, der sich mitten in seinem Satz in NeoDevimons Brust bohrte. Die DigiRitter waren perplex, als das metallische Asura ein Krächzen ausstieß. Dann ließ der Stachel-Tentakel es los, und es fiel einfach vornüber. Und verschwand. Einfach so. Seine Datenreste glitzerten nur kurz um Arkadimons Stachel, das zirpte und sich den DigiRittern zuwandte. „Kouki, passt auf, irgendetwas stimmt nicht mit ihm!“, sagte Nefertimon, als wäre das nicht offensichtlich. „Zurück“, murmelte Taneo. „Schießt alle eine Attacke auf es ab und zieht euch dabei zurück.“ „Soll das ein Witz sein?“, rief Renji fassungslos. „NeoDevimon war einfach nur ein Weichei! Wir werden doch jetzt wohl nicht …“ Arkadimon schien ihn als sein nächstes Opfer auserkoren zu haben. Ein Stachel raste genau auf Renjis Stirn zu, der wie erstarrt dastand. Im letzten Moment warf sich Volcanomon dazwischen und fing den Stachel mit den Händen auf, nur um ihn dennoch selbst in die Brust zu bekommen. Mit einem ungläubigen Stöhnen digitierte es in gelbem Licht zurück. Der Stachel wurde schnalzend wieder zu Arkadimons Sichel. „Mein Gott!“, kreischte Renji mit hoher Stimme, als sein Digimon in die Arme hob. Seine Hände zitterten. Volcanomon war nicht einmal zu Kyaromon zurückdigitiert. Stattdessen war es ein einfacher Fellball mit Augen und langen Ohren geworden, so klein, dass das nur das allerniedrigste aller Digimon-Level sein konnte. „Was hast du mit ihm gemacht, du Monster?!“, schrie Renji Arkadimon an. Wie zur Antwort legte das Digimon den Kopf schief – und glühte rot auf. Kouki packte Renji am Arm. „Weg, los!“ Die DigiRitter liefen denselben Weg, den sie gekommen waren, nach draußen. Als Tageko einen Blick über die Schulter warf, sah sie, wie Cyberdramons Ausradierkralle, Blossomons Spiralblume und Nefertimons Fluch der Königin Arkadimon trafen. Der umgekippte Zylinder zerbarst in tausend Stücke, Geröll wurde zu Sand zermalmt, eine Staubwolke stob auf. Jenseits des Torbogens hatte Taneo seinen Rucksack abgestellt und holte eben den Fernseher heraus, den er für den Fall der Fälle mitgenommen hatte. Die DigiRitter stellten sich im Halbkreis um ihn herum auf, die DigiVices gezückt, bereit, in ihre Welt zu fliehen. Gebannt starrten sie zurück zu der hellbraunen Wolke. Hatten sie Arkadimon nicht vielleicht doch erwischt? Tageko hörte, wie Renji die Zähne bis zum Knirschen zusammenbiss. Die Digimon waren bis zu ihnen zurückgewichen. Die Wolke legte sich langsam. Dort war niemand mehr. Arkadimon war verschwunden. Die DigiRitter seufzten erleichtert auf. Dann explodierte die Steinmauer neben ihnen. Ein blasser Schatten tauchte durch die neue Schuttwolke. Die DigiRitter schrien auf, die Digimon fuhren herum. Ein Krachen, Knirschen und das Knistern von elektrischem Strom. Tageko hatte sich nicht geirrt, als sie das rote Licht vorhin gesehen hatte. Arkadimon war digitiert. Es war nun größer und hässlicher, hatte ausgefeiltere Gliedmaßen und winzige Flügel. Der geißeldürre Schwanz und der Nagetier-Insekten-Kopf waren derselbe. Und mit seinen Beinen, kräftig wie die eines Kängurus, war es direkt auf dem Fernseher gelandet und hatte ihn zu einer blitzenden, rauchenden Masse zerquetscht. „Scheiße!“, entfuhr es Kouki. Die DigiRitter wichen so schnell zurück, dass mehr als einer von ihnen mit den Schuhen im Sand den Halt verlor und auf den Hosenboden stürzte. Sofort prasselten von allen Richtungen weitere Attacken auf Arkadimon ein. „Kommt schon!“, rief Renji. Seine Kehle klang, als wäre auch sie mit Sand gefüllt. „Es ist immer noch erst auf dem Champion-Level!“ „Es hat schon als Rookie zwei Ultra-Digimon besiegt“, sagte Taneo düster. Die Sandwolke, die sich nach den letzten Attacken erhoben hatte, wurde zur Seite geweht, als Arkadimon die Flügel spreizte. Sie waren nun länger als zuvor. Es hatte sich mit den Händen geschützt und keinen einzigen Kratzer. Obwohl sie es mit all ihrer Kraft angegriffen hatten … „Das gibt’s doch nicht!“, rief Jagari. „Das ist … Das ist unfair!“ Arkadimon gab klickende Kicherlaute von sich. „Das hat so keinen Sinn“, sagte Tageko, ihre Stimme zitterte leicht. „Wir müssen weg hier!“ „Aber der Lichtsamen ist so nah“, knurrte Taneo und kaute auf seiner Fingerkuppe. „Es muss doch einen Weg geben …“ „Aber wir kommen nicht an ihm vorbei! Taneo!“, rief sie, als er keine Anstalten machte, sich zu bewegen. „Wenn wir es hier nicht besiegen können, wo es allein ist und wir zu sechst, wann dann?“, gab er wütend zurück. „Keine Ahnung!“, rief sie. „Ich weiß nur, dass dieses Biest ein Asura und dann Volcanomon besiegt hat, gründlich! Und das, als es noch auf dem Rookie-Level war!“ „Ich fürchte, Tageko hat recht“, meinte Kouki. Fumiko nickte. Taneo stieß die Luft aus. „Cyberdramon, kannst du uns hier rausbringen?“ Wie schon so oft dieser Tage sprangen die DigiRitter auf Cyberdramons Schultern und Nefertimons Rücken. „Ich kann noch kämpfen, und ich bin nicht so schnell“, sagte Blossomon und hob seine Pflanzenranke. „Ich werde es aufhalten.“ „Ich auch“, sagte Tyrannomon. „Nein, wirst du nicht“, sagte Tageko bestimmt. „Höchstens eine letzte Salve, dann digitierst du zurück und kommst mit uns.“ „Du auch, Tyrannomon“, sagte Jagari. Sie tauchten Arkadimon in eine Wolke aus Feuer und rotierenden Blüten, dann flogen ein Cyberdramon und ein Nefertimon mit einigen kleineren Digimon und den DigiRittern so schnell von der Ruine fort, als wäre der Teufel persönlich hinter ihnen her.   Taneo drehte sich auf Cyberdramons Schulter um. Wenn er nach vorne sah, raubte ihm der Flugwind ohnehin die Atemluft. „Siehst du etwas?“, brüllte Jagari in sein Ohr. Er strengte die Augen an. Ja, eindeutig. „Es verfolgt uns“, schrie er zurück. Arkadimon hatte seine Flügel weiter aufgespannt und flog ihnen hinterher. Es war nicht ganz so schnell wie Cyberdramon und Nefertimon, aber ihre Digimon würden sicherlich bald müde werden. „Und was tun wir jetzt?“, rief Renji von Cyberdramons anderer Schulter aus. „Es hat unseren einzigen Fernseher zerlegt!“ In seinen Armen hielt er das klägliche Etwas, das von dem einst so starken Volcanomon übrig war. „Wir können nur versuchen, ihm irgendwie zu entkommen“, meinte Tageko. „Wenn wir es abhängen, können wir in aller Ruhe einen neuen Fernseher suchen.“ „Ja. Nur dass dieses Ding dann in der DigiWelt Amok läuft“, sagte Taneo, so leise aber, dass es niemand außer ihm selbst hörte. Der Abend brach herein und er spürte, wie Cyberdramon ermüdete. Sie hatten die Wüste hinter sich gelassen und überflogen einen dichten Nadelwald. Taneo gab Kouki und Fumiko mit Gesten zu verstehen, dass sie landen mussten. Sie wählten dazu eine kleine Klippe und schlugen sich sofort tiefer in den Wald. Mutlos marschierten sie zu Fuß weiter, die Digimon wieder im Kleinformat. Kaum jemand sprach ein Wort, sie alle hingen trüben Gedanken nach. Ein Digimon, das plötzlich um so viel stärker war, als es sein sollte? Wo war der nächste Fernseher, durch den sie diese Welt verlassen konnten, in der sie plötzlich nur noch Gejagte waren? Oder gab es doch eine Möglichkeit, Arkadimon zu besiegen? Konnten sie von anderen Digimon Hilfe erwarten? Oder von Gennai? Wie konnten sie ihn kontaktieren? Würden die Digimon ihre Partner beschützen können? Waren sie überhaupt qualifiziert dazu, wenn sie einem Champion-Digimon nicht beikamen? Die ganze Zeit, bis die Dunkelheit hereinbrach und sie sich eine verlassene Digimon-Höhle als Nachtlager aussuchten, behielt Taneo den Himmel im Auge. Arkadimon war nicht zu entdecken. Es war aber eindeutig in ihre Richtung geflogen; hätte es den Kurs beibehalten, müsste es über sie hinweggerauscht sein. Das bedeutete, es wusste, dass sie hier waren. Es war gelandet und suchte in diesem Wald nach ihnen. So begann die Flucht der DigiRitter vor Arkadimon. Und keiner von ihnen ahnte, dass sie die DigiWelt nie wieder durch einen Fernseher verlassen würden. Kapitel 32: Auf der Flucht -------------------------- „Es kommt.“ Tageko reichte Taneo das Fernglas. Der bestätigte es mit einem Nicken. „Gut, ihr wisst, was ihr zu tun habt.“ „So ungefähr“, meinte das Deramon, ein Vogeldigimon mit einem Busch als Schwanz, dem die Worte unter anderem galten. Es klang unsicher, aber die DigiRitter setzten ihre Hoffnungen auch eher in die menschenähnlichen Lilamon, die wesentlich stärker schienen, obwohl auch Deramon auf dem Ultra-Level war. Taneo hatte der Idee erst nichts abgewinnen können. Er hatte darauf beharrt, dass das ihr Kampf war, und dass sie keine unbeteiligten Digimon mit hineinziehen sollten. Nachdem sie aber zwei Mal versucht hatten, Arkadimon in einem schnellen Manöver zu zerstören, und zwei Mal wieder hatten fliehen müssen, hatte er schließlich klein bei gegeben. Sie konnten dieses Ding einfach nicht besiegen. Nicht ohne Hilfe. Seit vier Tagen war es ihnen nun schon auf den Fersen. Offenbar verließ es sich vor allem auf seinen Geruchssinn. Ab und an brauchte es etwas länger, um die Fährte der fliegenden Digimon aufzunehmen, aber es verlor sie nie. Arkadimon war zu ihrem Schatten geworden, oder eher zu einem schlimmen Traum, der immer am Horizont lauerte. Sie waren in diesen Wald gelangt, in dem die Deramon und Lilamon lebten, und diese hatten die DigiRitter mit Freuden empfangen. Offenbar hatte man hier sogar von ihnen gehört. Und auf die fast schon schüchterne Frage, ob sie ihnen helfen würden, hatten die meisten eifrig genickt. Taneo hatte trotzdem kein gutes Gefühl dabei. Gut zwanzig Ultra-Digimon aus dem Blütenwald, wie er hieß, erwarteten nun Arkadimons Ankunft am Waldrand. Die Digimon der DigiRitter standen in den vordersten Reihen. Fast schon gemächlich, als wollte es sie verhöhnen – oder das Ende seiner tagelangen Jagd auskosten – flog Arkadimon über die nahen Hügel. Als es in Schussweite war, feuerten die Lilamon Lichtkugeln aus ihren Blütenarmen. Sie waren nicht sehr eingespielt und alles andere als synchron, aber der Angriff hatte gerade deshalb etwas Wildes, Brachiales. Die Ebene verschwand unter einem leuchtenden Teppich aus wunderschön anzusehenden Detonationen. „Genug fürs Erste“, sagte Taneo, und das Sperrfeuer erstarb. Der Wind wehte Staub und Erde fort, und auf der nächsten Hügelkuppe stand, unversehrt, Arkadimon. „Ich hasse dieses Biest“, murmelte Kouki. „Okay, konzentriert euch darauf, uns Deckung zu geben“, sagte Taneo. „Cyberdramon, ihr seid dran.“ „Unsere Digimon können ihm aber auch nichts anhaben“, erinnerte ihn Jagari. „Ich weiß. Ich setze auch eher auf die Lilamon.“ „Aber du hast ja gerade selbst gesagt …“ „Ich hoffe auf das Wunder, dass sie Arkadimon nur nicht getroffen haben. Wenn wir es in einen Nahkampf verwickeln, können die Lilamon vielleicht besser zielen.“ „Du sagst, du hoffst es“, murmelte Fumiko betont, während die Digimon Arkadimon entgegenstürmten. „Aber du glaubst nicht daran.“ Taneo zog es vor, nicht darauf zu antworten.   Der Kampf war eine Schlacht, ein Abschlachten, und endete in einem Massaker. Die Lilamon und sogar die schwächeren Deramon ließen es sich nicht nehmen, für die DigiRitter ihr Letztes zu geben – aber sie schafften keinen geordneten Rückzug. Und wenn Arkadimon sie mit den Nadel-Tentakeln um seine Fäuste erwischte, digitierten sie nicht etwa zurück wie die Partner der DigiRitter, sondern wurden ausgesaugt und direkt ausgelöscht. Das Wunder, das geschah, war, dass den DigiRittern, zwei Lilamon und einem einzelnen Deramon die Flucht gelang. Sie flogen auf Cyberdramon davon. Tageko bedankte und entschuldigte sich holprig bei ihren Mitstreitern, dann trennten sie sich an einem sicheren Ort von ihnen. Taneo sagte nichts mehr zu der Sache. Er wirkte zerknirscht. „Hey“, sagte Kouki an diesem Abend zu ihm, als sie sich an einem Lagerfeuer ausruhten. Sie hatten wieder ein paar Meilen zwischen sich und Arkadimon gebracht, das merkbar langsamer geworden war – wahrscheinlich verdaute es seine jüngsten Opfer. Kouki reichte seinem Freund eine Getränkeflasche, die sie mit Wasser aufgefüllt hatten. Taneo nahm sie wortlos entgegen. „Gib dir nicht die Schuld, ja? Ohne dich hätten wir die drei auch verloren. Und unsere Partner wahrscheinlich auch.“ Tyrannomon hatte weniger Glück gehabt als die anderen. Es war, wie Renjis Digimon, zu seiner Babyform zurückdigitiert, nachdem Arkadimon es gestochen hatte. Nun spielte Jagari mit einem grünen Schleimklops mit Schnuller. „Wir sind die DigiRitter“, sagte Taneo leise. „Oder hab ich das falsch verstanden?“ „Das hast du richtig verstanden. Wir sind die DigiRitter.“ „Aber die DigiRitter sollen die DigiWelt retten. Die Lilamon haben uns als Helden begrüßt! Und jetzt sind sie tot. Was war daran heldenhaft?“ Kouki schwieg eine Weile und sah in die Flammen. Sie loderten nicht gerade hoch. Genau wie ihr Mut. „Weißt du, ich glaube, selbst die größten Helden müssen Opfer bringen, wenn sie am Ende Erfolg haben wollen. Es hat noch keiner einen Krieg gewonnen, ohne dass Unschuldige verletzt werden.“ „In unserer Welt vielleicht. Aber hier …“ „Ich fürchte, das ist in jeder Welt so.“ „So eine Welt kann ich nicht akzeptieren“, sagte Taneo finster. „Musst du aber.“ Fumiko setzte sich zu ihnen. „Zu glauben, alles würde immer schön glatt laufen, ist nicht gerade erwachsen. Selbst die besten Pläne sind nicht unfehlbar.“ „Wenn sie nicht unfehlbar sind, sind sie einfach nicht gut genug“, beharrte Taneo verbissen, aber es klang eher dahergesagt. Die anderen schwiegen, und in ihrem Lager breitete sich bedrückende Stille aus.   In den folgenden Tagen beschränkten sie sich darauf, weitere Fernseher zu finden. Sie teilten sich sogar in zwei Gruppen auf und durchkämmten die DigiWelt, ohne wirklich ein Auge auf ihre Wunder zu haben. Arkadimon war nie weit hinter ihnen, doch wenn sie es nicht darauf anlegten, bekamen sie es nicht zu Gesicht. Nach und nach wagten sie es sogar wieder, in besiedeltes Gebiet zu gehen. Sie besuchten Digimondörfer und sogar Städte. Kouki und Renji versuchten sich kurzzeitig als Köche in einem Restaurant, um für ihren längst knapp gewordenen Proviant Geld zu verdienen. Renji ließ am Ende des Tages eine ganze Tasche mit Backwaren aus dem Restaurant mitgehen, was im Endeffekt mehr war, als sie sich mit ihrer Bezahlung leisten konnten. Taneo war immer noch grüblerisch. Er sprach viel mit Digimon und wollte wissen, wie sie über die DigiRitter dachten. Tageko und Jagari ließen ihm die Zeit, die er brauchte. Kouki ermutigte Fumiko dazu, in der Stadt jemanden zu suchen, der ihr mit ihrem DigiEi helfen konnte. Auch dieses Mal hatte sie es dabei, aber es war immer noch so tot wie ein Stein. Fumiko traf sich mit Cutemon und Jijimon und Babamon, aber niemand konnte ihr helfen. Sie trug es mit Fassung. Ihr Partner war vor langer Zeit gestorben, das wusste sie nun. Jagaris und Renjis Digimon digitierten irgendwann wieder zu Motimon und Kyaromon. Selbst dieser scheinbar kleine Entwicklungsschritt dauerte ewig. Was immer Arkadimons Attacke war, sie tat ihren Dienst gründlich. Taneo fand wieder etwas mehr zu sich selbst, als es eine neue Aufgabe für ihn gab. Er, Jagari und Tageko mussten den Streit zweier Digimondörfer schlichten und außerdem gegen eine Bande Rabauken kämpfen, die sich ironischerweise die Asuras nannten und sich die Furcht der Digimon zunutze machen wollten. Cyberdramon allein war genug, um sie selbst das Fürchten zu lehren. Eine knappe Woche später trafen sich die DigiRitter wieder in einer goldenen Feldlandschaft und zogen von dort aus weiter über eine Gebirgskette. In ihrer Welt musste es der sechsundzwanzigste Mai sein, ein Samstag und außerdem der Tag, an dem Fumiko mit ihnen ihren Geburtstag hatte feiern wollen. „Ich schätze, die Party werden wir verschieben?“, fragte Kouki, als der Abend dämmerte. „Oder willst du trotzdem ein wenig feiern?“ „Sie wird verschoben“, meinte Fumiko knapp. Feiern wäre nicht angebracht. Nach einem kalten Abendessen legten sie sich auf ihren provisorischen Betten aus Bergmoos schlafen. Tageko fiel es, wie so oft, schwer, einzuschlummern. Sie dachte an zu Hause. Morgen wären sie seit zehn Tagen in der DigiWelt. Niemand von ihren Eltern wusste, wo sie waren. Sie fehlten in der Schule und außer Tagekos Freundinnen wusste niemand über die Digimon Bescheid. Ob die beiden alles erzählen würden? Ob sie versuchen würden, ihre Eltern zu beruhigen? Ob sie Tageko von sich aus decken würden – und vielleicht noch die anderen DigiRitter mit dazu? Das war wohl reines Wunschdenken. Tageko seufzte schwer und streichelte Mushroomons Pilzkappe, das neben ihr schlief. Sein leises Atmen war beruhigend. Sie sah nach oben in einen prachtvollen Sternenhimmel. Ob sie jemals wieder nachhause kämen? Nirgendwo schien es mehr Fernseher zu geben. Die Asuras hatten alle zerstört.   In den folgenden Tagen wurden sie schweigsamer, mürrischer, hungriger. Jagari aß von merkwürdigen roten Beeren, die in den Bergen wuchsen, und hatte zwei Tage lang Magenkrämpfe. Taneo hatte seine rationale Natur wieder, aber das bestärkte ihn nur in dem Entschluss, Arkadimon nicht herauszufordern. „Wir haben ein Problem“, sagte er an jenem Abend, als sie auf einem windigen Pass in den Bergen campierten. Sogar mehrere, fügte er in Gedanken hinzu. Nicht nur Jagari sah bleich wie eine Leiche aus, auch die anderen hatten Hunger, waren müde und schwach und froren. Sie hatten Kleidung und Ausrüstung für einen effizienten Marsch durch die Wüste dabei, nicht für eine Bergwanderung. Decken, Teekessel und sogar Kochtöpfe hatten sie in der Stadt besorgt, aber statt Tee hatten sie bestenfalls heißes Wasser, und zu kochen gab es auch nichts mehr. Wenn sie nicht bald einen Fernseher fanden, waren sie verloren. Ihre Chancen, noch einen Kampf bestreiten zu können, schwanden von Tag zu Tag. Taneo zeichnete eine provisorische Karte der Umgebung auf einen erdigen Fleck inmitten der Felslandschaft. Thunderboltmon war erkunden geflogen – die Karte von der DigiWelt hatten sie nur auf ihren Computern in der Realen Welt. Jagari hatte zwar ein winziges Notebook mit, eher testweise, aber das streikte natürlich in der DigiWelt. „Arkadimon hat uns ausmanövriert“, erklärte Taneo, als die anderen sich um seine Zeichnung scharten. „Wir haben keine Ahnung, wie die Landschaft aussieht, ehe wir sie nicht wenigstens von der Ferne gesehen haben. So ist es schwierig, eine geeignete Fluchtroute zu finden. Und unsere Route ist schlecht. Hinter den Bergen erstrecken sich nämlich wieder Felder.“ „Und was ist daran problematisch?“, fragte Kouki. „Ich weiß es“, sagte Jagari. „Es leben dort viele Digimon, oder?“ Taneo nickte. „Der Wald und die Hügellandschaft bisher waren ziemlich verwaist. Aber Thunderboltmon hat gesagt, in diesem Gebiet gibt es irrwitzig viele, kleine Felder, daneben eine Vielzahl von Hütten, und immer wieder sind da kleinere Dörfer. Die Felder sind alle bestellt, also vermute ich, dass sie auch bewohnt sind.“ „Und du machst dir Sorgen wegen Arkadimon“, sagte Tageko. Taneo nickte wieder. „Ich hab es mittlerweile verstanden, wir können nicht jedes Digimon retten. Aber so, wie wir momentan fliehen, locken wir Arkadimon direkt in bewohntes Gebiet.“ Als er in die matten, entmutigten Gesichter der anderen sah, zögerte er fast, hinzuzufügen: „Die Sache wirft noch eine Thematik auf, der wir uns stellen müssen. Unsere Vorräte. Wenn wir unser Essen weiterhin so einteilen, reicht es noch, um aus den Bergen zu kommen. Wenn wir damit sparen, kommen wir vor Erschöpfung nirgendwo mehr hin. Wo es Landwirtschaft gibt, gibt es sicher auch etwas zu essen, aber womit bezahlen wir, und was machen wir wegen Arkadimon?“ „Und wenn wir uns aufteilen?“, schlug Fumiko vor. „Kouki könnte auf Nefertimon Essen besorgen, und wir fliegen einstweilen in eine andere Richtung.“ „Nur dass es nicht wirklich eine andere Richtung gibt, wenn wir uns nicht einholen lassen wollen“, hielt Taneo dagegen. „Und das Problem mit der Bezahlung bleibt bestehen.“ „Uns bleibt also gar nichts anderes übrig, als Arkadimon zu den Feldern zu locken“, brummte Renji. „Ist doch fein. Dann müssen wir uns nicht die Köpfe zerbrechen. Hier in den Bergen gibt’s sowieso nichts. Wir fliegen weiter in diese Tal, holen uns dort was zu essen, und fliegen weiter und hoffen auf ein Wunder.“ Ausnahmsweise schien Renjis simpler Vorschlag tatsächlich der vernünftigste zu sein. Die anderen besprachen das Problem noch, kamen jedoch zum selben Ergebnis. Tags darauf erreichten sie das Tal, das nach Osten hin in einer gewaltigen, schachbrettgemusterten Ebene mündete. Thunderboltmon hatte, ehe es digitiert war, Arkadimon etwa zehn Kilometer hinter ihnen gesichtet. Es folgte ihnen nicht in gerader Linie, sondern erschnupperte ihre Fährte offenbar immer wieder von Neuem – und es war leicht abzulenken. Unlängst hatte es einen Umweg von über einem Kilometer in Kauf genommen, um ein einsames Moyamon anzugreifen, das in den Bergen lebte. Wie die Dinge standen, hatten die DigiRitter keine Chance, es an den Siedlungen im Tal vorbeizulocken. „Zurückzukehren war keine Option, oder?“, fragte Kouki grimmig, als sie auf der letzten Felsenspitze vor dem Tal zwischenlandeten. Taneo schüttelte den Kopf. „Das wäre nicht vernünftig. Selbst auf unseren Digimon brauchen wir drei Tage, um die Berge zu überqueren. So lange halten wir nicht durch.“ So flogen sie ins Tal, um den Digimon ihren Untergang zu bringen.   Kouki tat es weh, wie freundlich sie von den Digimon begrüßt wurden. Vornehmlich Burgermon, MudFrigimon, Bearmon und Grizzlymon lebten in dem Tal und hatten viel von den DigiRittern gehört – woher auch immer. Er war sich nicht einmal sicher, ob diese Digimon wussten, wie sie aussahen, oder ob sie sie für die DigiRitter längst vergangener Zeiten hielten. Sie luden sie sogar zu einem schmackhaften Festessen ein und boten an, ihnen so viel Brot und Obst und graubraune Knollenfrüchte zu geben, wie sie benötigten. Tageko und Kouki übernahmen die unliebsame Aufgabe, sie alle vor dem Digimon zu warnen, das auf sie zukam. Sie hätten höchstens einen halben Tag Zeit, um sich irgendwo an den seitlichen Hängen des Tals in Sicherheit zu bringen. Darauf reagierten sie verwundert, aber sie wirkten dennoch dankbar, weil ihre Helden sie extra warnten – und Kouki brachte es nicht über sich zu gestehen, dass Arkadimon ihnen eigentlich nur folgte. Die Digimon versprachen, auch ihre Nachbarn zu warnen, und die DigiRitter setzten ihren Weg nach Osten fort. In der Abenddämmerung machten sie auf einem kleinen Hügel mit einer hölzernen Windmühle Halt, um zurückzublicken. Mindestens zwei der Gehöfte sahen nicht so aus, wie sie aussehen sollten – aus der Ferne wirkte es, als hätte ein Kind einen Bauklotz in kleine Stückchen gehackt. Anderswo brannte es; eine dicke Qualmsäule ragte weit in den Himmel. Arkadimon schlug normalerweise mit den Fäusten zu und saugte seine Gegner mit seinen Tentakel-Haaren aus. Soweit sie wussten, beherrschte es keine Attacke, die etwas anzünden konnte. Irgendein Digimon dort musste sich gegen den Eindringling gewehrt haben. Kouki sah, wie Fumiko mit leerem Blick die Szenerie betrachtete. Er tastete nach ihrer Hand, die sich kalt und leblos anfühlte.   Immerhin waren ihre Vorräte nun wieder aufgefüllt. Sie versuchten, eine möglichst unbewohnte Gegend zu finden, aber sie brauchten einen weiteren Tag, um die Felderlandschaft zu überqueren – vor allem, weil sie immer wieder landeten, um die Digimon hier zu warnen. Arkadimon wirkte wie ein instinktgetriebenes Tier, aber es besaß die subtile Grausamkeit, sie mit ihrem Pflichtgefühl und ihrem Hunger zu erpressen. Würden sie auf Nahrung verzichten und in unbewohntes Gebiet vorzustoßen? Darüber waren sich die DigiRitter selbst nicht mehr einig. Niemand suchte mehr nach den Fernsehapparaten. Es schien einfach sinnlos; die Asuras hatten sicherlich alle zerstört. So gut es ging hielten sie ihre Kräfte beieinander. Renji war noch launischer als sonst, Tageko abweisend und noch rechthaberischer. Jagari war schweigsam, Taneo grüblerisch, und all das färbte auch auf ihre Digimon ab, die von Tag zu Tag mutloser wurden und sich sichtlich schämten, nicht besser für ihre Partner sorgen zu können. Kouki war der Einzige, der sich bemühte, die Gruppe aufzuheitern, und Fumiko wusste nicht, ob sie ihm dafür dankbar sein oder ihn einfach hassen sollte, weil Letzteres so einfach schien … Eine gähnend leere Ebene erstrecke sich wieder vor ihnen, zuerst grasbedeckt, dann war es nur mehr eine öde, rote Felsenlandschaft. Wie viel von der DigiWelt hatten sie wohl schon gesehen, seit sie auf der Flucht waren? Cyberdramon und Nefertimon flogen relativ schnell. Bald sahen sie wunderliche Felder, von denen sie nicht sagen konnten, wer sie bewirtschaftete. Auf einem wuchsen Fleischkeulen, deren Knochen bleich in der Sonne schimmerten und zum Pflücken einluden. Auf dem anderen schien jemand Käse anzubauen. Er wuchs auf niedrigen Sträuchern und in den Löchern der Käseräder steckte etwas wie Nüsse, die jedoch bitter schmeckten. Vielleicht die Kerne von diesem merkwürdigen Obst? Es war, als wären sie in einem Märchen gelandet. Das einzige Problem war, dass die meisten Äcker und Sträucher abgeerntet waren. Die Ausbeute war also gering. Die DigiRitter bedienten sich und zogen weiter – und hofften, dass sie damit niemandem Ärger bereiteten. Dann kam wieder eine Hungerperiode. Zwei Tage später, am Morgen von Fumikos vierzehntem Geburtstag, saßen sie um ein erkaltetes Lagerfeuer in der Mitte einer Karstlandschaft herum und ließen ihre Mägen knurren. Arkadimon schienen sie soweit abgehängt zu haben. Die Frage war nur, für wie lange. „Hey.“ Kouki setzte sich zu Fumiko, die in der kühlen Morgenluft auf einem der brüchigen Felsen saß und geistesabwesend ihr DigiEi streichelte. „Hey.“ „Hier, für dich. Alles Gute zum Geburtstag.“ Kouki überreichte ihr eine Art Armband, das er aus Grashalmen geflochten und mit einer hübschen Blüte versehen hatte. Er lächelte. „Ist nichts Besonderes. Ich wünschte, es wäre was zu essen.“ „Das macht nichts. Es ist hübsch. Danke, Kouki.“ Sie nahm das Geschenk entgegen und gab ihm einen Kuss. Dann schlang sie das Band behutsam um ihr Handgelenk und betrachtete es. „Du hast nicht zufällig noch ein zweites?“ „Nö, wieso? Wolltest du noch eins?“ „Nein. Danke. Schon gut.“ Irgendwie hatte sie das Gefühl, bald sterben zu müssen. Wenn auch er ein solches Band getragen hätte … Ach, sie wusste es auch nicht. Vielleicht hätte sie sich dann friedlicher gefühlt. Im Tode vereint … Sie schüttelte den Gedanken hastig ab. „Jetzt sind wir also schon fünfzehn Tage unterwegs“, seufzte Kouki und streckte sich neben ihr aus. „Irgendwas müssen wir uns einfallen lassen.“ „Hm“, machte sie nur. Sie wollte nicht darüber reden. Bis zu ihrem Aufbruch hockten sie nur schweigend nebeneinander. Zum Abend hin hatten sie die felsige Landschaft hinter sich gelassen und überflogen einen dichten Nadelwald. Irgendwo rechts von ihnen glitzerte Wasser – ein See vielleicht oder das Meer? „Cyberdramon hält es nicht mehr lange durch“, berichtete Taneo. „Wir brauchen bald wieder was zu essen.“ Sein Digimon knurrte. „Was ist mit dort vorne?“ Renji deutete auf eine Ansammlung Gebäude, die auf einer Lichtung standen. Als sie näher kamen, waren sie nicht einmal mehr sicher, ob es überhaupt Gebäude waren – es sah fast aus, als hätte jemand versucht, aus Hüpfburgen eine Stadt zu bauen. Der Boden wirkte wie ein riesiger, weicher Teppich. Die DigiRitter beratschlagten sich kurz. Es stieg nirgends Rauch auf und aus der Luft konnte man auch keine Digimon sehen. Vielleicht war auch dieses Gebiet verlassen und würde ihnen die Nahrung spenden, die sie dringend brauchten. Außerdem war Arkadimon noch ziemlich weit weg; seit gestern hatten sie es nicht mehr gesehen. Cyberdramon und Nefertimon landeten also in der Mitte der seltsam weichen Stadt und ließen ihre Partner absteigen. „Wow“, war das Erste, was Renji sagte, als sie die Stadt erkundeten. Der Teppich zu ihren Füßen war grasgrün und so elastisch wie ein Trampolin. Und er war übersät mit Eiern, von der Größe von Straußeneiern, die alle bunt gemustert waren. „Jackpot, würde ich sagen“, grinste Renji. „Fleisch und Käse hatten wir ja schon. Das hier ist wohl das Eierfeld. Wenn wir die mitnehmen und braten, kommen wir locker noch eine Woche durch.“ „Untersteht euch!“, ertönte eine Stimme von links. Ein rotblaues Digimon huschte daher. „Ein Elecmon!“, rief Jagari erfreut. „Finger weg von den Eiern!“ Elecmon baute sich mit gesträubtem Fell vor Renji auf. „Renji“, meinte Tageko tadelnd, „du hast schon gemerkt, dass das DigiEier sind?“ „Hä? Echt jetzt?“ Die anderen seufzten. Elecmon musterte sie misstrauisch. „Ihr seid doch die DigiRitter, oder?“ „Wer sonst?“, fragte Fumiko. „Gut. Gennai hat mir schon von euch erzählt. Endlich treffe ich euch mal. Wird auch Zeit. Wie lange wollt ihr noch auf der faulen Haut liegen?“ „Auf der faulen Haut liegen?“, wiederholten sie ebenso einstimmig wie fassungslos. „Die Asuras bedrohen die DigiWelt, habt ihr davon schon mal gehört?“ „Klar. Wir kämpfen ja gegen sie“, meinte Kouki mit leichter Verwirrung in der Stimme. „Dann macht gefälligst schneller!“ „Jetzt hör mal …“, begann Tageko, als hinter einer Art Plüschkissen etwas quietschte – oder weinte da ein Baby? Elecmon huschte augenblicklich zu ihm. Als sie ihm folgten, sahen sie, wie es einem niedlichen, roten Babydigimon ein Fläschchen mit Milch gab und beruhigend auf es einredete. „Als die Meister der Dunkelheit über die DigiWelt hergefallen sind, haben sie die Stadt des Ewigen Anfangs zerstört“, erzählte Elecmon, ohne von seiner Tätigkeit aufzublicken. „Jeden Morgen warte ich darauf, dass die Asuras kommen und das Gleiche machen. Und ihr schwirrt hier einfach so rein und wollt meine Babys essen!“ „He, das war aber wirklich nicht so gemeint …“, wehrte Renji ab. „Stadt des Ewigen Anfangs? Deine Babys?“, fragte Tageko. „Heißt das, du kümmerst dich um sie?“, wollte Jagari wissen. „So gut es eben geht.“ Elecmon huschte zu dem nächsten Baby, das schrie. Hier, hinter einer Wand aus Plüschkissen, wuselte es vor neuem, putzigem Digimon-Leben. Jagari hob begeistert eines der Kleinen auf und streichelte es. Die anderen fühlten sich eher verloren. „Warte mal, hast du vorher nicht gesagt, du hättest mit Gennai gesprochen?“, fragte Taneo. „Weißt du, wo wir ihn finden können?“ Elecmon sah missmutig auf, während es ein Baby in den Pfoten wiegte. Es wartete, bis es eingeschlafen war, und setzte es vorsichtig in eine der steinernen Wiegen, die hier die Stadt säumten. „Das gerade nicht. Aber kommt mal mit.“ Es führte sie bis hinter die Stadt, wo der Wald begann. „Die Stadt des Ewigen Anfangs. Hier werden also Digimon geboren?“, fragte Jagari interessiert. „Hast du doch gesehen.“ „Alle Digimon?“ „So gut wie. Ein paar Ausnahmen gibt’s immer. Eure Partner zum Beispiel, schätze ich mal. Wir sind da.“ Da bedeutete, auf einer winzigen Waldlichtung, mehr einem unbewachsenen Fleck in der Wildnis. Ein tellerförmiges, technisches Gerät prangte dort, halb von Moos überwuchert, auf dem Boden. „Gennai, hier will dich jemand sprechen.“ Die DigiRitter sahen staunend, wie eine vielfarbige Lichtsäule aus dem Teller wuchs. Darin wurde plötzlich, leicht durchsichtig, Gennais Gestalt sichtbar. „Eine holografische Übertragung“, stellte Jagari beeindruckt fest. Gennai erkannte sie sofort und nickte ihnen zu. Falls er überrascht war, zeigte er es nicht. „Gut, dass ich euch treffe. Danke, dass du sie hergebracht hast, Elecmon. Ich versuche schon seit Längerem, mit euch Kontakt aufzunehmen.“ „Haben wir gemerkt“, meinte Renji trocken und kassierte dafür von Tageko einen Schlag in die Rippen. „Aua!“ „Gennai, wir brauchen Ihre Hilfe“, sagte sie. „Außer mit Informationen kann ich euch wahrscheinlich nicht helfen“, sagte das Hologramm. „Ich bin im Moment sehr beschäftigt und muss achtgeben, dass die Asuras mich nicht finden. Allerdings muss ich sagen, dass ihr ganze Arbeit geleistet habt. Viele der Asuras haben dank euch das Zeitliche gesegnet, und es gibt nur noch einen einzigen Chaossamen.“ „Das mag ja alles sein“, begann Kouki, „aber wir haben trotzdem ein Riesenproblem. Ein irre starkes Digimon ist hinter uns her und wir kommen nicht mehr in unsere Welt zurück, weil die Asuras alle Fernseher zerstört haben.“ „Oder gibt es hier einen?“, fragte Jagari Elecmon. Das Digimon schüttelte den Kopf. „Nicht mehr. Ich habe letztens ein Snimon durch den Wald fliegen sehen. Mir war nicht ganz geheuer dabei, ich hatte schon Angst, es würde die Stadt angreifen. Aber als ich nachsehen ging, waren da nur die rauchenden Überreste von einem dieser Fernseher. Also steckte es doch mit den Asuras unter einer Decke.“ „Dann haben sie herausgefunden, wie ihr diese Welt betretet“, sagte Gennai. „Das ist nicht gut.“ „Haben Sie irgendeinen Tipp für uns, wie wir ein unglaublich starkes Digimon besiegen können?“, fragte Taneo. „Gibt es nicht zufällig irgendwo eine Geheimwaffe? So eine Art Digimon-Excalibur oder so? Am besten hier in der Nähe?“, fragte Renji. Fumiko sah in den Abendhimmel. Der Wind raschelte in den Zweigen. Plötzlich hatte sie ein ganz mieses Gefühl, wie eine dunkle Vorahnung. „Wir sollten uns beeilen. Arkadimon kann jeden Moment auftauchen.“ „Wir haben einen guten Vorsprung“, erwiderte Taneo. „So schnell holt es uns nicht ein.“ „Trotzdem. Irgendetwas stimmt hier nicht.“ Gennai hatte aufgehorcht. „Arkadimon? Sagtest du Arkadimon?“ „Wissen Sie etwas darüber?“, fragte Tageko. Gennai schwieg, nur für einen Moment, aber das bedeutete nichts Gutes. „Nicht viel. Arkadimon ist ein Digimon, das in der DigiWelt eigentlich gar nicht existieren dürfte. Die Asuras haben seine Daten aus dem Strudel der Finsternis geholt und es zu einem der ihren gemacht. Wir haben den letzten Heiligen Stein geopfert, um seine Macht zu versiegeln. Wenn die Asuras es geschafft haben, es wiederzuerwecken, bedeutet das nichts Gutes.“ Fumiko wusste nicht, was er mit diesem ominösen Strudel meinte, aber offenbar hatte selbst Gennai nicht damit gerechnet, dass Arkadimon zurückkehren könnte. „Und? Wie können wir es jetzt besiegen?“ „Gar nicht.“ Die DigiRitter starrten ihn an. „Gar nicht?“, rief Kouki. „Heißt das, es ist unsterblich?“ „Das nicht. Es kann genauso zerstört werden wie jedes andere Digimon. Aber genau das müsst ihr um jeden Preis vermeiden.“ „Und wieso?“ Renji lachte humorlos. „Etwa weil es sich im Grunde seines Herzens uns anschließen will?“ „Nein. Ich wollte darüber schon eher mit euch reden. Ich habe schlechte Nachrichten.“ „Noch was Schlechtes?“, fragte Kouki mutlos. Gennai nickte ernst. „Ich habe etwas über die Asuras herausgefunden. Über ihre gefährlichste Waffe.“ Kapitel 33: Das Geheimnis der Asuras ------------------------------------ „Ihre gefährlichste Waffe? Was soll das sein?“, fragte Taneo. „Das wird er uns wohl gleich sagen“, meinte Tageko. Gennai sah sie einen nach dem anderen ernst an. „Es ist euch vielleicht aufgefallen, dass die Asuras nicht wie gewöhnliche Digimon sterben.“ „Sie meinen, wegen ihren Daten? Wir haben bemerkt, dass sie immer in eine bestimmte Richtung davonfliegen. Digimon wie DarkTyrannomon oder die Keramon haben sich einfach aufgelöst und ihre Datensplitter sind in alle Richtungen davongestoben“, überlegte Taneo. „Genau das ist es“, sagte Gennai. „Es hat einen Grund, warum die Daten der Asuras sich am Himmel sammeln.“ Er zögerte kurz. „Sind euch die Begriffe Samsara und Nirvana bekannt?“ „Darüber haben wir doch was gelesen, als wir zu den Asuras recherchiert haben“, sagte Jagari aufgeregt. „Samsara ist der Kreislauf von Sterben und Wiedergeburt. Und wenn man ein anständiges Leben geführt hat, geht man ins Nirvana ein, ins große Nichts. Kurz gesprochen.“ Gennai nickte. „Wenn ein Digimon stirbt, wird es als DigiEi in der Stadt des Ewigen Anfangs wiedergeboren. Es schlüpft aus einem DigiEi und hat erneut die Chance, zu digitieren und stärker zu werden.“ „Also wie ein ewiges Samsara“, schlussfolgerte Tageko. „Die Asuras unterscheiden sich hierbei aber von anderen Digimon. Man könnte sagen, das ist es auch, was ein Asura ausmacht.“ „Die Asuras gehen ins Nirvana?“, fragte Jagari auf gut Glück. „So einfach ist es nicht. Man könnte sagen, die Asuras haben eine Zwischenstufe erreicht, zwischen Samsara und Nirvana. Sie werden nicht wiedergeboren, aber sie verschwinden auch nicht einfach. Stattdessen sammeln sich ihre Daten, ihre Erinnerungen, ihre Macht und alles, was sie einst ausgemacht hat, und vereinigen sich mit ihrem Anführer.“ „Der Anführer der Asuras?“, fragte Kouki. „War das nicht LordMyotismon?“ „Nein, ihr wahrer Anführer ist ein Digimon, dem ihr noch nicht begegnet seid. Und seit ihr begonnen habt, die anderen Asuras zu töten, hat es beständig an Stärke gewonnen.“ „Aber das ist doch …“ Renji fehlten die Worte. „Leute, verstehe ich das grad richtig?“ „Die Asuras werden nicht wiedergeboren“, wiederholte Gennai. „Stattdessen gehen ihre Daten in eine Art Schein-Nirvana ein. Und das ist der Körper ihres Anführers. Das ist der Grund, warum ihr Arkadimon nicht vernichten dürft.“ „Weil es sich dann mit seinem Anführer vereinigen würde?“, fragte Fumiko. „Ich kapier’s irgendwie doch nicht“, murmelte Renji. „Arkadimon ist schon für sich allein ein Digimon von solcher Zerstörungskraft, dass es die DigiWelt in seinen Grundfesten erschüttern könnte“, sagte Gennai mit unheilschwangeren Worten. „Wenn ihr es tötet, müsst ihr früher oder später noch einmal gegen es kämpfen – zusammen mit der Macht aller anderen besiegten Asuras.“ „Toll“, meinte Tageko sarkastisch. „Und ich hatte schon geglaubt, der Tag könnte gar nicht mehr besser werden.“ Als hätte sie mit diesen Worten irgendetwas provoziert, war die Luft plötzlich von einem Rauschen erfüllt. Die Baumwipfel erzitterten, Nadeln regneten auf die Lichtung herab. „Was war das?“, fragte Jagari erschrocken. „Ich werde mal nachsehen!“ Thunderboltmon schoss wie ein Blitz über die Baumkronen und stieß ein erschrockenes Fiepen aus. „Taneo! Es ist da! Arkadimon kommt auf uns zu!“ „Aber das ist unmöglich!“, rief Tageko. „Es war meilenweit entfernt! Wir müssten einen viel größeren Vorsprung haben!“ „Es sieht jetzt ein wenig anders aus“, berichtete Thunderboltmon von oben. „Es ist größer – ich glaube, es ist wieder digitiert!“ „Das heißt wohl, es hat unterwegs noch einige andere Digimon verspeist“, murmelte Kouki bitter. Taneo vergrub das Gesicht in den Händen. „Wir sollten sofort von hier verschwinden“, sagte Renji. „Was? Das könnt ihr nicht!“, begehrte Elecmon, der Hüter der Stadt des Ewigen Anfangs, auf. „Was wird aus den DigiBabys?“ „Es hat recht, wir haben Arkadimon quasi hergelockt. Wir können jetzt unmöglich fliehen“, sagte Kouki. „Was willst du denn sonst tun? Kämpfen? Wenn es schon wieder digitiert ist, ist es doch erst recht zu stark für uns!“ Taneo haderte mit sich. Was sollten sie tun? Was war das Vernünftigste in diesem Moment? Und was konnte er mit seinen Wertvorstellungen vereinbaren? Die Vernunft siegte letztendlich. „Renji hat recht. Wir können es unmöglich bekämpfen. Noch können wir fliehen.“ „Das ist nicht dein Ernst!“, rief Kouki. „Dass ich das mal erleben darf“, murmelte Renji. Taneo wusste nicht, ob er damit darauf anspielte, dass sie derselben Meinung waren oder dass Taneo tatsächlich die DigiEier aufgeben wollte. „Wenn wir bleiben, verlieren wir“, sagte Taneo und schwitzte dabei. „Damit ist niemandem geholfen. Es besteht immer noch die Chance, dass wir Arkadimon von hier fortlocken können und es die Stadt in Ruhe lässt. Selbst wenn nicht, wir haben eben erfahren, dass tote Digimon wiedergeboren werden!“ „Du hast sie ja nicht mehr alle!“, rief Kouki. „Willst du die Baby-Digimon opfern, nur weil sie wiedergeboren werden und wir nicht?“ „Glaub nicht, dass es mir gefällt!“, fauchte Taneo ihn an. „Aber es ist das Einzige, was uns übrig bleibt!“ Kouki zögerte kurz, wich seinem Blick aus. „Ich bleibe“, verkündete er. „Ihr könnt ja auf Cyberdramon fortfliegen.“ „Du bist so ein verdammter Sturkopf!“, knurrte Taneo. Fumiko war an Kouki herangetreten und drückte seine Hand. „Wir können sowieso nicht ewig fliehen. Und wir haben keinen Proviant mehr. Wie lange werden unsere Digimon diese Flucht noch durchhalten? Oder wir, nervlich? Hast du daran schon gedacht?“ Taneo biss sich auf die Lippen und schwieg. „Es ist gleich da“, meldete Thunderboltmon und kam wieder zu ihnen herunter. „Was sollen wir tun?“ „Komm, Salamon“, sagte Kouki entschlossen. „Wenn wir es weiter vorn im Wald abfangen, kommt es vielleicht nicht bis zur Stadt.“ Er lächelte schwach. „Vielleicht schaffen wir es, euch den Rücken so lange freizuhalten, bis es eure Spur verliert. Das wär doch ein Plan, oder, Taneo?“ „Du willst dich für uns opfern?“, rief Renji schrill. „Und Fumiko nehmt ihr auch mit.“ Kouki schob seine Freundin auf die anderen zu. Sie stemmte sich dagegen. „Nein, tun sie nicht! Ganz – sicher – nicht!“ „Wenn einer kämpft, kämpfen wir alle!“, sagte Renji. Und das, obwohl er nur mehr ein Fellknäuel als Partner hatte – welche Chancen rechneten sie sich überhaupt aus? „Hört mal“, sagte Taneo langsam, als wollte er kleinen Kindern das Rechnen beibringen, „wir sind am Ende. Vielleicht werden wir immer schwächer, ja, aber wir sind selbst jetzt lange nicht stark genug.“ „Dann hoffen wir eben auf ein Wunder. Vielleicht wechselt Arkadimon ja die Seiten“, meinte Kouki in dem schwachen Versuch, einen Scherz zu machen. Der Schweißtropfen, der seine Schläfe hinablief, zeigte deutlich, wie er über die Sache dachte. Taneo sah hilfesuchend zu Tageko. Diese ballte die Fäuste und seufzte tief. „Du hast sie gehört. Sie wollen Märtyrer spielen.“ „Dann hilf mir, es ihnen auszureden!“ „Tja, was das angeht …“ Tageko lächelte traurig. „Ich glaube, ich will mitspielen.“ Taneo starrte seine Freunde an, die offenbar nicht schnell genug sterben konnten. „Was ist nur los mit euch, verdammt?“ „Weißt du“, sagte Tageko, „nur zu fliehen ist echt zermürbend. Ich will mich nicht länger verstecken. Und auf Dauer geht es sowieso nicht gut. Die Asuras werden schon dafür gesorgt haben, dass wir keinen einzigen Fernseher mehr finden. Es ist besser, wir beenden das eher früher als später.“ Taneo schüttelte langsam den Kopf, als auch Jagari mit seinem grünen Schnullerdigimon auf dem Arm zu den anderen trat. „Pabumon und ich machen auch mit. Das, was wir gerade tun, ist weder heldenhaft noch bringt es irgendwas. Wenn wir es nicht schaffen, dann haben wir es wenigstens versucht und das Ergebnis ist auch dasselbe.“ „Wir könnten Cyberdramon gebrauchen“, meinte Kouki lächelnd. „Natürlich nur, wenn du uns helfen willst.“ Taneo schnaubte. „Also schön. Ihr seid alles Idioten. Merkt euch meine Worte. Ihr seid Idioten, und ich hab’s euch gesagt. Wehe, es beschwert sich hinterher einer von euch.“ „Also bleibst du?“, fragte Fumiko. „Ich kann euch Idioten ja nur schlecht alleine lassen“, brummte er unglücklich. „Also ist das entschieden.“ Kouki streckte lächelnd die Hand aus. „Einer für alle, alle für einen.“ Die anderen legten ihre Hände auf seine, Taneo zuletzt. „Hört mich an“, sagte Gennai drängend. „Ich kann euch leider nicht helfen. Ich wünsche euch alles Glück, das ihr bekommen könnt. Und vergesst nicht, was immer ihr tut: Ihr dürft Arkadimon nicht töten.“ Damit erlosch die Übertragung. „Als ob wir dazu überhaupt fähig wären“, schnaubte Tageko. „Also los, alles auf die Plätze“, sagte Kouki. „Taneo, hast du irgendeinen schnellen Plan, wie wir heil aus dem Kampf herauskommen?“   Es war wirklich eine dumme Idee. Selbst Renji begriff das, und er hatte oft Vorwürfe bekommen, dass er dumme Dinge tat. Also, was machte das schon aus? Das neue Arkadimon war größer als Cyberdramon und mit einem weißen Insektenpanzer ausgerüstet, der schon von weitem stahlhart wirkte. Rote Muster waren darauf zu sehen. Seine Flügel waren gewachsen, sein Kopf war immer noch derselbe, die Schlitzaugen funkelten bedrohlich. Als Renji die Analyzer-Brille aufsetzte, sah er, dass es nun wirklich auf dem Ultra-Level war. „Schon, als es nur auf dem Rookie-Level war, konnte es zwei Ultra-Digimon hintereinander besiegen“, murmelte er. „Ich frage mich, wie stark das Teil jetzt ist.“ „Wir werden es leider gleich herausfinden“, sagte Kouki, der neben ihm in Deckung gegangen war. Sie sollten die Köder spielen, und Arkadimon schien sie bereits gewittert zu haben, denn es änderte seinen Kurs ganz leicht, rauschte über die Baumwipfel hinweg. Dann kam Thunderboltmon ins Spiel. Wie ein Pfeil schoss es ihm im Dickicht entgegen. Als es knapp unter Arkadimon war, hüllte goldenes Licht es ein, und das fürchterliche Cyberdramon brach aus dem Unterholz. Sein Knurren wurde von einem gleißenden Strahl aus seiner Ausradierkralle begleitet, der Arkadimon von unten traf, dann lenkte Cyberdramon ihn gegen Arkadimons Flügel. „Treffer!“, sagte Renji. „Komm, Salamon, jetzt wir!“ Kouki und sein Digimon liefen los, Renji folgte ihm. Obwohl Arkadimon voll erwischt worden war, schien es unversehrt. Nicht einmal sein Flügel war beschädigt worden. Anstatt abzustürzen, flatterte es nun an Ort und Stelle und richtete sein Augenmerk auf Cyberdramon, das so plötzlich unter ihm erschienen war. Blossomon ließ ihm keine Gelegenheit, sich neu zu orientieren. Dank seiner Erscheinung gut getarnt, schoss es aus wenigen Dutzend Metern seine Spiralblumen ab, die Arkadimons Kopf trafen und hoffentlich verhinderten, dass es Cyberdramon ins Visier nehmen konnte. Dieses sauste währenddessen senkrecht himmelwärts und zog sine glühenden Klauen über Arkadimons Panzer. Dann zog es sich sofort wieder zurück. „Bleibt auf Abstand, solange wir nicht wissen, welche Attacken es nun kann!“, hörte Renji Taneo rufen. Er war auf einen Baum geklettert, aber Renji wusste nicht genau, wo er war. Arkadimon fauchte und schüttelte sich. Renji suchte vergeblich nach Kratzspuren auf seiner gepanzerten Haut. „Verdammt!“, fluchte er. „Das Ding hält einfach zu viel aus!“ „Kouki, Salamon, jetzt!“, rief Taneo. „Alles klar! DigiArmorEi des Wissens, erstrahle!“ Und schon rauschte Kouki auf Butterflymon davon. „Verflucht, ich hasse es, wenn wir nichts tun können!“, knurrte Renji. Der Fellball, zu dem Candlemon geworden war, piepste zustimmend. „Jetzt weißt du, wie es mir geht“, sagte Fumiko, die unter einem Baum stand und den Kampf beobachtete. Sie hatte die Arme um den Körper geschlungen, als wäre ihr kalt. Irgendwie sah sie verloren aus, fand Renji. Ursprünglich war zur Debatte gestanden, dass die DigiRitter ohne kampffähigem Partner die Stadt des Ewigen Anfangs evakuieren sollten, aber das hatten sie verworfen. Es wären einfach zu viele Eier und Babydigimon gewesen, und sie wussten auch keinen Ort, an den sie sie bringen konnten. So würden sie wenigstens alle gemeinsam im Kampf gewinnen oder verlieren – wobei Letzteres weit wahrscheinlicher war –, genau wie sie es gewollt hatten. Kouki und Butterflymon umkreisten Arkadimon in einem waghalsigen Manöver. Sie hatten ausgetestet, welche seiner Armor-Digitationen am schnellsten und wendigsten war – und Kouki hatte sich danach nicht davon abbringen lassen, gemeinsam mit seinem Partner zu kämpfen. Renji fand das irre mutig, auch wenn Tageko, Taneo und Fumiko geschlossen dagegen gewesen waren. Wie erhofft, irritierte der flinke Schmetterling Arkadimon, das versuchte, ihm mit dem Blick zu folgen. Indessen bombardierten Cyberdramon und Blossomon es von unten, aber diese Attacken schien es kaum zu spüren. „Weiter!“, rief Taneo. „Gebt nicht auf! Irgendetwas muss es bringen!“ Arkadimon hielt plötzlich inne. Es war, als fröre es mitten in der Luft ein. Zwischen den fauchenden Attacken der anderen hörte man Klicklaute von ihm kommen. Dann löste sich der Wald unter ihm plötzlich auf. Renji brauchte einen Moment, um zu verstehen, was er da sah. Bäume, Wurzeln, Blattwerk, einfach alles unterhalb von Arkadimon löste sich plötzlich in Daten auf, so wie es ihre besiegten Gegner stets taten. Er hörte Tageko keuchen und Taneo etwas von Rückzug brüllen. Renji schluckte und wich zurück, als die Welle aus sprühenden Daten langsam auf ihn zukam. Das war also die Attacke von Arkadimon? War das überhaupt eine Attacke? Oder geschah hier ein seltsames Naturphänomen?   Blossomon entkam der flächenweisen Zerstörung nicht rechtzeitig. Es versuchte außerhalb der Reichweite zu humpeln, aber einige seiner Ranken lösten sich in dem allgemeinen Datenwirbel auf. Tageko fuhr ein Stich ins Herz, als sie ihren Partner stöhnend niedersinken sah. Dann hörte der Wald auf, sich selbst aufzulösen, und Blossomon digitierte zurück – zumindest sah es so aus. Myriaden von Datensplittern blockierten die Sicht. Tageko stürmte aus ihrem Versteck und auf den Rand des Kraters zu. Gut hundert Quadratmeter Wald waren vernichtet worden, wie von einer gewaltigen Explosion zerrissen. Die Kraterwände waren erst spiegelglatt, dann rutschten Erde und Laub hinunter. Tageko hörte einen Schrei und ihr Blick schnellte himmelwärts. Der Baum, auf dem Taneo hockte, neigte sich. Die Attacke hatte Teile seiner Wurzeln gefressen und die übrigen fanden an dem Kraterhang keinen Halt. Mit rauschender Krone und knackenden Ästen rutschte der Baum in den Krater und stürzte dabei um. „Taneo!“ Ein goldener Blitz sauste den Stamm entlang, dann hatte Kouki Taneo gepackt. Butterflymon, nun mit beiden Jungen auf dem Rücken, tat sich mit dem Fliegen schwer. Es zielte den Waldboden neben Renji an, um sie abzusetzen – als Arkadimon seine Chance nutzte. Schreie kamen von überall her, und Tageko erkannte, dass auch sie selbst etwas Zusammenhangloses brüllte. Arkadimon schoss auf das wankende Butterflymon zu und stieß dabei Cyberdramon, das in seinem Weg war, wie eine Puppe zur Seite. Es streckte den krallenbewehrten Arm aus, und selbst dort, wo sie rannte, spürte Tageko den irren Luftstrom, der plötzlich daraus hervorwehte. Taneo und Kouki wurden von Butterflymons Rücken gerissen und landeten sich überschlagend irgendwo im Dickicht. Das Digimon selbst krachte so heftig gegen einen Baumstamm, dass dieser gespalten wurde. Im nächsten Moment schlug der Baum, auf dem sich Taneo versteckt gehabt hatte, auf dem Waldboden auf und verstreute Äste und Blätter in alle Richtungen. „Taneo! Kouki!“, schrie Tageko und sah sich atemlos um. Wo waren sie? Und wo waren die anderen? „Tageko …“, drang ein schwaches Stimmchen an ihre Ohren. Sie zuckte zusammen. „Budmon!“ Es lag in einer Mulde im Kraterhang, schmutzig und mit glasigen Augen, aber es lebte. Sie stürzte zu ihm und drückte es an ihre Brust. „Ist alles in Ordnung mit dir?“ „Tut mir leid, dass ich nicht schnell genug war …“, murmelte es. „Mach dir keinen Kopf.“ Tageko sah unbehaglich auf das riesige Arkadimon, das eine neuerliche, wirkungslose Ausradierkralle in den Rücken bekam. Seine Klicklaute stimmten einen hektischen Takt an, als es den Kopf hin- und herbewegte. Offenbar war Cyberdramon als Gegner noch attraktiver als die Menschen und ihre zurückdigitierten Digimon, denn es stieß wieder in die Lüfte und wandte sich nach dem Drachenwesen um. Tageko nützte die Gelegenheit, um wieder in den Wald zu laufen. Deckung finden. Und die anderen. Obwohl es vor Arkadimons Angriff keine Deckung gab. Obwohl die anderen vielleicht gar nicht mehr lebten.   Koukis Kopf brummte, als hätte ihm jemand eins mit einem Hammer übergezogen. Sein Rücken schmerzte; er lag im Hohlkreuz über einen Busch, dessen Äste ihm in die Haut stachen. Stöhnend versuchte er sich aufzurichten. Als er es nach drei Versuchen endlich geschafft hatte, sich von dem Gebüsch herunterzuwälzen, sah er Fumiko, die sich besorgt über ihn beugte. „Alles noch dran?“, fragte sie. „Ja“, murmelte er. „Schade, ich war wohl nicht lang genug ausgeknockt, dass du mich Mund-zu-Mund beatmet hättest.“ Sie schenkte ihm ein schmales Lächeln und zog ihn in die Höhe. „Wo ist Taneo?“ Sie fanden ihn auf dem moosbedeckten Waldboden. Er war noch bewusstlos. Blut klebte in seinen Haaren. „Verdammt, Taneo!“ Kouki stürzte zu ihm. „Leute, hier lang!“ Renji tauchte irgendwo zwischen den Bäumen auf. Jagari war bei ihm. „Wir müssen abhauen, solange es noch geht! „Das wird ohnehin nichts mehr!“, rief Jagari. „Taneo ist verletzt!“, schrie Kouki zurück. Renji fluchte und lief herbei. Gemeinsam hoben sie ihn in die Höhe, um ihn zu tragen. „Wo ist Tageko?“ Fumiko sah sich hektisch um, während Kouki laut nach Butterflymon rief. Ihre Rufe gingen im Getöse über ihnen unter. Kouki sah, dass Cyberdramon sich an Arkadimons Rücken geklammert hatte und auf dessen Panzerung einhieb – als das Asura plötzlich wieder erstarrte. „Nein! Cyberdramon, flieg weg!“, schrie Kouki, aber es war zu spät. Cyberdramons Arme verschwanden einfach, lösten sich in Datensplitter auf. Es stieß sich kräftig mit den Hinterbeinen ab und somit auch Arkadimon von sich – andernfalls wäre es wohl um es geschehen gewesen. Mit kräftigen Flügelschlägen brachte es sich außer Reichweite, während dort, wo Arkadimon sich den Baumkronen näherte, ein grünbraun glitzernder Schneesturm aufwirbelte.   „Lauft“, keuchte Jagari und stürmte los. Kouki und Renji zerrten Taneo hinter sich her, dessen Beine über den Waldboden schleiften. Wie eine Staubwolke kam die Zerstörung näher. Fumiko erinnerte sich an ein Buch, das sie mal gelesen hatte: die Unendliche Geschichte. So in etwa hatte sie sich immer das Nichts vorgestellt, das ganze Welten verschlang. Wie ein gefallener Stern verglühte Cyberdramon, während es abstürzte. Es schien zum Glück auch nur zurückdigitiert zu sein. Etwas sprang plötzlich auf Koukis Schulter und brachte ihn fast aus dem Tritt. Gatomon klammerte sich an ihn. „Kouki, geht es dir gut?“ „Leute!“ Auch Tageko hechtete an ihre Seite, Budmon in den Armen. Sie deutete erschrocken auf Taneo. „Was ist mit ihm?“ „Bewusstlos“, sagte Kouki knapp. „Bewusstlos? Oder tot?“, fragte sie schrill. Fumiko lief es kalt den Rücken runter. Sie hatten nicht nachgeprüft, ob Taneo noch atmete … „Wo laufen wir hin?“, rief Renji. Hinter ihnen kam die Wolke aus Datensplittern immer näher, mit einem leisen, rieselnden Geräusch, und löste alles auf, was ihr in den Weg kam. „Einfach nur weg hier!“, stieß Fumiko kurzatmig aus. „Wartet“, rief Tageko plötzlich. „Wenn wir hier weiterlaufen …“ Jagaris Schrei unterbrach sie. Er war zuvorderst gelaufen und plötzlich am Ende des Waldes angelangt. Die anderen bremsten gerade noch rechtzeitig, ehe sie in den Krater fallen konnten, den Arkadimons erste Attacke gerissen hatte. „Und jetzt?“, murmelte Renji beklommen. „Da geht’s nicht weiter.“ Hinter ihnen wallten immer noch die Datensplitter auf. „Ist doch egal!“, zischte Kouki und riss Taneo und damit Renji über die Kante. Fumiko und Tageko folgte ihnen. Halb stolpernd, halb laufend, stürmten sie die Kraterwand hinunter. Als Erstes verloren Renji und Kouki den Halt und schlitterten schreiend mit Taneo in die Tiefe. Fumikos Fuß verfing sich nur kurz nach ihnen in einer lockeren Wurzel und sie schlug auf dem harten Untergrund auf, der keinen Zentimeter nachzugeben schien. In einer Wolke aus Erde überschlug sie sich und kam erst zum Liegen, als sie den Mittelpunkt des Kraters erreicht hatte. Jagari, Renji und Kouki rappelten sich eben in die Höhe. Sie waren über und über mit Erde beschmiert und gaben Fumiko eine Ahnung davon, wie sie selbst aussah. Taneo gab ein Stöhnen von sich und blinzelte. Immerhin schien er zu sich zu kommen, denn er sah sich verwirrt um. „Alles in Ordnung?“, rief Tageko, die etwas eleganter, aber dennoch nicht gerade geschickt den Rest des Weges zurücklegte. „Ja“, knurrte Renji. „Bis auf die Tatsache, dass wir jetzt richtig im Arsch sind.“ „Taneo!“ Die hohe Stimme gehörte Kokuwamon, das seinem Partner in den Arm flog. Es wirkte zu Tode erschöpft. Offenbar war es direkt in den Krater gestürzt. „Ich hab es nicht geschafft …“ „Das macht nichts. Du hast tapfer gekämpft“, murmelte Taneo und streichelte sein Käferköpfchen. Ein hämisch-klickendes Geräusch ließ sie herumfahren. Arkadimon war am Rand des Kraters gelandet und hatte seine Flügel gespreizt. Es gab keine Digimon mehr, auf die es aufmerksam werden konnte. Nun waren sie dran. Und dann wohl die Stadt des Ewigen Anfangs. Fumiko biss die Zähne zusammen und besah ihre Freunde. Niemand konnte mehr kämpfen. Sie kauerten alle mutlos im Schmutz. Es war vorbei. Fumiko sah etwas vor sich in der Erde liegen. Ihr DigiEi war aus ihrem Rucksack gerollt, als sie über den Kraterhang gerutscht war. Apathisch hob sie es auf. In dem Riss klebte Erde. „Dämliches Ding“, murmelte sie. „Wir sehen uns demnächst im Jenseits.“ Kouki trat neben sie. Sie sah ihn an. Sein Kinn zitterte und sein starrer Blick war auf Arkadimon gerichtet. Sie fühlte seine Angst. Auch die anderen brachten keinen Ton über die Lippen, während Fumiko sich bereits mit dem Ende abgefunden hatte. Arkadimons Klicken wurde zu einem Fauchen, und es nahm breitbeinige Haltung ein. Dann spannte es wieder die Muskeln für seine vernichtende Attacke an. „Ich liebe dich“, murmelte Kouki. „Ich dich auch“, erwiderte Fumiko mit trockenem Mund. Vor ihnen klaffte zischend ein faustgroßes Loch Erde auf und wurde zu Datenmehl. Das Loch vergrößerte sich, rauschte auf die DigiRitter zu. Sie sah, wie Kouki die Augen zusammenkniff, zwang sich jedoch selbst, zuzusehen, wie das Nichts näherkam. Wie es aussah, würde es sie wohl als Erstes erwischen. Das war besser, als ihre Freunde sterben zu sehen. Die vernichtende Welle kam, das Licht wurde heller … Licht? Es war stockdunkle Nacht, die Datensplitter funkelten nur ein wenig, woher kam … Fumikos Blick blieb an dem Ei haften, das sie in der Hand hielt. Während die Welle aus purer Zermalmung näher kam, wuchs vor ihren Augen der unheilvolle Riss in der Oberfläche, und violettes Glühen sickerte heraus … Was geschah? Starb das Digimon darin nun endgültig? Oder bedeutete das etwa … In dem Moment, als die Wolke aus Nichts sie erreichte, zerbarst das Ei. Schalenstücke wurden in alle Richtungen weggesprengt, und ein violetter Strahl sauste himmelwärts. Etwas blitzte auf, etwas traf sie, Fumiko hörte trommelfellzerfetzenden Lärm, gefolgt von wattiger Stille. Das Leuchten, das nicht mehr nur violett war, verglomm, und stattdessen hüllte dicker Nebel sie ein, ebenso dicht und schwer wie die Stille. Grau. Alles war grau. War das das Ende? Hatte sie eben das berühmte Licht am Ende des Tunnels gesehen, und nun war alles vorbei? Hinter sich hörte sie jemanden husten. Das Geräusch klang fremd hier, als würde es die Ruhe dieses Ortes stören, die letzte Ruhe der Toten … Ein fernes, tiefes Geräusch ertönte hinter der Nebelwand, und die Illusion verschwand. Sie war nicht ins Nichts gefallen. Sie stand auf festem Boden. Fumiko fühlte die winzigen Wassertröpfchen in der Luft, wenn sie atmete. Sie hüllten ihre Haut in einen feuchten Schleier. Der Geruch nach Moder und Salz drang in ihre Nase, scharf und doch irgendwie … tot. „Wo … wo sind wir?“, hauchte Jagari. Fumiko wusste es nicht. Sie wusste nur, dass Arkadimon nirgendwo zu sehen war. Überall war es besser als in diesem Wald. „Hier riecht es nach Meer“, stellte Tageko fest. „Aber wir waren doch noch eben … hä?“, machte Renji verdattert. Fumikos Blick wurde von etwas angezogen, das direkt über ihr zu schweben schien, wie ein Stern am Himmel, nur größer. Da … war etwas. Und sah auf sie herab. Ihr wurde bewusst, dass sie ihr DigiEi nicht mehr in den Händen hielt. Eine sanfte Brise kam auf und riss einige Nebelfetzen zur Seite, und Renji stieß einen Schrei aus. Dann ertönte ein Plumpsen, als er auf den Hosenboden fiel. „Was … ist das?“, hauchte Jagari. Fumiko sah fest das Wesen an, das vor ihr im Nebel sichtbar geworden war. Es war riesig und hatte geradezu irrwitzig dürre Gliedmaßen. Hände und Füße steckten dafür in ausladenden, weißen Panzerungen mit violetten Mustern. Unter dem Brustpanzer war halb etwas wie ein riesiges Auge zu sehen; der eigentliche Kopf besaß ein weiteres, kleineres Auge und war behelmt. Schweigsam blickte es auf Fumiko herab. Sie trat näher. „Fumiko! Nicht“, zischte Tageko, doch sie hörte nicht auf sie. Anders als ihre Freunde empfand sie keine Angst vor diesem Ungetüm, sondern eher etwas … anderes. Langsam hob sie die Hand und legte die Finger auf den Beinpanzer des Wesens. Er fühlte sich kühl an. In dem Moment, in dem die das stumme Ungeheuer berührte, glaubte sie, in seinen Gedanken lesen zu können. Sie fühlte Erleichterung, unbändige Freude, Trauer und Scham, aber Hoffnung. Waren das nun ihre Gedanken oder die des Wesens? Ein Sturm traf sie, ein Sturm von Eindrücken und Gefühlen, Erinnerungen und etwas wie Gedanken, die man nicht in Worte fassen konnte. Ich wusste es, dachte sie. Laut beantwortete sie schließlich Jagaris Frage. „Das hier ist Parallelmon. Mein Digimon.“ Und sie spürte, dass der aufwallende Stolz eindeutig zu ihr gehörte. Kapitel 34: Zwischen den Welten ------------------------------- Sie befanden sich offenbar an einer Art nebelverhangenen Küste. Nachdem sie sich von ihrem ersten Schreck erholt und jeder für sich festgestellt hatten, dass sie inklusive ihrer Partner noch lebten, hatten sie ein wenig die Umgebung erkundet – nur ein paar Schritte weit, weil sie nicht im Nebel abstürzen oder auf etwas Feindliches stoßen wollten. Jagari war dem Gluckern des Wassers gefolgt und hatte das Meer entdeckt. Es war unheimlich; die Oberfläche war völlig schwarz, die Gischt schmutzig grau, und selbst darunter schien nichts als Schatten zu lauern. Wo die knochenbleichen Felsen aufhörten, kam ebenfalls graue Erde oder Sand zum Vorschein. Büschel aus aschefarbenem Gras wuchsen hier und da. „Ich frage mich, wo wir sind“, sagte Jagari, als er und Motimon wieder zu den anderen stießen. Sie waren leicht zu finden; obwohl sie alle vor Schmutz starrten, waren sie wie bunte Farbkleckse in dieser deprimierenden Einöde. „Parallelmon sagt, dass es das auch nicht genau weiß.“ Fumiko hatte wohl in den letzten zehn Minuten den Blick nicht von ihrem Digimon gelassen. Ihre Augen glänzten feucht. Jagari konnte sie gut verstehen. All die Zeit hatte sie geglaubt, es wäre tot, und nun … Er dachte an das besondere Band, das ihn mit Motimon verband, und ein wohliger Schauer überkam ihn. „Es hat uns … hierhergebracht, oder?“, fragte Tageko vorsichtig. „Dein … Parallelmon.“ Fumiko nickte. „Es sagt, es hätte Arkadimons Macht nun schon zum zweiten Mal gespürt. Und dann hat es plötzlich gewusst, dass wir Hilfe brauchen. Es ist geschlüpft und hat uns in eine andere Welt gebracht. In die erstbeste, die es gefunden hat.“ Sie schien über eine bloße Berührung mit dem gewaltigen Digimon zu kommunizieren. „Eine andere Welt? Aber das hier ist nicht unsere Welt, oder?“, fragte Kouki und grinste schief. „Zumindest hab ich mir das Schwarze Meer immer anders vorgestellt.“ „Parallelmon, kannst du uns auch nachhause bringen?“, fragte Fumiko. Das haushohe Digimon legte den kleinen, gemusterten Kopf schief. Schließlich lächelte Fumiko glücklich, was Antwort genug war. „Also gibt es neben der DigiWelt und unserer noch andere Welten“, murmelte Jagari. „Sagenhaft.“ „Moment, wir können nicht einfach nachhause zurück“, sagte Kouki. „Habt ihr vergessen, dass Arkadimon immer noch bei der Stadt des Ewigen Anfangs ist? Es wird sie zerstören, wenn wir nichts unternehmen!“ „Was können wir denn unternehmen?“, fragte Tageko gereizt. „Gib es endlich auf. Wir sind ihm nicht gewachsen.“ „Moment!“, rief plötzlich Renji aus. „Wer von uns hat die Brille?“ Alle sahen ihn an. Da ging ihm ein Licht auf. „Oh. Stimmt ja. Ich hatte sie.“ Er begann, seine Kleidung abzuklopfen, immer schneller, ehe er die Brille erleichtert aus der Hosentasche zog. „Keine Ahnung, wie die da reinkommt, echt nicht“, murmelte er, setzte sie auf und betrachtete Parallelmon damit. „Irre!“, stieß er aus. „Was?“, fragte Kouki. „Es ist auf dem Mega-Level! Zumindest vermute ich mal, dass das höher ist als Ultra, oder was meint ihr?“ „Muss es wohl sein“, sagte Taneo. „Ich kann mich erinnern, dass LordMyotismon davon gesprochen hat.“ „Na bitte.“ Renji grinste. „Vielleicht kann dieses Untier es ja mit Arkadimon aufnehmen!“ Er stieß einen erstickten Schrei aus, als Parallelmon einen Schritt auf ihn zu tat, und machte einen Satz rückwärts. Fumiko kicherte. „Es mag es nicht, wenn man es Untier nennt, Renji-kun.“ „Das, äh … war doch nur ein Scherz.“ Renji brach der Schweiß aus. „Ich … ich find dich sehr sympathisch, echt jetzt …“ „Scht!“, zischte Tageko plötzlich. „Hört mal.“ Das Röhren, das sie zuvor gehört hatten, war wieder da. Es klang, als wäre es unglaublich weit weg, noch hinter dem Ozean … oder direkt darüber? Der Wind frischte wieder auf und blies Nebelschwaden davon. Nun konnten sie sehen, dass sich das dunkle Meer erstreckte, so weit das Auge reichte. Und dort, am Horizont, wo sich schwarzes Wasser und grauer Himmel trafen, waren zwei Silhouetten zu erkennen. Sie waren riesig, größer noch als Parallelmon, und das war an sich schon gigantisch. Es wirkte fast so, als wären es Schatten, die von einer Lichtquelle direkt unter ihren Eigentümern in den Himmel gezaubert wurden. Das eine hatte einen unförmigen Kopf, der an einen Tintenfischkörper erinnerte. Als es einen Arm hob, um ihn gegen den zweiten Schatten zu schlagen, sah man, dass es weniger ein Arm und mehr eine Ansammlung an Tentakeln war. Die zweite Gestalt ließ weniger Einzelheiten erkennen. Sie hatte einen spitzen Kopf, von dem etwas wie Hörner abzustehen schienen, und riesige Flügel, jeder so groß wie es selbst. Renji setzte die Brille wieder auf, schüttelte dann aber nur den Kopf. „Falls das Digimon sind, sind sie zu weit weg. Was ich, nebenbei bemerkt, ganz gut finde.“ „Das hier ist eine andere Welt“, meinte Tageko. „Es muss nicht sein, dass es hier auch Digimon gibt.“ „Nein, das sind ganz bestimmt Digimon!“, sagte Kyaromon. „Ich fühle es!“ „Ich fühle es auch …“, zitterte Budmon. „Sie kämpfen“, sagte Kokuwamon. „Die beiden kämpfen gegeneinander.“ Hätten sie es bis jetzt noch nicht bemerkt, so wäre es ihnen im nächsten Moment klar geworden. Der geflügelte Schatten hob einen Arm – und im nächsten Moment wirkte es, als hätte er den Horizont in Brand gesteckt. Als würde das Wasser selbst brennen, loderten Flammen auf, die selbst die dunstige Luft orangerot schimmern ließen. Der Nebel geriet in Wallung, die Schemen wurden wieder verschluckt, aber das Leuchten war dennoch zu sehen. „Wir könnten die fragen, ob sie für uns kämpfen wollen“, meinte Kouki und versuchte zu lachen. „Schluss damit“, sagte Tageko. „Fumiko, ich weiß, dass du und Parallelmon einander viel zu sagen habt, aber …“ „Haben wir nicht. Wir haben all unsere Gedanken schon im ersten Moment ausgetauscht“, sagte das Mädchen und berührte wieder lächelnd ihren neuen Partner. „Okay, umso besser. Bitte Parallelmon, uns an einen sicheren Ort zu bringen. Am besten nachhause.“ Als Kouki Einspruch erheben wollte, hob sie die Stimme. „Da können wir dann überlegen, was wir weiter tun, um die Stadt des Ewigen Anfangs zu retten. Aber für den Moment hab ich genug von starken Digimon!“   Es war merkwürdig, von Parallelmon transportiert zu werden. Das Digimon baute sich vor ihnen auf, als wollte es sie angreifen, und sie konnten ihre Nervosität auch nicht abschütteln, als Fumiko wiederholt betonte, dass es völlig ungefährlich war. Dann schoss Parallelmon eine Art Blitz aus seinem Kopf, der die Form einer Faust hatte. Knisterndes Licht hüllte die DigiRitter ein, und die Welt geriet aus den Fugen und setzte sich vor ihren Augen neu zusammen. Sie standen auf Beton, und die trostlose Umgebung war Grün und Grau und einem sternenübersäten Himmel gewichen. Taneo sah sich um. Er sah die Lichter einer Flughafenhalle, nicht weit entfernt. Sie standen auf dem Rollfeld des Haneda-Flughafens. Kurz darauf verschwamm die Wirklichkeit vor ihren Augen, und Parallelmon materialisierte sich. Hoffentlich bemerkte niemand das riesige Digimon … „Irgendwie schön, wieder in Tokio zu sein“, seufzte Kouki. „In der DigiWelt lauert Arkadimon, und an diesem dunklen Meer ein riesiger Tintenfisch und dieser komische Flügelmann. Überall gibt es irgendwelche Ungetüme.“ „Wir haben jetzt auch ein Ungetüm“, erklärte Renji grinsend und lachte, als Parallelmon wieder drohend auf ihn zustapfte. Er schien es plötzlich zu genießen, den Riesen zu necken. Vielleicht wollte er auch nur Fumiko etwas beweisen. Das Wesen berührte Fumiko, und sie horchte plötzlich auf. „Parallelmon hat mir gerade etwas gesagt“, erzählte sie. „Bevor es uns hierher gefolgt ist, hat es kurz in der DigiWelt nachgesehen, was Arkadimon treibt. Offenbar sucht es noch im Wald nach uns, aber es wird sich sicher bald der Stadt des Ewigen Anfangs zuwenden.“ „Wir haben also nur wenig Zeit“, murmelte Jagari. „Aber es kann sicher niemand von unseren Digimon noch digitieren, oder?“ Die kleinen Wesen verneinten traurig. „Ganz zu schweigen davon, dass wir Arkadimon nicht töten dürfen“, murmelte Taneo. „Wenn wir es doch nur irgendwo einsperren …“ Tageko verstummte, als sie erkannte, was sie eben gesagt hatte. „Parallelmon kann doch sicher auch andere Digimon zwischen den Welten transportieren, oder?“ „Klar“, sagte Fumiko. „Du meinst, wir sollten Arkadimon in eine andere Welt bringen?“ „Oder an einen anderen Ort, wo niemand auf seine Kräfte zugreifen kann.“ „Vielleicht an dieses dunkle Meer?“, schlug Renji vor. „Soll es doch bei den beiden anderen Monstern mitmischen.“ „Wir wissen aber nicht, ob man nicht vielleicht ganz leicht wieder von dort entkommen kann“, hielt Tageko dagegen. „Wir müssten Gennai fragen“, sagte Jagari plötzlich. „Ich muss an einen Computer!“   Da es kompliziert gewesen wäre, Parallelmon in belebtere Gegenden zu bringen, liefen sie zum Flughafengebäude. Die Halle war noch geöffnet, und es gab einen PC-Raum, ähnlich einem Internet-Café, mit mehreren Rechnern. Die DigiRitter gaben acht, dass kein Mitarbeiter sie bemerkte; immerhin sahen sie ziemlich abgerissen aus. Sie wählten die hinterste Box in dem PC-Raum, und Jagari versuchte, sie mit Gennai zu verbinden. Endlich funktionierte das mal anstandslos: Als er sein DigiVice vor den Bildschirm hielt, ertönte ein Geräusch, obwohl kein Lautsprecher angesteckt war. Gennais Kopf wurde sichtbar, und die DigiRitter atmeten erleichtert auf. „Ihr scheint in eure Welt zurückgefunden zu haben?“ Seine Stimme kam direkt aus dem Monitor. „Ich habe erfahren, dass die Asuras tatsächlich alle Fernseher zerstört haben, die ihr bisher als Tore benutzt habt.“ „Wir haben jetzt … andere Möglichkeiten“, sagte Jagari, nachdem er einen Blick mit Fumiko getauscht hatte. In Stichworten erzählte er Gennai, was in der DigiWelt geschehen war. „Ich verstehe. Das sind gute Nachrichten, denn es gibt uns eine Waffe gegen Arkadimon in die Hand.“ Das aus seinem Mund zu hören war eine Wohltat. „Haben Sie eine Idee, wie wir es bekämpfen können?“ „Es gibt einen Ort, der noch in der DigiWelt liegt, aber gleichzeitig nicht mehr. Ein Ort, an dem alles vernichtet wird, vor allem, wenn es von der dunklen Macht beherrscht wird“, sagte Gennai. „Aber wenn wir Arkadimon vernichten, wird doch nur der Anführer der Asuras stärker, oder?“, fragte Kouki. „Wenn ihr es geschickt anstellt, werden Arkadimons Daten nicht wieder in die DigiWelt zurückfinden. Niemand wird mehr darauf zugreifen können.“ Die DigiRitter lächelten, und Gennai fuhr fort: „Aber das Unterfangen ist sehr riskant. Ich spreche von der Feuerwand. Das Übel, das die Meister der Dunkelheit und ihre Asuras hervorbrachte, brach einst durch die Feuerwand und überlebte. Es kann sein, dass Arkadimon auch nicht von dem Feuer verzehrt wird, aber ich vermute, es ist unsere beste Chance.“ „Sagen Sie uns, was wir tun müssen“, bat Jagari. Gennai sagte es ihnen.   Arkadimon hatte die Suche nach seinen Opfern aufgegeben. Von Klicklauten begleitet, machte es sich auf den Weg durch den Wald dorthin, wo es das nächste Leben spürte: zur Stadt des Ewigen Anfangs. Als seine Klauen die weichen Polsterböden der Stadt berührten und beim Gehen aufschlitzten, flimmerte plötzlich die Luft neben ihm – und es spürte ein starkes Digimon. Fauchend warf es sich herum. Dort stand das große Wesen von vorhin mit den langen, spindeldürren Gliedmaßen. Auf seiner Schulter saß das kleine, schwarzhaarige Mädchen. „Bis gleich“, sagte es. Dann schoss das Digimon einen krallenförmigen Strahl aus seinem Auge. Obwohl Arkadimon sich instinktiv mit seinen Armen schützte, wurde es voll erwischt. Die Welt brach auseinander und es landete plötzlich woanders, auf feuchtem Boden in feuchter, nebeliger, düsterer Umgebung. Als sich plötzlich sämtliche Umwelteindrücke für es änderten, war das zu viel für Arkadimons Gehirn. Es verstand nicht, was passiert war, und schnarrte verwirrt. Da erschien auch das andere Digimon wieder, mit dem Mädchen auf der Schulter. Arkadimon überlegte, es anzugreifen, aber der plötzliche Standortwechsel hatte ihm Angst gemacht. Die Verwirrung war furchterregender als jeder körperliche Schmerz. Dachte es bis jetzt. Ein neuerlicher Strahl traf es und die Welt verschwamm wieder – und plötzlich war es von lodernden, zuckenden, fauchenden Flammen umgeben, die abwechselnd von unten und von der Seite kamen. Es schwebte inmitten eines brüllenden, heißschmerzenden Infernos und konnte sich nicht bewegen, als hielte es etwas fest. Ein paar Meter entfernt, auf dem blanken Höhlenboden, stand wieder dieses Mädchen und sah ihm grimmig zu. Arkadimon spreizte drohend die Flügel, aber bevor es eine Attacke starten konnte, waren seine Daten geschmolzen. Sie versuchten freizukommen, aber das Feuer erlaubte das nicht. Arkadimons Datenreste wurden hinter die Feuerwand geschleudert, wo sie keine Bedrohung mehr für die DigiWelt waren.   Fumiko trat aus der Höhle dorthin, wo Parallelmon wartete. Ihr Partner brachte sie zurück in ihre Welt, in einen Wald außerhalb von Tokio. Sie hatte es unbedingt mit in die Menschenwelt nehmen wollen, selbst wenn das bedeutete, dass sie anschließend die halbe Stadt durchqueren musste, um nach Hause zu kommen. Die anderen warteten hier auf sie. „Es ist erledigt“, berichtete Fumiko. Kouki nahm sie grinsend in den Arm, die anderen jubelten. Tageko umarmte sie nach Kouki. „Ich freu mich für dich, dass du jetzt auch ein Digimon hast“, flüsterte sie. Fumiko nickte und fühlte plötzlich einen Knoten im Hals, jetzt, wo endlich die Gefahr vorbei war und nur das Glück verblieb. Sie spürte, wie ihr Tränen über die Wangen liefen. Parallelmon war zu groß und schien nicht zurückdigitieren zu können, also ließ sie es schweren Herzens im Wald zurück. Seine zuversichtlichen, beruhigenden Gedanken machten ihr Mut. „Bis dann“, sagte sie zu ihrem Digimon. Dann machten sich die DigiRitter auf den Weg in die Stadt, deren Lichter verheißungsvoll in der Nacht funkelten. Ihre lange Flucht durch die DigiWelt hatte endlich ein Ende gefunden. Nun würden wieder einige Ausreden vonnöten sein, um ihr Verschwinden zu erklären.   Jagari war sich wie ein Einbrecher vorgekommen, als er mitten in der Nacht seine Haustür abgesperrt und sich schlafen gelegt hatte. Er würde die Schule am Freitag ausfallen lassen; das war schließlich auch schon egal. Niemand weckte ihn; offenbar schien seine Mutter immer noch zu glauben, er wäre einfach nicht da. Sie hatte ihn ein Dutzend Mal oder noch öfter auf dem Handy angerufen. Als Jagari erst am Nachmittag erwachte, bemerkte er, dass Gennai ihn schon am Morgen zu erreichen versucht hatte. Als seine Mutter etwas später von einem Besorgungsgang zurückkam, tat er, als wäre er in der Zwischenzeit nachhause gekommen. Er erklärte ihr, dass er bei Freunden übernachtet hätte und sein Handy den Geist aufgegeben hätte. Angeblich wohnte dieser Freund in der Nähe der Schule, und für ein Schulprojekt waren sie immer gleich zu ihm gefahren und hatten dort daran gearbeitet. Seine Mutter brach in Tränen aus, aber sie war wohl so erfreut darüber, dass er einen so vertrauten Freund gefunden hatte, dass sie weder weiter in ihn drang noch ihn schalt, sondern nur von ihm verlangte, das nächste Mal Bescheid zu sagen. Den Abend verbrachte er gemeinsam mit seiner Mutter und seinem Bruder, der auf Besuch war, und sie genossen das Essen zu dritt. Dann brachte er die Reste zu Motimon, das schon halb verhungert war. Etwa zu der Zeit meldete sich Gennai wieder auf seinem Computerbildschirm, gratulierte ihm zu ihrem Sieg und sagte: „Ich habe ein Update für eure DigiVices geschrieben. Ich arbeite schon länger daran, und nun ist es fertig. Du findest es in der Mail, die ich dir geschickt habe. Öffne sie und halte das DigiVice vor den Bildschirm.“ „Was macht das Update?“ „Es überspielt die Daten in einem ähnlichen Verfahren, wie ihr immer Tore zur DigiWelt geöffnet habt. Sobald es abgeschlossen ist, sollten deine Freunde dasselbe tun. Mit dem Update braucht ihr die Fernseher nicht mehr, um in die DigiWelt zu gelangen. Ihr könnt auf eurer Karte ein beliebiges Tor öffnen. Es ist aber wichtig, dass ihr ein elektronisches Gerät mit in die DigiWelt nehmt. Das Tor für eure Rückkehr wird sich nämlich genauso öffnen lassen.“ „Danke“, sagte Jagari. „Wir haben aber jetzt Parallelmon, also …“ Gennai nickte. „Das ist ein glücklicher Zufall. Dennoch wird es nicht schaden, wenn ihr im Notfall auch allein die Welten wechseln könnt.“ Jagari nickte und überspielte das Update auf sein DigiVice. Seine Freunde hatten am Samstag so viel wegen ihrer Abwesenheit nachzuholen, dass er sie erst für Sonntag einladen konnte. Dann updateten auch sie ihre DigiVices und planten einen neuen Versuch, den letzten der Lichtsamen endlich zu säubern.   Die Chaossaat schwebte noch inmitten der Arena, schwarz und dräuend, als die DigiRitter am Donnerstagabend mit frisch ausgeruhten und digitierten Digimon dort erschienen. Taneo hatte sie gewarnt, dass die verbleibenden Asuras ihn sicherlich bewachen würden, und er schien recht zu behalten – wobei sich ihren Augen ein seltsames Bild bot. „Du?“, rief Renji baff. Jagari starrte das Digimon mit großen Augen an. „Ich?“, erwiderte Persiamon unschuldig und hielt sich kokett eine Kralle auf die Lippen. „Was ist denn mit mir?“ „Was tust du hier?“, fragte Tageko. „Habt ihr mal wieder die Asuras bekämpft?“ „Das wäre ein zu großer Zufall“, murmelte Taneo. „Bleibt hier“, sagte er, als die anderen nähertreten wollten. „Du heißt Persiamon, oder?“ „Ja, mein Hübscher.“ „Kouki, wärst du so gut“, murmelte Taneo. „Wir haben es damals nicht mit dem Analyzer überprüfen können.“ „Das ist doch lächerlich“, meinte Renji. „Glaubst du, dass es ein Asura ist? Nur weil es hier herumsteht … Vielleicht hat es ja wirklich das Asura hier besiegt, das Wache geschoben hat.“ „Untersuche es einfach“, bat Taneo seufzend. Kouki hielt sich die Brille vor die Augen. „Persiamon“, murmelte er beklommen. „Ultra-Level … und ein Asura.“ Persiamon grinste katzisch. „Hoppla, meine schöne Tarnung!“ „Du bist ein Asura!“, rief Jagari anklagend. „Du hast uns reingelegt.“ „Was du nicht sagst“, kicherte es. „Die Lehre von heute: Traue niemals einer Katze mit Brüsten“, stellte Renji fest. „Witzig“, brummte Tageko. „Wenn du ein Asura bist, warum hast du uns damals geholfen?“ „Euch geholfen?“ Persiamon lachte schrill. „Ich habe die ganze Zeit nur einem geholfen: mir selbst! Seht her!“ Es holte tief Luft und die DigiRitter erwarteten einen Angriff. Stattdessen stieß es ein unmenschliches Heulen aus und rötliches Licht flackerte um es herum auf. „Es digitiert!“, rief Kouki. „Haltet es auf!“ Doch die Digitation war in Sekundenschnelle abgeschlossen. Offenbar hatten die Asuras das Prozedere der Digitation für sie verbessert – oder etwas in der Art. LordMyotismon hatte wesentlich länger gebracht. Fast war es, als hätte Persiamon ihnen nur kurz seine alte Form zeigen wollen, damit sie es erkannten. „O mein Gott“, murmelte Tageko entsetzt, als sie die Kreatur sah, zu der die harmlos wirkende Katze geworden war. Das Ding sah aus wie eine Riesenschlange mit Flügeln – oder ein Drache ohne Hinterbeine, je nachdem. Die Vorderpranken waren krallenbewehrt, Geifer tropfte aus dem zahngesäumten, breiten Maul. Rote Augen glühten ihnen entgegen. Der Körper war von weißen und roten Schuppen bedeckt und besaß einen knochigen Brustpanzer. Es zählte eindeutig zu den hässlichsten und furchterregendsten Digimon, die sie je gesehen hatten. „Es ist jetzt Megidramon!“, keuchte Kouki. „Auf dem Mega-Level!“ „Verdammt“, knurrte Taneo. „Mit einem so weit entwickelten Digimon hatten wir noch nie zu tun.“ Megidramon fauchte. Es klang wie ein Lachen. „Okay, wir testen seine Fähigkeiten. Wenn es brenzlig wird, Rückzug“, bestimmte Taneo und nickte Parallelmon zu, das in einigem Abstand hinter ihnen stand. „Versuch es zuerst auch in die Feuerwand zu schleudern.“ Parallelmons Kopf bewegte sich, das Auge glühte auf, der Strahl schoss hervor – mit einer Wendigkeit, die sie dem plumpen Körper kaum zugetraut hätten, schnellte Megidramon außer Reichweite. Ein paar Felsbrocken und Sand wurden erwischt und verschwanden, sonst nichts. „Glaubt ihr, ich wüsste nicht, wie ihr Arkadimon besiegt habt?“, knurrte das Wesen. Seine Stimme glich in nichts mehr der von Persiamon. Ohne dass die DigiRitter es bemerkt hatten, war der Himmel zugezogen, und zwar sowohl mit schwarzen als auch mit roten Wolken. Reagierte sogar das Wetter auf Megidramons finstere Präsenz? Eine schwarze Stichflamme sauste aus Megidramons Maul hervor und erwischte Parallelmon an der Brust. Fumiko stieß einen Schrei aus, aber ihr Digimon wankte nur. Es war immerhin auch auf dem Mega-Level. „Lasst euch nicht von ihm erwischen“, rief Taneo hektisch. „Angriff!“ Cyberdramons erster Schuss ging ins Leere, dann erst fing Blossomon Megidramon mit seinen Ranken, doch das Asura riss sie einfach auseinander und benutzte sie, um Blossomon fortzuschleudern. Als Nächstes ließ Volcanomon seine Schallwellen spielen, um das Digimon bewegungsunfähig zu machen, wie schon FlaWizardmon. Man sah, wie die Attacke die Luft krümmte, doch es machte Megidramon einfach nichts aus. „Scheiße“, fluchte Renji. Das Asura riss seinerseits das Maul auf, ätzender Speichel flog in alle Richtungen und sein lautes Brüllen riss Volcanomon von den Füßen. Eine zügelnde schwarze Flamme ließ es zurückdigitieren. „Parallelmon, versuch’s nochmal“, rief Fumiko. „Nein!“, sagte Taneo rasch. „Wir überprüfen erst, was wir ausrichten können! Parallelmon brauchen wir noch, falls wir fliehen müssen!“ „Aber …“ „Megidramon ist ein Mega-Digimon. Es kann uns sicher viel schneller töten als andere Asuras.“ „Nicht übel, dass du so ruhig bleiben kannst, während du das sagst“, murmelte Renji. Taneo gestattete sich ein schiefes Lächeln. „Du bist auch ziemlich ruhig.“ „Muss daran liegen, dass mich nach Arkadimon nichts mehr schreckt.“ Renji hatte Candlemon aufgehoben und an sich gedrückt, sodass er sich fast an der klein gewordenen Flamme verbrannte. Die andere Hand ballte er zur Faust. „Macht es fertig!“ Tyrannomons Feuerstoß wich Megidramon gar nicht erst aus. Es schickte schwarzes Feuer retour, das das rote verschlang und auch Tyrannomon wieder zu Elecmon werden ließ. Blossomon schoss seine Spiralblumen ab. Megidramon schützte sich mit den Armen – ein bisschen was schienen ihm die Attacken doch auszumachen. „Nicht nachlassen!“, schrie Kouki und flog auf Nefertimon heran, das mit den Edelsteinen aus seinen Beinschienen angriff. Megidramon drückte sich mit dem gewaltigen Schwanz in die Höhe, schlug mit den Flügeln und wie als Starthilfe deckte es den Bereich unter sich mit einer Welle aus schwarzen Flammen ein. Blossomon konnte nicht rechtzeitig ausweichen, wurde von der Feuerwand überrollt und digitierte zurück. „Hol Mushroomon zu uns“, wies Taneo Tageko an, doch sie war bereits losgelaufen. Sie alle wussten, dass sie zusammen bleiben mussten, damit Parallelmon sie im Ernstfall alle gleichzeitig wegteleportieren konnten. Im Ernstfall, der wohl bald eintreten würde. Megidramon machte nun in der Luft Jagd auf Cyberdramon und Nefertimon. „Sollen wir versuchen, den Samen zu reinigen?“, fragte Jagari. Taneo überlegte. „Nein“, sagte er schließlich. „Seht ihn euch mal an, er ist fast völlig schwarz. Das würde ewig dauern. Das Risiko ist zu groß.“ „Persiamon hat ihn sicher weiter verseucht, während es gewartet hat“, meinte Fumiko. Ein Brüllen ertönte über ihnen. Cyberdramon und Megidramon waren gegeneinander gekracht. Die Ausradierkralle hatte Megidramons Flügel beschädigt und ein großes Stück aus seinem Brustpanzer gesprengt, sodass das Asura nun zu Boden trudelte. Cyberdramon war jedoch ebenfalls erwischt worden. Im Fallen wurde es wieder zu Thunderboltmon. „Kouki, komm sofort zurück, das bringt nichts!“, brüllte Tageko. Nefertimon flog eine Schleife und kehrte zu ihnen zurück. „Es hat keinen Sinn“, meinte Taneo zerknirscht. „Es ist trotz allem zu stark. Wir ziehen uns zurück und überlegen uns was Neues.“ „Na, gebt ihr auf?“, knurrte Megidramon, das sich mit seinem kaputten Flügel gerade so in der Luft hielt. „Schlaue Kinder. Ihr solltet langsam wissen, dass die DigiWelt uns gehört!“ „Seht mal!“, rief Jagari plötzlich und deutete auf den beschmutzten Lichtsamen. Megidramon grunzte. „Darauf falle ich nicht rein, mein Kleiner.“ Taneo hatte es jedoch auch schon gesehen. Ungläubig starrte er auf den Samen. Die Schwärze zog sich zurück – es war, als würde jemand den Samen reinigen, aber sie standen doch alle hier? Der Himmel klarte langsam auf, als würde die Lichtsaat auch ihn säubern. Knurrend wandte sich Megidramon nun doch um. „Was zum …?“ Schneller und schneller verschwand der schwarze Ausschlag von dem Samen, viel schneller als die DigiRitter es zustandegebracht hätten. Dann ging auch schon die altbekannte, kräftigende Welle davon aus. Und ehe Taneo sich’s versah, war Jagari losgelaufen. „Elecmon, das ist unsere Chance!“ Die schillernde Blase, die ihnen die Digitation auf das Ultra-Level erlauben würde, war eben zum Vorschein gekommen. „Verrat!“, fauchte Megidramon und stieß vom Himmel wie ein Greifvogel. „Jagari!“, schrie Kouki. Nefertimon beschoss erneut das Asura, das die Rosettasteine gar nicht zu spüren schien. Wie ein roter Schatten sauste Megidramon über Jagari, als der Junge die Lichtblase zu fassen bekam. Sie explodierte in einem so grellen Glühen, dass das Digimon knurrend wieder auf Abstand ging. Fast war es, als hätte das Licht es fortgeweht.   Mit großen Augen starrte Jagari auf seine immer noch leuchtende Hand. Die Energie griff auch auf seine Freunde über. Ihre Digimon konnten wieder auf das Ultra-Level digitieren. In einem Lichtgewitter, das den düsteren Himmel endgültig übermalte, erschienen wieder Blossomon, Cyberdramon und Volcanomon. Jagari sah das leuchtende Tyrannomon an, das neben ihm stand, und nickte. Der Dinosaurier nickte zurück. „Versuchen wir’s“, sagte er. Und Tyrannomon, immer noch von einem Lichterkranz umgeben, digitierte. Es wuchs, seine Haut wurde bräunlich schwarz und ein knöcherner Schild erschien in seinem Nacken. Das und die drei Hörner auf seiner Stirn erinnerten Jagari an einen Triceratops, allerdings ging der hier auf zwei Beinen. „Und wie heißt du jetzt?“, fragte er und streichelte sanft eines der Hörner. „Triceramon“, grollte sein Partner. „Danke, Jagari. Du hast mich digitieren lassen.“ Megidramon ließ indes ein zorniges Fauchen hören. „Ein schöner Anführer bist du, Asuramon!“, brüllte es, und Jagari wusste nicht, wovon es plötzlich sprach. „Kaum sind nur noch wir zwei übrig, willst du auch meine Daten haben, was? Ja, ich hab dich durchschaut! Du warst das! Hast die Chaossaat einfach aufgelöst! Machtgieriger Verräter! Hörst du mich? Oh ja, ich weiß genau, dass du dahintersteckst. Soll ich dir was sagen? Ich hätte es genauso gemacht!“ „Alle auf Position, wir haben eine zweite Chance!“, rief Taneo. „Vier Ultra-Digimon können vielleicht etwas ausrichten! Los!“ Triceramon wandte sich von Jagari ab und trampelte wieder auf das sandige Schlachtfeld. Megidramon schien außer sich vor Wut. Es öffnete wieder den Rachen und sein Schrei gellte durch die Arena, dass Felsbrocken sich aus dem Bauwerk lösten und der Sand am Boden wie in einem Sturm fortwirbelte. Dann traf eine Ausradierkralle von Cyberdramon das Wesen genau ins Maul, warf es hintenüber, und sein Angriff war vorbei. „Mitten in die Fresse“, kommentierte Renji zufrieden. „Jetzt, Blossomon!“, tief Tageko. Mit zwei gezielten Spiralblumen zerfetzte das Pflanzendigimon Megidramon die Flügel und ließ es endgültig abstürzen. Wo es landete, schlug es einen kleinen Krater, aus dem es sich mit den beiden Vorderbeinen emporstemmte. Aus dem Maul rauchte es. „Ihr … Ich werde euch vernichten …“ „Droh uns nur“, meinte Taneo überheblich. „Das haben auch schon andere getan.“ Volcanomon sprang das Digimon von hinten an und landete genau zwischen seinen Schulterblätter. „Ha!“, rief es. „Wie gefällt dir das? Big-Bang-Kralle!“ Es verpasste Megidramon einen heftigen Schlag auf den Kopf, der es zischend wieder zu Boden warf. „Alle gleichzeitig, los!“, rief Taneo. „Die Fernkämpfer zuerst!“ „Ausradierkralle!“ „Spiralblumen!“ „Fluch der Königin!“ Drei Attacken gingen gleichzeitig auf das Mega-Digimon nieder, das ihnen stöhnend standhielt. „Jetzt zur Sicherheit die Nahkämpfer“, befahl Taneo. „Triceramon, du hast dich bisher zurückgehalten, also bist du auch …“ „Ja“, knurrte ihr neuester Mitstreiter. „Ich zeige euch, was ich kann.“ Volcanomon sprang erneut auf Megidramon, verpasste ihm erneut einen Schlag. Dann trampelte Triceramon wie eine leibhaftige Stampede herbei. „Dreihorn-Attacke!“ Mit seinen Hörnern stieß es heftig gegen Megidramons Körper, zerfetzte den einen Flügel noch mehr und schleuderte das Digimon aus dem Krater gegen eine Wand der Arena, wo es in einem Felsenhagel zu Boden ging und stöhnend liegenblieb. „Jetzt sollte es weit genug geschwächt sein“, stellte Taneo fest. „Fumiko, darf ich um deine Super-Duper-Asura-Müllabfuhr bitten?“, fragte Kouki grinsend. „Parallelmon“, sagte sie nur. Das Digimon stapfte herbei, und diesmal traf es Megidramon. Binnen Sekunden wurde das Asura zum Meer der Dunkelheit und dann in die Feuerwand gebeamt. Parallelmon konnte sich selbst und andere immer nur zwischen Orten in verschiedenen Welten hin- und herteleportieren, darum war der Zwischenstopp notwendig. Als Megidramon in den Flammen fauchte, schien es plötzlich sogar zufrieden zu sein. „Asuramon!“, rief es und lachte. „Das hast du davon! Ich spüre es! Ich befürchte, du wirst gar keine Daten von mir erhalten! Sieh zu, wie du ohne mich zurechtkommst!“ Dann starb es. So war das vorletzte der Asuras besiegt und der letzte Lichtsamen gereinigt worden. Und Tyrannomon hatte es auf das Ultra-Level geschafft. Kapitel 35: Die Schwarzen DigiEier ---------------------------------- Also war Persiamon, oder eher Megidramon, ebenfalls unrettbar verloren. Nun, dann sollte es eben so sein. Asuramon hatte lange genug die anderen die ganze Arbeit erledigen lassen. Nun, da es hart auf hart kam, würde es sich eben selbst bemühen müssen. Eigentlich hatte es ja erwartet, der schwierigste Teil ihrer Pläne wäre es, die Vier Souveränen wieder in Schlaf zu versetzen … Dass diese DigiRitter so lästig werden würden, hatte es zwar befürchtet, aber wirklich erwartet hatte Asuramon es nicht. Der Anführer der Asuras stand am Rand einer Felsenklippe. Rotes Abendlicht blutete über graubraune, zerklüftete Felsen. Vor Asuramon stach eine weiße Lichtnadel aus dem Gestein, die bis in den Himmel reichte; eine gleißende Säule, die keinen Anfang und kein Ende zu haben schien. Trotzdem war es ihm erstaunlich schwer gefallen, sie zu finden. Nicht, dass Asuramon das Schwert, das darin schwebte, wirklich brauchte. Es hatte den Wert eines … Erinnerungsstücks, nichts weiter. Es hatte lediglich seiner Zertreuung gedient, es zu suchen. Aber nun, da Asuramon es gefunden hatte … Warum sollte es das Schwert seines ehemaligen Meisters nicht auch benutzen? Einer seiner Arme griff in die Lichtsäule und bekam den Knauf der Waffe zu fassen. Das Licht flackerte und erlosch, als es die Klinge an sich nahm. Das Asura ließ den Blick seiner sechs Augen über die Klippe schweifen und über die drei anderen Lichtsäulen, die ganz in der Nähe glühten. In jeder von ihnen war undeutlich eine traurige, schattenhafte Kreatur zu erkennen, auf ewig gebannt in heiligem Licht. „Erbärmliche Diener seid ihr. Unnütz seit Jahren. Wir dienen mehr oder weniger denselben Meistern, doch ihr seid nichts, und wir werden die DigiWelt in ihrem Namen selbst knechten. Seht mir zu und erfahrt, wie es gemacht wird.“ Es drehte sich energisch um und beschritt den schmalen Pfad, der von der Klippe führte, ohne noch einmal zurückzusehen. Asuramon würde nun selbst kämpfen. Doch ehe es sich der DigiRitter annahm, galt es noch eine bestimmte Sache zu erledigen.   Plötzlich hatten sie nichts mehr zu tun. Alle Lichtsamen waren gereinigt, die DigiWelt also im Prinzip gerettet. Renji bestand darauf, dass sie sich zum finalen Kampf rüsteten, um der Sache ein Ende zu bereiten, oder, wie er in einem Anfall von Katachresenbildung sagte, um „das Baby ins Trockene zu bringen.“ Ein Asura lebte noch, und so wie sie das verstanden hatten, war es der Anführer. Das Problem war nur, dass sie nicht wussten, wo sie es finden konnten. „Vielleicht hat es ja Angst und versteckt sich vor uns“, meinte Kouki. „Eher nicht“, erwiderte Taneo. „Hast du Megidramons letzte Worte vergessen? Es glaubt von ihm betrogen worden zu sein. Es selbst hat anscheinend auch gegen die anderen konspiriert, ist euch das nicht aufgefallen? Da steckt sicher was dahinter.“ „Eben“, brummte Renji. „Sein Boss hat Megidramon sicher fertigmachen wollen, weil es aus der Reihe getanzt ist.“ „Das …“ Taneo hob zu einem Widerspruch an, verstummte dann aber. „Das kann auch sein“, gab er dann zu. Sie saßen immer noch auf dem Schlachtfeld in der Ruine – womöglich würde der nächste Herausforderer von ganz alleine kommen. Der Lichtsamen strahlte herrlich vor sich hin und hatte ihre Kräfte wiederhergestellt, und zur Not konnte Parallelmon sie einfach davon transportieren. Jagari hatte, wie Gennai es ihm geraten hatte, seinen Laptop mitgebracht. Er funktionierte diesmal sogar in der DigiWelt und konnte auch ein Tor in die Menschenwelt öffnen – nach überallhin angeblich, sogar nach Amerika, wie Jagari aufgeregt berichtete. Vergeblich versuchte er, Gennai damit zu kontaktieren. Kouki war nach dem jüngsten Kampf äußert zufrieden. Wie ein Feldherr nach der Schlacht ging er das Lager der Veteranen ab und sonnte sich in der simplen Tatsache, dass es allen gut ging. Fumiko saß etwas außerhalb bei Parallelmon. Ihre Hand ruhte auf dem gewaltigen Bein des Digimons, das in einer Art Schneidersitz dahockte. Sie sprach kein Wort, aber Kouki wusste, dass sie mit Parallelmon kommunizierte. „Kouki, ist was?“, fragte Rabbitmon, als es seinen etwas trüben Blick bemerkte. „Nein, was soll sein?“ Er zwang seine Beine, weiterzugehen. Er wusste, dass er sich für Fumiko freuen sollte. Endlich hatte sie ihren totgeglaubten Partner gefunden, nach so langer Zeit. Trotzdem spürte er einen Stich der Eifersucht, wenn er beobachtete, wie vertraut Fumiko und Parallelmon einander waren … Fast fühlte er sich wie die sprichwörtliche zweite Geige, oder zumindest wie das fünfte Rad am Wagen. „Ich geb’s auf“, seufzte Jagari schließlich. „Keine Ahnung, wo Gennai steckt.“ „Vielleicht gerade hinter dir?“, feixte Renji. „Ha-ha, sehr witzig“, knurrte Jagari. „Dann dreh dich doch mal um“, gluckste der Ältere. „Als ob ich so blöd …“ „Es tut mir leid, dass ich euch so lange habe warten lassen, DigiRitter.“ Jagari sprang auf und wirbelte herum, Renji lachte. Die anderen versammelten sich um Gennai, der unvermittelt beim Ruineneingang hereingekommen war. Die Digimon stellten sich hinter ihre Partner. Kouki ging durch den Kopf, wie beeindruckend ihre Formation aussehen musste. Früher hatten sie alle kleine, sprechende Bälle auf den Schultern sitzen gehabt. Nun, kampfbereit, standen lauter große Ultra- und ein Megaleveldigimon hinter ihnen. Und Rabbitmon, das mit der imposanten Statur der anderen nicht mithalten konnte, wie er bemerkte. Kouki seufzte. Naja, so war eben das Leben. „Gennai, wir haben alle Lichtsamen gereinigt“, sagte Jagari aufgeregt. „Das habe ich bemerkt.“ Gennai nickte. Er sah sehr würdevoll aus in seinem Kapuzenmantel, fast wie ein Geistlicher, der nun ihren Erfolg absegnen würde. „Gut gemacht. Aber eure Arbeit hier ist noch nicht getan.“ „Das letzte Asura“, murmelte Tageko düster. „So ist es. Der Anführer der Asuras ist noch am Leben, aber im Moment könnt ihr ihm noch nicht gegenübertreten.“ „Wieso nicht?“, fragte Fumiko angriffslustig. „Wir sind stark genug, um es mit ihm aufzunehmen!“ „Das mag stimmen, aber Asuramon – das ist der Name des Anführers – wird nicht so einfach hervorzulocken zu sein. Es hat versucht, das Chaos in die DigiWelt zu bringen, und es ist gescheitert. Es gibt keinen Grund für es, sein Leben aufs Spiel zu setzen und euch zu bekämpfen.“ „Ich wusste es“, murrte Renji. „Es ist einfach feige.“ „Sollten wir es dann vielleicht einfach leben lassen?“, fragte Tageko. „Asuramon ist eine Existenz, die durch die Macht des großen Apocalymon geschaffen wurde. Es gehört nicht in die DigiWelt. Nein, ihr müsst es besiegen, oder wir können nicht sicher sein, ob es nicht einen neuen Weg findet, diese Welt ins Chaos zu stürzen. Momentan versteckt es sich im letzten Rest des Netzwerks aus Chaos, das die Asuras geschaffen haben. Und von dort müsst ihr es herausziehen.“ „Und wie?“ „Ihr könnt euch das Netz des Chaos wie ein unsichtbares Spinnennetz vorstellen, das über der DigiWelt liegt. Asuramon hängt wie ein Dokugumon darin und kann von euch nicht angetastet werden. Ihr könnt es weder sehen noch spüren. Aber wenn ihr das Spinnennetz verkleinert, bis auf einen Quadratmeter zum Beispiel, hat es wenige Möglichkeiten, sich zu verstecken. Dazu müsst ihr die letzten Knotenpunkte im Netz des Chaos finden, die noch in der DigiWelt existieren. Das sind acht Schwarze DigiEier, die in der DigiWelt verstreut sind. Sie sind harmlos, nichts wird je aus ihnen schlüpfen. Aber sie speisen dennoch die Macht der Dunkelheit und das Chaos.“ „Sag, verstehst du, was er meint?“, fragte Renji Jagari. „Ich glaube schon“, meinte dieser vorsichtig. „Diese Schwarzen DigiEier spannen das Netz des Chaos auf, das umso größer ist, je weiter sie voneinander entfernt sind. Wenn wir alle Eier auf einen Haufen legen, sagen wir, auf dem Steinblock da drüben, dann kann Asuramon auch nur auf dem Steinblock sein, selbst wenn wir es nicht sehen.“ „Und dann werfen wir alle unsere Attacken drauf“, konkludierte Kouki. „Klingt gut.“ „Wie finden wir diese Eier?“, fragte Tageko, während Taneo nachdenklich wirkte. Gennai wandte sich an Jagari. „Du hast eine Karte der DigiWelt?“ „Äh, ja.“ Der Junge hielt ihm den Laptop hin. Gennai markierte auf der Karte einige Gebiete. „Sucht in diesen Regionen. Ich kann nicht garantieren, dass sich die Eier dort befinden, aber wenn nicht, dann sind sie wohl irgendwo in der Nähe.“ „Da suchen wir aber ewig“, meinte Kouki, der ihm über die Schulter gesehen hatte. „So ein Gebiet in der DigiWelt ist riesig, und ein DigiEi ist … nun ja …“ „Auch darüber müsst ihr euch keine Sorgen machen“, winkte Gennai ab. „Da die Lichtsamen nun allesamt wieder rein sind, hat die heilige Macht eurer DigiVices ihre volle Funktionstüchtigkeit wieder. Sie werden die DigiEier anzeigen. Somit könnt ihr sie einfacher finden.“ Die DigiRitter blickten einander an. „Klingt nach ‘nem Plan“, stellte Renji fest. „Bringt alle acht Eier in euren Besitz, aber wartet damit, Asuramon herauszufordern. Ich werde euch die nächsten Schritte erklären, sobald ihr erfolgreich wart.“ Gennai nickte ihnen zum Abschied zu und ging seiner Wege. „Also die nächste Schnitzeljagd“, seufzte Renji, als er außer Hörweite war. „Das hört ja nie auf.“ „Immerhin haben wir jetzt keine Feinde mehr“, meinte Kouki. „Sieh es einfach als kleine Schatzsuche in der DigiWelt.“ „Was überlegst du?“, fragte Tageko Taneo, der sein Kinn zwirbelte. „Warum sind es acht DigiEier? Sechs DigiRitter, sechs Lichtsamen, zwölf Asuras … warum acht Knotenpunkte?“ „Du denkst zu viel darüber nach“, meinte Kouki. „Sechs mal zwei ist auch zwölf, und sechs plus zwei ist eben acht. Wenn’s nicht sowieso nur Zufall ist.“ „Also, machen wir es so, wie Gennai gesagt hat?“, fragte Fumiko. „Was bleibt uns anderes übrig?“, meinte Tageko. „Aber bitte – besprechen wir das zuhause. Jetzt, wo wir wissen, dass Asuramon nicht zu uns kommt, hätte ich gern eine Dusche, um den ganzen Sand runterzuwaschen.“   Als sie am nächsten Tag nach der Schule aufbrachen, um die Schwarzen DigiEier, von denen Gennai gesprochen hatte, zu finden, erkannten sie, wie recht Kouki doch gehabt hatte: Es war wirklich wie eine Schatzsuche. Als würden sie etwas mit Metalldetektoren aufspüren. Sie nahmen ein Waldgebiet aufs Korn. Der schwierige Teil war, nahe genug an das Ei heranzukommen, damit ihre DigiVices es aufspüren konnten. Systematisch durchkämmten sie die Baumreihen. Digimon sahen sie viele, aber keines griff sie an, manche redeten sogar ganz banale Dinge mit ihnen. Es war viel angenehmer, als die Lichtsaaten zu säubern. Die DigiVices zeigten alsbald einen blinkenden, tiefvioletten Punkt an. Schließlich befanden sie sich genau an der Stelle, wo das Ei liegen müsste – doch es war nicht zu finden. Die Nacht war hereingebrochen und ihre Hände waren schmutzig, als nach langwierigem Graben Salamon auf die Idee kam, dass das Ei in der Baumkrone versteckt sein könnte. Als Butterflymon flatterte es hinauf und kehrte mit einem Ei zurück, schwarz mit grauen Verzierungen, das in einer Baumhöhle gelegen war. „Hab gehört, im Westen suchen sie zu irgendeinem Fest auch Eier. So in etwa muss das dort ablaufen“, stellte Renji ausgelaugt, aber gut gelaunt fest.   Sie merkten schnell, dass nicht alle Gebiete, die Gennai ihnen gezeigt hatte, ein für die Suche geeignetes Gelände hatten. Ein Ei dürfte sich mitten im Meer befinden, also konnte nur Tylomon wirklich danach suchen. Andere Gegenden waren zerklüftet und in wieder anderen gab es aggressive Digimon, die die Eindringlinge nicht dulden wollten. Alles in allem genossen die DigiRitter jedoch eine Suche, bei der sie nicht ständig ihr Leben riskierten. Außerdem hatten sie genügend Zeit; die Macht der Dunkelheit war soweit gebannt, die einzige Gefahr bestand darin, dass Asuramon irgendetwas ausheckte, das sie nicht vorhersehen konnten. Dennoch konnten sie es nun etwas ruhiger angehen lassen. Sie erkundeten Gegenden in der DigiWelt, die sie vorher noch nicht zu Gesicht bekommen hatten, erlebten Abenteuer mit den einheimischen Digimon und labten sich an allerlei wundersamen Begebenheiten. Speziell Jagari ging in seiner Begeisterung ob dieser fremden, nun wieder relativ friedlichen Welt richtig auf. Auch Taneo schien die DigiWelt zu genießen. Und selbst Renji wurde nicht von diesem tollen Gefühl verschont, dass er mit dieser Gruppe, mit der er anfangs kaum etwas hatte anfangen könne, etwas Großes geleistet hatte. Es sprach sich herum, dass die DigiRitter wieder einmal das Böse besiegt hatten – oder zumindest knapp davor waren. Sie waren Helden – und Renji schien das fast ein wenig zu Kopf zu steigen. Kouki grinste nur über jede weitere Bewunderung, die wildfremde Digimon auf sie abfeuerten, Fumiko quittiere sie mit einem leisen Lächeln, Tageko mit stummer Überheblichkeit – die sie aber nur an den Tag legte, weil sie nicht wusste, wie sie sonst reagieren sollte –, Taneo war der schweigende Genießer und Jagari erzählte in den schillerndsten Farben jedem Digimon, das ihm zuhörte, wie ihr Kampf gegen die Asuras verlaufen war. Er ließ auch die unschönen, ängstlichen Momente nicht aus, was dann und wann zu einer Reiberei mit Renji führte, der solche Dinge eher geheim halten wollte … Es war eine schöne Zeit.   Nun, da sie etwas Luft hatten, wurde auch Fumikos Geburtstagsfeier nachgeholt. Natürlich waren sie alle eingeladen. Renji war überrascht: Er selbst hätte einmal mit den DigiRittern und ihren Partnern und einmal mit seinen anderen Freunden gefeiert, doch Fumiko machte es anders. So fanden sich an diesem Samstag Kouki, Renji, Jagari, Taneo und Tageko und außerdem noch Fumikos engste andere Freundinnen, Aiko und Mikan, in der kleinen Wohnung von Fumikos Eltern ein. Die anderen DigiRitter fühlten sich wohl etwas unbehaglich, und selbst Renji waren die stechenden Blicke, mit denen Aiko ihn bedachte, nicht ganz geheuer, aber nach einer Weile taute das Eis. Spätestens als Fumikos Mutter – die wie eine ältere Ausgabe ihrer Tochter aussah – den Kuchen brachte, scherzten und lachten die Gäste gemeinsam an dem breiten Küchentisch. Vierzehn Kerzen durfte Fumiko auspusten, und Aiko klatschte aufgeregt, als sie alle auf einmal schaffte. „Was hast du dir gewünscht?“, fragte sie. „Gar nichts“, murmelte Fumiko. „Ich hab mich aufs Pusten konzentrieren müssen.“ „Mensch, Fumiko!“, stöhnte Aiko. Die anderen lachten. Dann hob Aiko plötzlich eine Hand ans Ohr. „Au! Oyara-kun, brüll nicht so.“ „Was?“, fragte Renji, der genau neben ihr saß. „Du lachst so laut, dass es in den Ohren wehtut.“ „Blödsinn.“ „Hier kommen die Geschenke für unsere Große“, unterbrach Fumikos Vater, ein kleiner, glatzköpfiger Mann, den Streit. Er kam mit einem dicken Paket in den Händen ins Zimmer. „Da muss sie aber erst noch ein bisschen wachsen“, scherzte Renji. „Oyara-kun“, zischte Aiko und betonte jede Silbe. „Ist schon gut, Aiko“, meinte Fumiko schmunzelnd. Die anderen legten nun ebenfalls ihre Geschenke auf den Tisch. Renji war in Sachen Geschenke immer furchtbar unkreativ, darum hatte er beschlossen, einen kleinen Streich zu wagen. Er hatte ihr den allerkitschigsten Film geschenkt, der jüngst auf DVD rausgekommen war, gemeinsam mit einer Grußkarte, auf der stand: In Erinnerung an den Tag von unserem ersten gemeinsamen Abenteuer. Fumiko runzelte einen Moment die Stirn, ehe sie die versteckte Bedeutung erkannte und herzhaft lachen musste. Neugierig beugte sich Aiko über ihre Schulter, um mitzulesen. „Lässt er dich immer noch nicht in Ruhe?“, flüsterte sie Fumiko ins Ohr, aber Renji hörte es trotzdem. Blöde Kuh. „Alles in Ordnung“, meinte Fumiko lächelnd und drückte Koukis Hand. Von ihren Eltern hatte sie ein Teleskop bekommen, das sie sich schon länger gewünscht hatte, wie sie sagte. Jagari hatte ihr etwas gebastelt, Tageko einen leichten Pulli gestrickt. „Nur weil es Sommer wird, kann dir ja trotzdem kalt werden“, sagte sie bedeutungsvoll. Von Kouki bekam sie ein riesiges Schokoladenherz. Taneo war der Einzige, der noch weniger einfallsreich gewesen war als Renji. Er überreichte ihr mit ein paar unglücklich gebrummten Gratulationsworten Einkaufsgutscheine. „Falls das nächste Einkaufscenter, in das du gehst, nicht auch abbrennt“, feixte Renji. „Die Sache war nicht lustig, Oyara-kun.“ Aiko funkelte ihn an. „Find ich schon.“ Aiko und Mikan hatten zusammengelegt und ihr ein Wochenende bei einem Onsen geschenkt. „Du kannst deinen Freund natürlich auch mitbringen“, sagte Mikan. „Gilt das auch für den Hund von ihrem Freund?“, grinste Renji. „Meinst du damit dich?“, fragte Aiko trocken. „Kannst du mal aufhören, mich ständig anzupöbeln? Ich mach ja gar nichts.“ „Du gibst ständig nur nervige Kommentare ab!“ „Ich mag dich auch nicht, danke.“ „Seid ihr zwei Streithammel bald mal fertig?“, fragte Tageko. „Das ist eine Geburtstagsparty, kein Politiker-TV-Duell.“ „Sie mögen dich eben beide. Jeder auf ihre Art“, sagte Kouki zu Fumiko. „Jaja, ich weiß“, erwiderte sie lächelnd und schnitt endlich den Kuchen an.   Die Feier zog sich bis in die Nacht hinein. Sie spielten Spiele und bekamen fürs Abendessen noch einmal ordentlich aufgetischt. Als die Sterne hervorkamen, bauten sie das Teleskop auf dem kleinen Balkon vor Fumikos Zimmer auf und sahen abwechselnd hindurch. Tageko fiel während des ganzen Abends Aikos und Renjis Verhalten auf. Anfangs schien es, als könnten sie sich nicht riechen. In irgendeinem unbemerkten Moment schienen sie sich jedoch ausgesprochen zu haben – oder so etwas in der Art. Fortan hackte sie nicht mehr auf ihm herum und er gab sich sichtlich Mühe, nicht mehr ganz so witzig sein zu wollen. Als sie gemeinsam am Teleskop waren, schienen sie sich plötzlich sogar richtig gut zu verstehen, und als Aiko hindurchsah und Renji schalkhaft an den Rädern drehte, boxte sie ihm lachend gegen den Arm. Tageko war froh, dass der einzige Unfrieden an diesem Tag sich derart in Wohlgefallen aufgelöst hatte. Es war eine wertvolle Zeit für sie. Ihr eigener Hausfrieden hing wieder ziemlich gerade, auch wenn ihre Mutter immer noch alleinerziehend war. Die Digimon amüsierten sich momentan bei Jagari zu Hause, und sie, die DigiRitter, konnten eine unbeschwerte Zeit genießen. Seufzend nippte Tageko an ihrem Orangensaft und sah in den sternengesprenkelten Nachthimmel, während Aiko und Renji am Fernrohr rangelten, Kouki gerade Mikan etwas erzählte und Jagari einem mäßig interessierten Taneo alles über Planeten erzählte, was er wusste. Fumiko stellte sich neben Tageko. „Dir ist nicht langweilig, oder?“ „I wo. Ich hab gerade darüber nachgedacht, dass ich zufrieden bin.“ „Ja?“ Fumiko stützte sich mit den Ellbogen am Balkongeländer ab und legte das Kinn in die Handflächen. „Das ist schön.“ „Du wirst irgendwie … melancholisch“, stellte Tageko fest. Ein Schulterzucken. „Kann sein.“ „Willst du drüber reden?“ „Dafür müsste ich erst mal wissen, was mit mir los ist“, lachte sie, aber es klang nicht ganz echt. Tageko leerte schweigend ihr Glas. „Naja, wie auch immer. Du weißt, dass du immer …“ „Ja, weiß ich“, unterbrach Fumiko sie. „Danke.“ Abrupt richtete sie sich wieder auf. „Dann feiern wir mal weiter. Man wird schließlich nicht jeden Tag vierzehn.“ „Eigentlich“, Kouki trat hinter sie und legte die Arme um sie, „bist du schon seit einiger Zeit vierzehn, schon vergessen?“, murmelte er ihr ins Ohr. Tageko betrachtete die beiden und bedachte Fumiko mit einem langen Blick. Diese schien ihn richtig zu deuten. „Wahrscheinlich bin ich nur froh, endlich Parallelmon zu haben, und dass ich es nun endlich kennengelernt habe, macht mich wehmütig“, meinte sie lächelnd. Die Ältere nickte ernst und wandte sich wieder den anderen zu, nicht ohne sich jedoch weiterhin Gedanken zu machen.   Am nächsten Tag feierte Fumiko noch einmal, diesmal mit den DigiRittern und ihren Partnern. Am Vormittag ließen sie sich von Koukis älterer Schwester an den Stadtrand fahren, wo sie ein Picknick veranstalteten. Parallelmon wartete schon dort in der Nähe, die anderen Digimon hatten sie mitgenommen. Es ging noch ausgelassener zu als gestern. Nach dem Picknick kam die große Überraschung. Kouki und die anderen hatten sich mit ihren Partnern besprochen und dann in einem günstigen Moment Parallelmon eingeweiht. Es war immer seltsam, mit dem riesigen Mega-Digimon zu sprechen; es schien alles zu verstehen, was man ihm zuflüsterte, konnte sich aber selbst nicht mitteilen. Den Plan hatte es offenbar trotzdem verstanden. „Also“, erklärte Kouki strahlend, „wir haben noch ein paar Stunden, ehe Nanami uns wieder abholt. Wo möchtest du gerne hin, Fumiko?“ „Was meinst du?“, fragte sie blinzelnd. „Gibt es irgendeinen Ort, an den du schon immer mal wolltest? Irgendwo auf der Welt.“ Fumikos Blick glitt über ihre Freunde zu Parallelmon und ihre Augen wurden groß, als sie verstand. „Du … Ihr meint …“ „Wenn wir aufpassen, können wir mit Parallelmon heute noch eine Weltreise machen“, sagte Tageko. „Was sagst du?“ Fumiko war perplex. Offenbar war ihr der Gedanke selbst noch gar nicht gekommen. Sie biss sich auf die Lippen. „Ägypten. Ich wollte schon immer mal die Pyramiden und die Sphinx sehen.“ „Also Ägypten.“ Jagari zeigte Parallelmon einen virtuellen Globus auf seinem Laptop, da sie nicht wussten, wie genau es den Bestimmungsort seiner interdimensionalen Reisen wählte. Dann brachte das Digimon sie erst in die DigiWelt und im nächsten Moment standen sie in der Wüste, auf einer Düne mit herrlichem Ausblick auf die Pyramiden von Gizeh. Allerdings … „Es ist Nacht“, murmelte Jagari. „Klar ist es Nacht. Wir sind ein paar Zeitzonen von Japan entfernt“, sagte Taneo trocken. Sie starrten noch eine Weile auf die Schemen der Pyramiden, ehe sie in lautes Gelächter ausbrachen. Der Sternenhimmel war fast großartiger als die Pyramiden selbst, wie sie feststellten. Leider hatten sie das Teleskop nicht mit. Dann ging es weiter in andere Länder. Jeder durfte einen Wunsch äußern, solange es relativ unbewohnte Gebiete waren, in denen Parallelmons plötzliches Erscheinen kein Aufsehen erregte. Sie sahen die Nadelwälder von Kanada, machten einen Abstecher nach Sibirien, bestaunten die Niagarafälle und den Kilimandscharo, genossen den Ausblick aus dem tibetanischen Gebirge, den Ayers Rock und ganz kurz auch den Amazonas. Es war in der Tat seltsam, Tag und Nacht und verschiedene Klimazonen so schnell hintereinander zu besuchen, noch viel extremer, als mehrmals Tore zur DigiWelt zu öffnen. Einmal, als sie auf den irischen Cliffs of Moher landeten, überraschten sie eine Gruppe Jugendlicher, die erschrockene Rufe ausstießen. Kouki winkte ihnen frech zu, dann teleportierte sie Parallelmon auch schon wieder weg. Die Touristen würden wohl ewig rätseln, ob sie einer kollektiven Halluzination aufgesessen waren. Als es in Japan dunkel wurde, kam Nanami mit dem Van zurück und brachte die DigiRitter nachhause. Fumikos Haus war die letzte Station vor Koukis eigenem. Vor der Eingangstür drückte er sie fest. „Danke für den schönen Geburtstag“, flüsterte sie. „Es war der schönste, den ich je hatte.“ „Gern doch … Sag mal, weinst du?“, fragte er erschrocken und löste sich von ihr. Fumiko wischte sich schnell über die Augen. „Blödsinn.“ „Du hast geweint. Gerade eben. Du hast noch nie geweint.“ „Klar hab ich das.“ „Aber nicht … so.“ „Kouki Nagara, wenn du weiterhin Unsinn redest, muss ich meine Kung-Fu-Künste anwenden und dich auf die Matte schicken“, drohte sie spielerisch, aber er war sich nicht sicher, was er davon halten sollte. Sie bemerkte seinen skeptischen Blick. „Hey, ich sagte, ich bin froh. Schon mal was von Freudentränen gehört?“ Er glaubte ihr nicht. Irgendetwas hinderte ihn daran. „Wenn irgendwas nicht stimmt oder so … dann meldest du dich bei mir, ja? Du sagst es mir sofort.“ Fumiko nickte. „Ja, klar.“ „Okay.“ Er zögerte. „Dann …“ „Gute Nacht.“ „Ja. Gute Nacht.“   Fumiko stand noch lange an ihre Tür gelehnt im Dunkeln in ihrem Zimmer. Sie wünschte sich Parallelmon herbei, obwohl es wahrscheinlich keinen Rat wusste. Sie biss die Zähne zusammen, als erneut dieses flaue Gefühl ihren Hals heraufkroch. Sie wollte nicht weinen. Einmal am Tag war mehr als genug. Kouki ging ihr nicht aus dem Kopf. Er hatte ihr ein Schokoladenherz geschenkt. Aiko hatte das total süß gefunden und Mikan langweilig und altmodisch. Für Fumiko war es weder das eine, noch das andere. Irgendwie schien es ihr falsch. Die falsche Form, das falsche Material, das falsche Geschenk. Ein Herz, das ihr herzlos vorkam. Schokolade, so süß, dass es ihr auf den Magen schlug. Mit einem Seufzer warf sie sich auf ihr Bett und vergrub den Kopf in ihrem Kissen. Sie wusste, dass Kouki sie liebte. Da brauchte sie weder ein Schokoladenherz noch sonst irgendeine Bestätigung. Er liebte sie. Sie liebte ihn. Aber warum fühlte sie sich dann so unglücklich?   Die folgende Woche stand ganz im Stern der Suche nach den Schwarzen Eiern, mit gelegentlichen Entspannungsmomenten. Die Schule war in dieser Zeit besonders öde. In vier Wochen würden die Sommerferien beginnen, eine Hitzewelle rollte über Tokio und eigentlich war es viel angenehmer, durch die DigiWelt zu stromern, als in einem stickigen Klassenzimmer die Schulbank zu drücken. Es war der Nachmittag des Mittwochs und Taneo war auf dem Nachhauseweg, als er meinte, ein Déjà-vu zu erleben. Das letzte Mal, als er ihn dort getroffen hatte, hatte tiefster Winter geherrscht. Nun zirpten die Zikaden, die Sonne brannte vom Himmel und Taneo schwitzte in seiner Sommeruniform. Shuichi sah trotzdem wie ein begossener Pudel aus, als er ihm unter dem Dach der Bushaltestellte entgegenblickte. „Hi“, murmelte der schmächtige Junge, als Taneo vor ihm stehen blieb und seine Schultasche auf die Sitzbank stellte. „Hi.“ Shuichi sah furchtbar aus. Noch viel blasser als üblich, mit rot geränderten Augen und fettigem Haar. Selbst sein Hi hatte weinerlich geklungen. „Was kann ich für dich tun?“, fragte Taneo, als Shuichi keine Anstalten machte, irgendetwas zu sagen. Seine verquollenen Augen musterten nur seine eigenen Hände. „Ich … ich dachte, ich … Ich will mit dir reden. Nur … nur reden. Weißt du, daheim ist es gerade nicht einfach, und ich brauche jemanden zum Reden … Verstehst du?“ Taneo nickte. „Also, es ist so … Ich meine …“, stammelte Shuichi. „Sag mir einfach, wie ich dir helfen kann.“ „Das … das ist es ja gerade …“ Taneo sah, wie sich Tränen in Shuichis Augen sammelten. „Du kannst mir nicht helfen … Es geht nicht. Es ist vorbei … Du kannst mir höchstens zuhören, bitte … Ich muss es jemandem erzählen, sonst zerreißt es mich, und daheim …“ Taneo legte ihm die Hand auf die Schulter. „Alles klar. Erzähl es mir einfach“, sagte er ernst. „Es … es ist so …“ Shuichi schaffte es plötzlich, ihm in die Augen zu sehen, entschlossen und bohrend und dennoch unendlich gequält. „Meine Schwester ist … Sie ist gestern gestorben.“ Kapitel 36: Brüche ------------------ Das Begräbnis von Shuichis Schwester fand am Freitag statt, der unglaublich schwül war. Fast schien es, als wollte der Himmel weinen, erinnerte sich aber seiner Verpflichtung dem Sommer gegenüber. Taneo stand in dem Meer aus schwarz gekleideten Trauergästen neben dem schluchzenden Shuichi. Der Junge hatte ihn gebeten, mitzukommen. Taneo wäre der einzige Freund, den er hätte, den er darum bitten könnte, und er hätte gern etwas Beistand. Seine Eltern waren verhärmt und konnten plötzlich nicht mehr mit ihrem Sohn umgehen, wie es schien. Also war er gekommen. Aus Shuichi war nicht viel herauszubekommen gewesen, aber aus den Gesprächen der Trauernden und den Worten des Priesters konnte er sich einiges zusammenreimen. Shuichis Schwester war älter als er selbst gewesen, vor kurzem hatte sie das siebzehnte Lebensjahr erreicht. Sie hatte an irgendeiner schweren Krankheit gelitten, die sie für Wochen an ein Krankenhausbett gefesselt hatte, und war ihr schließlich erlegen. Friedlich, im Schlaf, hatte Taneo gehört, aber das machte es nicht unbedingt besser. Als der Sarg in das Grab gehievt wurde, entstand ein Gerangel unter den Trauergästen, und ein blonder Junge drängte sich nach vorn. „Nein!“, rief er heiser. „Nicht! Lasst sie!“ Er stand an der Kante des Grabes, wie alle anderen in Schwarz gekleidet, und schien zu versuchen, den Sarg zu berühren. Jemand lief ihm hinterher und umklammerte ihn fest. Der Sarg senkte sich in die Grube, und mit einer wortlosen Mischung aus Stöhnen und Schluchzen brach der Junge in die Knie, schlug mit den Fäusten auf den Boden und ließ seinen Tränen freien Lauf. „Wer ist das?“, wagte Taneo Shuichi zu fragen, der ebenfalls wieder Tränen in den Augen hatte, obwohl er sein Gesicht nach der Messe getrocknet hatte. „Ihr Freund“, murmelte er mit erstickter Stimme. „Sie hat ihm alles bedeutet.“ Taneo verstand. Mit versteinertem Gesicht sah er dem Rest des Bestattungsrituals zu und dachte daran, dass er ein noch so großer Held in der DigiWelt sein konnte; gegen den Tod in der Menschenwelt kam er nicht an. Und er konnte nicht einmal Shuichi Trost spenden, obwohl sich dieser das wohl erhoffte. Es war unfair. Als die Beerdigung vorbei war, begab sich die engere Familie zum Leichenschmaus. Taneo verabschiedete sich von Shuichi und verließ den Friedhof allein. Als er hergekommen war, war ihm die steinerne Statue aufgefallen, die die Friedhofspforte bewacht hatte. Sie hatte die Gestalt eines gütigen, wenn auch traurigen Engels mit weit aufgefächerten Flügeln und schlanken Gliedmaßen gehabt. Als er nun durch das Tor ging, sah er die Statue umgestoßen am Boden liegen. Der schmale Hals war gebrochen und der Kopf des Engels war ein, zwei Meter davongekollert. Taneo betrachtete die kaputte Statue traurig, dann den blonden Jungen, den er in der Ferne davonwanken sah.   Kouki und Fumiko hatten sich am Dienstagabend zum Essen verabredet. Das Lokal, in dem sie saßen, war ziemlich klein, aber es bot vor allem Snacks und Fingerfood an und war daher recht billig. Kouki hatte Salamon in die Obhut seiner Schwester gegeben, die nicht mehr ganz so vernarrt in den kleinen Hund war wie früher, und Parallelmon wartete natürlich mal wieder außerhalb der Stadt. Kouki hatte gehört, dass Fumiko, wenn sie nicht gerade in der DigiWelt waren, oft ewig lange mit dem Bus fuhr, um es sehen zu können. Kouki konnte das nachempfinden. Dennoch, eines war nach wie vor seltsam. Obwohl sie nun beide ein Digimon hatten und jetzt nicht mehr nur er derjenige war, der wusste, was es bedeutete, einen Partner zu haben, hatten sie plötzlich weniger, über das sie redeten. Ständig schien es Kouki, als wiederholte er, was er schon mal gesagt hatte, und auf der anderen Seite fiel ihm nichts ein, das aufregend genug wäre, um es anzusprechen. So aßen sie die meiste Zeit schweigend und starrten verlegen auf ihre Teller. Als sie bei der Nachspeise waren, schluckte Kouki ein großes Stück Kuchen hinunter und meinte dann leise: „Es ist nicht mehr so wie früher, was?“ Sofort hatte er das Gefühl, jetzt einen Fehler begangen zu haben, aber er wäre sich wie ein Lügner vorgekommen, wenn er das Thema nicht darauf gelenkt hätte. Fumiko nickte schweigend und sah der Kirsche nach, die über seinen Teller rollte. Auch Kouki verspürte keine Lust, mehr zu sagen als das. Stumm widmete er sich wieder seinem Nachtisch. „Ich wollte mit dir darüber reden“, meinte Fumiko dann. „Ich hab’s mir fest vorgenommen, als wir uns für heute verabredet haben. Irgendetwas … passt nicht mehr. Zwischen uns.“ Obwohl er genau wusste, was sie meinte, war es wie ein Schlag in seine Magengegend. Sein Mund war trocken, als er den nächsten Bissen nahm. „Sieht irgendwie so aus“, murmelte er kauend. „Du denkst also auch so?“ Er zuckte mit den Schultern. „Es ist nicht mehr wie früher“, wiederholte er nur. Fumiko lächelte bitter, sah ihn immer noch nicht an. „Ich weiß gerade nicht, ob ich mich freuen soll, dass du darüber genauso denkst wie ich.“ „Versteh ich gut.“ „Es ist aber nicht wegen Parallelmon. Ich will, dass du das weißt“, sagte sie fest. Kouki nickte. „Klar. Ich würde ihm auch nie die Schuld geben. Oder dir. Es ist wohl eher …“ „Es liegt auch nicht an dir“, beteuerte sie. „Es ist einfach nur … Keine Ahnung, ich weiß es auch nicht.“ „Irgendetwas stimmt halt zwischen uns nicht mehr“, murmelte er. „Wir haben uns in verschiedene Richtungen weiterentwickelt oder so. Vielleicht war es auch nur …“ Er unterbrach sich. Fast hätte er im Scherz gesagt, eine Jugendsünde von uns. Vielleicht hätte sie das in den falschen Hals gekriegt. Er schüttelte den Kopf. „Nein. Es war toll. Es hat ‘ne Weile gehalten, und es war super. Das ist wohl alles.“ Kouki fühlte einen Knoten im Hals. Fumiko nickte. Nun sah sie ihn an. Keine Tränen, keine Qual in ihren Augen. Das war nur dieses eine Mal gewesen. Kouki ahnte, warum. Es war schon bei ihrer Geburtstagsfeier da gewesen, dieses Gefühl, dass etwas anders geworden war, dass es früher besser und nun nicht mehr das Wahre war. Er hatte es selbst gespürt. War selbst weinerlich geworden, als er dem Gefühl nach und nach auf den Grund gegangen war. Sie hatten sich in den Schlamm des Zweifels gegraben, zwei Herzen in der Schwebe. Nun, da sie reinen Tisch gemacht hatten, konnten sie nach vorn sehen. Auch wenn der Gedanke Kouki traurig stimmte. „Ich schätze, das heißt dann, dass …“ Fumiko wollte sich instinktiv abwenden, aber sie zwang sich, ihm in die Augen zu blicken. „Dass es aus ist“, murmelte er, um ihr die Last nicht allein aufzubürden. Sie nickte. Eine Weile schwiegen sie wieder. Kouki zermatschte den Rest seines Kuchens. „Naja“, meinte er dann resolut und setzte sich gerade hin. „Es war trotzdem toll, wie gesagt. Du bist ein Wahnsinnsmädchen.“ Sie lächelte. „Und du der beste Freund, den man sich wünschen kann. Ich werde deine Zukünftige beneiden.“ „Ich deinen Zukünftigen auch“, sagte er. Sie starrten einander an und lachten dann sogar. Selbst wenn es ein bitteres Lachen war, sie lachten gemeinsam. Immerhin. „Wir bleiben Freunde, oder?“, fragte sie. „Klar. Bleibt uns ja nichts anders übrig. Gennai und die anderen würden uns den Hals umdrehen.“ „Danach auch, oder?“, hakte sie nach. „Ich meine, nachdem die DigiWelt gerettet und das letzte Asura besiegt ist.“ „Selbstverständlich.“ Er verschränkte die Arme und blickte zur hölzernen Decke des Lokals. „Wenn ich so darüber nachdenke, wir hatten vor unseren Abenteuern eigentlich nicht wirklich miteinander zu tun. Abgesehen von der Sache mit dem Hund.“ „Stimmt.“ Er grinste wehmütig. „So darf es auf keinen Fall wieder werden.“ Obwohl die ganze Nachspeise einen bitteren Nachgeschmack hatte, gelang es ihnen plötzlich wieder, ein normales Gespräch zu führen, sogar zu scherzen. Als sie bezahlten, ging Kouki sogar so weit, zu sagen: „Eigentlich wollte ich dich einladen, aber da wir ja jetzt nicht mehr zusammen sind …“ „Ich lade dich ein. Das habe ich mir auch vorgenommen“, erwiderte Fumiko ernst. „Dann machen wir’s einfach mal so: Ich bezahle deins und du bezahlst meins.“ Vor den Augen der verblüfften Bedienung kramten beide ihr Geld heraus. Als sie sich auf der Straße verabschiedeten, brach endlich Regen aus der tagealten Wolkendecke und kühlte die Stadt ein wenig ab. Und obwohl Kouki eben noch gescherzt hatte, fand er dieses Wetter nun doch verdammt passend.   Am nächsten Tag in der Schule trommelte ein aufgeregter Jagari seine Mitstreiter zusammen. Selbst Renji kam mittlerweile ohne Umschweife mit; seine Freunde hatten sich damit abgefunden, dass er oft und gern mit Jüngeren und Mädchen abhing. „Gennai hat mich gestern am Abend kontaktiert“, flüsterte der blonde Junge ihnen über den Tisch in der Bibliothek zu. „Er hat gesagt, wir sollen uns beeilen. Offenbar nimmt die Macht der Dunkelheit in der DigiWelt wieder zu, und er weiß nicht, woran das liegt. Wenn wir Asuramon hervorlocken, sollte es aber ein Ende habe.“ „Na toll“, murrte Renji. „Gerade, wo es so gemütlich war.“ „Wir haben vielleicht den Ernst der Lage etwas unterschätzt“, meinte Taneo. Er hatte die Arme verschränkt und sah aus dem Fenster. „Uns fehlt noch ein DigiEi. Es muss doch möglich sein, es zu finden.“ „Das ist genau das Problem“, sagte Tageko. „Du weißt, wo es liegt.“ Renji war selbst nicht dort gewesen, aber Fumiko hatte davon erzählt. In einem Berg, einem gewaltigen Monolithen, befand sich ein wahres Labyrinth aus Schluchten und Höhlen, als hätte sich ein Wurm durch ihn gegraben. Dort irgendwo befand sich das letzte Schwarze DigiEi. Allerdings waren die Gänge so verwinkelt und lagen zumeist übereinander, dass sie selbst mit ihren DigiVices keine Ahnung hatten, wo es versteckt lag. Jagari hatte es übernommen, auf die bereits gefundenen Eier aufzupassen. Er bewahrte sie bei sich zuhause auf und hatte oft an ihren Schalen gelauscht oder sogar dagegen geklopft. Sie schienen total leblos zu sein, und nichts Außergewöhnliches war geschehen. Renji fand es seltsam, dass ihnen nun plötzlich die Zeit knapp werden sollte. Aber wenn Gennai das sagte, musste es wohl stimmen – und Fumikos Ei war schließlich auch noch geschlüpft. Außerdem hatte Kyaromon schon gesagt, dass ihm ohne einen richtigen Kampf langweilig wurde. „Wir brauchen nur eine Karte und genügend Zeit“, sagte Taneo. „Wir suchen den Berg systematisch ab.“ „Da genügt aber ein Tag nicht“, meinte Kouki stirnrunzelnd. „Geschweige denn ein Nachmittag, falls wir nach der Schule suchen wollen.“ „Dann suchen wir eben am Wochenende. Wir bleiben zweieinhalb Tage in der DigiWelt. Wir müssen uns einfach selbst am Schopf packen und uns Mühe geben.“ „Und wie willst du unseren Eltern erklären, warum wir schon wieder so lange verschwunden sind?“, fragte Tageko. „Meine Mutter hat mich schon langsam richtig auf dem Kieker.“ „Ich weiß, was wir machen können!“, rief Jagari. „Ein Ausflug! Wir erzählen ihnen ganz offiziell, dass wir am Wochenende wegfahren. Ein kleiner Urlaub mit Freunden.“ „Wird das eure Eltern überzeugen?“, fragte Tageko zweifelnd. „Kein Problem“, meine Renji leichthin. „Mein Alter ist sowieso froh, wenn er in Ruhe fernsehen kann. Meine Mutter wird auch kleinbeigeben.“ „Ich finde die Idee gut. Momentan ist doch das beste Wetter zum Wandern“, überlegte Fumiko. „Wir sagen einfach, wir fahren in die Berge. Wenn wir unseren Eltern Bescheid sagen, bevor wir verschwinden, wird es sicher kein so großes Problem sein.“ „Gut, wer fährt uns?“, fragte Kouki. „Meine Schwester fällt aus. Die hat gerade ein Uniprojekt am Laufen und ist unausstehlich.“ „Wir brauchen ja nicht wirklich in die Berge zu fahren. Wir erzählen unseren Eltern das nur und treffen uns am Stadtrand mit Parallelmon“, sagte Taneo. „Und wer ist unsere Aufsichtsperson? Oder glaubt ihr, unsere Eltern lassen uns einfach alleine fahren? Schon wieder?“ Der Junge zuckte mit den Schultern. „Wir geben ihnen einfach die Nummer von meinem Cousin. Ich sage Kentarou, er soll so tun, als wäre er ein paar Jahre älter und hätte einen Wagen. Wird ihm nicht schwerfallen.“ „Und unsere Eltern bringen uns samt unserem Gepäck zu ihm und merken, dass dein Cousin wie alt ist, fünfzehn?“, fragte Tageko nicht überzeugt. „Sechzehn“, korrigierte sie Taneo. „Aber du hast recht, das wäre ein Problem.“ „Wenn’s weiter nichts ist“, meinte Renji. „Ein Kumpel von mir hat einen Kleinbus daheim. Er schuldet mir einen Gefallen, also lassen wir uns einfach zu ihm kutschieren, tun so, als würden wir den Bus beladen, und fahren dann mit dem Zug aus der Stadt. Aber unseren Eltern geben wir dann die Nummer von Taneos Cousin, und falls etwas ist, kann der ja so tun, als wäre er mein Bekannter. So viel will ich ihm nämlich auch wieder nicht aufhalsen.“ „Etwas umständlich, aber nicht übel“, meinte Kouki anerkennend. „Klar, ist doch meine Idee.“ „Nicht alles davon“, meinte Taneo trocken. „Kann sein, aber mein Beitrag dazu hat deine langweilige Idee veredelt.“ Taneo schmunzelte. Sie feilten noch ein wenig an ihrem Plan. Am Wochenende wollten sie loslegen. Renji war froh, dass er sich nicht schon mit Aiko verabredet hatte. Zwischen ihnen hatte es gefunkt – glaubte er. Ganz sicher war er da nicht, weil er dazu neigte, sich in solchen Sachen zu überschätzen, das hatte ihm die Vergangenheit deutlich gemacht. Aber Aiko war gar keine solche dumme Schnepfe, wie er anfangs gedacht hatte, und sie hatten sich bei Fumikos Party letztendlich ganz gut verstanden. Dann hatten sie noch Nummern ausgetauscht und sich dann und wann getroffen. Renji hatte von Kouki gehört, dass er und Fumiko Schluss gemacht hatten. Es tat ihm ehrlich leid für seinen Kumpel. Irgendwie war es ein merkwürdiges Gefühl, dass das Mädchen, das er früher angehimmelt hatte, nun doch nicht mehr mit seinem besten Freund zusammen war. Sie sprachen immer noch miteinander, aber ein klein wenig hatte sich verändert, das war sogar Renji aufgefallen. Er hatte Kouki von der Sache mit Aiko erzählt, allerdings schon bevor er von der Trennung erfahren hatte. Kouki war ein zu guter Kumpel, um eifersüchtig zu sein, aber irgendwie drückte Renji jetzt trotzdem das schlechte Gewissen.   Ihre Eltern zu täuschen war wirklich ein Klacks. Manche der DigiRitter hatten es sich zwar einfacher vorgestellt, ihre Einwilligung zu bekommen, aber letztendlich reisten sie tatsächlich freitags nach der Schule mit Wandergepäck zum Stadtrand, trafen sich dort mit Parallelmon und dann ging es weiter in den zerklüfteten Landstrich der DigiWelt, in dem das letzte Schwarze DigiEi verborgen war. Jagari nahm auch gleich die anderen sieben Eier mit, damit sie, wenn alles gut ging, die Sache an diesem Wochenende beenden konnten. Als die DigiRitter in einem nahen Digimon-Dorf unterkamen und sich Pläne vom Berg zeichneten, bemerkte Tageko die Nervosität der anderen, die um nichts geringer war als ihre eigene. In den nächsten drei Tagen würde sich alles entscheiden. Sie würden das letzte der Asuras bekämpfen, und es würde der Anführer sein. All ihre Siege bislang stimmten sie zwar bis zu einem gewissen Grad zuversichtlich, aber dennoch wussten sie nichts über ihren Gegner. „Was habt ihr eigentlich vor, was wir machen, wenn wir gewonnen haben?“, fragte Renji, als sie gegen Abend aufbrachen. „Ich will auf jeden Fall die Sommerferien in der DigiWelt verbringen“, strahlte Jagari. „Das wird toll!“ „Aber in den Sommerferien ist es bei uns doch auch schön“, warf Tageko ein, die den Sommer mochte. „Jagari hat recht. Wir sollten hier Urlaub machen“, sagte Taneo. „Sommerferien in unserer Welt hatten wir schon viele. Wir sollten es ausnutzen, dass wir in die DigiWelt können.“ Mit derlei Gesprächen hielten sie sich bei Laune. Sie malten sich eine Zukunft aus, in der sie Asuramon besiegt hatten, und Tageko hatte das Gefühl, dass ihr das Zuversicht schenkte. Den Berg zu durchforsten war noch anstrengender, als sie zuerst gedacht hatten. Sie suchten bis spät in die Nacht hinein, schliefen im Dorf und brachen am nächsten Tag sofort wieder auf. Schließlich halfen sogar die Digimon aus dem Dorf mit, die von den DigiRittern gehört hatten und sie regelrecht vergötterten. Trotzdem fanden sie das Ei erst am Sonntag, und das auch nur durch Zufall: Es war in einer Höhle eingeschlossen, die von einem Steinschlag vom Rest des Tunnelsystems abgekapselt war. Kouki war es, dem die Idee kam, die Wand aufzubohren. Ein Drimogemon aus der Gegend half ihnen dabei, und so wurde der kleine, schwarze Gegenstand sichergestellt. Danach gab es im Dorf eine kleine Feier, als hätten sie schon gewonnen. Burgermon bekochten sie, und die DigiRitter und ihre Digimon stärkten sich. Als es Abend wurde, fühlten sie sich trotz der Strapazen von neuer Energie erfüllt, die sicher vom baldigen Ende ihres langen Kampfes herrührte. Wenn sie Asuramon herauslockten, würden sie vielleicht das Dorf gefährden, also wanderten sie eine Weile um den Berg herum, bis sie eine desolate, staubige Ebene fanden. Hier war der beste Ort. Jagari legte die schwarzen Eier in einem engen Kreis auf, gerade als die Sonne dem Berg von hinten einen abendlichen Flammenkranz bescherte. „Und jetzt?“, fragte Tageko zweifelnd. „Asuramon ist jetzt da zwischen den Eiern, und wir können es nur nicht sehen?“ „Sollen wir mal Attacken reinwerfen?“, fragte Volcanomon. Die Digimon waren alle auf ihr höchstes Level digitiert. „Gennai hat gesagt, wir sollen auf ihn warten. Ich versuche mal, ihn zu erreichen“, sagte Jagari. Er hatte seinen Laptop aufgeklappt und tippte darauf herum, als hinter ihnen eine Stimme laut wurde. „Das habt ihr gut gemacht, DigiRitter. Ihr habt die Eier also alle gefunden.“ Gennai war erschienen – wo genau er so plötzlich hergekommen war, ließ sich nicht sagen; vielleicht aus dem Wald. Er trat in die Mitte des Eierkreises und musterte sie. „Es hat ja auch lange genug gedauert.“ „Jaja“, knurrte Renji verärgert. „Weißt du, wir haben in unserer eigenen Welt auch noch ein Leben.“ Gennai neigte den Kopf. „Nicht mehr lange“, verkündete er. Und er breitete die Arme aus, und die Eier zerbarsten. Schwarzen Schalensplitter umwirbelten ihn wie dunkle Greifarme. „Was zum …“, begann Renji, als Taneo rief: „Zurück! Irgendwas stimmt mit ihm nicht!“ „Was tun Sie da, Gennai?“, fragte Jagari ängstlich. „Das ist nicht Gennai“, erwiderte Fumiko düster. Im Sturm der dunklen Fragmente verfärbte sich erst Gennais Robe von ihrem hellen Beige in ein düsteres Braun. Ein vielstimmiges Lachen ertönte. „Schlaues Kind.“ Dann barst der Wirbelsturm auseinander. Etwas wie dunkelviolette, faustdicke Spinnenfäden schoss in alle Richtungen. Die DigiRitter schrien erschrocken auf, als die einzelnen Stränge sie durchbohrten, aber kein Schmerz kam. Es war, als könnten sie die Strahlen zwar sehen, aber nicht spüren; als wäre es so etwas wie Licht, oder eher – Dunkelheit. Die Fäden, mit dem falschen Gennai als Zentrum, bildeten ein Spinnennetz, das düster schimmernd die ganze Lichtung umspannte. Und die fette Spinne in ihrem Zentrum verwandelte sich. Gennais Umrisse zuckten, ordneten sich neu an – und plötzlich war sein Gesicht nur mehr eines von dreien, und selbst das verblasste. Ein muskulöses Digimon mit drei Köpfen, vier Armen und feuerrotem Haar stand vor ihnen. Seine Haut hatte denselben, schwarzvioletten Farbton wie das Spinnennetz. Kouki hob die Analyzer-Brille vor die Augen. „Es ist Asuramon“, murmelte er. „Das letzte Asura.“ „Der Anführer“, fügte Tageko düster hinzu. „Was hast du mit Gennai gemacht?“, rief Jagari. Asuramons Stimme war schrecklich. Zu einem Teil schrill, zu einem tief und grollend, zu einem erhaben und herrisch, und zu allen drei Teilen bösartig. „Euer Freund schlummert in einer Chaosblase vor sich hin. Den Ärger, den er uns bereitet hat, darf er durch ewiges Leiden abbüßen.“ Die grollende Stimme lachte, während die anderen weitersprachen – ein verstörender Effekt. „So lange hat es gedauert, bis wir ihn in die Finger bekommen haben. Was SkullScorpiomon nicht erreichen konnte, habe ich nun beendet.“ „Was jetzt?“, fragte Kouki leise. Taneo fluchte. „Was sollte dann diese Sache mit den Schwarzen DigiEiern?“ Nun lachte auch die schrille Stimme, und die herrische allein erwiderte: „Ihr habt mir gute Dienste geleistet. Wenn ihr nur mehr über uns Asuras gewusst hättet, wärt ihr vielleicht nicht in meine Falle getappt.“ „Was soll das heißen?“ „Als ihr meine Kameraden vernichtet habt, ist der größte Teil ihrer Daten ins Samsara eingegangen. Üblicherweise werden Digimon in der Stadt des Ewigen Anfangs wiedergeboren. Ihre Daten werden dort wieder zu DigiEiern, und sie beginnen ihr Leben von Neuem. Asuras sind anders. Sie werden nicht länger wiedergeboren, denn ihre Seelen sind zu mir, ihrem Anführer, geflogen. Doch die Daten, die ihre Form beschrieben haben, ihr Aussehen, ihre Persönlichkeit, all das, was ihre Seelen nun nicht mehr brauchen, sind in der DigiWelt verblieben und haben sich, ganz in Digimon-Manier, in DigiEier verwandelt. Sie wären niemals geschlüpft, man könnte sagen, sie sind hohl, aber sie bestehen dennoch aus denselben finsteren Daten wie das große Apocalymon, aus Daten, die von außerhalb der DigiWelt stammen. Die Macht, Zeit und Raum zu verändern und das Chaos zu bringen, wohnt ihnen noch inne. Es sind die letzten Knotenpunkte im Netz des Chaos, wie ich es euch gesagt habe. Als ihr die anderen Asuras vernichtet habt, sind die Eier dort wieder aufgetaucht, wo jedes Einzelne von ihnen geboren wurde, als wir in diese Welt kamen. Und ich brauchte sie, um die Kraft meiner gefallenen Kameraden voll nutzen zu können. Ich wusste, wo in etwa die anderen Asuras damals geboren wurden, aber ihre Eier zu suchen ist unter meiner Würde! Gnädigerweise habt ihr das für mich erledigt.“ „Das ist es, was Gennai uns gesagt hat“, murmelte Tageko. „Dass die Daten zu ihrem Anführer fliegen … und jetzt kann er sie nutzen?“ „Verdammt, heißt das, wir haben ihm total in die Hände gespielt?“ Renjis Stimme machte der schrillen von Asuramon beinahe Konkurrenz. „Deshalb waren es acht Eier“, murmelte Taneo. „Ich dachte mir doch, dass da was faul war – wieso auch ausgerechnet acht?“ „Und wieso sind es acht?“, fragte Jagari. „Elf Asuras sind tot. Eines davon wurde von Arkadimon gefressen, und wir haben Arkadimon und Megidramon in der Feuerwand gebannt. Das heißt, die Daten von acht Asuras sind zu ihrem Anführer zurückgeflogen.“ „Oh“, machte Jagari. „Dieser Mistkerl“, murmelte Fumiko. „Und was … was tun wir jetzt?“, fragte Renji. „Wir können sowieso nur eins tun.“ Kouki trat einen Schritt vor. „Wir bekämpfen es, bis wir es besiegt und die DigiWelt ein für alle Mal gerettet haben!“ Kapitel 37: Im Netz des Chaos ----------------------------- Auf der von blutigem Abendlicht übergossenen Felsebene brach ein Lichterspektakel los. Die erste aufblitzende Farbe war grellweiß, als Cyberdramon seine Ausradierkralle abschoss. Der Strahl fuhr durch das tintenschwarze Spinnennetz, das immer noch so über der Wirklichkeit lag, als hätte jemand durch die Windschutzscheibe eines modernen Autos geschossen, aber keiner der dunklen Stränge schien auch nur davon berührt zu werden. Aber Cyberdramon gab nicht auf. Als Nächstes nahm es sich Asuramon selbst zur Brust. Es vollführte einen seichten Anflug und riss seine glühenden Klauen vor den Kopf. „Ausradierkralle!“ Mit Asuramon geschah etwas Seltsames. Es drehte sich nur halb um – dann verwandelte sich einer seiner drei Köpfe plötzlich und eine orange Kürbisfratze grinste Cyberdramon entgegen. „Halloween-Streich!“, rief eine Quietschestimme, und noch ehe der Schrei verklungen war, war ein Kürbis vor Asuramon erschienen, groß wie ein Haus. Die Ausradierkralle fraß sich ihren Weg hinein, verlor aber dabei an Energie … Glühende Risse zerfurchten die Haut der Riesenfrucht und ließen sie in Schleim und Fruchtfleisch zerplatzen, und aus dem orangegelben Regen kam Asuramon gesprungen, prallte gegen Cyberdramon und ließ seine vier Fäuste fliegen, deckte Taneos Partner mit einem Hagel aus Schlägen ein, und dann, noch ehe sie beide landeten, verwandelte sich auch der linke seiner Köpfe, wurde zu Karatenmons Rabenschädel, und das Schwert, das es plötzlich aus seinen Rückenflammen hervor riss, zog eine schimmernde Linie über Cyberdramons Brust, die den Drachen zu Boden schleuderte. „Das würde ich eine gelungene Rache nennen“, stellte Asuramon grollend fest. Im nächsten Moment musste es herumwirbeln, da Triceramon auf es zustürmte. Mit dem Schwert blockte es einen Krallenhieb des Dinosauriers ab. Die Klinge wurde ihm aus der Hand geprellt. „Pack es!“, schrie Jagari. Triceramon stieß ein tiefes Knurren aus und stieß Asuramon die Pranken in die Hüften, fixierte es. „Jetzt, Tageko! Blossomon!“ Jagari war so angespannt, dass seine Stimme ein heiseres Krächzen war. Blossomon hatte sich schwerfällig hinter Asuramon gebracht, aber nun schleuderte es seine Spiralblumen von sich. Von zwei Seiten schnitten die Kreisel durch die Luft, so gezielt, das sie Triceramon nicht einmal berühren würden. Diesmal verwandelten sich die beiden seitlichen Köpfe von Asuramon gleichzeitig. Einer wurde der Schlangenkopf von Orochimon, der andere zu dem von FlaWizardmon; zudem erschien in einer seiner Hände eine Art Streichholz-Zauberstab. Beide Köpfe schrien, kaum verständlich, die Namen von Attacken, und zwei wahre Wände aus Feuer fraßen Blossomons Angriff, bis nur mehr verkohltes Laubwerk zu Boden tanzte. „Ihr steht auf verlorenem Posten“, verkündete Asuramons mittlerer Kopf, und während er sprach, verwandelte auch er sich und seine Stimme wurde ein ächzendes Knochenschaben. SkullScorpiomon, ihr ältester Feind, schien aus seinem Grab zurückgekehrt zu sein. Aus nächster Nähe feuerte es Tausende von Lichtnadeln aus seinem Rachen, die gegen Triceramons gepanzerte Schnauze prasselten, bis das Digimon das Asura losließ und mit einem gewaltigen Krachen rücklings umfiel. „Verdammt!“, zischte Taneo, während Jagari laut den Namen seines Partners schrie und von Tageko zurückgehalten werden musste, als er auf den Kampfplatz stürmen wollte. „Es kann sich also in die anderen Asuras verwandeln“, stellte Fumiko düster fest. „Und auch ihre Attacken benutzen.“ „Nicht in alle“, schränkte Kouki ein. „Nur in die, deren Daten es bekommen hat.“ „Oh, toll, was für ein Unterschied!“, rief Renji schrill aus. „Das hat keinen Sinn“, sagte Taneo. „Wir waren nicht vorbereitet, und wir haben schon keine Formation mehr. Parallelmon soll uns hier rausbringen; wir überlegen uns eine Strategie und schlagen dann zurück. Vielleicht können wir Asuramon auch in die Feuerwand stoßen.“ Fumiko nickte und berührte Parallelmon am Bein. Dann erbleichte sie plötzlich. „Es … es sagt, es geht nicht.“ „Was soll das heißen, es geht nicht?“, rief Renji. „Wenn es nicht geht, sind wir am Arsch!“ Asuramon trat langsam näher, sein Frontgesicht war wieder wie vorher und grinste brutal. „Sag schon! Was heißt, es geht nicht?“, schrie Renji, als das Digimon näher kam. „Es heißt einfach genau das!“, schrie Fumiko zurück. „Parallelmon sagt, es kann seine Kraft nicht einsetzen!“ Wie um seine stummen Worte zu untermauern, feuerte Parallelmon einen krallenartigen Schuss aus seinem Auge ab, der Asuramon einhüllte – und in einem Regen aus Datensplittern zerbarst. „Natürlich funktioniert es nicht“, erklärte ihr Feind hämisch. „Parallelmon. Ein gefährliches Digimon. Und doch gänzlich ungeeignet als Gegner von Apocalymons Chaos!“ „Was soll das heißen?“, fragte Tageko scharf. Sie schwitzte. Momentan versuchte sie nur Zeit zu schinden. Volcanomon stand als letzte Barriere zwischen dem Asura und den DigiRittern – und Gatomon, aber das besaß noch weniger Schlagkraft. Immerhin waren die anderen nicht zurückdigitiert, als sie getroffen worden waren – sie hatten durch all die Kämpfe an Ausdauer gewonnen. Asuramon gab bereitwillig Auskunft, breitete gebieterisch seine vier Arme aus und deutete auf das Spinnennetz, in dem sie kämpften. Die Fäden glänzten violett in der hereinbrechenden Dunkelheit. „Die Stränge des Chaos. Ein Netz aus dunkler Energie. Apocalymons schiere Existenz störte einst Zeit und Raum. Auch die Meister der Dunkelheit verformten die DigiWelt nach ihren Vorstellungen. In diesem Netz, das die Grenzen der Welten durcheinanderbringt, zwischen den Welten umherspringen zu wollen, ist lächerlich, findet ihr nicht? Dein Parallelmon ist nutzlos, Kleine!“ „Das … das kann nicht …“, brachte Fumiko heraus, als Parallelmon mit seinen gigantischen, drahtigen Beinen Asuramon mit nur einem Schritt erreichte. Seine Faust krachte aus zehnstöckiger Höhe auf das Asura nieder, zertrümmerte noch den Felsenboden unter ihm. Risse fraßen sich durch das Gestein, eine enorme Staubwolke wallte auf. „Du hast es!“, rief Kouki. „Spitze!“ Dem konnte Asuramon nicht entkommen sein … War es auch nicht. Parallelmon legte plötzlich den Kopf schief, und man konnte Asuramon sehen, das sich mit vier Armen gegen den Schlag stemmte. „Nun wollen wir sehen, ob du nicht deine eigene Medizin schlucken wirst.“ Das bösartige Digimon hatte seine drei Gesichter in die drei Köpfe von Cerberusmon verwandelt. „Höllentor!“ Unter Parallelmons Füßen tauchte ein kreisrundes Loch mit grün glühenden Rändern auf, in das Parallelmon bis zur Hüfte hinein sackte. Tageko fluchte, Fumiko rief entsetzt seinen Namen. Diese Attacke des Höllenhundes hatten die DigiRitter schon fast vergessen, dabei hatte sie ihnen schon einmal das Leben schwer gemacht … „Ein Digimon, so groß, dass nur die Hälfte von ihm in der Hölle Platz hat?“, scherzte Asuramon gut gelaunt mit Cerberusmons Stimme. „Dann lasst es uns kleiner machen!“ Die Ränder des Loches zogen sich zusammen wie eine glühende, runde Klinge. „Mach, dass du da rauskommst! Parallelmon!“, schrie Fumiko aufgelöst, die plötzlich Angst hatte, ihren Partner nach der kurzen Zeit wieder zu verlieren. Parallelmon machte seine Pranke von Asuramon los und ergriff die Ränder des Lochs mit beiden Armen, versuchte sie zurückzudrücken. Helle Blitze knisterten, wo es zugepackt hatte. Es schien nicht aus dem Loch herausspringen zu können, aber irgendwie schien seine Weltenreise-Fähigkeit mit Cerberusmons Attacke zu resonieren, und es konnte die Öffnung aufstemmen. Im selben Moment wurde Asuramon von hinten gepackt. „Ha! Du hast mich vergessen, was?“, rief Volcanomon. „Big-Bang-Stimme!“ Die Schallwelle rüttelte Asuramon aus nächster Nähe durch. Die Steinchen in dem Krater, in dem es stand, begannen zu tanzen. „Mach es fertig, Volcanomon!“, feuerte Renji sein Digimon an. Auch Cyberdramon und Triceramon hatten sich wieder aufgerappelt. Gemeinsam mit Blossomon kreisten sie das Asura ein. Doch während Volcanomon nur zwei von Asuramons Armen blockieren konnte, streckte es die anderen beiden über die Schultern. „Mystische Feuerfaust!“ Zwei lodernde Feuerbälle trafen Volcanomons Kopf, das seinen Schrei unterbrach. Und gleich im Anschluss wurde eines der Gesichter zu Orochimons Schlangenkopf, wand sich nach hinten und spie einen weiteren Schwall Feuer auf Renjis Partner, der ihn endgültig von den Füßen riss. „Jetzt wir“, knurrte Cyberdramon. Gemeinsam mit Triceramon trampelten sie auf ihren Feind zu, bereit, ihn mit ihren Krallen zu zerreißen … Asuramons mittlerer Kopf wurde zu dem von DunkelWereGarurumon und das Digimon sprang, schaffte trotz seines Leibesumfangs irgendwie einen Roundhouse-Kick, der eine schneidende Klinge erzeugte und die beiden Riesenechsen ganz einfach von den Füßen fegte. „Das gibt’s doch nicht!“, rief Jagari. „DunkelWereGarurumon war gar nicht so stark!“ „DunkelWereGarurumon nicht“, meinte Fumiko mit zusammengebissenen Zähnen. „Aber Asuramon anscheinend schon.“ Sie hatte den Blick auf ihren Partner fixiert, der sich immer noch aus dem Höllentor zu befreien versuchte. Ein Schweißtropfen lief über ihre Schläfe. Eine Wand aus grünem und rotem Feuer hinderte Blossomon am Näherkommen, während sich Asuramon wieder umdrehte, langsam, als wollte es seine Feinde verhöhnen. „Ich erlöse dich von deiner Mühsal“, erklärte es und schnippte mit den Fingern. Das Loch, das Parallelmon gefangen hatte, verschwand, zersplitterte ins Nichts. Parallelmons Füße standen wieder auf dem Felsenboden – doch der plötzliche Wechsel seines Untergrunds ließ das riesige Digimon das Gleichgewicht verlieren. Sein Kopf drehte sich überrascht, als es fast aberwitzig langsam kippte und dann mit einem lauten Krachen auf dem Boden aufschlug, erneut Staub aufwirbelnd. Fumiko keuchte auf und stürmte los. Tageko übernahm wieder die Rolle der Vernünftigen und packte sie an der Schulter, aber ein einziger funkelnder Blick von Fumiko ließ sie innehalten. Das Mädchen rannte zu ihrem Partner. Sie kam zu spät. Ein Hagel aus glühenden Splittern ging auf Parallelmons knochigen Körper nieder und erinnerte unangenehm an den Tag, an dem die DigiRitter beinahe gegen Karatenmon verloren hatten. Sie nagelten das Digimon mit fauchenden Geräuschen auf dem Boden fest, helle Substanz spritzte auf, als wäre es ein starker Regenschauer. „Parallelmon!“, schrie Fumiko, obwohl von ihrem Partner nur mehr eine Nebelwolke zu sehen war, in die eben von oben Asuramon stürzte. Dann war es plötzlich ruhig. Fumiko blieb neben dem ausgestreckten Arm von Parallelmon stehen und starrte mit leerem Blick dorthin, wo sich eben der weiße Dampf klärte. Asuramon stand auf Parallelmons Helm, das Schwert von vorhin mit zwei Händen gepackt und die Klinge in Parallelmons Augapfel versenkt. „Nein!“, schrie Fumiko, sprang auf den Arm ihres Digimons und wollte nach oben zu seinem Brustkorb klettern. Hinter sich hörte sie ihre Freunde rufen, doch es war ihr egal. Parallelmon durfte nicht tot sein, es durfte einfach nicht! Sie lief so schnell, dass sie halb ausglitt und sich mit der Hand abstürzen musste. Als ihre Finger Parallelmons Panzer berührte, spürte sie seine Stimme in ihren Gedanken. Vor Erleichterung sackte sie vollends in die Knie. Es lebte noch! Parallelmon war am Leben. Sie spürte, dass es durchhalten würde … auch wenn es sich entschuldigte, nicht mehr kämpfen zu können. Asuramon sprang zurück in die Mitte seines Spinnennetzes, um sich wieder um die anderen zu kümmern, und Fumiko blieb auf Parallelmon hocken, sandte ihrem Digimon all ihre Gedanken. Es war ob ihrer Sorge gerührt.   „Schnappt es euch endlich!“, rief Renji heiser. „Das Ding ist so dick, das kann unmöglich so schwer zu erwischen sein!“ „Versuch es doch selber“, knurrte Cyberdramon und schoss wieder eine Ausradierkralle ins Leere. „Es hat Parallelmon ausgeknockt“, murmelte Taneo. „Und das ist auf dem Mega-Level … Asuramon ist doch aber immer noch ein Ultra-Digimon, oder?“ „Angeblich.“ Kouki hatte die Analyzer-Brille auf. „Ultra, ja. Aber angereichert mit den Daten seiner gefallenen Kameraden, würde ich sagen.“ „Nicht nur das. Es ist dieses Netz“, sagte Tageko. „Ist euch aufgefallen, dass Asuramon immer so weit wie möglich in seinem Zentrum stehen will? Es wird sicher auch irgendwie davon versorgt.“ „Es hat keinen Sinn! Wir sind erledigt!“, rief Jagari plötzlich. Er presste die Hände gegen die Schläfen und kauerte sich zusammen. „Ohne Parallelmon sind wir verloren!“ „Mach hier verdammt nochmal keine solche Stimmung!“, knurrte Renji. „Wir schaffen das schon, klar?“ „Nein“, stöhnte der Junge. „Wir kommen nicht gegen es an! Wir werden hier sterben!“ „Reiß dich zusammen!“ Kouki zog ihn in die Höhe und zwang ihn damit, ihn anzusehen. Dann lächelte er den Jüngeren an. „Hast du vergessen? Ehe wir Parallelmon hatten, konnten wir auch nicht so einfach fliehen. Und wir haben’s trotzdem überlebt, oder nicht? Sieh mich an und zeig mir, dass du ein DigiRitter bist.“ Jagaris Wangen zierten glitzernde Tränenspuren. Mit offenem Mund starrte er Kouki an, als hätte er es tatsächlich vergessen. Schließlich schluckte er hörbar und nickte vorsichtig. „Okay … sorry.“ Kouki nickte zurück. „Gut. Gatomon, komm. Wir müssen hier wohl ein bisschen Aufmunterungsarbeit leisten!“ „Macht nichts Unüberlegtes!“, rief Tageko ihnen hinterher, als Partner und Digimon auf den Kampfplatz zuliefen. „Wir doch nicht“, lachte Kouki. „Es ist bewundernswert, dass er noch so gute Laune hat“, stellte Tageko trocken fest. „Er fürchtet sich genauso wie wir“, sagte Taneo. „Er zeigt es nur auf eine etwas andere Weise.“ „Was heißt hier wie wir?“, empörte sich Renji. „Als ob ich mich fürchten würde!“ Taneo blickte ihn verdutzt an, dann lächelte er schief. „Ach ja. Hab ich wohl vergessen.“ Renji lachte, Tageko schüttelte den Kopf und Jagari fuhr sich verlegen über die Augen.   Cyberdramon musste ein haarscharfes Ausweichmanöver fliegen, als direkt vor ihm, in der Luft, ein Höllentor erschien. Es kriegte gerade noch so die Kurve – und flog dann direkt in Asuramons nächsten Schwerthieb. Die Klinge drang knirschend in die Brust des Drachendigimons, das brüllend zu Thunderboltmon zurückdigitierte. „Na warte!“ Triceramon stürmte wieder auf es zu. Asuramon tänzelte mit neuem Elan vor ihm davon und schleuderte ihm Kürbis um Kürbis entgegen. Kürbis um Kürbis wurde von Triceramons Hörnern zermatscht, aber das Digimon wurde jedes Mal kurz aus dem Gleichgewicht gebracht. Eine besonders große Frucht erwischte es in die Flanke und warf es zu Boden. Asuramon fing Volcanomons Hieb mit einem seiner viel zu vielen Armen ab und warf das Digimon auf den Dinosaurier, nur um beide in ein Flammenmeer zu tauchen. Nun kamen Kouki und Gatomon hinzu. „Zeit aufzuräumen, oder, mein Freund?“, fragte er. Gatomon nickte. „Zeit, dem Kerl mal eins zu verpassen, mein Freund.“ „Was schlägst du vor?“ „Rabbitmon. Erst mal schnell und lästig sein“, erwiderte es mit einem katzischen Grinsen. „Alles klar.“ Kouki zückte sein DGX-Terminal. „DigiArmorEi der Freundschaft, erstrahle!“ Und schon hoppelte Rabbitmon zwischen Asuramons Beinen hindurch und deckte es dabei mit Schüssen aus seiner Stirn ein. Asuramon grunzte überrascht und versuchte instinktiv auf Abstand zu gehen, sprang in die Höhe … „DigiArmorEi des Wissens, erstrahle!“ Rabbitmon wechselte zu Butterflymon und flog dem Asura lästig wie eine Klette hinterher, seinen Fäusten geschickt ausweichend. „Wir halten es auf! Regeneriert eure Kräfte!“, rief Kouki laut. „Taneo! Lass dir besser schnell ‘ne Strategie einfallen!“ „Wird gemacht!“, rief der Jüngere. „Nur Schwächlinge spielen auf Zeit“, grollte Asuramon. „Sake-Power!“ Orochimons Kopf spie einen Feuerschwall – doch Kouki hatte, kaum dass er erschienen war, das ArmorEi des Mutes erstrahlen lassen. Lynxmons brennendes Fell absorbierte das Feuer noch mitten in der Luft, ohne dass es ihm etwas ausmachte. Dann ließ Kouki es drei Sekunden später zu Nefertimon werden, das Asuramon aus nächster Nähe explosive Edelsteine entgegenwarf. „Ja!“, jubelte Renji. „Weiter so! Macht den Mistkerl fertig!“ „Es reicht“, knurrte Asuramon dreistimmig. Unter seinen Füßen erschien ein Kürbis, den es als Sprungbrett benutzte, dann noch einmal – und dann ließ es einen von der Größe eines Fußballfeldes auftauchen, groß genug, um fast die ganze Felsenebene zu begraben. Wie ein abstürzender Mond fiel die Frucht auf die DigiRitter herab. In dem Moment stand Parallelmon wieder auf. Sein Auge hatte sich wohl wieder geheilt; es war keine Wunde zu sehen. Das Digimon streckte die Arme aus und fing den Meteor ganz einfach auf. Seine Füße sanken knirschend in die felsige Erde ein und seine dürren Gliedmaßen zitterten. Kouki stieß einen Pfiff aus. Fumikos Digimon überraschte ihn immer wieder von Neuem. Er warf einen Blick nach oben. Der Riesenkürbis verdeckte die Sicht, aber er wusste, dass Nefertimon an dessen Oberseite immer noch Asuramon auf die Nerven ging. Parallelmons Knie knickte ein. Es würde den Kürbis nicht mehr lange halten können; fast sah es so aus, als drückte jemand von oben dagegen. „Taneo!“, rief Kouki. „Ja, ja, ich überleg ja schon …“ Der DigiRitter kniff die Augen zusammen. „Wir versuchen es so …“ Blossomons Spiralblumen schnitten ein kleines Loch in die Frucht, sodass Volcanomon bis zu deren Zentrum klettern konnte. Gelblicher Matsch regnete auf die DigiRitter herab. „Das müsste reichen“, sagte Taneo. „Alles klar! Showtime, Volcanomon!“, rief Renji. „Big-Bang-Stimme!“, hörte man gedämpft aus dem Inneren des langsam herabsinkenden Riesenkürbisses. Dann, ebenfalls gedämpft, aber nichtsdestotrotz ohrenbetäubend laut, ertönte das Summen seiner Attacke. Der ganze Kürbis vibrierte, dann noch heftiger, Parallelmons Arme erzitterten, und dann zerplatzte das Ding endlich und die DigiRitter standen erst recht knietief in hellem Fruchtblut. Ihre Klamotten waren vollständig durchnässt, aber sie jubelten. Die Attacke war abgewehrt. Dann landete Asuramon wieder auf dem Felsenfeld und ihr Jubel erstarb. Mit einer Hand hielt es Salamon gepackt, das voller Schrammen und offensichtlich bewusstlos war. „Salamon!“, rief Kouki. „Das passiert, wenn man mir auf die Nerven fällt“, knurrte Asuramon und warf es in Koukis Arme. Schlaff war es, reagierte nicht auf seine Finger, die den kleinen Hund verzweifelt rüttelten. „Ich bin jedoch so gnädig und lasse euch gemeinsam sterben.“ Es hob seine vier Arme, jeder mit einem Streichholz-Zauberstab, wie FlaWizardmon sie benutzt hatte. „Ja. Oder so ähnlich“, sagte jemand abfällig. Kouki wandte sich überrascht um und sah Taneo neben sich stehen, einen grimmigen Gesichtsausdruck aufgesetzt. Die Narbe über seiner Nase schimmerte bleich im Licht des Mondes, der aufgegangen war. „Taneo“, murmelte Kouki. „Das heißt ja wohl hoffentlich …“ „Genau.“ Der Junge lächelte. „Ihr beide habt uns genügend Zeit erkauft. Die Rollen sind verteilt. Haltet euch alle die Ohren zu!“ Auf seinen Ruf hin presste Kouki die Hände gegen den Kopf. Dann landete Volcanomon plötzlich direkt vor Asuramon. Kouki fragte sich, wie es sich so lange in der Luft hatte halten können, sah dann jedoch den flimmernden Schatten, der dort oben lauerte. Thunderboltmon. So ist das also. Volcanomon stieß Asuramon zurück, kniete nieder und schien mit seinem Mikrofon den Boden anzubrüllen. Die Erschütterung ließ Koukis Zähne klappern. Wäre die Attacke auf ihn gerichtet gewesen, hätten die Vibrationen sicher seinen Körper zerfetzt … zum Glück standen sie weit genug entfernt … Aber warum war der Schall auf den Boden gerichtet? Volcanomons Schrei dauerte länger und länger, wurde lauter und lauter, alles vor Koukis Augen zitterte und bebte, seine Beine begannen taub zu werden und er spürte, wie Blut aus seiner Nase lief … Die Steinchen auf dem Boden tanzten, dann größere Felstrümmer, die einfach abbröckelten … Der kleine Vulkan auf Volcanomons Rücken brach aus, feurig rot in der Dunkelheit. Asuramon brüllte etwas, kam aber nicht näher. Dann, als Volcanomon endlich die Puste ausging, fegte es Renjis Partner mit vier Feuerstrahlen davon. Es überschlug sich und wurde wieder zu Candlemon. Kouki fragte sich, was das für ein Plan war, den die anderen während seinem Ablenkungsmanöver ausgearbeitet hatten. Asuramon schien sich dasselbe zu fragen, denn es zögerte erst. Dann lachte es. „Die Verzweiflungstaten Wahnsinniger.“ „Wie ich schon sagte: Ja, oder so ähnlich“, meinte Taneo trocken. Und dann schossen direkt aus dem Boden Blossomons Pflanzenranken hervor und wickelten sich um Asuramon. Die Spiralblumen an ihren Enden rotierten, schnitten tief in die schwarze Haut des Digimons und kreischten funkensprühend auf seinen goldenen Schmuckstücken. Asuramons schrille Stimme kreischte. Kouki verstand. Volcanomons Big-Bang-Stimme hatte besser gewirkt als jedes Ackergerät. Der Felsboden war so locker geworden, dass Blossomon Asuramon aus dem Hinterhalt hatte angreifen können. „Also dann, Triceramon!“, rief Jagari. Und Triceramon stürmte los, senkte seine drei Hörner, Asuramon wand sich in seinen Fesseln, zerriss Ranken, verspritzte grünen Pflanzensaft … Das mittlere von Triceramons Hörnern bohrte sich in seine Brust und riss es endgültig aus der grünen Umklammerung. Als das Dinosaurierdigimon stehen blieb, war das letzte der Asuras auf seinem Horn aufgespießt. Rotes Blut lief über den feisten Wanst des Digimons. Die DigiRitter vollführten Luftsprünge. „Endlich“, meinte Kouki lächelnd, nein, lachend. Er klopfte Taneo auf die Schulter. „Gut gemacht, Alter.“ „Die meiste Arbeit haben die Digimon gemacht.“ „Trotzdem.“ Die anderen liefen lachend heran. Tageko und Fumiko fielen einander in die Arme, Renji und Kouki klatschten ein, Candlemon hoppelte heran, sich beschwerend, dass es zu wenig Aufmerksamkeit bekam, und Asuramon … regte sich plötzlich wieder. „Ihr kleinen Plagegeister …“ Diese Stimme hatten sie noch nie von ihm gehört, sie klang tief, aber menschlicher als seine übrigen. Das mittlere Gesicht schlug die Augen auf, die wütend funkelten. „Es lebt immer noch?“, rief Renji entsetzt. „Was müssen wir denn noch tun, damit es endlich vorbei ist?“, stöhnte Tageko. Asuramons Körper löste sich auf, bis auf das Gesicht, das zurück ins Zentrum des schwarzen Spinnennetzes flog. Kouki fragte sich unbewusst, ob das vielleicht eine Fähigkeit war, die es von LordMyotismon geklaut hatte. „So weit habt ihr es gebracht!“, fluchte das Digimon. „So viel ist von mir noch übrig! Ich hasse euch! Ich verfluche euch! Selbst der Tod ist zu schade für euch!“ „Dann gib doch auf“, sagte Renji großspurig. „Sieh dich an; es ist nur mehr ein Kopf von dir übrig!“ Asuramon kicherte. „Ein Kopf? Ich bin Asuramon mit den tausend Gesichtern! Ich dachte, ich könnte euch ganz normal erledigen, aber ich muss wohl erneut die Macht Apocalymons antasten. Zerrinnt, Zeit und Raum! Beugt euch, verdreht euch, knickt ein!“, befahl es herrisch – und plötzlich erschien sein Gesicht auf jedem einzelnen Knotenpunkt des schwarzen Chaosnetzes. Asuramon in hundertfacher Ausführung. „Was geht da vor?“, fragte Tageko scharf. „Ich glaube, ich weiß es“, murmelte Jagari. „Wurmlochtheorie oder so ähnlich. Es hat von Zeit und Raum geredet. Wenn Zeit und Raum stark genug gekrümmt werden, spiegelt sich quasi die Wirklichkeit … glaube ich. Ich hab mal so eine Theorie gelesen. Keine Ahnung, ob sie stimmt, aber ich kann es mir nur so erklären.“ „Hä? Was heißt das?“, fragte Renji. „Eins von den Gesichtern ist das echte, die anderen sind Spiegelbilder?“ „Ich fürchte, so einfach ist es nicht“, murmelte Jagari. „Ich könnte mir auch vorstellen, dass sie alle aus verschiedenen Zeitachsen kommen, gerade ein paar Sekunden auseinander, oder …“ Als er die ratlosen Blicke der anderen sah, schüttelte er den Kopf. „Einfach gesagt kann es auch sein, dass es sich wirklich gerade vervielfältigt hat, sozusagen.“ Asuramon lachte. Seine Stimme kam von überallher. „Schlauer Junge. Nun wisst ihr wenigstens, was euch getötet hat.“ Jedes der finsteren Gesichter öffnete weit den Mund, aus dem ein helles Strahlen kam. „Vorsicht“, rief Tageko noch, aber sie standen mitten zwischen den vielen Köpfen. Dann hagelten SkullScorpiomons glühende Stacheln heraus, aus jedem einzelnen Mund, eine wahre Salve aus mehreren Richtungen, ein sinnverwirrendes Kreuzfeuer, vor dem es kein Entrinnen gab. Kouki schloss geblendet die Augen, spürte, wie etwas seinen Kopf streifte, die Analyzer-Brille wurde fortgerissen, etwas bohrte sich schmerzend in seinen Fuß, der Boden unter ihm zerbröckelte weiter, und der massige Pflanzenkörper von Blossomon warf sich schützend über die DigiRitter, gefolgt von dem riesigen Brustkorb Parallelmons.   Als das rauschende Stakkato endlich verebbte, war es totenstill. Renji hustete qualvoll und zwang seine Augen auf. Alles tat ihm weh, aber immerhin schien er nicht schwer verletzt, auch wenn sowohl seine Kleidung als auch seine Haut schon deutlich bessere Tage gesehen hatten. Seine Schleimhäute juckten unerträglich und seine Augen brannten. Bis sich der Staub gelegt hatte, dauerte es noch viel länger, aber das gab ihm immerhin Zeit, sich zu orientieren. Sie lagen alle auf einem Haufen. Irgendein Schuh drückte Renji ins Gesicht; wohl der von Jagari. Ein Gewicht lag auf seinem Rücken; als er sich regte, wälzte sich stöhnend Fumiko von ihm herunter. Direkt neben ihm war Mushroomon gelandet; es war bewusstlos. Ein Grollen ertönte. Parallelmon, das halb über sie gebeugt kauerte, drehte sich zur Seite, ehe es kraftlos in sich zusammensackte. Hätte es einen Moment früher das Bewusstsein verloren, hätte es die DigiRitter wohl zermatscht. Hustend kamen nun auch die anderen auf die Beine. Sie waren Asuramons Attacke noch einmal entkommen, aber die Bilanz war ernüchternd. Ihre Digimon waren zu Salamon, Mushroomon und Candlemon zurückdigitiert; ein paar Meter weiter hatte der Lichthagel auch Triceramon erwischt und es wieder zu Elecmon werden lassen. Parallelmon war bewusstlos. Und Asuramons Gesichter starrten sie immer noch aus den Knotenpunkten dieses verfluchten schwarzen Netzes an … „Leute, seid ihr alle noch ganz?“, fragte Kouki. „Wir schon“, murmelte Fumiko bitter. „Mushroomon, kannst du mich hören?“ Tageko rüttelte ihren Partner. „Was jetzt? Was tun wir jetzt?“ Jagaris Stimme zitterte weinerlich. „Es ist nur mehr ein Digimon. Wenn wir es besiegen, haben wir gewonnen, und trotzdem … Es geht einfach nicht“, knurrte Taneo. „Scheiße“, fluchte Renji, um auch etwas zu sagen. „Lasst den Kopf nicht hängen, wir finden schon einen Ausweg“, sagte Candlemon und hüpfte motivierend auf und ab. Die anderen taten jedoch genau das: den Kopf hängen lassen. „Findet euch mit eurem Schicksal ab. Die Macht der Finsternis kann nicht so einfach von ein paar dahergelaufenen Menschen besiegt werden“, ertönte Asuramons neue Stimme aus Hunderten von Kehlen. „Klar kann sie das! Andere vor uns haben es auch geschafft!“, rief Kouki. „Richtig. Das waren andere“, erwiderte Asuramon abfällig. „Und nach diesem Tag ist das bedeutungslos. Dank der Macht von uns Asuras werden die Schutzdigimon nicht wieder erwachen. Wegen den Lichtsamen kann ich mein Chaosnetz vielleicht nicht über die gesamte DigiWelt ausbreiten – aber glaubt mir, ich verstehe es, mich zu rächen. Alles, was es nicht erreichen kann, wird bitter dafür büßen.“ „Verdammt!“ Jagari biss die Zähne zusammen. „Dabei waren wir so nah dran …“ „Nahe dran?“ Asuramons Lachen beschallte sie dröhnend und betäubend laut. „Ihr wart dem Sieg nie ferner.“ „Du verdammtes Biest!“, fluchte Renji. „Was müssen wir denn noch tun, um dich zu besiegen? Wir haben dich über’n Haufen geschossen, ein Riesenmonster hat dich in den Boden geprügelt, wir haben dich verdammt noch mal aufgespießt – was braucht es, damit du endlich erledigt bist?“ „Nichts“, erwiderte das Asura kühl. „Denn ihr könnt mich nicht besiegen. In diesem Netz aus Chaos regiere ich allein.“ „Dieses Scheiß-Netz, klar“, knurrte Renji und hieb wütend gegen einen der dunkelvioletten Stränge, die in der Nacht kaum noch auszumachen waren. Sein Faust glitt einfach durch das Licht hindurch, als wäre es genau das – Licht. Oder eben Finsternis. Renji hatte die schwarzen Flecken auf den Lichtsamen schon hässlich gefunden, aber das hier war eine ganz neue Dimension von Hässlichkeit. Als hätte sich der Ausschlag auf den Lichtern nun über diese Ebene ausgebreitet … Da kam Renji plötzlich eine Idee.   „Ihr seid von meinen Mitstreitern und mir lange genug auf den Tod vorbereitet worden, DigiRitter“, sagte Asuramon. „Es wird Zeit.“ Seine hundert Münder klappten wieder auf. Grünes Feuer züngelte daraus hervor, so viel, dass selbst der Himmel grün glühte. Wenn das Böse ein Gesicht hat, dachte Jagari, dann genau das hier. Eine schwarze Dämonenfratze mit glühenden Augen, feuerrotem Haar, und sie spie grünes Feuer und war überall. Etwas sauste heran; Tageko fühlte, wie eine plötzliche Bö ihr Haar zerzauste. Rasend schnell bewegte sich Thunderboltmon um die DigiRitter; das Einzige von ihnen, das offenbar noch kämpfen konnte. Die grünen Flamen wurden verweht, bildeten einen Strudel und verloren sich, kurz bevor sie nach den DigiRittern greifen konnten. Thunderboltmon wurde so langsam, dass man es wieder sehen konnte, dann sank es erschöpft in Taneos Arme. „Tut mir leid, Taneo … Ich kann nicht mehr …“ „Schon okay“, murmelte er und strich ihm über das Köpfchen. „Du warst toll. Und du hast uns wirklich geholfen.“ „Es tut mir leid“, wiederholte das Digimon piepsig. „Eure Zähigkeit muss legendär sein“, sagte Asuramon. „Wäre ich Karatenmon, würde ich dafür sorgen, dass man hinterher immerhin Jubellieder über eure Tapferkeit singt. Doch ich bin nicht Karatenmon. Ich bin Asuramon mit der Macht all meiner Mitstreiter, und ich hasse euch.“ Wieder öffnete es die Münder. Die DigiRitter duckten sich – alle, bis auf Renji. „Hey, Asuramon“, sagte er. „Was passiert eigentlich, wenn ich das hier mache?“   Die Idee war ihm ganz plötzlich gekommen, und er hielt sie selbst für hirnrissig. Wenn auch für ein klein wenig logisch. Aber hätte er die Wahl gehabt, hätte er es ohnehin nicht darauf angelegt. Tatsächlich wartete Asuramon mit seinem neuerlichen Angriff, schwieg aber. „Weißt du was?“, meinte Renji. „Ich versuch’s einfach, und dann wissen wir es alle.“ Er hielt sein DigiVice dicht zu dem Strang aus dunkler Energie. Und das DigiVice erstrahlte. Renjis Gesicht hellte sich auf. „Was … tust du da?“ Tageko und die anderen starrten ihn ungläubig an. Vielleicht, weil ausgerechnet er auf diese Idee gekommen war – oder sie wussten einfach nicht, was vor sich ging. Dabei war es simpel. Der Gedanke war ihm gekommen, als er sich an die Sache mit den Lichtsamen erinnert hatte. Oft genug hatte er Gennai oder die Asuras davon reden hören, dass sie die Lichtdinger in die Chaossaat hatten umwandeln wollen. Die Schwärze, die über sie gekrochen war, hatte sich ähnlich angefühlt wie in diesem Spinnennetz zu stehen – und auch das hier war irgendeine Chaosenergie oder so. Aber das Wichtigste war: Die Lichtsamen hatten sie mit der heiligen Kraft ihrer DigiVices gereinigt. Warum sollte es nun nicht ebenso funktionieren? Und das Wunder geschah. Der schwarzviolette Spinnenfaden verfärbte sich, begann in einem hellen Weiß zu leuchten. Das Licht wanderte über den Strang bis zum nächsten Knotenpunkt. Das Gesicht Asuramons, das darauf hockte, stieß ein Zischen aus und verschwand, und das Licht verteilte sich von dem Knoten ausgehend weiter im Netz. „Macht alle mit“, rief Renji. „Kommt schon! Sofort sprangen die DigiRitter auf, zückten ihre DigiVices. „Das lasst ihr schön bleiben!“, keifte Asuramon. Wieder kam Feuer aus den übrigen Mündern, rotes diesmal. Parallelmons Arm schlang sich um die DigiRitter, wehrte die meisten Attacken ab. Es war nur kurz ohnmächtig gewesen. Fumiko berührte es sanft, um ihm seine Dankbarkeit und ihre Bewunderung für sein Durchhaltevermögen mitzuteilen. „Wir müssen auch was tun!“, rief Elecmon. „Kaufen wir ihnen so viel Zeit wie möglich!“ Thunderboltmon warf seinen Körper auf die Flammen, die durch ihre Verteidigung kamen, Candlemon versprühte heißes Wachs, um ihre Richtung zu ändern. Auch Mushroomon und Salamon waren mittlerweile wieder zu sich gekommen. Mushroomon warf seine Pilze im Kreis, sodass die Staubwolken, die bei den Explosionen entstanden, Asuramons Sicht behinderten. Die DigiRitter konnten somit zwar auch kaum etwas sehen, aber das Licht wurde von jedem Strang des Netzes weitergeleitet, also konnten sie von hier aus weiter heilige Energie in die Fäden pumpen. Wiederholtes Gefluche und Geschrei kündigten an, dass sich Asuramons Gesichter aus den Knotenpunkten zurückzogen, die nicht mehr der Macht des Chaos unterstanden. Immer heller wurde es auf der Ebene. „Das ist dein Ende, Asuramon!“, schrie Renji. In einem gleißenden Lichtblitz wurde der Kampfplatz taghell erleuchtet. Alle wussten, was das bedeutete. Das Netz war vollständig gereinigt. „Jetzt hat dein Zeit-und-Raum-Beugen ein Ende!“, rief Jagari eifrig. „Tja, Pech gehabt, du konntest ja nicht ahnen, dass Renji mal eine Glanzminute hat“, grinste Kouki. „Unterschätze nie die DigiRitter“, fügte Taneo noch hinzu. „Du!“ Die Stimme kam diesmal aus einer bestimmten Richtung. In dem geradezu zauberhaft von Licht durchdrungenem Staubnebel wurde ein Schemen sichtbar – im nächsten Moment erkannte man Asuramons Gestalt. Es hatte irgendwie seinen Körper zurückbekommen – wahrscheinlich hatte das Ausharren in dem Netz seine Wunden geheilt. In der Hand hielt es mal wieder das Schwert mit dem pikförmigen Knauf. Es griff aus einem Winkel an, in dem Parallelmon seine schützende Hand nicht ausstrecken konnte … und sein Ziel war Renji. „Stirb, Mensch!“, fauchte der Anführer der Asuras. Renjis Herz pochte ihm bis zum Hals, als das Digimon näher kam … Aus dem leuchtenden Netz stieg etwas empor, etwas, das er schon oft gesehen hatte, etwas, das andeutete, dass es tatsächlich gereinigt war, dass die dunkle Energie in etwas Kraftvolles, Helfendes umgewandelt worden war … Er streckte die Hand aus und zerquetschte die Lichtblase zwischen den Fingern.   Eine Lichtsäule fuhr auf Renji hernieder, wie Kouki es noch nie gesehen hatte. „Renji!“ Candlemon warf sich Asuramon entgegen, und das Licht sprang auf es über wie ein Funken, der eine neue Digitation entfachte. Für den Dauer eines Herzschlags sah Kouki Meramon, dann Volcanomon … und dann hatte Asuramon Renji erreicht und holte mit dem Schwert aus, und die Klinge kreuzte sich mit dem Blatt einer gewaltigen Axt. Gebannt starrten die DigiRitter auf das neue Digimon, das sich ihren Augen bot. Selbst Renji glotzte so ungläubig, als würde es ihn von allen am meisten überraschen. Koukis Finger tasteten nach der Analyzer-Brille auf seiner Stirn, berührten aber nur geborstenes Metall und scharfe, wackelige Scherben. Asuramons letzte Attacke musste sie erwischt haben – aber selbst ohne den Analyzer begriff Kouki, was geschehen war. Candlemon hatte das getan, was LordMyotismon immer gewollt und Persiamon als Erstes geschafft hatte: Es hatte das Mega-Level erreicht. Die Panzerung, die Volcanomon buckelig hatte erscheinen lassen, war verschwunden und gab den Blick auf einen muskelbepackten, grünhäutigen Oberkörper frei, der von zahlreichen Metallteilen gepierct war. Seine Hosen bestanden aus dunklem Leder, eine fetzige, rote Frisur stand schräg vom Kopf ab, und vor dem Gesicht prangte eine metallene Maske. Asuramons Schwert und die riesige, stählerne Axt zitterten knapp davor. „Gestatten? Boltmon“, sagte das Digimon. Asuramon grunzte zornig. Boltmon stieß es regelrecht weg und das Asura stolperte beinahe über seine eigenen Füße. Lässig wechselte Boltmon die Axt von einer Hand in die andere. „Du bist immer noch kein Gegner für mich“, knurrte Asuramon, doch nun schien seine schrille Stimme wieder die Oberhand gewonnen zu haben, und die tat der Glaubwürdigkeit seiner Worte Abbruch. Die beiden Digimon sprangen aufeinander zu, kreuzten erneut die Klingen, sodass Funken sprühten. „Ha! Bist du sicher?“, fragte Boltmon, und man hörte deutlich Candlemons schalkhafte Natur heraus. Wieder versuchten beide Digimon das jeweils andere fortzudrücken, doch Asuramon verlor beständig an Boden. „Du redest ja dauernd von Chaos und dass es die DigiWelt beherrschen soll. Ich will dir mal was sagen: Chaos ist das, was immer in Renjis Zimmer herrscht, und das ist viel schwerer zu bereinigen als das komische Netz hier oder die Lichtsamen!“ Asuramon stieß ein wortloses Wutgeheul aus. Boltmon schubste es von sich, schlug erneut zu und diesmal schmetterte seine Axt ihm das Schwert aus der Hand. Es bohrte sich irgendwo in den porösen Boden. Asuramon fiel wenig elegant auf seine vier Buchstaben. „Mach es fertig, Boltmon!“, schrie Jagari. „Einmal noch! Einen ordentlichen Treffer, und wir haben endlich gewonnen!“ Tageko hatte bang die Hände ineinander verkrampft, als würde sie beten. „Zeig’s ihm!“, brüllte Kouki mit allem, was er hatte. „Los, Boltmon!“, kommandierte Renji. In seinen Ruf hinein stieß Asuramon eine Verwünschung aus, breitete die Arme aus, bereitete weiße Nadeln, grünes und rotes Feuer in seinen Mündern vor und ließ Flammenzauberstäbe in seinen vier Händen erscheinen. Boltmon packte seine Axt beidhändig und schleuderte sie mit voller Kraft. Die Waffe rotierte so schnell, dass man sie nur als eisgraue Scheibe sah, und bohrte sich mit solcher Wucht durch Asuramons Körper, dass dieser senkrecht gespalten wurde. Mit einem lauten, trockenen Tschack grub sich die Axt hinter ihm in den Felsenboden, und das alles in einem Sekundenbruchteil. Asuramons ohnmächtiges Wutgeheul wurde so schrill, dass es in den Ohren wehtat, aber es schien keine Tricks mehr in petto zu haben. Als sein Körper von den Wundrändern aus begann, sich in Daten aufzulösen, strömten so viele funkelnde Splitter himmelwärts, dass wohl auch die der anderen Asuras darunter sein mussten. Diesmal jedoch schlugen sie keine bestimmte Richtung ein, sondern vergingen gleichmäßig am samtschwarzen Himmel, als wären es Tausende und Abertausende neuer Sterne. Die Freunde sahen ihnen seltsam schweigend hinterher, und erst als der letzte verglommen war, wagten sie es, ein ausgelassenes Jubelgeschrei anzustimmen. Es war endlich vorbei. Sie hatten gewonnen. In ihrer Freude packten sich die DigiRitter an den Schultern und sprangen im Kreis auf und ab, schrien zusammenhanglose Sätze und lachten wie schon lange nicht mehr. „Und was ist mit mir?“, fragte Kyaromon, zu dem Boltmon wieder geworden war. Offenbar hatte die Digitation sehr viel Energie verbraucht. „Der Held der Stunde bin ja wohl ich!“ „Klar“, erklärte Renji grinsend. „Und so, wie ich das verstanden habe, räumst du künftig das Chaos in meinem Zimmer auf, oder?“ Kyaromon fauchte empört, die Freunde lachten. Dann umkreisten die Digimon das kleine Meerschweinchen und überschütteten es mit Lob und Bewunderung, und bald hüpften alle, die auf der staubigen, vom Kampf zerrütteten Ebene waren, fröhlich im Kreis und bejubelten die neugewonnene Freiheit der DigiWelt. Epilog: Abschied ---------------- Sie überbrachten als Erstes den Digimon im nahen Dorf die frohe Botschaft. Mitten in der Nacht bereiteten die Digimon einen Festschmaus vor. Sie wollten unbedingt noch einmal ihre großen Helden bekochen – und wenn das letzte Fest schon großartig gewesen war, würde das hier es noch einmal übertreffen. Die DigiRitter bekamen nicht viel von den Vorbereitungen mit. Sie erhielten Zimmer im Rathaus des Dorfes und schliefen vor Erschöpfung fast sofort ein. Der Morgen des ersten Juli brach an, ohne dass sie es bemerkten – es dauerte bis Mittag, bis sie alle wieder wach und ausgeruht waren. Kyaromon war wieder zu Candlemon digitiert und der erklärte Held der Partner-Digimon; die DigiRitter hatten wenig Zeit, sich untereinander zu beglückwünschen, da ständig andere Digimon um sie herum schwärmten, ihnen von Herzen dankten und sie mit Geschenken überhäuften. Dann wurde geschmaust, bis jedem von ihnen schlecht war, und währenddessen schickten die Dorfbewohner leichtfüßige Peckmon aus, die die frohe Kunde überall in der DigiWelt verbreiten sollten. Obwohl der Tag ein Montag war, kosteten die DigiRitter ihren Sieg voll aus. Das Fest dauerte bis in den späten Nachmittag hinein, und irgendwann kamen sogar noch neue Digimon hinzu; Piximon und Parrotmon und Aquilamon und Fanbeemon und andere geflügelte Wesen, die so schnell gekommen waren, wie ihre Schwingen sie trugen. Auch sie wollten den DigiRittern ihre Aufwartung machen, einige brachten auch Geschenke, Essen und sogar Sake und das Fest dauerte an. Eines der Piximon überbrachte schließlich eine Nachricht von Gennai. Er wollte die DigiRitter sehen und schlug ihnen ein Treffen etwas südlich des Dorfes vor. Als sie davon hörten, waren sie zunächst erfreut, dass er sich nach Asuramons Ableben wohl selbst hatte befreien können. Dann jedoch stellte Jagari die Frage, die ihnen allen schon durch den Kopf gegangen war. „Was meint ihr, wie geht es jetzt weiter?“ Renji schnappte sich eine Zitrusfrucht aus einer Schale, biss hinein und verzog das Gesicht. „Was wohl? Gennai wird uns gratulieren und uns vielleicht auch allerhand unnützes Zeug schenken.“ „Und dann?“ Renji schwieg, legte die Frucht auf den Tisch vor sich. „Die DigiRitter vor uns haben ihre Aufgabe damals auch erfüllt“, murmelte Taneo. „Und jetzt sind sie wieder in der Realen Welt. Diesmal wurden wir auserwählt. Die alten wurden nicht mehr gebraucht.“ „So pessimistisch müssen wir das nicht sehen“, meinte Kouki. „Die Asuras haben die Macht der Dunkelheit verbreitet. Es war dieselbe Macht, die auch die Generationen vor uns bekämpft haben.“ „Ich verstehe, was du meinst“, sagte Tageko. „Die Macht der Dunkelheit lässt sich immer nur aufhalten, nicht besiegen.“ „Jedenfalls sieht es so aus, nicht? Und das heißt, dass es irgendwann wieder böse Digimon gibt. Mit anderen Worten, jemand muss sie bekämpfen.“ „Und am besten dafür geeignet sind eindeutig wir“, stellte Taneo fest. „Wir haben uns schon einen Namen gemacht. Unsere Digimon können auf wirklich mächtige Stufen digitieren.“ „Aber wollt ihr ewig gegen das Böse kämpfen wie Superhelden im Fernsehen?“, fragte Tageko stirnrunzelnd. „Ich nämlich nicht.“ „Hm.“ Renji verschränkte die Arme und starrte in den Himmel hinauf. „Also von mir aus müssen wir nicht wieder von einem Ende der DigiWelt zum anderen hetzen und eine Schnitzeljagd veranstalten, bei der wir umkommen könnten. Ich meine, ja, wir haben jetzt zwar was Cooles zu erzählen, aber denkt ihr, uns glaubt jemand?“ „Ich wäre auch zufrieden mit einer ruhigen DigiWelt“, sagte Jagari. „Solange wir sie noch richtig ausnützen können, heißt das.“ „Oh ja.“ Kouki grinste. „Ich will unbedingt nochmal zu diesem Strand zurück. Wäre echt ein angenehmer Urlaubstag. Oder wir könnten ganz gemütlich mal in diesem Jahreszeiten-Wald campen, und wenn uns langweilig ist, gehen wir ein paar hundert Meter weiter und haben eine andere Klimazone.“ Die anderen lachten bei dem Gedanken. Nach und nach brachten sie Vorschläge vor, was man in einer geretteten DigiWelt unternehmen könnte – und sie hätten sich wohl nicht so darauf versteift, hätte nicht die Befürchtung an ihnen allen genagt, ihnen könnte eben dieser Spaß verwehrt werden.   Sie erreichten den Treffpunkt, als die Sonne im Begriff war, unterzugehen. Kouki und Jagari hatten schon gescherzt, wie sie wohl morgen in der Schule erklären würden, warum sie heute gefehlt hatten. Renji bot Kouki tausend Yen, wenn dieser sagte: „Tut mir leid, ich musste die Welt retten.“ Gennai wartete schon auf sie, eine einsame Kapuzengestalt inmitten einer wunderschönen Blumenwiese. Es war, als wollte selbst dieser Ort zeigen, dass sämtliche Gefahren nun ausgestanden waren, und hätte deshalb sein schönstes Kleid angelegt. Als sie näher traten, blieb Parallelmon plötzlich stehen. „Was hast du?“, fragte Fumiko, legte die Hand auf sein Bein und verstand. Es fürchtete sich davor, tatsächlich Abschied nehmen zu müssen. Es war wie eine Vorahnung, die immer greifbarer wurde, je näher sie Gennai kamen, demjenigen, der ihnen damals ihre Mission gegeben hatte. „Keine Sorge.“ Fumiko lehnte die Stirn gegen den kühlen Panzer ihres Digimons. „Hast du vergessen, dass es keine Grenzen für uns beide gibt? Wir werden immer zusammen sein. Wir haben immer noch einiges an gemeinsamer Zeit aufzuholen.“ Parallelmon stimmte schweigend zu. Dennoch rührte es sich nicht von der Stelle. Gennai verharrte immer noch erwartungsvoll. Schließlich stellten sich die DigiRitter und ihre übrigen Partner im Kreis um ihn herum auf. Sie stimmten angespannt in sein Schweigen ein. „Sie sind diesmal der echte, oder?“, platzte Jagari dann heraus. Gennai nickte. „Ich habe geahnt, dass Asuramon euch täuschen wird, doch ich konnte nichts mehr tun, um es aufzuhalten. Ich bin froh, dass ihr seine Maskerade durchschauen konntet.“ „Das wäre zu viel gesagt“, murmelte Tageko. „Wir haben es einfach besiegt, nachdem es sich uns offenbart hat.“ „Das habt ihr. Ich gratuliere euch – dank euch ist die DigiWelt wieder ein sicherer Ort.“ Gennai senkte den Kopf und schien dann auf eine Erwiderung zu warten. „Das heißt, es ist wirklich vorbei?“, fragte Jagari. „Ja. Ihr habt eure Sache sehr gut gemacht.“ Gennais kühle Augen musterten jeden von ihnen, und Fumiko meinte, Anerkennung darin zu lesen. „Die Asuras sind besiegt, und es wird nicht lange dauern, bis die Vier Souveränen ihre Kraft wiedergewonnen haben.“ Sein Blick veränderte sich kaum merklich. „Aber das heißt auch, dass ihr eure Aufgabe in der DigiWelt erfüllt habt.“ Es war also genau, wie sie befürchtet hatten. Unsicher blickten die DigiRitter einander an. Gennai machte wieder eine Pause. „So ein schleppendes Gespräch hab ich noch nie erlebt“, flüsterte Fumiko Tageko zu, die neben ihr stand. „Gennai erinnert mich irgendwie an einen Jungen, der mit seiner Freundin Schluss machen und es möglichst lange hinauszögern will.“ Beide lachten, aber im nächsten Moment dachte Fumiko an Kouki und verstummte. Das schlechte Gefühl kehrte zurück. Die anderen schwiegen immer noch. War es in Ordnung, so lange zu schweigen, bis es unerträglich wurde? „Heißt das, dass wir zurückkehren müssen?“, stellte Kouki die alles entscheidende Frage. So war er. Direkt und ohne Hintergedanken. Augen zu und durch. Gennai zögerte schon wieder, als versuchte er es ihnen schonend beizubringen. „Das heißt es. Ihr müsst in eure eigene Welt zurück.“   Jagari fühlte sich, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen. Sicher, sie waren während ihres Abenteuers immer wieder zurückgegangen, aber er hatte das Gefühl, dass Gennai damit nicht meinte, dass sie erst mal zur Schule gehen und morgen wieder in die DigiWelt reisen sollten. Auch über die Mienen der anderen huschten Schatten. Die Blicke der Digimon tauschte Trauer aus. „Ich weiß, es ist schwer, euch zu trennen, aber es ist notwendig“, sagte Gennai. „Aber wir sind noch nicht ganz fertig“, sprach Taneo das Thema an, das sie vorhin schon diskutiert hatten. „Die Macht der Dunkelheit gibt es immer noch. Sie haben es selbst einmal gesagt, Gennai: Wo Licht ist, ist auch Schatten. Sollten wir nicht hier bleiben und die Schatten im Zaum halten?“ Gennais Blick war stoisch. Jagari wusste bereits, dass ihn nichts von seiner Meinung abbringen konnte – am besten stellte er sich also schon mal auf einen Abschied ein. Aber es war trotzdem so unfassbar traurig! „Die Macht der Dunkelheit gibt es noch“, räumte der Kapuzenmann ein, „und sie wird nie verschwinden, das stimmt. Aber sie ist zerbrochen, und ohne Anführer werden die Splitter keine Bedrohung für die DigiWelt darstellen.“ „Und wenn doch, dann sucht ihr euch neue DigiRitter, oder?“ Jagaris Worte rutschten ihm einfach so heraus. Es war einfach nicht fair! So wie es vor uns andere gegeben hat, die jetzt schon erwachsen sind. Ist das nicht die Regel? Dass kein Erwachsener die DigiWelt betreten darf?“ Etwas in der Art hatte Gennai einmal angedeutet. Es sah aus, als würde der Mann ob dieser störrischen Kinder seufzen wollen. Er sah in den Himmel, der sich langsam rot färbte – so als würde er mit jemandem kommunizieren, der von dort oben zusah. „Die Regeln der DigiWelt sind schon dabei, sich selbst umzuschreiben. Vor viereinhalb Jahren wäre schon einmal fast ein Erwachsener ein DigiRitter geworden. Ich denke, in der Zukunft wird es auch Erwachsenen möglich sein, in die DigiWelt zu reisen. Das digitale Leben wird in der realen Welt immer präsenter. Vielleicht verschmelzen die Welten irgendwann zu einer, vielleicht findet man dann an allen Ecken Tore zur DigiWelt. Vielleicht kommt einmal die Zeit, in der jeder Mensch ein Digimon hat. Hofft darauf und wartet auf diesen Tag.“ Auch das war nicht unbedingt, was Jagari oder die anderen hatten hören wollen, doch die Absolution würde nicht kommen. Als wäre das erneute Schweigen der Auslöser gewesen, schien die Luft vor Gennai plötzlich zu vibrieren, und eine Säule aus sanftem Licht wuchs in die Höhe. Obwohl Jagari so etwas noch nie gesehen hatte, war er sicher, dass es sich um ein Weltentor handelte – das letzte, das er je betreten würde. „Es wird jetzt Zeit“, sagte Gennai. Fumiko schnaubte. „Das ist ja eine sehr optimistische Prophezeiung“, sagte sie trocken. „Aber wissen Sie was? Parallelmon kann durch die Welten reisen, einfach so! Es wird mich besuchen kommen, wann immer es will.“ „Aber glaubst du, dass es in der Realen Welt auf Dauer leben kann? Ich werde es ihm nicht verbieten können, aber um euer beider Willen denke ich, dass es das nicht tun sollte.“ Immer noch blieb Gennai geduldig. Für ihn waren sie wohl wirklich nur störrische Kinder, die sich der harten Wahrheit nicht stellen wollten. Jagari sah auf Elecmon hinab, das wiederum traurig zu ihm hochblickte. Schließlich ging er in die Hocke. „Mach’s gut“, flüsterte er. Ein Knoten hatte sich in seinem Hals gebildet. „Ich werde dich nie vergessen, Elecmon.“ „Ich werde dich auch nie vergessen, Jagari.“ Die Worte waren schwer zu verstehen, so sehr zerflossen sie in seinem Schluchzen. Elecmon sprang ihm in die Arme. Jagari drückte sein Digimon fest an sich. All die Abenteuer, die sie erlebt hatten … Wie er anfangs geglaubt hatte, es wäre einfach eine Simulation, dann die ganzen Ängste, die er durchgestanden hatte, und wie wunderbar das alles doch in Wahrheit gewesen war … All das ging ihm wieder durch den Kopf, als die Tränen über seine Wangen liefen.   Nun war es also vorbei. Tageko legte Mushroomon die Hand auf die Pilzkappe. „Es sieht so aus, als wäre das ein Abschied“, sagte sie sanft. Mushroomon nickte. „Ich werde dich vermissen“, sagte es kleinlaut. „Ich werde dich auch vermissen. Ich hab dich echt lieb gewonnen.“ „Ich hab dich auch lieb!“, platzte Mushroomon heraus. Das sonst so schüchterne Digimon schien plötzlich genau zu wissen, was es sagen wollte. „Du bist ein toller Mensch, Tageko! Ich weiß es! Ich kenne noch nicht viele Menschen, aber ich weiß es einfach! Du bist fürsorglich, verantwortungsbewusst und achtest immer auf die anderen! Du bist nett und stark und ich bin stolz darauf, dein Partner gewesen zu sein!“ Verlegen senkte es den Blick. „Das … wollte ich dir nur einmal sagen, am Ende.“ „Mushroomon“, lachte Tageko leise und schmiegte sich an das Digimon.   Kouki kraulte Salamon, das noch auf seinem Kopf saß, hinter den Ohren. Er fühlte, dass er etwas sagen musste, aber ihm fiel nichts ein. So genossen die beiden einfach stumm die gegenseitige Nähe, die ihnen noch vergönnt war. „Du musst dir eine Ausrede für deine Schwestern einfallen lassen, warum ich nicht mehr da bin“, meinte es. „Stimmt. Am liebsten wäre es mir ja, wenn ich dich einfach mitnehmen könnte.“ „Mir auch. Aber du hast Gennai gehört. Das geht nicht. Die Digimon-Götter erwachen wieder … Ich weiß nicht, ob sie das erlauben würden.“ „Och, wir haben ja einiges geleistet. Da können wir uns auch einiges erlauben“, grinste Kouki, wurde dann aber sofort wieder ernst. „Du wirst mir fehlen, Salamon. Du bist echt ein toller Freund. Wenn ich daran denke, wie ich dich am Anfang behandelt habe … Ich könnte mich ohrfeigen.“ „Ist doch längst vergeben und vergessen.“ Es kletterte über seine Schulter in seine Arme.   „Wir sehen uns wieder, stimmt’s, Taneo?“, fragte Thunderboltmon mit piepsender Stimme. Als er nicht antwortete, wiederholte es: „Stimmt’s, Taneo?“ „Stimmt“, murmelte er, griff es aus der Luft und drückte es an seine Brust. Die Kugel fühlte sich hart und kühl an – und doch brachte er diesem Digimon so viel Sympathie entgegen wie sonst niemandem. „Es ist nicht gerecht“, sagte er. „Ich weiß. Aber was ist schon gerecht? Wir müssen eben Opfer bringen. Verglichen mit dem, was wir erreicht haben, ist das eine Kleinigkeit, meinst du nicht?“ „Das ist es ja, wir haben so viel erreicht – warum ist es uns nicht vergönnt, hier zu bleiben? Gemeinsam können wir beide dich bis auf das Ultra-Level digitieren lassen – sollen wir das einfach wegschmeißen? Was, wenn die DigiWelt uns wirklich wieder braucht?“ „Wenn wieder Gefahr droht, werde ich das erste Digimon sein, das dich und die anderen suchen geht“, versprach Thunderboltmon, und sein niedliches Gesicht zeugte von Entschlossenheit. „Wir holen euch wieder her und dann kämpfen wir wieder gemeinsam!“ Taneo war nicht überzeugt. Wenn wieder Gefahr drohte, wären sie am Ende wirklich zu alt, um in die DigiWelt zu kommen. Und Gennai würde einfach neue DigiRitter erwählen – und ihnen ihre Errungenschaften nach getaner Arbeit wieder entreißen. War das ihr Schicksal? „Ich bin immer bei dir“, flüsterte Thunderboltmon. „Da drin, wo dein Herz schlägt. Und in deinem Kopf. Ich habe in deinem Schulbuch gelesen, dass die Nervenzellen in deinem Gehirn elektrische Impulse durch deinen Körper schicken. Ich werde einer von diesen elektrischen Impulsen sein, und ich werde der schnellste von allen sein und immer richtig ankommen!“ Taneo lachte leise und streichelte über Thunderboltmons glattes Köpfchen. „Komiker.“ Er sah, wie sich sein Gesicht in dem goldenen Blitz seines Digimons spiegelte. Die Narbe quer über seine Nase war gut zu erkennen. Er seufzte. „Wir haben wirklich eine Menge erlebt. Danke, dass du in mein Leben gekommen bist, Thunderboltmon.“   „Tja, ich denke, das war’s dann wirklich“, meinte Renji achselzuckend und sah in die Runde. Seine Freunde waren alle mit ihren jeweiligen Partnern beschäftigt. „Bist du gar nicht traurig, Renji?“, fragte Candlemon. Renji schwieg. „Ha! Du bist traurig!“, rief sein Digimon. „Gib’s zu! Leugnen ist zwecklos!“ „Wer sagt, dass ich’s leugne?“, erwiderte er. „Alter, ich bin scheißtraurig! Komm her, du Glimmstängel!“ Er ging vor Candlemon in die Knie und umarmte es. „Aber wenn ich jetzt voller Wachs werde, kannst du was erleben!“ „Du kommst mich besuchen, oder?“, fragte es. „Wenn du auch mal zu mir kommst. Wenn ich kein Meerschweinchen mehr im Haus hab, muss ich mir sonst ein richtiges Haustier zulegen. Ich hätte dich gern Aiko vorgestellt, Mädchen fahren voll auf süße Tierchen ab.“ „Dann wirst du dieses Mal ohne süße Tierchen zurechtkommen müssen“, feixte Candlemon. „Klar. Wirst schon sehen.“ Renji schaffte es, sich einzureden, dass seine brennenden Augen davon herrührten, dass er Candlemons Flamme warm auf seinem Gesicht spürte.   Fumiko wandte sich zu Parallelmon um, das immer noch am Rand der Blumenwiese stand und wartete. Zögerlich besah sie den Abschied der anderen. Es ist nicht fair. Wir haben uns viel kürzer gehabt als sie … Nein, es war besser, sie freute sich für ihre Freunde. Dass es ihnen vergönnt gewesen war, von Anfang an mit ihren Partnern zusammen zu kämpfen. Und für sich selbst, dass sie nicht vergeblich gewartet hatte. Etwas anderes als sich zu freuen blieb ihr nicht übrig, sagte sie sich. Schließlich gab sie sich einen Ruck und stapfte durch die hellen, bunten Blumen auf ihr Digimon zu. Lächelnd legte sie ihre Hand auf Parallelmons Beinpanzer. Es war nicht nötig, dass sie etwas sagte, und das war vielleicht das größte Geschenk, das Parallelmon ihr machen konnte. Alles, was sie dachte und fühlte, das spürte Parallelmon und umgekehrt.   „Beeilt euch. Das Tor wird sich bald schließen, und ich weiß nicht, ob es sich von hier aus wieder öffnen lässt“, sagte Gennai schließlich und verkündete damit das Ende des letzten bisschens Zeit, das DigiRitter und Digimon gemeinsam verbringen konnten. Zwar könnte Parallelmon sie auch wieder in ihre Welt bringen, aber sie wussten, dass es nun wirklich an der Zeit war, zu gehen. Kouki erdrückte Salamon fast mit seiner letzten Umarmung, setzte es behutsam ab und trat auf die Lichtsäule zu. Er fasste mit dem Finger hinein, der daraufhin zuckte und flimmerte, dann stellte er sich ganz in das Licht. Noch einmal drehte er sich um und grinste seine Freunde an. Der Spruch „Wie sehen uns auf der anderen Seite“ schien ihm auf den Lippen zu liegen, aber er verkniff ihn sich. Sein Körper löste sich in bunte Fäden auf. Er war wieder in der Realen Welt. Tageko strich ein letztes Mal über Mushroomons Kappe, ehe sie ihm folgte. Die Älteste der DigiRitter wirkte erst, als wollte sie gar nicht zurücksehen, aber in dem Lichtkanal schließlich blickte auch sie über die Schulter und zwinkerte ihrem Digimon zu, das ihr hinterher winkte. Jagari, noch mit tränennassem Gesicht, ließ sich von Elecmon bis knapp vor die Säule begleiten, verabschiedete sich nochmal inbrünstig von ihm und sagte dann plötzlich: „Danke … euch allen … dass ihr meine Freunde wart.“ „Was heißt wart? So übel bist du nicht, dass wir dir jetzt die Freundschaft aufkündigen“, erklärte Renji grinsend. Jagari lächelte glücklich, was in seinem geröteten Gesicht seltsam aussah. Dann trat auch er durch das Tor. „Also dann.“ Fumiko nickte den anderen zu, dann noch einmal Parallelmon, das das Nicken mit seinem gewaltigen Kopf erwiderte. Dann straffte sie die Schultern, schüttelte ihr Haar zurecht und trat entschlossen in die Lichtsäule. „Wollen wir?“, fragte Renji. „Geh du vor“, murmelte Taneo. Sie beide waren die Letzten. Renji tat, als würde er Candlemons Flamme tätscheln und sich dabei die Hand verbrennen. Candlemon bog sich vor Lachen. Dann tauchte auch Renji in die Lichtsäule ein. Sein Körper begann sich zu zerfitzeln, als er noch eine Geste mit Daumen und kleinem Finger an seinem Ohr machte. „Ich ruf dich an, Taneo. Lass uns mal zusammen irgendwo abhängen.“ Dann hatte er sich aufgelöst und Taneo stand als Einziger der DigiRitter noch auf der Blumenwiese. Thunderboltmon schwebte schweigend neben ihm, als müsste es sich seinen Anblick noch einmal genau einprägen. Taneo selbst konnte nur auf die Blumen zu seinen Füßen starren. So hübsch waren sie, und daheim erwarteten ihn harter, poröser Asphalt und tausende Füße, die darauf herumtrampelten. Ehe er sich’s versah, dachte er an Shuichi, der mehr als einmal auf dem harten Asphalt der Realität gestolpert und hingefallen war. Und Taneo hatte ihm nicht helfen können, nicht wirklich. Auch wenn Renji nun Taneos Freund war; andere würden auf Shuichi herumhacken, und seine Schwester hatte auch ein tragisches, menschliches Schicksal ereilt. Sie war gestorben, und sie war nur eines der vielen Leben, die in der Menschenwelt zertrampelt wurden, ohne dass sich jemand darum scherte. Es war nicht so, als könnte ein Einzelner etwas bewirken, den Lauf der Dinge irgendwie beeinflussen, es sei denn, man war ein wahnsinniger Diktator eines Militärstaats. Und solche Leute hatten sicher ganz andere Ziele. In eine Welt mit solchen Machtverhältnissen, solcher Gnadenlosigkeit zurückzukehren, brauchte eine stärkere Überwindung, als er gedacht hatte. Sich wieder einzufügen in die Gesellschaft, mit den Abenteuern in der DigiWelt als schönem Traum, an den er sich erinnern konnte, der ihm den Rücken stärkte … Ja, das musste wohl genügen. Es war mehr, als die meisten anderen, unbedeutenden Seelen in der Realen Welt von sich behaupten konnten. „Komm, Taneo“, riss ihn Gennais ruhige Stimme aus seinen Gedanken. „Geh in deine Welt zurück. Du warst lang genug davon getrennt.“ Taneo schluckte. Ja, er hatte recht. Menschen gehörten nicht in die DigiWelt. Sie waren Erlöser aus einer anderen Dimension, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Er fragte sich nur, warum es so sein musste. Wer machte nur all diese Regeln? Ein Hauch von Bitterkeit blieb, als er sich in Bewegung setzte. Seine Beine fühlten sich unglaublich schwer an. Der erste Schritt brachte ihn näher an das Tor zu seiner Welt, zu seiner Heimat, dorthin, wo er hingehörte. Er musste diesen Weg gehen. Es war seine Bestimmung, und viele DigiRitter hatten vor ihm dasselbe getan. Es musste sein. Den zweiten Schritt begann er, doch dann setzte er den Fuß wieder ab. Seine Augen fingen Gennais Blick. „Warum?“ Digimon 00001100 – ENDE Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)