Wie man es noch sagen kann von Yosephia ([Romance OS-Sammlung/ Prompt-Liste]) ================================================================================ 98. “Take a deep breath.” (Lysui) --------------------------------- Mit zitternden Fingern blätterte Hisui zum tausendsten Mal durch ihre Notizen und stierte dabei auf die Buchstaben, ohne noch einen Sinn hinter ihnen zu erkennen. Wochen lang hatte sie sich auf den heutigen Tag vorbereitet, hatte ihre Notizen immer wieder überarbeitet, hatte die Literatur, auf die sie sich für ihre Examensarbeit gestützt hatte, noch mal vollständig gelesen, hatte sich sogar noch handbeschriebene Lernkarten für unterwegs angelegt… aber jetzt war ihr Kopf wie leer gefegt. Ausgerechnet heute, am Tag ihrer finalen Prüfung. Nur mit Mühe konnte Hisui sich davon abhalten, sich die Haare zu raufen. Damit würde sie sich nur den strengen Knoten ruinieren, den sie vor einer Stunde nach mehreren verzweifelten Versuchen endlich hinbekommen hatte. Und jetzt besaß sie erst recht keine Nerven mehr fürs Frisieren! Vielleicht hätte sie sich an ihrer alten Schul- und nun Brieffreundin Lucy ein Beispiel nehmen sollen. Die hatte mit der Familientradition gebrochen und anstelle von BWL Kunst studiert – und damit einen Riesenkrach mit ihren Vater in Kauf genommen, der sie eigentlich als Nachfolgerin in seiner Firma hatte haben wollen. Aber Hisui hatte sich von den Bekundungen ihres Vaters, sie sei nicht nur genauso schön, sondern auch genauso klug wie ihre Mutter, dazu anspornen lassen, in die Fußstapfen der Verstorbenen zu treten und Jura zu studieren. Das schien ihr einfach ein guter Weg zu sein, um ihren Vater mit seiner Arbeit bei der Stiftung später unterstützen zu können. Und es hatte trotz der unmenschlich hohen Ansprüche auch Spaß gemacht, aber hier und jetzt wünschte Hisui sich, sie hätte sich anders entschieden. Was war, wenn sie hier versagte? Dann konnte sie ihrem Vater und der Stiftung nicht helfen – einer Stiftung, die so vielen Menschen Jahr für Jahr half. Schon als Kleinkind war Hisui immer mitgekommen, wenn ihr Vater die Einrichtungen der Stiftung besucht hatte. Die Obdachlosenheime, die Tafeln, die Jugendvereine, die Nachhilfeschulen, die Beratungszentren. Hisui war mit dem Wunsch aufgewachsen, ihren Beitrag dafür zu leisten, damit all das fortbestehen und wachsen konnte, damit noch mehr Menschen geholfen werden konnte. Dafür war sie nach der Grundschule an ein Elitegymnasium mit wirtschaftlichem Schwerpunkt gegangen. Dafür war sie nach ihrem bravourösen Schulabschluss nach Margaret gezogen, der Stadt mit der besten Juristischen Fakultät des gesamten Landes, die sogar ein eigenes Institut für Wirtschaftsrecht besaß. Natürlich, ihr Vater hatte immer gesagt, jeder konnte einen Beitrag leisten, egal was er gelernt haben mochte, aber Hisui hatte immer daran gedacht, was sie tun konnte, um so gut wie möglich darauf vorbereitet zu sein, den Familienreichtum und die Stiftung zu übernehmen, wenn ihr Vater in den wohlverdienten Ruhestand ging. Denn Darton, die rechte Hand ihres Vaters, würde wohl noch vor diesem in Rente gehen, und Arkadios kümmerte sich eher um die Arbeiten, bei denen man anpacken musste – der unmittelbare Aufbau der Zentren, die Rekrutierung von geeigneten Leuten für eben jene – , das war sein Spezialgebiet, mit der Bürokratie hatte er nicht so viel Erfahrung. Also war es Hisuis Aufgabe, diese Lücke zu schließen – oder besser: sie gar nicht erst aufkommen zu lassen. Ein wohlbekanntes Händepaar tauchte in Hisuis Blickfeld auf und ergriff ihre Hände, um sie behutsam von den Notizen zu lösen. Zaghaft hob Hisui den Blick und erkannte Lyon. Auf seinen Lippen lag ein verständnisvolles Lächeln. „Atme tief durch“, sagte er leise und rieb mit seinen Daumen sanft über Hisuis Handrücken. Er hatte gut Reden. Immerhin hatte er seine Prüfung schon letztes Jahr abgelegt und war jetzt Juniorpartner in einer renommierten Kanzlei für Familienrecht. Er hatte das alles schon hinter sich und – so streng Professor Obaba als Prüferin auch sicherlich gewesen war, sie konnte unmöglich so schlimm wie Professor Michello gewesen sein, der es darauf anlegte, die Prüflinge zu schikanieren. Hisui wünschte sich, sie hätte eine Wahl gehabt, aber sie hatte ihre Prüfung nun einmal in Wirtschaftsrecht ablegen wollen und da war Professor Michello der zuständige Prüfer. Ihr mussten die Gedanken anzusehen sein, denn der Druck auf ihren Handrücken wurde einen Moment lang stärker, ehe die kreisenden Streichbewegungen wieder von vorn begannen. Eine sanfte, wortlose Ermahnung, mehr nicht. Hisui seufzte leise und versuchte sich dann an einem wackeligen Lächeln. „Ich bin furchtbar nervös. Ich habe so hart für all das hier gearbeitet, aber was ist, wenn Professor Michello mich gegen die Wand redet?“ „Kann er nicht, Professor Gran Doma hat auch noch ein Wörtchen mitzureden“, erwiderte Lyon, ohne in seinen sanften Streichbewegungen inne zu halten. „Und allein, dass er dabei ist, zeigt schon, wie gut deine Chancen stehen.“ Da war etwas Wahres dran. Der Dekan der Juristischen Fakultät war bei besonders vielversprechenden Arbeiten auch bei der Verteidigung mit dabei. Vor einem Jahr war er auch bei Lyons Verteidigung dabei gewesen und hatte dem Absolventen sogar höchst persönlich das Zeugnis mit Summa cum Laude ausgehändigt. Als Hisui gehört hatte, dass Professor Gran Doma auch bei ihrer Verteidigung dabei sein würde, hatte sie sich noch gefreut. Die Nervosität war erst später gekommen. „Hey.“ Ihr Kopf ruckte wieder hoch – sie hatte gar nicht bemerkt, wie er langsam nach unten gesackt war – und sie nahm wieder Blickkontakt zu Lyon auf. Seine Augen funkelten ermahnend und seine Finger übten wieder sanften Druck aus. „Atme tief durch. Du schaffst das.“ Weil sie das Gefühl hatte, sowieso nichts mehr zu verlieren zu haben, schloss Hisui die Augen und befolgte den Ratschlag. Ganz langsam und gleichmäßig atmete sie ein und aus, konzentrierte sich einzig und allein auf ihren Körper und auf Lyons Hände. Selbst jetzt, da sie mit dem Kopf ganz woanders war, verursachten die vertrauten Glieder ein angenehmes Kribbeln auf Hisuis Haut, erhielten eine wohlig warme, sichere Glut in ihrem Inneren am Leben. Mit Lyon fühlte sich alles immer um so vieles besser an. Er hatte diese Art, die Dinge auf den Punkt zu bringen und zu beruhigen, war immer einfühlsam, hatte immer die richtigen Worte und Gesten… Hisui hatte noch nicht darüber nachgedacht, wie es mit ihnen weiter gehen würde, wenn sie ihr Examen in der Tasche hatte und nach Crocus zurückkehren konnte, aber irgendwie hatte sie keine Angst davor. Etwas sagte ihr, dass es mit ihnen nicht vorbei war. Dieses etwas ließ sich nicht klar definieren, es war einfach Gewissheit. Als sie die Augen wieder aufschlug, brachte sie ein ehrliches Lächeln zustande und ihr Herz machte einen kleinen, aufgeregten Hüpfer, als sie das weiche Lächeln auf Lyons Lippen bemerkte. Ohne sich darum zu kümmern, ob jemand in der Nähe war, beugte er sich zu ihr herunter und gab ihr einen kurzen Kuss. Im Grunde war es nur ein flüchtiges Streifen ihrer Lippen, aber es genügte, um Hisui anzuspornen. Während sie aufstand, beugte sie sich ihrerseits vor und hauchte einen Kuss auf Lyons Mundwinkel. Ein wortloses Versprechen auf mehr, wenn sie diese vermaledeite Prüfung endlich hinter sich hatte! „Ich schaffe das!“, erklärte sie und straffte die Schultern. Noch immer lächelnd blickte Lyon zu ihr auf und hielt ihr die Notizen entgegen. „Natürlich.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)