Lieben verboten! von Dolette ================================================================================ Kapitel 11: ------------ Die Anspannung in meinen Armen aufgebend, schaute ich in Ninas dunkle Augen. Etwas Verlangendes lag darin, was mich für den Moment beinah vergessen ließ, dass ich nackt vor meiner Lehrerin stand und doch pochte dieser Umstand unnachgiebig in meinem Hinterkopf, bereitete mir unterschwelliges Unbehagen. Ihre Nähe nahm meine restlichen Sinne jedoch vollkommen in Beschlag und ihr warmer Atem kitzelte auf meiner Nase und meinen Lippen. Sie gab mein rechtes Handgelenk frei, trat um mich herum und drehte mich zum Wasser. "Stunde der Wahrheit, Kleines", raunte sie mir von der Seite in mein Ohr und ich erschauderte aufs Neue. Sie ließ auch mein linkes Handgelenk los und nickte auffordernd Richtung Wasser. Ich schluckte, auch wenn ich noch immer von dem Ehrgeiz beseelt war, Nina nicht enttäuschen zu wollen. Mutig ging ich voran und erreichte viel zu schnell das kühle Nass. Ich zuckte zurück, so kalt war das Wasser. Jetzt da ich unbekleidet davor stand, spürte ich es umso deutlicher, aber der Wunsch meiner Lehrerin zu gefallen, war ungebrochen und so hielt ich eine Weile die Luft an und trat hinein, bis mir der Wasserspiegel zur Hüfte reichte. Gedehnt entließ ich den Sauerstoff aus meinen Lungen und schaute hoffnungsvoll ans Ufer. "Ah-ah! Ganz oder gar nicht!", rief sie mir gedämpft entgegen. War ja klar. Also ließ ich meine Hände ins Wasser gleiten, die sich zuvor schützend vor meine Brüste gelegt hatten und befeuchtete zuerst meine Arme und dann meine Brust, an der Stelle unter der mein Herz lag, wie es mir meine Granny in Kalifornien früher gezeigt hatte, wenn wir am Strand waren. Ich spürte seinen rasenden Rhythmus mit der Hand und plötzlich auch meinen hohen Puls überall in meinem Körper. Die Aufregung, die zweifellos an meiner Nacktheit lag, ließ meinen Körper immer mehr verrücktspielen. Ich spürte nicht mehr nur Ninas Blick auf mir. Es fühlte sich an, als würde mich auf ein Mal eine ganze Menschenmasse anstarren. Meine Atmung beschleunigte sich rapide, immer weiter, immer schneller, aber ich wollte jetzt nicht aufgeben. Also tauchte ich entschlossen mit dem Kopf voran hinab und tat ein paar Schwimmzüge. Mein Herz schlug viel zu schnell. Immer schneller und schneller und schließlich bekam ich die irrwitzige Angst, einen Herzinfarkt zu bekommen. Ich wusste nicht, wie lange ich unter Wasser war, aber es war ein Fehler gewesen, komplett abzutauchen. Die zum Tauchen gehörende Atemnot vergrößerte meine Angst. Wandelte sie. Wurde zu Angst vor dem Ertrinken. Ich konnte mich plötzlich nicht mehr Bewegen und spürte, wie mir die Luft ausging. Ich wollte raus. Einfach nur raus aus dem Wasser, doch unsichtbare Hände hielten mich an Ort und Stelle.  Ich musste mich beruhigen, auf der Stelle! Doch die Todesangst übermannte mich. Ich würde hier im Wasser sterben. Ich würde ertrinken. Der Gedanke bestimmte mein Bewusstsein. Ich riss die Augen auf, doch ich sah nur Schwärze. Ich fragte mich, ob ich schon gestorben war. Ich fühlte plötzlich nichts mehr.  Alles war stumpf geworden. So war ich also gestorben, nackt im Wasser. Sicher würde Nina bald ins Wasser stürzen im verzweifelten Versuch mich zu retten, doch es war zu spät. Nina. Der Gedanke an sie weckte etwas in mir. Meine Lebensgeister erwachten zu neuem Leben. Ich spürte plötzlich den engen Zug um meine Brust, der mir signalisieren, dass ich Sauerstoff brauchte. Die Kälte des Wassers. Und meine Glieder bewegten sich plötzlich wieder. Das kalte Wasser piekste leicht überall an meiner Haut. Meine Füße fanden zurück zu dem schlammigen Boden und drückten meinen Oberkörper mit aller Macht aus dem Wasser. Eilig sog ich den Stoff des Lebens in meine Lungen und presste ihn hustend wieder heraus. Sofort schlang ich meine Arme um mich und meine Finger krallten sich in meine Oberarme. Mir wurde heiß, obwohl mein Körper eiskalt war und ich fing an, die wenigen Meter zum Ufer aus dem Wasser heraus zu rennen. Als ich spürte, dass der Sand unter meinen Füßen trocken wurde, sank ich völlig kraftlos darauf auf die Knie und vergrub meine Hände in den feinen Körnern. Ich atmete röchelnd und viel zu schnell ein und aus. Ich hyperventilierte, obwohl ich wusste, dass ich mich unbedingt beruhigen musste. Mein Gesicht kribbelte, als würden Ameisen darauf herumlaufen. Obwohl mein Körper so abgekühlt war, bildeten sich Schweißperlen auf meiner Stirn. Noch immer glaubte ich den Blick von Nina auf mir zu spüren und er brannte auf meiner Haut wie Feuer. Ich wollte mich über den Sand rollen, als könnte ich das Feuer auf diese Weise löschen. Sie sollte aufhören, mich anzuschauen! Eben noch die Todesangst und jetzt fühlte ich mich wieder nur nackt. Ich war nackt!  Das Bisschen Fassung, dass ich erlangt hatte, als ich aus dem Wasser gekommen war, entzog sich mir somit wieder, denn die Erkenntnis hämmerte immer wieder aufs Neue in mein Bewusstsein und beherrschte meine Gedanken vollends. Hinter meiner Stirn pochte es schmerzhaft, doch ich konnte mich nicht rühren. Ich verharrte in meiner demütigenden Pose und wusste mir nicht zu helfen. Ich konnte keine der Techniken abrufen, die mich dazu befähigen sollten, meinen Geist in so einer Situation zu beruhigen, aber ich musste mich unbedingt beruhigen! Tränen der Wut liefen ungehindert meine heißen Wangen hinab und tropften von meinem Kinn in den Sand. Ich wusste nicht wie lange ich so auf dem Boden hockte, nackt und bloßgestellt. Sicher nur zehn Sekunden, aber es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis sich plötzlich ein warmer Stoff auf meinen Rücken legte. Mit sanfter Gewalt wurde ich leicht aufgerichtet. Meine Hände lösten sich zaghaft aus dem Sand und hingen an meinen Armen schlaff herunter, als ich schließlich in eine aufrechte, kniende Pose geschoben worden war. Vor mir kniete Nina in der selben Position, zog das Handtuch über meinen Kopf und legte dessen Enden vor meiner Brust zusammen. Eine Hand legte sich flach auf die Stelle, auf der sich die Enden überlappten und ich spürte mein Herz noch immer wild, aber direkt etwas regelmäßiger dagegen trommeln. Eine andere Hand legte sich an mein Schulterblatt und hielt mich zärtlich aber bestimmt in Position. Meine Atmung beruhigte sich ebenfalls, obwohl auch sie noch immer eine zu bedenkliche Frequenz hatte. Ein unkontrolliertes Schluchzen entkam meinen halb geöffneten Lippen und endlich traute ich mich aufzusehen. Ich erwartete Mitleid oder einen überforderten Ausdruck darauf zu finden, doch auf Ninas Antlitz war blanker Schmerz abzulesen, was im krassen Kontrast zu der Ruhe stand, die ihre Hand auf meiner Brust ausstrahlte. Unterbewusst registrierte ich, dass sie mit offenem Mund atmete. Ganz offensichtlich bewusst und geräuschvoll, damit ich mich darauf konzentrierte. Und das tat ich, ohne sie in Frage zu stellen. Nina strahlte in diesem Moment etwas übermenschlich Vertrauensvolles aus. Ich konzentrierte mich weiter auf ihre Atmung und meine glich sich allmählich der ihren an. Meine Tränen versiegten. Ich ließ mich in ihre dunklen Augen, die noch immer irgendwie schmerzverzerrt zusammengekniffen waren, fallen. Und schließlich nahm der Druck ihrer Hand auf meiner Brust ab und sie zog mich bestimmt in ihre Arme. Ich sog ihren unverkennbaren Duft ein, wobei der auch von ihrem Handtuch ausgehen konnte, aber ich nahm ihn erst jetzt wahr. Spürte ihre Wärme, die Geborgenheit, die ihre Arme um meinen Oberkörper bedeuteten und fing wieder an zu weinen. Ganz anders als zuvor. Die Ängste waren verschwunden und ihre Last war von mir genommen. Ich schlang meine Arme um Ninas Taille und presste meinen Körper so sehr ich konnte an ihren. "Shhh", machte sie leise, nah an meinem Ohr und eine Hand strich mir über den vom Handtuch verhüllten Kopf. Eine andere malte großzügige Kreise auf meine Rücken und ich sank erschöpft auf Ninas Schoß zusammen. "Ich weiß, du willst jetzt schlafen, aber du darfst hier nicht einschlafen, Ashley", sprach sie nach einer ganzen Weile sanft zu mir runter, während sie beständig meinen Kopf und Rücken streichelte. "Mhm", machte ich, ohne davon überzeugt zu sein. Ich wollte den Trost und die Geborgenheit, die sie mir spendete, nicht missen. Doch das Nächste was sie sagte ließ mich irritiert zu ihr aufschauen. "Das hast du wirklich gut gemacht." Was? Denken fiel mir noch immer schwer, aber so sehr ich es versuchte, das machte keinen Sinn. Ich sah keinen Grund für Lob. Und doch lag in diesen Worten so viel Gefühl und Ernsthaftigkeit, dass ich sie bedingungslos glaubte, ohne zu begreifen worauf genau sie sich überhaupt bezogen. Die Worte setzten unzählige Endorphine in mir frei und machten mich so Glücklich wie nie etwas Anderes zuvor. Aber warum? Es war ein undefinierbares Glück, aber das war mir für diesen Moment völlig gleich. Das Einzige was zählte war, dass sie stolz auf mich war.  Das war der Moment in dem ich nach Lob und Anerkennung süchtig wurde. Lob und Anerkennung von Nina Klee, meiner Lehrerin. Wir verbrachten noch eine kleine Weile schweigend am Strand und lauschten dem leichten Wellengang, nachdem ich mich wieder angezogen hatte. Ich war noch immer unglaublich klein und zerbrechlich in Ninas unendlicher Gnade, die mich die ganze Zeit mütterlich in ihren Armen gewogen hatte, doch irgendwann, als mein Verstand aufhörte von den Glücksgefühlen benebelt zu sein, hob ich meinen Kopf an und schaute in ihre Augen, die zärtlich auf mich herab schauten und fragte die Frage, die mir auf der Seele brannte. "Könntest du", begann ich zögerlich. Nina strich mir ermutigend über mein noch leicht feuchtes Haar. "Könntest du mir sagen warum du gesagt hast, dass ich das gut gemacht habe?" Verwundert zog sie ihre Augenbraue zum Haaransatz und wieder beneidete ich sie für diese Fähigkeit. "Findest du nicht, dass du das gut gemacht hast?", antwortete sie mir mit einer Gegenfrage, woraufhin ich meine Lippen zu einem Schmollmund verzog. Ja, mir ging es jetzt schon wieder deutlich besser. "Also", fing ich wieder zaghaft an und brauchte eine Pause um die Worte in meinem Kopf zu finden. Ich entließ die Luft geräuschvoll aus meinen Lungen, nachdem ich welche gefunden hatte und erneut zum Sprechen ansetzte. "Also, eben gerade, da hab' ich's dir einfach so abgenommen, ohne groß weiter darüber nachzudenken, weil...ja, weil es sich einfach gut und richtig angefühlt hat, aber jetzt frage ich mich, was du überhaupt gemeint hast." Nina lächelte und nickte anerkennend. Ja, das war wirklich das erste Mal, dass ich so viele Worte auf einmal an sie gerichtet hatte und dabei ruhig und gefasst klang. Es war ihre Ruhe, ihre Fassung, die ich ausstrahlte. "Warum willst du es zerpflücken, wenn es doch für den Moment einfach das Richtige war?" Überlegend legte ich meinen Kopf schief und betrachtete sie gedankenverloren, bis ich zu dem Schluss kam, dass ich es einfach wissen wollte. "Ich denke, ich möchte gern wissen, ob ich verdient habe, was du gesagt hast." Mein Selbstwertgefühl war sowieso schon immer geringerer Natur, aber das kleine Hoch hielt nicht lange, da ich es einfach nicht verstehen konnte. Nina seufzte, lächelte dann aber. "Nun, du hattest gerade eine Panikattacke, ist dir das bewusst?" Ich nickte, war ja nicht die Erste. Nina nickte ebenfalls, strich sich einmal kurz mit der Linken durch ihr kastanienbraunes Haar und zog mich mit der anderen Hand wieder an sich. "Mhm. Und ich fand, du hattest ein Lob dafür verdient, dass du so schnell aus der Attacke herausgefunden hast." Für mich war das ihr Verdienst, nicht meiner, aber ich schwieg, wartete auf mehr. Sie atmete tief durch, als müsste sie sich sortieren, oder überwinden. "Möchtest du mir sagen, was die Panikattacke ausgelöst hat?", fragte sie sanft, aber auch wissend und strich mir langsam über den Oberarm. Ich überlegte einen Augenblick, wobei unerwartet klar war, was sie ausgelöst hatte. "Ich fühlte mich so nackt." "Du warst nackt", stellte Nina die unbestreitbare Tatsache fest. "Ich hasse es mich nackt zu fühlen. Und es zu sein, wenn jemand dabei ist..." Ich wusste nicht warum es davor so leicht ging, mich überhaupt auszuziehen. "Mhm. Das meinte ich auch, denn mir war klar geworden, welche Überwindung es dich gekostet haben muss, dich auszuziehen. Findest du nicht, dass du das gut gemacht hast?" Sie ließ mir einen Moment um die Worte zu verarbeiten, bevor sie weitersprach und sie hatte irgendwie Recht. "Dass du einen großen Schritt gegen deine Angst getan hast? Ein kleiner Sieg vielleicht, doch auch die muss man feiern." Ich wollte mich fragen, ob sie wusste wovon sie sprach, doch in meinem Magen kribbelte es merkwürdig und die Woge des Glücks kehrte zurück. Da fiel mir auf, dass ich Nina schon wieder verträumt betrachtete, weshalb ich meinen Kopf abwandte, um auf das schwarze Wasser zu schauen. "Danke", sagte ich kraftlos. Man hätte meinen können, dass ich es nicht ernst meinte, doch Nina drückte ganz kurz mitfühlend meinen Oberarm.  Ihre Umarmung nahm daraufhin etwas an Intensität zu und sie lehnte ihr Kinn gegen meinen Kopf und küsste mein Haar. Es war die schönste Berührung, die mir je zuteil wurde. Eine kleine Ewigkeit verblieben wir noch so, bis Nina aufstand und mir Wortlos die Hand reichte. Wir packten zusammen und brachen auf, um zum Parkplatz zurück zu kehren.  Bevor wir auf dem Trampelpfad in das Waldstück gingen, drehte ich mich noch mal um und schaute zurück auf das kleine Stück Strand. Den Ort, an dem etwas Traumartiges geschehen war, etwas Wichtiges, etwas Richtiges. Natürlich waren Panikattacken keine Spaziergänge, aber das, was daraus resultierte, fühlte sich jetzt in diesem Moment, in dem ich Nina zu ihrem Auto folgte, wie eine tiefe Verbindung an, die an dieser Stelle ihren Anfang nahm. Ich fühlte mich verstanden. "Ich fürchte wir müssen hierbleiben, wenn du nicht langsam einsteigst, kleine Traumtänzerin." Ninas glockenklares, dunkles Lachen drang gedämpft durch das offene Fenster der Beifahrertür und die altbekannte Hitze legte sich auf meine Wangen. Ich hoffte nur sie würde es mir nachsehen, nach dem was vorhin geschehen war. Ich stieg ein und sie lächelte, was mein Herz erfreut einen Schlag überspringen ließ. Wir fuhren los und sie schaltet das Radio an, was mir Gelegenheit gab, etwas meinen Gedanken nachzuhängen. Nina hatte mich wirklich vergleichsweise schnell aus meiner verängstigten Starre geholt. Ich suchte einen Vergleich und erinnerte mich an eine meiner ersten Attacken, die so unvorhergesehen kam, dass sie weder für mich, noch für Außenstehende zu bekämpfen war, denn ein logischer Grund war vollkommen unersichtlich. Es waren Sommerferien. Ich war 13. Wie so oft saßen meine Eltern sonntags auf unserer Terrasse, während Leonnard auf seinem Baumhaus rumtollte, das er zusammen mit Daddy gebaut hatte. Die Sonne schien ausgiebig vom Himmel und gab der Szene etwas Perfektes. Ich betrachtete sie von meinem Zimmer im ersten Stock unseres damaligen Hauses und versuchte, mich in das Bild zu bauen. Ich fand mich aber nicht in der Szene, fühlte mich nicht so richtig zugehörig. Daddy rief Leo gerade etwas zu, das ich nicht verstand, denn ich hatte mein Fenster geschlossen. Da mein kleiner Bruder aber gerade auf der Brüstung seines Baumhauses saß, nahm ich an, dass es eine Mahnung zur Vorsicht gewesen war. Und dann geschah es, als hätte Daddy es kommen sehen. Leo fiel die gut zwei Meter zu Boden. Ich sah ihn nicht mal aufkommen, denn in dem Moment war mir schwarz vor Augen geworden und ich musste in Ohnmacht gefallen sein. Als ich erwachte, war die Sonne deutlich gewandert und ich war unfähig, mich zu bewegen. Gefangen in meinem Körper, mit den Gedanken bei meinem Bruder, jeder Fähigkeit zu Handeln beraubt, tat ich das einzige was noch möglich war. Ich schrie. Ich hatte noch nie so laut und so lange geschrien. Nach kurzer Zeit schon tat mir der Hals weh und ich konnte immer schlechter die schrillen Töne aus meiner Kehle dreschen, da mir die Luft immer knapper wurde. Irgendwann wurde meine Zimmertür aufgerissen und meine Ma stürzte zu mir. Sie ließ sich auf die Knie fallen. Ich schrie weiter. Ich schrie nach Leonnard. Ich hatte Todesangst. Angst um ihn. Die Angst um ihn lähmte meinen Körper. Ich musste aussehen, als hätte ich einen epileptischen Anfall gehabt. Die Arme vor der Brust versteift, das Gesicht zu einer panischen Fratze verzogen. Mom rüttelte an meinen Schultern, versicherte mir, dass alles in Ordnung sei, Leo würde es gut gehen. Den Zusammenhang zu dem Sturz vom Baumhaus hatte sie gar nicht sehen können, denn er hatte sich leicht abgefangen und es war mittlerweile schon fast zwei Stunden her gewesen, wie ich später erfuhr. Es half nichts. Die irrationale Angst war übermächtig. Ich schrie weiter. Mittlerweile leiser und heiser, weil ich mit der Kraft am Ende war, doch ich hörte nicht auf. Schließlich riss meine Ma mein Fenster auf und rief nach Daddy, er sollte Leo mit hoch bringen, ich würde nicht aufhören. Er widersprach. Er sollte nicht nachhaken und tun was sie ihm sagte, brüllte sie hinab in den Garten. Und dann, nach einer halben Ewigkeit, stand er da. Mein kleiner Bruder. Völlig unversehrt, aber mit verzerrtem Gesicht. Später bekam ich ein Gespräch mit, in dem er Daddy erzählte, dass er Angst vor mir gehabt hatte. Ich beruhigte mich, meinen Bruder sehend und dann weinte ich. Es half, doch es nahm mir nicht die irrationale Angst, die ich an diesem Tag zum ersten Mal hatte greifen können. Die schützenden Arme meiner Mutter empfingen mich, doch ich sah die Verzweiflung in ihren Augen, genauso wie in Daddys... Heute war es anders gewesen. In Ninas Armen fühlte ich mich so sicher. Es war, als hätte ich für die Zeit, in der ich ihr so nah sein durfte, jede Angst, die ich je empfunden hatte, überwunden. Und das Gefühl hallte auch jetzt noch in mir nach. Dieses Wohlbefinden. Diese Sicherheit. Ich betrachtete das Profil meiner Lehrerin und suchte nach diesem besonderen Etwas, dass ihr diese Macht verlieh. Die Macht, mich mit so viel Schuld zu beladen, dass ich alles für sie tun würde, um ihr wieder zu gefallen und die Macht, mir ein Zufluchtsort in Person zu sein, mir die Ängste zu nehmen und vor allem mich glücklich zu machen. Natürlich hatte sie meinen Blick bemerkt und wandte mir kurz fragend ihren Kopf zu, doch ich schaute verlegen zurück aus dem Beifahrerfenster. Dadurch, dass ich ihr nicht mehr so nah und somit nicht mehr in meiner Glücksblase war, hatte sich meine Logik wieder eingeschaltet und die fragte mich, ob ich wollte, dass diese Frau solche Macht über mich besaß und ob ich wollte, dass ihr das klar war. Ich schmunzelte und betrachtete mein Spiegelbild im Seitenspiegel, das jeden zweiten Herzschlag von Straßenlaternen erhellt wurde. Ich sah aus wie der Tod auf Latschen und Nina wusste es sowieso, ganz sicher. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)