Yu-Gi-Oh! The Last Asylum von -Aska- ================================================================================ Kapitel 73: Turn 68 - Four Sides -------------------------------- Turn 68 – Four Sides     „Ist das wahr!?“, fragte Exa fassungslos. „Du -jagst- die Hüter!?“ Anya schluckte. Sein Blick hatte sich schlagartig so verfinstert, dass sie befürchtete, gleich noch einen Feind mehr zu haben, wenn sie seine Frage bejahte. Im Affekt hob sie den Arm und zeigte auf Ricther, der am Ausgang der Sackgasse verharrte. „Wenn der mir helfen würde, denjenigen festzunageln, der mich dazu zwingt, müsste ich keines dieser dämlichen Artefakte sammeln!“ Mit einem geradezu manischen Blick wandte sich der große Blonde an den Undying. „Meine Position diesbezüglich hat sich nicht verändert“, sprach der zu Anya. „Hah, natürlich. Du kannst nie das tun, worum man dich bittet“, zischte Exa, „du tust nicht einmal deine Pflicht. Wegen dir ist …“ „Ich weiß. Es tut mir leid.“ „Mir tut es leid“, knurrte der junge Mann und hob das seltsame Kettensägenschwert an, richtete es wie einen erweiterten Zeigefinger auf den Hünen, „um all die Leben, um meine Freunde, meine Familie … meine Welt!“   Wovon spricht er da? Anya indes beachtete Levrier nicht, sondern drehte sich zu dem Dämon um, der immer noch am Ende der Sackgasse zwischen dem Polizeirevier und dem Verwaltungsgebäude lauerte. Still verharrte er auf der Stelle, statt etwa seine Angriffe fortzusetzen. Eine Tatsache, die Anya in diesem Moment als wesentlich wichtiger empfand.   „Es gab nichts, was ich hätte tun können, um das zu verhindern.“ „Lügner!“, schrie Exa den Undying sofort an. „Du bist mit der Aufgabe betraut, für Gerechtigkeit, für Sicherheit zu sorgen! Aber was hast du getan!? Gar nichts!“ Anya übertönte ihn jedoch plötzlich und formte mit den Händen ein T. „Auszeit! Ich will wissen, warum hier scheinbar jeder jeden umbringen will! Fangen wir mit dir an, Fratzenfresse!“ Sie fixierte sich auf den Dämon im Kimono, dessen weißer, mit roten Linien versehener Kopf klobig und unproportioniert anmutete. Nur schwieg das Wesen seit seinem Auftauchen beharrlich. „Mir geht es nur um Ricther“, sagte Exa hinter ihr, „was ich von dir halten soll, weiß ich nicht.“ „Ich hätte nie gedacht, das mal zu sagen, aber dann bin ich wohl die Einzige, die keinem von euch an die Gurgel will.“ Anya pfiff höhnisch durch die Zähne. „Kranke, verdrehte Welt.“   Verdrehte Welt ist das Stichwort. Sieh dich um.   Erst auf Levriers Wink mit dem Zaunpfahl begann Anya genauer auf ihre Umgebung zu achten. Einige der Backsteine des Verwaltungsgebäudes fehlten, stattdessen war dort nur eine schwarze Leere zu sehen. An anderer Stelle dagegen schwebten ganze Stücke der Wand in zweidimensionaler Form. Ihr ganzes Umfeld sah aus, als wäre es aus den Fugen geraten, als hätte jemand Dinge aus einer Zeitung geschnitten und woanders wieder draufgeklebt. „Das ist doch dein komischer Trick mit den ungeschriebenen Pfaden!“, wirbelte Anya herum zu Ricther. „Mir blieb keine Wahl. Die Realität darf keinen Schaden aus Konflikten wie den unseren nehmen, gemäß der ewigen Ordnung.“ „Er hat die Phasen schon verlagert, als du dich noch mit dem da rumgeschlagen hast“, mischte sich Exa ein und zeigte auf den regungslos verharrenden Dämon. Ricther gab einen erstaunten Laut von sich. „Wie ist es dir gelungen, hier einzudringen?“ „Das weißt du genau.“ Exa schob ein Bein ein Stück zurück, ging in eine gebeugte Haltung. Sein Schwert mit beiden Händen umschließend, machte er sich bereit für einen Angriff. „Ich habe viel dazugelernt, seit wir uns das letzte Mal begegnet sind. Mehr als dir lieb ist, möchte ich wetten.“ Parallel dazu ging auch der Dämon wieder in eine kämpferische Haltung, besser gesagt nahm er die Ausgangspose in der Kunst des Kendo an. Beide Hände lagen am Katana, das etwa auf Hüfthöhe leicht angewinkelt nach oben gehalten wurde. „Hey!“, schrie Anya panisch, „Ihr wollt euch alle gegenseitig umbringen!? Fein, aber lasst mich da raus!“ „Wenn ich mit Ricther fertig bin, helfe ich dir … vielleicht“, gab Exa zu verstehen. „Bis dahin passe ich längst in Tupperware!“ Nervös sah sich Anya um. Die Gasse war zu eng, selbst wenn sie an Exa vorbeikam, würde Ricther an ihrem Ausgang auf sie lauern. Flucht war ohnehin keine Option, ohne die Hilfe des Undying kam hier vermutlich keiner raus. Das Mädchen biss sich auf die Lippe. Verdammt, sie war die Schwächste unter ihnen, nahezu unbewaffnet, da ja eine blöde Schnalle, deren Name sie nicht kannte, der Meinung gewesen war, ausgerechnet ihre Hüterkarten stehlen zu müssen! Ob Ricther etwas davon ahnte? Ich sehe da nur eine Möglichkeit, vielleicht heil herauszukommen. Und sie wird mit einer Menge Hohn einhergehen.   „Okay, Vorschlag zur Güte!“, rief Anya laut aus. „Wir …“ „Nein!“, donnerte Ricther plötzlich und streckte den Arm aus. „Nicht-!“ „… duellieren uns darum, wer hier unbeschadet gehen darf. Oder wer nicht, ist mir eigentlich egal, solange ihr aufhört, mit den beschissenen Schwertern herumzufuchteln!“ Exa sah mit angezogenen Augenbrauen über seine Schulter zu ihr herüber. „Ist das dein Ernst? Ein Duell, jetzt, um zu entscheiden, wer leben darf? Wie kommst du auf so etwas!?“ „Hast du eine Ahnung, was du gerade getan hast, Anya Bauer!?“, schrie Ricther jedoch völlig aus der Fassung gebracht, etwas, das Anya nie für möglich gehalten hätte. Die zuckte mit den Schultern. „Nö. Aber klär' mich auf. Ist ja nicht so, als ob ihr einwilligen müsst, oder?“ Als der Undying jedoch schwieg und der maskierte Dämon seinen Arm ausstreckte, an dem eine grell leuchtende, rote Duel Disk aus purer Energie wie aus dem Nichts ausfuhr, gelang das Mädchen zu einer einzigartigen Erkenntnis. „Warte mal … ihr müsst! Levrier, wieso müssen sie?“   Ich habe keine Ahnung. Die einzige Erklärung wäre, dass Ricthers ungeschriebene Zukunft auf irgendeine Weise beeinflusst werden kann. Vielleicht führt deine Aufforderung zu einer Art Zwang?   „Das ist das Seltsamste, das ich je erlebt habe“, murmelte Exa. Seine Klinge verformte sich, zog sich zusammen und wurde innerhalb einer Sekunde zu einer abgerundeten, weiß-blauen Duel Disk, die sich an seinem Arm befand. „Aber das wäre eine gute Gelegenheit zu sehen, ob seine Hilfe sich schon bezahlt gemacht hat.“ Anya weitete die Augen, als Exa sich um 90° der Wand des Verwaltungsgebäudes zu drehte, darauf zu zu sprinten begann und ein paar Schritte die Fassade hinauf lief. Als der Schwung nachzulassen drohte, stieß er sich einfach ab und sprang so im hohen Bogen auf die gegenüberliegende Mauer des Polizeipräsidiums. „Wie … macht der das?“, staunte Anya mit offenem Mund, als sie mit ansah, wie Exa von einer Wand zur anderen sprang, bis er letztlich auf dem Dach der Bullen landete und sich dort oben an dessen Rand positionierte. „Ich bin bereit“, sagte der junge Mann in der blauen Strickjacke fest entschlossen. Die Blonde betrachtete ihren eigenen Arm, an dem noch das rote D-Pad befestigt war. Welches sie kurzerhand ausfahren ließ. „Ich auch!“ Demonstrativ hob der Dämon im Kimono noch einmal die rote Energie-Duel Disk an. „Es liegt nicht an dem ungeschriebenen Pfad“, murmelte Ricther leise, „sondern an einer Entscheidung, die niemand mehr rückgängig machen kann …“ Seinen kryptischen Worten zum Trotz, schloss sich das Schwert in seiner Hand um seinen Arm, wobei die Klinge ein Stück zurückgezogen wurde. Kurz darauf war es zu einer Duel Disk, aber nichtsdestotrotz gefährlichen Armklinge umfunktioniert worden. „Duell!“, riefen alle außer dem maskierten Dämon laut aus.   [Anya: 4000LP / Ricther: 4000LP / Exa: 4000LP / ???: 4000LP ]   Wo war sie da bloß hineingeraten, ging es Anya halb fasziniert, halb mulmig durch den Kopf. Zu ihrer Linken ein Undying, der sich vollkommen anders verhielt als bei ihrer letzten Begegnung. Anya drehte den Kopf geradeaus und sah hinauf auf den Rand des Daches, wo der großgewachsene Mann namens Exa stand. Ein Krieger, der Ricther ebenbürtig schien. Dann war da noch rechterhand in der Sackgasse dieser mysteriöse Dämon, oder was auch immer es überhaupt war. Dieses Ding mochte zwar mit dem Rücken zur Wand stehen, aber Anya hegte nicht den leisesten Zweifel, dass dies nicht den Tatsachen entsprach. Und mitten in diesem Kampf der Monster eingekesselt war sie. Doch wenn diese Freaks dachten, das allein würde sie einschüchtern, täuschten sie sich!   „Wenn keiner von euch will, beginne ich!“, entschied sie kurzerhand. Mittlerweile wusste sie, dass in einer Battle Royale niemand in seinem ersten Zug angreifen durfte, soweit nichts Neues. Doch auch die Draw Phase musste mit der vor Kurzem eingeführten Regeländerung jeder analog dazu einmal überspringen. Also betrachtete Anya gleich ihr Startblatt. „Sah schon mal besser aus“, knurrte sie ärgerlich und nahm ein Monster hervor, „das hier setze ich.“ Unter einem Zischen tauchte die Karte in horizontaler Lage vor ihr stark vergrößert auf. Gleich danach geschah dasselbe noch einmal mit einer vertikal ausgerichteten. „Und eine Verdeckte. Zug beendet!“ „Die Regeln besagen, dass nach dem Uhrzeigersinn vorgegangen wird. Demnach bin ich der Nächste“, verkündete Ricther und legte sogleich eine Monsterkarte auf die Schwert-Duel Disk an seinem Arm. „Um dieses Monster zu beschwören, müssen zunächst zehn Karten von meinem Deck verdeckt verbannt werden …“ Kaum hatte er dies gesagt, flog eine Karte nach der anderen von seinem Deck an der Unterseite des Schwertes in einen sich vor Ricther öffnenden Spalt, der sich mit der letzten wieder schloss. Pechschwarze, matte Kristallsäulen brachen in einer Reihe um ihn herum aus dem Boden und flogen hoch in die Luft. „Erscheine, [Different Dimension Deity – Ubriq]!“ Die spitz zulaufenden, fast zwei Meter langen Kristalle reihten sich aneinander wie eine Blüte, insgesamt acht Stück waren es. Zwei weitere positionierten sich in einem langen Balken in der Mitte des Gebildes, welches sich wie ein Rad zu drehen begann. Genau zwischen den beiden Teilstücken besagten Balkens bildete sich ein kleines, aus blauer Energie bestehendes Zentrum, aus dem die Pupille eines Auges durchschimmerte.   Different Dimension Deity – Ubriq [ATK/0 DEF/3500 (10)]   „Der ist neu“, murmelte Anya, die bei ihrem letzten Aufeinandertreffen mit Ricther nicht das 'Vergnügen' gehabt hatte, gegen jene Kreatur anzutreten. Dafür aber gegen andere, denen diese bestimmt in Nichts nach stand. Ricther streckte den Arm nach vorne aus. „Ich setze [Different Dimension Deity – Ubriqs] Effekt ein und biete diesen als Tribut an.“ Erst lösten sich die acht 'Blütenblätter'-Kristalle in leuchtenden Funken auf. Dann begannen die letzten beiden sich wahnsinnig schnell wie ein Rotor zu drehen, ehe auch sie verschwanden. Ricther zog eine Karte aus seinem Deck hervor und zeigte sie. „Damit erhalte ich eine andere Different Dimension Deity. Diese beschwöre ich sofort.“ Wie zuvor bei Ubriq, schossen zehn Karten von Ricthers Deck in einen Dimensionsspalt vor ebendiesen und verschwanden. „Erscheine, [Different Dimension Deity – Vem].“ Ebenso brachen weitere, dieses Mal strahlend weiße Kristallsäulen aus dem Boden. Anders als bei ihrem Vorgänger, bildeten diese jedoch zwei parallel zueinander verlaufende Schwingen, bestehend aus fünf Kristallen. Zwischen den beiden Fragmenten wurden permanent Entladungen ausgetauscht, deren Form hin und wieder die eines Augapfels annahm.   Different Dimension Deity – Vem [ATK/500 DEF/0 (10)]   „Abscheulich“, kommentierte der blonde Exa den Anblick von seiner erhöhten Stellung abfällig. Ricther ignorierte ihn und sprach, Richtung des maskierten Dämons gewandt, der ihm in der Seitengasse direkt gegenüber stand: „[Different Dimension Deity – Vem] besitzt einen Effekt, der nur einmal pro Duell genutzt werden darf. Ohne Umschweife fügt er einem Spieler meiner Wahl Schaden in Höhe meiner verdeckt verbannten Karten multipliziert mal 100 zu.“ Der Undying riss den erhobenen Finger in die Höhe, da rechnete Anya noch. Als sie zum Ergebnis kam, stockte ihr ein wenig der Atem. Das waren 2000 Tacken! Verdammter Kackmist, der würde doch bestimmt auf sie losgehen, immerhin war sie die personifizierte Anti-ewige Ordnung! „Gaze Of D!“, stieß Ricther aus und richtete den Finger auf den mysteriösen Dämon. Vom elektrischen Auge des Kristallbildnisses in der Luft wurde eine gewaltige Ladung ausgestoßen, die quer durch die Gasse schoss. Haarscharf an Anya vorbei, rauschte sie auf den Fremden zu und schlug in diesem so fest ein, dass dieser gegen die Wand geschmettert wurde. Wie Pappe gab diese soweit nach, dass sich einem Spinnennetz gleich ein Einschlagkrater bildete.   [Anya: 4000LP / Ricther: 4000LP / Exa: 4000LP / ???: 4000LP → 2000LP]   „Vergib mir“, bat Ricther völlig konträr zu seinen Taten. Anya verstand die Welt langsam nicht mehr. Wieso hatte er diesen Typen angegriffen und nicht etwa sie!? Aufgelöst sah sie von Ricther zurück zu der maskierten Gestalt, die gerade die eingebrochene Wand hinunter auf die Füße rutschte und unbekümmert einen paar Schritte nach vorn nahm, als wäre nichts geschehen. „So etwas wie Vergebung hast du nicht verdient!“, warf Exa hasserfüllt ein. Der stählerne Hüne nickte. „Du magst Recht haben. Näher betrachtet ist Vergebung jedoch nichts, das für einen Undying von Nutzen oder gar Bedeutung ist.“ Sofort änderte er das Thema: „Der zweite Effekt von [Different Dimension Deity – Vem] setzt ein. Einmal pro Zug erhöht sich seine Angriffskraft entsprechend des Effektschadens, den ein Spieler erlitten hat.“ Für einen kurzen Moment wurden zwischen allen Kristallen der beiden Flügelseiten Ladungen ausgetauscht. Dabei rief Ricther: „Und ich aktiviere eine Zauberkarte namens [Dimensions Reach], die die Stärke meines Monsters noch weiter erhöht, um die Zahl meiner verdeckt verbannten Karten mal 100.“ „Noch mehr!?“, keuchte Anya ungläubig, während vor ihren Augen das Ding in der Luft jeden Moment vor der Spannung, unter der es stand, zerbersten musste.   Different Dimension Deity – Vem [ATK/500 → 2500 → 4500 DEF/0 (10)]   Ricther schob eine seiner verbliebenen drei Handkarten in den dafür vorgesehenen Schlitz seiner Schwert-Duel Disk. „Diese Karte wird gesetzt. Damit erkläre ich meinen Zug für beendet.“ Genau wie in Anyas Fall, nahm sie unter einem Zischen vor ihm Gestalt an.   Der blonde, junge Mann mit der seltsam abgerundeten Duel Disk an seinem Arm kniff die Augen so fest zusammen, dass sie nunmehr Schlitze waren. „Dann bin ich wohl …“ Sofort knallte er eine Karte auf seine Monsterkartenzone. „Los, [Satellarknight Unukalhai]!“ Weit über Exa begann eine grelle Kugel aus weißen Licht zu strahlen, fast wie es ein Stern tat. Sie sendete ein Licht hinab, direkt vor ihn auf den Rand des Daches. Aus diesem entstieg die edle Gestalt eines Ritters in gold-weißer Rüstung, die über einem dunkelblauen Anzug lag. Am hinteren Teil des Waffenrock jenes Kriegers erstreckte sich ein langer, spitz zulaufender Schweif, welcher ihm zusammen mit dem, an einen Kobrakopf angelehnten Helm, etwas Schlangenhaftes verlieh. Um Unukalhai herum kreiste zudem ein Ring, an dem an einer Stelle ein Miniaturplanet angebracht war.   Satellarknight Unukalhai [ATK/1800 DEF/1000 (4)]   „Dank dir bin ich schon viel besser geworden“, murmelte Exa nachdenklich vor sich hin und Anya wunderte sich, warum er das zu seinem Monster sagte. Dann rief er aber lautstark: „Unukalhais Effekt besagt, dass er pro Zug einmal bei seiner Beschwörung einen anderen Satellarknight von meinem Deck direkt auf den Friedhof schickt.“ Ohne den Namen nur zu nennen, schob sich eine Karte aus Exas Deck hervor, die er sogleich vorzeigte und anschließend dem Friedhof zuführte. „Aber da wird der nicht allzu lange bleiben. Ich aktiviere von meiner Hand den Schnellzauber [Satellarknight Skybridge]!“ Ein roter, schimmernder Pfad wandte sich vom Himmel, so schien es, hinab bis zu Unukalhai, der diesem schwebend entlang nach oben folgte. „Im fliegenden Wechsel wird ein Satellarknight auf meinem Feld mit einem anderen von meinem Deck ausgetauscht“, erklärte der schlanke, junge Mann mit fester Stimme. Auf seinem Weg passierte sein Krieger einen Artgenossen, der strahlend blaue Engelsflügel besaß und seinerseits dort ankam, wo Unukalhai einst gestartet war. Exa nannte den neuen Ritter: „[Satellarknight Altair].“ Auch um dessen Hüfte schwebte ein großer Ring, an dem sich ein einzelner Stern befand.   Satellarknight Altair [ATK/1700 DEF/1100 (4)]   Ebenjener streckte seinen Arm zur Seite aus, von dem ein grelles Leuchten auszugehen begann. Exa erklärte konzentriert: „Altair ruft bei seiner Beschwörung einen Satellarknight von meinem Friedhof in die Verteidigung aufs Feld. Erwache, [Satellarknight Vega].“ „Also deswegen“, begriff Anya nun leise vor sich hinmurmelnd, wieso Exa erst Unukalhai ausgespielt hatte. Wie eine Taschenlampe ließ Altair das Licht von seiner Hand neben sich auf den Dachrand scheinen. Daraus entstand eine goldene Lichtsäule, aus welcher wiederum eine Ritterin schoss, die ein weiß-rosafarbenes Kleid sowie eine goldene Metallstola am Leibe trug. Hinter jener verbarg sie schließlich auch ihr Antlitz. Satellarknight Vega [ATK/1200 DEF/1600 (4)]   „Zuletzt der Effekt Vegas, der mich noch einen Sternenritter von der Hand rufen lässt“, fuhr Exa immer noch fort und legte diesen nun dritten Krieger auf seine Duel Disk. „[Satellarknight Alsahm]!“ Einmal mit dem Finger schnippend, ließ Vega neben sich einen kleineren, gold-weißen Ritter auftauchen, der einen Bogen gespannt hielt und sich dank Flügeln nachempfundenen Triebwerken in der Luft hielt.   Satellarknight Alsahm [ATK/1400 DEF/1800 (4)]   „Der ist ja noch schlimmer als der Flohpelz mit diesen ganzen Beschwörungen!“, empörte sich Anya lautstark. Der Blonde nahm dies wahr und zog eine Augenbraue an. „Hm?“ Dann aber richtete er seine Aufmerksamkeit auf Ricther und erklärte diesem: „Alsahm fügt einem Spieler 1000 Punkte Schaden zu, sobald er gerufen wurde.“ Mehr musste er dazu nicht sagen, denn es reichte, dass er seinen Arm ausschwang und auf den Undying deutete. Der leicht an Amor angehauchte Sternenritter löste seinen Pfeil von der Sehne, welcher in einem goldenen Strahl Ricther erfasste … und von dessen Schwertarm beiseite geschlagen wurde, wo er unweit über dem Hünen in das Verwaltungsgebäude einschlug und deutliche Schäden hinterließ.   [Anya: 4000LP / Ricther: 4000LP → 3000LP / Exa: 4000LP / ???: 2000LP]   Der Blonden brach beim Anblick des Lochs in der Wand langsam der Schweiß aus. Fast schon panisch wandte sie sich an den nahezu teilnahmslosen Dämon. „Verdammter Kackmist, sag bitte, dass du nicht auch so drauf bist … shit, wem mach' ich was vor, natürlich bist du!“   Vielleicht können wir die gegenseitige Antipathie dieser Drei zu unserem Vorteil ausnutzen? „Und die Reste beseitigen?“ Anya konnte sich trotz ihrer misslichen Lage ein böses Grinsen nicht verkneifen. „Klingt nach 'nem Plan.“ Alleine werden wir das jedoch nicht schaffen.   Sie wusste, was er meinte. Und ihr Blick huschte unwillkürlich zu Exa. „Yeah.“ Gleichzeitig rief Ricther: „Ein Spieler hat Effektschaden erlitten, weshalb sich [Different Dimension Deity – Vems] Angriffspunkte um dieselbe Summe erhöht.“ Erneut wurden zwischen dem ganzen Kristallgebilde am Himmel elektrische, rötliche Ladungen ausgetauscht.   Different Dimension Deity – Vem [ATK/4500 → 5500 DEF/0 (10)]   „Was auch immer“, zeigte sich Exa gänzlich unbeeindruckt. Mit seiner Hand fuhr er über die Monsterkartenzonen seiner Duel Disk und las die Karten darauf auf. Gleichzeitig öffnete sich ein Schwarzes Loch vor ihm. „Ich erschaffe das Overlay Network! Aus meinen drei Stufe 4-Monstern wird ein Rang 4-Monster!“ Altair, Vega und Alsahm verwandelten sich in gelbe Lichtstrahlen, die von dem Wirbel absorbiert wurden. „Xyz-Beschwörung ausführen! Zeige dich, Herr des Sommerdreiecks!“ Aus dem Überlagerungsnetzwerk drangen grelle Lichtstrahlen, unter denen sich der wohl bisher prachtvollste von Exas Kriegern erhob. Golden leuchteten die dünnen, spitzen Auswüchse seiner Flügel von seinem Rücken, nicht anders als der aus drei Ringen bestehende Schild an seinem Arm. Zwischen jenen drei Einzelteilen zogen sich Energielinien und formten ein aufrecht stehendes Dreieck. „[Stellarknight Delteros]!“ Unter einem stolzen Ausruf schwang besagter Ritter sein Schwert in der anderen Hand aus.   Stellarknight Delteros [ATK/2500 DEF/2100 {4} OLU: 3]   Erst jetzt bemerkte Anya, dass an jedem der Ringe, die den Schild bildeten, diese kleinen Planeten hingen und vor sich hin leuchteten. Also das waren die Overlay Units. Plötzlich aber erlosch einer davon, als Exa eine der Karten unter Delteros' hervor riss. „Ich benutze auch sofort seinen Effekt! Mit dem Abhängen eines Xyz-Materials zerstöre ich-“ Anya, die gleich begriff, was ihm im Sinn stand, schrie aufgebracht dazwischen: „Nicht! Das-!“ „-ein Monster auf dem Spielfeld! Vem! Navigator's Strike!“ „-wird nicht funktionieren“, beendete sie ihren Satz zu spät.   Stellarknight Delteros [ATK/2500 DEF/2100 {4} OLU: 3 → 2]   Schon richtete Delteros sein Schwert gen Himmel und ließ es sich erst in greller Aura aufladen, ehe er es in Richtung der Kristallflügel hielt und einen bohrenden Strahl von der Spitze abfeuerte. „Das wird nicht funktionieren“, wiederholte Ricther gelassen das, wovor Anya den Blonden versucht hatte zu warnen. Die aufrecht stehende [Dimensions Reach]-Zauberkarte vor dem Undying zersprang in tausend Stücke. Und der Lichtstrahl schlug in Vem ein, ohne Schaden anzurichten. Während sich vor Ricther ein Dimensionsriss bildete, aus dem nach und nach zehn Karten in einem Fluss zurück in sein Deck fanden, erklärte inzwischen Anya: „Du Idiot! Er kann [Dimensions Reach] zerstören und zehn seiner verdeckt verbannten Karten ins Deck scheffeln, um zu verhindern, dass das ausgerüstete Monster in diesem Zug gekillt wird! Hör nächstes Mal besser zu, ich weiß wovon ich rede! Immerhin habe ich schon mal gegen den Spinner gekämpft!“ Doch als Exa ihr nur einen eisigen Blick aus seinen blauen Augen schenkte, unterließ Anya erschrocken weitere Kritik. Umso mehr, als er entgegnete: „Hätte ich lieber dein Monster als Ziel bestimmen sollen?“ „Tch! Mach doch, was du willst!“ Inzwischen war die letzte Karte in Ricthers Deck zurückgekehrt.   Different Dimension Deity – Vem [ATK/5500 → 3500 DEF/0 (10)]   „Aber komm ja nicht zu mir angeheult, wenn der sich nächste Runde mit dem Teil an dir rächt“, setzte sie nach und deutete auf die Kristalle am Himmel. „Damit werde ich schon fertig.“ Unerwartet lächelte Exa für einen kurzen Moment heiter. „Trotzdem danke für die nette Warnung.“ Damit schob er seine letzten beiden Handkarten in die Duel Disk, sodass sie sich vor seinen Füßen materialisierten. Wieder ernst und mit versteinerter Mimik fuhr er fort: „Damit ist mein Zug am Ende angelangt. Jetzt du, Schönheit.“   Die anderen drei Duellanten richteten gleichzeitig ihre Aufmerksamkeit auf den Dämon in der Maske, welcher sich bisher an keiner ihrer Konversationen beteiligt hatte. „Der ist am gefährlichsten“, brummte Anya. Exa weiter oben stimmte ihr nickend zu. „Ganz bestimmt.“ „Du ahnst gar nicht wie sehr, Anya Bauer“, pflichtete ihr selbst Ricther bei.   Mächtiger als ein Undying? Das fragte sich Anya ebenso wie Levrier. Egal was dieses Wesen war, wenn Ricther Respekt vor ihm hatte, dann vielleicht auch … Mit einer unmenschlichen, verzerrten Stimme sagte der Dämon schließlich: „Monster-Set.“ Damit legte er eine Karte mit dem Bild nach unten auf die rote Energie-Duel Disk an seinem Arm. Genau wie bei Anya, tauchte jene in vergrößerter Form horizontal ausgerichtet vor ihm auf. „Zauberfalle-Set“, gab der Maskierte im Anschluss zum Besten. Noch eine Karte, diesmal direkt zu seinen Füßen, betrat das Spielfeld. „End Phase.“   Belustigt platzte es aus Exa heraus: „Wow. Du bist ja echt nicht auf den Mund gefallen.“ „Mach dir nicht die Mühe, mit 'ihm' zu sprechen, Exa“, mischte sich Ricther ein, „egal was du sagst, 'er' … wird es nicht verstehen.“ Nicht nur der großgewachsene, junge Mann wandte sich dem gut gepanzerten Hünen zu.   Auch Anya blickte den Undying fragend an. Der schien den Freak da drüben wohl ziemlich gut zu kennen. Langsam aber sicher bestätigte sich damit ihr Verdacht, dass Ricther vielleicht gar nicht ihretwegen hier war. Sondern wegen dem da … Aus den Augenwinkeln warf sie dem Dämon einen skeptischen Blick zu. Welches Geheimnis verbarg er wohl, wenn er einen Undying wie Ricther so … sorgenvoll klingen ließ?   „Ich bin dran! Draw!“, entschied sie in Gedanken versunken und zog unüblich lasch für ihre Verhältnisse. Die Karte ansehend, frage sie sich, was sie jetzt tun sollte. Auf wen sollte sie sich konzentrieren? Ging sie auf Ricther los, würde der sie sofort zu Kleinholz verarbeiten. Selbiges galt vermutlich für den Fremden. Unweigerlich sah sie wieder zu Exa auf. Er war der einzige halbwegs Normale hier. Und, so recht betrachtete, auch ein potentieller Verbündeter. Immerhin hasste er Ricther wie die Pest. Das war doch ein guter Ansatzpunkt. Vielleicht konnte sie ihn auf ihre Seite ziehen, wenn sie ihre Energien ebenfalls auf den Undying fokussierte? „Hgnnn“, presste sie unsicher durch die Lippen hindurch. Sollte sie es versuchen oder nicht? Wenn das schief ging, hatte sie die Brille auf. Andererseits war es sowieso nur eine Frage der Zeit, bis Mr. Ewige Ordnung auf den Trichter kam, dass er noch eine Rechnung mit ihr offen hatte. Also blieb ihr ohnehin nichts anderes übrig, als ihn anzugreifen. „Ach scheiß drauf!“, entfuhr es Anya genervt. Ihren Arm über die verdeckte Karte ausschwingend, rief sie ziemlich zerknirscht: „Falle aktivieren, [Forced Ceasefire]!“ Besagte, purpur umrandete Karte sprang auf. Und Anya entledigte sich einer Handkarte, die sie dafür als Kosten zu zahlen hatte. „Für diesen Zug ist nix mehr mit Fallenkarten aktivieren!“ „Nicht fair!“, protestierte Exa geradezu kindisch. Von denen besaß jeder mindestens eine, besagter Schreihals sogar zwei. Dafür war sein Monster das vermeintlich schwächste auf dem Feld. Noch hatte sie Zeit, sich ein Ziel für ihre Offensive zu überlegen. „Flippbeschwörung“, verkündete sie derweil und deckte ihr Monster auf dem D-Pad nicht nur auf, sondern drehte es um 90° auf ebenjener, „[Battlin' Boxer Big Bandage]!“ Exakt in derselben Abfolge wirbelte die vor ihr liegende, horizontal verdeckte Karte einmal um die eigene Achse und drehte sich nach rechts. Ihr entsprang ein Boxer, der komplett einbandagiert war, mit Ausnahme seiner roten, kurzen Trainingshose und dem muskulösen Bauchbereich.   Battlin' Boxer Big Bandage [ATK/1100 DEF/1400 (2)]   „Und hinterher als Normalbeschwörung [Battlin' Boxer Rabbit Puncher]!“ Kaum hatte sie die Karte auf das D-Pad geknallt, manifestierte sich neben ihrem Big Bandage eine gebeugt stehende Gestalt, schmal und mit wuschigem, rotem Schopf. Der kleine Boxer hielt sein Gesicht hinter einer Ledermaske versteckt.   Battlin' Boxer Rabbit Puncher [ATK/800 DEF/1000 (3)]   Anya hatte Big Bandage vorsorglich gesetzt, da dieser nicht so leicht im Kampf zu zerstören war. Dafür war seine niedrige Stufe hinsichtlich Xyz-Beschwörungen ein Problem. Eigentlich, denn … „Effekt von Big Bandage! Er kann die Stufe eines Boxers in meinem Friedhof wählen, die dann von denen auf dem Feld angenommen wird!“ Grinsend nahm sie [Battlin' Boxer Headgeared] aus dem Friedhof und zeigte diesen vor. Gleichzeitig begannen sich die Bandagen um dessen Träger zu lösen, nur um ihn dann komplett einzuwickeln. Und ebenso Rabbit Puncher, als ein paar von ihnen auf diesen übersprangen.   Battlin' Boxer Big Bandage [ATK/1100 DEF/1400 (2 → 4)] Battlin' Boxer Rabbit Puncher [ATK/800 DEF/1000 (3 → 4)]   „Ihr wisst, was jetzt kommt“, verkündete Anya und streckte den Arm in die Höhe, „ich erschaffe das Overlay Network!“ Ebenjenes öffnete sich vor ihr in einem dunklen, schwarzen Schlund und zog ihre Krieger in sich hinein, welche zuvor die Form roter Lichtstrahlen angenommen hatten. „Aus meinen beiden Stufe 4-Monstern wird ein Rang 4-Monster! Xyz Summon!“ Aus dem Schwarzen Loch erfolgte eine gewaltige Explosion. Und dieser entstieg eine weiße Gestalt, die ihre Arme verschränkt hielt. Neben den zwei Xyz-Materialien war Levrier, wie immer, von sieben Kohlkopf-großen Perlen umgeben. „Lass es krachen, Kumpel! [Gem-Knight Pearl]!“   Gem-Knight Pearl [ATK/2600 DEF/1900 {4} OLU: 2]   Nur wenige Sekunden, nachdem der weiße Ritter mit den strahlend blauen Augen das Feld betreten hatte, fasste er sich vor Selbstmitleid stöhnend an den Kopf.   Musste das sein, Anya Bauer?   Die blinzelte verständnislos, fragte grimmig: „Was!?“   Dass ich der Leidtragende sein werde, der wieder die Prügel einstecken darf.   „Hör auf, so'ne Pussy zu sein“, schlug es ihm umgehend von einer leicht perplexen Anya entgegen, die gleich ihr Blatt fester umklammerte, „ich brauch deine Karte nun mal! Wenn's dir nicht passt, zieh doch in eine andere!“   Glaubst du, das [Dark Magician Girl] von Kakyo Sangon ist noch frei?   „Wenn's nach deren Fanboys geht, gibt’s von der kein Loch mehr, das nicht schon 'besetzt' ist. Und jetzt Schluss damit! Du hast viel zu tun.“   Was meinst du damit, kein 'Loch' wäre mehr frei? Anya, die das beim besten Willen nicht vor drei Männern näher ausführen wollte – denn ja, in diesem Moment über'mann'te sie tatsächlich so etwas wie Schamgefühl – lief stattdessen puterrot an. Hätte sie das doch bloß nicht gesagt! „S-sie hat Ohrenschmalz! Und Popel! Und kriegt die Zähne nicht auseinander! In die kommst du garantiert nicht rein!“   Ich kenne noch mindestens- „Ruhe!“, schrie Anya, der es endgültig zu viel wurde. Warum hörte Levrier nicht damit auf, nachzubohren!? Das machte der doch mit Absicht, der Penner! Exa dort oben kicherte bereits viel zu ungehalten für ihren Geschmack. Mit weit aufgerissenen Augen schwang sie den Zeigefinger in Ricthers Richtung. „Kümmere dich lieber um den da, statt so'n Schweinskram zu fragen!“ Also bleibst du dabei?   „Uh-huh!“ Mit düsterer Mimik nickte das Mädchen zur Untermalung. „Greif [Different Dimension Deity – Vem] an! Blessed Spheres of Purity! Und vergesst ja nicht, dass keiner von euch Fallenkarten benutzen kann!“ Sonst wäre sie auch nie in die Offensive gegangen! Levrier wandte sich dem Undying ebenfalls zu und streckte, ähnlich seiner Freundin, den Arm nach vorne aus. Nacheinander schossen die sieben Perlen um ihn herum in die Luft, mit dem Ziel, die kristallenen Flügel am Himmel zu stutzen. Anya wartete. Aber es kam kein Spruch von wegen 'dein Monster ist doch viel zu schwach'. Und das ärgerte sie tierisch, denn immer, wenn sie mal so etwas unternahm, wusste sofort jeder, dass sie einen Hintergedanken dabei hatte. „Wenn keiner von euch was sagt, mach ich's eben selbst!“, ranzte sie die anderen Teilnehmer der Battle Royale giftig an und rammte dabei zeitgleich einen Schnellzauber von ihrer Hand in das D-Pad. „[Ego Boost]! Damit wird Pearl um 1000 Punkte stärker! Kapierst du nun, warum ich dich für den Job brauche!?“   Klar, die anderen Napfsülzen sind zu erbärmlich, um meiner Größe gleichzukommen.   Anya klappte die Kinnlade hinunter, als Pearl demonstrativ seine Muskeln anspannte und vor den anderen posierte wie ein Bodybuilder. „Hör' auf mich zu verarschen! [Ego Boost] ist nur eine Karte!“   Genau wie ich. Und nun stör' mich nicht, ich muss noch Autogramme schreiben.   Gem-Knight Pearl [ATK/2600 → 3600 DEF/1900 {4} OLU: 2]   Mit Zornestränen in den Augen biss sich Anya so fest auf die Lippe, dass diese anfing zu bluten. Was ging denn mit dem ab!? Da war es fast nebensächlich, dass seine Perlen in diesem Moment in Vem einschlugen und das ganze Gebilde zertrümmerten. Ein Nieselregen aus Kristallstaub fiel auf Ricther hinab.   [Anya: 4000LP / Ricther: 3000LP → 2900LP / Exa: 4000LP / ???: 2000LP]   Plötzlich hallte Levriers Stimme in ihrem Kopf, obwohl er doch auf dem Feld war.   Hör zu, Anya Bauer. Ich benehme mich nicht ohne Grund so, wie du es sonst tust.   Ehe sie den Mund aufmachen konnte, fuhr er fort:   Sieh dir Exa an. Die anderen beiden sind bereits unsere Feinde, er hingegen noch nicht. Wenn wir ihm beweisen können, wie menschlich und natürlich wir sind, dass wir keine sinistren Absichten hegen, könnten wir ihn vielleicht auf unsere Seite ziehen.   Und das sollte funktionieren, fragte sich Anya unweigerlich. Ihrer Meinung nach musste man Exa beweisen, dass sie einen gemeinsamen Feind namens Ricther hatten. So würde die Allianz entstehen, nicht durch ein paar alberne Verrenkungen.   Ich glaube daran, dass ein Lächeln den Pfad in das Herz eines Menschen öffnet. Es mag nicht der einzige sein. Aber vielleicht der sicherste. Nicht ganz freiwillig begann das Mädchen über die Worte nachzudenken. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, wusste sie nicht, wie man einen 'Pfad in das Herz eines Menschen' fand. Bei Abby und Nick war er einfach da gewesen, warum auch immer. Ihre Erfahrungen beschränkten sich eher darauf, sich von Menschen zu entfernen. Ihnen das Lächeln zu nehmen, wie sie es vor knapp einem Jahr noch regelmäßig mit ihren Mitschülern zu ihrer Unterhaltung getan hatte. Nicht, dass sie es wirklich bereute, aber … war das so ein Gegensatz-Ding? Wenn das eine von den Menschen weg führte, würde sie das andere dann zum Herz von Z- Sofort verwarf sie den aufkeimenden Gedanken wieder unter heftigstem Kopfschütteln. Nein, sie war nicht der Typ für so etwas! Außerdem ging es nur darum, Exas Unterstützung zu gewinnen, mehr nicht! Und das würden sie auf ihre Art erreichen, damit das mal klar war! „Ich setze eine Karte verdeckt“, rief Anya, ihre letzte Handkarte ausspielend, dabei an den Blonden auf dem Dach gewandt, „wenn du willst, helfe ich dir gerne, die Blechbüchse da loszuwerden!“ Die Karte erschien zu ihren Füßen. Exa drehte den Kopf Richtung des Dämons. Aber er sagte nichts zu ihrem Vorschlag. „Fein“, knurrte Anya verärgert, „aber lass dir nicht zu lange mit dem Überlegen Zeit, sonst ist vielleicht einer von uns beiden bald weg vom Fenster. Zug beendet!“   Sie bemerkte gar nicht, wie Ricther sie schon die ganze Zeit über beobachtete und nun wortlos aufzog. Dann richtete er sich nach vorne aus, wandte sich ebenfalls dem Maskierten gegenüber zu. „Durch das Verbannen von 10 Deckkarten in verdeckter Lage kann ich dieses Monster beschwören“, rief er aus und zeigte die Karte zwischen seinen, von dicken Silberhandschuhen bedeckten, Fingern vor, „[Different Dimension Deity – Astellante]!“ Anya musste schluckten. Das Mistding hatte sie noch gut in Erinnerung. Aus dem Boden um Ricther brachen zehn grüne Kristallsäulen, flogen nacheinander in die Luft. Zwei davon führten parallel nebeneinander die restlichen an, welche sich nacheinander wie Blätter eines Zweiges je zu viert an sie reihten. Ein wenig erinnerte das Gebilde auch an zwei paar aufrecht stehender Flügel, abgesehen von der Farbe dem Bildnis von Vem sehr ähnlich sehend. Anders als bei diesem jedoch, bildeten sich zwischen den beiden Hauptsäulen rote Entladungen, die eine Iris bildeten. Hatte Vem in seiner Haltung jedoch mehr an einen Vogel erinnert, so wirkte Astellante eher wie ein Schmetterling.   Different Dimension Deity – Astellante [ATK/? DEF/? (10)]   In der Zwischenzeit hatte sich auch die letzte der zehn Karten von Ricthers Deck losgelöst und war im wieder erschienen Dimensionsspalt verschwunden, der sich anschließend schloss. „[Different Dimension Deity – Astellantes] Werte richten sich nach der Menge an verdeckt verbannten Karten im Faktor 200.“ Eine gefährlich rote Aura begann um das Kristallwesen zu glühen.   Different Dimension Deity – Astellante [ATK/? → 4000 DEF/? → 4000 (10)]   Dem Mädchen brach beim Gedanken daran, was dieser Riesenklunker anrichten konnte, der Schweiß aus. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, Ricther mit einem Angriff zu provozieren. „H-hey“, rief sie ihm daher unbeholfen zu, „wenn du mich vornehmen willst, dann vergiss das gleich wieder, klar? Ich meine, ja, ich hab dich vielleicht angegriffen, aber dadurch auch Platz für deinen richtigen Klopper gemacht, oder nicht?“ Levrier schlug sich die Hand vor die Stirn.   Wunderbar, du hast ihn gerade erst recht auf uns aufmerksam gemacht. Immer, wenn ich denke, du machst Fortschritte, erweist du dich als Paradebeispiel dafür, was die Evolution so alles falsch gemacht hat …   Tatsächlich sahen sie hinter Ricthers maskiertem Helm kurz dessen rechtes Auge, wie es Anya ins Visier nahm, jedoch gleich wieder geradeaus zu starren begann. Und wieder ignorierte er sie. Die Zauberkarte, die er aus seinem Blatt nahm und vorstellte, war eindeutig für den mysteriösen Dämon bestimmt. „[Dimensions Disturbance].“ Unmittelbar nach Ausruf des Namens der Karte tauchten hintereinanderweg alle zwanzig verdeckt verbannten Karten in einem weiten Kreis vor Astellante auf, der sich zunehmend schneller gegen den Uhrzeigersinn zu drehen begann. Der Maskierte umklammerte seine Handkarten fester. „Ich benötige mindestens zwanzig verdeckt verbannte Karten, um diesen Zauber über eine Different Dimension Deity wirken zu können“, sagte Ricther tonlos, „dadurch verbannt jener die Hand eines meiner Gegenspieler bis zum Ende seines nächsten Zuges. Was immer du planst, du wirst warten müssen, At-“ Eine der sich drehenden Karten ging in einer blauen Flamme auf, welche sich schnell auf den Rest ausbreitete, dann zu einem einzigen Feuerball zusammenzog und in Richtung des Dämons von einer unsichtbaren Kraft abgefeuert wurde. Jener hielt der brennenden Kugel demonstrativ das Blatt entgegen, welches gerade getroffen wurde, als Ricther den Namen seines Gegenüber nennen wollte. Doch der verstummte, als nur ein Sekundenbruchteil später die verdeckte Karte des Fremden aufsprang. „Du hast einen Fehler gemacht“, rügte jener Ricther in seiner unmenschlichen, verzerrten Stimme emotionslos, „durch das Verbannen meiner ...-Karten hast du die Aktivierung von [Divine ...-Saber Ragnarök] ausgelöst.“ Anya legte verwirrt den Finger ans Ohr. Sie war sich sicher, dass der Typ seine Karten irgendwie bezeichnet hatte, aber wie genau, das hatte sie akustisch nicht verstanden. Ehe sie genauer darüber nachdenken konnte, zog der Dämon schon das ellenlange Katana aus der Scheide. „Was geht denn mit dir ab!?“, keuchte die Blonde erschrocken. „Wir hatten uns auf ein Duell geeinigt!“ Doch entgegen ihrer Erwartungen, wurde niemand angegriffen. Stattdessen hielt At-wer-auch-immer die Klinge gen Himmel gerichtet in die Luft. Es geschah gar nichts. „Dieser Schnellzauber lässt mich für jedes in diesem Zug verbannte ...-Monster ein Monster auf dem Spielfeld verbannen.“ Schon wieder! Das war kein Ohrenschmalz, der sie daran hinderte, die Namen richtig zu verstehen, nein, irgendetwas blockierte dieses eine Wort regelrecht! Immerhin tauchten über dem Dämon die drei Karten auf, die Ricther erwischt hatte. Alles Pendelmonster, wie Anya erstaunt feststellte. Zwei Drachen und ein- Moment, das ganz rechte sah doch aus wie Matts-!?   Anya wurde in ihren Gedanken einmal mehr unterbrochen, als plötzlich Exa lautstark erschrocken zurückwich. Den Blick gen Himmel gerichtet, der sich komplett mit schwarzen Wolken eingedeckt hatte. Und irgendetwas schob diese nach und nach auseinander, in einem gewaltigen Radius. „Oh shit“, fluchte Anya, als sie ebenfalls den Kopf in den Nacken legte. Nur Ricther regte sich nicht. Dort oben durchbrach ein grelles Licht die Wolkendecke. Ausgehend von einer Schwertspitze, die glatt mit der Größe eines Hochhauses konkurrierte. Nach und nach drang aus aberdutzenden, gar hunderten Lichtzirkeln über den Wolken eine Klinge ungeahnten Ausmaßes in das Sichtfeld der Anwesenden. Da es sich so hoch oben befand, war es schwer, Details zu erkennen. Aber Anya kam es so vor, als würde das Heft des Schwertes an verschiedenen Stellen aufleuchten, welche sich dann aber wieder verdunkelten. Als wäre es eine Art Maschine. „Oh shit!“, stieß sie noch intensiver hervor, als sie begriff, dass die blau leuchtende Schneide direkt auf das Duellfeld gerichtet sein musste. In dem Moment lösten sich bereits drei Schüsse in Form von Energiestrahlen von deren Spitze. Sie schlugen wie Bomben ein. Erst erwischte es [Stellarknight Delteros], wobei glatt ein Teil des Dachs vor Exa weggesprengt wurde. Der junge Mann wich mit einem Satz nach hinten zurück, um nicht auch getroffen zu werden. Gleich darauf traf der zweite Strahl Astellante, die in alle Himmelsrichtungen zerbarst. Ricther schützte sich mit erhobenem Arm und wehendem Umhang vor den Folgen. Anya sah mit geweiteten Augen nach oben, ebenso wie Levrier. Fassungslos hauchte sie: „Erwähnte ich schon fuck?“   Nein. Das wäre eher mein Part.   „Falle, [Dimension Gate]!“, schrie Anya geistesgegenwärtig. Levrier tauchte noch in das sich über ihm öffnende Portal ein, da regnete der Strahl schon auf Anya herab. Den Ritter um nicht einmal eine Millisekunde verfehlend, schlug er vor dem Mädchen ein und schleuderte es so hart gegen die Wand hinter sich, dass es keuchte und vom Gemäuer rutschte wie eine Fliege, die Bekanntschaft mit einer Fliegenklatsche gemacht hatte. Als sie vorneüber auf den Boden fiel, hustete sie unkontrolliert. Der Druck hatte ihr die Luft zum Atmen geraubt. Erst durch stoßartiges Hecheln und Husten konnte sie wieder Luft in sich aufnehmen. „Nicht schlapp machen, Sonnenschein“, mahnte Exa angespannt, der hockend vor dem Einschlagkrater im Dach verharrte. Sich mit den Ellbogen abstützend, hob Anya ihr Haupt. „Halt die Klappe!“ Danach drehte sie den Kopf in Richtung des Auslösers für ihre Lage. „Und du! Wenn einer Levrier in den Arsch tritt, dann wohl nur ich, klaro!? Ehe du ihn verbannst, mache ich das lieber selbst mit meiner Karte [Dimensions Gate]!“ Ebenjene Falle stand direkt vor ihr aufgerichtet. Einmal mehr an diesem Tag sollte Anyas Einwand völlig unbeachtet bleiben. Noch immer hielt der Maskierte sein Schwert zum Himmel gerichtet und sagte nun: „Nach diesem Effekt folgt ein zweiter. Für jedes verbannte ...-Monster erleidet mein Gegner Schaden entsprechend der Gesamtsumme an Stufen multipliziert mit 400.“ Zur Verdeutlichung tauchten die drei Karten, die Ricther so unbedacht entsorgen wollte, noch einmal auf. Der eine Drache war Stufe 6, der andere 3 und dann -das- auf Stufe 4. Also über 5000 Punkte Schaden, rechnete sich Anya erschrocken aus. Wer würde den abkriegen, etwa Ricther!? „In einer Battle Royale wird dieser Effekt auf all meine Gegner angewandt. Dieses Duell ist entschieden.“ Im selben Moment ließ der Dämon sein Schwert niederfahren. Und das riesige Gegenstück im Himmel setzte sich analog dazu ebenfalls in Bewegung. „Scheiße! Ist der irre!?“, kreischte Anya und rappelte sich hastig auf. Diesmal blickte selbst Ricther der drohenden Katastrophe entgegen. „Die Macht, das Ende der Welt zu beschwören …“   Unerwartet zersprang das riesige Schwert am Himmel in tausende Stücke. Anya wusste nicht warum, aber sie atmete erleichtert auf. Okay, wer hatte da jetzt zwischengefunkt? Ein Blick auf Ricthers und Exas Spielfeldseiten verriet er jedoch: Niemand. Entsetzt sah sie wieder nach oben. Ragnarök war nicht zerstört worden … die Klinge hatte sich lediglich vom Heft abgekoppelt und war in tausende kleinerer Fragmente zersplittert. Fragmente, die sich ihnen wie ein Heer aus Pfeilen unweigerlich näherten! Die würden sie aufspießen wie Käsehäppchen!   Mit zunehmender Panik rief sie den beiden anderen Bald-Cocktailkirschen zu: „Jetzt ist der Punkt erreicht, an dem eine von euch Pappnasen etwas dagegen unternimmt!“ Exa erhob sich mit gen Himmel gerichtetem Blick aus seiner Hocke. „Da muss ich passen …“ „Und du!?“, wandte sich die Blonde aufgelöst an Ricther. „Du bist ein verdammter Undying! Sag mir nicht-“ Der Hüne ließ die Hand über seine gesetzte Karte fahren, welche aufsprang und sich als Schnellzauber entpuppte. „[Dimensions Divergence].“ Nach und nach öffneten sich über ein dutzend Risse im Raum-Zeit-Gefüge um Ricther, welcher der abrupt verstummten Anya erklärte: „Diese Karte kann nur aktiviert werden, wenn mindestens 15 meiner Karten verdeckt verbannt sind. Und sie bewirkt, dass die Schadensverhältnisse eines Spielers umgekehrt werden.“ Exa verschränkte die Arme und fragte scharf: „Heißt im Klartext?“ „Schaden, der für besagten Spieler vorgesehen war, wird stattdessen denjenigen zugefügt, die diesen verursachen wollten.“ Anya schluckte, sah sie die Lichtpunkte am Himmel immer näher kommen. „Aber das hält diese Kacke da nicht auf! Damit beschützt du dich nur selber!“ „Während Mystery Demon dort drüben seine eigene Medizin schlucken muss“, fügte der junge, blonde Mann leise hinzu, „geschickt eingefädelt.“ „Du irrst dich, Exa. Ich wende [Dimensions Divergence] nicht auf mich selbst an.“ Sowohl er, als auch Anya horchten überrascht auf. Langsam hob Ricther den Arm mit der Klingen-Duel Disk und zeigte damit auf Anya. „Sondern auf dich.“   In dem Moment verschlug es ihr endgültig die Sprache. Sie begriff, was er da tat. Aber sie verstand nicht das Warum. Der Undying, der sie vor wenigen Wochen noch tot sehen wollte, der sich nicht für ein einzelnes Menschenleben interessierte, beschützte … sie!? Diejenige, die die Siegel brach? Die Feindin der ewigen Ordnung!?   Die Risse um Ricther verschwanden wieder. Stattdessen trat das Phänomen nun um Anya auf, die davon aber kaum Notiz nahm. Selbst der in Sicherheit gebrachte Levrier konnte in diesem Moment nicht zu ihr durchdringen.   Was hat das zu bedeuten!? „Du bist wirklich das Letzte“, zischte Exa verächtlich. Ricther sah ihn mit erhobenem Haupt an. „Vergib mir.“ „Nein! So leicht mache ich es dir nicht!“ Das Gesicht des Mannes verzog sich zu einer zornigen Fratze, als er ebenfalls den Arm über seine gesetzten Karten schwang. „Nimm's mir nicht übel Sonnenschein, aber ich will hier genauso wenig sterben wie du! Falle aktivieren!“ Die linke der beiden Verdeckten sprang auf und riss die Blonde aus ihrer Trance. „[Mystical Refpanel]“, benannte Exa schon ebenjene. Hinter ihm stieg eine blauhaarige Elfe empor, die einen kugelrunden Spiegel vor sich schweben ließ. In jenem entstand das Bild von Ricthers aufrecht stehendem Schnellzauber. „Diese Karte transferiert den Effekt eines Zaubers, der auf einen bestimmten Spieler wirkt, auf einen anderen.“ „Ah!“ Jetzt verschwanden die kleinen, rötlich leuchtenden Spalten auch um Anya, nur um im Anschluss Exa in sich einzuschließen. „Auf mich. Aber keine Sorge …“ Mit einem Mal streckte er seinen Arm mit der Duel Disk nach vorne aus. Diese schob sich zu einer Einheit zusammen und drehte sich auf ihrer Halterung um 180°. Die Spielfeldkartenzone klappte aus. „... ich lass dich nicht im Stich“, zwinkerte der junge Mann Anya verschwörerisch zu. In diesem Moment schoss ein Enterhaken aus der Öffnung und verankerte sich weit über dem Mädchen in einem Wassertank, welcher auf der höher gelegenen, staatlichen Einrichtung stand, welcher sie den Rücken zugekehrt hatte. „Viel Spaß noch“, wünschte Exa dem Undying und auch dem Dämon böswillig, ehe er Anlauf nahm und über das Dach sprang. Anya sah nur noch, wie er sich herab schwang und auf sie zu schnellte, dabei an dem Seil hängend. In seinem Fall streckte er den freien Arm aus. Das Nächste, was sie fühlte, war ein ekelhafter Schmerz im Unterleib, als Exa sie mit Schwung packte und mitriss. Geschickt stemmte der sich mit beiden Füßen gegen die Wand, um sich und Anya abzufedern. Jene schulterte er sich kurzerhand mit den Beinen voran über, ehe er sich von seiner Duel Disk automatisch hin zum Wassertank ziehen ließ. Von Natur aus bedingt ausdruckslos sahen ihm Ricther und der Maskierte hinterher. „Lass mich runter!“, schrie Anya in einer Mischung aus Panik und Scham, wie sie da einfach mit den Beinen voran 'abgeschleppt' wurde. Auch sie war jetzt von den Dimensionsrissen umgeben, die Exa schützen. „Das willst du nicht“, erwiderte er streng. Kaum hatte er den Rand des Daches erreicht, löste er den Enterhaken, ehe dieser ihn komplett zum Wassertank hochzog. Das Mädchen absetzend, zeigte er geradeaus. „Renn!“ „Wa-!?“ „Los!“, schrie er. Nebeneinander nahmen sie die Beine in die Hand, dabei immer mehr in ein hellblaues Licht getaucht. Ohne zurück zu sehen, rannten sie über das Dach. Noch bevor sie dessen Ende erreicht hatten, rief Exa: „Wir müssen springen!“ „Was!?“ Anya sah geradeaus. Das nächste Gebäude lag um einiges tiefer als dieses und dazwischen befand sich, so wie sie das abschätzen konnte, eine schmale Gasse. Die plötzlich gar nicht mehr so schmal wirkte, je näher sie ihr kamen. Ihr Begleiter, der ihr einige Schritte voraus war, setzte direkt am Ende des Gebäudes zum Sprung an. Und er rauschte so elegant durch die Luft, dass Anya sich davon angestachelt fühlte, es ihm gleich zu tun. So etwas konnte sie auch! Als sie sich ebenfalls vom festen Boden losfederte, landete er bereits geduckt auf der anderen Seite. Über seine Schulter sehend, weitete er die Augen. In ihnen spiegelten sich die aberdutzenden Lichtpfeile wieder, die unweit von Anya einfach überall einschlugen. In der Seitengasse, auf der Straße, in den umliegenden Gebäuden, einfach überall. Die Blonde war noch mitten im Sprung, da wurden sie von einer Schockwelle sondersgleichen erfasst. Ohne eine Chance zum Landen gehabt zu haben, wurde Anya von ihr mitgerissen. Auch Exa erwischte es, sodass sie beide weggeschleudert wurden. Alles drehte sich und sie war taub. Da war nur noch dieses grelle Licht gewesen, dann der Druck, der sie weggefegt hatte wie ein Staubkorn. Anya hielt die Augen fest geschlossen. Sie befand sich noch mitten in der Luft, doch ihre Lage hatte sich verändert. Arme über den Kopf haltend, versuchte sie sich irgendwie zu schützen. Dann kam der Aufprall. Er war hart, aber irgendetwas musste ihn gedämpft haben, etwas Weiches. Aber sie bewegte sich weiter, konnte jedoch nicht einordnen, wohin es ging. Oder war sie gar tot?   [Anya: 4000LP → 0LP / Ricther: 2900LP → 0LP / Exa: 4000LP / ???: 2000LP → 0LP]   „Du … bist schwer …“ Orientierungslos öffnete das Mädchen die Augen. Sie sah kaum etwas, nur dunkles Blau. Erst jetzt bemerkte sie, dass sich zwei Arme um ihren Rücken gelegt hatten. Dieser … sie lag … er hielt sie fest umschlossen! Sofort stieß Anya sich los. Beide lagen auf der Seite. Exas Lider waren noch fest geschlossen, doch ein Rinnsal an Blut rann von seiner Stirn. Er lächelte freundlich. „Alles okay?“ Erst jetzt wurde sie sich ihrer Umgebung gewahr, die sie über die Schulter des Größeren im Blickfeld hatte. Vor ihr erstreckte sich ein weiteres Gebäude, höher als das, auf dem sie sich befanden und mit verspiegelten Fensterreihen versehen. Auf weißen Lettern wurde für ein Fitnessstudio geworben. Anya hob leicht den Kopf an. „Ah!“ Sofort umschloss sie seine Arme mit ihren Händen. Beinahe direkt unter ihnen befand sich eine stark befahrene Straße. Gerade schaltete eine Ampel auf Rot um, die Autos kamen zum Stillstand. Sie und Exa lagen direkt am Rand des Daches, Letzterer ragte schon leicht darüber hinaus.   Schnell reagierend, griff Anya ihn am Kragen seiner blauen Strickjacke und hievte ihn über sich hinweg, bevor er noch in die Tiefe fiel. Der Kerl war erstaunlich leicht, stellte sie dabei fest und rollte sich in derselben Bewegung über den Blonden hinweg, denn sie wollte garantiert nicht diejenige sein, die mit dem Rücken zum Abgrund stand. Kaum lag sie neben ihm, raffte sie sich auf. Kurz an sich herabsehend, stellte sie bis auf ein paar Schrammen an den Händen und einem aufgescheuerten Knie keine sichtbaren Verletzungen fest. Stöhnend kam auch Exa langsam zur Besinnung. „Das war ganz schön knapp“, murrte sie, als der junge Mann sich aufrichtete und erstmal den Hinterkopf rieb. Dann sprang er auf, wandte sich dem Mädchen zu.   Anya schluckte beim Anblick des Blutes an seiner Stirn, denn die Wunde hatte er sich nur zugefügt, weil er seinen Körper genutzt hatte, um ihren Aufprall zu dämpfen. Den Blick bemerkten, strich Exa mit den Fingerspitzen über die Stelle und sah sich das Rot an seiner Hand erstaunt an. Dann grinste er breit. „Ups.“ Etwas ungläubig wiederholte Anya: „Ups? Alter, das muss genäht werden!“ „Mach ich nachher“, winkte er ab, doch seine unbekümmerte Mimik schwand, wurde ersetzt von einer schon fast furchteinflößenden. Sein Blick schien das Mädchen regelrecht zu durchbohren, als er fragte: „Und jetzt Hand aufs Herz, welche Rolle spielst du in dem Ganzen eigentlich?“ „Ich bin unschuldig!“, stellte Anya sofort klar. „Der Typ aus der Geisterbahn hat mich zuerst angegriffen!“ „Warum?“ „Woher soll ich das wissen, ich kenne die Fratze nicht mal! Dann kam Ricther dazu, aber statt mich zu killen, wie er und seine Speichellecker es sonst versuchen, beschützt er mich plötzlich!“ Anya ließ ihren rechten Zeigefinger um die Schläfe kreisen. „Abgedrehteren Scheiß gibt’s nur in Buffy-Fanfictions. Und glaub mir, die willst du nicht lesen.“   Sein strenger Ausdruck wich einem verwirrten, ganz offensichtlich wusste der Trottel nicht, wer Buffy war. Nämlich ihr Fernseh-Idol, als sie noch jünger war, zumindest bis Anya eines Tages dahinter kam, wie bescheuert die Serie eigentlich und dass das einzig Übernatürliche in dieser Welt Nicks Dämlichkeit war. In beiden Fällen wurde sie Jahre später eines Besseren belehrt, aber hey, immerhin wurde in der Serie damals regelmäßig jemand verprügelt, viel besser als alles, was damals auf Nickelodeon lief …   Anya, die immer mehr in Nostalgie abdriftete, wurde abrupt aus dieser gerissen, als Exa ihre Schulter fester als nötig packte. „Du jagst du Hüterartefakte, nicht wahr? Dann ist es offensichtlich, warum er dich beschützen wollte.“ „Huh?“ „Denkst du, sie sind unzerstörbar, nur weil sie keine festgeschriebene Form haben? In dem Fall sind die Prioritäten klar.“ Anya schlug seinen Arm mit ihrem Handrücken beiseite. „Pfoten weg!“ Das ist eine interessante Information. Vielleicht können wir dieses Wissen eines Tages nutzen, um den Sammler zu erpressen, wenn alle Stränge reißen?   Levriers Stimme ließ Anya nachdenklich grunzen. Stimmte schon. Mehr noch, lieferte das zeitgleich einen möglichen Grund dafür, dass der Dämon sie angegriffen hat. Denn ganz offensichtlich war er kein Undying, sonst hätte er sich nicht gegen Ricther gestellt. War es sein Ziel gewesen, die Artefakte zu zerstören? Damit waren die möglichen Motive zweier Streithähne geklärt. Bliebe nur … „Und du?“, fragte Anya provokativ. „Wieso hast du dich mit Sir Klapp-a-lot angelegt?“ „Das ist meine Sache. Sei lieber dankbar dafür, dass ich niemals ein Mädchen im Stich lassen würde, selbst wenn sie ganz offensichtlich nichts Gutes im Schilde führt!“ „Tch!“ „Du solltest aufpassen. Nach den Hüterartefakten zu suchen ist kein Spaziergang. Du wirst vermutlich sterben, bevor du die Hälfte davon überhaupt zusammengesammelt hast“, sagte Exa und Anya gefror förmlich das Blut in den Adern, wie er sie aus seinen dunkel umrandeten Augen mit dem Blut im Gesicht so überlegen anstarrte, „was auch der einzige Grund ist, warum ich mich nicht um dich kümmern muss.“ Sie schnaubte grimmig und drehte sich weg. „Wenn ich es -nicht- versuche, bin ich erst recht tot, Einstein. Denkste, ich mach das freiwillig?“ „Dann sollte ich dir wohl raten, dir genau zu überlegen, was du mit deinen letzten Tagen anstellen willst.“ Auch er wandte sich ab, trat an den Rand des Dachs. Anya sah ihm aus den Augenwinkeln nach und verschränkte die Arme. „Kämpfen.“ „Heh. Gute Antwort. Übrigens bitte ich dich um ein wenig Diskretion, was deine Begegnung mit mir angeht. Es gibt bestimmte Gründe, warum niemand wissen darf, dass ich hier bin. Oder überhaupt existiere.“ Nachdenklich sah Anya herüber zum Dach des Verwaltungsgebäudes eine Straße weiter. Er hätte sie auch zusammen mit Ricther und diesem Dämon sterben lassen können. Demnach schuldete sie ihm etwas. Und wenn sie Matt oder Zanthe davon erzählte, was in der Seitengasse geschehen war, würde sie vermutlich nicht einmal mehr alleine auf die Toilette gehen können.   „Abgemach-“, drehte sie sich ihm wieder zu. Und stellte fest, dass er weg war. Mit ihrem Blick das Dach absuchend, konnte sie Exa nirgendwo entdecken. So stellte sie sich dort hin, wo er eben noch verharrt hatte und sah auf die Straße unter sich hinab, aber auch auf dem Bürgersteig oder sonstwo war keine Spur mehr von dem Typen zu entdecken. Er hat sich getarnt und ist dann von hier heruntergesprungen. Um genau zu sein läuft er gerade gen Westen vor dir davon.   „Du kannst ihn sehen!? Wieso ich nicht!?“   Ein einfacher Zauber, mehr nicht. Scheinbar wirkt er auf Immaterielle nicht.   „Sollen wir ihm folgen?“, überlegte Anya laut. Ich fürchte, er würde darauf nicht besonders angetan reagieren. Es wäre unsinnig, das Leben aufs Spiel zu setzen, das er gerettet hat.   Die Blonde zuckte mit den Schultern. „Meinetwegen. Den sehen wir früher oder später sowieso wieder, wollen wir wetten? Ich hab's im Urin.“ Irgendetwas verband ihn schließlich mit den Hütern. So wie er kämpfte, war er vermutlich selbst einer, auch wenn seine Feindseligkeit gegenüber Ricther schon seltsam anmutete. Schlagartig senkte Anya den Blick. Stimmte es denn, dass der sie nur wegen der Hüterkarten versucht hatte zu beschützen, Karten, die sie nicht einmal mehr besaß? So etwas müsste jemand wie er eigentlich wissen, der hatte doch in seinem Helm bestimmt ein Radar für solche Angelegenheiten eingebaut! „Denkst du, die Blechbüchse ist im Eimer?“   Es wäre ironisch, wenn sein eigener, ungeschriebener Pfad dafür gesorgt hat, dass er sein Ende findet. Andererseits, er ist und bleibt ein Undying. Niemand kann wissen, wie sich seine Magie auf ihn selbst auswirkt …   Anya sah über die Schulter zurück. „Und der andere Kerl?“   Dasselbe gilt für ihn … oder es.   „Ich hoffe, Ricther lebt. Vielleicht … ach egal.“ Anya wollte Levrier nicht sagen, dass sie sich an die Hoffnung zu klammern begann, der Undying könnte einen Sinneswandel gehabt haben und ihr nun helfen wollen. „Wir müssen los. Wetten, Summers dreht durch, weil ich so lange weg war?“   ~-~-~   Inzwischen war der Hafen verlassen, eingetaucht in das Licht eines Vollmonds. „Ihr wisst, was zu tun ist“, wies Nick die Krähen auf seinen Schultern an. Beide stießen sich mit starkem Flügelschlag von ihm ab und verschwanden in der Nacht. Der junge Mann zog die Kapuze seiner Windjacke tief ins Gesicht. Er hielt sich hinter der Reihe von drei nebeneinander stehenden Lagerhäusern verborgen. Genau im mittleren von ihnen hielt sich Alexandra in diesem Moment auf und bereitete alles vor. „Auf mein Kommando schalten wir 'die Kameras um'“, murmelte er leise vor sich hin. „Jetzt.“   Und mit einem Mal verschwand die Wand aus gewelltem Blech vor ihm. Stattdessen sah er den Hafen von oben, aus den Augen Sparklys, die in etwa zweihundert Metern ihre Kreise zog. Noch war nichts zu sehen von dem geheimen Treffen. Die abgerundeten Dächer der Lagerhäuser betrachtend, wartete Nick darauf, dass Alexandra jene verließ. „Umschalten“, verlangte er leise. Schlagartig sah er den Hafen aus der Perspektive Snugglys, die auf einem der mobilen Krangestelle saß, mit Blick auf die Straße, die am Hafen vorbei führte. Und sie sah, wie das Scheinwerferlicht einer einzelnen, schwarzen Limousine sich näherte. Der Wagen passierte ein Tor, dessen Schranke sich nach einer kurzen Wartezeit anhob, sodass er das Innere des Hafens betreten konnte. Die Diebin hatte den Wachmann bestochen. „Umschalten“, murmelte Nick erneut. Er sah wieder die Lagerhäuser, aus dem in diesem Moment eine winzige Gestalt trat. Dunkelblondes Haar, schwarze Hosen und eine schwarze Lederjacke. An ihrem Hosenbund befand sich Anyas Deckbox. Schnellen Schrittes marschierte sie zum betonierten, riesigen Anlegeplatz. Bis sie ins Scheinwerferlicht eingetaucht wurde. Der Wagen hielt einige Meter vor ihr an. „Na endlich“, gurrte Alexandra, als der erste Mann ausstieg, „man lässt eine Dame nicht warten. Und ich habe schon sehr lange gewartet.“ Dem Glatzkopf folgten noch drei weitere Männer einschließlich Fahrer, allesamt in schwarzen Anzügen. Einige hielten die Arme vor dem Schritt verschränkt. Mit Waffen in der Hand. Erst dann folgte De la Rosa. „Da bist du ja, du Schwein“, murmelte Nick hasserfüllt. Er hob sich von seinen Schergen ab, trug einen weißen Anzug, passend zu seinem Haar. Der Mafioso war groß und schlank, viele Ringe zierten seine Finger, sein Bart war getrimmt und verlief lediglich am Unterkiefer entlang. Nick hätte ihn gerne näher ins Visier genommen, aber dazu müsste Sparkly näher ran, was nicht klug wäre. Aber er würde ihm noch von Angesicht zu Angesicht gegenüber stehen …   „Alexandra, meine Liebe!“, begrüßte der braungebrannte Mann und schritt auf die junge Frau mit ausgestreckten Armen zu. „Schön, dich wiederzusehen.“ Zu Nicks Erstaunen ging sie darauf ein und ließ sich drücken. Als die beiden voneinander abließen, fragte die Diebin in kindlicher Neugier: „Und? Wie groß ist der Koffer, den Sie für mich haben?“ „Das hängt davon ab, was du für mich hast“, ging er wie ein lachender Onkel darauf ein. Dann schnippte er mit dem Finger. Einer seiner Schergen trat um die Limousine herum und holte aus dem Kofferraum einen metallischen Koffer, den er auf beiden Handflächen tragend zu De la Rosa brachte. „Wie viel?“, fragte Alexandra angespannt. „Zehn Millionen.“ Als Beweis öffnete sein Angestellter den Koffer, in dem fein aneinander gereiht die blassgrünen Scheinchen auf ihre neue Besitzerin warteten. „Was ist los? Ich hatte Sie spendabler in Erinnerung“, scherzte Alex mit einer Spur Missgunst in der Stimme. „Bisher hast du gar nichts auf den Tisch gelegt, mein Täubchen“, wies er sie freundlich, aber bestimmend zurecht. Und ließ den Koffer mit einem Nicken wieder zuklappen. Alexandra griff an ihre Deckbox. „Vermutlich kennen Sie die Geschichte nicht, aber in dieser Welt existieren sieben Individuen, die Hüter genannt werden. Und jeder von ihnen beschützt ein Artefakt mit besonderen Kräften. Eines davon lässt die biologische Uhr seines Besitzers anhalten.“ „Es verleiht Unsterblichkeit?“, fragte De la Rosa skeptisch. „Wie kommt es, dass ich von dieser Geschichte zum ersten Mal höre?“ „Machen Sie sich nicht lächerlich. Was denken Sie denn?“ Sie kicherte. „Was werden Sie staunen, wenn ich Ihnen sage, dass ich sogar zwei Artefakte der Hüter besitze …“   Nick rümpfte die Nase, als er sah, wie Alexandra den Verschluss bereits öffnete. Das war ihm genug Vorspiel. „Macht euch zum Angriff bereit. Los!“ In dem Moment trennte sich seine Verbindung mit Sparkly und er blickte wieder auf das gewellte Blech der Lagerhäuser vor sich.   Gerade als Alexandra ihre Finger an die vorderste Karte des Decks legte, schoss eine Art schwarzer Pfeil wie aus dem Nichts auf den Glatzkopf links neben De la Rosa hinab. Es passierte so schnell, dass die junge Frau nicht einmal aufschreien konnte. So hatte sie nicht einmal erkannt, dass es eine Krähe war, die den Hinterkopf des Mannes regelrecht durchbohrte und ihn damit zu Fall brachte. Im selben Moment wurde weiter hinten beim Wagen ein anderer von einer zweiten getötet, die ihm das rechte Auge aushackte. „Was ist-!?“, stammelte De la Rosa. „Wo kommen die her!? Erschießt sie!“ Die verbliebenen Gefolgsleute zückten ihre Waffen und begannen auf die Krähen zu zielen, welche aber zu schnell waren. Jeder Schuss, der ihnen galt, verfehlte sie. Im großen Bogen mähte Sparkly den nächsten Mann nieder. Panische Schreie begannen den Hafen in Aufruhr zu versetzen. Gerade als auch Diego seine Waffe zückte, stieß einer sein Fahrer gegen ihn, als er Snuggly auswich. Der alte Mann wurde zu Boden geworfen.   In all dem stand Alexandra wie angewurzelt da. Vor ihren Füßen lag der tote Scherge mit dem Koffer. Nach dem sie kurzerhand griff. Und anfing, davon zu laufen. Die Schritte hörend, sah der am Boden liegende De la Rosa ihr hinterher, wie sie Richtung der Lagerhäuser flüchtete. „Warte!“   Die junge Frau warf einen Blick über die Schulter und sah De la Rosa, wie er sich aufrappelte und an die Verfolgung machte. Die Krähen dagegen kämpften mit den zwei verbliebenen Schergen des Mafioso, welcher hoffentlich lang genug andauern würde, um aus ihrem Blickfeld zu verschwinden. „Bleib stehen!“, hörte sie den Mann rufen. Zwischen ihnen waren mindestens fünfzehn Meter Abstand, aber er holte zum Schrecken Alexandras auf. Aber es wunderte sie nicht, denn dieser Mann hatte allerlei Experimente an sich durchgeführt, um sein Haltbarkeitsdatum zu verlängern. Ihr entfuhr ein leises: „Verdammt!“ Sie hatte die Lagerhäuser inzwischen fast erreicht. Dort gab es genug Kistenstapel, um sich für einen Hinterhalt zu verstecken – aber die Tür neben dem Tor war zu! Dabei hatte sie diese extra offen gelassen, wie-!? Dann blieb ihr keine Wahl …   „Bleib stehen!“, schrie Diego der jungen Frau zum wiederholten Male hinterher. Und dieses Mal beließ er es nicht dabei, sondern feuerte einen Schuss aus seiner Pistole ab. In diesem Moment huschte Alexandra zwischen die schmale Lücke der beiden Lagerhäuser linkerhand. Der nahezu lautlose Schuss ging daneben und prallte an der Ecke des Gebäudes ab. Zeitgleich war Nick nach einem kleinen, aber wenig aufschlussreichen Abstecher in Alex' Versteck wieder auf der anderen Seite der Lagerhäuser angelangt. Dank seiner neuen Kräfte spürte er, wie die beiden sich näherten, die Diebin voran. Mittlerweile hatten Snuggly und Sparkly die Handlanger De la Rosas besiegt, denn die Schüsse waren verklungen.   Mit dem Koffer in der Hand, hastete Alexandra durch den Gang. Ein weiterer Schuss zischte über sie hinweg. Sie wurde immer langsamer, konnte das Tempo nicht mehr aufrecht erhalten und stürzte vorne über, sich die brennende Lunge haltend. Wenig später hatte Diego sie erreicht, seine mit einem Schalldämpfer ausgestattete Pistole auf die junge Frau gerichtet. „I-ich war das nicht“, keuchte sie über die Schulter sehend. „Sicher“, erwiderte er in seinem gebrochenen Akzent. „Deswegen hältst du auch mein Geld in deiner Hand.“ „Sie wollten mich von Anfang an umlegen!“, fauchte Alexandra verächtlich. „Ja. Aber du wärst mir beinahe zuvorgekommen.“ Die Dunkelblonde lachte zynisch. „Bestimmt, ich bin nebenberuflich Kampfvogeltrainerin.“ „Einer wie dir würde ich das ohne Zweifel zutrauen.“ In seinen Worten war der Anflug von Faszination versteckt. Dann machte er mit seiner Waffe eine zu sich winkende Bewegung. „Den Koffer, wenn du gestattest.“   Es knallte. Blut spritzte in Alexandras Gesicht, gefolgt von einem gellenden Schrei Diegos, der sich mit dem lautstarken Schreck der jungen Frau vermischte. Fassungslos hielt sich der Mafioso die Hand, der nun zweieinhalb Finger und die Waffe fehlten. Beiden war während ihres Streits entgangen, wie sich die vermummte Gestalt Nicks hinter dem Lagerhaus mit gezückter Waffe hervor geschoben hatte. Wimmernd klammerte sich Diego de la Rosa um seine stark blutende Hand. „Was hast du getan!?“ Auch Alexandra sah entgeistert dem großgewachsenen Angreifer entgegen. „Dieselbe Frage könnte ich Ihnen stellen, De la Rosa“, erwiderte Nick unterkühlt, dabei seine Waffe auf sein Gegenüber gerichtet. „Weißt du, wer ich bin!?“, schrie dieser manisch. „Natürlich.“ „Du warst das“, hauchte im selben Moment Alexandra fassungslos, jedoch ohne beachtet zu werden. De la Rosa verstummte. Leise frage Nick: „Haben Sie sich je gefragt, was all diejenigen gefühlt haben, deren Angehörige Sie haben töten lassen?“ „Ich habe nie-!“ Ohne einzulenken, schnitt der Vermummte ihm das Wort ab. „Und haben Sie jemals Reue gespürt? Schuldgefühle empfunden für das, was -Sie- getan haben?“ Der ergraute Mann wich einen Schritt zurück. „Bist du etwa wegen Rache hier?“ „Nein. Antworten Sie einfach auf meine Fragen“, forderte Nick, dem jedoch tatsächlich relativ wenig an jenen lag. Ihn interessierte mehr, was er dabei fühlte. Gar nichts … Beunruhigt sah Alexandra zwischen beiden hin und her. Ihr Griff um den Koffer mit Geld festigte sich. Eine grimmige Entschlossenheit bildete sich in ihren Gesichtszügen.   Es dauerte einen Moment, ehe der Mafioso gedämpft antwortete. „Ja, das habe ich. Aber damit die einen leben, müssen manchmal andere sterben.“ „Das ist richtig.“ Nick drückte ab, es gab einen lauten Knall. Mit einem schmalen Loch in der Stirn stürzte De la Rosa hintenüber und blieb regungslos liegen. Alexandra unterdrückte einen Schrei, wimmerte stattdessen bloß und wandte den Blick ab. Als Nick ihr mit einer Bewegung seiner leeren Hand befahl, sich zu erheben, folgte sie dieser Anweisung kommentarlos. Dabei drehte sie sich nur minimal dem Mann seitlich zu, sodass er ihre eigene, leere Hand hinter ihrem Körper nicht sehen konnte. „Was willst du? Das hier?“, fragte sie provokativ und hielt ihm den Koffer entgegen. „Vielleicht?“, sagte Nick und richtete langsam seine Waffe auf ihren Kopf. In diesem Augenblick kamen von beiden Seiten Snuggly und Sparkly angeflogen und landeten wie gewohnt auf seinen Schultern. „Aber sagen Sie mir, Alexandra, wenn das Geld De la Rosas Teil des Deals ist. Was ist dann Ihrer?“   Sie zögerte einen Moment und biss sich auf die Lippen. Von irgendetwas hatte er sie gerade abgehalten, erkannte Nick sofort. Alexandra griff nach der Deckbox an ihrem Gürtel und zeigte sie, genau wie den noch immer erhobenen Koffer, vor. „Das da. Hier sind Karten drin, die es nur einmal auf der Welt gibt. De la Rosa war ein Sammler, der bereit war, alles für sie zu zahlen“, log Alexandra. Nick wusste es besser. Der Mafioso hatte nicht nach den Karten, sondern der in ihnen enthaltenen Macht gesucht. „Fallen lassen“, befahl Nick und legte seine andere Hand an die Waffe, um besser zielen zu können. Im Antlitz des Vermummten und seinen beiden Krähen entfuhr Alexandra ein bitterböses Lachen. „Also bin ich jetzt die Nächste, ja? Du würdest dich einfach so an einer hilflosen Frau vergreifen?“ „Sie sind nicht hilflos.“ Ein Glucksen von sich gebend, ließ sie sowohl Deckbox, als auch den Koffer fallen. Analog dazu hauchte sie: „Da könntest du Recht haben.“ Noch bevor Nick reagieren konnte, ließ sie den linken Arm, in dessen Hand sie die Karten gehalten hatte, nach vorne schnellen. Er erkannte lediglich eine Art goldenes Schmuckstück, das in einer gewundenen Form vom Mittelfinger unter ihrer Jacke verschwand. Als er begriff, schoss von dessen Spitze bereits eine grelle, hellblaue Lichtkugel auf ihn zu. Die Nick mit seiner flachen, orange aufleuchtenden Hand weg schlug. Sie krachte in die Wand oberhalb eines der Lagerhäuser und riss einen ganzen Teil davon in Stücke.   Alexandra, die Hand noch nach vorne gerichtet, stand da wie eine Salzsäule. Es war zu offensichtlich, dass sie nicht mit den übernatürlichen Fähigkeiten ihres Gegenüber gerechnet hatte. Nicht weniger erstaunt war sie dann, als Nick die Waffe sinken ließ. „Im Grunde bin ich nur hier, um das zurückzuholen, was Sie gestohlen haben.“ „Die Karten?“, fragte Alexandra und sah hinab zur Deckbox auf dem Boden. „Wieso?“ „Ich weiß mehr als Sie denken. Über Sie, die Hüter-Artefakte … aber Sie wissen vielleicht noch viel mehr. Was genau sind Sie?“, wollte Nick mit einem Hauch Faszination in der Stimme wissen. Sein Herz klopfte vermutlich nicht weniger schnell als das ihre, hatte er zwar mit einem Angriff dieser Art gerechnet, doch ihn tatsächlich zu erleben war noch einmal etwas ganz anderes. „Eine Schatzjägerin, wenn du so willst.“ Beim Sprechen hob sie betont den Arm mit dem goldenen Handschuh hoch, dessen formlosen Windungen sich mindestens bis zu ihrem Ellbogen erstreckten. „Mit guten Kontakten, nehme ich an.“ Nick verfrachtete die Waffe hinter seinem Hosenbund. „Den besten“, nickte sie bestimmend. Ihre grünen Augen funkelten, als wären sie Smaragde, etwas, das der junge Mann noch bei niemandem sonst je wahrgenommen hatte. Sie setzte ein wissendes Lächeln auf. „Wenn du nicht zum Punkt kommst, dann übernehme ich das für dich: Wie wäre es mit einem Deal?“ Sparkly spreizte die Flügel auf Nicks Schultern, doch sie sagte nichts. Nick wusste, dass sie ihm davon abraten wollte, aber diese Entscheidung war längst getroffen. „Deine Hilfe gegen …?“ „Deine Hilfe. Und den Koffer“, hauchte sie und setzte ihren Fuß auf ebenjenen ab. „Hilfe wobei?“ „Dasselbe könnte-“ Doch Alexandra wurde unlängst vom Schrillen mehrerer Sirenen unterbrochen. Beide schreckten auf. Die Blonde fluchte. „Scheiße, der Wachmann hat die Bullen gerufen.“ „War doch zu erwarten“, gab sich Nick gleichgültig. Und streckte ihr seine Hand aus. „Zurück zum Wesentlichen. Jemand mit Kontakten ist genau wonach ich suche. In Angesicht dessen kann ich über den Diebstahl wohl hinwegsehen. Also, wollen wir gegenseitig voneinander profitieren?“ Sie lachte auf. Unterkühlt, mit einem Hauch Arroganz, aber gleichzeitig überrascht. Dann schlug sie ein.     Turn 69 – Names To Cross Off Am nächsten Morgen erhält Anya völlig unerwartet ihr verloren geglaubtes Deck zurück. Doch die Wiedervereinigung mit Nick dauert nur kurz an, da dieser seinen eigenen Plänen nachzugehen gedenkt. Und auch Anya, die sich an Exas Worte zurückerinnert, kommt zu der Erkenntnis, dass es eine ganz besondere Liste gibt, die es abzuarbeiten gilt. Weshalb sie Melinda mit ganz bestimmten Absichten aufsucht. Womit sie jedoch nicht die Einzige ist … Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)