Lieben und geliebt werden von Saph_ira ================================================================================ Prolog: -------- Wenn man über das eigene Leben nachdachte, dann riss man sich ungewollt die Wunden auf, die man schon längst überwunden geglaubt hatte. Man sagte auch, die Zeit heile die Wunden, aber bestimmt nicht, wenn sie tief eingegrabene Narben am Herzen hinterlassen hatten... Weshalb und wozu dann also sich an das Geschehene erinnern müssen? Nur weil ein Freund darüber ein Buch schreiben wollte? Nein, nicht darüber...   „Ich will ein Buch über die französische Revolution schreiben“, hatte ebendiese Freund zu ihm gesagt.   „Und was hat es mit mir zu tun?“, stellte er die Gegenfrage.   „Ich möchte, dass du mir über Oscar erzählst“, sagte sein Freund mit einem Hauch von Mitgefühl. Bernard Chatelett war ein begabter Gerichtsschreiber und Journalist. Die besagte Revolution hatte er auch hautnah miterlebt und sogar den Sturm auf die Bastille angeführt. Das waren grausige Zeiten gewesen und lagen schon über ein Jahrzehnten zurück. Bernard legte seinem Freund eine tröstende Hand auf die Schulter. „Ich kann verstehen, wie dir zumute ist, André. Aber du bist der einzige, der sie in und auswendig kennt. Du bist mit ihr aufgewachsen und warst immer an ihrer Seite.“   „Und trotzdem musste ich sie gehen lassen... Um ihren Lebenswillen wegen, musste ich das...“, seufzte Andrè schwer und verzog betrübt sein Gesicht.   „Dafür hinterließ sie dir aber euren Sohn“, versuchte Bernard ihn wenigstens ein kleines bisschen aufzumuntern.   „Das stimmt, aber unsere Tochter hat sie mitgenommen...“ André warf dabei einen Blick auf den Jungen an seiner Seite. Der Junge erwiderte seinen Blick – undurchschaubar und konzentriert. Die leichte Brise des Windes wehte ihm die blonden Locken seines kurzes Haares ins Gesicht, aber das beachtete er nicht. Sie saßen in dem kleinen Pavillon, der sich in dem ebenso kleinen Rosengärtchen hinter dem Haus befand.   Eine Frau kam aus dem Haus und brachte erfrischende Getränke auf einem Holztablett, den sie auf dem Tisch abstellte und sich ihre hellbraune Haarsträhne an einer Schläfe hinters Ohr schob. Auf ihrem rechten Finger blitzte sogleich ein Ehering durch das einfallende Sonnenlicht auf. Sie verteilte die Getränke und nahm dann neben André Platz. Um sie herum versammelte sich sofort ein paar kleine Kinder und spitzten neugierig ihre Ohren auf. Sie verstummten nacheinander ihre kindliche Albernheiten und wurden mucksmäuschen still – darauf wartend, dass eine Geschichte erzählt wurde.   Der älteste Junge wechselte noch eine Weile den stummen Blickkontakt mit seinem Vater, bis dieser sein Kopf abwandte und lieber den silbernen Ring an seinem Finger der rechten Hand trübsinnig anstarrte. André konnte nicht mehr länger in diese unergründliche, saphirblaue Augen seines Sohnes hineinsehen, ohne dabei an dessen Mutter zu denken. Es war schon lange her, dass er Oscar zum letzten Mal gesehen hatte. Oscar – seine große Liebe, die noch unerreichbarer war als jemals zuvor: Er war in Arras und sie in der Normandie. „Wieso bist du heute alleine hier, Bernard?“, versuchte er von dem Thema abzulenken und schaute wieder seinen Freund an. Schon alleine der Gedanke an Oscar, verursachte schmerzliche Stiche in seinem Herzen.   „Rosalie wollte sie in der Normandie besuchen, André.“   So war das also... Ob Oscar Rosalie die Vergangenheit auch erzählen würde? Und wie ging es ihr jetzt? Was machte sie gerade? Und ihre gemeinsame Tochter, die er mit ihr gehen ließ? Die Grübeleien darüber würden zu nichts führen – außer ihm noch mehr Seelenqualen bescheren... Vielleicht sollte er sich der Vergangenheit doch noch stellen und sie schlussendlich ein für allemal hinter sich lassen... „Also gut. Ich werde dir über Oscar erzählen, Bernard...“, gab André nach und überlegte kurz, wo er am besten beginnen sollte...           - - -           In der Normandie war Rosalie schon seit Tagen Oscars Gast. Sie erzählte ihr, dass Bernard ein Buch schreiben wollte und bat sie, über André zu erzählen. „Ihr wart doch früher so unzertrennlich, Lady Oscar.“   „Nun sind wir aber getrennt.“ Oscar wollte nicht an die tragischen Momente aus der Vergangenheit erinnert werden. Das schmerzte ihr sehr, aber für Rosalie würde sie das tun. Sie brauchte dafür nur etwas Zeit... Zeit, um die Gedanken zu sammeln und sich selbst Dinge einzugestehen, die sie früher nicht einmal in Erwägung gezogen hätte. Unauffällig strich sie mit ihrem Daumen über den Ring an ihrem Finger ihrer rechten Hand – das tat sie immer, wenn sie an André dachte und um ihre Gefühle zu besänftigen. „Was hältst du davon, wenn wir heute am Strand spazieren gehen?“, schlug sie an einem warmen Mittag vor. Die Zeit war nun gekommen und sie war endlich bereit sich der Vergangenheit zu stellen.   „Das ist ein ausgezeichneter Vorschlag, Lady Oscar“, erwiderte Rosalie wie immer verzückt und freundlich. Zusammen mit Oscars Eltern und Graf de Girodelle, saßen sie gerade zu Tee und Gebäck an einem Tisch unter einer, vom Wind geschützten, Zeltplane des Gartens ihres Elternhauses.   „Dann können wir gleich aufbrechen“, meinte Oscar und stand von ihrem Platz auf. „Ihr entschuldigt uns“, fügte sie zu den verbliebenen Anwesenden am Tisch hinzu und ging einfach. Rosalie, zwei kleine Kinder und ein junges Mädchen, folgten ihr wie selbstverständlich.           Zu fünft spazierten sie am Strand, lauschten dem Rauschen des Meeres zu und atmeten die salzige Luft in ihren Lungen ein. „Was willst du über André hören, Rosalie?“, fragte Oscar gefasst und sah nur stur geradeaus.   „Das was Ihr über ihn wisst, Lady Oscar.“   „Nun gut, ich werde dir über ihn alles erzählen.“ Oscar schaute kurz auf das junge Mädchen an ihrer Seite und lächelte sie mütterlich an. Das salzige Meereswind wehte ihr das dunkelbraune Haar von den Schultern und ihre smaragdgrüne Augen glänzten bei dem einfallenden Licht der Nachmittagssonne. „Oder über uns... Und wie wir die Liebe zueinander gefunden haben...“ Oscar richtete ihren Blick wieder in die Ferne und verfiel den Erinnerungen aus den längst vergangenen Tagen... „Erinnerst du dich an einen Abend, als wir in den Büchern mit allen Namen der Adligen nach deiner leiblichen Mutter gesucht haben, Rosalie?“   „Aber natürlich, Lady Oscar. Ich weiß noch, dass ich eingeschlafen bin und Ihr die ganze Nacht durchgelesen habt. André, glaube ich, auch...“   „Nein, Rosalie, André war auch eingeschlafen...“ An diesem Punkt unterbrach sich Oscar, streckte ihr Gesicht gen Himmel und atmete tief durch, bevor sie ihre Erzählung fortsetzte: „...und er hat im Schlaf gesprochen. Ich dachte, es sei eine Einbildung, aber dem war nicht so...“ Kapitel 1: Gefühle ------------------ Kaum merklich hielt die Nacht über das Land den Einzug ein. Im Hause der de Jarjayes herrschte eine gespenstige Stille und die Dunkelheit umhüllte alle Zimmern, Räume und Korridore. Leise schlugen die Uhren die Mitternacht. Alle Bewohner schliefen schon längst, nur in Rosalies Zimmer brannte ein fünffacher Kerzenständer auf dem Tisch. Drei große Stapeln von Büchern häuften sich auf dem Tisch – manche waren aufgeschlagen, manche beiseite geräumt und auf zwei von ihnen ruhten die Köpfe von Rosalie und André. Beide hatte die Müdigkeit übermannt – vorerst Rosalie und etwas später auch André. Oscar war die Einzige, die ein Buch nach dem anderen konzentriert überblätterte und keine Spur von Müdigkeit zeigte. Sie wollte unbedingt den Namen von Rosalies leiblichen Mutter finden und würde sich nicht so leicht davon ablenken lassen bis sie ihn gefunden hatte. Durch Jahrelange Erziehung in Disziplin und Selbstbeherrschung, war sie mittlerweile gewohnt mit wenig Schlaf auszukommen. Rosalie und André sollten daher ruhig weiter schlafen – das gönnte sie den beiden. Oscar legte ein Buch beiseite und griff nach dem Nächsten, aber auch dort war keine Martine Gabrielle aufgezeichnet – das war der Name von Rosalies leiblichen Mutter.       Die Kerzen waren bereits zur Hälfte abgebrannt, die Flammen flatterten leicht und die Uhr schlug schon zwei Stunden nach Mitternacht. Oscar saß weiterhin ungerührt am Tisch in Rosalies Zimmer und blätterte in dem nächsten von den unzähligen Büchern, ohne geringsten Erfolg. Sie überschlug eine Seite und dann hörte sie ein schläfriges Murmel von Gegenüber. „Oscar...“   „Was ist, André?“ Oscar bekam keine Antwort. Wollte er sie etwa veräppeln? Zuerst sagte er ihren Namen, als wolle er etwas wissen und dann antwortete er nicht! Oscar hob mit gerunzelter Stirn den Blick auf ihren langjährigen Freund und musste überrascht feststellen, dass dieser ungerührt weiterschlief. Vielleicht hatte sie sich verhört? Oder hatte er im Schlaf gesprochen? Oscar bekam keine Antwort. Also hatte sie sich doch verhört! Sie wollte schon ihren Blick wieder auf das Buch vor ihr auf dem Tisch senken, als André seine Lippen bewegte: „...ich liebe dich...“, hauchte er kaum hörbar und leise.   Oscar hatte ihn dennoch verstanden. „Wie bitte?“ Ihr Mund schlug auf, ihre Augen weiteten sich und sie selbst war wie entgeistert. Hatte er das wirklich gesagt? Nein, das konnte nicht sein! Sie sah bestimmt schon Gespenster! Vielleicht sollte sie sich lieber auch hinlegen und eine Stündchen schlafen?! Aber sie hatte doch Rosalie versprochen, nach ihrer leiblichen Mutter zu suchen! Und zudem noch war nicht einmal die Hälfte der Büchern auf dem Stapel neben ihr durchgelesen! Oscar senkte ihren Blick wieder auf den Buch vor sich und setzte ihre Suche fort, denn von André kam kein weiteres Ton mehr über die Lippen. Also musste sie sich ganz bestimmt geirrt haben... Sie waren Freunde seit Kindesalter und das würde für immer so bleiben... Dennoch bekam sie ein mulmiges Gefühl und seine Worte gingen ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sie konnte sich nicht mehr wie vorhin beim Lesen konzentrieren, aber sie zwang sich. Es müsste gehen! André wusste selbst bestimmt nicht, was er da redete und Träume entsprachen keiner Wahrheit. Und wenn er wieder aufwacht, würde er selbst vergessen haben, was er geträumt hatte. Deshalb war die Sache es nicht wert, um mehr darüber nachzugrübeln. Aber warum ging es ihr dann nicht mehr aus dem Kopf? Warum schlug ihr Herz dann aufgeregter? Und was war das für eigenartige Wärme, die ihren Körper durchströmte? Nein! Was auch immer das war, es dürfte nicht sein! Sie führte das Leben eines Mannes, so wie ihr Vater sie erzogen hatte. Sie war ein Offizier und daher passte so etwas wie Liebe nicht hinein. Als Kommandant des königlichen Garderegiments war es ihre Pflicht die königliche Familie zu schützen. Das Leben einer Frau wäre dadurch undenkbar und so lange Oscar sich erinnern konnte, hatte sie das noch nie bedauert. Bis jetzt – seit André ihr diese drei Worte im Schlaf offenbart hatte... Ihre Hände zitterten leicht und ihre Finger umklammerten den Einband fester. Sie musste das überwinden, es im Keim ersticken und dann ab morgen würde es wieder so sein, wie es bisher war. So redete es sich Oscar angestrengt ein und das half ihr, ihre aufgeweckte Gefühle zu besänftigen. Das war gut so – wie für sie, so auch für André.       Die Nacht ging genauso leise und still vorüber, wie sie gekommen war. Aber trotz Anstrengung, konnte Oscar in den Büchern den Namen von Rosalies leiblichen Mutter nicht finden.   Mit den ersten Sonnenstrahlen erwachte auch André aus dem Schlaf. Ach, nein, er wollte noch weiter schlafen, aber es ging nicht mehr – der neue Tag war angebrochen und es gab noch einiges zu tun. Noch etwas schlaftrunken richtete André sich auf und streckte herzhaft seine versteifte Glieder, um ganz wach zu werden. Sein Blick fiel dabei auf Oscar, die ungerührt ihm gegenüber saß und in einem der letzten Büchern blätterte. Hatte sie etwa die ganze Nacht kein Auge zugemacht? Sie sah nicht einmal müde aus. Im Gegenteil: Sie wirkte wie immer gefasst und undurchschaubar. Ach, Oscar, sie setzte immer alles daran, um ihr Ziel zu erreichen. Sie müsste Rosalie sehr gern haben, wenn sie sogar die ganze Nacht für sie wach blieb. Und für ihn? Würde Oscar so etwas auch für ihn tun? Sicherlich würde sie das, denn sie waren Freunde seit Kindesalter und sie hatte sich für ihn vor ein paar Jahren bei dem alten König eingesetzt, als man ihn für angebliches Verschulden hinrichten wollte... Ja, genau, Freunde und nicht mehr oder weniger...   André sah Oscar an und dachte dabei an das, was er geträumt hatte: Er hatte im Traum Oscar seine Liebe gestanden und sie hatte seine Liebe erwidert. Er vermochte nicht zu sagen, wie ihr Kuss geschmeckt hatte, aber es war dennoch schön gewesen... Sehr schön sogar... und so realistisch... Aber leider war das nur ein Traum und würde es auch so bleiben. Oscar würde es niemals tun, so bedauerlich es auch sein mochte. Mittlerweile war sie Anfang zwanzig – er, André, war nur ein Jahr älter, und noch nie hatte sie so etwas wie Liebe oder Zuneigung empfunden. Viel zu sehr war Oscar in ihrer Erziehung als Mann verstrickt, dass sie niemals ihre weiblichen Gefühle sich zulassen würde. Ihr Vater, General Reynier de Jarjayes, ließ sie von Geburt an wie einen Knaben erziehen, damit sie in seine Fußstapfen trat und weil er keinen Sohn hatte. Und seine Erziehung trug schon bald Früchte: Oscar wurde mit vierzehn Kapitän des königlichen Garderegiments und als Marie Antoinette zur Königin wurde, wurde sie auf dem Wunsch Ihrer Majestät zum Posten als Kommandant befördert. Welch eine Ehre – vor allem für die Familie der de Jarjayes... Aber niemand stellte dabei die Frage, was eigentlich Oscar selbst darüber dachte und wie sie sich fühlte...   Als hätte sie seine Gedanken gelesen, sah Oscar von dem Buch auf und André wandte seinen Blick von ihr ab, um nicht aufzufallen. Er schaute zum Fenster, wo draußen die Morgenröte die Reste der Nacht bereits ganz vertrieben hatte und nun mit hellen Sonnenlicht alles umhüllte. „Es ist Morgen geworden, ohne dass ich es bemerkte.“ Dabei fiel ihm die schlafende Rosalie auf. „Wir müssen irgendwann mal eingeschlafen sein“, sagte er und wollte sie wecken.   „Lass sie noch schlafen“, hielt ihn Oscar von seinem Vorhaben ab. „Bedenke, was gestern so alles passiert ist. Sie braucht sicherlich noch etwas Ruhe.“ Sie sprach von dem Vorfall, als Rosalie gestern auf dem Ball der Mörderin an ihrer Mutter begegnet war und hatte sie auf der Stelle mit einem versteckten Dolch umbringen wollen. Allerdings Dank Oscars schnellen Eingreifen, hatte sie das nicht tun können. Die Sache war noch gerade gut gegangen, denn sonst wäre Rosalie nach ihrer Rache verhaftet und höchstwahrscheinlich auch noch dafür gehängt worden. Oscar hatte alles bedacht und dem Mädchen das Schlimmste erspart, obwohl Rosalies Rachegelüste und Groll gegenüber dieser Madame de Polignac weiterhin nicht vergingen.   André musste seine Freundin wieder ansehen und deren Blicke trafen sich. Keiner der beiden verriet dabei ihre tiefsinnige Gedanken. Deren Gesichtsausdrücke gaben nichts davon Preis und blieben verschlossen. „Was machen wir, wenn wir den Namen nicht finden?“, fiel es André ein, um aus seinen Gedanken zu kommen.   Oscar war innerlich dieser Frage dankbar. So konnte sie sich wieder auf das Wesentliche konzentrieren. Sie schlug vor, eine gewisse Hofdame in Versailles zu fragen, die sich mit allen Namen der Adligen gut auskannte und André war damit einverstanden.   Leider war die besagte Madame in Versailles nicht anzutreffen. „...der Zustand ihrer Mutter hat sich so verschlechtert, dass sie nicht eine Sekunde gezögert hat, um ihre Sachen zu packen“, hatte ihnen die Königin erklärt und Oscar blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten.   Zusammen mit André verließ sie die Räumlichkeiten der Königin und ging mit ihm nach draußen. Sie stiegen ganz gewöhnlich die Treppe herunter und da bemerkte André ganz plötzlich, dass mit dem Leuchter etwas nicht stimmte – Staub und Putz bröselte herab. Er blieb unvermittelt stehen und schaute nach oben. Oscar ging weiter, ohne etwas zu bemerken. Der Leuchter schwankte leicht und knarzte leise, als würde er gleich abstürzen. Oscar gelangte gerade direkt darunter an und der Leuchter riss. André war geschockt. „Oscar!“   Sie drehte sich erschrocken um und André warf sich zeitgleich auf sie. Gemeinsam rollten sie die Treppe herunter und in dem Moment krachte der Leuchter auf den Boden. Nur um Haaresbreite entkam Oscar dem Unfall, wenn es überhaupt ein Unfall gewesen war. Sofort versammelten sich viele Menschen um sie und halfen ihr auf die Beine zu kommen. Es war ihr nichts passiert. Zum Glück.   Vor dem herabgestürzten Kronleuchter hatte André Oscar bewahren können, aber leider nicht mehr vor dem nächsten Attentat. Noch am demselben Abend hatte angeblich Ihre Majestät um die späten Stunde nach Oscar geschickt, aber dem war nicht so. Mitten auf dem Weg im Wald wurden sie von einem halben Dutzend fremde Männern angegriffen. Der vermeintliche Kutscher ergriff gleich darauf die Flucht, als wäre er mit denen im Bunde. Sie wurden also in eine Falle gelockt.   Der Kampf begann auf der Stelle und bei völligen Dunkelheit. Nur durch den silbrigen Schein des Mondes konnten alle Beteiligten die Bewegungen und Silhouetten erkennen. Oscar und André schlugen sich wacker – André mit drei und Oscar mit zwei Gegnern. Der sechste aus dieser Bande von Übeltätern nutzte die Kampfszene aus und schlich zu der Kutsche, wo Rosalie schreckensbleich das Szenario beobachtete. Panisch schrie die junge Frau um Hilfe, als sie plötzlich den Mann vor der Kutsche einsteigen sah und von ihm mit seinem Schwert bedroht wurde.   „Rosalie!“ Oscar streckte ihren Gegner nieder und warf ihren Degen gezielt auf den Mann zu. Wie ein Pfeil sauste ihre Klinge durch die Luft und durchbohrte todsicher den Banditen.   Rosalie war gerettet, Oscar atmete auf und vergaß dabei für einen kurzen Augenblick ihre Deckung. Und das wurde ihr zum Verhängnis... Jemand verübte einen Hinterhalt und stach ihr hinterrücks in das rechte Schulterblatt... Oscar fiel mit einem überraschenden Aufschrei vornüber und blieb reglos liegen.   „Lady Oscar!“ Rosalie schrie vor Entsetzen wie am Spieß.   André sah sich mitten im Fechten kurz um und ihm blieb beinahe das Herz stehen. „Oscar!!!“ Mit Wucht bohrte er seinen Degen einem der Gegner in den Zwerchfell, zog seine Waffe raus und erlegte mit einem präzisen Hieb den zweiten. Er wollte zu Oscar, aber der dritte erwies sich als ein hartnäckiger Kämpfer und ließ sich nicht so leicht abwimmeln.   Der Täter bei Oscar hob erneut sein Schwert, um sie vollends zu töten, aber die Geräusche einer nahenden Kutsche verhinderte die Tat. „Da kommt jemand!“, rief er stattdessen seinem Kumpan zu und ergriff mit ihm die Flucht.   André war nun frei und eilte zu Oscar. Sie lag immer noch bäuchlings am Boden und bewegte sich nicht. Behutsam kniete er zu ihr, drehte sie um und hielt sie in seinen Armen. „Bitte, Oscar, sag doch etwas...“   Oscar verzog nur schmerzlich ihr Gesicht und dann kam keine Regung mehr von ihr. Die fremde Kutsche, die die restlichen Banditen aufgescheucht hatte, kam näher und ein bekanntes Gesicht lugte daraus. „Oscar!“, schrie der Mann in dem Gefährt dabei aufgebracht.   „Ich kenne Euch...“, murmelte André, als der Neuankömmling zu ihnen aufschloss. Er hielt Oscar weiterhin in seinen Armen und betete stumm, dass die Stichverletzung in ihrem Schulterblatt nicht zu tief war und sie am Leben bleiben würde...   Graf von Fersen kam gerade noch rechtzeitig zu Hilfe und half André und Rosalie Oscar zurück auf das Anwesen zu bringen.   Oscar wurde vom Arzt der Familie de Jarjayes fachmännisch versorgt und behandelt. Sie kam spät Nachts wieder zu sich und war dem Grafen sehr dankbar für seine Hilfe. Und nicht nur das... denn seit diesen Attentat begann Oscar nämlich Gefühle zu hegen. Nicht für ihren besten Freund, sondern für diesen Grafen, dessen Herz sowieso einer anderen gehörte. Oscar war das bewusst und dennoch... Kapitel 2: Falsche Schwärmerei ------------------------------ Eine Woche nach dem Attentat verstrich und kein Mensch wusste, wer Oscar in jener Nacht überfallen hatte. Sie trug ihren rechten Arm noch in der Schlinge, aber die Stichwunde an ihrem Schulterblatt war schon so gut wie verheilt. André beobachtete sie stets unterschwellig. Aber vielleicht war das auch nicht von Nöten, Oscar merkte davon ja ohnehin nichts. Ihr Blick schweifte immer wieder zu von Fersen, wenn er zu Besuch war und wieder weg von ihm. Sie glaubte, dass es niemandem auffallen würde, aber André sah alles – vor allem was sie betraf.   Heute, nachdem Oscar nach ihren Diensten in Versailles Zuhause war, zog sie sich mit einer Flasche Wein in ihr Zimmer zurück und wollte einfach allein sein. Sie schenkte sich selbst ein halbvolles Glas ein und während der Wein ihr süßlich durch die Kehle rann, musste sie immer an das vertrauliche Gespräch mit von Fersen denken: Er hatte der Königin offenbart, dass er bald heiraten würde und das hatte Marie Antoinette zutiefst verletzt. Auch Oscar traf es hart und deswegen hatte sie ihn wenig später zur Rede gestellt.   „Was hätte ich ihr sagen sollen? Dass ich sie liebe?“, war seine aussichtslose und verzweifelte Aussage darauf: „...offenbar vergesst Ihr, dass sie die Frau des Königs von Frankreich ist!“   Leise knisterte das Feuer im Kamin und Oscar seufzte schwer. Graf von Fersen und Marie Antoinette taten ihr zutiefst leid. Sie hob wieder das Glas, aber verharrte für einen Augenblick und sah stattdessen gedankenverloren in die dunkelrote Flüssigkeit hinein. Es schien, als würde sie dort ein Bild sehen – ein Bild von Fersens mit Marie Antoinette, gemeinsam in einer tiefen Umarmung.   „..was könnten die beiden nur für ein wunderbares Paar abgeben... Wenn es nur ihnen erlaubt wäre, sich zu lieben...“ Oscar leerte das Glas in einem Zug und goss sich den Rest aus der Flasche ein. In ihrem Kopf rauschte es immer mehr und dumpfe Schläge pulsierten immer kräftiger in ihren Schläfen. Ihr Gemüt wurde dabei auch noch trübsinniger. „Was ist nur los mit mir...“, dachte sie währenddessen und trank den Wein in ihrem Glas leer. Ihre Gedanken tanzten bereits taktvoll zu den Schlägen in ihren Schläfen. Noch nie war sie von dem Wein so beschwipst gewesen wie heute. Eigentlich vertrug sie das gut, aber anscheinend nicht diesmal. Vielleicht lag es aber auch daran, dass sie noch nie eine ganze Flasche an einem Abend und beinahe in einem Zug ausgetrunken hatte. Oscar stellte schwer seufzend das Glas auf dem Tisch ab, stand vom Stuhl auf und warf sich rücklings auf ihr Bett. So viel trinken löschte deswegen nicht ihre weichen Gefühle aus... Oscar schloss ihre schweren Augenlider. Wenigstens betäubte der Wein den Schmerz in ihrem Schulterblatt... Nicht lange und sie war eingeschlafen – mit schwermütigen Gedanken und plagenden Gefühlen.       - - -       André sattelte die Pferde ab, versorgte sie mit frischem Heu und Wasser, und verließ dann den Stall. Das war eine gewöhnliche Arbeit für ihn seit er denken konnte. Vor fast zwanzig Jahren und nach dem Tod seiner Eltern hatte ihn seine Großmutter aus Paris geholt. So kam er als Waisenkind in das Adelshaus der de Jarjayes und lernte Oscar kennen. Auf Geheiß des Generals, Oscars Vater, sollte er ihr Gefechtpartner werden und auf sie Acht geben. Am Anfang war André davon nicht gerade begeistert gewesen, weil Oscar sich als Mädchen zu sehr und zu dreist als Knabe aufführte. Aber sie besaß auch ein gutes Herz, auch wenn sie das nicht zeigte, und hatte ihm oft aus Schwierigkeiten geholfen. Vielleicht war es genau das, was seine Sympathie zu ihr mit den Jahren wachsen ließ. Aus Sympathie wurde eine langjährige Freundschaft, auch wenn Oscar alles wie selbstverständlich annahm und er nur ein Diener, Stallbursche und ihr persönlicher Gardist war. Doch zugegeben, der Standesunterschied war weder ihm noch ihr von Bedeutung.   André betrat das Hauptgebäude des Anwesens und machte in der Küche Halt. Er bereitete sich eine Schüssel mit Wasser und wusch sich die Hände. Dabei beachtete er nicht, was seine Großmutter machte – zu sehr war er in Gedanken bei Oscar vertieft: Nach dem Gespräch mit dem Grafen von Fersen unter vier Augen war sie sehr niedergeschlagen und auch auf dem ganzen Heimweg war sie nicht gerade unterhaltsam gewesen.   André trocknete seine Hände ab, räumte alles weg und wollte nur noch auf sein Zimmer. Er wollte den heutigen Tag einfach vergessen – auch wenn er genau wusste, dass es unmöglich war.   „André, mein Junge, sei bitte so gut und räum den Wein aus Lady Oscars Zimmer, bevor du schlafen gehst.“, bat ihn Sophie unerwartet, als er die Küche verließ.   Dieser Bitte nachzugehen widerstrebte ihm sehr. „In Ordnung, Großmutter.“ Ihm blieb ja keine andere Wahl, wenn er seine Gefühle sich nicht anmerken lassen wollte. Und ganz besonderes nicht vor seiner Großmutter.       Zwei Mal klopfte André an der Tür, aber von Innen kam kein Geräusch, kein Ton. Vorsichtig lehnte er ein Ohr an das polierte Ebenholz, aber auch da hörte er nichts. So, als wären die Räume hinter der Tür leer. Nein. Oscar müsste sich dort drinnen befinden. Seine Hand drehte schon den Türknauf und zog sie daran langsam zu sich, bevor er selbst leise Oscars Gemächer betrat. „Oscar, ich bin es...“ Seine Stimme verlor sich in dem leeren Salon. Oscar war nicht da. Das Mobiliar, der Tisch mit Stühlen und das Klavier standen unberührt an Ort und Stelle. Von Oscar jedoch keine Spur. Aber sie müsste da sein, ihre Gegenwart spürte André nur zu deutlich – mit allen Sinnen seines Körpers.   Beinahe auf Zehenspitzen setzte er seine Füße in Bewegung, durchquerte den Salon und blieb an der Bogenöffnung ihres Schlafzimmers stehen. Seine feine Wahrnehmung hatte ihn nicht getäuscht: Oscar befand sich dort. Sie lag quer über ihrem Bett – ihr linker Arm lag ausgebreitet neben ihrem Kopf und der rechte in der Schlinge ruhte auf ihrer Mitte. Neben dem Bett stand der kleine Tisch und ein zur Seite geschobener Stuhl. Auf dem Tisch erblickte André die geleerte Weinflasche und das Glas. Er seufzte. Die Sache mit von Fersen musste sie sehr schwer getroffen haben, sodass sie Oscar dazu bewog, so viel auf einmal zu trinken, dachte er sich.   „Oscar?“ Auf leisen Sohlen ging André auf das Bett zu. „Oscar?“ Er bekam von ihr keine Antwort. Nur ein leises Schnaufen verriet ihm, dass sie schlief. Er trat näher und vorsichtig an sie heran. Ihre Wangen waren von der getrunkener Menge des Weines leicht gerötet, die blonden Locken umrahmten ihr Antlitz von den Schläfen bis zum spitzen Kinn und ihr zartgliedriger Körper schien entspannt zu sein.   André wagte nicht, sie zu wecken. Sie sah einfach zu schön und friedlich aus. Wie ein Engel. Oder wie ein heller Stern, den man niemals erreichen konnte, obwohl das Ziel sehr nahe zu sein schien... Oder auch wie die Morgensonne, die am östlichen Horizont empor stieg und mit ihren ersten Strahlen den dunkelblauen Nachthimmel in Purpurfarben umhüllte...   „Ach, Oscar...“ André seufzte kaum merklich in die bedrückende Stille. Von einem innerlichen Impuls angetrieben, kniete er vor ihr und zog ihr ganz vorsichtig die Stiefeln aus. Noch vorsichtiger streifte er mit seinen Finger an ihrem Bein hoch bis zu ihrer Kniekehle und eine gewisse Hitze breitete sich in seinem Inneren aus. Er fühlte den Stoff des Strumpfes und der Hose mit seinen Fingern und hörte dann gleich abrupt auf. Sein Blick schweifte über Oscar, bis zu ihrem Gesicht.   Oscar regte sich nicht. Durch ihren Rausch bekam sie seine Tat nicht einmal mit. André stand auf, schob behutsam seine Arme unter ihren Körper und legte sie gleich darauf sachte in die richtige Position auf das Bett zurück. Sie wog nicht viel und am liebsten hätte er sie gerne noch länger in seinen Armen gehalten...   Auch da wachte Oscar nicht auf und bewegte sich auch nicht. André deckte sie fürsorglich mit einer Decke zu und betrachtete sie eine Weile ganz still. Der Kragen ihres Hemdes war etwas verrutscht und entblößte ihr Schlüsselbein. Durch den schwachen Schein des Kaminfeuers wirkte ihre Haut nicht so hell wie bei Tageslicht. Und dennoch weckte dieser Anblick in ihm - eine Sehnsucht nach etwas, was Oscar jedoch niemals erwidern würde...   Warum musste sie sich unbedingt in von Fersen verlieben?! Dessen Herz würde sie doch niemals erreichen können, weil es der Königin gehörte! „Ach, Oscar...“, wiederholte André in Gedanken und beugte sich über seine tief und fest schlafende Freundin. Er spürte ihren regelmäßigen, leichten Atem auf seiner Haut und es kribbelte ihm etwas an seinen Wangen. Ein Wunschdenken vereinnahmte ihn und blendete alles um ihn herum aus. Wenn sie ihm schon niemals seine Liebe erwidern würde, dann wenigstens würde er... Nur ein einziges Mal... Oscar würde es ja ohnehin nicht bemerken... So wie sie nichts von seinen Gefühlen zu ihr bisher bemerkt hatte... Und ein Mal ist gleichzeitig auch kein Mal...   Hauchzart berührte er ihre Lippen mit den seinen. Sie schmeckten süß - wie der Wein, den sie getrunken hatte. So lieblich und betörend, so mild und verführerisch... Ihre Wangenknochen überzog einen rötlichen Teint und in ihrem Augenwinkel auf ihren weichen Wimpern glitzerte eine einsame, starre Träne. Auch seine Wangen glühten – aus Scham und unterdrückten Gefühlen. Er kam sich wie ein gemeiner Dieb vor und nahm sich das, was ihm eigentlich nicht zustand. Oscar wäre ihm in dem Falle wie eine ungeschützte Beute hilflos ausgeliefert und er konnte mit ihr anstellen, was er wollte – auch wenn sie aufwachen und sich zu verteidigen wissen würde. Aber nicht doch mit einem verletzten Arm und im betrunkenen Zustand. So wäre sie schwächer als er und würde schlussendlich nichts gegen seine wahre Manneskraft ausrichten können... Er würde ihr zeigen, was es bedeutete jahrelang, tagein tagaus und unerwidert zu lieben... Andrés Herz schlug ihm immer wilder bis zum Hals, sein Blut rauschte ihm immer heißer durch die Adern und sein Körper verlangte nach noch mehr...   Wenn er damit nicht gleich aufhörte, dann würde er sich davon hinreißen lassen und weiter gehen... Damit würde er ganz bestimmt Oscar wecken und sie würde ihm das niemals verzeihen... Sie würde ihn gar womöglich verstoßen und im schlimmsten Fall, würde sie die Freundschaft zwischen ihnen beenden! Und wer würde sie dann vor Gefahren beschützen können? Wer würde dann immer an ihrer Seite sein und sein eigenes Leben für sie riskieren? Niemand! Alle dachten doch nur an ihr eigenes Wohl und bauten viel zu sehr auf Oscar! Vor allem ihr Vater und die Königin!   André entfernte hastig, aber auch bedauernd, seine Lippen von den ihren und richtete sich auf. Nein, er würde niemals zulassen, dass ihr etwas zustoßen würde! Obwohl Oscar unerschrocken und so mutig war, dass sie selbst keine Gefahren fürchtete, doch er würde trotzdem immer an ihrer Seite sein! Auf Gedeih und Verderben würde er ihr überall beistehen, auch wenn es hieß, dass er deswegen auf ihre Liebe verzichten musste! Er ballte seine Hände zu Fäusten und presste seine Lippen aufeinander zu einem Strich. Es würde schon gehen! So wie es immer zwischen ihnen war, so würde es auch weiterhin so sein! Er würde Oscar nie im Leben verlassen! Das alles schwor er sich gerade.   Ein leises, unerwartetes Rascheln hinter ihm machte ihn aufmerksam und bewog ihn, sich umzudrehen. Eine junge Frau mit blondem Haar, das zu einem Zopf gebunden war und mit stauenden, blauen Augen stand an der Bogenöffnung zu Oscars Schlafzimmer. „Rosalie...“, hauchte André erschrocken. Das hatte noch gerade gefehlt, dass ihn jemand bei etwas Verbotenem ertappt hatte – auch wenn das eine einmalige Sache war.   Rosalie kam mit gefalteten Händen vor der Brust auf ihn zu. „André...“, formte ihr Mund, ohne einen richtigen Ton von sich zu geben.   „Sag nichts weiter“, war das einzige, was André dazu entfuhr. Innerlich hoffte er, dass Rosalie nichts von dem flüchtigen Kuss gesehen hatte.   „Das wusste ich nicht... wie sehr du sie liebst...“ Rosalie blieb direkt vor ihm stehen. Ihre Augen schimmerten feucht – wie immer, wenn es um Oscar ging. Seit Lady Oscar sie, ein aus ärmlichen Verhältnissen stammendes Mädchen, vor ein paar Jahren bei sich aufgenommen hatte und sich um sie kümmerte, war sie ihr für immer und ewig treu ergeben – aus Dankbarkeit für ihr gütiges Herz, welches bei den meisten Adligen eine Seltenheit war. „Ich werde nichts und niemanden über deine Liebe zu Lady Oscar erzählen... Kein Wort...“ Und damit verriet sie André alles: Dass sie ihn gesehen hatte und dass sie auf seiner Seite stand.   „Ich danke dir, Rosalie...“ André versuchte ein mattes Lächeln, aber das misslang ihm. Nichtsdestotrotz fühlte er sich etwas leichter. Rosalie war ein ehrliches Mädchen und man konnte ihr vertrauen. Kapitel 3: Liebesqual --------------------- Rosalie hielt ihr Versprechen und verlor kein Wort darüber, was sie an dem einen Abend gesehen hatte. Sie litt ja selbst unter einer ungewöhnlichen Zuneigung zu Lady Oscar. Aber das war ihr zweitrangig. Im Vordergrund standen andere, unheimliche Gefühle in ihr: Sie war zu sehr darauf versessen, sich für ihre tote Mutter rächen zu wollen. Und wenn das schon nicht genug wäre, fand André irgendwann heraus, dass die Mörderin ihrer Ziehmutter ihre leibliche Mutter war. Da brach Rosalie zusammen und nicht einmal die gewisse Zuneigung zu Lady Oscar konnte sie trösten. Einzig die Zeit heilte ihr die Wunden und sie fand sich damit ab. Zwar war das nicht gerade leicht, aber es musste gehen. André litt ja ohnehin mehr als sie, wegen der stillschweigenden und unerwiderten Liebe zu seiner langjährigen Freundin.   Auch Oscar litt unter solch einer Liebe, die allerdings dem Grafen von Fersen galt. Dieser betrieb aber eine Affäre mit der Königin und die Gerüchteküche hatte sich schon in ganz Frankreich darüber ausgebreitet. Niemand konnte etwas dagegen tun, vor allem nicht Oscar. Oder etwa doch?   Graf von Fersen kam wieder einmal, nach einem geheimen Treffen mit Marie Antoinette, an einem frühen Morgen zu Besuch. Er suchte bei Oscar Ablenkung und sie half ihm nur zu gerne dabei. Eine Runde fechten mit ihm und danach eine Tasse Tee trinken half zwar nicht seinem geplagten Herzen, aber verschaffte einen gewissen Trost und tat seiner Seele gut.   André behielt alles im Auge: Wie Oscar focht, ihre geschmeidige Bewegungen und wie sie danach mit dem Grafen sich auf ihrem Salon unterhielt. Das schmerzte ihm, denn er spürte förmlich, wie Oscar an von Fersen ihr Herz mehr und mehr verlor... Wie immer treu an ihrer Seite befand sich André dennoch in ihrer Nähe. Ihre Aufmerksamkeit galt dagegen dem Grafen. Sah sie denn nicht, dass von Fersen sie nur als Kameradin, als einen guten Freund betrachtete? Er, André, dagegen sah Oscar schon immer als Frau und er liebte sie als ebendiese aus tiefstem Herzen...   Von Fersen blieb nicht lange. Oscar hatte ihm sogar vorgeschlagen, zum Abendessen zu bleiben, aber von Fersen schlug ihren Angebot höflich ab und fragte André stattdessen nach einem einfachen Gasthof in Paris.   „Es wird nicht lange dauern, bis unser Graf aus einem gewissen Gasthaus rausgeworfen wird, falls er wirklich vorhat dort einzukehren“, meinte beiläufig André, als der Graf fort war. Er und Oscar befanden sich in ihrem Salon wieder. Sie stand am Fenster und starrte hinaus. Er saß am Tisch und betrachtete ihren Rücken und ihre Haarpracht, die ihr offen um die schmalen Schultern lag. Auch ein Rücken könnte entzücken... Dabei dachte André an den Kuss, den er ihr einstmals gab. Ob Oscar damals etwas davon mitbekommen hatte? Sicherlich nicht... Denn am nächsten Tag wies sie kein Anzeichen auf und benahm sich sonst wie immer. Auf seine Anmerkung erwiderte Oscar natürlich nichts, was ihn zu weiteren Reden verleiten ließ: „...wenn ihm die Liebe so schmerzt, weshalb lässt er sich dann erst auf sie ein? Zu lieben und geliebt zu werden, das sind zwei völlig verschiedene Dinge.“   Auch da schaute Oscar ungerührt aus dem Fenster und beobachtete lustlos den Sonnenuntergang. André hatte gut zu reden. Sie erinnerte sich an seine Worte, die er vorletztes Jahr im Schlaf gesprochen hatte und ihr wurde dabei mulmig zumute. Ach, warum war sie nicht einfach wie ein Mann geboren worden...   „Tja, so kann das Leben spielen... und so manche Liebe auf dieser Welt währt schon eine Ewigkeit, ohne dass der andere überhaupt davon weiß“, sprach André derweilen zu ende.   Vielleicht wollte er sie damit auf etwas hinweisen? War das ein Wink mit dem Zaunpfahl? Oder bezog er gerade dies auf seine eigenen Gefühle?   Oscar konnte daran genauso wenig glauben wie damals, als sie ihn im Schlaf reden gehört hatte. Sie lauschte jedes einzelne seiner Worte und drehte sich zu ihm um. Ihr Freund hatte ins Schwarze getroffen, aber warum sprach er davon?! Das missfiel ihr. So, als hätte sie nicht schon genug mit ihren eigenen Gefühlen zu tun! „Hol dein Degen, André, und komm mit raus auf den Hof“, forderte sie ihn heraus. Sie wollte sich ablenken, ihre weichen Gefühle niederringen und das Gehörte vergessen.   André folgte ihr mit dem Degen gelassen nach und dann standen sich die zwei gegenüber auf dem Hof. „André, diesmal nehme ich keine Rücksicht!“, entschied Oscar und schwang ihren Degen einige Male durch die Luft.   „Gut, ich bin bereit. Auch ich werde mein bestes geben, glaube mir“, erwiderte André und der Kampf begann.   Oscar stürzte mit einem Kampfschrei auf ihn und André parierte gekonnt ihren Schlag. Dann schlug er zu, aber Oscar wich ihm flink aus. „Vergiss diesen Mann... Du musst ihn endlich vergessen, denk nicht mehr an ihn...“, dachte André während des Duells bei sich: „...oh, ja, ich wünsche mir, dass du ihn vergisst auf immer und ewig...“   Oscar dachte nicht daran. Wie besessen focht sie mit André, aber auch dieser gab sich diesmal nicht leicht zu schlagen. Der Kampf zwischen ihnen währte lange, noch länger als sonst. Und wenn Sophie nicht vorbeigekommen wäre, um Lady Oscar mitzuteilen, dass das Abendbrot angerichtet sei, dann hätten sie womöglich noch weiter miteinander gekämpft.       - - -       Am nächsten Tag wurde Oscar zu der Königin bestellt. Ordnungsgemäß, in ihrer roten Uniform gekleidet, beugte Oscar vor Ihrer Majestät das Knie und wartete ohne den Blick zu heben auf ihre Befehle, oder was auch immer es sein mochte.   Marie Antoinette scheuchte auf einmal alle ihre Hofdamen weg, um mit Oscar alleine zu sein. Vorerst saß sie würdevoll und anmutig auf ihrem gepolsterten und mit goldenen Mustern verzierten Stuhl. Dann sackte ihre Haltung plötzlich zusammen und sie vergrub ihr Gesicht schluchzend in ihren Händen. „...Ihr seid noch die Einzige, der ich vertrauen kann... Versteht Ihr? Ihr seid der einzige Mensch, von dem ich weiß, dass er mein Geheimnis bewahren kann... Um mich herum nur Intrigen und von Neid erfüllter Hass... Reitet zu ihm und richtet ihm aus, dass ich unsere Verabredung von heute Abend nicht wahrnehmen kann... Ich habe völlig vergessen, dass der König heute einen hohen Gast erwartet und ich deshalb die ganze Zeit an seiner Seite verbringen muss... Bitte, Oscar, sagt nicht nein... sonst kann ich Euch nie wieder reinen Gewissens ins Gesicht sehen...“   Diese Szene der verlorenen und verzweifelten Königin, die wie ein Strauchdieb ihr Gesicht verdeckte, kreiste Oscar noch lange durch den Kopf. Sie konnte ihr die Bitte nicht abschlagen. Wie denn auch? Sie war der Königin verpflichtet und es war ihre Aufgabe, ihr beizustehen – ungeachtet ihrer eigenen Gefühlen.   Oscar ging langsam und beherrscht wie ein Soldat mit aufrechter Haltung aus dem Schloss und stieg genauso ausdruckslos auf ihr Pferd. „Was wollte die Königin von dir?“, fragte André sie beim Aufsteigen seines braunen Pferdes.   Anstelle zu Antworten trieb Oscar heftig ihren Schimmel an und preschte wie verrückt durch das goldverzierte Eisentor von Versailles. André versuchte sie einzuholen. So leicht wollte er sich nicht von ihr abwimmeln lassen. „Hey, was hast du?!“   „Reite nach Hause, ich komme später nach!“, war das einzige, was er von ihr hörte und verlangsamte sein Pferd.   André wusste zwar immer noch nicht, was die Königin zu Oscar gesagt hatte, aber er verspürte ganz deutlich, dass es um Graf von Fersen ging. Sonst wäre Oscar nicht so aufgelöst davon geritten. Also gut, er würde ihr nicht nachreiten, aber er würde sie beobachten. Er sah flüchtig zum Himmel. Graue Wolken verdichteten immer mehr den azurblauen Grund und verkündeten damit, dass schon bald Regen aufkommt. Oscar würde er bestimmt ziemlich lange nicht Zuhause antreffen und sie würde höchstwahrscheinlich noch in dem Regen durchreiten, ahnte André trüb. Wenn er schon nicht verhindern konnte, dass Oscar sich in von Fersen verliebte, dann würde er sie wenigstens vor dem Regen bewahren können und ihr damit zeigen, dass sie immer mit ihm rechnen konnte. André wendete sein Pferd und trieb es in Richtung des Anwesens de Jarjayes, um den Regenmantel zu holen.   Oscar trieb ihren Schimmel dagegen ziellos durch die Gegend. Ihre Gefühle spielten wieder verrückt und sie musste sie besänftigen. Mitten auf dem Weg kreuzte ein Fluss und sie zog heftig an den Zügeln, bis das Tier zum Stehen kam. Oscar starrte wie gebannt auf die silbrige Oberfläche, beruhigte ihren stockenden Atem und stieg dann aus dem Sattel. Sie konnte nicht mehr. Ihre aufgelösten Gefühle schnürten ihr die Kehle zu und sie musste ihnen unbedingt freien Lauf lassen. Aber ohne, dass es jemand sah. Vor allem nicht ihr Freund und Begleiter seit Kindertagen. Oscar setzte sich ins Gras und die ersten Tränen liefen ihr haltlos die Wangen herab. „...verzeiht mir meine Worte, die ich an Euch richte, Euer Majestät... aber bei all Eurem Schmerz, den ich sehr gut verstehen kann, scheint Ihr eins zu vergessen: Ihr seid die Königin von Frankreich...“, murmelte sie vor eigener Nase und schniefte. Sie verstand selbst nicht, was sie da redete und vergrub ihre Finger tiefer im Gras. „...zu lieben und geliebt zu werden, das sind doch zwei völlig unterschiedliche Dinge...“, fügte sie hinzu und musste schlucken. Sie begann schon André zu zitieren. Hatte sie etwa keine eigene Meinung? Und warum sprach eigentlich er von so etwas wie Liebe?   Als Antwort kam ihr sein Satz von damals in Erinnerung: „...ich liebe dich...“ Aber das war doch nur ein Traum – er hatte doch nur im Schlaf gesprochen! Die Träume sprachen meistens nicht für die Realität. „...und so manche Liebe auf dieser Welt währt schon eine Ewigkeit, ohne dass der andere überhaupt davon weiß“, sausten ihr schon seine nächste Worte durch den Kopf. Was meinte er damit? Oder hieß es etwa, dass er sie damit meinte?   Oscar traf es wie einen harten Schlag. Aber das war doch unmöglich! Sie waren doch Freunde! Nein, nicht André! Er durfte sie nicht lieben, sonst würde er genauso leiden wie sie! Das wollte ihm Oscar keineswegs antun. Sie stand wieder auf, trocknete die Tränen mit dem Ärmel ihrer Uniform und stieg auf ihr Pferd. Sie würde André unterschwellig beobachten, um sich die Gewissheit zu verschaffen, aber vorerst musste sie die Bitte der Königin erfüllen.   Auf dem Weg zu dem Grafen fing es an zu regnen. Oscar hielt es jedoch davon nicht ab, die Nachricht zu überbringen. „...und ich soll von ihr noch ausrichten, dass sie versuchen wird, wenigstens nachher auf dem Ball anwesend zu sein. Das war´s.“   „Ich danke Euch, Oscar.“ Von Fersen wollte sie ins Haus einladen, aber sie nickte nur stumm zu und ritt davon. Was hatte sie denn auf einmal? Und wo wollte sie bei dem Regen hin? Das verstand der Graf nicht. Aber er war ihr dankbar für die Botschaft und somit auch für ihr Vertrauen, das sie ihm und der Königin gegenüber freundschaftlich hervorbrachte.   Oscar ritt im schnellen Galopp durch den Regen und es war ihr gleichgültig, dass ihre Uniform schon beinahe durchnässt war. Dann hörte sie vor ihr Hufschläge, die ihr sehr bekannt vorkamen. In wenigen Augenblicken erkannte sie schon das braune Pferd und den Reiter. Das war André! Aber wo kam er auf einmal her?   „Oscar!“ André wendete seinen Braunen ohne anzuhalten und als er direkt neben Oscar ritt, warf er einen Umhang über sie. „Hier, nimm, der ist gut gegen die Nässe!“   Oscar griff nach den Enden des Umhangs, hüllte sich darin ein und hielt es mit einer Hand fest – mit der anderen hielt sie die Zügel. Dabei schaute sie André von der Seite an und ein wohliges Gefühl durchströmte sie. Sie musste zugeben, dass seine Anwesenheit ihr gut tat. Er war immer bei ihr und stand ihr immer zur Seite. Ein kaum merkliches Lächeln stahl sich auf ihren Lippen. Es war einfach schön, so einen treuen Freund wie André bei sich zu haben.   André erwiderte ihr das Lächeln. Obwohl Oscar ihr Herz an von Fersen zu verlieren schien, aber gegen ihre Freundschaft würde der Graf nichts anhaben können. Oscar wusste das, so wie auch André. Beide würden für einander immer da sein, egal ob dessen Herzen unter einer unerwiderten Liebe litten oder nicht und ob sie ihre eigenen Gefühle von einander versteckt hielten – es würde sich niemals etwas zwischen ihnen ändern.   Um die Königin vor weiterem Gerede zu bewahren und zu schützen, erschien Oscar noch am selben Abend in einer neuen Garderobe auf dem Ball in Versailles und tanzte mit Ihrer Majestät. Auch von Fersen fiel zum Schutz seiner Geliebten etwas ein: Er brach nach Amerika auf, um Frankreich im Freiheitskampf gegen England zu unterstützen. Marie Antoinette nahm das mit traurigem Herzen, aber mit Verständnis zu Kenntnis und nahm in Gedanken Abschied von ihm. „Möge er im Namen Frankreichs tapfer kämpfen und heil zurückkommen...“, war ihr innigster Wunsch.   Auch Oscar wünschte dem Grafen in ihrem Herzen alles Gute und dass er am Leben blieb. Seit dem versank sie immer mehr in sich, wurde noch schweigsamer als sie schon eigentlich war und kämpfte mit ihren eigenen Gefühlen, ohne dabei an André zu denken oder ihn zu beobachten, wie sie es sich eigentlich vorgenommen hatte... Kapitel 4: Bittere Enttäuschung ------------------------------- Die ersten Soldaten kehrten nach fünf Jahren aus Amerika zurück, aber von Fersen zählte nicht zu ihnen. „Du brauchst dir keine Sorgen machen, Oscar.“, versuchte André seine Freundin zu beruhigen. „Ich habe mich umgehört und es gibt keine Anzeichen, dass er umgekommen ist.“ Zu zweit saßen sie bei einem Bier in einem Gasthof von Paris.   Oscar war an diesem Tag bei der Königin in einem abgelegenen Schloss gewesen, um sie darum zu bitten, nach Versailles zurückzukehren und damit sie ihre Pflichten wieder aufnahm. Aber als sie gesehen hatte, wie glücklich sie mit ihren Kindern spielte, beschloss sie ihr den Vorschlag später zu unterbreiten.   Marie Antoinette hatte etwas später und unterschwellig Oscar über Graf von Fersen gefragt: „...was denkt Ihr, Oscar, wenn er nach Paris kommt, würde er mich dann besuchen?“ und danach verfiel Oscar in noch trübsinnigeren Gedanken als sonst. Sie wollte ihren Kummer in einem Gasthof mit Bier ertränken und deshalb hatte André sie hierher geführt.   „Wovon redest du überhaupt? Ich weiß nicht, was du meinst“, sagte sie abwesend zu ihm und trank ihren Krug halb leer in einem Zug. Im Gegensatz ihren Worten, wusste sie genau, wovon André sprach. Sie wollte es nur nicht zugeben. Weder ihm, noch sich selbst.   Unhöflicherweise mischte sich in diesem Moment ein Trunkenbold ein und zwang Oscar mit ihm zu Trinken. „Ich muss sagen, dieser blondgelockte Jüngling in seiner Uniform ist so schön, dass sogar selbst dem Zeus das Wasser im Mund zusammenlaufen würde!“, lallte er dabei und kam Oscar ziemlich nahe. Er schob ihr auffordernd seine Flasche unter die Nase, wollte sie augenscheinlich zum Trinken anstiften und die nächsten Worte unterstrichen seine Tat noch: „Hier trinkt!“   Oscar geriet in Rage. Wie ein Wüterich schoss sie in die Höhe, in ihrer ganzen Größe, und brachte den Mann mit einer kräftigen Ohrfeige zu Fall. „Von wegen schöner Jüngling in Uniform!“, schnaubte sie gereizt: „Wenn Ihr es noch einmal wagt, mich zu berühren, werdet Ihr Euer blaues Wunder erleben!“   Es wurde augenblicklich still in der Gaststube. Alle Gäste schauten perplex in ihre Richtung. André erhob sich wesentlich langsamer von seinem Platz und kam zu Oscar. Er bekam ein mulmiges Gefühl. „Alles in Ordnung?“, fragte er vorsichtshalber und Oscar nickte ihm kaum merklich zu.   „Oh, sieh einer an!“, ertönte es von einem der hintersten Tische. Oscar und André richteten ihren Blick sofort dahin und Oscars gereizter Gesichtsausdruck verwandelte sich in Verwunderung. Das war Robespierre, dem sie schon mal vor etlichen Jahren in Arras begegnet war. Und er war nicht alleine. Ein ihnen unbekannter, braunhaariger Student saß neben ihm und seine dunkelblauen Augen funkelten die beiden ernst an. Robespierre achtete nicht darauf und sprach schon laut weiter: „Kommandant des königlichen Garderegiments...“ Das war ein Fehler, dies ausgerechnet hier zu äußern. Aber vielleicht war das auch seine Absicht: Das Volk explodierte doch schon, wenn es nur das Wort Adel hörte.   Die Gäste standen nacheinander von ihren Plätzen auf und umkreisten Oscar und André wie Wölfe ihre Beute. Mit einem Mal wurden ihre ausgelassenen Gemüter hasserfüllt und angriffslustig gleichermaßen.   „Was? Er ist Kommandant des königlichen Garderegiments?“, spie einer aus.   „Das heißt, er muss adliger Herkunft sein!“, leuchtete es dem anderen grimmig ein.   „Was will er hier?! Er verdirbt uns nur den Biergeschmack!“, knurrte ein dritter verächtlich und der erster Sprecher krempelte seine Ärmel hoch. „Sie sind bestimmt Spione der Königin! Schnappt sie euch, Männer!“   Eher sich André und Oscar versahen, wurden sie schon von allen Seiten gepackt und angegriffen. Nur dank der Begegnung mit Robespierre entfachte schon kurz darauf eine Schlägerei, weil Oscar als Kommandant der königlichen Garde enttarnt wurde. Oscar und André schlugen sich sehr gut, obwohl sie den Männern zahlenmäßig unterlagen. Knochen knackten, Fäuste flogen umher und manche Gegenstände, wie Flaschen oder Stühle, wurden als Waffen benutzt. Oscar duckte sich, als jemand sie mit einem dieser Gegenstände niederstrecken wollte und der Angreifer traf stattdessen einen seiner Kumpane. Da Oscar von Statur schmal und wendig war, konnte sie den schlimmen Fausthieben entkommen. André seinerseits bezog meistens eine Abwehrhaltung, aber auch er konnte den einen oder anderen außer Gefecht setzen. Dennoch drängte man sie schon bald in die Defensive.   „Hinaus mit euch!“, brüllte einer aus voller Kehle, als die Schlägerei sich immer mehr zu der Tür verlagerte, die der Wirt auch noch bereitwillig offen hielt. „Lasst euch nie mehr hier blicken!“, knurrte er bissig und knallte die Tür hinter den Störenfrieden zu.   André rappelte sich mit einem schmerzlichen Laut hoch – ihm taten alle Knochen weh, und half Oscar beim Aufstehen. „Kannst du stehen?“   „Es geht schon.“ Oscar krümmte sich etwas, verzog schmerzlich ihr Gesicht und hielt einen Arm um die Mitte geschlungen. „Hol bitte die Pferde... Ich glaube, wir gehen lieber eine Weile zu Fuß... Die Pferde hältst du bei den Zügeln und wir nehmen sie so auch zu Fuß mit...“       - - -       „Da kannst du von Glück reden, dass sie nicht gemerkt haben, dass du eine Frau bist.“, äußerte André auf dem Heimweg. Für ein paar Sekunden schaute er Oscar von der Seite an, die fast mit ihrem ganzen Gewicht auf ihn hing. Er stützte sie beim Gehen und dachte bei sich dabei schwermütig: Aber glaub mir, ich sehe in dir immer die Frau. Auch wenn du eine Uniform trägst – du bist eine Frau...   Mit Blessuren übersät, aber noch standhaft und wacker, erreichten sie spät nachts das traute Heim. Auch auf dem Anwesen geleitete André seine Freundin auf ihr Zimmer. Es war bereits alles dunkel, bis auf wenige Kerzen, die in den Halterungen der Wand brannten - alle Bewohner des Hauses schienen schon längst zu schlafen. „So, da sind wir.“   Oscar sagte nichts. Sie ging nur wortlos in ihr Schlafzimmer und entledigte sich lässig ihrer Uniformjacke. André ging ihr nach. Vielleicht brauchte sie etwas. „Soll ich dir irgendwie helfen?“   „Nein, nicht nötig.“ Oscar hievte ihre Uniform achtlos über das Gestell neben ihrem Bett und setzte sich auf die Bettkante, um ihre Stiefel auszuziehen. Dabei unterdrückte sie ein schmerzverzerrtes Stöhnen. „Ich schaffe das schon alleine.“   Das war auch als Zeichen gemeint, dass André gehen sollte, aber aus unerklärlichen Gründen rührte er sich nicht. Vielleicht weil er sah, wie Oscar mit ihren Stiefel mühselig kämpfte. Die Dinger ließen sich nicht so leicht ausziehen, wie sie es gern hätte. Auch sah er, wie Oscar dabei schnell ungeduldig wurde und immer mehr auszubrechen drohte. André seufzte und ging auf sie zu. „Lass mich dir doch bitte helfen.“ Er hockte vor ihr, ignorierte ein schmerzliches Stechen in den Seiten, nahm Oscars Stiefel und zog ihn von ihrem Bein ab.   Oscar protestierte nicht. Ob durch Mattigkeit oder ihren geschlagenen Körper wusste sie nicht zu sagen. Es tat irgendwie gut, wenn André ihr auf diese Weise die Entscheidung abnahm und dieses warme Gefühl überdeckte sogar die Schmerzen. Dem ersten Stiefel folgte der zweite. Oscar beobachtete dabei André sorgfältig. Er hatte noch kein einziges Mal seinen Kopf gehoben, zu sehr war er konzentriert auf ihre Stiefel. Bei dem fahlen Licht des Kaminfeuers nicht weit von ihrem Bett sah sie nur seinen dunkelbraunen Schopf und den mit einer dunkelgrünen Haarschleife zusammengebundenen Zopf. „Ich danke dir“, murmelte sie leise, als ihre Füße sich wesentlich besser ohne das Schuhwerk fühlten.   André hob erst da den Blick und sah sie direkt an. Etwas Magisches lag darin, dass er sich nicht sofort von ihr abwenden konnte. Der erste Kuss, den er Oscar einstmals geraubt hatte, geisterte nur so in seinem Kopf durch. Seine Atmung wurde flacher und er stieß sie so lautlos wie möglich durch die Nase.   Aber auch Oscar war für einen Moment wie verzaubert. Sie wusste nicht warum, aber dieser Augenblick gefiel ihr. Mit einem Mal wurde es ihr immer wärmer ums Herz und ihre geschundenen Knochen rückten immer mehr in Hintergrund. Sie merkte selbst nicht, wie sie sich immer mehr zu ihm herabbeugte, bis deren Gesichter sich fast berührten. Beide spürten den gegenseitigen Atem auf ihrer Haut. „Oscar...“ André öffnete seine Lippen, aber kein Ton kam über sie. Augenblicklich vergaß er alles um sich herum und ebenso seine Blessuren, die wie ein dumpfes Brennen pochten. Das einzige was zählte, war Oscar und ihre unerwartete Annäherung zu ihm. War das jetzt etwa das, was er vermutete? War etwa Oscar gerade dabei, ihn küssen zu wollen? Aber wie war das möglich? War das etwa der Rausch von dem Bier, der sie dazu bewog? Und sollte er das ausnutzen?   Ihre Nähe war zu betörend, um sofort den Rückzieher zu machen. Seine Lippen berührten schon hauchzart die ihren, wie damals, als sie vom Weinrausch geschlafen hatte. Nur schmeckten ihre Lippen diesmal herb, wie das Bier.   Oscar wusste nicht, wie ihr geschah, als der Kuss inniger wurde. Ihre Mundhöhle öffnete sich von alleine, ließ seine Zunge eindringen und mit der ihren spielen. Hitze stieg ihr im ganzen Körper empor und sie glaubte sich zu verlieren. Wie war das nur möglich? Warum ließ sie das zu? So leichtfertig war sie doch gar nicht! Aber es war doch so schön! Ihr Herz schlug schneller, ihre Gefühle überschlugen sich, ihre Finger griffen den Kragen von Andrés Ausgehjacke und ihr Körper fiel haltlos nach hinten. Somit zog sie auch André mit sich, ohne den Kuss zu unterbrechen. Er war über sie, stützte seine Arme von beiden Seiten gegen die Matratze und verwöhnte sie weiter mit seinem Kuss.   Die Begierde breitete sich immer mehr wie lodernde Flammen in ihren Körpern aus. Die Vernunft und Anstand hatte sie beide schon im Stich gelassen. André wollte mehr als den Kuss. Er wollte sie spüren. Eine Hand suchte schon den Weg auf dem Stoff ihres Hemdes, zu ihrem Ausschnitt und seine Finger knöpften es mehr auf. Oscar entrann ein wollüstiges Stöhnen aus der Kehle und ihr Körper bäumte sich etwas, als sie seine warmen Finger auf ihrer Haut spürte. Sie hatte sich bisher nicht bewegt, weil sie nicht wusste, was sie tun sollte. Ihr eigener Körper schien es dagegen zu wissen.   Sie hatte einen sehr kleinen Körbchen, fast flach, aber umso reizvoller und begehrlicher. André ließ ihre Lippen frei und küsste ihren schlanken Hals, während seine Hand ihre Haut unter dem Stoff ihres Hemdes erforschte. Er glaubte immer noch nicht, dass es wirklich geschah, dass er ihr seine Liebe zeigen konnte und dass sie ihm das alles erwiderte. „Ich liebe dich...“, flüsterte André nahe des Ohrs von Oscar und von Oscar entrann wieder ein Stöhnen: „...von Fersen...“   Was?! Mit einem Schlag waren alle beide hellwach und sahen sich mit weit aufgerissenen Augen an. Das meinte sie nicht ernst, oder? Weg war all die Leidenschaft und Begehren. André schob ruckartig seine Hand aus dem Ausschnitt ihres Hemdes und entfernte sich selbst gänzlich von ihr. „Ich hätte es wissen müssen...“, murmelte er dabei enttäuscht und lächelte bitter: „Wie konnte ich mich nur darauf einlassen...“   „André...“ Oscar saß gleichzeitig mit ihm auf, ungeachtet ihres weit geöffneten Hemdes und ihre zum Teil sichtbare Oberweite.   „Ach, jetzt kennst du wieder meinen Namen...“, sagte André vebittert und kehrte ihr den Rücken zu. Er wagte es nicht, sie anzusehen und ballte seine Hände hilflos zu Fäusten. „Es tut mir Leid, Oscar, dass ich nicht von Fersen bin... aber im Gegensatz zu ihm, liebe ich dich aus tiefstem Herzen...“ Er setzte seine Füße schleppend und mit hängenden Schultern in Bewegung.   „André...“, wiederholte Oscar kaum hörbar. Sie war durcheinander. Sie versuchte zu verarbeiten, was gerade geschah.   André blieb kurz stehen. Ein erdrückender Kloß schnürte ihm die Kehle zu. „Nein, Oscar, ich kann nicht mehr so weiter leben... Nicht nach dem, was zwischen uns gerade beinahe geschehen ist... Ich werde gehen und nicht mehr zwischen deinen Gefühlen und ihm stehen...“ Er ging und ließ sie alleine in ihrem Zimmer.   Oscar saß völlig perplex auf ihrem Bett und versuchte die Tragweite seiner Worte zu begreifen. Wie konnte sie nur so leichtfertig sein und so etwas zulassen?! Oder war das der Moment der Schwäche, der sie dazu verführt hatte? Warum konnte sie nicht nein sagen? Und warum musste sie unbedingt von Fersens Namen erwähnen, wo sie gar nicht an ihn gedacht hatte?! Ihr Verstand war doch völlig mit dem Gefallen an Andrés Liebkosungen beschäftigt! Sie hätte das nicht zulassen dürfen! Aber das war doch so schön gewesen...   Oscar hatte schon längst geahnt, wie André zu ihr mit seinen Gefühlen stand. Das erste Mal, als er ihr seine Liebe unbewusst offenbart hatte, lag etliche Jahre zurück, aber jetzt erinnerte sie sich noch deutlicher daran. Er liebte sie von ganzem Herzen, das hatte er ihr gerade eben zwei Mal deutlich gesagt. Aber sie ihn? Ihr Herz zerriss wegen den Schuldgefühlen gegenüber ihn und ihr Brustkorb drückte sich schmerzlich zusammen. Und was war mit von Fersen? Kann man denn zwei Menschen gleichzeitig lieben? Nein, das war unmöglich! Oscar hätte am liebsten vor Wut aufgeschrien! Ihre Gefühle hatten ihr anscheinend einen Streich gespielt und sie ging ihnen auf den Leim! Damit muss endlich Schluss sein! Sie durfte nicht lieben! Sie wurde doch wie ein Mann erzogen und sollte sich auch dementsprechend verhalten! Und darin hatten weiche Frauengefühle keinen Platz!   Oscar warf sich rücklings auf die Matratze, zog eine Decke über sich und versuchte all ihre Empfindungen, Gefühle und vor allem diese weiche Seite in ihr im Keim zu ersticken. Fast die ganze restliche Nacht war sie damit beschäftigt und konnte daher nicht gut schlafen.       Oscar schreckte auf, als sie dumpfen Hufschläge draußen hörte. Sofort sprang sie von ihrem Bett und ging ans Fenster. Ihre Knochen und geschlagener Körper schmerzten noch mehr als zu Beginn. Jedoch ignorierte sie das alles auf der Stelle und verharrte ganz still. War das etwa André gewesen, den sie durch den Hof und wie ein Schatten in der düsteren Nacht reiten zu sehen glaubte? Oder sah sie schon Gespenster? Und warum beschäftigte sie das? Es war sein Privatleben und sie wollte sich dort nicht einmischen. Dennoch war ihr mulmig zumute und es schmerzte in der Seele... Sie kehrte dem Fenster abrupt den Rücken und schlenderte zu ihrem Bett zurück. Nein, sie würde sich nicht in sein Privatleben einmischen... Er sollte tun, was er wollte. Es war heute Nacht viel geschehen und vielleicht würde es am besten sein, wenn sie sich für eine Weile aus dem Weg gehen würden... Sie mussten beide einiges mit ihren Gefühlen verarbeiten und auf den richtigen Platz rücken. Kapitel 5: Neuer Freund ----------------------- André wollte nicht mehr auf sein Zimmer gehen. Ihm war schlecht - und das auch nicht nur wegen seinem geschlagenen Körper. Er fühlte sich hundeelend. Immer wieder kreiste die leidenschaftliche Stimme von Oscar in ihm durch: „...von Fersen...“ hatte sie gestöhnt... mit so einer Intensität, die ihm zuwider war und er am liebsten in dem Moment gestorben wäre... Eigentlich kein so abwegiger Gedanke.... Vielleicht würde er dadurch von seinem Leid erlöst werden und Oscar könnte dann getrost weiter von von Fersen schwärmen?! Vielleicht würde sie einsehen, dass sie ihren besten Freund, ihren über alles treuen und loyalen Gefährten seit Kindesalter, für immer verloren hatte?! Aber würde sie seinen Freitod nicht in ein noch größeres Unglück stürzen? Was würde Oscar dann überhaupt machen? Würde sie um ihn trauern, ihn beweinen? Sie war doch dazu erzogen stets hartherzig zu sein und keine Schwäche zuzulassen. Denn Gefühle, die in ihren Augen weich waren, durfte sie sich nicht einmal erlauben und erst recht nicht zur Schau tragen...   André beschleunigte seinen Schritt. Seine Beine gehorchten ihm allerdings nicht so, wie er das am liebsten hätte. Als wären ihm Bleifesseln angelegt, schleppte er sich an der Wand den langen und kaum beleuchteten Gang entlang. Kurz vor der Treppe, die in das untere Stockwerk führte, blieb er stehen und versuchte tiefer zu atmen. Aber das ging nicht. Ein erdrückender Kloß schnitt ihm beinahe die Atemwege zu, kaum dass er tief Luft holte, und mit Ausatmen war ebenso schwer.   „...von Fersen...“, erklang wieder die betörende Stimme von Oscar in seinem Kopf. Welch eine bitterböse Enttäuschung!   André brannten die Augen und wurden immer glasiger. Er zwang seine Füße buchstäblich die Treppe herunter zu laufen und den Weg nach draußen einzuschlagen. Er brauchte unbedingt die frische Luft, sonst würde er noch ersticken – gepeinigt und geplagt von der falschen Liebe, die Oscar gerade hervorgebracht hatte.   Nein! Bitte nicht! Warum musste das nur passieren? Wieso hatte er sich auf diese Liebelei eingelassen? Auch wenn André über die verborgenen Gefühle von Oscar zu Graf von Fersen wusste, hatte er trotzdem gehofft, dass es eine vorübergehende Phase von Oscar war, aber sie hatte ihn eines Besseren belehrt...   Kühl umfing ihn die nächtliche Luft, als er nach draußen trat und der sternenklare Himmel tauchte die Umgebung in ein silbriges Licht, aber André blieb nicht stehen. Seine Füße trugen ihn weiter bis in den Stall und dann zu der Box seines Pferdes. Der Braune empfing ihn mit leisem Schnauben und André begann ihn fachmännisch zu satteln. Auch in der Dunkelheit gelang es ihm gut, immerhin kannte er sich hier schon bestens aus. Er wollte nur noch weg von hier - von Oscar und davon, was vor wenigen Augenblicken geschehen war. Am liebsten wollte André das Anwesen für immer verlassen, und das tat er schlussendlich. Er ritt einfach fort nach Paris.       - - -       André leerte einen zweiten Krug Bier, ohne darauf zu achten, dass er immer betrunkener wurde. Und auch ohne das Bier mitzuzählen, das er vor der Schlägerei am heutigen Abend bereits getrunken hatte...   Nach dem ziellosen Ritt durch das nächtliche Paris, kehrte er in einen billigen Gasthof ein, um seinen Kummer und die Geschehnisse zu ertränken. Das war ein anderer Gasthof, als der, wo er mit Oscar vor einigen Stunden zusammen war. Und das war ihm recht egal. Er hatte sich im Gasthof nicht einmal umgesehen, als er hierhergekommen war und nur zielstrebig an der Theke ein Bier bestellt hatte. Die herbe Flüssigkeit hatte genauso einen bitteren Beigeschmack wie seine zerrissenen Gefühle.   Die Gaststube war nicht allzu groß und ärmlich, sogar etwas schäbig ausgestattet und spärlich beleuchtet – ganz passend, um nicht großartig aufzufallen. Nur leer war sie zu seinem Leidwesen nicht, sondern mit irgendwelchen Söldnern gefüllt. Sie lachten, scherzten und sangen. Aber auch deren Leutseligkeit ging an André gleichgültig vorbei. Er musste seine Gefühle in Ordnung bringen, auch wenn das unmöglich schien.   Oscar! Welch eine bittere und niederschmetternde Enttäuschung, ging es André erneut durch den Kopf! Und er war darauf reingefallen! Zu sehr war er der Verführung erlegen, dass er einfach alles was Oscar und ihre verborgenen Gefühlen zu Graf von Fersen betraf, außer Acht gelassen hatte... Das war ein riesen großer Fehler seinerseits... Nun war es der Preis für sein voreiliges und unbedachtes Vergehen... Nie würde er Oscar wieder so offen in die Augen schauen können, da sie nun über seine Liebe zu ihr Bescheid wusste... Was würde nun mit ihnen geschehen? Wie ging es weiter? Würde Oscar ihn verstoßen? Nicht mehr an ihrer Seite haben wollen? Wie würde sie reagieren, wenn sie sich wieder begegnen? War das jetzt das Aus von ihrer langjährigen Freundschaft? Wenn dem so sein würde, dann wäre der Weg in den Freitod bestimmt das Beste für ihn – und auch vielleicht für sie... Was hatte er nur getan?! Es war zum Haare raufen!   Ein dumpfes Poltern riss André plötzlich aus seinen trübsinnigen Gedanken und als er von seinem halbwegs geleerten Bier aufsah, stand ein breitschultriger, schwarzhaariger Söldner neben ihm an der Theke. Um dessen Hals war ein auffällig rotes Tuch gebunden und seine dunkelbraunen Augen richteten sich geradewegs auf ihn. „Hey, Kumpel, du siehst richtig niedergeschlagen aus!“, stellte der Mann mit rauer, aber angenehm klingender Stimme fest. „Willst du dich nicht zu uns gesellen?“ Er zeigte dabei mit seinem Kinn auf die Söldner, die am anderen Ende der Gaststube an einem Tisch saßen und schienen etwas zu feiern – ihre gutgelaunten Gemüter kannten keine Grenze.   Niedergeschlagen in allen Sinnen – körperlich, wie auch seelisch - André warf einen flüchtigen Blick auf die freudige Söldnertruppe und es drehte ihm beinahe der Magen um: Das hatte ihm gerade noch gefehlt! Dieses Gelage würde seinen Kummer nicht vertreiben, das wusste er genau. Die Söldner winkten ihm auch noch zu. „Komm zu uns!“, rief einer dabei und der andere stimmte auch mit ein: „Mit uns wird es dir bestimmt besser gehen, als wenn du alleine dort sitzt!“   „Nein, danke“, murmelte André entschuldigend und wandte sich wieder seinem Bier zu.   „Auch gut.“ Der Mann mit dem roten Halstuch neben ihm lachte auf. „Wenn du nicht willst, dann bleibe ich bei dir. Ich bin eigentlich nicht der Mensch, der sich in fremde Angelegenheiten einmischt, aber du scheinst ein netter Kerl zu sein und siehst so aus, als würdest du Gesellschaft gut gebrauchen.“ Er drehte seinen Kopf und hob eine Hand: „Hey, Wirt! Für uns zwei Bier bitte!“   „Geht klar, Alain!“, sagte der Wirt und nahm die Bestellung unverzüglich auf.   Ein netter Kerl... André hätte wahrscheinlich bei diesen Worten losgelacht, wenn ihm nicht gerade elend zumute wäre... Ein netter Kerl, dem Vernunft und Anstand fehlten... Ein netter Kerl, der seine Freundschaft aufs Spiel setzte und seine Liebe auf eine Art verraten hatte, die nie hätte passieren sein dürfen... Noch immer hatte er das prickelnde Gefühl, als brenne Oscars zarte und weiche Haut unter seinen Fingern... Er konnte nicht einfach dieses Gefühl verdrängen, dass sie ihm so spürbar nahe war... dass sie sich ihm beinahe hingegeben hätte... Das alles konnte André erst recht nicht mehr aus seinen Gedanken verbannen – und vor allem nicht aus seinem Herzen... Ach, wenn man das nur rückgängig machen könnte, dann würde er jetzt nicht hier sitzen und sich mit Selbstvorwürfen überschütten.... All seinen Mühen zum Trotz brannte sich die Erinnerung in ihm ein. Krampfhaft umklammerte André seinen Bierkrug und wünschte sich, der Boden möge aufgehen und ihn in den tiefsten Schlund des Abgrundes verschlingen.   Der besagte Alain machte aus Andrés Trübsinn keinen Hehl daraus. Er setzte sich gemütlich an die Theke und widmete sich schon wieder seiner neuen Bekanntschaft zu. Warum konnte er ihn, André, nicht einfach in Ruhe lassen? Was wollte er von ihm?   „Wie du gehört hast, heiße ich Alain. Alain de Soisson um genau zu sein. Ich bin ein Soldat in der Söldnertruppe.“ Er zeigte diesmal mit dem Daumen auf seine Kameraden, die sich nun nicht nur über anzügliche Lieder amüsierten, sondern auch dabei Karten spielten. „Wir sind dort alle einfacher Herkunft, im Gegensatz zum königlichen Garderegiment – dort sind sie alle adlig. Aber was erzähle ich dir hier?!“ Er verstummte kurz, als erwarte er eine Antwort und bekam keine. „Jetzt bist du an der Reihe!“, spornte er seinen Gegenüber gleich darauf an: „Wie heißt du denn eigentlich?“ Alain konnte selbst nicht genau sagen, warum er von seiner neuen Bekanntschaft mehr wissen wollte. Eigentlich war er nicht der Mann dafür und die unbekannten Menschen gingen gleichgültig an ihm vorbei. Aber dieser Neuankömmling hier hatte einfach etwas an sich, was ihn bei ihm zu bleiben und ihn aufzuheitern bewog.   Ja, warum belastete ihn dieser Alain mit dem Gespräch überhaupt? Und warum musste er unbedingt das königliche Garderegiment erwähnen? So, als hätte André es mit seinen Gedanken um Oscar nicht schon schwer genug! Aber unhöflich wollte er auch nicht sein. Vielleicht würde Alain danach von ihm ablassen? „Mein Name ist André... André Grandier... Ich arbeite als Bediensteter auf einem Anwesen nicht weit von Paris...“   „Und heute hast du dienstfrei“, schlussfolgerte Alain grinsend. Der Name war ihm selbstverständlich unbekannt, aber er war auch mit diesem Anfang zufrieden.   André verdrehte die Augen. Dieser Mann hatte offensichtlich an ihm einen Narren gefressen. Andererseits würde vielleicht die Gesellschaft ihn ablenken können, schwebte ihm gleichzeitig in Gedanken... „Nicht ganz, aber fast...“   „Na, geht doch!“ Alain lachte wieder auf und entblößte seine weißen Zähne. Der Wirt stellte in dem Moment zwei Krüge Bier auf die Theke und Alain hob eines in die Höhe: „Auf unsere neue Bekanntschaft!“   „Zum Wohle...“ André tat ihm unwillig gleich, leerte schnell die Reste aus seinem Krug, hob den neuen an und nahm dann einen großen Schluck von dem frischen Bier.   Es blieb nicht nur bei dem einen Krug. Nach dem das eine ausgetrunken war, bestellte Alain gleich neues. So, als hätte er mit ihm eine Wette abgeschlossen und wollte ihn deshalb unter den Tisch trinken. Die herbe und kühle Flüssigkeit rann André immer angenehmer den Hals herunter und schien ihn mit jedem Schluck von seinem Kummer zu erlösen. Er wollte doch einfach nur Vergessenheit darin finden und das schien nach einigen Krügen und dank der Redseligkeit von Alain gut zu funktionieren. Mehr noch: Dieser Alain wirkte im nächsten Augenblick nicht mehr so lästig wie zu Beginn. Er erwies sich als ein unterhaltsamer Geselle, der viele Soldatenwitze auf Lager hatte und mit dem es nie langweilig sein würde. Alain schien vom Aussehen her noch zusätzlich des gleichen Alters wie er zu sein. Also in etwa zwischen Ende zwanzig und Anfang dreißig.   André erfuhr von ihm einiges über ein einfaches Soldatenleben, wie schwer es manchen von seinesgleichen erging und dass Alain der Söldnertruppe hauptsächlich wegen des besseren Soldes beigetreten war. André hörte ihm meistens mit Interesse zu und sein Gemüt heiterte sich immer mehr auf – vor allem wenn das Bier immer wieder nachbestellt und getrunken wurde.       „...und nun erzähl, warum du so aussiehst, als habe dich deine Geliebte verlassen?!“, fragte Alain urplötzlich nach einer Weile der näheren Bekanntschaft zu ihm.   André schreckte innerlich auf. Das ging ihn nichts an, hätte er gesagt, aber bei Erwähnung des Wortes „Geliebte“ wurde seine Zunge auf einmal bleischwer und klebte trocken an dem Gaumen fest. Warum musste Alain unbedingt die Stimmung mit dieser Frage umkippen! Die Unterhaltung lief doch gerade so gut, dass er an Oscar und den Vorfall bereits nicht mehr dachte! Erneut entstand ein dicker Kloß in seiner Kehle und er versuchte ihn krampfhaft herunterzuschlucken.   „Also habe ich ins Schwarze getroffen!“, stellte Alain begnügend fest und als von André keine Antwort kam, zwinkerte er ihm verschwörerisch zu. „Wenn du willst, kann ich dir einen Rat geben, wie du sie zurückgewinnen kannst. Ich bin nämlich ein Frauenversteher!“   André musste unwillkürlich grinsen. Egal was Alain ihm für Ratschläge geben würde, bei Oscar würde nichts funktionieren. Denn sie war eine äußerst außergewöhnliche Frau und nur er, André, wäre in der Lage sie zu verstehen. Aber vielleicht wäre es einen Versuch wert? Alain schien völlig in Ordnung zu sein und er musste zugeben, dass dessen Art ihm gefiel. „Also gut“, gab er schlussendlich nach. „Gib mir deinen Ratschlag und ich sage dir, ob es bei ihr wirken könnte oder nicht.“   „Du scheinst sie gut zu kennen, wenn du dir so sicher bist, wie gut meine Empfehlungen bei ihr ankommen werden.“ Alain griff schon nach dem nächsten Krug, den der Wirt gerade auf die Theke vor ihm und André hingestellt hatte.   „Ich kenne sie in- und auswendig. Ich bin mit ihr zusammen aufgewachsen.“ André nahm wieder einen tiefen Schluck von dem frischen Bier und als er den Krug abstellte, wusch er die Schaumreste mit dem Ärmel von seinen Lippen. „Aber lass erst einmal hören, was du so für Ratschläge hast.“   „Du gefällst mir immer besser!“ Alain rückte zu ihm näher heran und senkte seine Stimme zu einem Flüsterton: „Na dann, hör mir gut zu...“ Kapitel 6: Lebenszeichen ------------------------ Oscar kehrte wieder einmal unverrichteter Dinge heim. Sophie und Rosalie erwarteten sie bereits sehnsuchtsvoll. Sie konnte deren hoffnungsvolle Blicke nicht mehr ertragen, aber noch weniger konnte sie ertragen, ihnen die schlechte Kunde zu bringen.   „Habt Ihr etwas herausfinden können, Lady Oscar?“, fragte Sophie mit belegter Stimme und schimmernden Augen. Diese Frage stellte sie jedes Mal, wenn Oscar zurückkehrte und jedes Mal schüttelte Oscar verneinend den Kopf. „Nein, Sophie, es tut mir Leid...“ Sie konnte ihr einstiges Kindermädchen nicht mehr ansehen und ihr den nötigen Trost schenken, denn es war ihr alleiniges Verschulden...   Oscar lief unverzüglich auf ihr Zimmer und versuchte beim Klavierspiel alle Geschehnisse der letzten Woche zu überdenken: André war nach der verhängnisvollen Nacht nicht mehr aufgetaucht. Am nächsten Tag hatte Oscar seine Abwesenheit vorerst nicht zur Kenntnis genommen. Auch nicht als Rosalie ihre Abschürfungen nach der Schlägerei behandelte und Sophie über die Unachtsamkeit ihres Enkels schimpfte. Erst später, als die alte Dame ihren Enkel mit Vorwürfen überschütten wollte, fiel ihr auf, dass sein Zimmer leer und sein Bett unberührt blieb. Und er hatte noch zusätzlich alle seine Sachen und Ersparnisse, die er besaß, mitgenommen!   Auch da redete Oscar sich ein, dass er noch auftauchen würde, obwohl sie schon das schlechte Gewissen zu plagen begann. Nun war bereits eine Woche vergangen, aber von André fehlte jede Spur. Und als wäre sein urplötzliches Verschwinden nicht schwer genug, tauchten in Versailles neue Probleme auf: Da wurden gewisse Übeltäter verhaftet, weil sie Ihre Majestät beleidigt und betrogen hatten. Angeblich hatte Marie Antoinette eine sehr teure Kette beim Juwelier auf Ratenzahlung angenommen, aber wollte nichts zahlen und nun war die Königin deshalb in eine Halskettenaffäre verstrickt....   Eine gewisse Jeanne de Valouis gehörte zu einem der Hauptdrahtzieher in diesem Komplott und Rosalie wurde nach ihrer Verhaftung auf einmal betrübt. Sie spielte oft auf dem Klavier in Oscars Salon, bis diese aus Versailles zurückkehrte und irgendwelche unerfreuliche Neuigkeiten mitbrachte – ob in Bezug auf Jeanne oder auch André, war alles gleich. Dann hieß es, es würde bald ein Pariser Gerichtshof einberufen werden und noch bevor der Prozess überhaupt beginnen konnte, hatte Rosalie ihre Schutzpatronin darum gebeten einen Ring zu Jeanne ins Gefängnis zu bringen. „Jeanne... Jeanne ist meine ältere Schwester...“, hatte Rosalie verzweifelt offenbart, „...der Ring gehörte unserer verstorbenen Mutter. Jeanne kann nichts dafür, dass sie in schlechte Gesellschaft geraten ist... Ich habe sie trotzdem lieb...“   Oscar war wegen der Offenbarung kurz überrascht gewesen, aber gleich darauf hatte sie die junge Frau tröstend in den Arm genommen. „Weine nicht, ich bringe den Ring schon zu deiner Schwester...“, hatte sie ihr versprochen und dies am gleichen Abend auch noch gemacht. Denn Rosalie war ihr in all den Jahren, seit sie sie bei sich aufgenommen hatte, schon zu sehr ans Herz gewachsen.   Aber wo war nur André? Er war Oscar auch nicht unbedeutend, das konnte sie nicht verleugnen, und sie hätte ihn gerade jetzt am meisten gebraucht! Sie stand beinahe am Rande der Verzweiflung und gleichzeitig war sie wütend – mehr auf sich selbst, als auf ihn. Was hatte sie nur getan? Sie hätte ihm in jener Nacht nachreiten sollen! Denn offensichtlich war er es ja auch gewesen, den sie aus ihrem Fenster beobachtet hatte... Sie wollte aber doch nur einer Konfrontation mit ihm aus dem Wege gehen und nun hatte sie es davon – André war fort und würde höchstwahrscheinlich nicht mehr so bald zurückkehren!   Und obwohl ihr dies bewusst war, hatte sie trotzdem jeden Tag und jede dienstfreie Minute nach ihm gesucht – überall wo er ihrer Vorstellung nach sein könnte... Ohne den geringsten Erfolg... Und jeden Tag musste sie Sophie anlügen, dass sie nicht wusste, aus welchem Grund André fort war... Oscar hatte der alten Haushälterin nur knapp erklärt, dass sie nach der Schlägerei mit ihm heimgekommen war, dass jeder von ihnen auf sein Zimmer gegangen war und sie ihn seitdem nicht mehr gesehen hatte...   Wie schwer und fürchterlich lastete ihr danach die Lüge im Herzen! Aber sie konnte und wollte doch Sophie nichts von den Ereignissen erzählen, die sich auf ihrem Zimmer tatsächlich abgespielt hatten... Es würde die alte Frau sehr treffen, wenn sie erfährt, dass ihr Enkel wegen ihres Schützlings gegangen war... Damit würde Oscar lieber selbst fertig werden. Aber dennoch... Wo war er nur? Es war zum Haare raufen!   Wuchtig donnerte Oscar auf die Klaviertasten und brach ihr Musikstück ab. Es führte zu nichts hier tatenlos zu sitzen und sich in Selbstvorwürfen zu ertränken! Es müsste einen Weg geben, André zu finden! Ein grausamer Gedanke beschlich Oscar plötzlich: Was, wenn ihm etwas passiert ist? Überfälle hatte es schon immer gegeben... Vielleicht lag er irgendwo abseits aller Wege im Wald ausgeraubt, erschlagen und den wilden Tieren, den sogenannten Aasfressern vollkommen ausgeliefert...   Nein, unmöglich! André dürfte nicht tot sein! Oscar wurde bei dieser Vorstellung flau im Magen und sie stürmte wieder aus ihrem Zimmer hinaus. Sie musste noch einmal an den Orten nachschauen, wo sie noch nicht gewesen war! Sie eilte den langen Korridor entlang und dann die Treppe herunter. Plötzlich verharrte sie ganz still am Hauseingang. Draußen im Vorhof unterhielten sich Sophie und Rosalie mit einem breitschultrigen Soldaten. Dem Anschein nach gehörte er nicht dem Adel an und nahm kein Blatt vor dem Mund. Das war nicht André, erkannte Oscar sofort, aber dessen Worte, die er an Sophie richtete, jagten Oscar ein Dolch mitten durchs Herz: „...wie ich bereits sagte, Madame, ihm geht es gut. Euer Enkel wird für eine Weile nicht nach Hause kommen können, aber damit Ihr Euch um ihn keine Sorgen macht, schickt er mich deshalb zu Euch...“   „Was hat das zu bedeuten? Warum kommt er nicht selbst hierher?!“, wisperte Sophie ungläubig und da schritt Oscar selbstbewusst ein: „Das würde ich auch gerne wissen!“, verlangte sie von dem Mann mit dem roten Halstuch zu wissen. Sie traute ihm nicht und war aber gleichzeitig erleichtert, überhaupt etwas über ihren verschollenen Freund in Erfahrung zu bringen. „Wo ist André? Das ist nicht seine Art, jemanden zu schicken! Und wer seid Ihr überhaupt?!“   Der Mann beäugte sie flüchtig von Kopf bis Fuß und dann pfiff er leise durch die Zähne. „Ihr müsst also der Kommandant des königlichen Garderegiments, Oscar Francios de Jarjayes, sein...“   „Ja, das bin ich!“, rief Oscar barsch und ballte ungeduldig ihre Hände zu Fäusten. Was sollte das hier werden? Vielleicht wurde André irgendwo gefangen gehalten und deshalb war dieser raue Geselle hier, um nach Lösegeld zu fordern? Aber für einen einfachen Bediensteten? André gehörte doch nicht dem Adel an – im Gegensatz zu ihr. Ja, sie gehörte dem Adel an und Oscar kam gleich der nächste schreckliche Gedanke, dass vielleicht deshalb der Mann hier war und für Andrés Leben wollte er Geld von ihr. Für Andrés Leben war Oscar zu allem bereit, aber vorerst sollte sie nichts überstürzen. Ihr fielen die Worte dieses Mannes ein, dass es André eigentlich gut ging. Das machte sie stutzig. Oscar richtete sich noch gerader auf und schenkte dem Mann einen eisigen Blick. Sie würde keine Ruhe geben, bis sie die Wahrheit herausgefunden hatte. „Ihr habt mir immer noch nicht die Fragen beantwortet! Wie ist Euer Name?!“   „Oh, verzeiht mir meine Unhöflichkeit. Mein Name ist Alain de Soisson.“ Er vollführte eine spöttische Verbeugung und richtete sich wieder in ganzer Größe auf. „Und ich kann Euch leider den Aufenthaltsort meines Freundes auf dessen Wunsch nicht verraten, Frau Kommandant...“   „Wie bitte?“ Oscar platzte fast der Kragen. Und fast zeitgleich tauchte ein schmerzliches Sticheln in ihrem Brustkorb auf. Abgesehen von der Tatsache, dass dieser Alain sie gleich als Frau erkannt hatte, konnte sie kaum glauben, dass André zu solchen Versteckspielchen überhaupt fähig war! Und ganz nebenbei gesagt, dass er so offenbar neue Freunde gefunden hatte und bei denen untertaucht zu sein schien, ohne ein Zeichen von sich zu geben! Das passte ganz und gar nicht zu ihm! Aber vielleicht war dieser neuer Charakterzug von ihm auch ihr zu verdanken? Ihr und ihrem Verhalten in jener Nacht vor etwa einer Woche... Diese Gedanke schob Oscar allerdings gekonnt beiseite, das gehörte jetzt nicht hierher. „Es ist mir egal, ob es angeblich sein Wunsch ist und Ihr ihn nicht verraten wollt, aber ich will auf der Stelle wissen, wo er sich aufhält!“, verlangte sie nun im befehlshaberischen Ton.   „Tja...“ Alain machte kein Hehl daraus, wer vor ihm stand. Ihm war auf einmal so vieles einleuchtend. Sein Freund hatte versucht, nicht viel über diese Frau in Männerkleidern zu erzählen, aber nach etlichen Bierkrügen wurde die Zunge bekanntlich loser... Besonders nachdem Alain seine verheißungsvollen und viel zu verlockenden Ratschlägen, bei denen André kaum nein sagen konnte, gegeben hatte... Alain fasste alles, was ihm André häppchenweise offenbart hatte, zusammen. Und ihm kam dabei ein glänzender Einfall, um auch den berüchtigten Offizier der königlichen Garde prüfen zu können, in den Sinn - beziehungsweise, aus welchem Holz sie tatsächlich geschnitzt war. „Ihr scheint André zu mögen...“, spielte er ihr mit einer List vor und schmunzelte dabei geheimnisvoll: „Aber trotzdem kann ich nicht verraten, dass er für eine Weile bei mir wohnt und bereits vorhat, meiner Schwester einen Heiratsantrag zu machen...“   „Er will heiraten?“, staunte Rosalie und schielte flüchtig zu Lady Oscar. Aber das ging doch nicht! Wieso wollte André eine ihm Unbekannte heiraten wo sein Herz und Liebe einer anderen gehörte? Und das auch noch in der kurzen Zeit? Das passte nicht in Rosalies Vorstellung. Sie konnte und wollte diesem Alain nicht glauben. Schon alleine, weil André niemals so leichtfertig aufgeben und daher einen Ersatz suchen würde! Das wäre ein Verrat an seinem Herz und seinen Gefühlen!   „Ohne uns davon zu sagen?“, murmelte ganz perplex Sophie und gleichzeitig überkam sie gewisse Zweifel. Etwas stimmte hier nicht, denn solch ein Verhalten passte nicht zu ihrem Enkel! Für dieses Spielchen würde André sich noch vor ihr verantworten müssen! Was fiel diesem Bengel überhaupt ein! Vorerst verschwindet er spurlos ohne ihr etwas zu sagen und dann kam so etwas dabei raus! Auch wenn ihr ganz kurz der Gedanke gefiel, wenn er endlich mal heiraten und einen festen Fuß fassen würde, trotzdem konnte sie sich schwerlich vorstellen, dass er in so einer kurzen Zeit ein passendes Mädchen finden könnte! Zumal sie, seine Großmutter, schon mal hatte beobachten können, wie ihr Enkel ihrem Schützling sehnsuchtsvoll nachgesehen hatte... Das war vor ein paar Jahren gewesen, als Graf von Fersen Lady Oscar besuchte und sie sich mit ihm mehr unterhielt als mit André. Sophie seufzte still in sich hinein und gleichzeitig beruhigte sie sich. Ihr Enkel hatte sich das definitiv ausgedacht und deshalb Alain vorgeschickt, damit niemand seine wahren Absichten durchschauen konnte. Aber nicht mit ihr! Sophie mochte schon alt sein, aber das hieß noch lange nicht, dass sie auf so etwas Absurdes hereinfallen würde!   Oscar schluckte derweilen einen dicken Kloß in ihrer Kehle wie eine bittere Medizin herunter und versuchte dabei sich nichts anmerken zu lassen. Das konnte doch alles nicht wahr sein! Dieser Söldner gaukelte hier bestimmt etwas vor! Aber sie wäre nicht sie, wenn sie ausgerechnet jetzt ihren Gefühlen nachgeben würde! Auch wenn die Worte von Alain sie wie einen harten Schlag in die Magengrube trafen, bewahrte sie trotzdem aufrechte Haltung und den strengen, nichts preisgebenden Gesichtsausdruck. „Dann sagt ihm, er soll glücklich werden.“ Oscar wirbelte auf der Stelle herum, sie konnte keine Sekunde mehr länger hier ausharren!   „Und das lässt Euch kalt?“, hörte sie diesen Alain trocken sagen.   „Ich mische mich doch nicht in sein Privatleben ein!“, murrte sie verstimmt und stürmte ins Haus zurück. Das tat weh! Aber woher wusste anscheinend Alain von Dingen, die sie selbst nur erahnte? Was hatte André ihm überhaupt erzählt? Und sie machte auch noch um ihn, ihrem langjährigen Freund, Sorgen! Wenn sie ihn überhaupt noch als Freund ansehen würde können!   Oscar ging vollkommen außer sich auf und ab in ihrem Salon. Sie konnte sich nicht einfach beruhigen. Wie denn auch? Nach dem was sie erfahren hatte, verwandelte sich ihre Sorge um André in Zorn. Und Schmerz, weil er anscheinend selbst nicht imstande war, ihr vor die Augen zu treten und irgendwelche Märchengeschichten über sein angebliches Vorhaben, heiraten zu wollen, ihr ins Gesicht zu sagen! Natürlich nicht! Er wusste doch genau, dass sie Lügen nicht ausstehen konnte und trotzdem hatte er es getan – durch seinen neuen Freund Alain! Diese Tat würde sie ihm nicht verzeihen! Aber vielleicht war das seinerseits auch berechtigt? Nach allem was an jener Nacht passiert war und sie über seine Gefühle zu ihr wusste, hatte er dann nicht auch ein kleines Stück Glück verdient?   Ja, das hätte er, gestand sich Oscar wehmütig und ein großer Druck entstand in ihrem Brustkorb, so, dass es ihr dabei schwer fiel zu atmen. Sie musste unbedingt an die frische Luft! Sie musste sich abreagieren! Sonst erstickte sie hier, in ihren eigenen vier Wänden! Denn ausgerechnet ihre Gemächer gehörten zu einen der Orten, wo Andrés Gegenwart im wahrsten Sinne des Wortes spürbar war! Ganz beiläufig fiel Oscars Blick ins Schlafzimmer und sie verharrte auf der Stelle. In ihrem geistigen Auge sah sie ihn und sich auf dem Bett – in Leidenschaft und Liebe versunken. Ihr ganzer Körper erschauerte dabei wohlig und ihr es so vorkam, als spüre sie seine Hände und seine Liebkosungen auf ihrer Haut noch immer...   „Nein, aufhören!“, schrie Oscar aufgebracht und rannte einfach aus ihrem Zimmer. Kapitel 7: Rückkehr ------------------- „Bist du denn verrückt geworden?!“, empörte sich André, als Alain ihn besuchte und ihm ganz vergnügt über seine Tat berichtete.   „Nun, etwas musste ich mir doch einfallen lassen, wenn du das schon nicht machst“, erwiderte er achselzuckend und grinste immer breiter. Die Begegnung mit Oscar hatte er nicht erwartet, aber dennoch konnte er sich ein Bild von ihr machen und das meiste, was er schon über sie durch kursierende Gerüchte in Paris gehört hatte, traf auf sie auch zu: Eine stolze Erscheinung brachte sie in der Tat hervor und ließ sich auch vor niemanden etwas sagen – wie halt jede Adlige, die nur auf ihr eigenes Wohl bedacht war. Alain hatte diesem selbstgerechten Mannsweib ein Schnippchen geschlagen und ihre Reaktion amüsierte ihn noch immer.   „Aber doch nicht, dass ich angeblich vorhabe, deine Schwester zu heiraten! Ich kenne sie nicht einmal!“ André hätte ihm liebend gern das Grinsen aus dem Gesicht geschlagen. Allerdings gehörte er nicht zu dieser Sorte von Menschen und focht lieber vorerst mit Worten, anstelle mit Fäusten.   „Beruhige dich doch! Das hat sie nicht einmal gerührt und sie ist einfach gegangen. Ich schließe daraus, dass sie deine Gefühle nicht teilt.“ Alain lehnte sich ganz entspannt an die Wand, verschränkte seine Arme vor der Brust und überkreuzte seine Fußknöchel. Sein Freund tat ihm beinahe leid, wie er sich da wegen dieser Frau in Männerkleidern aufführte. Die meisten Adligen waren doch bekanntlich im Herzen verkommen!   „Das glaube ich nicht! Ich kenne Oscar besser als jeder andere – sogar besser als ihre eigenen Eltern! So ist sie nicht! Oscar ist der gütigste Mensch, den ich kenne!“ André war äußerst aufgebracht. Das war ein Fehler, sich auf solch einen Plan einzulassen! Das musste er wieder gut machen! André wusste nicht, wie viel er ausgeplaudert hatte, aber dank dem Bier offensichtlich mehr als es ihm lieb war. Daran konnte er aber nichts mehr ändern. Er musste die Sache gerade biegen – der Plan war nun schiefgelaufen und er durfte sich daher nicht mehr verstecken! Den Ratschlag von Alain am ersten Abend vor einer Woche hatte er angenommen, um nur aus Neugier zu sehen, ob etwas passieren würde. Alain hatte ihm an dem Abend vorgeschlagen, ein paar Tage vom Anwesen fernzubleiben, um Oscars Gefühle zu prüfen und ob er ihr etwas bedeutete. André hatte lange überlegt, bis er schließlich zugestimmt hatte und noch in derselben Nacht wie ein Dieb auf das Anwesen zurückgekehrt war, ein paar Sachen genommen hatte und genauso lautlos wieder verschwunden war. Er hatte in dem Gasthaus, wo er mit Alain Bekanntschaft geschlossen hatte, ein Zimmer gemietet und es aus seinen mitgenommenen Ersparnissen bezahlt. Und heute sollte Alain nur seiner Großmutter übermitteln, dass es ihm gut ging, mehr nicht. Von einer angeblichen Heirat war nie die Rede gewesen!   „...das weißt du besser.“, hörte er Alain unbeeindruckt sagen: „Aber so eine Frau ist bestimmt schwierig zu lieben.“   „Ich muss zu ihr!“ André zögerte keine einzige Sekunde mehr und Alain staunte nicht schlecht, als André in Windeseile seine Sachen packte. „Ich danke dir für alles, Alain.“ Zugegeben, André konnte auf Alain nicht böse sein, denn im Grunde genommen hatte er alles sich selbst zuzuschreiben.   „Keine Ursache.“ Alain hielt ihn nicht auf. Wozu denn auch? Das war ja auch nicht seine Angelegenheit. Er hatte getan was er konnte und der Rest lag an André selbst. „Aber wenn du etwas brauchst, kannst immer zu mir kommen. Du weißt wann und wo du mich finden kannst.“ Nun gut, so gleichgültig war ihm André doch auch nicht und wenn er es sich genauer überlegte, dann würde er ihm jederzeit gerne zur Seite stehen und ihm helfen – immerhin war André genauso ein Bürgerlicher wie er.   „Danke, das weiß ich zu schätzen.“ André verließ mit ihm das Zimmer, bezahlte seine Zeche beim Wirt in der Gaststube im ersten Stockwerk und verabschiedete sich dann draußen von seinem neuen Freund mit einem kräftigen Handdruck.       - - -       Je näher André sich dem Anwesen der de Jarjayes auf seinem Braunen nährte, desto unbehaglicher wurde es ihm. André war nur eine knappe Woche fort gewesen, aber ihm kam es so vor, als hätte er sich jahrelang hier nicht mehr blicken lassen. Er musste den Sprung ins kalte Wasser wagen und seinen Mann stehen – egal welche Folgen es auf sich ziehen mag. Vor allem von Oscar. Denn nun betrachtete er sein Vergehen mit nüchternem Auge – nicht sturzbetrunken wie noch vor einigen Tagen, als er seinen Liebeskummer mit Bier zu ertränken versucht und daher sich auf die Ratschläge von Alain eingelassen hatte.   André zügelte sein Pferd vor dem großen Eisentor, holte tief Luft und ritt wieder an. Vor dem Stall stieg er aus dem Sattel, führte seinen Braunen in die Box, sattelte ihn ab und versorgte ihn schnell, bevor er in das Haus ging.   Auf dem Weg durch den Hof und beim Betreten des Anwesens musste er sich öfters zur Ordnung rufen und jeden weiteren Schritt, der ihn durch die Empfangshalle des ersten Hauptgebäudes brachte, mehrmals überwinden. Dabei mied er all die erstaunten und fragenden Blicke der Bediensteten, die ihn regelrecht zu durchlöchern schienen. Zugegeben war ihm das halb so wichtig. André wappnete sich innerlich auf das Wiedersehen mit Oscar – wenn sie ihn überhaupt noch sehen wollte!   In der Küche, gleich in dem unteren Stockwerk, traf er gewohnheitsgemäß auf seine Großmutter. Auch Rosalie war mit dabei. „Seid gegrüßt, ich bin wieder zurück“, meldete sich André von der Türschwelle – kleinlaut und schuldbewusst.   Beide Frauen hielten in ihrer Tätigkeit erschrocken inne, als hätten sie gerade einen Geist gesehen. „André!“ Sophie ließ alles stehen und liegen und warf sich in die Arme ihres Enkels. Eigentlich wollte sie ihn tadeln, aber in diesem Augenblick kam es ihr nicht mehr in den Sinn. „Gott sei Dank, du bist wieder da! Wo warst du?! Wie konntest du uns das antun?!“   „Entschuldigt meine Abwesenheit, aber ich hatte meine Gründe...“, versuchte André seine Großmutter zu beruhigen und legte vorsichtig seine Arme um ihren rundlichen Körper.   Diese entriss sich aus seiner Umarmung und strafte ihn mit einem bitterbösen Blick. „Was für Gründe sollten es sein?!“   André wich ihrem Blick aus. „Es tut mir leid, aber ich kann es Euch nicht sagen...“   „Ach, dann stimmt es also!“ Sophie ließ sich nicht einfach so abwimmeln. Sie glaubte die Gründe zu kennen. „Du hast in der Tat vor zu heiraten und willst uns nicht verraten, wer das ist?!“   „Nein!“ André war zu tiefst erschrocken. „Alain hat sich das ausgedacht! Ich kenne seine Schwester nicht einmal!“, rechtfertigte er sich verdattert.   Sophie wollte ihm glauben, aber die Idee, dass ihr Enkel heiraten und eine Familie gründen würde, ließ das nicht zu. „Nun, viele Paare kennen sich vor der Hochzeit nicht...“   „Aber ich werde niemanden heiraten, den ich nicht kenne. Geschweige denn, den ich nicht liebe!“, platzte es aus André heraus und zu spät biss er sich auf die Zunge. Über die Liebe wollte er erst recht nicht mit seiner Großmutter diskutieren.   Diese beäugte ihn unschlüssig, dann rückte sie ihre runde Brille zurecht und ging zu der Kochstelle zurück. „Das nehme ich dir diesmal ab, mein Junge! Aber merk dir, in Zukunft tust du so etwas nie wieder!“   „Das schwöre ich Euch, Großmutter, hoch und heilig!“ André war innerlich etwas erleichtert. Seine Großmutter konnte er besänftigen, aber das Schwierigste stand ihm noch bevor: Das Wiedersehen mit Oscar. Er sah flüchtig zu Rosalie, die am Tisch den Brotteig knetete und nun mit weit geöffneten Augen auf ihn starrte. „Wo ist Oscar?“, fragte er so neutral wie möglich. „Ihr Schimmel war nicht im Stall. Ist sie wieder in Versailles?“   „Lady Oscar hat nach dir jeden Tag gesucht“, offenbarte ihm Sophie, ohne direkt auf seine Frage zu antworten. Sie widmete sich dem großen Ofen und schürte dort das Feuer für das Brot.   Rosalie erwachte aus ihrer Starre und senkte etwas ihren Kopf. Nein, André hatte seine unerwiderte Liebe zu Lady Oscar nicht überwunden und das würde er nie tun können. Das hatte Rosalie gerade in seinen leicht verzweifelten Blicken herausgelesen und er tat ihr noch mehr leid. „Nachdem dein Freund hier war, ist sie zum See fortgeritten. Sie sagte, sie will allein sein und weiß nicht, wann sie zurückkommt“, offenbarte sie ihm leise.   André hatte sie dennoch verstanden. „Danke, Rosalie.“ Er wirbelte sogleich herum und hastete aus der Küche.   „Meine arme Lady Oscar, mit so einem Taugenichts von Freund bestraft zu werden...“, seufzte Sophie, aber korrigierte sich gleich. „Aber die Hauptsache ist, dass er wieder da ist und ihm nichts fehlt...“   Rosalie dachte bei sich dagegen etwas anderes: Armer André... Er liebt Lady Oscar so sehr, aber kann es ihr nicht sagen... Deshalb ist er wahrscheinlich weggelaufen, aber selbst er ist daran gescheitert... Jetzt ist er wieder da, aber ob es ihm dadurch besser gehen wird...       - - -       Oscar saß unter einem Baum – die Augen geschlossen, den Kopf in den Nacken gelegt und ein Bein an sich gezogen. Lichtstrahlen, die durch Äste des alten Baumes brachen, tanzten auf ihrem Gesicht. Sie sah entspannt aus, aber dem war nicht so. In ihr herrschte ein Chaos und sie versuchte es zu unterdrücken. Immer wieder geisterten die Worte von diesem Söldner in ihrem Kopf und wollten sie nicht loslassen. André! Wie konnte er nur?! War er etwa wirklich so liebestrunken und verzweifelt, dass er deshalb fortgegangen war? Und was sollte das die Sache mit der Heirat?! Das passte nicht zu dem, was er ihr schon zwei Mal offenbart hatte: Nämlich seine Liebe zu ihr!   Entfernte Hufschläge eines Pferdes rissen sie aus den hoffnungslosen Grübeleien. Schlagartig öffnete sie die Augen und horchte auf. Diesen Galopp kannte sie nur zu gut. Sie erhob sich auf alles bereit und sah bereits das braune Pferd, das auf sie zu ritt. Ihr Herz jubelte, ihr Verstand dagegen warnte sie vor der voreiligen Freude. Sie zog ihre Stirn kraus. Zuerst würde sie sehen, was er ihr zu sagen hatte und dann entscheiden, wie es mit ihnen weiter gehen würde – auch wenn sie sich innerlich freute, ihn wieder zu sehen. Anscheinend hatte dieser Alain nicht gelogen – André war in der Tat in guter Verfassung: Sein dunkelbraunes Haar, das mit einer Schleife zu einem Zopf gebunden war, wehte um die Wette mit der Mähne seines Pferdes. Keine verräterischen Anzeichen waren an seinem Körper zu sehen – nicht einmal die von der vergangenen Schlägerei wiesen darauf hin, dass es ihm schlecht ging. Nur etwas dünner wirkte er, obwohl er schon immer eine schlanke Statur besessen hatte.       Wenige Schritte vor ihr verlangsamte André sein Pferd und stieg ab. Langsam ging er auf Oscar zu und verbat sich jegliche Gefühlsregungen. Oscar durfte nichts davon merken, was gerade in ihm vorging. Dann blieb er direkt vor ihr stehen und sie sahen sich stumm an – bis es beiden unerträglich wurde. „Ich bin wieder da...“, brach André als erster das Schweigen.   „Das sehe ich...“, erwiderte Oscar kühl – innerlich zitterte sie jedoch aufgebracht. „Schön, dass du dich blicken lässt...“   „Oscar, ich bin hier um mich zu entschuldigen...“, begann André und wurde prompt von Oscar unterbrochen: „Sprich nicht weiter! Denkst du, dass macht die Sache leichter? Erst überfällst du mich mit deiner Liebe, dann verschwindest du spurlos und jetzt heißt es, dass du bald heiratest?! Was soll das André?“ Das war nun raus! Sie konnte ihre aufgestaute Wut und Sorge nicht mehr zügeln. André sollte spüren, was er angerichtet hatte!   Und das tat er. Die Gewissensbisse wurden immer schlimmer und zerrissen ihn in kleinste Stücke. Wie ein Häufchen Elend stand er da und versuchte zu erklären: „Oscar, bitte glaube mir, ich heirate nicht! Alain hat es sich nur ausgedacht! Das war ein falsches Spiel und es tut mir aufrichtig leid, was ich getan habe! Ich schwöre dir, ich werde es nie wieder tun!“   „Nun...“ Oscar wollte ihm glauben, aber ein gewisser Zweifel ließ das nicht zu.   „Bitte, Oscar...“ Die Stimme von André klang immer flehender und seine Haltung sank beinahe niedergeschlagen in sich zusammen. „Die einzige Frau die ich...“   „Nein!“, schnitt Oscar ihm schroff das Wort ab. Genau das wollte sie jetzt nicht hören! Nicht von ihm! Sie verletzte ihn mit ihrer Zurückweisung mehr denn je, das spürte sie und das tat ihr gleichzeitig auch leid, aber es gab keinen anderen Weg wenn sie ihre Freundschaft behalten wollte wie es früher gewesen war. Ihre blauen Augen funkelten, zerrissen ihn in kleinste Stücke und zerbrachen die kleine Hoffnung, an die er wie an einem Strohhalm verzweifelt klammerte. Mehr und mehr sank seine Haltung zusammen, seine Schultern hingen mutlos, seine grünen Augen, die früher in seiner Kindheit so viel von Freude und Glückseligkeit gestrahlt hatten, wurden glasiger. André verachtete sich für seine Hilflosigkeit und dass er dies nicht vor ihr verbergen konnte. Abrupt wandte er sich ab und fuhr sich verächtlich mit dem Ärmel über die Augen. „Dann kann ich wieder gehen...“ Was hatte er hier noch zu suchen?! Oscar hatte ihm deutlich gezeigt, was sie von ihm und seinem Vergehen hielt! Ihre Worte und ganz besonders der eisige Blick glichen einer offenen Abfuhr! Nein, es war mehr ein Gnadenstoß, den sie ihm gerade erbarmungslos gegeben hatte! Wie konnte er jemals glauben oder gar hoffen, dass sie ihm verzeihen würde? Aber die Hoffnung starb ja bekanntlich zuletzt... und nun starb er ebenso...   André schob seinen Fuß in den Steigbügel, als ihre Stimme hinter ihm ertönte und ihn inne halten ließ: „André, warte!“ Was wollte sie noch von ihm?   Oscar bekam plötzlich das Gefühl, dass er jetzt für immer fortreiten und sie alleine zurücklassen würde – diesen Ausgang wollte sie auf keinen Fall. Sie schluckte ihre Wut herunter und suchte nach passenden Worten: „André...“ Sie versuchte etwas versöhnlicher zu klingen: „Ich verzeihe dir deinen Schwindel und ich glaube dir, aber es ist einfach viel geschehen...“ Sie unterbrach sich kurz, atmete tief ein und fuhr schnell fort, bevor André noch etwas sagte oder sein Vorhaben in die Tat umsetzte. „...du bist nun wieder zurück und das ist Hauptsache... Lass uns nicht mehr darüber reden, denn sonst werden wir keine Freunde mehr sein können.“ Kapitel 8: Ertragbare Jahre --------------------------- Sie hatten sich versöhnt: Stumm und ohne davon zu sprechen, was zwischen ihnen in jener Nacht und eine Woche danach vorgefallen war. Oscar und André ertrugen sich aus alter Gewohnheit und um nicht die langjährige Freundschaft zwischen ihnen zu zerstören. Sie führten ihr altes Leben weiter, obwohl es schien, als würden ihre Gefühle jeden Tag das Fass zum Überlaufen bringen. Wenigstens gab es in Versailles viel zu tun, so dass sie sich auf andere Dinge sich konzentrieren konnten. Es gab da die Halskettenaffäre, die sich im Gerichtshof fast ein Jahr hinzog. Die Täter wurden verurteilt und das Kapitel abgeschlossen. Bis Jeanne Valouis, die eigentliche Hauptdrahtzieherin dieses Spektakels um die Halskettenaffäre, aus dem Gefängnis ausgebrochen war und in ihrem Versteck begann, Memoiren über die angeblichen Affären der Königin zu schreiben.   „...Ohh, du kommst auch darin vor!“, bemerkte André, als er eines dieser Bücher durchblätterte. „Madame Oscar Francois de Jarjayes - die Dame, die sich wie ein Mann kleidet. Du bist berühmt wie Madame de Polignac, eure Namen stehen nebeneinander.“ Er saß an dem runden Tisch im großen Empfangssalon im unteren Stockwerk des Anwesens.   Oscar stand mit dem Rücken zu ihm am großen Fenster und schaute ausdruckslos hinaus. Nicht schon wieder diese Intrigen, die Ihrer Majestät schaden würden! Was ging nur in den Köpfen der Menschen vor?!   Ein Rascheln ließ sie überrascht umdrehen. Rosalie eilte aufgebracht von der Treppe zum Salon auf André zu und entriss ihm das Buch aus den Händen. „In diesem Buch steht nur Schmutz!“, wisperte sie aufgebracht und flüchtete überstürzt davon.   Das arme Mädchen! Rosalie hatte es nicht leicht. Noch vor einem Jahr musste sie erfahren, dass die besagte Madame de Polignac ihre leibliche Mutter war und nun wurde ihre Schutzpatronin unschuldigerweise in eben diesen Schmutz hineingezogen. Auch André machte sich bestimmt Gedanken über Oscar. Ach, dieser Liebestrunkene... „Mache dir um mich keine Gedanken, André“, sprach Oscar zu ihrem Freund, aber schaute in die Richtung, in die Rosalie geflüchtet war. „Das Schlimme daran ist nur, dass viele Menschen die Lügenmärchen über die Königsfamilie und Marie Antoinette glauben werden.“   André sagte nichts. In letzter Zeit, genauer genommen nach ihrer Versöhnung, ging er mit seinen Äußerungen sparsamer um. Und seither wurde er immer verschlossener. Oscar merkte das an ihm sehr wohl und ahnte weshalb, sprach ihn aber nie darauf an. Umso besser für sie beide. So werden sie ihre alte Freundschaft weiterhin aufrecht erhalten können. Und wenige Tage später verließ unerwartet Rosalie sie. Angeblich musste sie zu ihrer leiblichen Mutter. Oscar glaubte ihr natürlich kein Wort, denn Rosalie hasste Madame de Polignac abgrundtief. Allerdings konnte Oscar sie gleichzeitig auch zu nichts zwingen und ließ sie mit Schwermut gehen. „...sie ist ein liebes Mädchen – hell und klar, wie ein Sonnenstrahl...“, murmelte Oscar am Fenster ihres Salons, als Rosalie bereits mit der Kutsche der de Polignacs fortgefahren war.   Sophie kam unbemerkt an sie heran. „Lady Oscar... Rosalie bat mich gestern dies Euch zu geben...“ Sie reichte ihr einen Brief.   Oscar wusste nicht, was sie davon halten sollte und nahm ihn achtsam an sich. „Das ist von ihrer Schwester Jeanne!“ Und nicht nur das! Schnell überflog sie die wenigen Zeilen und war entsetzt von dem Geschriebenen. Dort stand auch das wahre Versteck von ihr und ihrem Mann, von wo sie auch die Memoiren veröffentlichte. Oscar verstand mit einem Mal alles: Rosalie wollte sie nur von den Intrigen der Madame de Polignac schützen und deshalb war sie zu ihr gezogen! Diese hinterhältige Madame hatte das arme Mädchen bestimmt unter Druck gesetzt und ihr keine andere Wahl gelassen. Wenn Rosalie sich geweigert hätte, dann hätte Oscar ganz bestimmt dran glauben müssen, denn sie hatte ja so gesehen, die kleine Schwester von der Verbrecherin bei sich aufgenommen – was bisher eigenartigerweise noch niemand zur Kenntnis genommen hatte.   „Und das musste Rosalie für sich behalten?“ Oscar zerknüllte aufgebracht den Brief und drückte sich das Papier leicht zittrig gegen den Stirn. „Bitte sprich zu niemanden ein Wort darüber!“, sagte sie zu André, der sich wie ein Schatten stets in ihrer Nähe aufhielt. Was war nur los mit diesem Haus?! Vorher die Sache mit André und jetzt auch noch Rosalie! Warum musste das alles so kompliziert sein? „André, du musst mir etwas Zeit lassen...“, fügte sie verzweifelt hinzu und hörte schon seine Zustimmung: „Natürlich...“ Mehr sagte er nicht. Und warum sollte er etwas dazu sagen? Oscar brauchte ihn jetzt mehr denn je – als eine unterstützende Kraft für ihre Sorgen und als ein verlässlicher Gefährte an ihrer Seite. Es war zwar schade um Rosalie, aber Oscar tat ihm noch mehr leid. Und ganz nebenbei nahm Rosalie sein Geheimnis mit sich, was eigentlich halb so wichtig war, denn Oscar kannte bereits seine Gefühle zu ihr. Aber daran wollte André nicht mehr denken, sonst würde er ebenso an seine Fehltritte erinnert werden und das hätte er gerade am wenigsten gebraucht. Da war es gut, dass Oscar ihm wieder vertraute und mit ihm so umging wie in guten alten Zeiten – ohne natürlich ihre innersten Gedanken und Gefühle zu verraten. Aber das war ja nichts Außergewöhnliches bei ihr...   Oscar nahm den hinterlassenen Brief von Rosalie bitter zur Kenntnis, aber dagegen etwas unternehmen konnte sie zu ihrem Leidwesen nicht. Erst als sie vom Rat in Versailles wenige Tage später den Befehl erhielt, Jeanne in ihrem Versteck zu verhaften. Sie befand sich im Kloster Saverne, um genauer zu sein. Dem Rat wurde aus einer sicheren Quelle dieses Versteck bekannt gegeben. Aber von wem genau die wahre Information kam, wusste niemand. Und das belangte auch niemanden von den hohen Herren, denn Hauptsache, diese Jeanne, die mit ihren Büchern dem Königshaus schadete, würde endlich dingfest gemacht werden!   Wohl oder übel musste Oscar sich beugen und dem Befehl Folge leisten. Wenn sie sich jedoch geweigert hätte, dann wäre jemand anderes geschickt worden. Mit ihren Soldaten der königlichen Garde ritt sie zu dem Kloster und versuchte vorerst eine friedliche Lösung zu finden. Sie erteilte den Befehl das Gebäude zu umzingeln und als es erledigt war, forderte sie laut und deutlich Jeanne und ihren Mann auf, sich zu ergeben. Sie garantierte ihnen gleichzeitig Sicherheit, dass ihnen dabei nichts geschehen würde.   Oscar wartete vergeblich auf eine Antwort oder gar auf die Erfüllung ihrer Aufforderung. Es geschah nichts und niemand kam aus dem Kloster heraus. Das war wohl zu erwarten. Und es war offensichtlich zwecklos, darauf zu hoffen. Einer der Soldaten aus Oscars Kompanie hielt es nicht mehr aus. „Kommandant! Stürmen wir die Kirche?!“   „Wartet! Nein, noch nicht!“ Oscar konnte die Ungeduld der Männer verstehen, denn sie hatten schon zu lange die Verbrecher gejagt und jedes Mal war es ein falscher Hinweis gewesen. Nun wollten sie es endlich hinter sich bringen und dann endlich ruhiger schlafen können. Das alles konnte Oscar nachvollziehen, aber da gab es nur eine Tatsache, die sie zögern ließ und von der ihre Soldaten nichts wussten: Jeanne war Rosalies Schwester und Oscar wollte daher mit allen Mitteln das Schlimmste verhindern. Sie stieg entschlossen aus dem Sattel. „Zuerst werde ich alleine hineingehen!“ Sie hörte einen leisen Protest von André, aber setzte ihren Willen durch und zog schussbereit ihre Pistole. „Erst wenn ihr einen Schuss hört, stürmt ihr ohne Rücksicht das Haus! Nur der Schuss ist das Angriffszeichen für euch! Bis dahin überlasst ihr die Sache mir, vorher wird das Haus von niemandem angegriffen – das ist ein Befehl!“   „Viel Glück“, murmelte André mit aufsteigendem Unbehagen und sah Oscar achtsam nach. Sie erreichte schnell das Kloster und dann schlüpfte sie, jederzeit auf der Hut, ins Innere des Hauptgebäudes. Und prompt bekam André ein mulmiges Gefühl, eine dunkle Vorahnung. Unbewusst begann er auf der Unterlippe zu kauen und nestelte immer nervöser an den Zügeln seines Pferdes. Was, wenn es eine Falle wäre? Was passierte, sollte Oscar in einen Hinterhalt gelockt werden? Dann wäre ihr Kampf aussichtslos... Oscar würde ihn auch da dringend brauchen! Aber wie würde er ihr helfen können, wenn er nicht wüsste, was sich dort abspielte und ob Oscar auch ohne ihn zurecht kam?   Nein, das würde er nicht aushalten! André stellte sich allerschlimmste Bilder vor: von Oscars Gefangennahme, wie sie verzweifelt gegen beiden Übeltäter kämpfte und wie einer von ihnen sie heimtückisch niederstreckte... und dann ihre röchelnde Stimme, die nach ihrem Freund rief, aber er war nicht da und wartete stattdessen hier draußen auf sie... weil sie das so angeordnet hatte... Ihr Befehl galt für ihn genauso wie für jeden ihrer Soldaten.   Jede Sekunde verstrich wie eine Ewigkeit und André konnte es schon bald nicht mehr länger aushalten. Er sprang rasch aus dem Sattel und griff nach seinem Gewehr. „Was machst du da?“, wunderte sich einer der Soldaten.   „Oscar hat nach mir gerufen!“, brummte André und stürmte eilig in Richtung des Klosters.   „André, wir haben den Befehl hier zu warten!“, rief ihm der Soldat nach, aber André überhörte ihn gewisslich.   Zum Teufel mit dem Befehl!, dachte André und beschleunigte seinen Schritt. Ihm war alles gleichgültig. Nur Oscars Sicherheit zählte! Er hätte ihr gleich folgen sollen! Er hoffte inständig, dass er nicht zu spät käme und die erbärmliche Witterung nach einer Gefahr stieg in ihm immer höher, als er in dem Kirchenschiff herumirrte. Wo war nur Oscar? Wie sollte er sie hier finden?!   André durchsuchte das ganze Gebäude. Dann entdeckte er einen Lichtstrahl vom Kaminfeuer aus einem Zimmer und lief gezielt dorthin. Gerade noch rechtzeitig fand er Oscar und fluchte innerlich, weil er nicht schon früher da gewesen war. Oscar saß mit schmerzverzerrtem Gesichtsausdruck auf dem Boden und hielt sich den Hals, als hätte man sie gewürgt. „Oscar! Oscar! Was ist mit dir?“ Sofort war André bei ihr.   „Schnell... schnell geh in den Keller...“, meinte sie stattdessen mit röchelnder Stimme und Schweißperlen traten ihr auf die Stirn. „Jeanne hat gesagt, sie will sich umbringen... schnell...“   Wie typisch von ihr... Anstelle seine Frage zu beantworten, sorgte sie sich eher um die anderen... Aber André tat ihr den Gefallen trotzdem und kehrte kurz darauf aufgebracht zurück. „Wir müssen weg hier, Oscar! Sie wollen sich und das ganze Kloster in die Luft sprengen!“   „Wie bitte?“ Oscar sah ihn erschrocken an. Ihr Kopf arbeitete. In ihrem Geist überflog sie das Geschehene: Sie hatte Jeanne hier entdeckt und zur Rede gestellt. Dabei hatte sie allerdings Jeannes Mann nicht in Sicht gehabt und dieser hatte sie aus dem Hinterhalt angegriffen. Er hatte sie zu Boden geschlagen und wollte sie erwürgen. Oscar erinnerte sich daran, dass sie im Todeskampf noch nach André unterbewusst gerufen hatte. Dann wurde sie plötzlich losgelassen. Jeanne hatte mit einem Dolch in den Rücken ihres Mannes gestochen und Oscar somit das Leben gerettet. „Anstelle sie umzubringen werden wir gemeinsam sterben...“, hatte sie zu ihrem Mann gesagt und ihn mit sich in den Keller fortgeschleppt. Anscheinend war sie ihres verbrecherischen Lebens satt geworden und wollte dem auf diese Weise ein Ende setzen...   André kam zwar etwas später zu Oscar gerannt, aber auch nicht zu spät. Gerade noch rechtzeitig. Und nun, nachdem was Oscar von ihm über Jeanne und ihren Mann hörte, stand nur noch eines fest: Sie mussten in der Tat weg hier, wenn sie selbst noch an ihrem Leben hingen! Wie bedauerlich es auch war, es ergäbe keinen Sinn hier länger zu verweilen, um etwas noch ändern zu können... Rosalie würde bestimmt um ihre Schwester trauern, aber nicht die Schuld Oscar geben, denn sie war einer der wichtigsten Menschen in ihrem Leben...   André griff Oscar bereits unter den Armen und Oscar ließ sich ohne Proteste von ihm aus dem Haus forttragen. Sie war geschwächt und wusste mit Sicherheit, dass sie es nicht soschnell schaffen würde. André wurde immer schneller, er rannte und kaum dass sie das Kloster verließen, entstand eine ohrenbetäubende Explosion hinter ihrem Rücken. Alle beide wurden von dem mächtigen Druck nach vorne geschleudert. Sie landeten nicht gerade sanft auf dem Boden. Beschützend verdeckte André Oscar mit seinem Körper, spürte wie die Flammen von der Explosion ihm den Rücken erhitzten, aber das war ihm egal. Hauptsache Oscar ging es gut und sie war gerettet. Sie sah ihn innehaltend an und hauchte nur ein „Danke“ heraus. Wie gut es doch tat, dass er immer bei ihr war... Sie war unversehrt und auch André bekam, bis auf ein paar Kratzer, keine große Verletzungen ab.       Die Sache mit Jeanne de Valouis und ihrem Mann war seither endgültig erledigt und aus der Welt geschafft. Aber nicht für das einfache Volk. Denn für die Menschen aus dem dritten Stand wurde Jeanne zu einer Heldin und sie standen eigentlich schon zu ihren Lebzeiten, als sie die Memoiren veröffentlicht hatte, auf ihrer Seite. Es kam danach wie Oscar befürchtet hatte: Die Bürger glaubten alles was in den Büchern über das Königshaus, vor allem der Königin und ihren angeblichen Affären, geschrieben stand. Kurz nach dem Tod von Jeanne folgten unterschwellige Übergriffe auf Adelshäuser von den Bürgern aus Paris. Und in diesem Trubel kehrte ausgerechnet Hans Axel von Fersen aus Amerika zurück. Kapitel 9: Zwiespalt -------------------- Es war alles aus !   Eigentlich war es schon damals beinahe passiert – aber diesmal erstarben bei André all die letzten Hoffnungen, die er noch gehegt hatte! Die Hoffnungen, die ihm Lebensmut und Zuversicht gaben, dass es alles wieder gut werden und seine so heißgeliebte Freundin ihm irgendwann mal doch noch ihr Herz schenken würde... Aber nein! Es war nun endgültig aus und vorbei und er konnte getrost all seine Hoffnungen begraben! Warum nur musste dieser Graf von Fersen unbedingt nach Frankreich zurückkehren?   Von Fersen hätte ja auch in sein Heimatland Schweden gehen können... Doch André wusste die Antwort: Von Fersen kehrte wegen der Königin, die er liebte und verehrte, nach Frankreich zurück. Also würde wieder die Gerüchteküche losbrechen und ihrem Ruf schaden, wenn die zwei nicht noch mehr achtgeben und aufpassen würden...   Und Oscar? Warum entschied sie sich ausgerechnet für den Mann, dessen Herz sie niemals erreichen würde?! Wusste sie denn nicht, dass von Fersen in ihr nur eine gute Freundin sah?   André wäre am liebsten erneut weggelaufen, aber das war unmöglich – er hatte aus der Lektion gelernt und würde es nicht noch einmal wagen. Er würde lieber weiterhin an ihrer Seite bleiben und unter der unerwiderten Liebe zu ihr leiden, anstelle ihre Freundschaft, die sie seit ihrer Versöhnung wiedererrichtet hatten, zu zerstören – diesmal unwiderruflich. Ach, Oscar... Wieso konnte das Liebesglück nicht ein einziges Mal zu ihm hold sein... Nur ein Mal – nicht wie in jener Nacht, als sie von Fersens Namen während der Leidenschaft gestöhnt hatte, für die er, André, eigentlich verantwortlich gewesen war.           André...   Auch wenn Oscar ihrem Freund seine Liebesqual ansah, geriet sie dennoch in Zwiespalt ihrer Gefühle, obwohl sie sie längs niedergerungen geglaubt hatte... Seit von Fersen aus Amerika zurückgekehrt war und sich in die Dienste ihrer Majestät gestellt hatte, brachen ihre Gefühle schon wieder durcheinander. Sie versuchte sie erneut im Keim zu ersticken, aber es gelang ihr nicht mehr. Zum einen war da von Fersen, dessen leidendes Herz wegen der verbotenen Liebe zu der Königin von Frankreich sie mitleidend stimmte und zum anderen war da André, dessen Liebesqual ihr selbst schmerzte. Sie wollte ihren Freund nicht noch mehr verletzen, aber was sollte sie denn dagegen tun?! Sie musste Gewissheit haben! So konnte es nicht weiter gehen! Sie musste unbedingt eine Lösung finden! Eine Lösung, die nicht gerade erheiternd war... außer vielleicht für ihr einstiges Kindermädchen...   Sophie jubelte innerlich vor Freude, als Oscar sie darum bat ihr ein Kleid zu bringen. Wofür das alles war, fragte die alte Dame nicht. Sie war einfach zu glücklich: Endlich würde ihr Schützling ein Kleid tragen, das sie einstmals für sie genäht hatte! „Ich bringe ihr auch gleich das Korsett... und seidene Strümpfe...“, schwärmte Sophie, als sie an ihren Enkel vorbei lief und Oscar die besagten Sachen überglücklich mitbrachte. Für André dagegen war es eine Qual und Unglaube zu gleich – sein Herz zerriss noch mehr, denn Oscar tat das definitiv nicht für ihn! Er versuchte sich einzureden, dass es ein Witz wäre.   „Aua! Nicht so fest, ich bekomme kaum Luft!“, hörte André Oscar hinter den verschlossenen Türen ihrer Gemächer schimpfen.   „Wer schön sein will, muss leiden“, vernahm er gleich die Belehrung von seiner Großmutter.   Und kurz darauf schrie Oscar wieder wütend auf: „Sei vorsichtig, du reißt mir die Haare vom Kopf!“   Was seine Großmutter darauf antwortete, verstand André nicht wirklich, aber Oscars Schimpfen über jede Kleinigkeit folgte weiter und sie tat André beinahe leid. Er ging im Kaminzimmer auf und ab und versuchte seine gemischten Gefühle zu besänftigen und eine Erklärung zu finden. Wozu tat sich Oscar das Kleid an, wenn es für sie unbequem und unerträglich war? Nur um Graf von Fersen zu beeindrucken? Denn ganz bestimmt zog sie sich seinetwegen um! Und nebenbei gesagt, sich Oscar in einem Kleid vorzustellen war das Gleiche wie eine Bohnenstange von oben bis unten mit Seide umwickeln zu lassen! Diese Vorstellung brachte André sogar zum freudlosen Lachen.   Aber er wurde eines besseren belehrt, als Oscar sich in dem Kleid sich einige Augenblicke später zeigte. Er konnte es kaum glauben, dass es sie war – sie sah einfach zu schön und elegant darin aus. Und das Kleid selbst war wie nicht aus dieser Welt: Eng schmiegte es sich an ihrem Körper, betonte ihre Figur mehr als die Uniform und an den Hüften faltete es sich in einen buschigen Rock aus. Die Farbe war ein silbriges Blau, das zu ihrer Augenfarbe gut passte. Die kurzen Ärmel saßen an den Schultern wie leicht aufgeplustert und brachten ihren viereckigen Ausschnitt, der gekonnt ihre Oberweite versteckte, zur Geltung. Ihre Haare waren zum ersten Mal hochgesteckt – nur an den Schläfen säumten wellige Haarsträhnen die seitliche Kontur ihres Antlitzes und die Spitzen berührten ganz leicht die Mulde ihres Schlüsselbeins. Auf dem Kopf prangte ein schmales, goldenes und mit Saphiren versehenes Diadem. Das war das einzige Schmuckstück, das sie trug. Für André aber war das nicht von Bedeutung. Er war noch niedergeschlagener und verbitterter, weil Oscar gleich darauf in eben diesem Kleid auf einen Ball in einer bestellten Kutsche gefahren war, um mit von Fersen zu tanzen! Er durfte sie nicht begleiten, denn sie wollte unerkannt bleiben. Aber er brachte es nicht über sich, auf sie auf dem Anwesen zu warten und verfolgte sie mit Abstand, um zu sehen, was aus diesem Tanz werden würde.       - - -       Schritt, für Schritt und nicht vergessen, dass sie hier als eine ausländische Gräfin auftrat. Mit Würde und Anmut lief Oscar durch den Ballsaal und erntete bewundernde Blicke der Anwesenden. Innerlich atmete sie auf - niemand konnte sie hier in Inkognito erkennen. Wie sollte man sie denn auch erkennen? Alle waren doch gewohnt, sie in der Uniform zu sehen, dass ein Kleid praktisch bei ihr unvorstellbar war!   Noch eins, zwei Schritte und dann entdeckte sie von Fersen in den Reihen der stehenden Herren und Damen. Oscars Herz schlug aufgeregt, aber sie versuchte den Grafen gewissenhaft zu übersehen und lief weiter an ihm vorbei. Was würde er wohl tun? Würde er in ihr eine Frau sehen? Oder würde er sie erst gar nicht beachten?   „Madame...“   Oscar blieb wie erstarrt stehen: Seine Stimme jagte ihr einen Schauer über den Rücken und ließ ihr Herz bis zum Hals schlagen. Dass er sie angesprochen hatte, war für sie ein Segen und Fluch zugleich. Gut, dass sie mit dem Rücken zu ihm stand.   „Würdet Ihr mir den nächsten Tanz schenken?“, sprach von Fersen, „Bitte...“, fügte er etwas mit Nachdruck hinzu, als von ihr keine Reaktion kam.   Oscar bekam ein mulmiges Gefühl, aber sie willigte dennoch mit einem zustimmenden Nicken und gesenktem Blick ein. Die Musik setzte wieder ein, die Geigen spielten eine passende Melodie zu einem Menuett und der Tanz begann. Von Fersen führte sie mit Eleganz und Oscar schwebte graziös wie ein Feder in der Luft.   „Madame...“ Von Fersen nutzte den Tanz aus und sprach sie wieder an: „Darf ich Euch mit der Frage belästigen, woher Ihr kommt und wer Ihr seid?“   Natürlich nicht! Oscar erschrak innerlich. Niemand durfte sie hier erkennen – und ganz besonders nicht von Fersen! Krampfhaft versuchte sie an sich nichts anmerken zu lassen, hob kein einziges Mal ihren Blick und verließ sich ganz auf seine Führung, um das damenhafte Auftreten noch mehr zur Geltung zu bringen.   „Entschuldigt meine Neugier, aber Ihr erinnert mich an jemanden“, hörte sie ihn weiter reden und ihr wurde miserabel zu mute. Von Fersen sprach von einer Freundin, die ihr sehr ähnlich sah, die aber eine Uniform trug. Oscar begriff gleich, dass die Rede von ihr war und ihr wurde noch unbehaglicher. Was machte sie da eigentlich? Sie spürte nichts, keine Wärme und keine Leidenschaft. Sie hörte den Grafen kaum zu und musste immer wieder an André denken. Was tat sie ihm denn an?! Es war leichtsinnig, hierher zu kommen! Sie wollte nur fort von hier! Sie wollte nur zu ihrem Freund! Mitten in einer Drehung, entriss sie sich dem Grafen und rannte überstürzt davon.   Draußen auf dem Hof stand ein Brunnen, sie lehnte sich vornüber und stützte sich mit beiden Armen auf den Rand, um Luft zu holen. Von Fersen würde niemals eine Frau in ihr sehen, das hat sie gerade erkannt und begriffen! Für ihn war sie nur eine Kameradin, mehr nicht! André dagegen hatte sie schon immer als Frau gesehen und er liebte sie!   Oscars Herz begann aufgeregter zu schlagen, als wäre es aus dem Schlaf geweckt. Eine unnatürliche Wärme breitete sich in ihr aus, die bei von Fersen nicht da war. Oscar stiegen Tränen in den Augen und sie richtete sich auf, um sie mit ihrem Handrücken wegzuwischen. War das etwa die Liebe? Keine Schwärmerei oder eine bestimmte Phase ihrer launischen Gefühle, sondern eine aufrichtige und reine Liebe, die André bei ihr schon seit einer langen Zeit hervorbrachte? War das das, was sie zu ihrem Freund immer empfand und erst jetzt bewusst wurde? Waren ihre Gefühle deshalb in jener Nacht mit ihr durchgegangen, als er sie geküsst hatte? Und nicht nur das! Sie hatte sich von ihm verführen lassen, sich von seiner Leidenschaft mitreißen lassen!   Oscar glaubte immer noch seine Lippen und seine Finger zu spüren, als wäre das gerade eben passiert! Sie musste unbedingt zu ihm! Sie hörte feste Schritte hinter ihrem Rücken und diese rissen sie aus ihren Gedanken und aus dem Zwiespalt mit sich selbst. Sie drehte sich um und sah den Grafen auf sich zukommen. Oscar überlegte nicht, was sie tun sollte. Sie hob ihren Rocksaum etwas an, kehrte ihm abrupt den Rücken und rannte noch schneller von ihm weg, als kurz zuvor aus dem Ballsaal.   Von Fersen wunderte sich noch mehr über diese Unbekannte, die ihm allerdings viele Fragen zu ihrer Person offen ließ. Er wollte über sie mehr erfahren, aber da lief sie schon wieder vor ihm weg. Er setzte ihr nach, so einfach würde er sie nicht gehen lassen!   „Lasst sie laufen, Graf.“, sagte jemand hinter ihm und bewog ihn stehen zu bleiben. Diese tiefe Stimme kannte er, obwohl er die Person kaum jemals reden hörte. Er drehte sich um und seine Vorahnung bestätigte sich: Das war André - Oscars Diener und bester Freund. Aber was machte er hier ohne sie? Und warum hielt er ihn davon ab, der Unbekannten nachzulaufen? Oder hieß das etwa... „Das war also wirklich Oscar...“, sprach er seinen Gedanken laut aus.   André zog seine Lippen zu einem Strich. Er wollte Oscar nicht verraten, aber genauso wenig wollte er, dass von Fersen sie verfolgte. „Es steht mir nicht zu, Euch das zu sagen, Graf...“, meinte er ausweichend und machte kurz einen Diener, bevor er seinen Weg ging. „Ihr entschuldigt mich, ich muss los...“   „Ich verstehe...“ Von Fersen sah ihm eine Weile grübelnd nach. Dass er mit Oscar getanzt hatte, da bestand für ihn kein Zweifel mehr, dank Andrés Erscheinung. Aber aus welchem Grund Oscar ein Kleid anzog und mit ihm getanzt hatte, war ihm ein Rätsel. Er würde sie irgendwann aufsuchen müssen, um mehr davon zu erfahren. Und zwar von ihr selbst! Kapitel 10: Nach dem Ball ------------------------- Oscar stürmte die langen Gänge des Anwesens zu ihrem Zimmer entlang und schon auf dem halben Weg begann sie ihr Haar von den kleinen Haarnadel und Haarklemmen zu befreien. Mit Wucht warf sie sie auf den kleinen Tisch in ihrem Salon und schüttelte so lange ihr Haar, bis es sich ganz offen wie ein goldenes Vlies über ihren Rücken ergoss. Sophie eilte ihr nach, denn sie hatte auf sie gewartet, um ihr beim Entkleiden zu helfen. Oscar saß schon auf dem Stuhl, mit überschlagenen Beinen und zerrte ihre Schuhe von ihren Füßen. „Ich werde nie wieder ein Kleid anziehen!“, knurrte sie dabei wütend und schleuderte die ausgezogenen Schuhe in hinterste Ecke, um ihre Worte noch zu unterstreichen.   „Aber wieso...“, wollte Sophie erschrocken wissen. Das war unvorstellbar! Es hatte doch so schön alles begonnen und nun sollte ihre Hoffnung zerplatzt sein? „Was ist denn passiert?“   Oscar hielte inne, als hätte sie die alte Haushälterin erst jetzt bemerkt. „Nichts ist passiert!“, log sie in ihrer Not. Sie würde Sophie doch niemals von ihren persönlichen Gründen erzählen! „Du hast das Kleid zu fest zugeschnürt und ich bekam kaum Luft! Deswegen bin ich erst gar nicht zum Tanzen auf dem Ball gekommen!“   Wenn es nur an dem Kleid lag, dann war Sophie etwas beruhigt und zog ihre Mundwinkel gar leicht nach oben. „Aber Lady Oscar, das ist doch normal so. Alle Frauen tragen das...“   „Ich bin aber keine gewöhnliche Frau!“, schnitt Oscar ihr aufbrausend das Wort ab. Das tat ihr sogleich leid und sie versuchte daher etwas milder zu klingen. „Sei so nett und bereite mir lieber ein Zuber mit viel Wasser. Ich möchte gern baden, Sophie...“ Und diesen Schmutz abwaschen, den von Fersens Finger hinterlassen hatten, als er sie im Tanz geführt und gehalten hatte...   Sophie wunderte sich, aber tat was Oscar ihr gesagt hatte. Vielleicht würde ein schönes Bad ihre hitzige Laune abkühlen und ihr aufgewühltes Gemüt entspannen. Oscar fühlte sich etwas erleichtert, als Sophie weg war. Jetzt konnte sie etwas aufatmen. Aber das ging in dem Kleid allerdings nicht – es schien ihre Freiheit immer mehr zu beschränken. Zu spät fiel Oscar ein, Sophie darum zu bitten das Korsett aufzuschnüren. Nun musste sie abwarten, bis Sophie zurück war. Das erschien ihr jedoch viel zu lange. Um die Wartezeit etwas zu verkürzen, zog sie derweile ihre Strümpfe aus und warf sie in dieselbe Ecke, nicht weit von ihrem Bett, wo schon ihre Schuhe lagen. Dann hörte sie die Tür in ihrem Salon aufgehen und eilte aus ihrem Schlafzimmer. „Sophie! Kannst du mir bitte die Schnüre von dem Korsett lockern...“ Die Worte verloren sich in dem Raum, wurden nicht mehr von Bedeutung und Oscar selbst verharrte perplex auf der Stelle. Nicht Sophie stand an der Tür zu ihrem Salon, sondern... „André... Du bist es... Entschuldige, ich dachte...“   „Schon gut“, äußerte André und verfiel noch mehr dem Anblick Oscars im Kleid. Das offene Haar stand ihr besser, als hochgesteckt. Es war wie Magie, ein Augenblick des Zaubers, der ihn in die Tiefe zog und sein leidvolles Herz noch mehr bluten ließ. Denn ihre äußerliche Erscheinung war nicht für ihn bestimmt. „Ich könnte es auch tun...“, entfuhr es ihm leise. Er ahnte, weshalb sie so aufgebracht war, auch wenn er nicht auf dem Ball dabei sein durfte. „Wenn dich das Kleid so sehr zu schaffen macht...“, fügte er fast schüchtern hinzu. „...und ich schwöre, ich habe keine Absichten etwas Unanständiges dabei zu machen...“   Oscar überlegte kurz. Seine letzten Worte ließen sie an jene verhängnisvolle Nacht der Schlägerei denken. Aber sie glaubte ihm – er meinte es eigentlich immer so wie er das sagte. Sie kannte ihn doch, also würde er schon nichts im Schilde führen. „Also gut...“ Oscar kehrte ihm den Rücken zu und hob ihr Haar. „Aber mach es schnell, sonst ersticke ich bald darin...“ Sie spürte seine Annäherung und wie er die Schnüre lockerte kaum. Dennoch breitete sich die Hitze in ihr wieder aus und sie versuchte sie krampfhaft niederzuringen. Schon alleine seine Nähe ließ sie daran denken, wie schön doch seine Berührungen und Küsse in jener Nacht waren...   „Fertig“, hörte Oscar ihn sagen und drehte sich um. Sie sahen sich für einen kurzen Wimpernschlag nur an und bei beiden schoss eine gewisse Röte auf den Wangenknochen.   „Brauchst du noch etwas, oder kann ich gehen?“ Eigentlich wollte André von ihr erfahren, wie es auf dem Ball war, aber das las er schon von ihrem wütenden Gesichtsausdruck, dass etwas schiefgelaufen war. Und er hatte gesehen, wie niedergeschlagen sie nach dem Ball aussah, als sie von dem Grafen wegrannte...   „Du kannst gehen.“ Obwohl Oscar sich gerade wünschte, dass er bei ihr blieb, konnte sie doch vor ihm schlechthin das Kleid ausziehen – sie wollte das lästige Ding so schnell wie möglich loswerden. „Wir sehen uns morgen.“   „In Ordnung.“ André wollte nicht gehen, aber er zwang sich. „Du siehst schön aus...“, murmelte er und wandte sich zum Gehen.   Oscars Gemüt änderte sich schlagartig. Wie konnte er! Und sie war gerade dabei, sich in seinem Blick zu verlieren! „Willst du etwa sagen, dass ich das Kleid tragen muss?“, rief sie ihm aufgebracht nach. „Bist du auch der gleichen Meinung wie deine Großmutter?“   André blieb wie angewurzelt stehen. „Nein! Ich werde niemals von dir verlangen, das zu machen oder zu tragen, was du nicht willst! Aber du siehst wirklich schön aus... Ob in deiner Uniform, oder im Kleid, das macht für mich keinen Unterschied... Ich sehe immer in dir die Frau... ich liebe dich so wie du bist und nicht, was du trägst...“ und damit setzte er seine Füße in Bewegung.   Weit kam er aber nicht. Die Tür ging auf und seine Großmutter trat in den Salon. „Was machst du hier?!“, fuhr sie ihn gleich an.   „Ich wollte gerade wieder gehen“, meinte André, aber Sophie ließ nicht locker. „Du gehst erst dann, wenn du mir erklärt hast, was du hier wolltest!“   „Nichts...“, lag es ihm auf der Zunge und er schaute hilfesuchend zu Oscar.   Diese verstand. Er tat ihr noch mehr leid – so verloren und verzweifelt wie er da stand. Dank ihr. Sie strafte ihre Schulter und wenige Schritte war sie schon an seiner Seite. „Ich bat ihn, mir die Korsage aufzuschnüren.“ Oscar drehte sich kurz um die eigene Achse und zeigte Sophie ihren zum Teil entblößten Rücken.   Das bewirkte bei Sophie das Gegenteil, als Oscar es beabsichtigte. Die Augen wurden immer größer und sie zog erschrocken die Luft ein. „Aber das schickt sich nicht!“ Und wieder fuhr sie ihren Enkel an. „Und du hast es ausgenutzt, du frecher Lümmel?“ Sie zog ihn heftig am Ohr. „Das durftest du nicht tun!“   „Aber Großmutter...“, setzte André an und Oscar schritt wieder ein: „Was ist schon dabei, Sophie?! Das macht mir nichts aus. Wir kennen uns doch seit klein auf...“   Sophie ließ verständnislos das Ohr ihres Enkels los. „Ihr seid aber keine Kinder mehr, Lady Oscar!“, schnaufte sie und gab ihrem Schützling keine Möglichkeit, weiter zu sprechen. „Ihr seid eine erwachsene, junge Frau und es ziemt sich nicht für Euch, André deswegen um so etwas zu bitten! Er ist ein Mann! Ihr hättet auf mich warten sollen!“   „Dann wäre ich schon längst in diesem verdammten Kleid tot umgefallen!“ Oscar geriet wieder in Rage und wurde immer zorniger: „André war mir eine große Hilfe und hat mich von der Gefahr erlöst! Und hör auf, auf ihn ständig herum zu haken! Er hat schon schwer genug zu tragen, er...“ Oscar sah zu ihrem Freund und stockte. Ihr wurde mit einem Mal bewusst, dass sie gerade dabei war, seine Gefühle zu verraten. Sie atmete tief ein und aus. „Es tut mir leid...“, sagte sie mehr zu André, als zu Sophie. „Es war mein alleiniger Fehler und niemand soll dafür zu Verantwortung gezogen werden... Ich werde mich jetzt zurückziehen...“ Sie verharrte noch einen Moment vor den beiden, als erwartete sie eine Antwort.   André nickte ihr dankend zu. „Dann ruh dich aus, Oscar, du hattest einen anstrengenden Tag hinter dir.“   „Danke, du auch.“, hauchte Oscar kaum hörbar und André verließ ihren Salon.   Oscar sah ihm völlig perplex nach. Wann hörte das bei ihm auf? War etwa seine Liebe zu ihr so unendlich groß? Und was tat sie? Liebte sie ihn genauso? Konnte sie dabei mit ihm mithalten?   „Hmpf!“, vernahm sie Sophies verärgerten Laut und löste ihren Blick von der Tür. „Ihr seid einfach zu gut zu ihm“, brummte die alte Frau kopfschüttelnd und da fiel ihr ein, weshalb sie eigentlich zu Lady Oscar gekommen war. „Achja, Euer Bad ist übrigens vorbereitet.“   „Danke, Sophie.“ Oscar eilte noch schnell in ihr Schlafzimmer, schnappte ihr Hemd und Hose, und ging mit Sophie in das Badezimmer.       - - -       André unternahm einen kurzen Spaziergang durch den nächtlichen Garten, bevor er ins Haus ging – denn schlafen konnte er so oder so nicht mehr. Er dachte an Oscar und an die Ereignisse von heute Abend. Oscar hatte so ausgesehen, als wolle sie ihm etwas mitteilen, aber konnte es nicht. Was auch immer es war, sie würde das bestimmt mit sich selbst ausmachen.   Auf dem Weg zu seinem Zimmer hörte er unerwartet gedämpfte Stimmen. Zwar verstand er nichts, aber er erkannte sie. Das waren Oscar und seine Großmutter. Seine Füße änderten unvermittelt die Richtung. Im untersten Stockwerk – nicht weit von den Zimmern der Bediensteten, befand sich ein großes Badezimmer und von dort erklangen auch die Stimmen.   Oscar war also beim Baden und Sophie half ihr dabei. Die Tür stand einen Spaltbreit auf und bestätigte André seine Vorahnung. Oscar saß im Zuber, wusch ihren Oberkörper und Sophie schäumte ihr den Rücken mit einem Stück Seife ein.   André überkam ein Schamgefühl, aber trotzdem wandte er sich nicht ab und verharrte gebannt hinter der Tür. Durch den Spalt sah er Oscars nackten Körper von der Seite – von seiner Großmutter sah er nur die geschäftstüchtigen Hände auf ihrem Rücken und dann in ihrem Haar.   Als hätte Oscar einen Sinn für seine verborgene Anwesenheit, sah sie scharf zu der Tür. André trat sofort zur Seite und hörte, wie Oscar nach Tüchern zum Abtrocknen verlangte. Wieder wagte André den Blick in das Badezimmer und sah Oscar beim Abtrocknen und Anziehen zu.   Oscar zog ihr Hemd und ihre Hose ziemlich schnell an. Dann schlüpfte sie in ihre Hausschuhe, wünschte Sophie eine gute Nacht und ging. André versteckte sich wieder, als Oscar die Tür erreichte. Zu seinem Pech blieb sie unerwartet an der Türschwelle stehen und senkte ihren Kopf. „Dieses eine Mal tue ich so, als hätte ich dich hier nicht ertappt...“   Wie peinlich! André konnte nur sich selbst ohrfeigen! „Vergib mir, Oscar... Das war nicht mit Absicht...“   „Vergiss, was du gesehen hast...“, erwiderte Oscar dazu knapp: „Gute Nacht...“   „Gute Nacht...“, formten seine Lippen tonlos und er ging dann auf sein Zimmer.       Die Gedanken um André sausten Oscar noch lange durch den Kopf, auch als sie schon in ihrem Bett lag. Sie fühlte sich zwar von dem Kleid befreit und nach dem Bad erfrischt, aber ihr Kopf und ihre Seele füllten sich mit plagenden Gewissensbissen gegenüber André – nicht einmal dass er sie beim Baden beobachtet hatte, nahm sie ihm übel. Das war bestimmt ein reiner Zufall und einmalige Sache. Sie konnte einfach nicht auf ihn böse sein. Seit Jahren war er ihr eine große Stütze, ihr treuer Freund und sie hatte ihm bisher nichts dafür geben können, denn sie nahm alles wie selbstverständlich. Wie ungerecht! Und er liebte sie! Warum konnte sie ihm nicht das geben, wonach er sich sehnte und stillschweigend in sich trug?   Die Liebe... War sie etwa so kompliziert? Oscar musste sich entscheiden und den Kampf mit ihren Gefühlen schlussendlich beenden! Aber dafür brauchte sie noch etwas mehr Zeit... Nur noch ein bisschen... „Hab etwas Geduld, André... Ich werde dir schon bald eine Antwort geben können... Vergib mir, aber es geht nicht anders...“, flüsterte sie schläfrig und glitt dann doch noch in einen traumlosen Schlaf. Kapitel 11: Erkenntnis ---------------------- Es war ungerecht, wie das Schicksal André zuspielte...   Ein Dieb, der nur die Adlige bestahl und seine Beute unter den Ärmsten der Armen verteilte, trieb neuerdings sein Unwesen. Den Beinamen schwarze Ritter verdankte er seinem schwarzen Kostüm und der Maske.   Und als wäre das schon nicht eigenartig genug, verließ André fast jeden Abend das Haus und kehrte erst spät nachts zurück... Wie eigenartig! Was verheimlichte er denn vor ihr?   „André?“ Oscar passte ihren Freund an einem dieser Abende ab und wollte sich nun Klarheiten verschaffen. „Warst du noch so spät unterwegs?“   „Ist es verboten?“, konterte dieser mit der Gegenfrage. Seit dem Ballabend vor einigen Wochen war ihr Verhältnis zueinander deutlich verändert. Für die Augen der Welt benahmen sie sich wie alte Freunde, aber innerlich trugen sie ihre Gefühle jeder für sich. Sie gingen nur pflichtbewusst den gemeinsamen Weg, obwohl sie am liebsten noch mehr Zeit zusammen auf dem Anwesen und nicht nur dienstlich in Versailles verbringen würden... „Ich bin nur ein Stück ausgeritten“, kam André auf Oscars Frage zurück.   „In so einer kalten Nacht?“ Das war nicht zu fassen! Wenn nicht der schwarze Ritter wäre, dann hätte ihm Oscar dies vielleicht noch durchgehen lassen und als verzweifelter Versuch empfunden, seiner Liebesqual zu entkommen.   „Was ist dabei? Das macht mir nichts aus!“ Wieder so eine seltsame Antwort von ihm! Und der schwarze Ritter trieb seine verbrecherischen Machenschaften auch immer nachts... „Gute Nacht, Oscar, schlaf gut.“, verabschiedete sich André ohne sich etwas anmerken zu lassen und ging einfach auf sein Zimmer.   „Danke du auch!“, rief ihm Oscar nach, bevor auch sie auf ihr Zimmer ging. Morgen würde sie sich der Sache annehmen und endlich herausfinden, was oder wer hinter dem schwarzen Ritter steckte! Und André... Er benahm sich in letzter Zeit äußerst verdächtig... War das ihretwegen? Weil sie ihm noch immer keine Antwort gab? Die Antwort, die sie sich selbst in jener Nacht nach dem Ball versprochen hatte... Aber wie konnte sie das Versprechen einlösen, wenn kurz darauf merkwürdige Dinge anfingen zu geschehen – wie beispielsweise mit dem schwarzen Ritter und den nächtlichen Ausritten von André... Nein, das Versprechen einlösen musste noch etwas warten – es gab jetzt wichtigeres zu tun!   Schon am nächsten Tag begann Oscar die Jagd auf den schwarzen Ritter. Jeden Abend besuchte sie mit André die Bälle, um auf ihn zu treffen und ihn sich zu schnappen. Erfolglos... So, als hätte der schwarze Ritter geahnt, dass der Kommandant der königlichen Garde auf dem jeweiligen Ball auf ihn wartete... Oscar wusste keinen Rat. Aber aufgeben stand ihr auch nicht im Sinn.   Nicht einmal, als André ihr das auszureden versuchte. „...hör mal, Oscar...“, sagte er ihr an einem frühen Morgen beim Frühstück in ihrem Salon und gähnte noch schlaftrunken. „...findest du es wirklich so wichtig, dass wir den schwarzen Ritter fangen? Er tut doch niemanden etwas zu leide...“   Oscar war nach dieser Wortwahl noch skeptischer als vorher. André machte sich damit nur noch verdächtiger... „Aber was er tut ist unrecht! Dieb ist Dieb und man muss ihn bekämpfen!“ Schon alleine der Gedanke, dass André in Verbindung mit diesem Verbrecher stand, war fragwürdig und abscheulich zu gleich... Deshalb musste Oscar etwas unternehmen und endlich die Wahrheit ans Licht bringen!   Aber wie sollte sie es tun, wenn André noch am gleichen Abend wieder aus dem Haus ging, ohne ihr davon etwas zu sagen? „Er ist ausgeritten“, erfuhr sie von Sophie.   „Schon wieder?“ Oscar war empört und fassungslos.   „Ja, und er bat mich Euch auszurichten, Ihr möget auf ihn warten.“   „Danke, Sophie.“ Oscar konnte nicht mehr abwarten. Sie begab sich alleine auf den Ball. Und ausgerechnet an diesem Abend begegnete sie dem schwarzen Ritter! Oscar zögerte keine Sekunde und verfolgte ihn durch ganz Paris...   Oscar wollte ihn unbedingt dingfest machen, den Diebstählen somit ein Ende bereiten und auch sehen, wer hinter der Maske steckte! Sie war so versessen darauf, dass sie erst zu spät die Gefahr bemerkte... Der schwarze Ritter hatte sie im günstigsten Moment in eine Falle gelockt und sie mit seiner Bande von dutzenden Männern umzingelt. „Tötet sie nicht, sie ist Kommandant der königlichen Garde und könnte uns lebendig mehr von Nutzen sein. Nehmt sie als Geisel“, erörterte der schwarze Ritter höhnisch und einer von seinen Männern schlug sie am Kopf. Oscar behielt jedoch das Gleichgewicht und mit einer blutenden Wunde am Kopf konnte sie gerade so der Geiselnahme entfliehen. Sie versteckte sich von den Verfolgern in einem Haus und brach dort zusammen...           - - -           Oscar saß am nächsten Abend in ihrem Sessel vor dem Kamin und überdachte all die Ereignisse des Tages und der vergangene Nacht: Heute früh war sie in einer fremden, ärmlichen Wohnung aufgewacht und hatte festgestellt, dass auch Rosalie dort wohnte. Rosalie... Das war eine trostlose und überraschende Begegnung zugleich. Rosalie wohnte schon längst nicht mehr bei den Polignacs und führte ein bescheidenes, aber zufriedeneres Leben unter dem einfachen Volk – was Oscar einigermaßen beruhigte, da es Rosalie offensichtlich besser ging. Die junge Frau hatte sich fürsorglich um sie gekümmert und einen Verband um ihren Kopf gelegt. Dann verließ Oscar Rosalie und wartete nun seit Stunden in ihrem Sessel vor dem Kamin auf André. Draußen wurde es bereits dunkler, als er endlich heimkam. „Das war leichtsinnig. Alles in einem hast du Glück gehabt“, machte er ihr gleich Vorwürfe, kaum er ihr Zimmer betrat. „Warum hast du nicht auf mich gewartet? Wie konntest du nur alleine losgehen?“ Besser gesagt: Wie konnte sie ihm das antun? Er war ihretwegen fast vor Sorge umgekommen, als er gestern spät nachts heimkam und erst heute früh von seiner Großmutter erfahren musste, dass Oscar von dem Ball noch immer nicht zurückgekehrt war! André hatte das Frühstück verschmäht und war überstürzt nach Paris aufgebrochen, aber fand nicht einmal einen Hinweis darauf, wo Oscar sein könnte. Nun, nach dem seine Suche nach ihr den ganzen Tag über erfolglos blieb, kehrte er heim und erfuhr von seiner Großmutter, dass Oscar verletzt wieder zurück war... Er versuchte nicht auf ihren Verband zu achten, versuchte seinen knurrenden Magen zu ignorieren und so vorwurfsvoll zu klingen wie möglich – Oscar sollte endlich verstehen, wie töricht ihr Unterfangen ohne ihn war und beim nächsten Mal auf ihn warten!   André sprach zwar ruhig, aber Oscar hielt es dennoch nicht mehr aus. Genug war genug! „Und darf ich wissen, wo du warst? Wo führen sie dich hin – deine langen Ausritte an so vielen Abenden?“, gereizt erhob sie sich aus dem Sessel und ungeachtet ihrer Kopfschmerzen baute sie sich beinahe herausfordernd vor ihm auf. „Ich will wissen, was du tust, wenn du stundenlang ausreitest und erst spät nachts nach Hause kommst! Alles kann ich vertragen, alles! Nur keine Lügen, keine Lügen! Verstehst du? Das ist unserer Freundschaft unwürdig!“   Freundschaft... Das war das also... Sie beschuldigte ihn, der schwarze Ritter zu sein... Jetzt wurde ihm einiges klar und er begriff, warum sie ohne ihn die Jagd auf den maskierten Dieb gemacht hatte... André senkte schuldbewusst seinen Blick. „Ich verstehe, dass du mir solche Vorwürfe machst... Also gut, beim nächsten Mal kannst du mich begleiten...“       Und beim nächsten Mal sagte er ihr Bescheid und sie kam mit. Da war eine ärmliche Dorfkirche, wo Bauern und edle Menschen sich versammelten. Sie diskutierten neue fortschrittliche Ideen, um die Verhältnisse dieses Landes besser zu durchschauen. Oscar konnte ihrem Freund diese Ausflüge nun nicht mehr verübeln und nun wusste sie den Grund seiner Ausritte. Und verwehren konnte sie ihm das auch nicht, denn er gehörte nicht dem verfaulten Adel an und es war sein Recht, das zu tun, was er für richtig hielt. Es schmerzte ihr im Herzen und Gewissensbisse plagten sie, weil sie ihm etwas unterstellen wollte... Sie hätte sich gerne bei ihm entschuldigt, aber nicht jetzt, wo der schwarze Ritter noch auf freiem Fuß war.   Der Winter brach an, ihre Kopfverletzung verheilte gut und der Dieb schien mit den Raubzügen aufgehört zu haben, bis der Frühling angebrochen war, er wieder auftauchte und Oscar die Jagd auf ihn aufs neue begann.   André konnte sie verstehen, hörte mit seinen Ausflügen zu der neuen Bewegung auf und begleitete sie überall hin. Obwohl sein Herz immer mehr von der unerwiderten Liebe zu ihr litt, stand er ihr dennoch weiterhin zur Seite und empfahl sich sogar, den schwarzen Ritter spielen, um ihn auf diese Weise schneller fangen zu können.   Anstelle auf Bälle begleitete Oscar ihn jede Nacht auf seinen provisorischen Raubzüge. André ließ sich niemals schnappen und spielte den schwarzen Ritter hervorragend – bis der echte eines späten Abends im Wald irgendwann mal auftauchte und ihn stellte. Oscar war äußerst erfreut über dessen Erscheinen und kam aus ihrem Versteck heraus. „Ihr seid verhaftet!“, grollte sie und zog schussbereit ihre Pistole.   Dem schwarzen Ritter wurde einiges klar. „Verstehe! Der Junge ist also ein Lockvogel!“ Und anstelle sich zu ergeben, zog er schnell sein Schwert und griff André an.   André reagierte ebenso schnell, zog seinen Degen und parierte gerade rechtzeitig den Hieb. Oscar wollte schießen, aber konnte nicht. Denn in der fast nächtlichen Dunkelheit – auch wenn silberne Sterne und der Vollmond herab leuchteten und die Umrisse der Umgebung sichtbar machten - sahen alle beide trotzdem gleich aus! Oscar war gezwungen, den Kampf tatenlos mit anzusehen. Ihr Herz raste – wer war von ihnen nun André?   Ihr André! Ihm durfte nichts geschehen! Was konnte sie aber tun, ohne ihn zu verletzen und nur den echten schwarzen Ritter zu treffen? Dann erkannte sie plötzlich wie einen der beiden Männern das Schwert aus der Hand geschlagen wurde und der andere das ausnutzte und ihm die Maske, die er um die Auge trug, aufschlitzte. Sein Gegner konnte nicht ausweichen und die Spitze der Klinge fuhr ihm übers Gesicht, über den Wangenknochen, bis zu der Augenbraue und trennte die Maske entzwei. Der getroffene Mann schrie schmerzverzerrt auf, sein Degen fiel ihm aus der Hand und er selbst sackte auf dem Boden zusammen. Er bedeckte sein linkes Auge und Blut sickerte ihm nur so durch die Finger.   „André!!!“ Oscar erkannte den verletzten und sich vor Schmerzen krümmenden Mann allein an der Stimme! Nein! Bitte nicht! Schreckensbleich stieg sie aus dem Sattel und eilte zu ihm. „André!“ Sie stützte ihn, gab ihm den Halt und verfluchte sich selbst für ihre Unachtsamkeit. André hatte doch ohnehin schon genug zu leiden! Und jetzt verletzte der schwarze Ritter ihn am linken Auge! Ihretwegen und weil er ihr helfen wollte, ihn zu schnappen. Oscar musste deswegen den echten schwarzen Ritter gehen lassen, um ihren Freund beizustehen. Sie konnte und wollte ihn nicht zurücklassen! Das wäre feige und unehrenhaft...       Nun lag er seit Stunden in seinem Bett mit einem großen Verband um seine linke Gesichtshälfte. Er hatte bestimmt große Schmerzen, aber zeigte sie nicht nach außen. Seine Großmutter geleitete gerade den Arzt hinaus und so blieb Oscar mit ihm alleine. Sie stand direkt an seinem Bett und sah auf ihn mit plagenden Gewissensbissen. André... Ihr Herz litt mit ihm mit und ein entstandener Kloß in ihrem Hals schien sie immer mehr zu erdrücken. André öffnete mühsam sein rechtes Auge und schaute zu ihr, als hätte er ihre schreiende und sich quälende Seele gehört und wollte ihr beweisen, dass sie sich keine Sorge um ihn machen brauchte. „Wer war dieser schwarze Ritter?“, fragte er sie rau.   Oscar schreckte auf. Warum interessierte ihn noch der schwarze Ritter? Er musste jetzt an sich denken! „Ich musste ihn leider entwischen lassen...“, murmelte sie ungewollt mit belegter Stimme.   „Was sagst du da?“ André klang verbittert und leicht angesäuert. „Warum hast du diesen Mann nicht bis ans Ende der Welt verfolgt und anschließend gefangen genommen?“   „Du weißt warum! Ich konnte dich doch nicht verletzt zurücklassen und ihn verfolgen!“ Oscar bewahrte äußerlich Ruhe, aber ihre schimmernden Blicke und der heisere Tonfall in ihrer Stimme verrieten die Besorgnis in ihr, was André vor den Kopf stieß. Zum ersten Mal zeigte sie ihm unbeabsichtigt, was er ihr wirklich bedeutete...   Es begann zu dämmern. Die ersten Sonnenstrahlen breiteten sich im Zimmer aus und André sah ihre schimmernden Blicke nun deutlicher. Das rührte ihn selbst fast zu Tränen. „Ich bin froh, dass mein Auge verletzt wurde und nicht deines, Oscar...“   „Ach, André, sag nicht so etwas...“ Wie konnte er?! So, als würde er ihr nichts bedeuten! Sie liebte ihn doch, das hat sie bereits erkannt, ihm aber nur noch nicht gesagt. Sie stellte sich jeder Herausforderung, aber ein Geständnis der Liebe abzulegen, war schwieriger als gedacht. Das waren nur bloße Worte, aber doch so bedeutend...   Oscar wollte ihm das auf einer anderen Weise zeigen. Sie setzte sich vorsichtig zu ihm auf die Bettkante und legte ihre Hand auf die seine. „Weißt du noch, als wir auf den Weg in Arras waren, da hatten wir den Sonnenaufgang beobachtet... Das hat dir so sehr gefallen... Lass uns noch einmal hin reiten... Ich möchte, dass du wieder gesund wirst.“   „Ja, das können wir machen, Oscar...“ André lächelte schwach. Oscars Worte waren für ihn wie wohltuender Balsam und überdeckte sogar den brennenden Schmerz auf seinem linken Auge unter dem Verband. Wenn sie ihn auch noch lieben könnte, dann wäre er noch glücklicher...   „Dann ist es abgemacht!“ Oscar lächelte auch, aber kurz und flüchtig. „Sobald ich den schwarzen Ritter geschnappt habe, reisen wir nach Arras!“   „Oscar...“ André umfasste ihre Finger kräftiger, als befürchte er, dass sie gleich los stürmen würde.   Oscar erwiderte zwar nicht den Druck seiner Finger, aber sie verharrte reglos. Jedoch nur für einen Wimpernschlag. Sie spürte die Wärme in ihr hochsteigen und ließ dieses Gefühl nach Zuneigung für einen kurzen Augenblick gewähren. Dann entriss sie ihm ihre Hand und stand auf. „Alles wird gut, vertrau mir“, versprach sie ihm aufgeschlossen und ging mit festen Schritten aus seinem bescheidenen Zimmer. Kapitel 12: Aus Liebe zu dir ---------------------------- Zwei Tage...   Zwei Tage war Oscar schon fort... Sie wollte eigentlich den Herzog von Orleans besuchen, um von ihm etwas mehr über den schwarzen Ritter zu erfahren. Denn bei der letzten Begegnung mit dem Dieb hatten dessen Spuren sie zum Schloss des Herzogs geführt. Und nun hörte man seit dem nichts mehr von ihr – so, als wäre sie vom Erdboden verschluckt. Der dortige Empfangsdiener hatte gesagt, dass sie noch am gleichen Abend heim gefahren sei – so hatte es zumindest Sophie in Erfahrung gebracht und ihrem Enkel gerade mitgeteilt. Sehr eigenartig!   André stand am Fenster seines Zimmers und schaute der untergehenden Sonne lustlos zu – in Gedanken war er bei Oscar. Seine Großmutter war gerade gegangen, nachdem sie ihm den neuen Verband am linken Auge angelegt hatte. Den Verband, den er auf Anordnung des Arztes nicht ablegen durfte, solange er es ihm nicht gestattete. Sonst würde er die Sehkraft auf dem linken Auge verlieren und erblinden...   Aber wenn Oscar etwas zustieße, dann würde er sich das niemals verzeihen... André befürchtete das Schlimmste und nahm seinen Verband ab. Dann schon lieber erblinden, als Oscar zu verlieren! André wartete noch etwas, bis sich sein Auge an das Licht gewöhnt hatte und zog das Kostüm des schwarzen Ritters an. Er ahnte, wo sie sein könnte und machte sich auf den Weg. Denn nur in dieser Aufmachung konnte er sie retten!           - - -         Oscar war schon wieder diesem schwarzen Ritter auf den Leim gegangen! Sie hatte den Herzog wie beabsichtigt besucht, aber konnte nichts Näheres in Erfahrung bringen. Außer dass der Herzog sich mit jungen Künstlern, Anwälten, Journalisten und so weiter, ungeachtet ihrer Herkunft, abgab. Man sagte ihm nach, er sei ein Gegner der Monarchie, aber er selbst bezeichnete sich lieber als liberal.   Das überraschte Oscar etwas und der Herzog lud sie daher in seinen Salon ein, wo diese genannten Leute meistens sich versammelten und über die Welt und Politik diskutierten. Der Herzog ging und Oscar blieb im Salon, mit der Hoffnung den schwarzen Ritter zu finden, denn wegen ihm hatte André fast die Sehkraft seines linken Auges verloren!   Die Suche brachte auch da nichts. Ein Diener kam nach kurzer Zeit zu ihr und meinte, der Herzog möchte ihr sein Weinkeller zeigen und als sie dort ankamen, ließ er sie alleine, um angeblich den Herzog zu holen. Nicht lange und sie wurde von fremden Männern umzingelt, mit einer Pistole bedroht und entwaffnet. Nun musste sie für ihre Torheit büßen und als Gefangene in einer Zelle im Keller des Schlosses des Herzog von Orleans ihr Dasein fristen. Und heute war es schon der zweite Tag.   „Was soll dieses Spielchen?! Wie lange wollt Ihr mich gefangen halten?!“, knurrte Oscar, als sich wieder jemand hinter der verriegelten Eisentür aufhielt.   Bestimmt der schwarze Ritter persönlich, denn er antwortete darauf mit seiner hohlen Stimme: „Bis Ihr vernünftig geworden seid! Und bis Ihr unsere Bedingung akzeptiert! Schreibt endlich Eurem Vater, dass wir für Euer Leben 500 Gewähre verlangen! Wir wissen wer Ihr seid! Euer Vater, der General de Jarjayes ist oberster Befehlshaber der Waffenkammer seiner Majestät des Königs! Es wird für ihn ein leichtes sein, ein paar hundert Gewehre zu verkraften!“   „Ich glaube, Ihr unterschätzt mich!“, spie Oscar ohne sich zu rühren, aber ballte dennoch eine Hand zu einer Faust. „Denkt Ihr allen Ernstes, ihr könnt mich dazu zwingen, einen solchen Brief aufs Papier zu bringen?“   „Ich bin sogar überzeugt davon, dass Ihr das tun werdet, Kommandant! Wartet nur ab, wir wissen genau, dass der Stolz von euch Adligen nichts weiter als schwach und korrupt ist!“ Der Mann lachte und entfernte sich.   Was erlaubte er sich! Sie musste hier sofort weg! Aber wie?   Auf dem Boden lag ein oder zwei Blätter Papier und darauf stand ein Fläschchen mit Tinte und eine Schreibfeder. Oscar stand auf und trat darauf zu. Der Zorn stieg höher. Niemals würde sie das machen! Als wollte sie das beweisen, stieß sie das Fläschchen mit ihrem Fuß um und zertrat das Papier. Was hielt dieser schwarze Ritter denn von ihr?! Sie hatte schon als Protest das Essen verweigert, das man ihr in diesen zwei Tagen gebracht hatte! Er sollte sehen, dass sie sich nicht erpressen ließ. Und nebenbei wollte sie damit sicher gehen, dass das Essen nicht vergiftet war.   Oscar schnaubte vor Wut und ging zurück auf die Steinbank zu, die ihr offensichtlich als Bett dienen sollte. Denn darauf lagen Strohkissen und verdreckte Bettlacken. Eine Weile starrte Oscar darauf und überlegte nach einem Ausweg. Bis sie entfernte Schritte von außen vernahm. Was wollte dieser Mann schon wieder? Und gleich darauf hatte Oscar ein Geistesblitz. Schnell rollte sie das Kissen zusammen, zog ihre Uniformjacke aus und umhüllte damit das Kissen. Um das noch glaubwürdiger erscheinen zu lassen, bedeckte sie das mit dem Bettlacken. Es sah so aus, als würde sie auf dem Bauch schlafen. Sie selbst sprang auf eine herausragende Nische oberhalb der Tür und verharrte reglos. Ihre Chancen standen 50 zu 50: Entweder würde ihr die Flucht gelingen, oder auch nicht. Aber Oscar blieb zuversichtlich.   Schon bald vernahm sie, wie der Schlüsselbund leise klimperte, das Schloss rasselte und sah gleich wie die Tür langsam, beinahe geräuschlos aufging. Und dann kam er in die Zelle rein – in seinem schwarzen Kostüm und Maske! Langsam nährte er sich dem Bett, hob das Bettlacken und bevor er sich wundern konnte, sprang Oscar mit einem Überraschungsangriff auf ihn. Der Mann bemerkte sie zu spät und sie traf ihn mit voller Wucht am Rücken. Er wich ihr aus, aber wurde von ihr gegen die Wand gedrängt. „Warte Oscar!“, rief er plötzlich mit allzu bekannter und vertrauter Stimme. „Ich bin es, André!“   Oscar ließ überrascht von ihm ab. „André? Wo kommst du her?“   „Ich konnte Zuhause einfach nicht mehr tatenlos herumsitzen.“ Er atmete hörbar auf.   Oscar war mehr als erleichtert. Sie hätte ihn dafür am liebsten umarmt, aber später vielleicht. Jetzt müssten sie fort von hier!       Auf der Hut und ihre Ohren achtsam angespitzt, schlichen sie durch den langen Gang des Kellergewölbes. „Bleib stehen, Oscar, da kommt jemand!“, warnte André und sie blieben in einer dunklen Ecke stehen. Nun hörte auch Oscar die eilenden Schritte und dann zeigte sich auch der Mann – in seinem schwarzen Kostüm.   „Das ist der schwarze Ritter! Gib mir deine Pistole, ich habe noch etwas zu erledigen! Wenn ich schon hier bin, werde ich die Gelegenheit nutzen und ihn mir schnappen!“ Ein schadenfrohes Grinsen umspielte Oscars Gesicht.   André passte ihn ab und als der Schwarze Ritter vor ihm stand, legte Oscar die Pistole gegen dessen Rücken. „Am besten lasst Ihr die Waffe fallen, sonst erlebt Ihr den morgigen Tag nicht mehr!“   Wohl oder üblich machte der maskierte Dieb, was ihm gesagt wurde. Und so gelang es ihnen auch durch die Toren des Schlosses zu kommen. Es war geschafft! Der schwarze Ritter war gefasst! Oscar war mehr als zufrieden. Nun hieß es nur noch auf André zu warten, bis er sie eingeholt hatte.   André gelang es aus den Toren zu kommen und er beschleunigte seinen Braunen. Er lachte dabei auf, aber plötzlich schmerzte ihm sein linkes Auge und er musste aufhören. Wo war nun Oscar mit dem schwarzen Ritter hin? Als Antwort hörte er einen Schuss! Er beschleunigte sein Pferd und schon bald sah er Oscar, wie diese den schwarzen Ritter angeschossen hatte. „Hast du den Mann etwa erschossen?“   „Geh hin und reiß ihm die Maske herunter!“ So viel Groll und Wut in ihrer Stimme... „Ich möchte sein Gesicht sehen!“   André tat es und Oscar war im nächsten Augenblick ganz erstaunt. „Das gibt es doch nicht! Ich kenne diesen Mann! Wir sind uns schon einmal begegnet! Er war sehr oft mit Robespierre zusammen und sein Name ist Bernard Chatelett!“   André erinnerte sich auch an den verhängnisvollen Abend der Schlägerei, wo sie die beiden genannten Männer gesehen hatten. Oscar und André hievten ihn auf eines der Pferde, brachten ihn auf das Anwesen und ließen ihn verarzten.       „Ich gestatte Euch fürs erste hier zu bleiben, solange bis Eure Wunde verheilt ist“, meinte Oscar, als sie ihn am nächsten frühen Morgen und zusammen mit André auf dessen Krankenzimmer aufsuchte.   Bernard lachte dagegen kurz auf. „Ihr seid genauso weichherzig wie ich annahm! Und wie wollt Ihr verhindern, dass ich die erstbeste Gelegenheit nutze, um zu fliehen?“   „Das würde ich Euch nicht raten. Ich hatte zwar auf Eure Schulter gezielt, aber die Kugel traf in die Nähe des Herzens ein. Der Doktor sagt, wenn Ihr Euch bewegt, dann ist Euer Leben in Gefahr. Ihr wäret fast durch meine Kugel gestorben. Deshalb fühle ich mich schuldig, das ist alles.“ Oscar wandte sich vom Fenster ab und schaute zu ihm. „Aber wenn Euch an Eurem Leben nichts liegt, dann steht von mir aus ruhig auf.“   Bernard verzog verächtlich das Gesicht, sein Grinsen erstarb augenblicklich und seine dunkelblauen Augen funkelten böse. „Ihr seid ein Lakai der Königin!“   „Und wo ist der Unterschied zwischen einem Lakai und einem Dieb?“, wollte Oscar unbeeindruckt wissen.   „Ein Dieb hat mehr Verstand - er arbeitet nämlich nur für sich selbst!“, belehrte Bernard rau und Oscar verließ mit André das Zimmer ohne ihm eine Antwort zu geben.   Auf der Treppe zu den unteren Stockwerken krümmte André sich plötzlich vor Schmerzen, stützte sich mit einer Hand gegen die Wand und stöhnte quälend. Oscar war sofort bei ihm und versuchte ihm von der anderen Seite sicheren Halt zu bieten. „Was hast du André?“   Hatte er gerade Besorgnis in ihrer Stimme vernommen? André entwand sich etwas aus ihrer Stütze und bedeckte sein Auge mit der freien Hand. „Nichts. Gar nichts, mach dir keine Sorgen.“   Das gab es doch nicht! Wieso verstellte er sich so?! Sie sah ihm doch an, dass er Schmerzen hatte! „Was ist los mit dir?“, verlangte Oscar deutlicher von ihm, aber außer einem weiteren schmerzvollen Aufstöhnen bekam sie nichts mehr aus ihrem langjährigen Freund heraus.           Zum Glück war der Arzt noch nicht weg. Er untersuchte André und stellte eine erschreckende Tatsache fest: „Habe ich Euch denn nicht untersagt den Verband abzunehmen? Nun haben wir die Bescherung, André! Euer linkes Auge ist nicht mehr zu retten!“   Nein, bitte nicht! Oscar rastete vor Wut und Schmerz aus! Sie verließ überstürzt Andrés Zimmer, schnappte ihr Degen, der sich in ihrem Salon befand und eilte in das Krankenzimmer diesen schwarzen Ritters! Bernard schlief jedoch bereits oder sah zumindest danach aus, was Oscar noch rasender machte und dazu bewog, ihren Degen über ihn zu heben: „Ich werde Euch das gleiche antun, was Ihr André angetan habt!“, spie sie aus und verharrte auf einmal reglos, anstelle ihre Tat zu vollziehen. Nein, das konnte sie nicht... Trotz all der aufgestauten Wut konnte sie es nicht durchführen, einen Menschen skrupellos und eiskalt zu erstechen - auch wenn dieser es mehrfach verdient hatte...   Ermattet senkte sie ihren Degen und schlenderte auf ihr Zimmer. Die großen Balkonfenster standen auf und der herein wehende Wind lockte sie dazu, hinauszugehen. Frühlingswind... Wie frisch und beruhigend er auf sie einwirkte... Aber genießen konnte sie das nicht. Nicht wenn ihr bewusst war, was sie gerade beinahe getan hätte... Sie sollte Bernard schnellstmöglich dem Richter übergeben und das Kapitel abschließen! Ja, das würde das Beste sein! Oscar horchte auf einmal auf, als leise Schritte entstanden. Sie drehte sich nicht um, sie hatte ihn schon alleine an seinem Gang erkannt und ihr Herz zog sich schmerzlich zusammen.   André blieb nicht weit entfernt von ihr stehen und das was er sagte, lies sie bis ins Mark erschüttern: „Oscar... Ich habe doch noch mein rechtes Auge. Also ich sehe immer noch die Sonne und die vielen Vögel... Und die Blätter an den Bäumen und das Glitzern des Morgentaus... Weißt du, ich finde, du solltest den schwarzen Ritter nicht dem Richter ausliefern...“   „Was?“ Oscar wirbelte nun doch herum und blanke Verständnislosigkeit stand ihr im Gesicht geschrieben.   Andrés Blick war gesenkt, er sah sie kein einziges Mal an und trotzdem sprach er in Ruhe das aus, was ihn beschäftigte: „Ich meine, er ist auf der Seite des Volkes – nicht des Adels... Wir können nichts tun, um den Bauern zu helfen... Aber er – er kann und wird etwas für sie unternehmen. Davon bin ich überzeugt.“ Erst dann hob er seinen Blick und sah sie so flehentlich an, dass Oscar glaubte, er hatte den Verstand verloren. „André, weißt du überhaupt, was du da redest?! Du setzt dich für den ein, durch den du dein Auge verloren hast! Ist dir das klar? Er ist und bleibt ein Dieb!“, betonte sie fassungslos und konnte ihre Rage kaum noch zügeln, um nicht auf ihn zu stürzen.   „Du hast sicherlich recht...“ André lächelte enttäuscht, kehrte ihr abrupt den Rücken und verließ den Balkon und anschließend ihr Zimmer. Nur kurz, ohne sich umzudrehen, blieb er noch an der Türschwelle stehen. „Mit mir nimmt es kein gutes Ende. Erst verliere ich ein Auge, dann verkleide ich mich als schwarzen Ritter und dann fragt mich nicht einmal einer, wofür das alles war... Tja, so ist das Leben...“   Oscar stand wie versteinert auf dem Balkon und sah ihrem Freund mit zerrissenen Gefühlen nach. Sie wusste genau, wofür das alles war und hatte deshalb niemals nachgefragt: André hatte es für sie getan – so selbstlos und weil er sie liebte! Und was tat sie?   Sie hatte ihm immer noch nichts im Gegenzug gegeben – bis auf das Leid. Damit musste endlich Schluss sein! Oscar hörte, wie eine Kutsche in den Hof rollte und verließ das Zimmer. Der General war heimgekehrt. „Oscar! Ich habe gehört, dass du es geschafft hast! Du sollst den schwarzen Ritter zur Strecke gebracht haben! Oscar, man würde dich zweifelsohne zum Major befördern!“ Wie er sich aufführte – so voller Stolz und Freude, die Oscar in diesem Moment den Magen umdrehte. Was sollte sie mit dem Major?   Oscar war es langsam leid, dass ihr Leben ständig von jemand anderem bestimmt wurde... Und da gab es noch André, dem sie unbedingt ein Versprechen einlösen wollte... Um ihm wenigstens etwas glücklich zu machen und sich für seine Aufopferung auf diese Weise zu bedanken... „Hört zu Vater...“ Die Entscheidung kam ihr ziemlich schnell von den Lippen. „Das Ganze war ein bedauerlicher Irrtum...“   „Was sagst du?“ Reynier konnte es nicht glauben! Hatte er sich etwa verhört oder spielte ihm Oscar etwas vor?   „Es tut mir leid, aber ich habe den Falschen verhaftet.“ Oscar versuchte so glaubwürdig wie möglich zu wirken, auch wenn ihr die Lüge schwer auf der Seele lastete. „Es hat sich um einen Lügner und Trickbetrüger gehandelt. Wir haben keine Beweise und deshalb müssten wir ihn freilassen.“   „Wenn du meinst...“ Der General beäugte sie vorerst skeptisch, aber dann glaubte er ihr doch noch und ging wieder.   Als er fort war, besuchte Oscar Bernard auf dem Krankenzimmer – dieser schlief nicht mehr. „Beantwortet mir eine Frage!“, begann sie gleich sachlich mit ihm zu sprechen. „In welcher Beziehung steht Ihr zu Herzog von Orleans?“   „In gar keine.“ Es war schon bemerkenswert, dass Bernard sich so plötzlich kooperativ zeigte. „Wir nutzen sein Schloss als Versteck vor den Spionen seiner Majestät.“   Oscar setzte sich auf die Bettkante, als wäre sie ermattet, aber dem war nicht so. Sie hatte gerade eine Entscheidung getroffen. „Na schön, ich werde Euch gehen lassen, aber dafür tut Ihr mir einen Gefallen.“   Bernard schmunzelte erleichtert. „Welchen?“   „Das werdet Ihr noch früh genug erfahren.“ Oscar erhob sich und ging ans Fenster. „Ich begleite Euch bis nach Paris. Dort wohnt ein junges Mädchen namens Rosalie – ich habe ihr von Euch geschrieben. Begebt Euch dorthin, bis es Euch besser geht. Ihr braucht keine Angst zu haben, sie ist verschwiegen.“   Auf dem Weg durch die abendlichen Straßen sprach weder Oscar, noch Bernard. Erst kurz vor Paris blieb die Kutsche stehen und erst da ergriff Bernard das Wort: „Ich danke Euch. Ich hätte nie gedacht, dass Ihr mich gehen lassen würdet.“   „Dankt nicht mir.“ Oscar schloss die Zügel ihres Schimmels fester. „Wenn überhaupt, dann müsst Ihr André danken.“   „Andre?“   „Ja, er wollte es so. Vielleicht steckt in ihm mehr vom schwarzen Ritter als in Euch, wer weiß, und jetzt beeilt Euch!“ Oscar wendete unerwartet ihr Pferd, stieß ihm heftig in die Flanken und galoppierte zu dem Anwesen zurück. Dort suchte sie ihren Freund auf dessen Zimmer auf. „André! Er ist fort!“   „Wer?“   „Bernard!“ Oscar atmete pausenlos, aber ihre Worte waren dennoch klar und deutlich. „Ich habe ihn zu Rosalie geschickt!“   „Du hast ihn freigelassen?“ André wusste nicht, ob er darüber glücklich sein sollte und kam sich ein wenig dümmlich vor.   Oscar kam auf ihn näher zu. „Ja... für dich... Und nun lass uns die Sachen packen...“   „Sachen packen?“ Das stieß André vor den Kopf. Was hatte sie denn schon wieder vor?! „Wo willst du denn hin, Oscar?“   „Hast du etwa schon vergessen, André?“ Ein Lächeln huschte über Oscars Mundwinkeln und in ihren himmelblauen Augen, die meistens nur Schärfe und Kühle hervorbrachten, glomm überraschend ein freudiger Funke. „Wir wollten doch nach Arras, sobald die Sache mit dem schwarzen Ritter sich erledigt hat!“ Kapitel 13: In Arras -------------------- Es lag schon einige Jahre zurück, dass sie zuletzt in Arras waren – damals als sie nichts vom Elend und dem harten Leben der Bauern gewusst hatten und zum ersten Mal damit konfrontiert wurden... Und als sie zum ersten Mal Maximilien de Robespierre getroffen hatten, der sich nun Anwalt für das Volk nannte, für die Rechte der einfachen Bürger einsetzte und dem sie eigentlich die verhängnisvolle Schlägerei in Paris zu verdanken hatten.   Im Gasthof „Zum alten Allas“ machten sie eine Rast, bevor sie weiter zu Oscars Haus ihre Reise fortsetzen wollten. Das war Ende Oktober 1787, die Ernte auf Feldern war eingebracht und es wurden daraus die Vorkehrungen für den Winter getroffen. Oder zumindest sollte es so sein. Wie auch beim letzten Mal vor etwa einem Jahrzehnt empfing sie der Wirt vom Gasthof „Zum alten Allas“ warm und herzlich. „...Ihr werdet von Mal zu Mal immer schöner, Lady Oscar.“ Er lächelte fast väterlich und widmete sich dann gleich ihrem Begleiter: „André! Du bist aber zu einem stattlichen Mann herangereift! Allerdings habe ich eine Frage: Was ist eigentlich mit deinem Auge passiert?“   „Lange Geschichte“, wedelte André knapp ab – es war ihm äußerst unangenehm über seine Verletzung zu sprechen. „Wir sind hier um etwas zu essen und dann brechen wir wieder auf.“   „Aber selbstverständlich!“ Der Wirt klopfte André freundschaftlich auf die Schulter. „Bei mir bekommt ihr nur die besten Speisen! Nehmt schon Platz und ich gehe in die Küche!“   „Es hat sich hier kaum etwas geändert und doch kommt mir alles anders vor...“ Oscar nahm ihren Mantel ab, legte ihn über die Lehne eines Stuhls am Tisch und nahm Platz.   André machte bei seinem Mantel das gleiche und setzte sich ihr gegenüber. „Das stimmt.“ Er sah sich in der Gaststube um – sie war genauso leer wie damals. Nur diesmal saß kein Robespierre am benachbarten Tisch.   Oscar warf André einen milden Blick unter ihren langen Wimpern zu und dieser erwiderte den Blick nur ganz kurz, als hätte er dies gespürt. Auf einer gewissen Weise stimmte das auch – er spürte meistens, wenn Oscar etwas bewog oder sie etwas von ihm wissen wollte. Diesmal jedoch nicht. Oscar sah ihn nur musternd an, was ihm beinahe unbehaglich wurde. „Was macht dein Auge?“, fragte sie ihn nach einer Weile des Betrachtens doch noch.   André senkte seinen Blick auf die kleine Kerze, die in der Mitte des Tisches zwischen ihnen stand und die kleine Flamme spiegelte sich in seinem unversehrten Auge. Er wollte nicht über seine Verletzung reden, das machte ihn verlegen und beschämt zu gleich. Und er wollte kein Mitleid – vor allem nicht von ihr. „Mach dir deswegen keine Sorgen...“, murmelte er leise, aber verständlich. Was sollte sie jetzt von ihm denken? Er war entstellt und ihre Sorge um seine Wenigkeit bereitete ihm mehr Kummer, sogar mehr als die unerwiderte Liebe über all die Jahre...   Der Wirt kam zu seiner Erlösung mit zwei Krügen frischem Bier und stellte es vor jedem auf dem Tisch ab. „Bis das Essen fertig ist, bringe ich euch schon die Erfrischung.“   „Danke“, sagten Oscar und André fast zeitgleich.   Kaum dass der Wirt sich abgewandt hatte und sie ihre Gläser an sich nahmen, ertönte ein heftiges Wiehern eines Pferdes von draußen, gefolgt von einem nervösen Schnauben eines zweiten. „Das sind doch unsere!“ Oscar schaute hellhörig in Richtung Tür.   „Und dein Pferd kling aufgebracht, Oscar...“, meinte André mit gerunzelter Stirn. Wie ein echter Pferdekenner erkannte er die Gemütsverfassung der Tiere schon an dessen Wiehern ohne sie angeschaut zu haben und das gefiel ihm nicht.   Als wollte der Wirt seine alarmierende Wahrnehmung bestätigen, kehrte er schlagartig an den Tisch zurück und in seinem Gesicht zeichnete sich eine gewisse Besorgnis. „Nicht dass es Pferdediebe sind...“, ließ er seine Vermutung halblaut äußern: „Das geschieht hier oft...“   „Wie bitte?!“ Oscar sprang schon wie gestochen von ihrem Stuhl und rannte überstürzt nach draußen. André folgte ihr wie selbstverständlich und auch der Wirt lief ihnen nach.   Auf dem kleinen Höfchen vor dem überdachten Pferdestand bot sich ein erschreckendes Bild: Ein junger Mann und ein Knabe versuchten Oscars und Andrés Pferde fortzuschleppen. Der Knabe saß bereits auf dem Braunen und trieb ihn mit Tritten in die Seiten an. Das Tier tänzelte daraufhin nur nervös auf einem Platz und schnaubte.   Der junge Mann versuchte dagegen auf den Schimmel zu steigen, aber dieser warf ihn jedes Mal nur ab und stieg auf die Hinterbeine. Dabei wieherte das Tier immer lauter. Der junge Mann schnappte dessen Zügel. „Sei still! Du sollst mit uns kommen, habe ich gesagt!“   „Lass ihn los Bruder! Wir haben doch den Braunen!“, rief der Knabe aus dem Sattel nervös.   „Nein, ich muss ihn haben! Er bringt uns viel Geld ein!“ Der junge Mann ließ nicht locker. So ein Prachtexemplar würde ihnen in der Tat viel Geld einbringen und sie würden damit ihre Schulden abbezahlen können...   Der Jüngere entdeckte zufällig drei Männer, die mit langen Schritten auf sie zu rannten. „Schnell, Bruder! Da kommen die Besitzer!“   „Reite schon vor!“, befahl der junge Mann heiser. „Ich hab es gleich geschafft!“ Der Schimmel schüttelte seine Mähne und stieg erneut auf die Hinterbeine. Der junge Mann konnte ihn kaum noch bei den Zügeln halten. „Bleib ruhig! Du gehörst jetzt mir!“   „Ich lasse dich nicht alleine!“ Der Knabe sprang von dem Rücken des braunen Pferdes herunter und gesellte sich zu seinem Bruder. Er schnappte nach dem Zügel und zog das weiße Tier mit aller Kraft nach unten, bis dieses auf allen Vieren stand.   Oscar konnte es nicht glauben, was sie da sah. „Halt! Seid ihr wahnsinnig?!“Sie kannte ihren Schimmel gut genug und nur sie oder André waren imstande, ihn zu bändigen. Was allerdings die Diebe vorhatten war zu gefährlich. André, der neben ihr seinen Schritt beschleunigte, legte sich zwei Finger in den Mund und pfiff kräftig ein bestimmtes Zeichen. Sein brauner, vierbeiniger Gefährte torkelte unverzüglich ihm entgegen. Der Schimmel drehte seine Ohren hin und her und preschte los. Er stieß den jungen Mann mit seinen Flanken zur Seite, machte eine Drehung und schleuderte dem Knaben seine Hinterhufe gegen das Zwerchfell. Der Knabe konnte zwar dem harten Stoß entkommen, aber prallte trotzdem rücklings auf den Boden und der Ältere ließ vor Entsetzen die Zügel des Pferdes los. Der Schimmel spürte endlich Freiheit und lief seinem Artgenossen nach. Dieser wurde bereits von André abgefangen und von ihm an den Zügel geführt. Das Gleiche machte André mit dem Schimmel, was das Tier bei seiner vertrauten Behandlung auf der Stelle beruhigte und er ihm brav bis zum Pferdestand folgte.   Oscar erreichte derweilen die beiden Diebe. Der junge Mann kniete neben dem Knaben und hielt dessen Oberkörper in seinen Armen. Dieser atmete schwer – der Schrecken saß noch tief in ihm und er hielt sich dabei an die Brust. „Um Gotteswillen!“ Oscar kniete auch. Der Knabe war nicht älter als zwölf, fast noch ein Kind!   „Wenn Ihr jemanden verhaften und bestrafen wollt, dann mich!“, erläuterte der junge Mann entschlossen. „Aber verschont meinen Bruder!“   „Nein...“, stöhnte der Knabe. „Bitte verhaftet ihn nicht...“   Oscar sah von einem zum anderen. Der Ältere kam ihr sehr bekannt vor, sie konnte ihn nur nicht richtig zuordnen. Und vom Alter her schien er an die 18 Jahre alt zu sein. „Das klären wir später!“, beschied sie streng und erhob sich. Sie drehte sich um. „André!“   „Ja, Oscar?!“ André hatte schon schnell die Pferde unter dem Stand angebunden und stand nun direkt hinter ihr.   „Könntest du einen Arzt holen? Wir müssen den Jungen untersuchen lassen, nicht dass er schwere Verletzung davon getragen hat!“   „Das ist nicht nötig...“, krächzte es von unten, kaum André losging.   André blieb verwundert stehen und schaute mit Oscar auf den Verletzten. Der Knabe saß schon mittlerweile aufrecht. Der junge Mann stützte ihm etwas den Rücken und betrachtete die beiden mit großen, staunenden Augen. In seinem Kopf entstand ein Bild von einer Frau in Männerkleidern, langem, blondem Haar und einem guten Herz.   „Warum denn nicht?“, fragte Oscar verständnislos.   „Ihm fehlt nichts“, erklärte der junge Mann und kam langsam auf die Beine. „Er ist nur geschwächt, weil er seit Tagen kaum etwas gegessen hatte. Und nicht nur er... Das sind viele von unseresgleichen, Lady Oscar...“   Jetzt waren es Oscar und André, die den jungen Mann verblüfft ansahen. „Woher weißt du, wer ich bin?“, murmelte Oscar und der junge Mann klärte sie auf: „Erkennt Ihr mich nicht? Ich bin es, Gilbert... Ihr habt mir vor zwölf Jahren das Leben gerettet...“   „Ich erinnere mich...“ Oscar erinnerte sich in der Tat an den sechsjährigen Bauernjungen, der durch ein Fieber beinahe gestorben wäre, wenn sie ihn nicht zum Arzt gebracht und den auch bezahlt hätte. „Du bist groß geworden, Gilbert... als ich dich zum letzten Mal gesehen habe, da warst du noch ein Kind und warst sehr krank...“ Gleichzeitig kehrte Oscar aber in die Wirklichkeit zurück und ihre Augenbrauen zogen sich missmutig zusammen. „Das heißt aber nicht, dass du unsere Pferde stehlen sollst!“   „Das hätte ich nicht getan, wenn ich gewusst hätte, dass Ihr hier seid...“ Gilbert senkte schuldbewusst seinen Blick. „Wie könnte ich? Ihr habt uns damals doch sehr geholfen... Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass wir mit unserer Pacht im Rückstand sind und die Steuereintreiber uns bedrohen... Es bleibt uns nichts anderes übrig, als zu stehlen und die Ware auf dem Markt in der Stadt zu verkaufen, um die Steuer abzubezahlen zu können...“   „Trotzdem wird das nicht ausreichen...“, sprach auf einmal der Wirt, der sich der kleinen Gruppe angeschlossen hatte. „Die Steuereintreiber sind gierige Menschen, Lady Oscar... Sie pressen den armen Bauern immer mehr aus, noch mehr als es erforderlich ist... Vor kurzem hatten sie sich an einem Bauernmädchen vergangen, weil dessen Eltern keine Steuer mehr bezahlen konnten und es als Zahlungsmittel einforderten... Das junge Ding hat sich danach im Fluss ertränkt...“   Oscar schluckte hart. Von solchen Ausmaßen des Elends und Ungerechtigkeit hatte sie nicht geahnt – nicht einmal damals, bei ihrem letzten Aufenthalt in Arras! Der Knabe rappelte sich auch auf die Beine hoch und stellte sich leicht schwankend an die Seite seines Bruders. „Und unsere Eltern sind vor zwei Jahren gestorben, weil sie uns alles gaben und selbst nichts aßen...“   Der Kloß in Oscars Kehle wurde dicker und schnürte ihr beinahe die Atemwege zu. Sie ballte ihre Hände zu Fäuste und wandte sich an den Wirt. „Das was Ihr heute für André und mich kocht, gib den beiden Jungen! Ich werde derweilen mit André in meinem Haus nachschauen, was wir noch brauchbares haben...“   „Lady Oscar, wartet...“, hielt sie Gilbert auf, kaum dass sie zu ihrem Pferd gehen wollte.   „Was ist?“ Oscar bekam noch mehr von dem unguten Gefühl.   Der junge Mann wirkte noch verlegender und sammelte seinen ganzen Mut zusammen. „Euer Haus ist schon vor Monaten geplündert worden, Lady Oscar...“   Oscar riss ungläubig die Augen auf. Das konnte doch alles nicht wahr sein! Was war nur in die Menschen gefahren?! „Aus welchem Grund... Und was ist mit den Bediensteten...“   Gilbert versuchte es ihr zu erklären, soweit es ihm möglich war: „Die Bediensteten sind einfach abgehauen und haben alles mitgenommen, was sie tragen konnten... Das Haus stand dann leer und wurde gänzlich von anderen geplündert... Aber glaubt mir, unsere Familie war dabei nicht mitbeteiligt... Wir schätzen Euch doch so sehr, für das, was Ihr für uns getan habt...“ Kapitel 14: Die Steuereintreiber -------------------------------- Oscar stand mit André vor ihrem zerstörten Haus und konnte es immer noch nicht glauben, was sie da sah. Die Türen waren aufgerissen und hingen quer in den Angel. Die Fenster waren zerstört und überall wuchs Unkraut. Das zweistöckige Gebäude mit dem kleinen Türmchen sah zwar noch stabil aus, aber war auch sehr angeschlagen. Das düstere und graue Herbstwetter verlieh ihm zusätzlich eine unheimliche Note, als würden dort Gespenster hausen.   Gilbert stand mit seinem Bruder in ihrer Nähe und wirkte mit ihm selbst erschüttert. Keiner sagte etwas, als wären die Worte überflüssig oder die Sprache abhanden gekommen.   „Das tut mir leid, Oscar...“, flüsterte André und Oscar konnte nicht anders, als ihre Hände zu Fäusten zu ballen. „Das soll dir nicht leid tun, André...“, berichtigte sie ihn leise und ihren Zorn herunterschluckend. „Das Haus kann man wiederaufbauen... oder dort aufräumen und dann ist es wieder bewohnbar... Komm, wir schauen lieber nach, was noch sonst darin übrig geblieben ist...“ Schleppend langsam setzte sie ihre Füße in Bewegung und mühte sich die Beherrschung beizubehalten. Die Menschen, die das getan hatten, konnten bestimmt nichts dafür. Es waren bestimmt die Verzweiflung, Hungersnot und Elend, die sie dazu getrieben hatten...   „Gilbert! Avel!“ Eine Bäuerin kam auf das Haus zugerannt und bewog Oscar stehen zu bleiben. Sie schaute sich achtsam um, denn die Bäuerin klang sehr besorgt und äußerst aufgebracht. „Hier steckt ihr also!“, schnaufte sie pausenlos und die Worte sprudelten wie ein Schwall Wasser aus ihr. „Gilbert, die Steuereintreiber sind wieder bei euch!“, teilte die Frau schnell mit, ohne Oscar und André vorerst zu beachten, die nur wenige Schritte von ihr und Gilbert mit dessen Bruder standen.   „Marguerite, unsere Schwester...“, murmelte Gilbert erzürnt und rannte so schnell wie er konnte los.   Oscar verstand den verborgenen Hintergrund nur zu gut. Auch sie zögerte keine Sekunde länger. Zusammen mit André hastete sie zu dem Wirtshaus zurück, stieg unverzüglich auf ihr Pferd und ritt im gestreckten Galopp zu Gilberts Bauernkate.       - - -       Die genannte Schwester war in den zwölf Jahren, seit Oscars letztem Besuch, zu einer jungen Frau herangereift und war Anfang zwanzig. Jedoch war sie unverheiratet, weil dafür die Mittel fehlten und lebte mit ihren beiden Brüdern, nach dem Ableben ihrer Eltern, weiterhin in diesem untergekommenen, kleinen Haus – aber die Hauptsache war, dass sie überhaupt noch einen Dach über den Kopf hatte, im Gegensatz zu manch anderen ihresgleichen.   Es war nicht das erste Mal, dass die Steuereintreiber sie aufsuchten - in den letzten Monaten häuften sich ihre Besuche immer mehr. Bisher beließen sie es nur bei den Drohungen und abfälligen Bemerkungen. Aber vielleicht nur, weil ihre Brüder, oder wenigstens einer von ihnen, immer bei ihr waren. Heute jedoch nicht. Heute war sie alleine mit ihnen. Und heute beließen sie es nicht nur bei den leeren Worten. „Wir gehen nicht, bist du die Schulden beglichen hast!“   „Aber Monsieur Vicedo... Wir haben nichts...“, wisperte die junge Frau ängstlich. Es war ihr anzusehen, dass sie sich von dem Steuereintreiber und dessen zwei Gehilfen fürchtete.   „Halt deinen Mund! Das hast uns auch letztes Mal gesagt!“ Die Männer kamen bedrohlich immer näher auf sie zu und die beiden Gehilfen umkreisten sie von beiden Seiten wie Wölfe ein schutzloses Lämmchen.   Marguerite wich mit kleinen Schritten zurück, bis sie die Wand im Rücken stoppen ließ und sie damit in die Enge getrieben wurde. „Aber es ist die Wahrheit...“ Sie schluckte bangen Herzens und bettete stumm, die Männer mögen sie in Ruhe lassen und ihr nichts Schlimmes antun.   „Nun... Es gibt auch andere Zahlungsmittel...“ Vicedo grinste anzüglich und seine beiden Gehilfen bleckten begierig ihre Zähne. Das hieß nichts Gutes! Alle drei kamen zu nahe an sie heran und zwei Gehilfen packten sie schon bei den Armen, damit sie sich weder wehren, noch weglaufen konnte. „Wenn du nett zu uns bist, dann können wir eure Pacht als die Hälfte abbezahlt gelten lassen...“   „Nein!“ Die junge Frau zitterte. Sie ahnte, was ihr bevorstand. „Bitte nicht...“   „Oh, doch Schätzchen!“ Vicedo umfasste grob ihr Gesicht mit seiner Pranke, seine Gehilfen zerrten ihre Arme ihr über den Kopf und drückten ihre dürren Gelenke gegen die Wand. Deren Anführer in der Mitte ließ eine Hand schon an ihrer Oberweite herabgleiten, krallte seine Finger in ihren Ausschnitt und mit der anderen Hand raffte er ihr die Röcke hoch. „Wir haben dich gewarnt...“   „Sie hat aber nein gesagt!“, donnerte es urplötzlich durch die gesamte Bauernkate grollend. „Lasst sie auf der Stelle los, sonst bekommt ihr es mit mir zu tun!“   Alle drei drehten überrascht ihre Köpfe, aber ließen nicht die junge Frau los. Sie sahen einen jungen, blondgelockten Adligen den Raum betreten. Hinter ihm folgte ein dunkelhaariger Mann, dessen linke Gesichtshälfte mit seinem Haar fast vollständig verdeckt war. Und alle beide hatten schon ihre Degen gezogen. „Wer seid Ihr denn überhaupt?“, höhnte der Steuereintreiber und seine Nasenflügel blähten sich auf.   „Mein Name ist Oscar Francios de Jarjayes und ihr, werte Messieurs, befindet euch auf meinem Familienbesitz! Das heißt, ihr habt hier nichts zu suchen!“ Oscar wurde immer grimmiger, als die Männer keine Anstalten machten, die junge Bäuerin loszulassen.   „Und wir sind die Steuereintreiber. Ihr solltet froh sein, dass wir hier sind, sonst würde dieses fauler Pack nämlich Euch nichts mehr zahlen wollen...“ Vicedo spuckte abfällig zur Seite und wandte sich gänzlich Oscar zu.   „Das heißt aber nicht, dass ihr die Bauern drangsalieren und über arme Frauen herfallen sollt!“ Oscar schnaufte schon angriffslustig. „Verschwindet!“, ordnete sie an. „Da ich jetzt hier bin, übernehme ich die Führung und sorge für Ordnung!“   „Wie Ihr meint.“ Vicedo passte diese Aufforderung ganz und gar nicht, aber da er unteren Ranges war, musste er sich beugen. Er nickte seinen Gehilfen zu und diese ließen die junge Frau los. „Wir gehen.“   Die junge Frau stand zittrig und mit butterweichen Knien an der modrigen Wand gelehnt. Mit weit aufgerissenen Augen betrachtete sie Oscar und ihren Begleiter. „Ihr... Ihr seid wieder zurück...“   „Der Spuk ist vorbei.“ Oscar bewegte sich mit langsamen Schritten auf sie zu. „Haben sie dir etwas angetan?“   Marguerite schüttelte verneinend den Kopf. „Ihr... Ihr seid noch rechtzeitig gekommen, Lady Oscar... Ich danke Euch vielmals...“   „Schon gut.“ Oscar musste unwillkürlich schmunzeln. Im Gegensatz zu ihren Brüdern hatte sie sie erkannt. Und als hätte man die zwei gerufen, stürmten sie eilends in das Haus. „Schwester!“ Schützend und umsorgt gaben sie ihr den nötigen Halt.   „Es ist wieder alles in Ordnung“, sagte die junge Frau beruhigend zu ihren Brüdern. „Lady Oscar ist doch wieder da. Es wird also alles wieder gut sein.“   Gilbert atmete hörbar auf. Diesmal war die Sache mit den Steuereintreibern wieder einmal gut gegangen. Er sah sogleich zu Oscar. „Wir stehen tief in Eurer Schuld und würden alles Mögliche tun, um sie zu begleichen.“   „Das braucht ihr nicht.“ Oscar ließ ihn nicht zu Ende sprechen. „Ich bin froh, noch rechtzeitig gekommen zu sein. Ich wusste gar nicht, dass es hier noch schlimmer geworden ist, als es schon bei meinem letzten Aufenthalt gewesen war... Deshalb bleibe ich für eine Weile hier und sorge für Ordnung.“ Oscar wandte sich von den Geschwistern ab. „André, komm, lass uns gehen. Ich möchte noch nachsehen, wie gut mein Haus noch bewohnbar ist.“   „In Ordnung, Oscar.“   „Lady Oscar!“ Gilbert ließ seine Schwester los und stand schon vor Oscar. „Ich weiß, Ihr wollt von uns nichts, aber bitte, lasst uns Euch beim Wiederaufbau des Hauses helfen.“   „Nun...“ Oscar war sich nicht sicher. Sie wollte deren Leistung nicht in Anspruch nehmen, da sie kaum was hatten.   „Bitte, Lady Oscar!“ Seine Schwester war auch schon bei ihnen. „Lasst uns Euch auf diese Weise für Eure Güte etwas zurückgeben... Es wird uns eine Ehre sein, Euch helfen zu können...“   „Und ich kann auch in der Nachbarschaft ein paar helfende Hände mehr anfragen.“ Der jüngere Avel schloss sich auch mit an.   „Also gut...“, gab Oscar widerstrebend nach. So gesehen, hatte sie diese helfende Hände gut gebraucht. „Und ich werde euch natürlich dafür gut entlohnen.“   Avel stürmte bereits aus dem Haus, kaum dass Oscar ihr Einverständnis gegeben hatte. Nicht lange und es versammelten sich schon bald einige Bauern um das zerstörte Haus von Oscar, als sie dorthin zurückgekehrt war. Einige von den Menschen waren auch die Diebe und brachten das kleine Diebesgut zurück, beziehungsweise was davon übrig geblieben war oder sie noch nicht verscherbeln konnten. Oscar zog sie nicht zu Rechenschaft – die armen Menschen hatten ja schon genug zu leiden. Kapitel 15: Beobachtung ----------------------- Es war ein harter Tag gewesen. So viele Ereignisse auf einmal machten müde und ihnen zu schaffen. Die Menschen kamen wirklich, um zu helfen, denn seit der Aktion mit den Steuereintreiber hatten sie neuen Mut und Hoffnung in Oscar geschöpft.   Heute hatten sie das ganze Unkraut um das Haus herum beseitigt, morgen würde das äußere Erscheinungsbild wie Türen und Fenster dran sein. Für das nötige Material sorgte Oscar und entlohnte die Bauern mit Goldmünzen. Manche von ihnen wollten von ihr keine Entlohnung – wie Gilbert zum Beispiel. Oscar war aus ganz anderem Holz geschnitzt als die Ihresgleichen und arbeitete mit so viel sie konnte, anstelle wie gewöhnlich herumzukommandieren. Das war genau das, was den Menschen imponierte. Sie hatte das Haus auch von Innen begutachtet und war wegen der Zerstörung bestürzt. Das ganze Mobiliar aus poliertem Holz war entweder weg oder zum Kleinholz verarbeitet – bestimmt diente es den Dieben als Brennholz in kalten Wintermonaten... Das Geschirr und Besteck aus kostbarem Material, so wie Brokatteppiche und Vorhänge, waren auch nicht mehr aufzufinden – die fortgelaufenen Bediensteten hatten sich bestimmt zum größten Teil selbst damit bereichert und waren abgehauen. Alles was sie tragen konnten, hatten sie mit sich genommen und den Rest den verzweifelten und hungernden Dorfbewohnern überlassen...   Oscar war es ein Rätsel, warum ihre Eltern und sie nicht davon informiert wurden. Dann müsste es bestimmt nicht allzu lange her gewesen sein... Oder kein Mensch hielt es anscheinend für nötig, ihre Gutsherren in Kenntnis zu setzen – was auch einerseits verständlich war. Denn dann hätte General de Jarjayes ganz bestimmt das ganze Dorf verantwortlich gemacht und wäre gegen sie mit harten Maßnahmen vorgegangen oder hätte sie hart bestraft. Und hätte höchstwahrscheinlich noch die königliche Unterstützung oder die Erlaubnis dazu aus Versailles bekommen. Oscar schüttelte sich bei der Vorstellung, was die königlichen Soldaten mit den armen Menschen angestellt hätten, denn der dritte Stand hatte nichts zu sagen und hatte kein Recht, sich gegen den ersten und zweiten Stand zu wehren oder sich zu behaupten.   „Oscar?“   „Mir geht es gut, André.“, versicherte Oscar bei dem abendlichen Ritt zu dem Wirtshaus. „Sobald das Haus eingerichtet ist, werden wir dort einziehen.“   „In Ordnung.“ André ahnte, weshalb Oscar in Gedanken vertieft war. Sie überlegte bestimmt, was es noch so alles zu tun gab und wie sie den armen Bauern helfen konnte.   Da das Gutshaus von Oscar ausgeraubt und noch unbewohnbar war, übernachtete sie mit André in dem Gasthof „Zum alten Allas“. Sie bekamen natürlich getrennte Zimmer und Oscar bezahlte diese. Der Wirt hatte schon bei ihrer Rückkehr für Speis und Trank gesorgt. Und während sie gemeinsam aßen, bereitete er auf deren Wunsch das Wasser und die Zuber auf den Zimmern vor.   „Das Bad ist vorbereitet, Lady Oscar“, sagte Wirt, als er wieder zu ihnen an den Tisch kam. „Und auch für dich, André.“   „Ich danke Euch.“ Oscar stand auf. Das Bad wäre jetzt gerade die ideale Entspannung für ihren ermüdeten Körper und zudem noch, konnte sie so über alles noch einmal in Ruhe nachdenken. Sie warf noch einen ermahnenden Blick auf André, aber dieser sah nur in sein halbvolles Glas Bier. Nein, er würde sie schon nicht bespitzeln wie damals. Er hatte es ihr ja versprochen und darauf baute sie. Zumal sie die Tür zu ihrem Zimmer sorgfältig abschließen würde.       - - -       Das Wasser war herrlich warm, als Oscar völlig entkleidet in den Zuber hineinstieg. Sie tauchte unters Wasser und schoss wieder hoch. Das tat gut und sie lehnte sich schon jetzt entspannt zurück. Sie dachte nach, was sie noch tun konnte, um den Bauern zu helfen und die Steuereintreiber mehr in den Schranken zu weisen. Das Kopfzerbrechen hatte nicht viel Erfolg. Aber sie würde so lange hier bleiben, bis sie eine Lösung gefunden hatte.   Nach dem erfrischenden Bad zog Oscar die frischen Sachen an und ging in die Gaststube. „Ich bin mit dem Baden fertig.“, gab sie dem Wirt Bescheid.   „Ich räume das gleich weg.“ Der Wirt ging und Oscar blieb alleine.   Oscar wollte weder dem Wirt im Wege stehen, noch hier tatenlos herumzusitzen. Und so begab sie sich wieder nach oben und klopfte leise an einer der Zimmertüren. „André, ich bin es. Bist du schon fertig?“   Es kam keine Antwort von innen, aber Oscar vernahm ein leises Murmeln und ein Plätschern des Wassers. Vorsichtig machte sie die Tür einen Spaltbreit auf und spähte hinein. André lag im Zuber mit dem Rücken zu ihr, den Kopf hatte er in den Nacken gelegt und die Arme hingen über den Rand des Zubers. Durch den Dampf und die Wärme war seine Haut mit einem rötlichen Teint überzogen und glänzte durch die Nässe. Oscar sah wie gebannt auf den sichtbaren, nackten Oberkörper ihres Freundes und konnte sich nicht vom Fleck rühren... Diese Arme... diese festen und straffen Muskeln... Wie Oft hatte er sie schon mit eben diesen Armen gestützt und vor einem Fall bewahrt... Oscar fasste sich an den Kragen ihrer Weste und schluckte. Ihre Hände wurden feucht und eine Hitze breitete sich n ihrem ganzen Körper aus. Er sah so anziehend aus, dass sie ihn am liebsten berührt hätte...   Oscar rief sich die Erinnerung an jenen verhängnisvollen Abend zurück, als er sie mit seinen Küssen und Liebkosungen verwöhnt hatte. Plötzlich überkam sie ein Verlangen und ein schmerzliches Sehnen, dies wieder haben zu wollen... Aber nein... Nicht jetzt... Es gab vorerst andere Dinge zu tun...       - - -       André bildete sich ein, ein leises Klopfen gehört zu haben. Jedoch gab er von sich keine Regung darauf. Wenn es der Wirt war, dann würde er schon reingehen und wenn es Oscar sein würde, dann würde sie noch einmal klopfen und von außen ihren Belangen schon äußern, dass sie es war und mit ihm sprechen möchte. Aber wollte er das? Es war doch gerade so schön in dem Zuber. Und nebenbei wurde er sogar von dem betörenden Duft und dem Wasserdampf schläfriger.   Plötzlich hörte er leise Schritte und öffnete schlagartig die Augen. Oscar stand direkt vor dem Zuber – umhüllt nur mit einem Laken. Sie hielt den langen, weißen Stoff an ihrer Brust zusammen. Ihre Haare klebten feucht an ihrer rosigen und nassen Haut. „André, ich muss mit dir reden...“   André verschlug es die Sprache. Ihre Erscheinung war einfach zu unwirklich um wahr zu sein. Aber nein, sie stand direkt da und er bräuchte nur seinen Arm auszustrecken, um sie berühren zu können... „Was möchtest du wissen?“, kam es über seine Lippen. Er vergaß völlig über seine Blöße und dass ein gewisses Etwas bereits hart und stramm aus der Wasseroberfläche ragte.   Oscar sah nur in sein Gesicht – so kühl und undurchschaubar wie es sonst ihre Art war. Kein Anzeichen von Verlegenheit oder Scham. Wie typisch... Und dabei sah sie so hinreißend aus... André konnte nicht mehr. Viel zu lange hatte er seine Sehnsucht nach ihr im Zaum gehalten. Er stand auf, zog Oscar ruckartig an sich und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar. Er hörte, wie sie überrascht aufstöhnte und spürte, wie sie sich versteifte. Aber selber schuld... Warum musste sie unbedingt in dieser Erscheinung zu ihm kommen? „Oscar, ich liebe dich... Es tut mir leid, aber ich kann nicht mehr so leben... Bitte, bitte geh nicht fort...“   „André!“ Oscar sog scharf die Luft ein. „Komm zu dir! Du bist nicht mehr du selbst!“   „Doch, Oscar, ich bin immer noch derselbe...“ Bis auf seine Entstellung... Aber solange sie nicht in sein Gesicht schaute, fühlte er sich nicht so beschämend... und Oscar würde seine Narbe und sein blindes Auge nicht ansehen müssen... Diesen grässlichen Anblick wollte er ihr nicht antun...   Andrés Hände wanderten an ihrem Rücken. Komisch, das Laken um ihren Körper fühlte sich zu fest an, es bedeckte bereits ihre Schulter und endete in einer Hose...   Hose?   Erschrocken schob André seine Freundin von sich. Auch Oscar distanzierte sich von ihm auf wenige Schritte. Wie ein Nebelschleier klärte sich seine Sicht und er sah sie in einem Hemd und einer Hose vor dem Zuber stehen. Nasse Spuren von seinem Oberkörper zierten ihr Hemd und durchnässten es immer mehr. Ihre Oberweite, ihre feine Haut und ihr flacher Bauch wurden immer sichtbarer.   Das Gefühl darüber, dass er wieder die Beherrschung verlor und seinem Verlangen erlag, war erniedrigend und noch beschämender als damals, als er sie beim Baden beobachtet hatte. Wie ein Häufchen Elend sackte André ins Wasser zurück, krümmte sich zusammen und vergrub seinen Kopf in den Händen. Was hatte er nur getan?   Wieder hatten seine Gefühle ihm einen Streich gespielt und die Oberhand gewonnen. Es würde keine Vergebung mehr geben... Er erwartete das nicht einmal von ihr... Er hatte schon zum zweiten Mal ihre Freundschaft aufs Spiel gesetzt und es wäre berechtigt, wenn sie ihn endgültig verstoßen würde... Kapitel 16: Belauscht --------------------- Oscar hielt es hinter der Tür nicht mehr aus. Andrés dunkelbrauner Schopf neigte zur Seite und die sichtbaren Stellen von seinem Gesicht wirkten verzogen - so, als würde er sich vor etwas in Grund und Boden schämen. Seine entspannten Armmuskeln zuckten und im nächsten Moment formten sich seine Hände zu hilflosen Fäusten. Das war das, was Oscar wachrüttelte. Sie hatte genug gesehen! André redete schon wieder im Schlaf! Aber diesmal so, als wäre er nicht mehr bei Sinnen und würde dadurch seine Beherrschung verlieren! Es musste endlich Schluss damit sein! Oscar machte die Tür wieder zu und klopfte noch kräftiger gegen die Holzbretter. Auch ihre Stimmer erhöhte sie. „André! Schläfst du schon? Oder bist du noch am Baden?!“   Es geschah vorerst nichts. Dann hörte sie ein heftiges Platschen des Wassers, als wäre er gerade unsanft aus dem Schlaf erwacht. Vielleicht stimmte das ja auch, denn gleich darauf erklang seine unsichere und leicht irritierte Stimme: „Oscar, du? Dann war das ein Traum...“ Er atmete hörbar und erleichtert auf. „Warte einen Augenblick!“ Wie gut, dass es doch nur ein Traum war! Er musste kurz im Zuber eingenickt gewesen sein... André griff nach einem Tuch, trocknete sich dürftig ab und suchte schnell nach seiner Hose.   Oscar wartete neben der Tür und lehnte sich rücklings an die Wand. Sie hörte eilende Schritte, das Rascheln von Stoffen und dann ging die Tür auf. André sah sofort nach links, als hätte er gespürt, dass sie ausgerechnet dort stand. „Was ist passiert, Oscar?“ Er stellte sich direkt vor ihr – nur in einer Hose angekleidet und noch völlig nass am Oberkörper. Wasser tropfte von seinem kurzen Haar und lief ihm den Brustkorb herab.   Damit hatte Oscar nicht gerechnet. Nicht in dieser betörenden und anziehenden Aufmachung! Seine straffe Haut strahlte noch die Wärme von dem Bad aus und Oscar bemühte sich, nur in sein Gesicht zu schauen und ihre aufrechte Haltung beizubehalten. „Es ist nun beglichen...“   „Was ist beglichen, Oscar?“ André verstand es nicht so recht. Oscar wirkte auf einmal etwas zerstreut und verkrampft. Was hatte sie auf einmal?   „Ich...“ Oscar biss sich auf die Zunge. Sie würde ihm davon lieber nichts erzählen – das waren eben nur seine Träume und die wollte sie ihm nicht nehmen. Sie straffte ihren Rücken und verzog ernst ihr Gesicht. „Es ist unwichtig, André. Ich wollte nur sagen, dass wir morgen in die Stadt fahren und uns brauchbare Sachen kaufen. Ich möchte schon in den nächsten Tagen wieder in das Haus einziehen.“   „In Ordnung, Oscar.“ War das etwa alles was sie beschäftigte? Das hätte sie auch morgen sagen können! Etwas stimmte mit ihr nicht. André musterte ihre Gesichtszüge ausgiebiger, um etwas Auffälliges darin zu finden, was sie verriet. Denn ihre Körperhaltung und Augen sprachen meistens etwas Anderes aus, als ihr Mund.   „Gut, dann ist es geregelt. Gute Nacht, André.“ Oscar schlüpfte an ihm schnell vorbei und eilte auf ihr Zimmer. Der Wirt hatte bereits das Wasser aus ihrem Zuber geschüttet, alles aufgewischt und war gerade dabei den Zuber wegzuräumen.   „Ihr kommt gerade rechtzeitig, Lady Oscar. Ich bin gerade fertig geworden.“, empfing der Wirt sie, ohne davon etwas zu merken, welch ein Chaos in ihr gerade vorging.   Oscar zwang sich zu einem Lächeln. „Ich danke Euch.“   „Das ist doch selbstverständlich, Lady Oscar. Ich bin für Euch immer da.“ Er erwiderte ihr Lächeln, räumte den leeren Zuber weg und verabschiedete sich für heute.   „Danke.“, wiederholte Oscar und wünschte dem Wirt eine gute Nacht. Kaum als dieser ging, warf sie sich völlig angekleidet aufs Bett. Die Matratzen waren weich, aber sie konnte trotzdem nicht schlafen. Wie denn auch?! Andrés Blick hatte sich in ihr zu tief hineingebohrt. Egal ob sie ihre Augen schloss oder offen hielt, sah sie immer wieder dasselbe Bild vor sich: Sein nasses, kurzes Haar klebte an seinem Haupt und auf der linken Gesichtshälfte umrahmte es bis zu den Wangenknochen und bedeckte sein verletztes Auge. Oscar hatte es in den Fingen gekribbelt, ihm die dunklen Haarsträhnen zur Seite zu schieben und ihm in beide Augen zu schauen. Aber auch so hatte sie sich festgenagelt gefühlt – so intensiv und eindringlich, dass sie seinen ganzen Schmerz und die Liebe darin zu lesen geglaubt hatte...   Oscar wälzte sich von einer Seite auf die andere, aber der Schlaf wollte nicht kommen und Andrés so sanfter Blick wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen. Etwa um Mitternacht hielt sie es nicht mehr aus und stieg aus dem Bett. Gut, dass sie noch angekleidet war, so brauchte sie nicht nach ihren Sachen in der Dunkelheit suchen. Oscar zündete die Öllampe auf dem kleinen Tischchen neben dem Bett an und ging in die Gaststube. Vielleicht schlief der Wirt noch nicht und ein kühles Bier wäre ihr gerade zu Pass.   Je näher Oscar der Gaststube kam, desto mehr nahm sie raschelnde Geräusche und flüsternde Stimmen wahr - so, als würden zwei Personen sich miteinander unterhalten. Auch der einfallende Strahl von einer Kerze auf dem Boden deutete darauf hin, dass in der Gaststube noch jemand saß und sich mit jemanden unterhielt.   Die eine Stimme erkannte Oscar sofort, auch die andere war ihr nicht unbekannt. Sie machte die Öllampe in ihrer Hand aus und blieb an der Öffnung der Tür stehen - im Schatten der Dunkelheit und unentdeckt. Normalerweise war das nicht ihre Art, zu lauschen, aber es fiel ihr Name und dies bewog sie dazu.   Sie spähte flüchtig in den Raum hinein und ihre Vermutung bestätigte sich: An einem Tisch saßen bei dem Kerzenlicht André und der Wirt. Jeder hielt ein Glas Bier in der Hand und nippte zwischenzeitlich daran.   „...die Gerüchte über den schwarzen Ritter und dass Lady Oscar ihn zur Strecke gebracht haben sollte, haben es auch bis hierher geschafft.“, bekam Oscar gerade mit und horchte weiter, mit dem Blick auf André.   Dieser atmete tief ein und aus. „Was die Gerüchteküche so alles erzählt... Ja, Oscar und ich hatten einen Dieb zur Strecke gebracht, aber das war ein Falscher und deswegen mussten wir ihn gehen lassen.“   „Hast du deine Verletzung am Auge ihm zu verdanken?“, hakte der Wirt nach.   André schaute verwundert zu ihm. „Wie kommt Ihr darauf?“   „Ich kann mir schon vorstellen, dass der besagte Dieb sich nicht wehrlos ergab und ich kann mir daher gut vorstellen, dass es zu einem Kampf zwischen ihm und euch kam.“, mutmaßte der Wirt. Er zählte nur eins und eins zusammen. André erwiderte nichts dazu und senkte stattdessen seinen Blick auf das Bier vor ihm, was dem Wirt seine Vermutung bestätigte. Es müsste den jungen Mann sehr zu schaffen machen und daher wechselte der Wirt verständnisvoll das Thema. „Ich finde es gut, dass Lady Oscar wieder hier ist. Das wird die Bauern etwas aufmuntern. Sie sind es leid für die Adligen zu schuften und nichts dafür zu bekommen. Alles, was sie verdienen, nehmen ihnen die Steuereintreiber weg und schicken es an den Königshof. Wobei Monsieur Vicedo und seine Gehilfen ein Anteil davon selbst behalten. Lady Oscar kann ihnen wenigstens etwas Einhalt gebieten und hier etwas Ordnung schaffen.“   André war ihm für den Themawechsel dankbar und stimmte mit ein. „Oscar ist der gütigste Mensch, den ich kenne und sie wird versuchen den Bauern so viel zu helfen, wie sie kann.“   „Die Menschen vertrauen ihr, das hat man heute gesehen. Sie hat schon damals Gilberts Familie geholfen und das blieb natürlich unvergesslich.“ Der Wirt lächelte etwas. „Sie ist wie ein Engel und setzt sich für die Gerechtigkeit ein – so ähnlich wie Robespierre.“   „Ach ja, Robespierre...“, meinte André leise und nahm ein Schluck Bier. „Arras ist doch seine Heimat.“   „Genau.“, stimmte der Wirt zu. „Aber trotz seines Einsatzes für das arme Volk bessern sich die Verhältnisse des Landes nicht. Im Gegenteil, es wird immer schlimmer, immer mehr Menschen gehen in die Stadt, um bei Robespierre Gehör und Beistand für ihre Lage zu finden. Und Robespierre verspricht ihnen bessere Zeiten und setzt sich für ihre Rechte ein. Dafür verehren sie ihn und betrachten ihn als Helden der Unterdrückten.“   „Dann hoffen wir, dass er damit etwas bewirken kann“, sagte Oscar und trat in die Stube hinein.   André und der Wirt sahen sie überrascht an. „Kannst du nicht schlafen?“, fragte André beiläufig.   „Du doch auch nicht, wie es aussieht.“ Das war eine Antwort und Frage zu gleich. „Ich hoffe, ich störe euch nicht, wenn ich mich zu euch setzte.“   „Ganz und gar nicht, Lady Oscar.“ Die Gesichtszüge des Wirtes milderten sich und wirkten fast väterlich. Es war nicht zu übersehen, dass er Oscar mochte. Er erhob sich. „Wollt Ihr auch ein Glas Bier?“   „Zumindest wäre ich davon nicht abgeneigt.“ Oscar nahm zur rechten Seite von André Platz und der Wirt ließ die beiden für kurze Zeit alleine.   „Oscar, hast du uns etwa belauscht?“ André sah sie vorsichtig von der Seite an. Seine Hände umklammerten das Bierglas, Oscars Arm lag neben dem seinen, sodass ihre Hemden sich fast berührten und ihr Blick ruhte auf ihm. André fühlte sich langsam unbehaglich davon.   „Nein, ich bekam nur das Gespräch über Robespierre mit“, erwiderte Oscar leise und legte ihm plötzlich ihre Hand auf das Handgelenk. „Und ich wollte dir Gesellschaft leisten.“   André schaute verwundert in ihr Gesicht. Mit dieser hauchzarten Berührung hatte er nicht gerechnet. Hatte sie ihn gerade auch noch angelächelt? Oder bildete er sich das ein? „Oscar...“   „Was macht dein Auge? Kannst du noch gut sehen?“ Oscar zog ihre Mundwinkel wirklich zu einem Lächeln und in ihren Augen trat ein undefinierbarer Glanz auf. Aber vielleicht waren das nur die tanzende Flammen von der Kerze, die sich in ihren Pupillen spiegelten.   „Mach dir keine Sorgen um mich, Oscar.“, brachte André leise aus sich heraus. „Ich kann gut sehen. Auch mit einem Auge sehe ich noch alles.“   „Gut, das freut mich. André, ich...“ Oscar hörte die Schritte von dem Wirt und verstummte. Alles was sie sagen wollte, verließ ihre Lippen nicht. Gleichzeitig legte sie ihre Hand wieder vor sich auf den Tisch und wandte ihren Blick von André ab.   „Euer Bier.“ Der Wirt stellte das volle Glas vor Oscar auf den Tisch ab und setzte sich wieder auf seinen Platz.   „Ihr könnt euch weiter unterhalten, das stört mich nicht.“ Oscar nahm gutheißend einen Schluck. „Im Gegenteil, ich wäre sogar darüber gut beraten, zu erfahren, was für Verhältnisse in unserem Land herrschen. Erzählt mir alles. Dann kann ich besser die Lage einschätzen und den Bauern helfen.“   „Gott segne Euch, Lady Oscar.“ Der Wirt lächelte sie noch gütiger an als vorhin und schilderte ihr alles, was er schon André zuvor erzählt hatte.   Dieser beobachtete musternd jede Regung in ihrem Gesicht. Einiges von dem Gehörten gefiel Oscar nicht, stellte er fest, aber einiges konnte sie nachvollziehen. Sie hörte aufmerksam zu, überlegte angestrengt und kam dann auf eine Idee. „Ich werde natürlich alles dafür tun, was in meiner Macht steht. Aber dafür brauche ich mehr Menschen, denen ich vertrauen und auf die ich mich verlassen kann.“   „Mich habt Ihr schon auf Eurer Seite“, versicherte der Wirt.   „Und auch Gilbert und seine Geschwister ganz bestimmt“, fügte André hinzu. Was auch immer Oscar für einen Plan hatte, in ihm breitete sich dabei ein gutes Gefühl aus. „Was hast du denn eigentlich vor?“   „Nun...“ Oscar senkte ihre Stimme und nahm einen kräftigen Schluck von dem Bier, bevor sie den beiden Männern ihr Vorhaben offenbarte: „Ich beabsichtige mein Haus für Hilfsbedürftige einzusetzen. Jeder Bauer, der auf dem Landsitz de Jarjayes lebt und arbeitet, soll nicht mehr leiden. Über alles was auf den Feldern geerntet wird, werde ich persönlich entscheiden, was als Steuer an den Königshof geht und was in meinem Haus bleibt. Ich glaube, die Königin wird mir das sicherlich gestatten. Und das was bleibt, werde ich Euch zur Verfügung stellen, Monsieur Wirt. Ihr bewirtschaftet das und entscheidet dann, was unter den Bauern aufgeteilt werden muss, was Ihr verkauft und was für den eigenen Nutzen benötigt wird. Diese Aufteilung wird, denke ich, uns alle über die Runden bringen können und niemand muss hungern. Und ich werde Gilbert mit seinen Geschwistern darum bitten, dass sie in mein Haus einziehen und es während meiner Abwesenheit in Ordnung halten.“   „Das ist...“ André bewunderte Oscar noch mehr denn je. „...eine gute Idee.“   „Das finde ich auch.“ Der Wirt strahlte vor Freude.   Und dafür bräuchten sie etwas mehr an helfenden Händen. Das war etwas zu wenig an Menschen, aber für den Anfang würde das ausreichen. Wer weiß, mit der Zeit würden es sicherlich mehr werden. Oscar sah darüber hinweg und ließ nicht von ihrem Plan ab. „Gut, dann ist es abgesprochen. Wir können damit allerdings erst dann beginnen, wenn mein Haus soweit eingerichtet ist und ich die nötigen Mitteln dafür beschafft habe. Dann können wir uns mit Euch in Verbindung setzen und mit der Verwirklichung beginnen.“   „Selbstverständlich, Lady Oscar, so werden wir das machen.“ Der Wirt willigte bereitwillig ein und besprach noch einige Details mit Oscar und André.   Oscar war damit zufrieden und konnte etwa eine Stunde später wesentlich besser einschlafen. Und am nächsten Tag unterbreitete sie ihr Vorhaben den Bauern, die zur Errichtung ihres Hauses gekommen waren. Gilbert und seine Geschwister konnten ihr Glück kaum fassen. Sie schworen insgeheim die alleinige Treue und Loyalität nur Lady Oscar und niemanden sonst.           Fast eine ganze Woche übernachteten sie im Gasthof „Zum alten Allas“, bis das Gutshaus von Oscar Anfang November soweit eingerichtet war. Es brauchte zwar noch weitere Bebauungen, um so zu sein wie früher, aber wenigstens konnte man dort wieder wohnen.   „Ich danke euch herzlich für eure Hilfe.“, hielt Oscar eine Rede an dem Abend, an dem sie in das Haus einzog. Vor einer Handvolle Bauern, darunter auch Gilbert und seine Geschwister, erklang ihre helle Stimme fest und klar. „Wie ihr wisst, haben wir schwere Zeiten, aber wir werden sie gemeinsam überstehen, da bin ich mir sicher. Für meine Freunde stehen die Türen immer offen und jeder von euch kann zu mir kommen, wenn er Hilfe braucht. Ihr habt mein Wort.“   „Und wir glauben Euch“, verlautete Gilbert und trat mit seinen Geschwistern aus der Traubenmenge hervor. „Wir stehen Euch stets zu Diensten.“   „Ihr seid freie Menschen, ihr schuldet mir nichts.“ Oscar war zu tiefst gerührt und legte ihre Hand dem jungen Mann auf die Schulter. „Aber ich bin sehr dankbar, dass ihr mir geholfen habt.“   „Das ist doch selbstverständlich“, sagte die Schwester von Gilbert. „Ihr helft uns doch auch.“ Sie versank sogleich in einen tiefen Knicks.   Oscar staunte nicht schlecht, dass auch die anderen sich vor ihr verbeugten. „Das ist doch nicht nötig... Ich bitte euch, hört auf damit... Das habe ich nicht verdient...“ murmelte sie kaum hörbar und stockend.   „Doch das hast du...“, hörte sie Andrés leises Flüstern neben sich. „Sie verehren dich...“   „Ja, aber...“ Oscar schluckte und konnte nichts mehr dazu sagen. Nicht sie sollte verehrt werden, sondern die Königin und der König.   Die Bauern richteten sich einer nach dem anderen auf und beim Anblick auf Oscar zeichnete sich ein Hoffnungsschimmer auf ihren Gesichtern. Sie warteten, bis Oscar etwas sagte, aber dieser war endgültig die Sprache abhanden gekommen. André stupste sie leicht mit seinem Ellbogen in die Seite an. „Oscar, du musst etwas sagen...“   Seine Stimme brachte Oscar wieder in Wirklichkeit zurück. Sie räusperte sich, bevor sie wieder ihre Stimme hob. „Wie gesagt, ihr könnt euch auf meine Unterstützung verlassen. Aber nun geht nach Hause und ich werde mich auch zur Ruhe begeben. Wir sehen uns noch ganz bestimmt. Ich bleibe bis zum Ende der Woche noch in Arras.“   Die Bauern verabschiedeten sich. „Gott segne Euch, Lady Oscar!“, riefen manche, als sie sich schon längst auf dem Heimweg befanden.   Oscar wollte all die Segenswünsche und Lobpreisungen nicht, aber sie schluckte das alles herunter und verabschiedete die letzten drei, die noch vor ihr standen. „Und wenn ich fort bin, dürft ihr in mein Haus einziehen.“, sagte sie zu den Geschwistern.   „Es wird uns eine Ehre sein, für Euer Haus zu sorgen“, erwiderte Gilbert mit ehrlicher Inbrunst und fügte noch scherzhaft hinzu: „Und auch dafür sorgen, dass nichts mehr gestohlen wird.“   „Ja, das auch.“ Oscar verstand und konfrontierte die Geschwister mit einem Lächeln.   Gilbert und seine Geschwister gingen. Oscar blieb alleine mit André vor dem Haus stehen und sah eine Weile den Dreien nach, bis sie aus ihrer Sicht verschwanden. Was für Zeiten! Es musste in der Tat einiges geändert werden – besonders sollte mehr von der Gerechtigkeit geschaffen werden! Oscar schwor sich erneut alles dazu beizutragen, um wenigstens den Bauern auf ihrem Landgut das Leben leichter zu machen. Kapitel 17: Wie in einem Traum ------------------------------ Die Sonne ging unter und überließ das Zepter der hereinbrechenden Nacht. Zu dieser Jahreszeit wurden die Tage spürbar kürzer und kühler. André zündete am Eingang des Hauses eine Öllampe an und ging durch die kleinen Korridore vor Oscar. Das Haus selbst war nur halb so groß wie das elterliche Anwesen. Und nicht jedes Zimmer war mit Mobiliar wieder ausgestattet. Da sie nur für wenige Tage in Arras bleiben wollten, veranlasste Oscar, dass wenigstens ein Zimmer für sie gut eingerichtet wäre. Das war ihr altes, kleines Zimmer mit Kamin, wo sie als Kind gern genächtigt hatte. Die anderen Räume würden später, mit der Zeit, eingerichtet werden. Für den Anfang und für die kurze Zeit genügte ihr dieses vollkommen. Das Essen würden sie allerdings weiterhin im Gasthof „Zum alten Allas“ einnehmen – dies hatten sie bereits mit dem Wirt abgesprochen. Der Gasthof befand sich ja ohnehin nicht weit vom Haus entfernt.   Sie erreichten das besagte, kleine Zimmer von Oscar. André schloss die Tür auf und ließ Oscar den Vortritt. Im Kamin prasselte bereits das Feuer. Gilberts Schwester und der jüngere Bruder hatten sich die Mühe gemacht, dass es Lady Oscar so gut wie möglich behaglich hatte. Zwar war Oscars breite Bett nicht mehr aufgetaucht, aber dafür blieb eine Chaiselongue als Ersatz da und für Oscar war das vollkommen ausreichend. „Jetzt ist es hier nicht mehr so kalt.“, sagte sie und ging zu ihrer Schlafstätte, um ihren Mantel dort auf gepolsterten Lehne abzulegen.   „Das stimmt.“ André wollte ihr eine gute Nacht wünschen und gehen, als er eine Matratze auf dem Boden, nahe dem Kamin, bemerkte. „Was ist das?“   „Dein Schlafplatz.“ Oscar zuckte ungerührt mit ihren schmalen Schultern und setzte sich auf die Chaiselongue.   „Aber Oscar...“ André konnte weder seinen Augen, noch seinen Ohren trauen. Er und sie übernachten in einem Zimmer? „Sollte ich nicht lieber in meiner Kammer schlafen?“   „Auf dem kalten, nackten Boden?“ Oscar warf ihm einen scharfen Blick zu. „Nein. Ich will nicht, dass du krank wirst.“   Das war gut von ihr gemeint. „Aber wird es kein Gerede geben?“   Oscar schlug bereits ihre Beine übereinander und zog einen Stiefel aus. Darüber hatte sie nicht nachgedacht, als sie Gilberts Geschwister darum bat hier auch für André eine Schlafstätte einzurichten. Andererseits waren sie vertrauenswürdig und wussten über ihre enge Freundschaft mit André sehr gut Bescheid, dass es ihnen vielleicht deshalb nicht einmal kümmerte, wenn sie mit ihm in einem Zimmer nächtigte. Und zu dem noch war der Abstand zwischen der Matratze am Kamin und der Chaiselongue sehr groß. „Wir sind nicht am Hofe“, meinte Oscar nur schulterzuckend und zog ihren zweiten Stiefel aus. „Und ich vertraue dir und deinem Anstand.“   „Also gut...“ André gab seufzend nach und ging zu seinem Schlafplatz. Mit Oscar darüber zu diskutieren oder zu streiten würde ohnehin nichts nützen, denn sie würde ihren Dickschädel einfach durchsetzen und am Ende auch gewinnen. Und in ihrer gemeinsamen Kindheit auf dem Anwesen de Jarjayes hatten sie ja auch das eine oder andere Mal in einem Zimmer geschlafen. Aber das war eher tagsüber und weil sie nach irgendeinem Schabernack übermüdet waren...   Das Feuer im Kamin schien immer kleiner zu werden und drohte schon bald zu erlöschen. André stellte die Öllampe auf den Kaminsims ab, nahm den Schürhaken und beugte sich vor.   Oscar nutzte seine Ablenkung aus und so lange er das Feuer schürte und mit Rücken zu ihr gewandt war, zog sie die Decke über ihre Beine und entledigte sich schnell ihrer Hose. Sie warf das Kleidungsstück neben ihrem Mantel auf die Lehne und ihre Stiefel stellte sie auf den Boden und anschließend legte sie sich rasch zum Schlafen hin. Als André den Schürhaken neben den Kamin abstellte und sich umdrehte, lag Oscar schon unter der Decke und sah ihn an. „Gute Nacht.“, sagte sie knapp und drehte sich plötzlich auf die andere Seite um.   „Gute Nacht...“ André betrachtete eine kurze Weile ihren Rücken und als er glaubte, dass Oscar eingeschlafen sein müsste, entledigte er sich seiner Sachen und schlüpfte nur im Hemd unter die Decke seiner Schlafstätte am Kamin.   Oscar wälzte sich entnervt auf den Rücken - der ersehnte Schlaf wollte wieder einmal nicht eintreten. Einen Arm legte sie über ihre Stirn, die Hand von dem anderen Arm ruhte um ihre Mitte auf der Decke. André hörte das Rascheln und drehte sich auch auf den Rücken. Er legte seine Arme hinter den Kopf und stierte an die Decke empor. Er konnte auch nicht einschlafen, denn nicht weit von ihm in demselben Zimmer lag Oscar! Er wagte sie nicht einmal anzusehen. Seine Gefühle waren bereits genug bedrückt und wenn er sie noch beim Schlafen beobachten würde, würde er noch den Verstand verlieren...   Das Feuer im Kamin knisterte und warf kleine Funken hinaus. Eines landete in der Nähe von André, aber er merkte nichts davon. Zu sehr war er in seinen Gedanken vertieft. Oscar dagegen rümpfte mit ihrer Nase. Es roch nach Verbranntem! Sie entfernte ihren Arm von der Stirn und drehte ihren Kopf zu ihrem Freund. Am Ende der Decke, bei seinen Beinen, sah sie eine kleine Rauchfahne und der beißende Geruch nach brennender Wolle verstärkte sich. „André, du brennst!“ Sie sprang wie gestochen auf und war schon bei ihm, noch bevor er ihren Ausruf realisieren konnte. Sie warf ihre eigene Decke über die kleine, kräuselnde Stelle und klopfte darauf mit ihren Händen.   André saß auch schon erschrocken auf und versuchte ihr zu helfen - ungeachtet darauf, dass sie nur in ihrem Hemd quer über ihn auf ihren Vier stand und dabei einen hinreißenden Anblick auf sich bot.   In binnen weniger Sekunden war die qualmende Stelle gelöscht und das Problem beseitigt. Zum Glück blieb auch die Decken unbeschädigt, sodass Oscar die ihre wieder mit sich nahm und auf ihre Chaiselongue zurückkehrte. André begleitete sie mit seinen Blicken, noch immer etwas überrascht und gleichzeitig von ihr fasziniert. „Danke, Oscar...“   Oscar legte sich auf die Seite, mit Gesicht zu ihm und überzog sich bis zur Mitte mit ihrer Decke. „Du solltest lieber vom Kamin wegrücken, sonst verbrennst du mir noch.“   „Vielleicht sollte ich lieber in ein anderes Zimmer gehen...“ Da es in dem Zimmer wenig Platz gab, blieb nur so ein Ausweg. Er konnte doch nicht schlechtweg seine Schlafstätte direkt neben Oscar bestreiten, das wäre dann doch eine Spur zu unanständig!   „Red keinen Unsinn und schieb dein Lager zu mir.“, sagte sie ernst.   „Aber Oscar...“ André wirkte beinahe erschrocken.   „Kein aber!“, beschied Oscar. „Ich vertraue dir, das habe ich dir schon einmal gesagt!“   André zögerte eine Weile, aber dann überwand er seine Beklommenheit. Mit einer Hand hielt er seine Decke an sich, während er sich erhob und die Matratze mit der anderen Hand vor schob. Direkt bei der Chaiselongue von Oscar platzierte er seinen Schlafplatz. Oscar beobachtete ihn dabei und errötete etwas. Er war penibel darauf bedacht, dass sie seine nackten Beine nicht sehen konnte. Und dennoch erhaschte sie einen Blick auf seine kräftigen Waden und seine Knöchel, als er schnell unter die Decke schlüpfte. Er versuchte weiterhin kein einziges Mal seine Freundin anzuschauen. Diese beobachtete ihn die ganze Zeit. Sie rief sich alle erdenklichen Erinnerungen, die nur sie und ihn betrafen, ins Gedächtnis. „André?“   „Hmm?“ Er lag wieder auf dem Rücken, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und stierte die Löcher in die Luft.   „Erinnerst du dich noch an den Abend der Schlägerei?“   André schaute ruckartig zu ihr. Er war innerlich erschrocken. Was wollte sie damit bezwecken?! „Ich habe geschworen, das nie wieder zu tun, Oscar. Und daran halte ich mich, glaube mir...“   „Das tue ich, André...“, unterbrach sie ihn und musste unwillkürlich schmunzeln. Aber gleich darauf wurde sie wieder ernst. „...und ich rede nicht davon, was nach der Schlägerei beinahe zwischen uns geschah oder auch nicht geschah. Ich spreche davon, was du mir auf dem Heimweg gesagt hast... Du sagtest, dass es gut war, dass die Männer mich nicht als Frau erkannt hatten... Meinst du, sie wären über mich hergefallen, wenn sie wüssten, dass ich eine Frau bin?“   André schloss sein Auge und konnte nicht antworten, aber er nickte kaum merklich zustimmend. Für Oscar reichte das als Antwort vollkommen aus. Sie betrachtete ihn und es kribbelte ihr angenehm unter der Haut. Sie bräuchte nur ihre Hand auszustrecken, um ihn berühren zu können - so nahe lag er neben ihrer Chaiselongue. Sie betrachtete sein Gesicht und dabei erinnerte sie sich an seine Küsse, an seine Leidenschaft und ihr Herz schlug immer schneller. „...das hätten diese Männer nicht geschafft, André...“, schlussfolgerte sie auf ihre eigene Frage. André schlug sofort sein Auge auf und sah sie wieder an. Oscar sprach weiter, als hätte sie seine missmutigen Gedanken gelesen. „Dass hätten sie nicht gewagt. Mit dir an meiner Seite hätten wir sie schon in die Flucht geschlagen... Mich würde kein Mann bekommen, André... Nicht einmal Graf von Fersen...“   „Oscar...“ André war baff, solches aus ihrem Mund zu hören, aber auch gleichzeitig erleichtert über den letzten Satz.   „Ja, André, nicht einmal Graf von Fersen... Obwohl ich ihn zu lieben geglaubt hatte, aber mein Herz hätte er nie bekommen... Weil es ganz alleine für jemand anderen schlägt...“   „Für wen?“ André saß langsam auf und musste hart schlucken. War das wirklich wahr? Schlug ihr Herz wirklich nicht für Graf von Fersen? Aber warum glaubte sie ihn dann zu lieben? Sonst hätte sie doch ganz bestimmt nicht dessen Namen im Sturm der Leidenschaft mit ihm, André, ausgesprochen... Aber die Antwort auf diese Fragen würde er wohl nie finden...   „Für dich...“ Oscars Augen schimmerten, ihr Arm streckte sich nach ihm aus und ihre Finger streiften zaghaft seine Wange. „...ich liebe dich, André...“ Wie viel Überwindung hatte es sie wohl gekostet, um dies auszusprechen... „Kannst du mir verzeihen, dass ich es so spät bemerkt und dich damit so lange habe warten lassen?“   „Oscar...“, wiederholte André ungläubig. Das musste ein Traum sein! Aber nein, er spürte die hauchzarte Berührung ihrer Finger auf seiner Haut sehr deutlich! Und wie lange hatte er darauf gewartet und niemals für möglich gehalten! Aber es passierte wirklich und das war definitiv kein Traum! Er bewegte sein Gesicht zu ihr und berührte ihre Lippen mit den seinen - vorerst vorsichtig, aber dann mutiger und leidenschaftlicher. Ihr Arm legte sich um seinen Nacken und ihr Oberkörper drückte sich an ihm. Seine Hand fuhr auf ihrem Hemd den Rippen entlang bis zur Hüfte und zurück. Welch eine Wonne!   Oscar unterbrach den Kuss, aber entriss sich ihm nicht. „André... mein André... nur dir möchte ich gehören, nur deine Frau möchte ich sein...“   „Ach, Oscar...“ Übermannt von seiner Leidenschaft wusste André nichts mehr zu sagen, außer: „Ich liebe dich... mein Leben lang... nur dich...“   Oscar legte sich rücklings in die Kissen zurück und zog Andrés Kopf mit sich. Er verschloss wieder ihren Mund mit seinen Lippen und setzte den Kuss fort. Ihre Hände strichen ihm durch das Haar und sie fing sich kaum merklich an zu bewegen. André knöpfte ihr das Nachthemd auf, entblößte ihren Oberkörper und entfernte gänzlich die Decke. Seine Finger fühlten all das, was sein Auge wegen des Kusses noch nicht sah. Völlig nackt lag sie vor ihm, wenn man das Hemd ausschloss und sie wollte mehr. André unterbrach erneut den Kuss und entfernte sich von ihr. Er betrachtete sie genüsslich und entledigte sich selbst seines Nachthemdes. Oscar zog derweilen ihr letztes Kleidungsstück vollends aus und stieg zu ihm herab, auf seine Schlafstätte. Während sie sich hinlegte, begutachtete sie seinen Körper. André ließ nicht lange auf sich warten und war schon über ihr. Mit jedem Kuss, mit jeder Berührung und mit jedem keuchenden Atemzug stöhnte sie leidenschaftlich seinen Namen aus. „André... mein André... ich liebe dich...“   Diese Worte steigerten in ihm noch mehr die Lust und die Gewissheit, dass sie wirklich nur ihm gehören wollte und dass kein anderer Mann in ihrem Herzen Platz hatte. „...und ich liebe dich, Oscar, meine Oscar...“, antwortete er ihr immer wieder im Rausch der Lust und Wonne, während seine Finger brennende Spuren auf ihrer Haut hinterließen. Das Verlangen nach noch mehr stieg ins Unermessliche bei allen beiden und benebelte die Sinne.   Oscar drängte ihn zwischen ihren Schenkel und hob ihm schon ihren Becken entgegen, als er in sie vorsichtig eindrang. Nur kurz hielte sie inne und wölbte sich weiter unter ihm. André setzte auch seine Hüften in Bewegung - immer schneller, auf und ab, bis er sich in ihr entlud. Und Oscars Höhepunkt ließ auf sich auch nicht länger warten.       - - -       Der Morgen graute und die ersten Sonnenstrahlen kitzelten zwei, auf dem Boden schlafenden, auf der Nase. André öffnete sein Auge und blinzelte. Er sah vor sich den erloschenen Kamin und die graue Asche darin. Er hatte wieder ein Traum gehabt – einfach zu schön, um wahr zu sein. Dann bemerkte er sein Hemd auf dem Boden und zog verwundert die Stirn kraus – nicht weit von seinem Hemd lag das von Oscar. War das etwa doch kein Traum?   André wollte es wissen und drehte sich um. Oscar lag neben ihm und schien noch zu schlafen. Ein seliges Lächeln breitete sich auf Andrés Lippen aus und er zog sich auf seinem Ellbogen hoch, um sie besser betrachten zu können. Nur ihre Mitte war bedeckt und der Rest ihres Körpers offenbarte ihm einen Einblick auf ihre feine Haut. Vorsichtig streichelte er ihren Oberschenkel und da schlug Oscar ihre Augen auf. Sie drehte sich mit dem Oberkörper zu ihm und sah ihm direkt ins Gesicht.   „Entschuldige, ich wollte dich nicht wecken...“, flüsterte er und verharrte mit seiner Hand auf ihrem Becken.   „Schon gut.“ Oscar lächelte. „Wir müssen sowieso irgendwann aufstehen.“   „Das stimmt...“   Oscar hob ihre Hand, strich ihm an der Wange und verharrte dann am Nacken. „Es war eine schöne Nacht...“, gab sie etwas errötet zu.   „Bereust du das nicht?“   „Nein.“ Oscar legte ihren Arm ganz um seine Schultern und gewährte ihm noch mehr den Ausblick auf ihre Oberweite. „Das einzige, was ich bereue ist, dass ich das nicht schon früher gemacht habe...“   „Ach, Oscar...“ André war zu tiefst gerührt und schenkte ihr einen sanften Kuss. Das hatte zur Folge, dass sein bestes Stück sich aufrichtete und gegen Oscars Hintern hart presste.   „André!“ Oscar spürte die Härte ganz deutlich und bekam gleich ein Ziehen in der Leistengegend.   „Entschuldige...“ André interpretierte das falsch und entfernte sein Becken etwas von ihr.   Oscar ergriff sogleich die Initiative. „Nein!“, hauchte sie und erörterte heftig.   Das überraschte auch André. Anscheinend war ihr die Nacht auch nicht genug gewesen, genau wie ihm. Allerdings würde sie das nie laut äußern. Also blieb nur eine Art, um dies festzustellen! Er rückte sein Becken wieder an den ihren heran, senkte seinen Mund über ihre Lippen und küsste sie innig. Oscar erwiderte den Kuss mit ungewohnter Leidenschaft und wurde immer fordernder. Ein Bein schlang sie über das seine und ihr Hintern begannen an seiner harten Männlichkeit zu reiben.   Seine Finger rollten die Decke gänzlich höher und tauchten immer tiefer in ihren Schambereich vor. Sie war feucht und warm. Oscar stöhnte vor Begierde und befreite sich aus seinem Kuss. „Mehr...“, hauchte sie atemlos und wölbte sich zu ihm.   André senkte seinen Mund über ihre darbietende Brust und liebkoste ihre Brustwarze mit seiner Zunge. Oscar konnte kaum an sich halten und ließ ihren Gefühlen freien Lauf. Ihr Becken rieb sich an ihm immer schneller auf und ab. „André...“, stöhnte sie dabei vor Lust und dieser gab ihr endlich, was sie wollte. Er schob sich zwischen ihre Schenkel und drang von hinten in sie ein, dabei bewegte er sich gleich mit kreisenden Bewegungen in ihr und massierte vorne ihre Schamlippen mit seinen Fingern.   Oscar verlor gänzlich die Kontrolle über ihren Körper und ging buchstäblich vor Wonne in Flammen auf. André sollte das weiter machen, er durfte nicht aufhören und er hörte nicht auf. Er steigerte seine Bewegung, seine Lippen saugten sich auf ihrem Mund und seine Finger spielten immer mehr mit der Knospe ihres Venushügels. Dann spannten sich seine Sehnen an und er entlud sich wie ein explosiver Vulkan in ihr. Das Pulsieren seiner Männlichkeit in ihr trieb auch bei Oscar den Höhepunkt voran.   Die Bewegungen wurden nachhinein langsamer, bis sie schließlich zum Stillstand kamen. André hob seinen Kopf und sah Oscar ins Gesicht. Sie war geschafft, aber glücklich. „Was für ein Morgen...“, schnurrte sie.   „Ja...“ André lächelte verschmitzt. Sein Herz schlug noch rasend schnell, aber kam langsam zur Ruhe.   „Aber nun müssen wir wirklich aufstehen...“, sagte Oscar bedauernd und André zog sich aus ihr heraus. Sie saß auf, gab ihm noch einen flüchtigen Kuss und erhob sich von seiner Schlafstätte.   „Oscar...“ Die leicht besorgte Stimme von André ließ sie zu ihm umzudrehen. „Was ist?“   André zeigte nur auf die leichten Blutstreifen auf dem Laken und Oscar verstand. Sie beugte sich zu ihm vor. „Du hast mir nicht weh getan, es ist alles in Ordnung“, beruhigte sie ihn.   „Bist du dir sicher?“   „Ich bin mir sogar ganz sicher, mein Geliebter.“ Erneut gab sie ihm den Kuss und seine Besorgnis löste sich auf. Wenn Oscar das sagte, würde das auch so stimmen.   Nach dem Aufstehen, der Morgenwäsche und Anziehen, beseitigten sie das blutige Laken. Und in darauffolgender Nacht überraschte ihn Oscar, als sie sich wie selbstverständlich zu ihm legte und ihn dazu bewog, das Liebesspiel von heute Früh zu wiederholen. So kosteten sie jeden Abend ihre Leidenschaft aus, bis die Zeit kam, nach Hause zurückzukehren. Kapitel 18: Abschied und Wiedersehen ------------------------------------ Mit traurigen Gesichtsausdrücken verabschiedeten sich die Bauern von Lady Oscar. Sie wussten genau, dass, wenn sie fort sein würde, alles wieder beim Alten bleiben würde und die Steuereintreiber würden aus ihnen das letzte Tröpfchen Blut auspressen. Während Lady Oscars Anwesenheit hatten Monsieur Vicedo und seine Gehilfen das nämlich nicht gewagt.   „Wenn etwas passiert, müsst Ihr nur nach mir rufen und ich werde kommen“, versprach Oscar und die Gesichter der Menschen erhellten sich schon etwas.   „Und wir werden Euer Haus in Ordnung halten, bis Ihr zurückkehrt, Lady Oscar“, meinte Marguerite zum Abschied und Oscar nickte ihnen wohlwollend zu. Seit das Haus einigermaßen fertig war, hatte Oscar den drei Geschwistern angeboten dort zu wohnen und es aufrecht zu erhalten. Welch eine Ehre für die drei und so zogen sie vor wenigen Tagen in das Gutshaus ein.       - - -       Der erste Schnee setzte ein, als Oscar und André das Anwesen de Jarjayes erreichten. Eine eigenartige, beinahe niedergeschlagene Stimmung herrschte dabei zwischen den beiden. Immer deutlicher wurde ihnen bewusst, dass sie sich nicht mehr wie ein Liebespaar verhalten durften.   Ein letzter, liebevoller Blick beim Absteigen der Pferde, eine leichte Berührung der Hände beim Absatteln ihrer vierbeinigen Gefährten und ein sanfter Abschiedskuss, bevor sie den Stall verließen und das Haus betraten.   „Lady Oscar! André!“ Sophie empfing alle beide freudestrahlend. „Ihr müsst bestimmt ausgehungert und durchgefroren sein!“   „Es geht schon“, sagte Oscar und begab sich gleich auf ihr Zimmer.   „Ich mache Euch gleich etwas Warmes zu Essen und einen Tee!“, beschloss Sophie und eilte schon in die Küche. „André!“, rief sie ihrem Enkel kurz angebunden nach. „Und du kommst dann gleich zu mir, wenn du dich umgezogen hast!“   „Ja, Großmutter“, rief ihr André zurück und schlenderte auf sein bescheidenes Zimmer. Ein schwerer Druck betrübte sein Gemüt, während er seine Sachen auspackte und sich umzog. Trotz der bitteren Lage der Menschen in Arras hatte er dennoch eine schöne Zeit mit Oscar verbracht – besonders in den nächtlichen Stunden und manches Mal beim Morgengrauen. Nun war das alles vorbei. Sie durften im getrauten Heim ihre Liebe zu einender niemals zeigen. Niemand dürfte es je erfahren, dass die so berüchtigte Tochter der Familie de Jarjayes einen einfachen Stallburschen liebte, auch wenn dieser ihr langjährige Gefährte und Freund war...       Oscar plagte das gleiche Gefühl und der einzige Trost, den sie sich einredete, war, dass André immer bei ihr und in ihrer Nähe sein würde. Sie ließ ihre Sachen von den Dienstmädchen auspacken und zog sich ihre Hauskleider an. Dann spielte sie auf ihrem Klavier, bis Sophie mit ihrem Enkel in ihre Gemächer hereinkam.   Sie hörte das Klappern des Geschirrs und brach ihr Musikstück ab. Sophie stellte das mit Tee beladene Tablett auf den Tisch ab und André stellte auch ein beladenes Tablett ab, allerdings aufgedeckt mit Speisen für zwei Personen.   „Einen guten Appetit, Lady Oscar.“   „Danke, Sophie.“ Oscar hatte keinen Appetit – vor allem nicht nach dem, was sie für Hungersnot und Armut in Arras mit ansehen musste. Aber sie nahm trotzdem etwas zu sich, um die Mühe der alten Frau nicht zu kränken. André erging es genauso und er versuchte Oscar nicht ständig anzusehen, wie er es in Arras immer getan hatte.   „Lady Oscar“, begann Sophie, als ihr Schützling sich an den Tisch setzte und die ersten Bisse herunterschluckte. „Vor wenigen Tagen war Rosalie hier und wollte Euch sprechen.“   „Rosalie?“ Oscar staunte. „Ist etwas passiert? Oder weshalb wollte sie mit mir sprechen?“   „Das hat sie nicht gesagt. Aber sie meinte, Ihr könnt sie gerne besuchen, wenn Ihr wieder da seid.“   „Ich mache mich gleich auf den Weg zu ihr“, beschloss Oscar, spülte den letzten Bissen mit dem Tee herunter und erhob sich schon. „André, kommst du mit?“   „Natürlich“, willigte dieser ein und erhob sich auch. „Ich ziehe mir noch schnell den Mantel an und dann können wir los reiten.“   „Gut, mach das.“ Oscar hastete schon auf ihr Schlafzimmer, um sich auch einen Mantel über zu ziehen.   Sophie folgte ihr auf dem Fuße. „Aber Lady Oscar. Ihr seid doch erst angekommen und seid sicherlich sehr erschöpft von Eurer Reise.“   „Ich bin nicht erschöpft, Sophie. Und für Rosalie habe ich immer Zeit. Vielleicht braucht sie mich dringend oder es ist etwas passiert und deshalb muss ich einfach zu ihr.“   „Ihr habt ja recht.“ Sophie gab nach. „Und grüßt sie von mir herzlich.“   „Das mache ich, Sophie.“ Oscar kam aus ihrem Schlafzimmer wieder im warmen Mantel angekleidet und verließ schnell ihren Salon.       - - -       „Heiraten?“ Oscar weiteten sich die Augen.   Rosalie schmunzelte verliebt und lehnte sich an Bernard. „Ja, Lady Oscar, wir wollen heiraten und möchten, dass Ihr und André unsere Trauzeugen werdet.“   „Das ist uns eine Ehre.“ Nun lächelte Oscar auch. „Ich wünsche dir all Glück der Erde, meine liebe Rosalie.“   „Ich danke Euch, Lady Oscar.“ Rosalie entriss sich von Bernard und drückte sich unvermittelt an Oscar.   „Es ist nichts zu Danken.“ Oscar legte um sie ihre Arme und strich ihr durch das blonde Haar. „Du weißt, ich bin immer für dich da.“   André beglückwünschte gerade Bernard mit einem kräftigen Handdruck. „Auch von mir, einen herzlichen Glückwunsch und werdet miteinander glücklich. Ihr seid ein schönes Paar.“   „Danke, André.“   „Schon gut.“ André ließ seine Hand los und stand schon direkt bei Oscar.   Rosalie sah zu ihm aus Oscars Umarmung auf. Er wirkte etwas anders – nicht mehr so leidend. Sie bekam so eine Vermutung, an was das liegen könnte und als André ihr verschwörerisch zuzwinkerte, hellte sich ihr Gesicht noch mehr auf. „Ist es wahr?“, entfuhr es ihr.   „Was?“ Oscar zog leicht irritiert ihre Brauen zusammen.   Rosalie entfernte sich von ihr und wechselte verzückt ihren Blick zwischen Oscar und André. „Ihr beide seht glücklich aus! Seit ihr zusammen?“   „Ist es denn so offensichtlich?“ Oscar legte sich eine Hand gegen die Stirn. „Wir müssen daran arbeiten, den Schein besser zu wahren...“   „Vor uns braucht ihr euch nicht verstellen.“ Erneut drückte sich Rosalie an Oscar. „Ich bin so glücklich, dass Ihr und André zusammen seid! Möget ihr glücklich werden!“   „Danke Rosalie...“, murmelte Oscar angetan. Sie konnte einfach nicht böse sein – nicht bei Rosalie. Der jungen Frau konnte sie vertrauen und wusste mit Sicherheit, dass bei ihr jedes Geheimnis sicher aufbewahrt war.   „Danke...“, murmelte auch André und wagte nun ganz stolz um Oscars Schulter seinen Arm zu legen.   Oscar errötete unbewusst, aber blieb ernst und ließ sich ihre Gefühle nicht anmerken. „Wir sind zusammen, seit wir zuletzt in Arras waren.“   „Was geschieht so dort?“ Bernards Neugier war geweckt. Er war auch von der überraschten Neuigkeit angetan, das André und Oscar ein Paar waren. Aber gleichzeitig verstand er auch genauso gut, in welch einer Gefahr sie schwebten, wenn die feine Gesellschaft ihre Liebesbeziehung herausfinden würde.   „Ich würde lügen, wenn ich sage, dass dort alles Bestens ist.“, sagte Oscar offen und riss ihn aus seinen kurzen Gedanken.   „Verstehe...“ Bernard runzelte die Stirn. „Aber ich denke, dass es nicht nur in Arras so ist.“   „Wäre möglich.“ Oscar schob Rosalie etwas von sich und lächelte sie sanft an. „Aber lasst uns darüber später reden und vorerst eure Hochzeit planen.“ Kapitel 19: Hochzeit der Freunde -------------------------------- Die Hochzeit von Rosalie und Bernard war schlicht, aber angenehm. Rosalie trug ein schlichtes, selbst genähtes Kleid im hellen Blau und einen weißen Schleier, worunter ihre langen, blonden Haare offen am Rücken lagen - sie sah darin wie eine Madonna aus. Auch Bernard bot eine stattliche Erscheinung in seiner herausgeputzten, juristischen Kleidung. Nur wenigen Nachbarn, Oscar und André mit eingeschlossen, waren als Gäste dabei eingeladen. Gleich nach der Kirche begaben sie sich in die Wohnung des frisch getrauten Ehepaares. Ein paar gute Nachbarinnen hatten für sie schon ein Festmahl zubereitet und kurz vor ihrer Ankunft den Tisch gedeckt. Es gab natürlich auch Musik und Volkstanz zu ihrer Unterhaltung. Das Brautpaar führte als erste den Tanz und die anderen schlossen sich nach wenigen Tanzschritten mit an.   Oscar und André hielten sich daraus und schauten lieber abseits dem Spektakel zu. Als einzige Adlige unter ihnen wollte Oscar sich nicht einmischen. Sie erschien zwar in ihrer normalen Ausgehkleidung, aber dennoch bewahrte sie dies nicht vor argwöhnischen Blicken mancher Gäste.   Am liebsten hätte Oscar Rosalie mit allem Möglichen beschenkt, aber weder Rosalie noch Bernard wollten Geschenke haben. Die Anwesenheit von Oscar und André und dass sie ihre Trauzeugen waren, war für sie schon Geschenk genug.   Obwohl...   Rosalie hatte doch noch einen Wunsch, den sie schon seit langem hegte, aber niemals verwirklicht wurde. Nach dem berauschenden Tanz mit Bernard kam sie auf die beiden zu. „Lady Oscar... würdet Ihr... würdet Ihr mir einen Tanz schenken können?“   „Nun...“ Oscar überlegte. Sie wollte auf gar keinen Fall tanzen – sie mochte so etwas einfach nicht. Rosalie sah sie dabei mit treuherzigen Blicken an, die Oscar schwer widerstehen konnte. Zudem war es eine Hochzeit und es wäre schon alleine deshalb unhöflich, der Braut abzulehnen. „Also gut...“, gab sie nach und Rosalie strahlte vor Freude übers ganze Gesicht. „Ihr macht mich so glücklich!“ Endlich ging ihr sehnlichster Wunsch aus der Vergangenheit in Erfüllung!   „Soll dich eigentlich nicht Bernard glücklich machen?“ Oscar nahm Rosalie bei der Hand und führte sie wie am Hofe ins Zentrum der Tanzfläche. Alle Unterhaltungen und Musik verstummten auf der Stelle. Rosalie beachtete das nicht und wendete sich an die Musiker. „Spielt bitte weiter.“, bat sie fröhlich und versank vor Oscar in einen Knicks.   Diese vollführte eine knappe Verbeugung. „Gestattet mir einen Tanz, Madame Rosalie.“   „Mit Vergnügen.“ Rosalie richtete sich auf, legte ihre Hände in die von Oscar und diese führte sie in dem altbekannten Menuett wie am Hofe, ohne den Beginn der Musik abzuwarten.   Die Musiker zögerten vorerst, aber dann schlugen sie den passenden Akkord zu deren Tanzschritten ein. Die Gäste murmelten, aber eher aus Faszination über den Tanz, den Rosalie und Oscar mit einer unbeschreiblichen Grazie und Anmut vor ihren Augen durchführten. André beobachtete jede ihrer Tanzschritte und stellte sich vor, wie es schön wäre, mit Oscar auf diese Weise auch zu tanzen.   „Sie sehen beide wunderbar aus, nicht wahr?“ Bernard tauchte neben ihm auf und André schmunzelte vor sich hin. „Das stimmt. Obwohl, Oscar gefällt mir wesentlich besser.“   „Jedem das seine.“ Bernard hob sein Glas Wein auf die beiden und trank einen Schluck. „Wir haben eine Neuigkeit.“   „Und die wäre?“, fragte André, ohne seinen Blick von Oscar abzuwenden.   „Rosalie und ich bekommen bald Nachwuchs.“   Diesmal starrte André Bernard überrascht an. „Seit wann?“ Fiel ihm etwa keine bessere Frage ein? Als wäre das wichtig. „Ich meine natürlich: Herzlichen Glückwunsch!“   „Danke.“ Bernard lächelte. Ihm war noch etwas ungewohnt, sich in einer Vaterrolle vorzustellen. Aber es müsste ja irgendwann mal geschehen. „Rosalie hatte es mir vorgestern mitgeteilt. Nach ihrer Berechnung wird das Kind nächstes Jahr Ende Juli auf die Welt kommen. Ich gebe es zu, die Zeiten sind nicht gerade passend für ein Kind, aber wir schaffen das. Wir lieben uns und die Liebe überdauert alles.“   In diesem Punkt musste André ihm recht geben und schaute wieder zu Oscar hin. Ja, die Liebe überdauerte alles... Aber traf das auch auf ihn und Oscar zu? Denn im Gegensatz zu Bernard und Rosalie wähnte sich ihre Liebe nicht in Sicherheit – weil solch eine Liebe wie zwischen einer Adligen und einem einfachen Bediensteten von der oberen Gesellschaft niemals akzeptiert werden würde...           Rosalie schwebte den ganzen Tanz wie in einem Traum unter der Führung von ihrer Schutzpatronin. So könnte dieser Moment von ihr aus eine ganze Ewigkeit dauern! „Lady Oscar... Darf ich Euch etwas offenbaren?“   „Aber natürlich, Rosalie. Was bedrückt dich?“   „Nichts... Heute ist der glücklichste Tag meines Lebens...“ Rosalie machte eine graziöse Bewegung, verlangsamte ihre Schritte und senkte ihre Stimme zu einem Flüstern, so dass nur Oscar sie verstand. „Ich wollte nur noch sagen, dass ich... und Bernard...“ Sie unterbrach sich kurz, atmete tief durch und lächelte dabei errötend, bevor sie ihren Satz zu Ende brachte: „...wir werden Eltern.“   „Das ist doch wunderbar! Ich gratuliere vom ganzen Herzen, Rosalie. Du hast dein Glück mehr als verdient.“ Oscar freute sich sichtlich.   Rosalie errötete noch heftiger und wurde etwas verlegener. „Ich habe auch schon mit Bernard wegen der Taufe gesprochen und wenn das Kind auf die Welt kommt, würden wir uns freuen, wenn Ihr und André als Pateneltern dabei seid.“   „Ganz bestimmt, Rosalie.“ Oscar blieb stehen und drückte Rosalie ganz sachte an sich. „Werde glücklich, das wünsche ich dir so sehr.“   Diese Szene ließ alle Gäste gerührt aufatmen. Man sah dieser adligen Frau in Männerkleidern an, wie sehr das einfache Mädchen ihr am Herzen lag. Bernard und André verließen ihre Plätze. Sie gingen auf Oscar und Rosalie zu. „Alles in Ordnung?“, fragte André vorsichtig nach.   „Ja.“ Oscar entfernte Rosalie sachte von sich und übergab sie an ihren Mann. „Behüte sie gut, wie deinen Augapfel.“, schärfte sie ihm in einem milden Ton ein. „Rosalie bedeutet mir sehr viel.“   „Das werde ich, Lady Oscar.“ Bernard legte schützend einen Arm um seine Frau und unterstrich damit die Ernsthaftigkeit seiner Worte.   Oscar nickte ihm einvernehmlich zu. „Ich vertraue dir.“ Dann breitete sich ein Lächeln auf ihren Lippen. „Nun muss ich mich verabschieden.“   „Ich mich auch“, fügte André hinzu.   „Danke, dass wir dabei sein durften.“ Oscar reichte Bernard die Hand.   Bernard erwiderte den Händedruck. „Und wir danken euch herzlich, dass Ihr und André gekommen seid.“   Oscar ließ Bernards Hand los und während dieser sich von André mit einem Händedruck verabschiedete, umarmte sie noch einmal Rosalie. Dann verließen sie die Hochzeitsgesellschaft und ritten nach Hause zu dem Anwesen.       „Sie sind ein schönes Paar.“, meinte André auf dem Heimweg und sah zu Oscar. „Würdest du mir irgendwann auch einen Tanz schenken?“   „André, ich habe dir doch schon mal gesagt, dass ich nie wieder ein Kleid anziehen werde.“ Oscar schmunzelte dabei und gab ihm somit zu verstehen, dass sie das nicht ernst gemeint hatte.   André seufzte bedauernd, denn gleich in welcher Stimmung Oscar das äußerte, es würde genauso sein wie sie das sagte. „Auch wenn du in Männerkleider bist, das macht mir nichts aus.“, startete er einen letzten Versuch und erntete einen entrüsteten Seufzer von seiner Geliebten. „Also gut, von mir aus.“, gab Oscar nach – das war wohl Andrés großer Wunsch und wenn ihre Zusage ihn glücklich machte, dann sollte es auch so sein.   André grinste derweilen breit. „Versprochen?“   „Zweifelst du etwa an meinen Worten?“ Oscar zog ihre Brauen streng zusammen.   André dagegen verstärkte sein Grinsen. „Nein, meine Geliebte, niemals!“   Oscar bekam ein komisches Gefühl, dass er etwas ausheckte. „Gut.“, sagte sie nur dazu. Sie würde noch herausfinden, was er im Schilde führte! Aber das bräuchte sie erst gar nicht machen, denn auf dem Anwesen im Stall sattelten sie wie gewohnt die Pferde ab und wollten ins Haus gehen, als André urplötzlich Oscars Hand mitten im Stall ergriff. „Warte bitte.“   „Was ist?“ Oscar sah ihn verdattert an.   André zog sie schwungvoll an sich und lächelte schelmisch. „Du hast mir einen Tanz versprochen. Schon vergessen?“   „Aber nicht doch hier und jetzt!“, empörte sich Oscar fassungslos, aber entriss sich nicht aus seinen Armen.   „Nur dieses eine Mal...“ André sah ihr so treuherzig in die Augen, wie Rosalie vor einigen Stunden zuvor. „Bitte...“   Oscar verdrehte die Augen. Wenn es ihn glücklich machen würde... „Also gut, überredet“, gab sie erneut entrüstet nach und André fasste sie schon bei der anderen Hand. „Du machst mich immer so glücklich...“ Er führte sie elegant und Oscar überließ sich ihm vollkommen. „Du bist so wunderschön...“   „André...“, murmelte Oscar angetan.   „Ich werde mir diesen Tanz in Ehren behalten...“, sagte er nach einer Drehung und als er Oscar wieder an sich zog.   „Auch wenn wir dabei keine Musik haben?“, konterte diese in seinen starken Armen schwebend.   André schaute ihr noch verliebter in die Augen und lächelte verwegen. „Ich stelle mir die Musik einfach vor. Denn das Wichtigste für mich ist, dass ich mit dir überhaupt tanze und dass ich dich in meinen Armen halten darf.“   „Ach, André, du bist unmöglich...“, flüsterte Oscar angetan und ließ sich von dem zarten Kuss berauschen, den er ihr sogleich liebevoll schenkte. Kapitel 20: Unverhofft kommt oft -------------------------------- Der Herbst wechselte sich mit dem Winter ab und dieser wurde dann von dem Frühling abgelöst. Die Sonne im März wurde immer wärmer und verjagte die übrigen Reste der Kälte. Und an einem dieser, von der Sonne erwärmten, Tage bekam Oscar einen überraschenden Besuch.   „Rosalie!“ Mit freudiger Umarmung begrüßte Oscar die junge Frau, als diese in ihren Salon von Sophie geleitet wurde. „Wie geht es dir? Lass mich dich ansehen!“ Oscar schob Rosalie sanft von sich und begutachtete sie von oben bis unten. „Dein Bauch ist nicht mehr zu übersehen! Läuft die Schwangerschaft gut?“   „Es ist alles Bestens, Lady Oscar.“ Rosalie strahlte mit neuem Glanz des Lebens und strich ganz verzückt über ihren gerundeten Leib. „Uns geht es hervorragend. Nur die Übelkeit an jedem Morgen ist sehr unangenehm, aber da müssen wohl alle werdenden Mütter durch.“   „Sei gegrüßt, Rosalie.“ André stellte sich unvermittelt neben Oscar und lächelte freundlich.   „Entschuldige, ich habe dich noch gar nicht begrüßt.“ Rosalie holte die Begrüßung etwas verspätet nach, aber André nahm es leicht hin. Er wusste ja nur zu gut, dass Rosalie praktisch alles um sich vergessen konnte, wenn sie Oscar besuchte. Und der letzte Besuch lag schon einen Monat zurück. „Schon gut.“ Er winkte ab. „Du musst bestimmt erschöpft sein.“   Sein letzter Satz war auch ein Zeichen für Sophie. „Wo bleiben denn meine Manieren! Ich bereite sofort etwas Leckeres zu Essen und einen Tee zu!“ Sie wartete nicht einmal auf die Zustimmung von Oscar – das brauchte sie im Grunde auch nicht. Rosalie war für Oscar mehr als ein willkommener Gast und deswegen eilte sie schon aus dem Salon.   Oscar führte Rosalie behutsam zu dem Tisch. „Nimm Platz und fühle dich wie Zuhause, meine liebe Rosalie.“   André schob für sie den Stuhl vor und Rosalie nahm dankend Platz. „Bei Euch fühle ich mich immer wie Zuhause, Lady Oscar“, schmeichelte sie und begutachtete ihre Schutzpatronin wohlwollend. Dann wechselte sie den Blick zwischen Oscar und André, die gegenüber Platz am Tisch nahmen. „Wie geht es euch?“ Die Frage bezog sie auf alle beide.   „Uns geht es wie immer.“ André lächelte kurz Oscar an und diese erwiderte für einen Wimpernschlag das Lächeln. Sogleich erlosch der Glanz der Liebe bei ihnen und sie wendeten ihre Blicke voneinander ab.   Rosalie taten alle beide leid. Es war bestimmt sehr qualvoll, nebeneinander zu leben und ihre Liebe vor den Augen der Welt zu verstecken. Sie seufzte schwer und prompt spürte sie die Hand auf ihrem Unterarm. „Was ist mit dir?“ Die besorgte und weiche Stimme ließ Rosalie wieder in die Wirklichkeit zurückzukehren. „Es ist alles in Ordnung, Lady Oscar.“ Sie wechselte gleich das Thema. „In Paris kursieren Gerüchte, dass der Thronfolger schwer erkrankt sei.“   „Ausnahmsweise entsprechen diese Gerüchte der Wahrheit.“ Oscar lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Das Hemd umspannte daher mehr ihre Mitte und Rosalies Augen wurden immer größer. „Aber zum Glück geht es ihm wieder besser“, redete Oscar, ohne Rosalies staunenden Blick wahrzunehmen. André bemerkte diesen Blick jedoch sehr wohl und schaute selbst auf die leichte Wölbung an Oscars Mitte. Eine gewisse Besorgnis stieg in ihm hoch, aber vielleicht war das wieder einmal seine Einbildung. Was wusste er schon von solchen Sachen? Er hatte doch seit Arras mit Oscar kein Lager mehr geteilt... Und aus Vorsicht ertappt zu werden übte er sich seit Monaten in Enthaltsamkeit, genauso wie sie...   „Lady Oscar, Ihr seid auch...“, entfuhr es Rosalie stockend und in diesem Moment betrat Sophie mit dem beladenen Tablett den Salon. André erhob sich unverzüglich und half seiner Großmutter beim Verteilen des Tees und stellte auch eine Schale mit Gebäck in Zuckerguss in die Mitte des Tisches.   „Du musst für zwei essen, Kindchen.“ Sophie interpretierte den stauenden Gesichtsausdruck bei Rosalie anders, als es wirklich war und schob die Gebäckschale näher an sie heran. „Bedien dich. Ich denke, Lady Oscar ist auch der gleichen Meinung.“   „Ganz recht.“ Oscar wartete, bis Rosalie ein Gebäck nahm und schnappte sich selbst davon zwei Stück. Sie war selbst davon verwundert, denn normalerweise hatte sie noch nie so einen großen Appetit auf Gebäck gehabt. Aber in letzter Zeit verlangte ihr Magen eigenartigerweise öfters nach etwas Essbaren. „Du wolltest gerade etwas sagen, Rosalie?“, fragte sie, um davon abzulenken.   „Ja, entschuldigt, ich wollte sagen...“ Rosalie hielt inne. Sie konnte schlecht in Anwesenheit von Sophie ihre Beobachtung aussprechen. Sie nippte etwas an ihrem Tee und nach dem sie die Tasse abstellte, erfand sie eine Ausrede. „Wo war ich? Ach ja... Lady Oscar, Ihr seid sicherlich auch besorgt um den Gesundheitszustand des jungen Prinzen, wie ich...“   „Mache dir keine Sorgen, Rosalie.“ Oscar fischte wieder ein Gebäck aus der Schale und nahm einen Schluck von ihrem Tee. „Dem Prinzen geht es wieder gut. Er ist jung und stark. Ich hoffe nur, dass seine Krankheit keine Nachwirkungen haben wird.“   „Das hoffen wir alle, Oscar.“, sagte André und betrachtete noch einmal Rosalies gerundeten Leib. Er war definitiv etwas größer als bei Oscar. Er wusste selbst nicht warum er die Vergleiche darüber zog, aber bis auf die unterschiedlichen Größen ähnelten sich die Bäuche mit ihrer runden und straf gezogenen Form sehr... Auch die Oberweite der beiden Frauen wirkte etwas voluminöser als es die ursprüngliche Form bei ihnen war. Ja, er schämte sich sehr, dass er auch diesen Vergleich vollzogen hatte, aber diese gewisse Besorgnis in ihm trieb ihn regelrecht dazu...       „Rosalie benahm sich heute etwas eigenartiger als sonst.“, offenbarte André seiner Oscar später, als Rosalie schon heimgegangen war. Sie absolvierten ihre Fechtübung im Hinterhof des Anwesens.   „Das liegt bestimmt, weil sie bald Mutter wird.“, vermutete Oscar und parierte gekonnt Andrés Hiebe. „Ich hörte, dass jede Frau bestimmten Gefühlen unterliegt und ihre Launen sich ändern, wenn sie guter Hoffnung sind.“   „Bestimmt hast du recht.“ André konzentrierte sich wieder auf das Fechten mit Oscar. So glücklich und unbeschwert hatten sie sich schon seit langem nicht mehr gefühlt. Niemand war da und sie bräuchten sich nicht verstellen und ihre Gefühle zu einander verbergen. Seit sie aus Arras zurück waren, hatten sie keine Liebeleien ausgetauscht - aus Vorsicht ertappt zu werden. Darauf hatten sie sich gleich bei der Ankunft geeignet und den ganzen Winter durchgehalten.   „Ihr habt dazu gelernt, bravo!“, lachte jemand in der Nähe.   Überrascht brachen Oscar und André ihre Fechtübung ab und sahen in dessen Richtung. „Graf von Fersen!“ Oscar wusste nicht, ob sie sich über dessen Besuch freuen sollte oder nicht.   „Schön Euch zu sehen, Lady Oscar“, meinte von Fersen - scheinbar gutgelaunt, aber seine Augen verrieten dennoch die Traurigkeit in ihm wegen Marie Antoinette.   André bekam prompt ein ungutes Gefühl – so, als würden ihm die alten Wunden aufgerissen. Er beobachtete Oscar und es erschien ihm dabei, als würde Oscar dem Grafen dieselbe Aufmerksamkeit schenken wie früher. Galt es aber auch für ihr Herz?   Oscar war innerlich zerrissen. Ihr plagten die Fehltritte und sie hoffte, dass von Fersen sie nicht mit der Unbekannten im Kleid auf dem Ball in Verbindung setzen würde. Sie lud ihn zum Abendbrot ein, wie es der Höflichkeit gebot und von Fersen nahm es gern an. Nach dem Abendbrot saßen sie beide vor dem Kamin an einem kleinen Tisch und tranken ein Glas Wein zur guten Unterhaltung. „Da dienen wir beide in Versailles - ich in der Armee und Ihr im Garderegiment. Und dennoch haben sich unsere Wege seit Jahren nicht mehr gekreuzt. Wisst Ihr, wann wir uns das letzte Mal begegnet sind, Oscar?“   „Nein, ich kann mich nicht erinnern.“ Oscar versuchte von diesem Thema so gut wie möglich abzulenken und goss lieber den Wein in die Gläser ein, ohne den Grafen anzusehen.   „Wie auch immer – Ihr seht bezaubernd aus.“ Von Fersen erhob auf sie das Glas und trank einen Schluck. „Man erzählt sich viel von Euch. Zum Beispiel die Geschichte mit dem schwarzen Ritter.“   „Dabei hatte ich mich geirrt.“ Oscar hielt ihren Blick noch immer gesenkt und schaute lieber in das Glas. „Der Mann, den wir festgenommen haben, war leider der Falsche.“ Wo blieb nur André? Die Unterhaltung mit dem Grafen schien sich in die Länge zu ziehen und sie wünschte sich, es möge bald ein Ende haben.   „Tja, ich schätze, es gibt viele Dinge auf dieser Welt, für die es nicht sofort eine Lösung gibt.“   Oscar konnte bereits kaum mehr ruhig sitzen, aber höflichkeitshalber blieb sie ruhig und ließ sich nichts anmerken. „Sagt, Graf von Fersen, wie steht es mit Euch, wie ist es Euch in der letzten Zeit ergangen?“   „Was soll ich sagen?“ Von Fersen ließ sich aber nicht davon abwimmeln. „Bei mir gibt es eigentlich nichts Neues zu berichten. Nichts Erfreuliches und auch nichts Trauriges.“ Er ließ den Wein in seinem Glas ein paar Male kreisen. „Oder doch wartet. Neulich, als ich auf einem dieser Bälle war, ist mir doch etwas Lustiges passiert. Ich traf dort eine Frau, die Euch sehr ähnlich sah. Man sagte mir, sie sei eine ausländische Gräfin. Ich habe sie nur auf diesem einen Ball getroffen. Seit dem habe ich sie nie wieder gesehen, obwohl ich auf einigen Bällen war.“   Oscar wusste nicht was sie sagen sollte. Ihr kam es so vor, als säße sie in einer Falle und hoffte, dass die Gefahr so schnell wie möglich vorüber ziehen möge. Sie stellte ihr Glas ab und da schnappte von Fersen urplötzlich nach ihrem Handgelenk. Oscar starrte ihn erschrocken an. Von Fersen verstärkte den Druck seiner Finger. „Ich dachte die ganze Zeit, Ihr seid diese Gräfin und ja, ich bin mir völlig sicher... Auch wenn Ihr es versucht, Eure Erziehung könnt Ihr nicht verleugnen...“   Oscar wurde auf einmal übel. Sie brauchte frische Luft! Hastig entriss sie ihm ihr Handgelenk und rannte nach draußen. Sie merkte nicht, dass André gerade das Zimmer betreten und rein zufällig diese Szene mitbekommen hatte. Er war bedrückt. Von Fersen hatte also ihre Gefühle zu ihm wieder erweckt! André fluchte innerlich über diesen Besuch und wusste nicht, was er tun sollte. Oscar war aus dem Zimmer fort und von Fersen folgte ihr. Diesmal hielt André den Grafen nicht auf.       Oscar befand sich bei den Stallungen und musste mehrmals durchatmen. Eigenartig, seit wann machte ihr das Rennen schon nach wenigen Schritten das Atmen so schwer?! Auch beim Fechten zuvor mit André war sie mehrmals außer Puste gewesen. Lag es denn etwa daran, dass sie in der letzten Zeit mehr aß als sonst und schon langsam deshalb in die Breite ging? Sie lehnte sich an die Stalltür und legte ihren Arm um die Mitte. Wieder spürte sie diese kleine Bauchwölbung unter ihrem Hemd und in dem Moment sah sie von Fersen auf sie zukommen. „Glaubt mir, Oscar, hätte ich schon bei unserem ersten Treffen gewusst, dass Ihr nicht ein Mann, sondern eine Frau seid...“   „Hört auf, von Fersen... Bitte sprecht nicht weiter, schweigt...“, unterbrach ihn Oscar schweren Atems. „Ich weiß es selbst nicht, warum ich das getan habe... Vielleicht weil ich etwas glaubte, dem ich mir nicht sicher war... Aber jetzt bin ich mir mehr als sicher, dass ich mein wahres Liebesglück gefunden habe... Bitte verzeiht, wenn ich Euch etwas Falsches vermittelt habe...“   „Ich verstehe Euch, Oscar... Dann bleibt mir nichts anderes, als die Liebesqual...“ Graf von Fersen lächelte bitter.   „Ich habe gewusst, dass es eines Tages so kommen würde... Wenn Ihr auf das Ende von unserer Freundschaft besteht, dann werde ich es akzeptieren...“   „Nein, Oscar... Wenn Ihr gestattet, werde ich versuchen weiterhin Euch ein guter Freund zu sein...“   „Ich danke Euch, Graf... und ich gestatte es Euch, denn auch ich möchte, dass wir gute Freunde bleiben...“   „So sei es, Oscar.“ Von Fersen verabschiedete sich und ging. „Passt auf Euch auf und werdet glücklich. Wir sehen uns noch bestimmt.“   „Ja, ganz bestimmt. Ich danke Euch und wünsche, dass Ihr Euer Liebesglück findet, Graf...“, murmelte Oscar tonlos zum Abschied ihm nach und begab sich dann auf ihr Zimmer.   André tauchte hinter ihr auf, als sie beim umgekippten Tisch die Glasscherben einsammelte. „Geht es dir gut? Kann ich behilflich sein?“   „Danke, es geht schon.“ Oscar musste sich sammeln und konnte ihn daher nicht ansehen.   André interpretierte es falsch und verließ ihr Zimmer. Er musste etwas trinken, um seinen Kummer zu verwischen! Er nahm sein Pferd und galoppierte nach Paris. In einem Gasthof saß er ganz alleine abseits des leutseligen Gelages einiger Männer. Er war so vertieft, dass er nicht merkte, wie ein Mann zu ihm aufschloss. „André, bist du das?“   André sah überrascht auf. „Alain!“   „Du hast dich ganz schön verändert seit unserer letzten Begegnung!“ Alain bestellte für sich ein Bier und setzte sich wie selbstverständlich zu ihm. „Und nun erzähl, was mit dir passiert ist?! Hast du deinen Kommandanten für dich gewinnen können?“   „Hmpf.“ André überlegte, ob er es ihm anvertrauen sollte oder nicht. Vielleicht würde es ihm dadurch besser gehen? „Wir sind ein Paar.“, sagte er knapp und bündig.   „Und warum siehst du dann trotzdem niedergeschlagen aus?“   „Es ist nichts.“, wedelte André ab.   „Lässt sie dich wohl nicht an sich ran?“, hakte Alain unermüdlich nach.   „Ich sagte doch, zwischen uns ist alles in Ordnung!“ André wurde leicht gereizt.   „Also gut, wie du willst.“, gab Alain doch noch nach und schlug gleich vor: „Hast du nicht Lust, dich zu uns rüber zu setzen und mit uns zu singen?“   André schaute in die gezeigte Richtung und da winkte ihm schon einer der Söldner zu. „Na los, komm her Kumpel, wir können jede Stimme gebrauchen!“   André überlegte nicht lange. Vielleicht würde das seinen Kummer vertreiben. „Also gut, ich geselle mich gerne zu euch!“ Er sang und trank mit ihnen, versuchte sich abzulenken und es schien zu klappen. Dann wurde es ihm doch noch zu viel und er setzte sich wieder an die Theke.   Alain ließ ihn nicht alleine und setzte sich wieder zu ihm. Erneut bestellte er sich ein Bier und bis der Wirt es ihm brachte, löcherte er André weiter. „Du siehst mir nicht danach aus, als würde es dir gut gehen.“   „Ich weiß nicht wovon du redest.“   „Na schön, wenn du nicht darüber reden willst, auch gut.“ Alain hob sein Bierglas. „Kannst du mir dann wenigstens verraten, was mit deinem Auge passiert ist?“   Darüber konnte Andre ihm schon erzählen. „Es war ein Unfall. Ich habe mich mit einem Dieb angelegt und dieser hat mich am Auge getroffen.“ Er ging nicht ins Detail, um Oscar nicht erwähnen zu müssen – zumal er nicht wollte, dass Alain ihn weiter über sie ausfragte.   Ein Lärm ließ sie wieder herumfahren. Die Söldner begannen eine Schlägerei. „Ach, jetzt geht das wieder los... Hör zu, so eine Schlägerei gehört zu unserem Amüsement.“ Alain zog seine Uniformjacke aus und stürzte sich in den Kampf.   Kaum dass André sich darüber wundern konnte, wurde er schon mit hineingezogen. Er schlug sich tapfer, bis es den Söldnern überdrüssig wurde und sie davon genug hatten. Danach wurde wieder getrunken und gesungen. André schloss somit mit den anderen Bekanntschaft und amüsierte sich mit ihnen, aber seinem Herzen erging es dadurch nicht besser. Auf dem Heimweg schwor er sich, mit dem Trinken aufzuhören, denn es nützte nichts. Egal wie betrunken oder abgelenkt er war, er konnte dennoch nicht seinen Kummer loswerden. „Ach, Oscar...“   Als er zurück zu Oscar war, saß sie schon ganz alleine in ihrem Sessel vor dem Kamin. „Wo hast du die ganze Zeit gesteckt? Ich habe mir schon Sorgen um dich gemacht.“   Hatte sie das wirklich? „Wieso bist du noch wach, Oscar? Was ist, kannst du nicht schlafen?“   „Kann schon sein.“   André ging zum Kamin. „Sieh nur, das Feuer im Kamin geht jeden Moment aus.“ Er schürte es, bis die Flammen erneut entfachten und das Zimmer erhellten.   „André, ich werde den Dienst beim Garderegiment quittieren...“, sagte sie nachdenklich.   André sagte nichts dazu. Ihre Worte bestätigten ihm seine Ahnung, dass sie ihre Gefühle zu dem Grafen nicht verloren hatte und das schmerzte ihn sehr – trotz all der erwiderten Liebe zwischen ihnen... Kapitel 21: Ein Missverständnis ------------------------------- „Was sagtet Ihr? Habe ich Euch da eben richtig verstanden?“, empörte sich die Königin fassungslos, als Oscar am nächsten Tag ihren Dienst beim Garderegiment quittierte.   „Ja, Eure Majestät.“ Oscar rührte sich nicht und hob auch nicht den Blick während ihrer Kniebeuge vor der Königin. „Ich bitte hiermit um eine Entlassung als Kommandant. Verzeiht mir, doch ich brauche Eure schriftliche Zustimmung.“   „Ich verstehe Euch nicht ganz!“ Marie Antoinette erhob sich leicht aufgebracht von ihrem Thron. „Was habt Ihr? Nennt mir erst einmal den Grund!“   Nein, Oscar wollte nichts über die Beziehung zwischen ihr und André und welche Pläne sie bereits für die Zukunft geschmiedet hatte, verraten. „Ihr könnt über mich verfügen, wie Ihr wollt, aber bitte befreit mich von der Last als Kommandant des königlichen Garderegiments.“   „Nicht bevor Ihr mir den Grund genannt habt!“ Die Königin blieb hartnäckig. Auch Oscar ließ nicht nach. Sie hob ihren Blick und sah fest Ihre Majestät an. „Das ist allein meine Entscheidung. Ich bitte Euch noch einmal mein Gesuch zu erhören und zu akzeptieren.“   „Lady Oscar.“, unterbrach Marie Antoinette sie, mit der Hoffnung sie doch noch umstimmen zu können: „Hört zu, ich hatte die Absicht Euch bei der nächst besten Gelegenheit zum General zu befördern, deshalb sagt mir jetzt, was Euch zu Eurem Entschluss veranlasst habt!“   Zum General zu befördern... Welch ein Lockmittel... Aber da war sie bei Oscar an der falschen Adresse. Eigentlich müsste sie wissen, dass Oscar in diesem Sinne unbestechlich war. Marie Antoinette wurde erneut eines Besseren belehrt, als Oscar wieder den Blick auf ihre Stiefelspitze senkte und unnachgiebig bei ihrer Bitte blieb. „Bitte vergebt mir, aber ich kann Euch den wahren Grund nicht nennen. Dennoch, Ihr könnt gewiss sein, dass ich niemals Eure Großherzigkeit mir gegenüber vergessen werde. Und ich versichere Euch meine Treue, auch wenn ich das königliche Garderegiment verlassen werde.“   Das schien die Königin doch noch milder zu stimmen und sie gab schlussendlich entrüstet nach. „Ich weiß das wohl zu schätzen. Also gut, ich werde über Eure Bitte nachdenken.“   „Ihr macht mich glücklich, Eure Majestät. Ich spreche Euch mein tiefempfundenen Dank aus.“ Oscar erhob sich erleichtert, als die Königin sie dazu aufforderte und mit einer knappen Verbeugung verabschiedete sie sich von ihr. Sie sollte morgen den Bescheid über ihren neuen Dienst bekommen, hatte sie noch von Ihrer Majestät zum Schluss erfahren.       Abends, auf dem Anwesen, spielte Oscar wie gewöhnlich auf ihrem Klavier. André brachte ihr etwas später einen Tee, den sie gerne vors zu Bett gehen trank. „Ich danke dir.“, sagte sie, als er das Tablett auf dem Tisch in ihrem Salon abstellte. Sie hörte mit dem Klavierspiel auf und folgte dem aromatischen Geruch des warmen Getränks.   André ließ sie knapp zu sich zu dem kleinen Tisch passieren und sein Brustkorb zog sich dabei schmerzlich zusammen - ihm kam es so vor, als wäre Oscar betrübt... Also stimmte es doch! Seit dem gestrigen Besuch des Grafen hing sie nun mit den Gedanken wieder an ihn... „Dann gehe ich mal, gute Nacht.“ André wollte nicht mehr länger hier bleiben.   Oscar überhörte die Bitterkeit in seiner Stimme. Er würde ihr schon früher oder später sagen, was ihn plagte. Sie nippte an ihrem Tee und setzte die Tasse sogleich von ihren Lippen ab. „Warte bitte.“   André ballte seine Hände zu Fäusten, aber blieb dennoch stehen. Was wollte sie noch von ihm? Er drehte sich nicht zu ihr um und versuchte krampfhaft seine Emotionen zu unterdrücken. Oscar stellte ihre Tasse auf den Tisch ab und betrachtete seinen Rücken. Er wirkte in sich versunken - so, als fühlte er sich nicht wohl. Was hatte er auf einmal?   Oscar atmete tief durch. Was auch immer das war, sie konnte es ihm auch so sagen und danach würde sie ihn auslöchern, was mit ihm los war. „Wenn ich in Zukunft mein Leben neu organisieren werde, kann ich mich unmöglich noch länger von dir bedienen lassen. Ich weiß zwar heute noch nicht genau, wohin ich versetzt werde und was mich in Zukunft erwartet, aber ich möchte dass du...“   „Was?!“ André wirbelte schlagartig zu ihr herum. Was auch immer sie ihm noch sagen wollte, konnte er es nicht mehr mit anhören. Seine Gefühle überschlugen sich und er konnte nicht mehr seine Geduld zügeln. „Es ist wegen ihm, nicht wahr?!“   „André!“ Oscar war verdattert. So bitterböse hatte sie ihn noch nie erlebt. „Wovon sprichst du?!“   „Das weißt du ganz genau, Oscar! Du hast deine Gefühle zu von Fersen nicht überwunden, nicht wahr?!“ Es war nun raus! André mühte sich, nicht lauter zu werden und trotzdem konnte er die Bitterkeit und die Enttäuschung aus seiner Stimme nicht verhindern.   „Was unterstellst du mir?!“ Jetzt geriet auch Oscar in Rage. Mit einem Mal leuchtete ihr so vieles ein, dass nun auch sie ihr hitziges Temperament kaum zügeln konnte. „Denkst du, ich werde hinter ihm her rennen, wo ich doch mein Herz und meine Liebe dir geschenkt habe?! Glaubst du, ich bin so leichtfertig und werde mit deinen Gefühlen spielen?!“   Nein, das würde Oscar nicht ähnlich sehen... So ein hinterhältiger und niederträchtiger Mensch war Oscar auf gar keinen Fall... Aber dieser von Fersen – er stand immer noch zwischen ihnen und das zerrte an seinen Gefühlen... und seiner Liebe... André schloss sein Auge und neigte betrübt seinen Kopf. „Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll, Oscar... Dein Verhalten von gestern hat in mir Bedenken gesät... Ich liebe dich von Herzen – daran würde sich nie etwas ändern, aber wenn von Fersen da ist und du ihn so ansiehst wie damals, dann wünsche ich mir zu sterben, um deine tief verborgene Liebesqual zu diesem Mann nicht mehr ertragen zu müssen. Vergib mir wenn du kannst, aber diese Zerrissenheit ist kaum aushaltbar.“   „André...“ Oscar konnte selbst kaum glauben, was sie da aus seinem Mund hörte! Er war verzweifelt und verbittert. Das verstand sie sehr gut und er tat ihr leid. Aber auch sie war nun aufgebracht von der Erkenntnis, auf welch dünnem Eis ihre Liebe aufgebaut war. Zu tief saßen die Narben der Vergangenheit - so wie in ihm, so auch in ihr. Man brauchte nur einen kleinen Stoß und da brach schon alles zusammen... Das durfte nicht wahr sein! Wo war all das Vertrauen zwischen ihnen?!   Leise knirschten ihre Stiefel auf dem Fließboden, als sie langsamen Schrittes sich ihrem Geliebten nährte. Vorsichtig schob sie ihren Zeigefinger unter sein Kinn und nur mit dieser sachten Berührung bewog sie ihn dazu, seinen Kopf zu heben und sie anzusehen. „Ich vergebe dir...“, versicherte ihm Oscar zwar leise, aber klar und deutlich. „Ich schwöre dir, ich liebe von Fersen nicht... Das ist vorbei... Der einzige Mann in meinem Leben bist du, André...“   André schluckte, sein Adamsapfel bewegte sich. Er glaubte ihr von Herzen, denn Oscar gehörte zu den ehrlichsten Menschen und verabscheute Lügen. Dennoch kreisten ihm Fragen durch den Kopf, auf die er gerne eine Antwort gewusst hätte. Und wer konnte ihm am besten die Antwort darauf geben, wenn nicht Oscar selbst? „Warum bist du dann gestern vor ihm weggelaufen, als er dich entlarvt hatte? Wieso hast du dann das Garderegiment verlassen, wenn nicht seinetwegen? Und warum willst du mich nicht mehr an deiner Seite haben?“   „Ach, André...“ Oscars Mundwinkel zogen sich leicht nach oben. Ihre Finger strichen ganz sachte von seinem kantigen Kinn aus an der Wange, schlüpften unter sein Haar und strichen ihm die bis zu den Wangenknochen langen Haarsträhnen von seinem erblindeten Auge. „Ich habe das nicht seinetwegen, sondern deinetwegen getan...“   „Ich verstehe nicht, Oscar...“ André wagte sich nicht zu rühren. Er war leicht verwirrt und suchte nach Antworten in Oscars so liebreizendem Gesicht.   „Ich habe mein Dienst quittiert, um mehr mit dir zusammen zu sein, um mein Leben nur mit dir zu führen.“, klärte ihn Oscar im milden Tonfall auf und berührte feinfühlig die schmale Narbe unter seinem Auge. „Und ich habe dich aus meinen Diensten entlassen, weil ich möchte, dass du als mein Mann an meiner Seite bist...“   „Oscar!“ André bekam ein schlechtes Gewissen und schämte sich. „Es tut mir leid...“   „Schon gut.“ Oscar dämpfte nun die Reste von ihrem aufgewühlten Gemüt, schob ihm ihre Hände um seinen Nacken und drückte sich an ihm. „André, halte mich fest... Ich will nur mit dir mein Leben verbringen... das schwöre ich...“   „Ach, Oscar... meine geliebte Oscar...“ André schloss sie in seinen Armen. Es tat gut zu wissen, dass zwischen ihnen wieder alles in Ordnung war. Sein Herz schmolz dabei wie der Schnee bei den ersten Sonnenstrahlen im Frühling. Ihr Körper drückte sich noch fester an ihn und da spürte er die kleine Bauchwölbung unter ihrem Hemd. Gleich darauf erinnerte er sich an seine Beobachtungen, die er gestern zwischen Oscar und Rosalie unterschwellig durchgezogen hatte. Seine Hand steuerte gleich daraufhin auf die fest angespannte Erhebung zu und betastete sie vorsichtig. „Seit wann hast du ein Bauch, Oscar?“   „Seit ein paar Wochen“, kokettierte diese und hob ihren Blick. „Stört dich das etwa?“   „Nein, keineswegs.“ André lächelte etwas und legte ihr seine Hand auf die Wange. Er erzählte ihr von seinen Beobachtungen und Vergleichen.   Oscar hätte beinahe aufgelacht. So etwas würde bei ihr doch gar nicht gehen und wenn doch, dann hätte sie das schon längst bemerkt! Aber solange es keine zutreffenden Anzeichen dazu gab, gab es keinen Grund zur Sorge. „André, ich fühle mich bestens, sei versichert. Das was Rosalie hat, trifft auf mich ganz und gar nicht zu. Ich denke, bei mir kommt es wirklich davon, weil ich in letzter Zeit mehr Appetit auf leckere Sachen habe, die deine Großmutter immer macht und ich deshalb nicht widerstehen kann. Oder schlicht, ich kann es ihr nicht abschlagen, weil sie immer alles mit so viel Mühe und Liebe zubereitet.“   „Du hast sicherlich recht...“ André verlor sich buchstäblich in ihren himmelblauen Augen und glaubte darin wie ein Schiffsbrüchiger zu versinken. „Ich würde dich jetzt so gerne küssen...“   „Dann mach es... aber nur kurz, bevor uns jemand entdeckt...“, flüsterte Oscar und reckte selbst schon ihren Hals zu ihm empor. André ließ sich das nicht zwei Mal sagen, senkte seinen Mund über ihre weichen Lippen und küsste sie sanft. Kapitel 22: Kurz und knapp -------------------------- „Als Befehlshaber in einer Söldnertruppe?“ André dachte, er höre nicht richtig und gleichzeitig sausten ihm unzählige Gedanken durch den Kopf. Was für ein Zufall! Er müsste unbedingt Alain finden und ihn einweihen, damit die Söldner seine Oscar gut empfingen – er wusste ja von Alain, dass die ganze Kompanie nicht sonderlich gut auf die Adlige zu sprechen war.   „Ja, richtig.“, bestätigte Oscar. Sie kam gerade aus Versailles zurück und dort hatte man ihr es mitgeteilt. Nun zog sie ihre rote Uniform aus und begutachtete sie eine Weile auf dem Gestell. Morgen würde sie sie abgeben müssen und dafür eine neue bekommen. Das war schon ein eigenartiges Gefühl.   André kam von hinten zu ihr heran und legte seine Arme um sie. „Ich werde dir selbstverständlich folgen, ich lasse dich nicht alleine....“   Oscar schmeichelte seine Annäherung und sie genoss es von ganzem Herzen. Aber nur für kurz. Sie musste sich noch umziehen und entfernte sich daher aus seiner Umarmung. „Meinst du, du wirst dort auf deinen Freund treffen?“, fragte sie, während sie sich auf die Bettkante hinsetzte und ihre Paradestiefeln auszog.   „Alain?“ Wie es aussah hatte Oscar ihn auch nicht vergessen können. Andrés Mundwinkel zogen sich leicht nach oben, nachdem Oscar einen zustimmenden Laut von sich gab. „Wäre möglich, dass wir ihn wiedersehen.“, meinte er dazu.   „Würdest du mir bitte die Hose reichen?“, bat Oscar ihn und zeigte auf anderes Gestell, wo ihre Hauskleidung meistens hing.   „Aber natürlich.“ André machte das mit einem Schulterzucken.   „Und auch ein frisches Hemd bitte.“ Zwar wollte Oscar seine Leistung nicht mehr in Anspruch nehmen, aber manche Sachen blieben doch unverändert. Sie zog derweilen ihre weiße Hose von der Uniform aus und legte sie neben sich. Dass André sie dabei aus dem Augenwinkel beobachtete, machte ihr nichts aus. In ihren Augen waren sie bereits Mann und Frau und daher gab es nichts, was sie voreinander verbergen könnten. Nur achtsam müssten sie sein und ihre Liebe zügeln, denn nur so würden sie nicht erwischt werden.   „Hier bitte sehr.“ André kam zurück und legte die Sachen auf dem Bett in ihrer Reichweite.   „Ich danke dir.“ Oscar stand auf und kehrte ihm den Rücken zu. Sie wollte nicht mit bestimmten Körperteilen ihn reizen und ihn damit quälen. Schnell knöpfte sie ihr Hemd auf, um sich ein Frisches anzuziehen und da spürte sie wieder seine Gegenwart dicht hinter sich. „André...“, ermahnte sie ihn, jedoch ihr Herz begann immer schneller zu schlagen.   „Was ist?“ Ganz unschuldig legte er seine Arme um sie und hinderte sie daran, ihre Tat fortzusetzen.   Oscar überlegte angestrengt. Sie musste etwas finden, um ihn von seiner Sehnsucht abzulenken! Denn sie spürte deutlich mit ihrem Hintern, wie es in seinem Schritt immer härte wurde. Auch in ihrer Leistengegend verspürte sie ein Ziehen, dafür aber war es ein falscher Zeitpunkt und Ort. „Und freust du dich darüber, dass du deinen Freund wiedersiehst?“ Oscar drehte ihren Oberkörper, stemmte eine Schulter ihm gegen den Brustkorb und sah zu ihm auf. Ihre Sehnsüchte schienen sich gegen sie verschworen zu haben, denn der verführerische Glanz in seinen sanft grünen Augen ließ sie bis ins Mark erschauern.   „Auch, aber dass du bei mir bist umso mehr.“ André senkte unvermittelt seinen Mund über ihre weichen Lippen und küsste sie. Mit einem Arm hielt er sie um die Mitte und mit der Hand schlüpfte ihr unter das bereits aufgeknöpfte Hemd. Dass ihre Schulter sich gegen ihn drückte und genau davon abhalten sollte, störte ihn gar nicht.   „André, wir müssen den Schein wahren...“, flüsterte Oscar atemlos, aber setzte den Kuss selbst begierig fort. Sie hielt sich an seinem Arm fest, raffte ihm den Ärmel hoch und strich ihm über die festen Muskeln.   „Du hast recht, Oscar...“ Aber auch André konnte nicht gleich aufhören und ließ bereits seine Hände über ihren zartgliedrigen Körper wandern. Die eine Hand erreichte ihre festgespannte Brust und massierte sie, die andere erreichte die Enden des Hemdes, schob sie auseinander und strich ihr an dem Flaum ihres Venushügels.   Oscar stöhnte wollüstig auf, als die Finger seiner linken Hand ihre Brustwarze sanft um streichelte und die der rechten Hand in ihre feuchte Höhle eindrangen. Ihre Schenkel bewegten sich auseinander und boten ihm mehr Spielraum. „André... Bitte... bitte, lass uns aufhören... sonst... sonst kommt noch jemand...“, murmelte sie mahnend, aber dann drehte sie sich mit ganzem Körper zu ihm um, zog ihm schon selbst das Hemd aus der Hose raus und schlüpfte mit ihren Fingern darunter. Wie betörend es doch war, seine Haut wieder zu fühlen und zu spüren...   „In Ordnung, Oscar... wir hören gleich auf... nur noch ein bisschen...“ André war durch ihre plötzliche Umdrehung gezwungen mit seinen Liebkosungen aufzuhören. Aber das hielt ihn nicht davon ab, seine Hände gleich wieder einzusetzen. Er raffte ihr das Hemd am Rücken hoch, fasste kräftig an ihren Hintern und drückte sie fest gegen seinen Schritt. Wie herrlich es war, sie wieder zu spüren und diese Wonne zu genießen. „Ich will dich...“   „Wir müssen vorsichtig sein...“ Oscars Finger öffneten ungeduldig seinen Hosenbund, umfasste seine harte Männlichkeit und massierte sie auf und ab als wäre sie ausgehungert. „Ich will dich auch...“   André stöhnte auf und vergrub seine Finger fester in ihre weiche Haut. „Ja, Oscar, wir müssen vorsichtig sein...“   Ohne den Kuss zu unterbrechen, ging Oscar rückwärts und zog André mit sich, bis zu ihrem Bett. „Mach das aber schnell...“ Sie ließ sich auf die weiche Matratze rücklings fallen und spreizte ihre Schenkel empfangsbereit auseinander.   „Was auch immer du wünschst...“, hauchte er keuchend und war schon über sie. Mit Macht, der aufgeladener Frust wegen der Enthaltsamkeit der letzten Monate und den gestrigen Ereignissen, drang er in sie ein.   Oscar biss sich auf die Unterlippe und unterdrückte ein lautes Stöhnen, als er seine Hüfte sogleich schnell in Bewegung setzte. Sie schlang ihre schlanken Beine um seine Mitte, zog seinen Kopf zu sich herab und küsste ihn wild. Sie hob und senkte ihr Becken im Takt seiner Stöße und wollte immer mehr und mit jedem Stoß wölbte sie sich begierig zu ihm. Das Hemd rutschte ihr immer mehr von einer Schulter herab und entblößte gänzlich ihre Brust. André hörte mit seinen auf und ab Stößen in ihr auf, neigte sein Gesicht zu ihrer Erhebung und liebkoste ihre aufgerichtete Brustwarze mit seiner Zunge.   „Nicht aufhören... mach weiter...“, keuchte Oscar unter ihm, hob und senkte ihr Becken selbst immer schneller und forderte ihn dazu auf, seine Bewegungen fortzusetzen und André tat dies wie geheißen – mit Vergnügen. Der Höhepunkt kam bei beiden genauso schnell und unerwartet, wie ihre Zusammenkunft.   „Das war knapp...“, schnurrte Oscar, als André sich aus ihr herauszog und sich neben sie legte. Dennoch sah sie zufrieden und glücklich aus.   „Ja...“, André strich ihr zwischen den Schenkeln, über den hellen Flaum und verharrte dann mit seiner Hand auf ihrem leicht gewölbten Bauch. „Bist du dir sicher, dass es vom Essen kommt?“   „Ich bin mir sicher, André, denn mir ist weder übel, noch spucke ich tagtäglich das Essen aus mir heraus“, versicherte ihm Oscar erneut und strich ihm die vom Schweiß feucht gewordene Haarsträhne aus der Stirn.   André strich mit seiner Hand höher, zu ihren prahlen Rundungen und umfasste eine davon sanft. „Aber deine so schöne Erhebungen sind straffer geworden und wirken größer.“   „Das hat nichts zu bedeuten.“ Oscar versuchte ihn zu beruhigen. Wie umsichtig und umsorgt er doch war – aber diesmal allerdings unbegründet. „Mach dir bitte darüber keine Gedanken mehr. Es ist alles in Ordnung.“   André seufzte. Aber vielleicht hatte sie recht und er wechselte daher das Thema. „Am liebsten würde ich den ganzen Tag und die ganze Nacht mit dir so verbringen... Warum müssen wir uns nur verstecken?“   „Du weißt warum.“ Oscar saß auf und griff nach ihrer braunen Hose, die neben ihr lagen. „Ich will nicht, dass mit dir etwas geschieht und du den Ärger bekommst.“ Dann stand sie auf und suchte nach einem Waschtuch in einer der Schubladen von ihrer Kommode.   Im Gegensatz zu Oscar hatte André es leichter beim Anziehen. Er schob seine Hose nach oben, stülpte sein Hemd wieder rein und machte seinen Hosenbund zu, während Oscar erst die Feuchte zwischen ihren Schenkeln abtrocknete, ihr Hemd auswechselte und erst dann ihre Hose anzog. „Und ich will nicht, dass etwas mit dir geschieht.“ Er kam wieder zu ihr.   Oscar war gerade selbst fertig mit ihrer Hose und anstelle von Stiefeln zog sie ihre Hausschuhe an. Dann sah sie ihren Geliebten von Angesicht zu Angesicht an. „Wir werden es schon durchstehen, André... Und wenn alles vorbei ist, dann heiraten wir...“   André verstand und zog sie schwungvoll an sich. Sie meinte sicherlich, wenn das ganze Versteckspiel und all ihre Sorgen vorbei sein würden... „Ja, das werden wir... Ich werde dich nie in meinem Leben verlassen... Ich liebe dich, mein ganzes Leben lang...“   „Geliebter, ich liebe dich auch aus tiefstem Herzen... Nur mit dir, für dich werde ich mein Leben führen...“ Oscar reckte zu ihm ihren Hals und André schenkte ihr den letzten Kuss, bevor sie sich trennen und sich wieder wie alte Freunde benehmen mussten.   „Oscar! Wo steckst du? Oscar!“, vernahmen alle beide die tiefen Ausrufe und kaum sie sich erschrocken voneinander trennen konnten, wurde im Salon bereits die Tür mit einer gewaltigen Wucht aufgerissen. Kapitel 23: Unnachgiebig ------------------------ General Reynier de Jarjayes, ein treuer und stolzer Untertan des Königs, war zu tiefst empört und fassungslos, was er heute zu Ohren in Versailles bekommen hatte. Das gab es doch nicht! Was fiel dieser Tochter ein, das zu tun! Er musste sie unbedingt zur Rede stellen!   Aufgebracht stürmte er durch sein Anwesen und seine tiefe Stimme hallte grollend in allen Ecken: „Oscar! Oscar!“ Draußen auf dem Hof und in dem Arbeitszimmer war sie nicht zu finden. Er erreichte die Küche, wo Sophie gerade das Geschirr abwusch. „Kannst du mir sagen, wo Oscar steckt?“   Sophie drehte sich überrascht zu ihm um. „Vorhin war sie doch auf ihrem Zimmer.“   Natürlich, dort hatte er noch nicht nachgeschaut. „Oscar!“ Mit voller Wucht riss er die Tür zu ihrem Salon auf, aber auch dieser war leer. Allerdings hörte er aus ihrem Schlafzimmer raschelnde Geräusche. Also war sie vielleicht beim Umziehen. Er setzte seine Füße beherrscht in Bewegung. „Oscar, komm da raus, ich muss mit dir sofort reden!“   Im Bruchteil weniger Sekunden geschah nichts, aber dann kam sie und ordnete die Ärmel an ihrem Hemd. „Was gibt es, Vater?“   Sie blieb aufrecht vor ihm stehen und ließ sich nichts anmerken. Reynier begutachtete sie flüchtig, bevor er mit seinen Vorwürfen einsetzte: „Wieso hast du deinen Dienst beim königlichen Garderegiment quittiert?! Du wärst demnächst ein General geworden! Bedeutet dir das etwa nichts?“   „Nein, Vater.“ Oscar merkte rasch, wie die Zornesröte im hartgesottenen Gesicht ihres Vaters langsam hochstieg und setzte daher gleich zu einer Erklärung an: „Verzeiht, falls ich Eure Erwartung enttäusche, aber ich wollte selbst über mein Leben bestimmen und deswegen mache ich einen Neuanfang. Ich möchte meine Verdienste und Rang selbst erkämpfen.“   „Was sagst du?! Einen neuen Anfang? Bist du nicht mehr bei Sinnen, Oscar?“ Das war doch undenkbar! Was sollten denn die Menschen über solch eine einfältige Aktion denken?! Es würde ganz bestimmt schon bald der ganze Hof darüber reden und die Familie der de Jarjayes deshalb verspotten! Aber vielleicht lag es auch an ihm selbst... Vielleicht war ihm bei der Erziehung ein Fehler unterlaufen... „Ich denke, ich habe dir einfach zu viel durchgehen lassen!“   Auch da behielt Oscar ihre aufrechte Haltung. Sie würde auf keinen Fall klein beigeben. Egal was geschehen mochte und was auf sie zukäme! Sie hatte es bei Ihrer Majestät durchgestanden, also würde es auch bei ihrem Vater gehen – wobei sie bei der Königin anders an die Sache herangehen musste als bei ihrem Vater. Und Ihre Majestät war im Charakter wesentlich weicher und nachgiebiger... Trotzdem! Gerade deshalb würde sie nicht von ihrem Vorhaben und ihren Plänen abweichen! „Denkt was Ihr wollt, Vater, aber das ändert nichts an meiner Entscheidung.“   „Wie kannst du es nur wagen...“, knurrte Reynier schnaubend und seine Nasenflügel bebten dabei. Seine Tochter wagte auch noch ihm die Stirn zu bieten! Ihm – ihrem Erzeuger und Erzieher! Welch eine Undankbarkeit dafür, dass er sie wie einen Mann erziehen lassen und später bei dem früheren König dafür eingesetzt hatte, dass sie in das königliche Garderegiment aufgenommen wurde! Was ging nur in ihrem blondgelockten Kopf überhaupt vor?!   Oscar rührte sich nicht vom Fleck und senkte auch nicht schuldbewusst den Blick – unbeugsam wie eh und je... „Ich bitte Euch inständig, überlasst die Entscheidung über mein Leben mir selbst...“   Die Ohrfeige von ihrem Vater ließ ihren Satz unvollendet. Hart und brennend streifte die raue Handfläche ihres Vaters an ihrer Wange und brachte sie beinahe ins Straucheln. Dabei wurde ihr leicht schwindlig, aber auch da richtete sie sich gerade auf und sah dem General fest und unnachgiebig in die Augen. Reyniers Hand zwirbelte nach dem Schlag selbst und er ballte sie zur Faust. „Wie du willst...“ Er sah ihr deutlich an, dass er ihre Meinung nicht ändern würde können, egal wie oft er sie ohrfeigen würde – ihr Starrsinn war unüberwindbar. Dennoch konnte er nicht einfach so wieder gehen und sie ohne Mahnung stehen lassen. Denn das würde bedeuten, dass er nachgegeben hatte und das durfte nicht sein! „...aber beschwere dich danach nicht, wenn etwas daneben geht!“   „Das werde ich sicherlich nicht tun, Vater.“ Oscar atmete innerlich auf. Sie hatte so gut wie gewonnen. Und noch leichter fühlte sie sich, als sie nicht ohne geschwellter Brust hinzufügte: „André ist doch bei mir.“   „Gut.“ Reynier beäugte sie weiterhin mit seinem typischen, eisigen Blick und auch sein schroffer Tonfall besserte sich keinen Deut. „Wenigstens einer wird auf dich ein Auge haben. Enttäusche mich nicht!“ Mit den Worten stampfte er einfach aus Oscars Salon hinaus und knallte hinter sich die Tür zu.   In Oscar stieg die Weißglut hoch. Was fiel ihrem Vater ein, über sie immer noch zu bestimmen! Es war ihr Leben und niemand außer André durfte sich dort einmischen! Als hätte man ihn gerufen, hörte sie seine Schritte hinter sich und kurz darauf spürte sie schon seine Gegenwart. Wieder legte er um sie seine Arme und sie lehnte sich etwas entspannter an ihn. Ach, wie gut das doch tat... Sie spürte seinen warmen Atem auf ihrem Scheitel und wie er dann sein Gesicht in ihrem Haar vergrub. „Es wird alles gut, Oscar...“   „Danke...“ Oscar schloss die Augen, holte tief Luft und atmete sie etwas ruhiger durch die Nase aus. „Ich weiß das zu schätzen...“   „Dennoch...“ André hob auf einmal seinen Kopf, strich ihr die Haarsträhne hinters Ohr und streichelte sanft an der leicht angeschwollenen Wange. „...mir gefällt es nicht, wie er dich immer behandelt. Warum muss er dich gleich immer schlagen?“   „Weil ich in seinen Augen es nicht besser verdient habe.“ Obwohl Oscar die Berührung ihres Geliebten angenehm war, entfernte sie trotzdem ihren Kopf von seiner Hand und entriss sich etwas aus seiner Umarmung.   André entrann einen tiefen Seufzer. Wenn es nach ihm ginge, hätte er dem General sofort Einhalt geboten und die Ohrfeige verhindert, als dieser die Hand gegen Oscar erhoben hatte. Dass er das nicht getan hatte, schmerzte ihm genauso wie Oscar die brennende Wange. Er hatte es in ihrem Schlafzimmer kaum aushalten können und war gezwungen die Tat des Generals aus seinem Versteck nur tatenlos mit ansehen zu können. Denn wenn er raus gekommen wäre, dann wäre Oscars Vater bestimmt misstrauisch geworden und unangenehme Fragen gestellt: Was er da im Schlafgemach von Oscar mache und warum er sich dort versteckte. André vermochte nicht an die Antworten zu denken und auch nicht, was danach womöglich passiert wäre... In diesem Fall war es gut, dass er in Oscars Zimmer bis zum Schluss ausgeharrt hatte. Und das war ja auch nicht das erste Mal, dass der General seine Tochter auf diese Weise bestrafte oder züchtigte. Nur waren es etliche Jahre her, dass Reynier zum letzten Mal gegen sie seine Hand erhoben hatte und damals waren es andere Zeiten gewesen. Sachte legte André Oscar die Hände auf ihre schmalen Schultern und spürte gleich sofort, wie angespannt sie wieder war - nicht seinetwegen, sondern weil sie anscheinend an ihren Vater denken musste. „Nimm es dir nicht so zu Herzen, was dein Vater zu dir gesagt hat...“, sagte er hinter ihr leise. „Ich bin doch bei dir...“   Die Anspannung wich sogleich etwas von ihr. „Ach, André...“ Sie ließ sich nach hinten fallen und lehnte sich an seine breite Brust. „Wenn ich dich nicht hätte...“ In seinen Armen fühlte sich Oscar schon wesentlich wohler.   André zog seine Liebste etwas fester an sich. „Und wenn ich dich nicht hätte, Oscar... dann wäre mein Leben sinnlos...“   Oscar runzelte sogleich die Stirn und ihre Stimme nahm einen bitteren Ton an. „Rede doch nicht immer gleich so ein Unsinn, André!“   „Ist doch aber wahr...“ murmelte André und küsste sie auf die Schläfe.   Zugegeben, er hatte gar nicht so unrecht... „Nun gut, ich will mit dir nicht streiten. Ohne dich wäre ich auch bestimmt nicht weit gekommen.“, gab Oscar anschließend zu.   André schmunzelte kaum merklich. Oscar schien in seinen Armen sich vollkommen zu entspannen und das gefiel ihm. „Wir gehören für immer zusammen und das ist das, was uns zu einem Ganzen macht.“   „Da hast du wohl recht...“ Oscar genoss noch etwas seine Umarmung und dann entfernte sie sich unwillig von ihm. „Lass uns einen längeren Ausritt machen, André.“   „Gerne, Oscar.“ Kapitel 24: Unterredung ----------------------- In einer Woche sollte Oscars neuer Dienst beginnen. André verschwand wieder jeden Abend aus dem Haus und suchte die Gasthöfe auf, die er bereits kannte - bis er endlich in einem von ihnen fündig wurde. „Alain!“ Er erkannte seinen Freund unter den anderen Söldnern sofort - dessen rotes Halstuch verriet ihn schon von Weiten.   „Sieh einer an!“ Alain lachte und seine Kameraden winkten dem Neuankömmling auch gleich zu. „Komm zu uns, André! Wir haben dich hier schon lange nicht mehr gesehen!“   „Das stimmt.“ André gesellte sich gerne zu ihnen und auf ein gutes Wiedersehen ließ er sich sogar auf ein Bierchen überreden.   „Wie geht es dir?“, löcherte ihn Alain sogleich aus. „Du strahlst so in einem neuen Glanz.“   „Alles bestens.“ André grinste über beide Ohren wie ein frischverliebter Jüngling. Dann sah er von Alain in die Runde und wirkte etwas ernster. „Ich wollte dich, beziehungsweise euch, um einen Gefallen bitten...“   Alain und seine Kumpanen spitzten sogleich die Ohren. André holte tief Luft. „Ich werde nächste Woche euch in die Kaserne beitreten.“   „Das ist doch gut! Wir freuen uns sehr auf dich!“ Die Gesichter der Männer hellten sich auf. Bis auf Alain. „Hmmm... Und nächste Woche bekommen wir einen neuen Befehlshaber. Für einen Moment dachte ich, dass du es vielleicht sein könntest, aber dafür passt einiges nicht zusammen. Zum Beispiel, der soll adliger Herkunft sein.“   „Nein, Alain, ich bin nicht der neue Kommandant.“, klärte André ihn auf. Er war geneigt, etwas preisgeben zu müssen, damit sein Vorhaben wenigstens ein bisschen funktionierte. „Aber ich weiß, wer das sein wird. Ich kenne sie und deswegen wollte ich euch um einen Gefallen bitten...“   „Sie?“ Alain wunderte sich, aber sogleich ging ihm ein Licht auf. „Du meinst doch nicht etwa deine...“   „Ganz genau, Alain, wir beide treten den neuen Dienst in der Kaserne an.“ André achtete sorgsam auf die Reaktionen bei den Soldaten am Tisch.   „Wir bekommen eine Frau als Kommandant?“, staunte einer.   „Und was für einen Gefallen soll das sein?“, wollte Alain dagegen stutzig wissen.   „Nun, sie ist zwar eine Frau und gehört dem Adel an, aber sie ist gutherzig und ganz anders als Ihresgleichen.“ André war bewusst, dass er womöglich auf eine Ablehnung stoßen würde, aber versuchen könnte man es ja trotzdem... „Deshalb wollte ich euch bitten, sie nicht nach ihrem Stand zu beurteilen und ihr es etwas leichter machen...“   „Aber sie gehört doch dem Adel an!“, erboste sich ein anderer Söldner.   André versuchte so gut wie möglich die Sache zu verharmlosen. „Wie ich bereits sagte, Oscar ist nicht wie alle Adligen, sie setzt sich für die Armen und Schwachen ein...“   „Nenne uns ein Beispiel!“, verlangte ein dritter am Tisch misstrauisch.   „Also gut...“ André überlegte nicht lange und offenbarte ihnen oberflächlich die Sache in Arras. „...und zu dem noch, sind wir zusammen.“, fügte er hinzu. Auch das stand zwar bei ihm nicht auf dem Plan, aber vielleicht würde das die Männer über Oscar eine andere Meinung bilden lassen.   Die Gesichter der Söldner starrten ihn erst einmal verdattert an. „Sag das doch gleich...“, brachte einer von ihnen verblüfft von sich.   Alain hielt sich derweilen aus dem Gespräch heraus. Er überlegte, beobachtete seine Kumpanen und dann erst äußerte er seine Bedenken: „Das werden wir sehen, ob wir dir diesen Gefallen erfüllen können. Denn sie ist eine Frau und in der Kaserne sind viele auf Adlige nicht gut zu sprechen. Besonders wenn es um aristokratischen Frauen geht.“   Das klang für André schon nach einem kleinen Hoffnungsschimmer. „Mir würde es ausreichen, wenn ihr das tun würdet.“   „Du bist ein guter Kerl, Kumpel.“ Einer der Söldner, der direkt neben ihm saß, legte ihm die Hand auf die Schulter. „Wir können dir nicht viel versprechen, aber wir werden es versuchen.“   „Ich danke euch!“ Andrés Gesicht erhellte sich. Das war mehr als er erhofft hatte.   „Keine Ursache!“ Alain grinste listig. „Aber nur wenn du mit uns noch ein Bier trinkst und uns auf deine Oscar vorbereitest! Immerhin wollen wir wissen, mit wem wir es zu tun bekommen und im Gegenzug schwöre ich dir, dass ihr zwei zusammen seid, bleibt nur hier im Raum.“   „Ja, André, das schwören wir auch!“, erklang es aus einem Mund nach dem anderen. „Auf uns kannst du dich verlassen!“   „Und wie klingt das Kumpel? Bist du einverstanden?“ Alain zwinkerte ihm dabei zu und hob schon sein Bierglas zum Anstoß.   André überlegte nicht lange, denn das würde noch mehr Sicherheit und Gewissheit bedeuten und dass diese Männer hier am Tisch zu ihm stehen würden. „Mit vergnügen.“ Er hob auch sein Bier und stieß kräftig mit allen an.       - - -       So wie sich André es erdacht hatte, so wurde das auch. „Ich bin schon sehr gespannt, diese Truppe anzuführen“, vertraute ihm Oscar an, als er sie am ersten Tag ihres neuen Dienstes im Offizierszimmer aufsuchte. Die Truppeninspektion war auf dem Exerzierplatz gut verlaufen und die Söldner hatten sie ordnungsgemäß begrüßt.   André war zufrieden und hatte sich danach bei Alain und seinen neuen Freunden dafür bedankt. Diese hatten ihm nur beglückwünschend auf die Schulter geklopft und meinten, so schlecht sähe Oscar nicht aus. Sie waren neugierig und gespannt darauf, wie sie sich weiter als Kommandant erweisen würde und würden jederzeit zu ihm als Freund und Kamerad stehen. Auf diese Männer konnte sich André blindlings verlassen. Es gab nur ein kleines Hindernis. Die anderen Söldner, die nicht über ihren neuen Kommandanten eingeweiht waren, akzeptierten Oscar als ihren Befehlshaber nicht. Nicht nur weil sie eine Frau, sondern auch noch weil sie eine Adlige war und früher dem königlichen Garderegiment gedient hatte. Sie begannen Oscar das Leben schwer zu machen und zeigten ihr deutlich deren Abneigung. Oscar nahm das gelassen hin, sie stellte sich halt gerne neuen Herausforderung.   Etwa in der zweiten Woche ihres neuen Dienstes schrieb ein Söldner sogar eine Beschwerde an den König. Dieser bestellte den General de Jarjayes zu sich und Reynier nahm sich vor, mit seiner Tochter ein ernstes Wörtchen wegen den Problemen in der Söldnertruppe zu wechseln.   „Sei aber nicht streng zu ihr, mein Gemahl.“, bat ihn seine Frau an einem späten Nachmittag, als sie beide gerade dabei waren, nach Versailles aufzubrechen.   „Wie ich zu Oscar bin, hängt von ihr selbst ab.“, brummte der General ausweichend. Er hatte es ja geahnt, dass sie nicht lange alleine klar kommen würde und dies bestätigte sich nun deutlich!   Emilie zog nachdenklich ihre Brauen zusammen. „Denkst du nicht, dass Oscar sich in der letzten Zeit verändert hat?“   „Das liegt bestimmt, weil ihre neue Truppe ihr nicht gehorchen will. Ich hoffe, dass sie mir noch zuhören und mir nicht widersprechen wird. Sonst muss ich dem Rat seiner Majestät folgen und sie der Last als Befehlshaber entbinden. Für immer!“   „Das meinte ich nicht.“ Emilie überlegte, ob sie ihrem Mann gegenüber das überhaupt erwähnen sollte. Aber andererseits... „Ich meine, dass Oscar in die Breite geht... Und Sophie sagte, dass sie mehr als sonst isst, was ganz und gar nicht ihre Art ist...“   „Das liegt bestimmt an der fehlenden Beschäftigung und weil die Söldner sie nicht akzeptieren...“ Der General legte sich bereits das Gespräch mit Oscar zurecht.   Emilie seufzte, das meinte sie auch nicht. Sie hatte den Verdacht und versuchte es ihrem Gemahl nur schmackhafter zu machen. „...kannst du dir vorstellen, dass unsere Tochter vielleicht schwanger sein könnte?“   „Welche Tochter meinst du?“ Reynier sah sie wunderlich von der Seite an. Konnte sie nicht etwas genauer sprechen? Sie hatten doch insgesamt fünf Töchter, wenn man Oscar nicht dazu zählte! „Soweit ich weiß, hat jede von ihnen schon einen Haufen Kinder.“   „Alle bis auf Oscar...“, entfuhr es Emilie so leise und vorsichtig von den Lippen, dass ihr Gemahl Mühe hatte, sie zu verstehen.   Reynier verstand nur den Namen seiner Tochter und ihm dämmerte es langsam, worauf seine Frau eigentlich hinaus wollte. Er starrte sie vorerst belustigt an. „Du willst mir doch nicht weiß machen, dass Oscar schwanger ist?! Ausgerechnet Oscar, die ich wie einen Mann erzogen habe?“   „Sie ist und bleibt aber trotzdem eine Frau.“ Emilie ließ sich nicht beirren. Dass ihr Mann nicht gleich wütend aufbrauste, betrachtete sie als ein gutes Zeichen. „...und Sophie meinte, Oscar habe schon seit fünf Monaten keinen Monatsfluss...“   „Das bedeutet noch gar nichts!“ Reynier lachte ungläubig auf. „Sophie hat sich bestimmt geirrt, sie ist alt, und du glaubst jedem erdenklichen Tratsch.“   Als hätte man sie gerufen, klopfte die alte Haushälterin an der Tür und nach einem „Herein“ trat sie in den Salon. „Monsieur, ein gewisser Graf de Girodel ersucht Euch. Er bietet um eine Unterredung.“   „Führe ihn in mein Arbeitszimmer, ich komme gleich.“ Reynier beachtete seine Frau nicht mehr weiter.   „Ja, General.“, sagte Sophie und huschte hinaus.   Reynier rückte noch die Brosche an seinem Halstuch vor dem Spiegel zurecht und verließ selbstherrlich den Gemeinschaftssalon. Emilie sah ihm besorgt nach. Ihr mütterliches Herz besagte ihr, dass etwas Schreckliches passieren würde, wenn sie nicht rechtzeitig einschritt...       - - -       „Was führt Euch zu mir, Graf de Girodel?“, fragte der General nach der formellen Begrüßung seinen Gast musternd.   Victor legte auf einmal sich die Hand aufs Herz und senkte ehrerbietig sein Haupt. „Ich möchte Euch um die Hand Eurer Tochter bitten.“   „Wie bitte?“ Reynier weiteten sich die Augen und gleichzeitig kamen ihm die Worte seiner Frau durch den Kopf. „Also stimmt es doch noch...“   „Was meint Ihr?“ Girodel richtete sich auf. Er verstand nichts.   Reynier wurde immer grimmiger, aber er beherrschte sich noch und behielt krampfhaft seine höfischen Manieren. „Deswegen wollt Ihr also meine Tochter zu Frau nehmen, weil Ihr sie geschwängert habt... Gebt es zu!“   „Wie bitte?“, Girodel war vor den Kopf gestoßen, was man ihm da unterstellte. „Nein, ich schwöre, das stimmt nicht!“, protestierte er empört. „Ich habe nie Eure Tochter angerührt!“   Das reichte! Die Geduld des Generals war am platzen. „Wenn Ihr sie nicht aus Vernunft heiraten wollt, weswegen denn sonst?!“   „Weil ich sie liebe, seit ich ihr begegnet bin...“, gestand Girodel im gedämpften Tonfall.   Damit hatte Reynier nicht gerechnet. So etwas wie Liebe und derartige Gefühle existierten in seinen Augen nicht und waren meistens leeres Geschwätz. „So, so...“, brummte er verstimmt. „Ich werde über Euere Bitte nachdenken.“   „Ich danke Euch.“ Girodel wirkte auch etwas beruhigt, aber eine erwähnte Tatsache ging ihm doch nicht mehr aus dem Kopf. „Aber wenn Ihr sagt, dass Lady Oscar ein Kind erwartet und wenn das stimmt, dann würde ich meinen Antrag zurückziehen... Ich möchte nicht eine Frau heiraten, dessen Herz schon vergeben ist und die schon von jemand anders schwanger ist...“   „Ich verbiete solche Ausdrücke über meine Tochter!Sie ist kein leichtfertiges Mädchen!“ Trotz dass Reynier innerlich auf Oscar wütend war, gab es immer noch so etwas wie Anstand und dies musste bewahrt werden. „Aber wenn die Sache stimmt und Ihr nicht der Vater seid, wer denn dann?!“   „Wenn ich das wüsste, General...“ Girodel hob und senkte seine Schulter. „Oder wartet..“, In ihm kam auf einmal eine Vermutung. „Lady Oscar ist doch immer in Begleitung ihres Freundes André...“   „Was unterstellt Ihr! André ist kein Adliger...“ Reynier stockte. Deshalb also hatte Oscar das königliche Garderegiment verlassen! „Ich werde der Sache trotzdem nachgehen und mehr in Erfahrung bringen!“   „Darf ich auf Eure Tochter warten?“, erklärte sich Girodel aus unerklärlichen Gründen bereit, ihm bei den Nachforschungen behilflich zu sein. „Vielleicht stelle ich dabei etwas fest, was uns weiter hilft...“   Reynier sah ihn kurz an. „Kein schlechter Gedanke, Graf.“, entschied er sich. „Ihr entschuldigt, ich muss nach Versailles.“   „Danke, General.“       ---       „Ich muss etwas unternehmen... Was für eine Schande, wenn das überhaupt wahr ist!“, brummte der General in der Kutsche und konnte seinen Missmut kaum noch zügeln.   „Reg dich nicht auf, mein Gemahl. Oscar müsste sich verliebt haben, um sich auf so etwas einzulassen. Sie ist doch sonst überlegen und vernünftig...“, versuchte Emilie ihn zu beschwichtigen.   „Wenn es wahr sein soll, dass Oscar mit André eine Affäre hatte und tatsächlich schwanger ist, dann werde ich über sie beide richten!“, schäumte er beinahe außer sich vor Wut.   „Du willst doch nicht über eine Schwangere richten?“ Emilie bewahrte äußerlich eine Ruhe, aber innerlich zitterte sie vor Angst. „Das ist unehrenhaft.“, fügte sie mit der Hoffnung hinzu, ihn milder zu stimmen.   Der scharfe Blick von ihrem Mann jagte ihr die Gänsehaut über den ganzen Körper, aber sie würde nicht aufgeben. Reynier las das ihrem Gesichtsausdruck ab – das waren typische Fraueninstinkte, sein Kind mit allen Mitteln zu schützen. „Da hast du recht...“, gab er doch noch etwas nach. „Ich werde mit dem König sprechen und mich dann entscheiden!“ Kapitel 25: Guter Hoffnung -------------------------- Oscar unterbrach ungewollt den Abschiedskuss als erste. „Ich muss los. Morgen bin ich wieder hier.“   „In Ordnung.“ André lockerte seine Umarmung. Es war schwer sie gehen zu lassen und etwas merkwürdig, ohne sie in der Kaserne zu verweilen, aber darauf hatten sie sich gerade geeignet, um den Schein noch etwas mehr zu wahren. „Geh nur und ich halte hier für dich die Stellung.“   „So sei es.“ Zusammen mit André verließ sie das Offiziersbüro und dann trennten sich ihre Wege. André ging in sein neues Quartier und Oscar zu den Stallungen. Wie immer schnell und ohne anzuhalten trieb sie ihr Pferd in Richtung Heim, denn die Sonne ging bereits unter und der Abend brach an. Als sie bei dem Anwesen ankam, war es bereits dunkel.   „Lady Oscar, willkommen Zuhause, mein Kind“, begrüßte Sophie ihren Schützling wie immer warmherzig und fügte noch gleich hinzu: „Wir haben Besuch.“   „Wir haben Besuch?“ Oscar blieb mitten auf der Treppe zu dem oberen Stockwerk stehen. Ein Besuch hatte ihr gerade noch gefehlt! Sie wollte nur noch auf ihr Zimmer, sich der Uniform entledigen und schlafen gehen, um morgen wieder beizeiten in der Kaserne und auch bei André zu sein. Aber vielleicht war dieser Besuch nicht einmal wichtig. „Will er zu mir?“   „Zu wem denn sonst.“, konterte Sophie und musterte ihren Schützling unauffällig von oben bis unten. Was sie dabei feststellte, behielt sie lieber für sich. „Er wartet schon den ganzen Abend auf Euch.“   Wohl oder übel musste Oscar in den Gemeinschaftssalon, wo meistens die Gäste empfangen wurden. Sie wollte zudem nicht unhöflich sein. Wer könnte dieser Besuch nur sein? Oscar war äußerst überrascht, als ihr einstiger Untergebener Graf de Girodel sich vom Sessel erhob und sie mit einer höflichen Verbeugung begrüßte. „Ich freue mich, Euch nach so einer langen Zeit wiederzusehen.“ Er freute sich wirklich. Nur mischte sich dazu noch ein mulmiges Gefühl und unwohle Gedanken an das Gespräch mit dem General. Wenn das stimmte, dann war Lady Oscar eine bewundernswerte Schauspielerin. Denn ihr sah man keine Anzeichen an – weder dass es ihr schlecht oder übel ging, wie es bei üblichen schwangeren Frauen meistens der Fall war.   „Was denn, Ihr seid der Besuch?“ Die Überraschung verwandelte sich bei Oscar doch noch in Freude. Sie hätte schon gerne gewusst, wie es ihrer ehemaligen Garde ohne sie erging. „Ihr habt doch nicht etwa Schwierigkeiten das königliche Garderegiment zu führen?!“   „Nein, bisher lief es alles reibungslos.“ Girodel hatte Mühe nur in ihr Gesicht zu schauen und seinen Blick nicht über ihre Statur zu schweifen. Und dabei verstärkte sich das miserable Gefühl in ihm... „Ich bin hier, weil ich Euren Vater etwas fragen wollte.“   „Meinen Vater?“ Was auch immer es war, es machte Oscar immer neugieriger. „Aber lasst uns trotzdem ein Gläschen Wein auf unser Wiedersehen trinken.“ Sie sah über die Schulter: „Sophie komm...“   „Lasst nur.“, hielt Girodel sie davon ab, die alte Haushälterin zu rufen. Er hatte ihre Ablenkung ausgenutzt und seinen Blick auf ihre Mitte doch noch geworfen. Was er sah, traf ihn hart und bestätigte in seinen Augen all das, was der General Stunden zuvor ihm vorgeworfen hatte: nämlich seine Tochter geschwängert zu haben. Das war eine falsche Anschuldigung und nun auch noch eine bittere Erkenntnis, dass Lady Oscar sich offensichtlich doch noch auf eine Liebesaffäre eingelassen hatte – mit einem anderen Mann. Victor wollte nur so schnell wie möglich von hier weg. „Ich muss sowieso los.“   Oscar sah ihn etwas irritiert wieder an. „Warum so plötzlich? Ich denke, Ihr hättet auf mich gewartet...“   Girodel lehnte ihre Einladung weiterhin höflich ab, obwohl es ihm große Mühe bereitete, vor ihr zu stehen. „Das ist sicher richtig. Aber wisst Ihr, es macht mich schon glücklich, Euch wenigstens einmal wiedergesehen zu haben. Verschieben wir den Wein auf ein anderes Mal.“ Wenn es überhaupt einen anderes mal geben würde und er jemals mit ihr den sogenannten Wein bereit war zu trinken... Denn er hat genug gesehen. Die kleine Bauchwölbung unter der kompakten Uniform von Oscar sagte schon mehr aus als tausend Worte. Er verabschiedete sich mit dem traurigen Gedanken, dass er sie nicht zur Frau nehmen würde...   Oscar verstand weder seinen Besuch, noch seinen plötzlichen Aufbruch. „Sag mal, weißt du was Girodel von meinem Vater wollte?“, fragte sie Sophie aus, nachdem der Besuch fort war.   „Zufällig stand die Tür zu dem Raum offen, in dem die beiden miteinander sprachen. Er hatte Euren Vater um Eure Hand gebeten...“ Sophie verschwieg nur die belauschte Vermutung und schweifte vorsichtig über den leicht gerundeten Bauch von Oscar. Besorgnis stieg in ihr hoch und auch Angst davor, was kommen würde.   „Wie bitte?“, empörte sich fassungslos ihr Schützling.   „Und Euer Vater hat geantwortet, dass er darüber nachdenken wird...“ Sophie war noch mehr als besorgt, aber tun konnte sie momentan nichts. Sie musste ihren Enkel in der Kaserne besuchen, vielleicht wusste er Bescheid und würde es ihr verraten.       Heiraten? Sie sollte Girodel heiraten? Sie liebte ihn doch gar nicht! Ihr Herz, ihre Liebe, ihr Sein gehörte doch bereits einem anderen Mann: André! Oscar konnte es immer noch nicht glauben. Sie befand sich auf ihrem Zimmer und machte sich bettfertig. Das was Sophie ihr offenbart hatte, wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen. In ihr Nachthemd umgekleidet ging sie an ihren Spiegeltisch, nahm die Haarbürste und während sie damit ihr widerspenstiges, lockiges Haar glättete, betrachtete sie ihr Profil gegenüber. Bisher hatte sie sich noch nicht so intensiv betrachtet, aber jetzt fiel ihr die leichte Wölbung ihres Bauches noch mehr auf. Nein, schwanger war sie nicht. Denn, wie sie schon André gesagt hatte, verspürte sie weder Übelkeit, noch hatte sie Kopfschmerzen und musste nicht am frühen Morgen das Abendessen vom Vortag übergeben. Es war alles in Ordnung und sie fühlte sich bestens! Und zudem noch hatte sie am Hofe zu genüge gehört, dass bei Frauen sogenannte Muttergefühle und eine Vorahnung hochstiegen, wenn sie guter Hoffnung waren... Aber auch davon verspürte Oscar nichts und lächelte leise ihr Spiegelbild an. Wenn das irgendwann mal doch noch passieren sollte, dann würde sie das definitiv bemerken – schon alleine von ihrem Gefühl.   Oscar legte die Haarbürste auf den Spiegeltisch und ging ins Bett. Sie verdrängte die Gedanken an die werdenden Mütter und überdachte lieber, wie sie ihren Vater davon abbringen könnte, sie an Girodel zu verheiraten! Ihm vielleicht die Wahrheit sagen? Die Wahrheit, dass sie schon längst mit André liiert war und mit ihm eine Liebesbeziehung führte? Würde ihr Vater das überhaupt verstehen? Oder würde er André bestrafen lassen oder gar töten, weil er nicht dem Adel angehörte und sich in seinen Augen an seine Tochter vergriff? Warum war das nur so kompliziert?   Oscar schloss ihre Augen und versuchte einzuschlafen. Sie würde morgen mit André reden müssen! Oder vielleicht besser nicht? Er war doch so empfindlich, was sie betraf. Nein, vorerst würde sie mit ihrem Vater sprechen und dann sehen, was weiter passiert!       - - -       „Guten Morgen, Lady Oscar, habt Ihr gut geschlafen?“ Auch Sophie hatte sich in der Nacht Gedanken gemacht und beschloss, mit ihrem Schützling über ihren vermutlichen Zustand zu reden.   Oscar ordnete gerade noch ihre blaue Uniform vor dem Spiegel und zog ihre weißen Handschuhe an. Sie antwortete nicht und ging an den Tisch in ihrem Salon. Sophie entlud das Tablett. Oscar verspürte zwar keinen Appetit, aber um die alte Haushälterin nicht zu verstimmen, nahm sie ein Croissant, biss hinein und spülte es mit dem Tee herunter. „Du hast wieder zu viel gemacht, Sophie. Ich muss in die Kaserne los.“   „Und was wird aus dem Frühstuck?“ Sophie wollte ihren Schützling mit allen Mitteln aufhalten, um mit ihr zu reden. Doch sie stieß auf taube Ohren oder wurde erst gar nicht wahrgenommen und beachtet.   „Das habe ich doch gegessen.“ Oscar zeigte auf das Croissant in ihrer Hand und machte sich schon auf den Weg. „Ich werde das Unterwegs aufessen. Mehr brauche ich nicht! Sonst gehe ich noch mehr in die Breite!“, scherzte sie zum Abschluss und ging einfach weiter.   Sophie schüttelte nur fassungslos den Kopf. Diese Kinder! Kapitel 26: Entscheidung des Generals ------------------------------------- Der General wartete auf seine Tochter in seinem Arbeitszimmer. Es waren schon Tage nach dem Gespräch mit seiner Frau und dem Grafen de Girodel vergangen, ohne dass er eine Entscheidung getroffen hatte. Girodel hatte seinen Antrag zurückgezogen und empfahl, dass Oscar den Mann ehelichen sollte, von dem sie das Kind erwartete. Reynier wollte davon nichts hören. André gehörte nicht dem Adel an und das war der Grund seiner Unentschlossenheit. Gegen André selbst hatte er nichts. Im Gegenteil. Er mochte den jungen Mann und war froh, ihn an der Seite seiner Tochter zu wissen. Nun vielleicht war das aber auch ein Fehler, denn André und Oscar waren schon längst erwachsen und man hätte daher sich eigentlich denken können, dass so etwas wie eine Affäre passieren würde. Allerdings hätte der General von den beiden so etwas nie im Leben erwartet. Vor allem nicht von Oscar und dass sie sich darauf einlassen würde! Das waren aber alles nur Spekulationen. Reynier musste seine Tochter sehen und mit ihr reden, um Schlüsse zu ziehen und danach eine Entscheidung zu treffen. Er sah grübelnd aus dem Fenster hinaus und seine Augenbrauen schoben sich immer mehr zusammen.   Oscar ritt gerade in den Hof ein und stieg von ihrem Pferd. Sophie empfing sie. „Ist Vater da?“, fragte sie Sophie.   „Ja, er wartet auf Euch in seinem Arbeitszimmer“, meinte die alte Haushälterin und Oscar ging einfach weiter. Nervös nestelte Sophie an ihrer Schürze und sah zu den oberen Fenstern des Hauses hinauf. Der General wandte sich ab und Sophie bangte noch mehr um ihren Schützling. Sie hätte damals auf das Gespräch bestehen sollen und Oscar wenigstens damit in Kenntnis gesetzt! Denn vermutlich wusste sie nicht einmal selbst über ihren Zustand oder wenn doch, dann heckte sie bestimmt etwas aus und ließ sich nichts anmerken. Sophie setzte ihre zittrigen Füße in Bewegung. Zwar war es ihr erneut unangenehm lauschen zu müssen, aber nur so würde sie dann beruhigt sein. Denn weder Oscar, noch der General würden jemals ihr die Fragen beantworten, auf die sie gerne Antworten gehabt hätte – es ging sie ja im Grunde genommen nichts an. Nur diesmal irrten sich beiden Sturköpfe gewaltig, es ging diesmal nicht nur um Oscar, sondern in einer gewissen Weise auch um André...       - - -       Wenige Augenblicke später betrat Oscar das Arbeitszimmer ihres Vaters und begann gleich mit dem Reden: „Vater, ich muss etwas mit Euch besprechen!“   „Ja, ich auch mein Kind. Bitte setz dich.“ Reynier versuchte sie nicht anzusehen. Er saß selbstherrlich in seinem gepolsterten Stuhl und rauchte eine Pfeife. Von außen her sah er wie die Ruhe selbst aus, aber in ihm tobte bereits der Zorn. Es würde sich zeigen, was Oscar ihm zu sagen hatte und dann würde er dementsprechend reagieren!   „Ich flehe Euch an, den Heiratsantrag von Graf de Girodel zurückzuweisen!“ Oscar dachte nicht daran sich hinzusetzen. „Ich möchte niemanden heiraten, unter gar keinen Umständen!“   Reynier warf auf sie doch noch einen Blick und mühte sich seine Beherrschung zu bewahren. „Bitte reg dich nicht auf, Kind. Setz dich lieber hin. Lass uns in Ruhe über alles sprechen.“, sagte er so gut wie möglich neutral und begutachtete sie von oben bis unten. Eine junge und hübsche Frau war sie geworden. Kein Wunder, dass André ihr verfallen war. Sein Blick heftete sich auf ihren gewölbten Bauch und er versuchte krampfhaft seine immer mehr hochsteigende Verärgerung nicht preiszugeben.   „Gut.“ Diesmal setzte sich Oscar hin.   Das war ein gutes Zeichen. Wenigstens hier protestierte sie nicht. „Ich habe von den Schwierigkeiten mit der Söldnertruppe gehört.“ Er wählte mit Absicht dieses Thema, um die Wahrheit auf Umwegen herauszufinden. Denn mit einer direkten Frage würde er sicherlich aus Oscar nichts herausbekommen und das würde nur einen Streit vom Zaun brechen - das wollte Reynier zu Beginn vermeiden.   „Schwierigkeiten?“ Oscar wehrte das mit einem Schulterzucken ab. Das schien sie nicht im Geringsten zu rühren und das verdeutlichte sie in ihrer weiteren Rede: „Ich sehe das nicht so. Im Gegenteil. Ich finde es ganz normal, dass es verschiedene Probleme gibt, wenn man eine neue Truppe übernimmt. Bestimmte Vorurteile die man erst einmal überwinden muss. Aber gerade der Widerstand übt auf mich einen gewissen Reiz aus.“   Das saß bei dem General. Was hatte er nur getan? Im Charakter und Bildung war sie durch und durch ein Soldat – so wie er sie erzogen hatte. Aber seine Frau hatte recht: Oscar blieb im Grunde doch noch eine Frau. Beherrscht legte Reynier seine Pfeife beiseite und bedeckte sein Gesicht. „Es tut mir leid, Oscar... vergib deinem Vater, dass meine jämmerliche Erziehung versagt hat! Ich hätte dich nie wie einen Knaben erziehen dürfen! Ich habe wider der Natur gehandelt und nun muss dieses Vergehen furchtbar sühnen!“ Er schloss seine Hand zur Faust und kniff seine Augen angestrengt zusammen. Der Moment war gekommen, aus dem er erhoffte auf diese Weise die Wahrheit von ihr zu Hören zu bekommen.   „Nein, Vater.“ Oscar nahm eine weiße Rose aus der Vase, die auf der Mitte des Tisches zwischen ihr und ihrem Vater stand, an sich. „Eure Vorwürfe macht Ihr Euch ganz unnötig, denn in meinem tiefsten Inneren habe ich mich immer nur wie eine Frau gefühlt. Und sogar eine leidenschaftliche Liebe zu einem Mann habe ich schon kennengelernt.“   Der General sah schlagartig zu ihr. Also doch! Die Wahrheit war nun ans Licht gekommen! Es fehlte nur noch der Name dieses Mannes, aber das würde er noch herausbekommen! Er spielte weiterhin mit der List und mühte sich krampfhaft um äußerliche Ruhe. Seine Tochter sollte nichts von der herrschenden Weißglut in ihm bemerken.   Oscar begann die weißen Blütenblätter in ihrer Handfläche zu zupfen. „Nicht den Schatten des Vorwurfs trage ich Euch gegenüber in mir. Sondern ganz im Gegenteil: Nur innige Dankbarkeit und Liebe für Eure wundervolle Erziehung, die mich stark und mutig gemacht hat.“   Was redete sie da? Sie war ihm sogar dankbar? Reynier war etwas überrascht, aber nicht angetan. Er wagte der Sache noch mehr auf den Grund zu gehen – in einem milderen Tonfall und wie ein verzweifelnder Vater. „Nein, Oscar. Du willst mich mit diesen Worten nur beruhigen, du willst mich nur trösten. Sag, dass alles nicht wahr ist. Aber ich habe einen großen Fehler gemacht. Du bist eine wunderschöne, junge Frau geworden, in der Blüte deines Lebens.“ Er senkte seinen Kopf. „Ich will dass du glücklich wirst. Ich werde alles dafür tun, was in meiner Macht steht. Wenn du Graf de Girodel nicht heiraten willst, dann werden wir dir einen anderen Gemahl auswählen, es geschieht alles nach deinem Wunsch...“   „Ich möchte niemanden heiraten, Vater...“ Oscar holte tief Luft und pustete die weichen Blätter von ihrer Handfläche. Niemandem außer Andre... Das blieb jedoch ungesagt.   Also doch! Der Verdacht bestätigte sich dem General mehr und mehr. Er musste handeln, er musste etwas unternehmen! Er konnte das nicht auf sich beruhen! „Wir werden sehen...“, sagte er bestimmend und das war das Ende des Gespräches. Oscar ging und er wartete noch eine kurze Weile. Dann donnerte er wütend mit der Faust gegen den Tisch. Die Vase erzitterte und klimperte, die Pfeife fiel vom Tisch auf den Boden und die Asche verschüttete sich über die weißen Rosenblätter, die Oscar zuvor gezupft hatte. Der General sah bitterböse darauf hin, wobei ihm das Bild eigentlich gleichgültig war und keine Bedeutung beimaß. In ihm keimte ein Plan auf. Darüber musste er aber mit dem König reden, denn nur seine Majestät konnte darauf ihm die Einwilligung geben. Und es musste schon bald geschehen, denn der Bauch von Oscar war nicht mehr zu übersehen...           Sophie duckte sich in der Dunkelheit des langen Korridors, als Lady Oscar das Arbeitszimmer ihres Vaters verließ. Sie atmete innerlich auf. Das Gespräch zwischen Vater und Tochter war diesmal gut gegangen. Trotzdem wollte eine gewisse Besorgnis sie nicht verlassen. Die Aussagen von Oscar hatten immer mehr die Vermutung bestätigt. Aber wieso blieb dann der General dabei so ruhig? Oder war seine Gelassenheit die sogenannte Ruhe vor dem Sturm? Ihm wäre dies durchaus zuzutrauen. Sophie musste unbedingt mit ihrem Enkel reden! Wenn schon ihr Schützling nichts verraten wollte, dann würde sie aus André sicherlich mehr herausbekommen! Sophie konnte allerdings erst am nächsten Tag ihren Enkel in der Kaserne besuchen.   André putzte gerade sein Gewehr, als ein Kamerad in das Quartier reinkam. „Hey, André!“   „Ja, was ist?“   „Jemand will dich sprechen!“   „Mich? Wer denn?“   „Eine alte Frau.“   André ließ sein Gewehr liegen und ging nach draußen. „Großmutter!“ Was für eine Überraschung!   „Ich bringe dir frische Wäsche.“ Sophie reichte ihm unerwartet ein mitgebrachten Stoffbeutel.   „Danke, das ist sehr lieb von Euch.“ André kratzte sich etwas wunderlich am Kopf, aber nahm die Wäsche trotzdem an sich.   „Eigentlich müsste ich dir böse sein, weil du der Söldnertruppe beigetreten bist. Aber Schwamm drüber. Wann hast du Urlaub? Wenn du Urlaub hast, kommst du bestimmt nach Hause?“ Auch Sophie übernahm vorerst die Taktik des Generals, indem sie nicht gleich direkt, sondern auf Umwegen die konkreten Details der Wahrheit herausfand.   „Ja, natürlich. Ich kann es kaum erwarten, dass es soweit ist. Ich habe furchtbare Sehnsucht nach Euren Kochkünsten. Das Essen hier schmeckt abscheulich.“ André lachte auf.   Sophie konnte seinen seligen Gesichtsausdruck nicht mehr ansehen und senkte auf einmal ihren Kopf. Der Arme! Entweder war er ahnungslos oder war ein genauso guter Schauspieler wie Lady Oscar. „Das kann ich mir vorstellen“, flüsterte sie.   André machte ihre Haltung sofort stutzig. „Was habt Ihr? Was ist?“   „Naja, mein Junge...“ Sophie wirkte unschlüssig. Aber vielleicht würde ihr Enkel ihr doch noch alles verraten und ehrlich mit ihr sein. Sie rückte ihre Brille zurecht, ohne den Blick zu heben. „...ich weiß nicht, ob ich dich damit belasten sollte...“   „Nun, erzählt schon!“ André fühlte sich plötzlich unbehaglich.   „Also gut, dann sollst du es erfahren...“ Sophie sah ihn doch noch prüfend an. „Es sieht danach aus, als ob unsere Lady Oscar bald heiraten wird...“   Das traf André hart, das sah sie ihm sofort an. „Was... was sagt Ihr?“ brachte er stockend und entsetzt von sich und erklärte seiner Großmutter damit alles. Ihr Schützling und ihr Enkel waren nicht mehr nur Freunde aus Kindertagen – sie waren ein Liebespaar und nicht nur das...   „André, mein Junge...“ Sophie wollte ihn noch mehr ausfragen, aber irgendwie konnte sie das nicht. Vielleicht ein anderes Mal... Immerhin musste er vorerst die Neuigkeit verkraften. Obwohl sie ihn oft zurecht wies und ihn gerne über jede Kleinigkeit tadelte, aber jetzt tat er ihr im tiefsten Winkel ihres Herzens schon leid. Und wie auch bei ihrem Schützling erwähnte sie daher nichts über den Verdacht. Sie verabschiedete sich von ihm sogleich und ging heimwärts.   André glaubte, ihm schwand der Boden unter den Füßen, so elend fühlte er sich. Immer und immer wieder kreisten die Worte seiner Großmutter in ihm, als sie bereits fortging: „...unsere Lady Oscar wird bald heiraten. Ihr Vater war überaus erfreut und hat bereits zugestimmt.“ Nein! Das konnte doch nicht wahr sein! André wartete, bis seine Großmutter außer Sicht war, dann wandte er sich ab und eilte in die Baracke zurück. Er wollte mit Oscar reden, sich vergewissern, dass ihre angebliche Heirat nur ein Irrtum, ein Missverständnis war!   Kaum dass er das Offiziersgebäude erreichte, ritt eine königliche Truppe in den Hof ein. André hörte das Hufklappern mehrerer Pferde hinter sich und eine tiefe Stimme, die ihm sehr bekannt war. „Halt! Bleib stehen, wenn du dich schon hier draußen aufhältst!“ Er blieb stehen, so wie auch die Truppe hinter ihm und drehte sich um. Er hatte sich nicht getäuscht. Das war der General höchstpersönlich. André salutierte. „Ihr wollt sicherlich zu Eurer Tochter...“, vermutete er.   „Nein, nicht jetzt...“ Ein zynisches Lächeln umspielte Reyniers Mundwinkel. „Du kommst mit uns!“, befahl er eisig und schnippte seinen Soldaten ein Zeichen mit den Fingern.   „Aber wieso...“ André war baff. Etwas stimmte hier nicht.   Zwei der Soldaten stiegen ab und umstellten ihn von beiden Seiten. Jedoch packten sie ihn nicht an, sondern warteten auf weitere Befehle des Generals. Dieser hatte ihnen schon zuvor die Anordnung gegeben, den Gefangenen nicht zu fesseln und gut zu behandeln, um den äußerlichen Schein zu wahren. Reynier erdolchte André fast schon mit seinem eisigen Blick und fasste die Zügel seines Pferdes noch fester. „Frag nicht, sondern steig auf dein Pferd. Das ist ein Befehl!“   André fügte sich, wohl oder übel. Ihm blieb ja keine andere Wahl. Kapitel 27: Bittere Erkenntnis ------------------------------ André war äußerst verwundert, als man ihn nach Versailles brachte und direkt zu dem König führte. Das war das erste Mal, dass er einen dieser prächtigen Salons betrat. Er beugte das Knie, ohne geringste Ahnung, was man von ihm wollte. „Eure Majestät.“ Keine Bediensteten, keine anderen Personen hielten sich in dem Raum auf. Nur er, General de Jarjayes und Graf de Girodel.   „Erhebe dich, André“, befahl der König höflich.   André tat wie geheißen und hob seinen Blick. Er traute sich nicht etwas zu sagen und zu fragen. Etwas war hier im Gange, das spürte er und bekam ein flaues Gefühl im Magen. General de Jarjayes stand direkt neben ihm, als passe er nur darauf auf, dass André nicht weglief und sprach schon den König an. „Eure Majestät. Hier ist André Grandier, der Mann, den ich zum Schutz meiner Tochter Oscar Francois de Jarjayes eingestellt habe.“   „Ich erinnere mich an ihn.“ Ludwig musterte ihn ausgiebig. „Besonders an den Tag als mein Großvater ihn hinrichten lassen wollte und als Eure Tochter sich für ihn eingesetzt hatte, so wie auch Graf von Fersen und meine werte Gemahlin Marie Antoinette.“ Er lächelte schief. „Nun sind aber keiner von ihnen jetzt und hier anwesend...“   André bekam einen Schock. Sie wollten doch nicht jetzt diese alte Sache aufrollen und das Urteil des damaligen Königs vollziehen?! Aber aus welchen Grund?! Was hatte er ihnen denn getan?! „Majestät...“, mehr brachte er nicht heraus.   „Keine Sorge, André, dich will heute niemand hinrichten.“, sagte Ludwig, als hätte er seine Angst erahnt. „Nur dir ein paar Fragen stellen und je nachdem, wie deine Antworten ausfallen, über dich entscheiden.“   Über ihn entscheiden? André schluckte hart. Er hatte keinen blassen Schimmer, was hier vor sich ging und machte sich auf alles Mögliche gefasst. Ludwig richtete sein Augenmerk schon auf den General. „Seid Ihr sicher, dass Ihr das durchziehen wollt? Der junge Mann scheint mir ahnungslos zu sein.“   „Ich bin mir sogar ganz sicher, Eure Majestät.“ Reynier warf einen scharfen Blick auf André und ballte seine Hände zu Fäusten. Wenn es nach ihm ginge, hätte er ihm schon längst eine verpasst, wenn nicht noch mehr! Aber in Anwesenheit Seiner Majestät wagte er solches nicht. Das wäre dann doch etwas zu unanständig und seines Ranges unwürdig. Er räusperte sich verhallend und gab dem König eine Erklärung: „Immerhin geht es um meine Tochter und die Zeit wird immer knapper. Wir sollten es nicht mehr in der Länge ziehen, bis es zu spät sein wird.“   „Oscar?“ Das traf André noch härter als das, was hier vor sich ging.   Victor de Girodel lächelte süffisant. „Ich bin der gleichen Meinung, Eure Majestät.“, sagte er und schielte grimmig zu dem Gefangenen. „Du hast dich an der falschen Frau vergriffen...“   André stellten sich langsam die Nackenhaare auf und ein eiskalter Schauer überlief seinen Rücken. Es ging also um Oscar und ihn! Was wollten sie alle von ihr? Was auch immer das zu bedeuten hatte, er würde nichts über sie preisgeben, was ihr schaden könnte! Bereit sie zu verteidigen, machte er schon seinen Mund auf. „Euer Majestät...“   „Schweig!“, schnitt ihm der General knurrend das Wort ab. „Du hast kein Recht, hier etwas zu sagen! Außer wenn man dich dazu auffordert!“   „Genug!“ Ludwig hob seine Handfläche und brachte nur mit dieser einen Geste den General zum Schweigen.   „Ich bitte um Verzeihung, Euer Majestät.“ Reynier vollführte eine knappe Verbeugung und brachte kein Ton mehr von sich.   „Ich verzeihe Euch.“ Ludwig nickte ihm versöhnlich zu und schaute zu Girodel hinüber. „Und Ihr habt Euren Antrag bereits zurückgezogen, Graf.“   „Ja, das habe ich.“, bestätigte dieser und verneigte sich auch kurz.   Antrag? Was für ein Antrag? André schaute flüchtig zu Girodel und da prasselten ihm die Worte seiner Großmutter durch den Kopf. Wollte der Graf etwa seine Oscar heiraten? Zorn und Bitterkeit rasten in seinem Körper durch. Es wurde ihm so vieles erklären! Natürlich! Girodel wäre in den Augen des Generals eine hervorragende Partie für Oscar! Und was würde dann aus der Liebe zwischen ihr und ihm, André? Oder hatte Oscar etwa ihrem Vater schon die Wahrheit gesagt? Das würde zumindest erklären, warum Girodel seinen Antrag zurückgezogen hatte! Aber da passte etwas nicht zusammen! Weshalb hatte man ihn, André, hierher nach Versailles beordert?   „Wie dem auch sei. Ihr habt Eure Gründe bereits auch erwähnt und ich verstehe Euch. Dann beginnen wir mit der Befragung.“ Der letzte Satz Seiner Majestät ließ André aufhorchen und seinen hilflosen Zorn herunterschlucken wie eine bittere Medizin. Ludwig fuhr schon gleich fort, ohne etwas davon zu bemerken: „Gestehst du uns, dass du mit Lady Oscar eine Affäre hattest?“   Andrés Gedanken schlugen Purzelbäume. Er konnte darauf nicht antworten, die Sprache war ihm abhanden gekommen. Woher wussten sie denn bitteschön über die Beziehung zwischen ihm und Oscar?! Sie beide waren doch stets immer vorsichtig und gaben niemals einen Grund für einen Verdacht! Was hatte sie dennoch verraten?   „Wähle deine Worte mit Bedacht...“, empfahl ihm Girodel abschätzend von irgendwo aus der Ferne. „Das könnte nämlich über dein Leben entscheiden...“   André nahm dessen Empfehlung nur mit halbem Ohr zur Kenntnis. Sein Herz schlug ihm aufgeregt bis zum Hals und er fühlte sich so, als stünde er vor dem Abgrund und Oscar fiel bereits hinein...   „Also doch...“, knurrte der General neben ihm und durchbohrte ihn mit einem messerscharfen Blick.   „Sag nur ja oder nein, André.“, verlangte der König. „Wenn du schweigst, bringst du dich noch mehr in Schwierigkeiten. Und auch Lady Oscar.“   Das saß bei Andre noch tiefer. Wenn er Schwierigkeiten bekommen würde, war es ihm nicht von Bedeutung. Aber Oscar durfte nichts geschehen! Er sammelte seinen ganzen Mut zusammen, spannte seine Muskeln an und versuchte wahrheitsgetreu dem König ins Gesicht zu schauen. „Eure Majestät... Oscar und ich sind schon seit Kindesalter zusammen... Ich gebe es zu, ich liebe sie seit ich denken kann und daran wird sich nichts ändern... Ich werde für sie alles geben, sogar mein Leben, so sehr liebe ich sie... Ihr könnt mit mir verfahren wie Ihr wollt, aber bitte verschont Oscar... Das ist das das einzige, worum ich bitte...“   „Dann ist es also wahr...“, murmelte Girodel für sich und hob seine Stimme. „Dann ist Lady Oscar wirklich schwanger...“   „Was?!“ André glaubte, er höre nicht richtig. Oscar und schwanger? Nun gut, ihr Bauch war in letzter Zeit größer geworden...   „Ist es so, André?“, stellte Ludwig seine nächste Frage. „Ist das Kind von dir?“   André schwirrte der Kopf. Seine Gedanken überschlugen sich. Jemand packte ihn grob bei den Schultern und rüttelte ihn heftig. Das war der General. „Antworte!“   „General...“ André fand immer noch keinen richtigen Ausdruck. Er begann zu stottern: „Das wusste ich nicht... Ich schwöre es...“   „Aber die Affäre gibst du zu oder etwa nicht?!“ Die Finger des Generals krallten sich tiefer in seine Schulter, dass es schmerzte und in seinen Blicken loderten die Flammen des Zorns. André nickte nur darauf. Es war aussichtslos hier weiter zu schweigen. Er hatte doch schon seine Liebe zu Oscar zugegeben. Weitere Ausflüchte wären überflüssig. „Ich bitte um Oscars Hand...“, kam es nur stockend aus ihm heraus.   Der General ließ von ihm ab, als hätte er sich verbrannt. „Du bist ein törichter, aber aufrichtiger Junge, André...“ Er sah zum König. „Die Fragen wurden mehr als genug beantwortet und mein Wunsch ist, dass André in Gewahrsam genommen wird. Zumindest solange, bis ich den Rest mit meiner Tochter selbst geklärt habe!“   Ludwig nickte zustimmend. „Das ist Euer Recht, General.“ Auch dem Grafen de Girodel nickte er zu. „Schafft André diskret und um ein Aufsehen zu vermeiden in eine Zelle fort und kommt dann einmal zu mir. Ich denke, bei unserem nächsten Vorgehen müssen wir meine Gemahlin mit einbeziehen. Immerhin ist oder war Lady Oscar in ihren Diensten.“   „Wie Ihr es wünscht, Euer Majestät.“ Victor verneigte sich, packte André grob an und schob ihn vor sich. „Vorwärts und mach keine Dummheiten!“   Reynier sah den beiden nach. André schien auf wackeligen Beinen zu sein, denn er stolperte mehrmals, während Girodel ihn vorantrieb. Er konnte die Grobheit des Grafen nachvollziehen – immerhin wurde ihm die Braut geradewegs vor der Nase weggeschnappt. Und das auch noch von einem einfachen Stallburschen ohne nennenswerten Verdiensten, Rang und Titel. Wenn Girodel ihm etwas antat, dann wäre das berechtigt. Dennoch hatte der General ein mulmiges Gefühl bei dem Gedanken. „Wartet einen Augenblick, Graf!“, rief er und als dieser sich umdrehte, fügte er noch sarkastisch hinzu: „Lasst mir André aber noch am Leben! Ich brauche ihn noch!“   „Jawohl, General.“ Victor sah man nicht an, was er dabei gerade dachte oder wie er sich fühlte. Aber der General glaubte eine gewisse Enttäuschung wahrzunehmen, die von dem Grafen ausging und war gewisser Maßen erleichtert, dass er ihn ermahnt hatte.           - - -         Oscar hatte von allem dem, was André gerade durchleiden musste, nichts gewusst. So wie sie ihres Zustandes nicht bewusst war. Sie befand sich in ihrem Offizierszimmer und las einige Dokumente durch oder schrieb etwas darunter. Jemand klopfte an die Tür und nach einem „Herein“ ging sie auf. Einer der Söldner, mit dem André sich in der kurzen Zeit am besten angefreundet hatte, trat ein und schloss die Tür hinter sich. Seine Miene war missmutig. Oscar erinnerte sich schnell an seinen Namen. „Was gibt es Alain? Ihr seht so ernst aus.“   „Ich frage mich, ob Ihr so niederträchtig sein könnt, um gar Euren eigenen Freund und Geliebten zu verraten!“   „Wie bitte?!“ Entgeistert starrte Oscar den Mann an und versuchte vorerst seine Anschuldigung sich durch den Kopf gehen zu lassen. Dass er nebenbei über die enge Beziehung zwischen ihr und ihrem Freund im Bilde war, überhörte sie vorerst.   Alain beeindruckte ihr fassungsloser Gesichtsausdruck nicht. „Tut nicht so, als wüsstet Ihr von nichts!“   „Alain, mäßigt Euch!“ Oscar stand aufgebracht von ihrem Stuhl auf. „Erklärt mir lieber, was das hier sein soll?!“   „André wurde gerade von der königlichen Armee verhaftet und nach Versailles gebracht!“, schleuderte Alain seinen Wortschwall wütend von sich.   „Wie bitte?“ Das war nicht zu fassen! „Aber aus welchem Grund?! Ich muss zu ihm!“ Oscar setzte sich in Bewegung und rannte los. Aber kaum dass sie die Tür erreichte, wurde ihr urplötzlich schwindlig. Sie fasste sich an den Bauch und hielt inne.   „Was ist mit Euch, Kommandant?!“ Alain war zwar nicht gerade gut auf sie zu sprechen, aber ein Unmensch war er auch nicht.   „Es geht schon“, sagte Oscar verkrampft und atmete tief durch. „Ich muss zu André. Ihm darf nichts geschehen. Heute übernimmt Ihr die Verantwortung für mich, Alain.“ Mit diesen Worten schleppte sie sich hinaus.   Alain war verblüfft und gleichzeitig ging ihm ein Licht auf. Es schien, dass André und Oscar bereits mehr als nur ein Liebespaar wären... Diese Sache mit ihrem Bauch, so als würde sie schwanger sein, ließ viele Fragen offen... Wenn dem so war, dann waren sie alle beide arm dran. Was für eine verrückte Welt, wenn die Diener adlige Mannsweiber liebten! Er würde das vorerst für sich behalten und sehen, was weiter geschieht.             Oscar hatte sich auf dem Weg nach Versailles gefangen und die frische Luft verschaffte ihr beim Ritt sogar etwas Besserung in ihrem Bauch. Aber in ihrem Herzen lagen Unbehagen und Angst um André. Sie bat um sofortige Unterredung bei der Königin und diese bat sie unverzüglich in ihren Salon. Von Fersen befand sich auch dort, aber für Oscar war das nicht von Bedeutung. „Majestät, ich ersuche Euch, um zu erfahren, weshalb mein Gefährte André heute verhaftet wurde!“   Marie Antoinettes Lächeln verwandelte sich in einen verwunderten Gesichtsausdruck. „Aber Oscar, wovon sprecht Ihr? Ich weiß von keiner Verhaftung.“   „Wie? Aber...“ Oscar war verdattert.   Ihre Majestät ließ sie nicht weiter sprechen und ging gar mit langsamen Schritten auf sie zu. „Beruhigt Euch und erzählt mir genau, was vorgefallen ist.“   Es gab zwar nicht viel zu erzählen, aber Oscar tat es. Marie Antoinette hörte ihr aufmerksam zu und grübelte gleichzeitig nach einer Lösung. Von Fersen tat das auch und ihm fiel gleich ein Ereignis ein, den er zufällig mitbekommen hatte. „Wenn ich mich nicht täusche, hatte Euer Vater heute jemanden in der Tat nach Versailles gebracht. Ich konnte aus der Entfernung nicht genau erkennen wer das war, aber derjenige wurde von Soldaten umgeben und vom General zum König geführt.“   „Mein Vater?“ Oscar verstand nichts mehr. „Aber was will er von André?!“ Sofort wandte sie sich entschlossen an die Königin. „Eure Majestät, ich erbitte eine Audienz bei Seiner Majestät.“   „Das ist nicht nötig, Oscar“, klärte die Königin sie auf. „Ich beabsichtige meinen Gemahl sowieso aufzusuchen, denn er hatte kurz vor Eurem Erscheinen nach mir rufen lassen. Ich glaube, dass es um Euch geht, Oscar, und ich möchte mehr darüber in Erfahrung bringen.“   „Ich danke Euch, Majestät.“           „Eure Majestät, Eure Gemahlin ersucht Euch.“, meldete ein Diener dem König seinen Besuch.   „Möge sie eintreten.“, gestattete dieser und gleich darauf betraten drei Personen den Raum.   „Mein Gemahl, ich hörte, dass Ihr heute einen Mann verhaftet lassen habt?“, begann Marie Antoinette gleich mit dem Wesentlichen, kaum dass sie den König ehrenvoll begrüßte.   „Das ist nicht wie Ihr denkt, meine Gemahlin.“ Ludwig ließ seinen Blick über ihre Begleiter schweifen und heftete sich an den ehemaligen Kommandanten der königlichen Garde, als er noch hinzu zufügte: „General de Jarjayes bat mich eine Sache in Bezug seiner Tochter zu überprüfen...“   „Wie bitte?! Dann war das Euer Werk!“ Oscar platzte außer sich vor Wut und stürzte auf ihren Vater. „Was hat denn André getan, dass Ihr ihn verhaftet habt!“   „Reiß dich zusammen, Oscar!“, ermahnte der General sie streng. „Vergiss nicht, du bist hier in Versailles!“   „Nein!“ Oscar geriet noch mehr in Rage und wollte erst gar nicht denken, dass auch die Majestäten sie aufmerksam beobachteten. „Ich verlange nach einer Antwort! Auf der Stelle!“   „Vorerst beruhigst du dich!“ Reynier runzelte missgelaunt die Stirn.   „Nein!“, wiederholte Oscar aufgebracht und sah auf den König. „Eure Majestät! Ich weiß zwar nicht, was André getan haben mag, aber bitte lasst ihn frei und bestraft mich an seiner Stelle!“   „In Anbetracht Eures Zustandes kann ich Euch diesen Wunsch nicht erfüllen, Lady Oscar.“, erwiderte dieser und sein Blick glitt von ihrem erzürnten Gesicht auf ihren gewölbten Bauch. „Nur Euer Vater kann das, er hat dazu schon meine Erlaubnis.“   „Welcher Zustand? Ich verstehe nicht...“ Oscar verstand das wirklich nicht.   „Ihr wisst es nicht? Ihr als Frau?“ Ludwig weiteten sich verständnislos die Augen. „Das überrascht mich...“   „Was soll ich wissen?!“ Oscar konnte kaum noch an sich halten und ihr hitziges Temperament zügeln. „Was geht hier vor?!“ Und dann war es wieder um sie geschehen. Es wurde ihr schwindlig und schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen. Diesmal drohte sie aber auch noch in Ohnmacht zu fallen und spürte schon Hände, die ihr einen sicheren Halt boten. Oscar wollte diese Hilfe nicht, nicht von diesem Menschen... Von Fersen... Sie wollte protestieren, sich losreißen, aber da knickten ihr schon die Knie ein und die Schwäche gewann mehr die Oberhand. Oscar hörte noch altbekannte Stimmen, bevor es immer dunkler um sie wurde.   „Holt sofort einen Arzt!“, befahl die Königin und Graf von Fersen empfahl sich gleich. „Ich habe Medizin studiert, ich könnte dies auch tun.“       - - -       „Schwanger?“ Oscar glaubte nicht daran, was sie da hörte und versuchte nebenbei die Übelkeit zu verdrängen, die in ihr gerade stieg. Sie befand sich immer noch in dem Salon des Königs und war gerade zu sich gekommen, als Graf von Fersen sie bereits untersucht hatte. Das letztere verursachte in ihr noch Unbehagen und sie wäre am liebsten weggerannt.   „Ja, das seid Ihr, Lady Oscar.“ Von Fersen lächelte eigenartig, als ahne er schon einiges und musste nur ein Teil zum anderen hinzufügen, um dann ein Ganzes daraus zu machen. „Und das auch schon ziemlich fortgeschritten. Ich würde sagen, nach der Größe Eures Leibes zu urteilen, wird das Kind in ein, zwei Monaten auf die Welt kommen.“   „In vier.“, korrigierte ihn Oscar und rappelte sich hoch – die Hilfe des Grafen lehnte sie kategorisch ab. „Es musste im November entstanden sein...“   „Im November, ich verstehe...“, knurrte der General im Hintergrund. „Da warst du mit André in Arras beurlaubt... Wie konntest du mir das antun, Oscar!“   „Wir lieben uns! Wir sind für einander bestimmt!“, platzte es aus Oscar heraus. Es war ihr nun egal, dass alle Anwesenden ihr dabei zuhörten. „Und jetzt will ich endlich erfahren, was Ihr mit André vorhabt?!“   Der General knirschte mit den Zähnen, in seinem Kopf rasten die Gedanken wie im Flug. „Was ich mit ihm mache, hängt von dir ab, Oscar!“   „Was wollt Ihr damit sagen?!“ Auch Oscar blieb unnachgiebig – sie war bereit ihren Geliebten zu verteidigen, koste es was es wolle und ungeachtet ihres Zustandes!   Das merkte der General an ihr sehr wohl. Wenn dem so war, dann blieb nur eine Möglichkeit, um sie zu bändigen oder sie dazu zu bringen, das zu tun, was er wollte. Und ihm kam sogleich eine gar nicht so übler Gedanke in den Sinn. „Nun...“, sprach er betonend und zog die Spannung ein wenig in die Länge: „...wenn es ein Junge wird, dann werde ich ihn verschonen, aber wenn es ein Mädchen wird, dann werdet ihr euch nie wieder sehen...“ Er lächelte ganz zufrieden über die aufsteigende Empörung im Gesicht seiner Tochter. „Und bis das Kind kommt, gehst du in die Normandie, aber André bleibt bei mir in Gewahrsam... Wir wollen doch sicher gehen, dass du keinen Unsinn anstellst...“   Oscar schäumte buchstäblich vor Wut. „Das könnt Ihr nicht machen, Vater!“   „Doch, das kann ich!“ Reynier beäugte sie immer zufriedener und triumphierte bereits innerlich. „Ich bin dein Vater und ich habe das Recht dazu!“   „Die Gedanke mit der Normandie finde ich auch gut.“, mischte sich Marie Antoinette ein. „Und auch, dass meine liebe Oscar nicht mehr im königlichen Garderegiment dient, sondern in einer Söldnertruppe versetzt wurde. So wird es am Hofe kein Gerede geben.“   „So sei es. Ich entlasse Lady Oscar bis zu ihrer Entbindung aus ihren Diensten als Befehlshaber der Söldnertruppe. So werden die Soldaten in ihrer Abwesenheit sich etwas beruhigen können“, beschloss auch der König und weitere Ausflüchte waren zwecklos. Kapitel 28: Junge oder Mädchen? ------------------------------- Vier Monate...   Um genauer zu sein, knapp vier Monate war Oscar dazu gezwungen, ihr Dasein bis zur Geburt ihres ersten Kindes in der Normandie zu verbringen und das ohne André. Ihr Vater behielt ihn unter persönlicher Aufsicht auf seinem Anwesen – so wie er das verlautet hatte. Oscar hatte sich zu Beginn gegen seine Anordnung gesträubt: „Entweder gehen wir beide in die Normandie oder gar keiner von uns!“, hatte sie ihrem Vater mehrmals klar gemacht, aber dieser sagte nur ganz grimmig: „Wenn du das machst, Oscar, dann sei gewiss, dass ich dich wegen des Verrats an der eigener Familie und des Treuebruchs gegenüber des Königshauses anklagen werde! Und deinen André werde ich als ersten dafür verantwortlich machen und hinrichten lassen!“   „Dann gehen wir beide fort und nehmen unser Leben selbst in die Hand!“ Oscar war für all ihr Vorhaben entschlossen und fand immer ein Gegenspruch für ihren Vater.   Das hatte dennoch nichts genützt. Reynier hatte nur eine spöttische Handbewegung in Richtung Tür gezeigt und zynisch gegrinst. „Nur zu, wenn es dich danach strebt... Aber vergiss nicht, dass ohne dein Rang und Titel, die dir ganz sicher aberkannt werden, du ein Nichts und Niemand bist – du bist machtlos und nicht einmal meine Erziehung wird dich da draußen schützen können...“   „Doch!“, hätte Oscar am liebsten ihm ins Gesicht geschleudert, die Sachen gepackt und auf der Stelle das Anwesen verlassen. Doch das konnte sie mit einem Mal nicht, denn im geistigen Augen entstanden Bilder von den armen Bauern in Arras – vor allem Gilbert und seine Geschwister gingen ihr durch den Kopf. Wenn sie ihre Macht, Rang und Titel verliert, dann würde sie nichts mehr für sie tun können, weil sie genauso mittellos und arm dran sein würde... Und was würde dann aus André und ihrem gemeinsamen Kind? Der General hatte mit seiner Bedingung ihr gerade unbewusst die Augen geöffnet und ihren empfindsamen Kern getroffen. „Nun gut...“, gab sie mühsam nach und würgte ihre ganze Wut herunter. „Ich werde das tun, was Ihr verlangt, Vater... Aber wehe, wenn Ihr meinem André nur ein Haar krümmt!“   „Wenn er keine Anstalten macht zu fliehen, dann kannst du ihn quicklebendig nach deiner Niederkunft zurückhaben.“ Der General grinste immer mehr und triumphierte innerlich über die Niederlage seiner Tochter. Oscar machte den Mund auf und wollte etwas sagen, aber Reynier fügte noch schnell hinzu: „Und damit er nicht flieht, bleibt Sophie auch hier...“ Den Satz ließ er unvollendet im Raum hängen. Aber Oscar hatte ihn auch so verstanden. Ihr Vater brauchte ein Druckmittel gegen jeden, den er in seiner Hand haben wollte: André, damit Oscar auf keine ihrer Ideen kam und Sophie, damit André keinen Fluchtversuch zu Oscar unternehmen konnte...   An das alles dachte Oscar, als sie im August 1788 ihr erstes Kind in der Normandie zur Welt brachte. „Du hast es bald geschafft, mein Liebling“, hörte Oscar die vertraute Stimme ihrer Mutter und musste erneut pressen. Emilie nahm ein Taschentuch und tupfte den heraustretenden Schweiß von der Stirn ihrer Tochter. „...nur noch etwas Geduld, du hast es bald geschafft...“   „...Ihr müsstet ja es am besten wissen, Mutter...“, zischte Oscar zwischen zusammengepressten Zähnen und versuchte den heftigen Schmerz, der ihr durch den ganzen Unterleib jagte, mit den Gedanken an die letzten drei Monate ohne André in der Normandie zu ertränken.   Als sie in das elterliche Haus vor ebendiesen drei Monaten in der Normandie ankam, veranlasste ihre Mutter sofort, dass eine Hebamme zu jedem Zeitpunkt bereit gestellt wurde. Oscar wäre am liebsten der ganzen mütterlichen Fürsorge entkommen, aber andererseits war sie gewissermaßen schon froh, dass ihrer Mutter, natürlich auf Befehl der Königin und des Generals, mitgekommen war. Jemand musste es ja auf sie ein Auge haben. Oscar fühlte sich wie eine Gefangene und mit jedem Tag streifte sie durch das Haus und am Strand wie ein wildes Tier im Käfig. Bis es Emilie eines Tages nicht aushielt, sie bei der Hand fasste und sagte: „Ich kann verstehen, wie du dich fühlst, mein Kind, aber dein Zorn bringt niemandem etwas. Denk an deinen Zustand...“   „Ich kann doch nicht hier monatelang tatenlos herumsitzen, Mutter!“, empörte sich Oscar und sogleich tat es ihr leid, ihre Mutter so schroff angefahren zu haben. „Bitte verzeiht...“   „Schon gut.“ Emilie nahm sie sachte bei der Hand und lächelte. „Warum gehst du nicht in das Dorf und sorgst dafür, dass unsere Bauern die Arbeit auf den Feldern gut machen? Es heißt nicht gleich, dass du sie antreiben musst, aber das könnte dich von der langen Wartezeit ablenken.“   Oscar wollte vorerst wütend protestieren, zum Schutz der Bauern, aber da kam ihr wieder Arras in den Sinn und ihr Gesicht erhellte sich. „Das ist eine gute Idee Mutter!“ Ihr kam ein Einfall durch den Kopf geschossen, in der Normandie das gleiche zu tun und auf diese Weise den Bauern zu helfen, wie sie bereits in Arras erfolgreich vollbracht hatte. Und so vergingen die drei letzten Monate bis zu ihrer Niederkunft ziemlich schnell. Bis auf eine Unannehmlichkeit, dass sie schon bald in ihren Männerkleidern, besonders in ihren Hosen, nicht rein passte und daher Umstandskleider tragen musste. Aber was soll´s. Hauptsache sie hatte die langwierige Zeit überdauert, den armen Menschen in der Normandie so gut wie sie konnte geholfen und nun lag sie bereits seit gestern Abend in den Wehen. „Wie lange dauert es noch!“, wollte Oscar schnaufend wissen, als einer dieser Wehen nachließ.   „Bei mir hatte es zwölf Stunden gedauert.“, offenbarte ihr Emilie und beruhigte sie sogleich, als sie den erschrockenen Gesichtsausdruck von Oscar merkte: „Aber du vergisst sofort alle deine Qualen, wenn du das kleine Wesen in deinen Armen hältst.“   Das beruhigte Oscar nicht sonderlich. „Zwölf Stunden...“, murmelte sie und die nächste Wehe jagte wieder durch ihren Leib.   „Aber nur bei dir.“ Emilie griff gleich nach der Hand ihrer Tochter und hielt sie fest. „Deine Schwestern hatten weniger Zeit gebraucht, um auf die Welt zu kommen. Aber du schaffst es mein Liebling, halte durch!“   „Und wie lange liege ich hier?“, zischte Oscar mitten in der Wehe.   „Sechs Stunden...“   „Ihr habt es gleich geschafft, Madame!“, rief unerwartet die Hebamme irgendwo zwischen Oscars Schenkeln. „Ich sehe schon den Kopf!“ Ihre Gehilfinnen eilten zusammen mit den Dienstmädchen des Hauses durch das Zimmer, bereiteten geschäftig das Wasser, die Tücher und alles nötige für das neugeborene Wesen vor.   „Hast du gehört, Oscar?“ Emilie achtete nicht auf den ganzen Aufwand im Zimmer und hatte nur Augen für ihre Tochter. „Dein Kind ist gleich da...“       - - -       „Es ist ein Mädchen.“, sagte die Hebamme und gab das Neugeboren an eine ihrer Gehilfen. Diese säuberte der Kleinen den Mund, die andere umwickelte sie in die Tücher und reichte es Emilie de Jarjaes. „Sie hat dunkles Haar... Wie André...“ Verzückt und liebevoll betrachtete sie ihre Enkelin. Und dennoch schlich sich eine traurige Note in ihrer Stimme.   Oscar fiel erschöpft in die Kissen zurück. „Es tut mir leid, André, mein Geliebter...“ Nichtsdestotrotz wollte sie ihr Kind in den Armen halten und sie ansehen – ihr mütterlicher Instinkt verlangte danach. „Bitte gibt sie mir, Mutter...“, hauchte sie mit geschwächter Stimme und streckte ihre Arme bereits aus.   „Natürlich.“ Emilie bewegte sich langsam in Richtung ihrer Tochter. „Da kannst du ihr gleich Muttermilch geben.“   Die Hebamme betastete derweilen den noch immer gerundeten Leib von Oscar und runzelte die Stirn. „Nein, wartet!“, hielt sie die Hausherrin gerade davon ab, das Kind in die Arme von Oscar zu geben.   „Was ist passiert?“ Emilie hielt besorgt mitten in Bewegung inne und das kleine Mädchen in ihren Armen stimmte in dem Moment ein lautes Gebrüll an.   „Gebt sie mir, Mutter!“, verlangte Oscar mit Nachdruck und musste selbst lauter werden.   „Ich sagte, wartet, noch nicht!“ Auch die Hebamme musste ihren Ton erhöhen. „Ihr müsst gleich noch einmal pressen!“   „Nicht bevor ich mein Kind...“ Aber was war das?! Eine erneute Druckwelle erfasste Oscars Unterleib und sie musste wieder pressen.   „Wie ich es mir schon gedacht habe!“, hörte sie die Hebamme durch das immer lauter werdende Gebrüll des Säuglings ausrufen. „Es kommt noch eines!“   „Was heißt das?“, verlangte Oscar mitten in den Wehen zu wissen.   „Sprecht nicht, sondern presst.“, war die einzige Antwort, die sie von der Hebamme bekam.           - - -           Reynier beobachtete wohlwollend den jungen Mann, der gerade sein Salon betrat, das silberne Tablett auf dem Tisch abstellte und für ihn den Wein in ein Glas einschenkte. Wie gut das doch tat, dass es wenigstens doch noch Menschen gab, die das machten was er sagte. Der junge Mann sah ihn kein einziges Mal an und verlor auch kein Wort an ihn – was auch in seiner Situation völlig verständlich war. Dennoch spürte Reynier die Anspannung in ihm. Er nahm sein Glas an sich. „Warte, André.“ befahl er, als der Angesprochener sich zum Gehen abwandte.   André zwang sich umzukehren, aber den Blick hielt er weiterhin gesenkt. Er vermochte nicht zu sagen, wie er die knappen vier Monate hier ohne Oscar ausgehalten hatte und wie lange er ohne sie noch aushalten musste. Er hatte sie seit seiner Verhaftung in Versailles nicht mehr zu Gesicht bekommen. Erst später, als Oscar schon in der Normandie war, erfuhr er alles von seiner Großmutter. Natürlich wollte er ihr unverzüglich folgen, aber der General ließ das nicht zu. „Du wirst jetzt in meiner Reichweite bleiben und wenn du zu Oscar fliehst, werde ich deine Großmutter dafür büßen lassen.“, hatte er zu ihm zynisch gesagt und seit dem war André gezwungen, dem General überallhin zu folgen.   Reynier ließ ihn nicht aus den Augen. Was hatte nur seine Tochter an ihm gefunden? Er besaß doch fast gar nichts – bis auf die wenigen Habseligkeiten und seinem Sold! „Sieh mich an, André.“ Einäugig war er auch noch. Aber offensichtlich hatte das Oscar nicht gestört, als sie sich auf eine Affäre mit ihm einließ.   André hob zögernd den Kopf und schaute den General an. Der eisenharte Blick des Generals jagte ihm schon seit einer Weile keinen kalten Schauer mehr über den Rücken. Die sorgenvollen Gedanken an Oscar, dem ungeborenen Kind und dass es ihnen gut ging, überdeckten all seine Wut auf die ungerechte Welt und dass er nicht bei ihnen sein durfte.   Es klopfte an der Tür und André atmete auf – das war wie eine Erlösung für ihn! Er würde jetzt gehen können und bräuchte den General nicht mehr weiter ansehen. „Herein!“, rief dieser und die Tür ging auf.   Sophie trat herein und ihr folgte ein Mann. „Ein Bote aus der Normandie...“, meldete sie mit nervöser Stimme und André horchte aufmerksam auf.   Reynier dagegen erhob sich gelassen aus seinem gepolsterten Stuhl und stellte das Weinglas auf dem Tisch ab. „Spricht und verheimlicht nichts.“   Der Bote verneigte sich zum Gruß und erstattete gleich danach sein Bericht – neutral und ohne jeglichen Emotionen: „General de Jarjayes! Eure Tochter hat letzte Woche entbunden!“   Sophie stöhnte auf, ob erleichtert oder aus Sorge konnte man nicht deuten – vielleicht von beidem etwas. Auch Andrés Herz schlug immer schneller und er schielte vorsichtig zum General. „Ist es ein Junge oder ein Mädchen?“, fragte dieser ungerührt.   „Als erstes Kind Eurer Tochter kam ein Mädchen auf die Welt...“   „Ha! Das scheint ein Fluch zu sein, dass die Frauen aus der Familie der de Jarjayes nur Töchter gebären!“ Der General lachte auf. „Nun, wie schade es auch um den Vater des Kindes ist, werde ich mir etwas einfallen lassen...“   „Und als zweites Kind kam wenige Minuten später auch ein Junge...“   Sophies Augen weiteten sich, André fiel der Unterkiefer runter und der General horchte ungläubig auf. „Wie bitte? Was soll das heißen? Ist es nun ein Mädchen oder ein Junge?“   „Beides, Monsieur General.“   „Wie, beides?“   „Lady Oscar hat Zwillinge entbunden, erst ein Mädchen und dann ein Junge. Und allen beiden geht es hervorragend.“   „Danke, du kannst in die Normandie zurückreiten und meiner Frau ausrichten, dass ich in zwei Wochen nachkomme und meine Tochter verheirate.“, verabschiedete der General den Boten und da erwachte André aus seiner Starre. „Wartet bitte!“, hielt er den Boten auf, kaum dass sich dieser abwandte.   Der Bote schaute zuerst unsicher den General an und dann auf André. Dieser holte tief Luft. „Geht es Oscar gut?“ Das war das einzige, was er noch wissen wollte.   „Ja.“, meinte der Bote schlicht und eilte mit dem flüchtigen Blick auf den General hinaus.   „Hast du das gehört?“, hörte André den General hinter sich und wandte sich um. „Du bist zweifacher Vater geworden.“, sprach Reynier schon weiter und nach einem tiefen Schluck Wein. „Zwillinge... hmpf... Ich glaube, ich werde Oscar doch verheiraten müssen...“   „Ich muss zu ihr!“ War das einzige, was André derzeit beschäftigte.   „Du bleibst schön hier!“, befahl Reynier grollend und André platzte der letzte Geduldsfaden. „Aber wieso? Warum darf ich sie nicht sehen?! Wir haben doch schon alles gemacht, was Ihr wolltet!“   Der Faustschlag des Generals brachte ihn sofort zum Schweigen. „Halte deinen Mund! Ich brauche nicht noch einen Rebellen in meinem Haus! Du wirst mit mir in zwei Wochen in die Normandie fahren und nicht eher! Und zu dem noch darf eigentlich der Bräutigam seine Braut bis zur Hochzeit nicht sehen! Also halte du dich wenigstens an den Brauch und widerspreche mir nicht!“ Kapitel 29: Der Hochzeitstag ---------------------------- Heute in zwei Wochen! Ihr Vater hatte anscheinend Spaß daran, seine Tochter noch länger von ihrem André fernzuhalten! „Das kann er vergessen!“, schnaubte Oscar außer sich, nachdem der Bote die Anordnung des Generals überbracht hatte und fortgeritten war.   „Beruhige dich, Liebling.“ Emilie kam auf die zwei nebeneinander stehenden Wiegen zu und begutachtete ihre schlafenden Enkelkinder. „Sonst weckst du sie wieder.“   „Das ist mir gleich!“ Dennoch dämpfte Oscar ihre Stimme und folgte ihrer Mutter. „Ich breche morgen auf.“ Sie schaute auf ihre Kinder zwar nicht mit offenkundiger Mutterliebe, aber mit gewissem Stolz und warmherzigen Glanz in ihren sonst so kühlen Augen. „Und meine Kinder nehme ich mit. Sie haben das Recht, ihren Vater zu sehen.“   „Wie stellst du dir das vor?“, fragte Emilie sie sanft und strich hauchfein jedem einzeln der Zwillinge an der Wange – darauf bedacht, keinem von den Beiden zu wecken. „Sie müssen jede Stunde gestillt werden und du willst doch keine Amme einstellen, wie es in einem Adelshaus so üblich ist.“   „Das macht mir nichts aus...“ Oscar erfand auch dazu eine Lösung: „Dann lege ich jede Stunde eine Rast ein. Und Ihr kommt doch auch mit...“   Emilie seufzte. „Ja... Ich werde dich natürlich begleiten... Aber bedenke doch, wie klein sie noch sind... und wir brauchen noch mehr Bedienstete, um sie gut auf dem Weg versorgen zu können... Kurz um, deine Kinder brauchen neben einer Amme auch ein Kindermädchen.“   „Ich will sie selbst erziehen und meinem Vater beweisen, dass ich auch alleine zurechtkommen kann!“, wollte Oscar am liebsten ihrer Mutter weismachen, aber biss sich dagegen auf die Zunge. Ihre Mutter hatte ja so recht, in allem was sie sagte. Das war mehr das trotzige Temperament in ihr, das danach verlangte, ihrem Vater sich zu widersetzen. Denn er hatte schon genug über sie bestimmt und sie hatte sich schon genug seinem Willen gebeugt. „Nun gut...“, gab Oscar widerwillig nach. „Ich werde die zwei Wochen ohne André noch aushalten... Aber nur, weil Ihr es so wünscht, Mutter...“   Emilie wandte sich zu ihr mit einem seligen Lächeln auf den Lippen. „So ist es gut.“ Sie nahm Oscar sachte bei dem Arm. „Und jetzt beginnen wir lieber mit den Hochzeitsvorbereitungen.“   „Es soll alles schlicht, ohne übertriebenen Prunk sein.“, entschied Oscar.   „Selbstverständlich.“ Emilie sah darüber hinweg. „Aber ein Hochzeitskleid müssen wir dir trotzdem anfertigen lassen.“   „Nein, Mutter!“, protestierte Oscar sofort heftig.   „Es muss auch nicht pompös sein...“   „Trotzdem, Mutter! Es reichte mir, dass ich die letzten Monate die Umstandskleider ertragen musste!“   „Ja... ein schlichtes Hochzeitskleid...“ Emilie ließ sich von ihren Eskapaden nicht beeindrucken: „Und ich bin mir sicher, dass es auch André gefallen würde...“   An diesem Punkt erstarben Oscars Proteste. André hatte ihr zwar einstmalig gesagt, dass egal ob sie ein Kleid oder Uniform trugt, er würde sie immer gleich lieben. Und das tat er auch. Aber Oscar erinnerte sich an ein schon längst vergessenen Ballabend und wie André ihr die Korsage aufgeschnürt hatte. „Du siehst wunderschön aus...“, hatte er zu ihr damals leise gesagt und sie dabei mit all seiner Liebe angesehen... Oscar schluckte hart. Damals waren sie noch nicht zusammen, obwohl sie schon über seine Liebe Bescheid gewusst hatte... „Also gut...“, gab sie auch hier nach. „Aber das tue ich nur für ihn und für niemanden sonst!“           - - -         Oscar begutachtete sich im Spiegel, während die Dienstmädchen die letzten Falten an ihrem Hochzeitskleid glätteten. Heute war der große Tag und heute sollte ihr Vater zusammen mit André und Sophie ankommen. Oscar schmunzelte unwillkürlich. Die Feier würde dem General ganz bestimmt zu ärmlich und seines hohen Standes unwürdig erscheinen, aber für André dagegen ganz passend. Oscar und ihre Mutter hatten sorgsam darauf geachtet, dass alles so schlicht wie möglich, aber auch ansehnlich ausgestattet war. Sogar das Hochzeitskleid war ursprünglich eines von Oscars Umstandskleidern gewesen. Man musste es nur an der Taille und Oberkörper umnähen und fertig war dann das Ganze.   „Du siehst schön darin aus.“ Emilie legte von hinten ihrer Tochter sanft die Hände auf die Schultern und beschaute sie im Spiegel.   „Danke, Mutter...“ Oscar war selbst von dem himmelblauen Kleid etwas angetan. Es besaß keine Korsage, was für sie schon mal sehr angenehm war, der Ausschnitt versteckte züchtig ihre Oberweite und enthüllte nur ein bisschen Schlüsselbein, wo es dann mit Futter gefülltem Stoff an den Schultern endete und schließlich den Arm entlang immer schmaler wurde, bis zu den Handgelenken.   „Willst du dein Haar offen lassen?“   „Ja, Mutter...“ Oscar wollte nicht den Grund erwähnen, warum sie abgeneigt war, ihr Haar hochzustecken. Das hatte etwas mit dem einmaligen Ballabend zu tun und daran wollte sie erst gar nicht erinnert werden.   Ein Dienstmädchen betrat den Salon und knickste vor den beiden Frauen. „Madame. Lady Oscar. Die Kutsche mit Monsieur General und seinen Begleitern ist gerade eingetroffen.“   Oscars Herz flatterte aufgeregt, aber sie gab nichts davon Preis. Nur noch ein paar Stunden und dann würde sie mit ihm zusammen sein. Emilie, als Hausherrin und Gemahlin des Generals, ergriff sogleich das Wort an die Dienstmädchen. „Ihr wisst, was zu tun ist. Richtet meinem Gemahl und André das aus, was und wie wir es schon vor Tagen abgesprochen haben. Und wenn sie fertig sind, treffen wir uns alle in der Kapelle.“   „Jawohl, Madame.“ Das Dienstmädchen verneigte sich und verließ den Salon.       - - -       Reynier stürmte in das Haus und kaum dass die Bediensteten ihn begrüßten, verlautete er rasch: „Zeigt mir meinen Enkelsohn!“   Die Bediensteten wechselten flüchtig einen Blick miteinander. Damit hatten sie nicht gerechnet – so hatten es Madame de Jarjayes und Lady Oscar mit ihnen nicht abgesprochen. Aber sie wollten weder den General noch die zwei Hausherrinnen verstimmen und so trat einer der Empfangsdiener hervor. „Folgt mir Monsieur.“   Reynier stolzierte mit schwellender Brust dem Empfangsdiener nach, ungeachtet auf seine Begleiter. Diese machten Anstalten ihm zu folgen, aber wurden von einem Dienstmädchen abgehalten. „Nicht da lang. Madame Sophie, André, ihr beide folgt mir bitte in ein anderes Zimmer. Dort wohin der General geht, zieht sich gerade Lady Oscar in ein Hochzeitskleid um.“   „Verstehe...“, leuchtete es Sophie ein. „Das bringt natürlich Unglück, wenn Bräutigam seine Braut vorzeitig im Hochzeitskleid sieht. André, komm!“, ermahnte sie ihren Enkel, der perplex und sehnsuchtsvoll in den oberen Stockwerk starrte.   „Ja, Großmutter...“, murmelte er und setzte seine Füße in Bewegung. Er war aufgeregt, das konnte er nicht verbergen, aber auch bestürzt. Denn offensichtlich würde der General seine Oscar und seine Kinder als erster sehen. Die Zimmer, in die er mit seiner Großmutter geleitet wurde, kannte er gut – es waren Oscars Gemächer, wenn sie sich hier in der Normandie aufhielt. Sofort keimte ein wohliges Gefühl in ihm und nahm ihm sogar die Aufregung weg.   „Mir nach.“ Das Dienstmädchen führte sie durch den Salon in das Schlafzimmer. Auf dem Bett lagen ordentlich ausgebreitet die Männerkleider. „Das ist für dich.“, sagte sie lächelnd und schaute zu Sophie. „Anlässlich der Hochzeit ist auch für Euch ein Kleid vorbereitet. Es liegt auf Eurem Zimmer.“   „Oh, das wäre doch nicht nötig...“ Sophie war gerührt.   André strich durch die dicht gewebte Ausgehjacke und schmunzelte vor sich hin. Oscar hatte an alles gedacht. Die Sachen sahen seiner alltäglichen Kleidung ähnlich, aber waren am Ärmel und Kragen mit Muster genäht. Das verlieh ein frisches und neues Aussehen. Ein leises Quengeln ließ ihn plötzlich hochfahren. Er schaute sich stutzig in dem Zimmer um und sein Blick fiel auf zugezogene Vorhänge, die ein Viertel des Zimmers abtrennten. Auch Sophie folgte seinem Blick mit weit aufgerissenen Augen. André erinnerte sich ganz deutlich, dass diese Vorhänge noch nie da waren. „Was ist dahinter?“, brachte er leise von sich.   Das Dienstmädchen errötete und lächelte noch breiter als vorhin. „Geh hin und schaue es dir selbst an.“   André schluckte, blieb stehen und schob ganz vorsichtig die Vorhänge auseinander. Direkt vor seinen Augen standen zwei Wiegen und in je einer lag ein Kind. „Sind... sind das...“ André geriet ins Stottern, ihm schwirrte der Kopf.   „Ja, das sind deine und Lady Oscars Zwillinge.“ Das Dienstmädchen ging zwischen den beiden Wiegen durch und drehte sich am Kopfende zu André um. „Darf ich vorstellen?“ Sie zeigte mit der rechten Hand auf ein blondgelocktes Kind: „Das ist euer gemeinsamer Sohn, Oskar.“ Und mit der linken Hand auf braunhaariges Geschöpf in der zweiten Wiege. „Und das ist eure gemeinsame Tochter, Andrée.“   André war überwältigt und musste mehrmals schlucken, um seine Fassung beizubehalten. Zwillinge! Er konnte, als er es zum ersten Mal gehört hatte, nicht richtig daran glauben. Jetzt sah er sie und seine Gefühle überschlugen sich. Sogar die Namen nahm er vorerst nicht zur Kenntnis und schaute ganz gerührt nur von einer Wiege in die andere. Sophie schniefte neben ihm rührselig und dann fiel ihr plötzlich was anderes ein: „Aber wo ist dann der General hin?“   Das Dienstmädchen kam nicht umhin leise zu kichern. „Lady Oscar bestand ausdrücklich darauf, dass André der erste sein soll, der ihre Kinder sehen darf. Und deswegen wurde der General in die Gemächer seiner Gemahlin geführt.“       - - -       Reynier war ganz schön empört, als sich herausstellte, dass sich sein Enkelsohn nicht in den Gemächern befand, in die er geführt wurde. Es hätte ihn schon stutzig machen sollen, als er den Salon seiner Frau betrat. Aber er war vorerst von der Erscheinung seiner Tochter geblendet und abgelenkt. „Ich grüße Euch, Vater.“ Ihre kühle Stimme brachte ihn allerdings gleich in die Wirklichkeit zurück.   „Wo ist er?“   „Wer?“ Oscar runzelte die Stirn. Der Ton ihres Vaters gefiel ihr nicht.   „Mein Enkelsohn, wer denn sonst!“ Reynier sah sie an, als wäre sie nicht ganz bei Verstand.   In Oscar schoss wieder die altbekannte Wut auf ihn hoch. Da es aber ihr Hochzeitstag war und sie ihrer Mutter es versprochen hatte, versuchte sie krampfhaft die Ruhe zu bewahren. „Eure Enkelkinder sind dort, wo sie sein sollen. Nämlich in meinen Gemächern.“   Reynier schnaubte. „Du wirst mir auch noch dreist?“   „Nein, Vater.“ Oscar reckte ihr Kinn empor. „Ich will nur, dass sie nicht geweckt werden und dass André sie als erster sieht – er hat das Recht dazu.“   „Wie bitte?“ Reynier kam mit geballten Fäusten auf sie zu. Weit kam er jedoch nicht. Seine Frau tauchte vor ihm auf und bewog ihn stehen zu bleiben. „Mein Gemahl, lasst es sein. Wir wollen doch am Hochzeitstag nicht streiten. Und Ihr müsst Euch auch umziehen...“ Kapitel 30: Das Jawort ---------------------- „Wollt Ihr, André Grandier, Mademoiselle Oscar zur Frau nehmen, sie lieben und ehren...“ Die Stimme von dem kleinen, rundlichen Pfarrer hallte als einzige in der kleinen Familienkapelle des Hauses de Jarjayes in der Normandie.   „Ja, ich will!“ Auch wenn André innerlich aufgeregt war, brachte er seine Zustimmung mit Stolz und aufrichtiger Freude.   „Wollt Ihr Mademoiselle Oscar Francois de Jarjayes diesen Herren zu Manne nehmen, ihn lieben und ehren...“   Oscar zögerte daraufhin nicht lange. „Ja ich will!“   „Bist du dir sicher, Oscar?“   „Vater!“   „Schon gut, ich wollte nur auf Nummer sicher gehen.“, meinte Reynier an der Seite seiner Tochter sarkastisch und deutete mit einem Nicken dem Pfarrer an, fortzufahren.   „...wenn jemand gegen diese Ehe Einwände hat, soll er sich jetzt erheben oder für immer schweigen.“, sprach der Pfarrer aus und es legte sich augenblicklich eine gespenstische Stille in der Kapelle. „Nun...“, fuhr er dann fort: „Somit erkläre ich...“   Er sprach nicht zu Ende, als mitten im Satz die Tür aufgerissen wurde. „Halt!“ Ein Offizier trat herein und ihm folgte eine kleine Gruppe Menschen in Umhängen und tief gezogenen Kapuzen im Gesicht.   „Graf de Girodell, was soll das?!“, empörte sich Oscar, aber eine Antwort darauf erhielt sie nicht.   Girodel verneigte sich, auch die andere Herren taten ihm gleich, dann André und ihr Vater neben ihr und die Damen vollführten einen ehrerbietigen Knicks, als eine Dame in Begleitung von Graf von Fersen durch die Kapelle anmutig und in ihrer ganzen Würde bis zum Brautpaar schritt und dabei ihre Kapuze vom Kopf runter zog. „Ihr wollt doch nicht ohne mich das Jawort geben, meine liebe Oscar?“   „Ich bitte um Verzeihung, Euer Majestät.“ Oscar beugte sogleich das Knie – in dem Kleid ging es zwar nicht gerade einfach, aber anders war sie es nicht gewohnt. Welch eine Überraschung, ausgerechnet die Königin hier, zu ihrer Vermählung, zu sehen – damit hätte Oscar nie im Leben gerechnet!   „Erhebt euch alle.“ Marie Antoinette lächelte. Sie war nicht pompös gekleidet, aber auch nicht allzu schlicht. „Ich bin in inkognito gekommen, um Euch meinen Segen zu geben.“ Sie fasste Oscar bei den Schultern und zog sie in die Höhe. „Werdet glücklich, meine liebe Freundin.“ Dann trat sie etwas zur Seite und deutete dem Pfarrer an, seine Rede zu beenden.   Dieser musste erst einmal seine Verblüffung verarbeiten, bevor er zu seinen geistlichen Pflichten zurückkehrte und die Hochzeitszeremonie zu Ende führte. „Ich erkläre euch somit zu Mann und Frau. Gott segne euch und eure Kinder. Ihr dürft die Braut küssen, Monsieur Grandier.“           - - -           „Ach, Zwillinge! Wie wundervoll!“ Marie Antoinette sah verzückt in die beiden Wiege hinein und betrachtete liebevoll die beiden selig schlafenden Kinder, dann wandte sie sich bedenklich an Oscar. „Was habt Ihr nun vor? Das könnt Ihr doch nicht länger geheim halten.“   Oscar musste ihr recht geben und überlegte nach einer Antwort, als ihre Mutter an ihrer Seite vortrat. „Wir können sie adoptieren...“, schlug Emilie vor.   „Meine Gemahlin hat nicht so ganz unrecht...“, fügte auch der General anerkennend hinzu. „Vor allem den Jungen... Da bei mir nur Töchter sind, wäre das akzeptabel, wenn ich einen Jungen zur Erziehung bei mir aufnehme...“   „Ein guter Vorschlag.“, lobte Marie Antoinette und lächelte noch mehr. „So wird der Hofstaat nicht erfahren, dass es Eure Enkelkinder sind. Und ich kann sie später als Spielgefährten für meine Kinder nach Versailles nehmen.“   „Wie bitte?“ Oscar widerstrebten alle Entscheidungen, die wieder einmal über ihren Kopf hinweg beschlossen wurden, aber eine bessere Lösung fand sie auch nicht und in anderer Hinsicht betrachtet, wäre das noch ein geringerer Übel. Ihre Kinder würden auf dem Anwesen aufwachsen, zwar als Ziehkinder ihrer Eltern, aber dafür würde der Ruf der Familie bewahrt und niemand würde darauf kommen, dass es ihre und Andrés Kinder waren. Wie Raffiniert! Zudem noch würde sie ihre Sprösslinge jederzeit sehen können und das war auf jeden Fall besser, als sie irgendwo in fremde Hände abgeben zu müssen.             Die Uhr hatte nicht einmal vier Uhr geschlagen, als Marie Antoinette wieder nach Versailles aufbrach - sie wollte ja nur Oscar beglückwünschen und ihre Kinder sehen. „Gestattet mir, Euch zu eskortieren.“, erbot sich Reynier auf der Stelle - er wollte nicht mehr länger hier bleiben und womöglich mit seiner Tochter noch mehr zanken. Er hatte ja seinen Enkelsohn gesehen und das genügte ihm und in Versailles, an der Seite des Königs, gab es ja noch einiges zu tun.   „Wir werden morgen aufbrechen.“, sagte Oscar bestimmt, bevor ihr Vater auf die Idee kam, sie gleich dazu aufzufordern, mit ihm und der Königin zu kommen und sie somit an ihre Pflichten zu ermahnen. Das war schon ein erleichterndes Gefühl, dass er nichts dazu sagte und zusammen mit Ihrer Majestät, Graf von Fersen und Graf de Girodel fort war.   Zu Abend kamen auch noch die von Oscar eingeladene Dorfbewohner und die Feier verlief wesentlich friedlicher als zu Beginn und zur Freude des ganzen Hauses. „Das war eine gute Idee.“, schwärmte André, als er sich mit Oscar um Mitternacht in ihre Gemächer zurückzog.   „Ich wollte das gleiche tun, wie in Arras. Auch an Rosalie habe ich eine Einladung geschickt, aber sie ist nicht gekommen. Ich vermute, weil sie selbst vor kurzem Mutter geworden ist, ist die Reise in die Normandie noch anstrengend für sie.“ Oscar ging an die beiden Wiegen und nahm ihre Tochter auf den Arm. „Würdest du mir bitte das Kleid hinten lockern, sonst kann ich sie nicht stillen...“   „Aber natürlich.“ André grinste über beide Ohren. Nur mit wenigen Handgriffen schnürte er das Oberteil des Kleides auf und fuhr mit seinen Fingern an Oscars Wirbelsäule entlang. „Du siehst umwerfend aus...“   „Danke...“ Oscar setzte sich aufs Bett, schob den Ausschnitt tiefer und entblößte eine Brust. Sofort schlug die Kleine ihre Augen auf und noch bevor sie zu weinen begann, bekam sie schon die mütterliche Brust.   André setzte sich neben die beiden und betrachtete seine Erstgeborene und wie sie an Oscars Brust schmatzte mit einem wohl erregten Sehnen. „Ich danke dir für diese beiden Engel, meine geliebte Oscar...“ Er strich hauchzart über den braunen Flaum von Andrée und in dem Moment begann es in der anderen Wiege zu quengeln.   Oscar verdrehte die Augen, aber sie schmunzelte. „Das ist immer das Gleiche mit ihnen. Kaum ist eines gestillt, wacht das andere auf. Meistens ist Andrée die erste, die den Ton angibt und es dauert nicht lange, dann fängt auch Oskar mit dem Schreien an.“   „Du Ärmste.“ André nahm seinen Sohn aus der Wiege und bis seine Tochter zu Ende gestillt wurde, wiegte er ihn sachte in seinen Armen. „Wie bist du überhaupt bisher mit ihnen zurecht gekommen?“   „Ich stille sie nur. Alles andere machen die Bediensteten.“ Oscar beobachtete André mit Oskar auf den Armen ganz gerührt. „Sie werden von Tag zu Tag immer gefräßiger und meine Mutter meint, wir sollen demnächst eine Amme einstellen und auch ein Kindermädchen.“   „Und hast du schon welche in Aussicht?“   „Nein. Ich will sie nicht so erziehen, wie ich erzogen wurde. Sprich, verwöhnt und verkommen...“   „Du bist weder verkommen, noch verwöhnt, Oscar.“   „Aber adelig bin ich schon.“ Oscar entfernte ihre eingeschlafene Tochter von der Brust und streckte den Arm nach ihrem Sohn. „Gib ihn jetzt mir.“   André legte den Kleinen ihr in de Armbeuge und nahm das Mädchen vorsichtig an sich, um sie nach der liebevollen Betrachtung in die Wiege zu legen. „Auch wenn du adlig bist, bist du trotzdem etwas ganz besonderes und unterscheidest dich von allen Adligen, die ich kenne.“, knöpfte er dabei wieder an das Thema an.   „Lass es gut sein.“ Oscar wollte nicht mehr darüber reden. Sie sah die ganze Zeit auf ihren Sohn, der genüsslich an ihrer zweiten Brust schmatzte. „Vielleicht sollte ich mich doch langsam nach einer Amme umschauen... Ich habe nicht genug Milch und muss sie fast jede Stunde stillen...“   „Wir werden schon eine passende Amme finden.“ André hockte sich vor ihr hin und Oscar kam nicht umhin ihn anzusehen. Sachte strich er durch die blonden Locken seines Sohnes mit einer Hand und mit der anderen berührte er zart Oscars Wange. „Wir werden das schon überstehen.“ Er zog sich langsam zu ihr hoch und berührte hauchfein ihre Lippen mit den seinen. Oscar erwiderte den Kuss, während sie ihren kleinen Namensvetter zu Ende stillte. Dann gab sie ihn an André und während er ihn in die Wiege legte, entledigte sie sich des Brautkleides.   André schob die Vorhänge zusammen, zog seine Sachen aus und schlüpfte zu seiner Angetrauten unter die Decke. Wenn nicht die sogenannte Stillzeit wäre, dann hätten sie ihre Hochzeitsnacht in glühender Leidenschaft verbracht. Dennoch war die Sehnsucht nach einander zu groß, um in einem Bett zu liegen und nichts machen zu dürfen... also liebten sie sich zum Abschluss ihres gemeinsamen Hochzeitstages einfühlsam und zärtlich... Kapitel 31: Die Amme -------------------- „Lady Oscar, Ihr habt Besuch.“   „Wer ist das, Sophie?“ Oscar war gerade mit André fleißig dabei, alles für die Heimreise vorzubereiten.   Sophie trat zur Seite und ließ ein junges Ehepaar in den Salon herein. Oscars Gesicht erhellte sich. „Rosalie! Bernard! Ihr seid doch gekommen!“   „Bitte verzeiht, dass wir zu Eurer Hochzeit zu spät kommen, aber...“ Rosalie schniefte, sie sah abgemagert und traurig aus. „Oh, Lady Oscar...“. Schluchzend entriss sie sich von Bernard und fiel in Oscars Arme. Sie zitterte und weinte hemmungslos.   Oscar stand vorerst perplex da, aber dann umarmte sie sachte die junge Frau und strich ihr sanft durch das blonde Haar. „Ach, meine arme Rosalie... Du brauchst doch nicht deswegen gleich weinen... Wir sind euch nicht böse und sind überhaupt froh, dass ihr gut angekommen seid...“   „Ganz recht!“, bekräftigte André ihre Aussage und kam mit Bernard nach der Begrüßung auf die beiden zu.   „Darum geht es nicht...“, sagte Bernard mit belegter Stimme.   Erst jetzt bemerkte Oscar seinen geplagten und traurigen Gesichtsausdruck. Auch André fiel das auf. „Was ist passiert?“, wollte Oscar gleich besorgt wissen.   André schaute von der schluchzenden Rosalie zu Bernard und ihn beschlich ein unwohles Gefühl. „Ist etwas mit eurem Kind?“, fragte er ganz vorsichtig und da brachen Rosalie in Oscars Armen noch mehr Tränen aus. Sie klammerte sich an ihre Schutzpatronin wie ein Ertrinkender an einem Strohhalm. „Er ist tot...“, brachte sie durch bittere Tränen heraus. „Er hat nicht einmal eine Stunde gelebt... Und ich wollte ihn so sehr nach Euch benennen, Lady Oscar...“   Oscar schluckte einen dicken Kloß und sah kreidebleich ihren Mann an. Andrés Gesichtsausdruck zeigte dasselbe Entsetzen und dieselbe Bitterkeit. „Das... das tut uns leid...“, flüsterte Oscar fassungslos. Was konnte man schon in so einer Situation sagen, wenn man keine richtigen Worte dazu fand, außer Beileid?   Sophie, die in dem Salon auch geblieben war, schlug ein Kreuz in der Luft und bettete stumm für die kleine, arme Seele. Bernard schaute von seiner Frau weg und erzählte mit angespannten Sehnen, was wirklich geschah: „Unser Kind kam Anfang August zur Welt – zwei Wochen später als es voraussichtlich sein musste... Es war ein Junge... aber er war schwach... deshalb hatte er nur eine Stunde leben können...“ Dann richtete er seinen Blick scharf auf Oscar. „Warum? Warum trifft es immer die Unschuldigsten?“   Weder Oscar, noch André konnten ihm darauf eine Antwort geben, denn die gleiche Frage schoss ihnen gerade auch durch den Kopf. Und ausgerechnet in diesem Moment der Trauer und Bitterkeit entstand das Schreien eines Kindes aus der Ferne. Oscar biss sich auf die Unterlippe - das war jetzt ein falscher Zeitpunkt! Rosalie hob hellhörig den Kopf, ihr Weinkrampf verstummte augenblicklich und ihr glasiger Blick starrte geradeaus auf die Tür, die gerade aufging. Die Hausherrin höchstpersönlich betrat den Raum und ihr auf dem Fuß folgten zwei Dienstmädchen. Aber all die staunenden, überraschten und unbehaglichen Blicke waren nicht auf sie, sondern auf zwei kleine, quengelnde Wesen auf den Armen der beiden Dienstmädchen gerichtet. „Es tut mir leid, Oscar, aber sie haben schon wieder Hunger...“ Emilie blieb mitten in ihrem Satz stehen, als ihr der Besuch auffiel. „Oh, Rosalie! Du bist doch noch gekommen...“   „Nicht jetzt, Mutter!“, ließ sie Oscar nicht weiter reden. „Geht bitte mit ihnen noch eine Runde um das Haus! Ich komme gleich nach!“   „Aber wieso...“ Emilie verstand es nicht, aber sie spürte die angespannte und bedrückte Atmosphäre ganz deutlich, die in dem Raum hing. „Was ist geschehen?“   „Rosalies Kind ist vor ein paar Wochen gleich nach der Geburt verstorben...“, erklärte Sophie, aber so leise, dass Emilie sie kaum hörte. Dennoch verstand Emilie sie und schlug ihre Hand vor den Mund. „Es tut mir aufrichtig leid... Das wusste ich nicht...“   Rosalie machte einen Ruck. Wie ein Geist ging sie auf den blondgelockten Säugling zu. „Er hatte das gleiche Haar gehabt... aber glatt... wie meines...“ Sie streckte nach ihm ihre Arme aus. „Darf ich ihn halten?“ Das Dienstmädchen schaute fragend zu Oscar und nach ihrem zustimmenden Nicken, gab sie den Jungen an Rosalie. Diese wiegte das Kind sachte in den Armen und begann ein leises Lied zu singen. Das Quengeln der Zwillinge verstummte – vorerst das des Jungen und dann das des Mädchens. Wie verzaubert standen alle Anwesenden da und lauschten Rosalies heller Stimme.   Emilie erwachte als erste aus ihrer Starre. Sie nahm behutsam ihre Enkeltochter aus den Armen des Dienstmädchens und kam mit ihr zu Oscar. „Du kannst sie derweilen stillen und danach deinen Jungen.“   „Ja, das könnte ich...“ Oscar nahm Andrée an sich und Emilie scheuchte die Männer diskret aus den Gemächern. „Und ihr, meine Herren, kommt mit mir in meinen Salon. Oscar und Rosalie kommen schon alleine zurecht, denke ich.“ Sie drehte sich noch kurz um. „Sophie, bereite bitte für uns alle einen Tee.“       Als Oscar alleine mit Rosalie und den Zwillingen in ihrem Salon blieb, setzte sie sich auf die Loge, knöpfte ihr Hemd auf und legte ihre Tochter an die Brust. Andrée saugte begierig, dass es beinahe schmerzte, aber noch mehr schmerzte Oscar das Herz beim Anblick auf die junge Frau und welch ein grausames Schicksal ihr widerfahren war. Rosalie schwebte langsamen Schrittes vor ihr auf und ab, wirkte ganz versunken in sich selbst und auf ihren Wangen glänzten die Spuren von stummen Tränen. Dann endete das Lied und sie setzte sich neben Oscar hin. „Das war ein wunderschönes Lied...“, fand Oscar ihre Stimme wieder, aber hielt ihren Blick noch immer gesenkt auf ihre Tochter.   „Danke, Lady Oscar...“ Rosalie sah dabei auf den Jungen in ihren Armen. „Ich habe mir das Lied erdacht, als ich bei Euch das Klavier spielen durfte... Ich hatte das meiner Schwester Jeanne damals gewidmet... aber sie ist schon lange tot... Und dann habe ich es meinem Sohn vorgesungen, bis er entschlafen war... für immer...“   „Rosalie...“ Oscar hob schlagartig ihren Blick und konnte nicht verhindern, dass auch ihre Wimpern feuchter wurden.   „Warum bringe ich immer allen nur Unglück?“, wisperte Rosalie und drückte etwas fester das Kind an sich.   „Das stimmt nicht!“, protestierte Oscar und im selben Moment begann ihr Sohn zu weinen – er fühlte sich ein wenig zu fest gedrückt.   Rosalie lockerte sofort ihre Arme. „Verzeiht, das wollte ich nicht...“ Sie wiegte ihn wieder, aber er hörte nicht mehr mit dem Weinen auf.   „Hab Geduld, du bist gleich dran.“, sprach Oscar in seine Richtung. „Deine Schwester ist mit dem Trinken so gut wie fertig...“   „Darf ich ihn stillen?“, fragte Rosalie etwas schüchtern und Oscar weiteten sich verdattert die Augen. Rosalie sah sie gleich flehend an. „Bitte, Lady Oscar... Der Milchstrom hört bei mir immer noch nicht auf... Ich weiß nicht, was ich damit tun soll... Nur dieses einziges Mal...“   „Also gut...“ Oscar konnte diesem Blick einfach nicht widerstehen.   „Danke.“ Geschickt öffnete Rosalie ihr Mieder und legte den Jungen an. Der Kleine verstummte abrupt und saugte genüsslich an der Brust. Anscheinend gefiel ihm die fremde Milch genauso gut, wie die von seiner Mutter oder er merkte keinen Unterschied darin – Hauptsache er konnte seinen Hunger stillen und musste nicht erst warten, bis seine Schwester gesättigt war.   Das war ein ganz anderes Gefühl, ihr Kind beim Saugen von der Seite zu betrachten und doch spielte sich ein leises Lächeln um Oscars Mundwinkeln. „Siehst du, Rosalie, du bringst niemanden Unglück. Mir hast du immer Glück gebracht... und jetzt machst du den Kleinen glücklich...“   „Da könntet Ihr recht haben, Lady Oscar...“ Zum ersten Mal huschte bei Rosalie auch so etwas wie ein Lächeln. „Ich habe gleich gewusst, dass es Eure Kinder sind... und auch Andrés...“   „Ist es denn so offensichtlich?“ Oscar war leicht überrascht.   „André liebte Euch schon seit immer und als ich vor vier Monaten bei Euch einen gewölbten Bauch bemerkt habe, ahnte ich sofort, dass Ihr guter Hoffnung seid... und dass André der Vater ist.“   Oscar schmunzelte wieder. „Ach, Rosalie...“   „Ich freue mich sehr für Euch und Euer Familienglück, Lady Oscar.“   „Ich danke dir, Rosalie.“ Oscar entfernte ihre eingeschlafene Tochter von der Brust und knöpfte schnell das Hemd zu. „Die kleine heißt Andrée und der Junge... er heißt... Oskar...“   Rosalie schimmerten kurz die Augen, aber dann fasste sie sich zusammen. „Es sind sehr schöne Namen, Lady Oscar... und passen sehr gut zu Euren Kindern...“   Oscar legte mitfühlend die freie Hand auf den Oberarm der jungen Frau. „Rosalie, du weißt, meine Türen stehen für dich immer offen...“, weiter kam sie nicht. Als wollte die Tür zu ihrem Salon ihre Worte unterstreichen, ging sie auf und die Hausherrin trat herein.   Emilie war ganz gerührt bei dem sinnlichen Bild, das sich vor ihren Augen abspielte. „Oscar, ich wollte nur nachschauen, ob alles bei euch in Ordnung ist und euch in meinen Salon zu bitten. Der Tee ist bereits vorbereitet.“   „Danke Mutter, wir kommen gleich.“ Oscar stand auf und brachte ihre Tochter in die Wiege. Als sie aus dem Schlafzimmer in den Salon zurückkehrte, saß ihre Mutter neben Rosalie und sie hörte nur wie die junge Frau mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen sagte: „Es wird mir eine Ehre sein, Madame.“   „Was wird dir eine Ehre sein?“ Oscar runzelte missverstanden die Stirn – sie verabscheute Gespräche hinter dem Rücken.   „Rege dich nicht gleich so auf, Liebling.“ Emile erhob sich von der Loge und fasste sachte ihre Tochter bei der Schulter. „Ich habe ihr nur erklärt, dass du im Gegensatz zu ihr bald keine Milch zum Stillen mehr hast und ihr angeboten, Amme für deine Kinder zu sein.“   „Mutter!“, empörte sich Oscar fassungslos.   „Was ist schon dabei? Du wolltest sowieso nach einer Amme Ausschau halten, sobald wir auf dem Anwesen sind.“   „Ja, aber Rosalie hat...“, weiter sprach Oscar nicht, um die junge Frau nicht zu verletzen.   Rosalie stand mitsamt dem Säugling auf und kam lächelnd auf Oscar zu. „Das würde mir nichts ausmachen, Lady Oscar, macht Euch um mich keine Sorgen... Es würde mir sogar helfen, über den Verlust hinwegzukommen...“   Oscar zweifelte noch etwas. „Bist du dir sicher?“   „Ich bin mir ganz sicher, Lady Oscar. Bei Euch war ich doch immer so glücklich.“ Kapitel 32: In Paris -------------------- Nach ihrer Rückkehr in Paris nahm Oscar ihren Dienst als Befehlshaber in der Kaserne wieder auf. Ihre Kompanie hatte während ihrer Abwesenheit sich eingestehen müssen, dass sie ihren neuen Befehlshaber doch vermissten – Oscar war ihnen auf jeden Fall lieber und besser als der vertretender Oberst Dagous. Er hetzte sie erbarmungslos gegen die eigenen Landsleute und forderte mit Gewalt gegen sie anzugehen. Es gab Überfälle auf erhabene Bürger wie Bäckereien und Banken, die Besitzer wurden entweder auf brutale Weise geschlagen oder gar getötet und deswegen sollten sie diesen Mob im Keim ersticken.   Oscar war zu tiefst verbittert und erschüttert, welche Ereignisse während ihrer Abwesenheit passiert waren. Sie war mit ihren Soldaten anderweitig im Einsatz, versuchte ständig eine friedliche Lösung zu finden und dass die Bürger keinen Schaden nahmen. Das gefiel den Soldaten wesentlich besser und sie folgten ihr daher gerne überall hin.       „Ich bin aber wenigstens froh, dass unsere Kinder noch in Sicherheit sind“, sagte Oscar, als sie zusammen mit André an einem frühen Morgen in die Kaserne einritten. „Wir müssen trotzdem einige Vorkehrungen treffen – für den Notfall, wenn es noch Schlimmer wird.“   „Da hast du recht.“, stimmte André nachdenklich zu. „Aber mach dir jetzt bitte noch keine Sorgen, uns wird es schon etwas einfallen.“   „Das will ich hoffen...“ Oscar seufzte. „Und noch mehr hoffe ich, dass es zu keinen Ausmaßen oder gar Aufstand kommt...“   André verstand sie nur zu gut, denn in ihm herrschte diesbezüglich das gleiche dumpfe Gefühl. „Du kannst nicht alles verhindern, Oscar.“   „Ja, ich weiß und das schmerzt mich...“   André dirigierte sein Pferd nahe an den ihren heran und legte ihr die Hand tröstend auf den Arm. „Egal was passiert, Oscar, wir werden es schon überstehen.“   „Ich danke dir für alles, André...“ Oscar sah ihn lächelnd an und sogleich richtete sie ihren Blick nach vorn. „Schau, ist das nicht Alain mit seiner Schwester?“ Oscar hatte die junge Frau schon mal früher zu Beginn ihrer Dienste in der Kaserne hin und wieder an Besuchstagen gesehen.   „Ja.“ sagte André schlicht und zügelte mit Oscar die Pferde fast direkt vor dem Geschwisterpaar.   Die zwei blieben auch stehen und Alain klärte seine Schwester auf. „Das ist unser neuer Oberst. Und André, ihr Gemahl.“   „Alain!“, ermahnte ihn Oscar und fragte sich insgeheim, vorher er solche Informationen überhaupt hatte.   „Ich bin erfreut, Euch kennenzulernen.“ Das Mädchen knickste freundlich. „Ich bin Diane, Alains jüngere Schwester.“   Oscar war so überrascht und angetan von ihr, dass sie die Verärgerung über Alain gleich vergaß. „Ich bin Oscar Francois und Eurem Bruder ein großer Dorn im Auge.“   Die Geschwister gingen weiter und Oscar sah ihnen eine Weile über die Schulter nach. André auch. „Nimm dir nicht so ernst, was Alain sagt. Im Grunde genommen ist er verschwiegen.“   Das hatte Oscar sich schon fast gedacht, dass André ihm womöglich etwas verraten haben könnte. Oder war Alain selbst darauf gekommen? Wie dem auch sei, Oscar wollte nicht näher darauf eingehen. André und sein Freund würden schon wissen, was sie machten. Sie ließ es daher dabei. „Er hat eine sehr nette Schwester, so höflich und rein... Kein Wunder, dass alle Söldner hinter ihr her sind...“   „Das stimmt.“ André musste bei der Erinnerung schmunzeln, wie alle Söldner sich ständig bei der Ecke der Baracken versteckten und Diane beobachteten - alle bis auf ihn. Er hatte ja seine Oscar. „Aber Alain würde jeden verprügeln, der sich an Diane heranwagt.“   „Ich muss sagen, als Bruder macht er seine Sache gut. Wolltest du sie nicht auch mal heiraten?“, neckte Oscar.   „Nein!“, protestierte André erschrocken und seine Mundwinkel zogen sich schlagartig nach unten. „Das war nur ein Spielchen von Alain gewesen und ich habe mich entschuldigt! In meinen Augen bist nur du, Oscar!“   „Das war nur ein Scherz.“ Oscar lachte und trieb wieder ihr Pferd an. „Komm, wir müssen noch schauen, was heute auf dem Dienstplan steht.“   André atmete erleichtert auf. Obwohl er Oscar in und auswendig kannte, gab es manchmal Momente, wo nicht einmal er wusste, wie sie das meinte. Während André die Pferde in die Stallungen wegführte, ging Oscar schon auf ihr Offizierszimmer. Sie überblätterte die Dokumente auf ihrem Tisch und dachte dabei an ihre Kinder. Oskar und Andrée waren jetzt einen Monat alt. Sie wuchsen schnell und irgendwann würden sie krabbeln. Rosalie gab eine hervorragende Amme ab und ihre Milch reichte für alle beide, da Oscars Brust klein war und schon nach einer Woche nach der Rückkehr auf das Anwesen ihr Milchstrom endgültig versiegte. Die junge Frau kam in der Tat langsam über ihren Verlust hinweg, während sie sich um Zwillinge kümmerte. Sie gab ihr bestes und lächelte sogar wieder, wenn sie Lady Oscar mit André zusammen mit ihren Kindern beobachtete.   Sophie war wieder in ihrem Element und sorgte für die Zwillinge – immerhin waren es ihre Urenkeln. Oscar schmunzelte unwillkürlich. Zwei Kinder auf einen Streich, aber an die Freude war nicht zu denken. Die Zeiten waren gefährlich und unruhig. Vielleicht machte sie sich in der Tat viel zu viel Gedanken, wie André es schon sagte, aber sie konnte nichts daran ändern.   Ein Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Gedanken. „Herein!“, rief sie und das Zimmer betrat ein breitschultriger Mann mit einem roten Halstuch. „Was gibt es, Alain?“   Dieser beäugte sie unschlüssig, aber dann entschied er sich doch noch und meinte knapp: „Meine Schwester will heiraten.“   „Herzlichen Glückwunsch!“ Oscar kam nicht umhin den Söldner anzulächeln, wobei sie ihren ernsten Blick behielt. „Sie ist sehr nett und ich wünsche ihr von Herzen, dass sie glücklich wird! Aber das ist doch nicht der Grund, weshalb du mich aufsuchst, oder?“   Alain zog eine Braue nach oben. „Ich muss zugeben, Ihr könnt die Menschen gut durchschauen, Oberst.“   Oscar ging nicht auf seine Aussage ein. „Komm lieber zur Sache, Alain.“   „Nun gut...“ Alain räusperte sich und zog ein wenig die Spannung in die Länge, bevor er wieder ansetzte. „Diane wünscht, dass Ihr und André auch dabei seid... Kurz um, sie möchtet euch beide zu ihrer Hochzeit einladen.“   „Was dir nicht passt, aber du es trotzdem machst, weil du deine Schwester liebst“, kam Oscar ihm auf die Schliche mit beinahe triumphalen Aufleuchten in ihren Augen.   Alain grinste. „Gut erraten, Oberst.“   „Du kannst deiner Schwester mitteilen, dass wir mit Freude ihre Einladung annehmen werden.“ Trotz ihren kühlen Äußerungen, war sie dennoch von dieser Einladung sehr angetan und weil Diane so ein freundliches Wesen, im Gegensatz zu ihrem hageren Bruder war, brachte sie daher es nicht über sich, die Einladung abzuschlagen. Zumal ihr André mit Alain schon seit einigen Jahren befreundet war. „Wann ist das denn soweit?“   „Nächste Woche und deshalb wollte ich Euch jetzt schon um einen längeren Urlaub bitten.“   „Ah, und das ist der Hauptgrund, weshalb du hier bist“, leuchtete es Oscar ein. „Also gut, du kannst den Urlaub haben.“   „Ich danke Euch, Oberst.“             - - -             „André! Wir müssen los und du bist nicht einmal umgezogen!“, schrie Oscar durch das laute und helle Gebrüll eines der Zwillinge. Das andere befand sich gerade bei der Amme im Nebenzimmer und wurde gestillt. Kaum dass Rosalie sich mit dem Kind zurückzog, wachte das zweite auf und schlug sein Gebrüll an. Das Geschrei rief natürlich die Eltern auf den Plan. Oscar kam anscheinend diesmal später angerannt als ihr Mann, denn ihr öffnete sich ein beinahe sinnliches Bild, als sie das Zimmer betrat: Sophie räumte geschäftig die Windeln weg und André trippelte mit seiner gleichnamigen Tochter auf den Armen auf ein und demselben Platz. Er wiegte sie in den Armen und versuchte sie mit sanftem Geflüster zu beruhigen. Das half aber nicht. Die Kleine quengelte immer lauter nach Milch. Da fiel Oscar Andrés Kleidung auf und sie musste ihren Ton heben, damit er sie überhaupt verstand. „Gib sie mir und geh dich umziehen, sonst kommen wir zu spät zu Dianes Hochzeit!“   Behutsam nahm sie ihre Tochter auf den Arm und diese verstummte abrupt. „Ihr Frauen versteht euch gut, wie ich sehe“, neckte André und hauchte Oscar einen Kuss auf die Schläfe, bevor er das Zimmer verließ.   „Ich muss ihm ausnahmsweise recht geben, Lady Oscar“, wandte Sophie ein und hielt sich bei ihrem Schützling auf.   „Wieso das denn, Sophie?“ Oscar betrachtete gerührt das rundliche, lächelnde Gesichtchen ihrer Tochter und schmunzelte selbst unbewusst.   „Nun, Ihr habt auch das ganze Haus zusammengeschrien, als Ihr klein ward und das auch noch lauter als die beiden.“   „Du willst mich nur wieder dazu bewegen, dass ich mich wie eine Frau verhalte.“ Oscar gab ihre Tochter Sophie in die Arme. „Ich muss los, die Zeit drängt.“ Kaum dass sie die Tür öffnete, rannte ihr schon André entgegen. „Oscar, du musst mitkommen! Du wirst nicht glauben, wer hier ist!“   Oscar glaubte in der Tat nicht, wer da im Empfangssalon saß. „Gilbert, was für eine Überraschung!“ Gleichzeitig keimte ein ungutes Gefühl in ihr auf. „Was ist passiert?“   „Lady Oscar...“, begann der junge Mann nervös zu erzählen. „Die Ernte war zum großen Teil verdorben und das was wir geerntet haben, hatten die Steuereintreiber uns wieder genommen... Aber deshalb bin ich nicht hier... In Arras ist Chaos ausgebrochen. Viele der Bauern sind nach Paris marschiert, weil ihnen das gleiche Schicksal ereilt war...“   „Und du bist mit ihnen gekommen.“, schlussfolgerte Oscar. „Erzähle weiter.“   „Ich bin gekommen, um Euch zu warnen, dass es Aufstände geben könnte und dass Ihr vielleicht nicht mehr sicher in Paris seid, weil Ihr dem Adel angehört...“   „Was soll das heißen?“   „Die Menschen wollen den Niedergang des Adels... In Arras kennen und schätzen Euch alle, deswegen würde niemand was dagegen haben, wenn Ihr dort Schutz suchen würdet...“   „Ihr denkt doch nicht wohl, dass ich mich verkrieche?! Da kennt ihr mich noch nicht gut genug! Dass die Aufstände entflammen und dass die Bauern aus allen Ecken des Landes nach Paris kommen ist bereits Alltag geworden! Ich werde alles Mögliche dafür tun, um den Menschen zu helfen und für Ordnung zu sorgen, aber ich werde niemals vor Gefahren fliehen!“   „Aber, Oscar...“, entfiel es leise aus Andrés Mund: „Die Kinder...“   Oscar stockte und sah ihn scharf an. Gilbert weiteten sich die Augen. „Die Kinder?“   „Sie sind hier in Sicherheit.“, sagte sie ohne weitere Erklärung. „Und ich werde alles tun, um auch sie zu schützen!“ Dann sah sie den jungen Mann an. „Wir müssen jetzt los. Du kannst hier bleiben solange du willst, ich sage Sophie Bescheid und zum Abend sind wir wieder da. Aber was du hier erfährst, behältst du für dich.“   „Ich schweige wie ein Grab, Lady Oscar, denn ich und meinesgleichen in Arras stehen zu tiefst in Eurer Schuld.“   „Ihr steht niemandem in der Schuld. Ich habe nur getan, was ich für richtig und gerecht hielt.“ Oscar lächelte schwach und dann wurde sie wieder ernst. „André, komm!“       - - -       Oscar und André nährten sich dem Haus, wo Alain mit seiner Familie lebte. „Wir geben das Geschenk, überbringen unsere Glückwünsche und reiten schnell zum Anwesen zurück. Ich möchte von Gilbert noch einiges in Erfahrung bringen“, beschied Oscar, als sie im Hof des Hauses mit ihrem Mann von den Pferden herabstiegen.   „In Ordnung.“   Das Geschenk für Diane bestand aus einer Haarschleife, einer Brosche und etwas Geld. Das alles, in einem Karton eingepackt, fiel Oscar aus den Händen, als sie und André Alains Wohnung betraten. Etwas Schreckliches war geschehen, das sahen sie sofort: Alains Mutter rannte mit Wasser und Tüchern umher, Alain legte gerade einen reglosen Körper entsetzt auf das Bett und vor dem Bett auf dem Dachbalken baumelte ein abgeschnittener Strick. „Was ist hier passiert?“, fragte Andre und eilte mit Oscar der älteren Frau hinterher.   „Ihr Bräutigam hat sie verraten...“, schluchzte die Frau und versuchte ihre Tochter mit der Nässe der Tücher zu beleben. „Er hat ein Angebot von einer reicheren Frau bekommen und deshalb Diane sitzen gelassen. Das hat sie nicht ertragen und hat versucht, sich das Leben zu nehmen...“   Oscar erwachte als erste aus ihrer Starre. „André, du bleibst hier, ich hole Doktor Lasonne!“   André nickte zustimmend. „Beeil dich“, drückte sein Gesichtsausdruck aus. „Und hoffentlich ist es noch nicht zu spät...“   Oscar eilte hinaus und hörte nur schwach die belegte Stimme von Alain: „Halte durch, Diane! Der Arzt wird jeden Moment hier sein! Bleib bei mir, tu mir das bitte nicht an!“ Obwohl Alain keine Mildtätigkeit haben wollte, vor allem nicht von Oscar, aber das Leben seiner Schwester war ihm wichtiger...       Oscar kehrte mit dem Arzt noch rechtzeitig zurück. „Sie könnte es schaffen.“, teilte Doktor Lasonne allen, nach der Versorgung, mit. „Aber sie braucht hellere Räume und mehr medizinischer Pflege.“   „Dann muss sie auf das Anwesen gebracht werden!“, entschied Oscar ohne länger zu zögern. „Ich werde für alles Sorgen!“ Kapitel 33: Ein Kindermädchen ----------------------------- Gilbert stieg eine leichte Röte ins Gesicht, als er einen flüchtigen Blick aus dem Fenster erhaschte. Da spazierte sie wieder – dieses engelsgleiche Geschöpf, das vor anderthalb Monaten hier auf dieses Anwesen gebracht wurde. Sie war mehr tot als lebendig gewesen, aber dank der Fürsorge von Lady Oscar und der medizinischen Behandlung von diesem wundersamen Doktor Lasonne, blieb sie am Leben. Es hatte lange gedauert, bis sie auf die Beine kam und zu sich selbst wieder fand. Dennoch verlor sie kaum ein Wort und lächelte nie. Sie war stets in sich versunken und manchmal nur das helle Lachen der knapp zwei Monate alten Zwillinge konnte ihr ein seligen Glanz in ihren trüben, haselnussbraunen Augen entlocken. So, als fände sie langsam bei den Kindern ihren Frieden. Gilbert wusste nicht viel von ihr, außer dass ihr Bräutigam sie sitzen gelassen hatte und sie deshalb nicht mehr leben wollte. Wegen eines verarmten Adligen, der sich für eine reichere Frau entschieden hatte?   Gilbert seufzte. Das würde er nie verstehen. Das engelsgleiche Wesen lief da draußen wie ein Geist ohne ihn am Fenster wahrzunehmen, unter den fast kahlen Bäumen des Gartens, in Begleitung ihrer Mutter und Gilbert stellte sich vor, wie die gefallenen, bunten Blätter unter ihren Füßen raschelten.   „...wir können gleich damit beginnen. Gilbert, du kannst gleich ein paar Botengänge für uns erledigen, da wir in die Kaserne aufbrechen müssen“, hörte er mit halben Ohr zu, aber konnte sich nicht gleich vom Fenster losreißen. „Gilbert! Hörst du mir überhaupt zu?!“ Erst der erhöhter Ton in der Stimme ließ ihn zusammenfahren. „Bitte verzeiht, Lady Oscar...“, entschuldigte er sich geknickt.   Oscar baute sich vor ihm turmhoch auf und verzog noch strenger ihr Gesicht. „Was ist mit dir in letzter Zeit los?! Du bist anderweitig in irgendwelchen Gedanken und verpasst die Hälfte deiner Aufgaben! Wenn du nicht daran teilnehmen willst, dann musst es du es nur sagen! Ich zwinge niemanden zu etwas und du kannst jederzeit nach Arras zurückkehren, wenn du willst!“   „Ich gelobe Besserung, Lady Oscar, ich schwöre es...“ Das klang nicht gerade überzeugend und eine Schamröte verbreitete sich noch dazu über sein ganzes Gesicht.   „Oscar, komm ganz kurz her...“ André hatte derweilen aus dem Fenster geschaut und ein wissendes Lächeln umspielte dabei seine Lippen. „Ich glaube den Grund seiner geistigen Abwesenheit zu kennen...“   Oscar schob Gilbert etwas zur Seite und stand schon mit wenigen Schritten an der Seite ihres Mannes am Fenster. Ihr streng verzogener Gesichtsausdruck verwandelte sich augenblicklich in Mischung aus Staunen und Geistesblitz. „Jetzt wird mir auch alles klar...“ Sie wandte sich an den jungen Mann wieder, der aus Scham und Verlegenheit bereits in Grund und Boden versank. Ihre Mundwinkel zogen sich sogleich leicht nach oben. „Warum sagst du uns nicht gleich, dass du verliebt bist?“   „Ich... ähm...“ Gilbert suchte verzweifelt nach einer passenden Ausrede. Dann richtete er sich plötzlich auf und wirkte entschlossener, als gerade eben. „Es gibt doch so vieles zu tun und deswegen bleibt für so etwas keine Zeit, Lady Oscar.“   „Da hast du nicht unrecht.“ Oscar wurde wieder ernst. „Im Grunde genommen ist das die Sache zwischen dir und Diane. Sie ist ein gutes Mädchen und deines Alters, aber lass ihr noch Zeit. Und nun zurück zum Wesentlichen: Wie ich bereits sagte, sind die Staatskassen leer und die Missernte wird den armen Menschen im Winter das Leben noch schwerer machen. Zum Glück sind unsere Kornspeicher noch genug gefüllt – wie auch hier, so auch in Arras und in der Normandie. Das wird uns noch eine Weile über die Runden halten können. Deswegen ist deine Aufgabe nach Arras zu reiten und dich mit dem Wirt in meinem Namen in Verbindung zu setzen und alles genauer zu überprüfen, was wir noch haben, was wir teilen können und was wir für uns brauchen zum Überleben. Alles klar soweit?“   „Jawohl, Lady Oscar, ich bin schon auf dem Weg!“ Gilbert salutierte, verneigte sich und war schon fort.   „Er ist ein zuverlässiger und guter Junge“, meinte André im Hintergrund und schaute weiterhin aus dem Fenster. „Und Diane ist ein bezauberndes Mädchen. Obwohl sie nichts im Vergleich zu dir ist, aber trotzdem wünsche ich ihr vom Herzen, dass sie wieder glücklich wird.“   Oscar verstand und stand wieder an seiner Seite. „Und Gilbert wäre deswegen eine gute Partie für sie.“   „Ich fürchte, da würde Alain nicht mitspielen.“, seufzte André. „Nachdem seine Schwester dem Tod knapp entkam, ist er ziemlich wortkarg geworden und niemand wagt mehr Diane in seiner Gegenwart zu erwähnen, weil er gleich Fäuste sprechen lässt. Ich hoffe das vergeht bald, sonst verliert er die Freundschaft und Gefolgschaft seiner Kameraden.“   „Ich werde mit ihm bei einer günstigen Gelegenheit sprechen.“ Oscar musste ihrem Mann recht geben. Auch wenn sie bezweifelte, dass Alain auf sie hören würde, trotzdem dürfte die Kameradschaft zwischen ihm und den Söldnern wegen Diane nicht in Frage gestellt werden. Denn es brachen schwere Zeiten an und eine zerstrittene Kompanie wäre gerade fehl am Platz. Heutzutage müssten alle zusammenhalten, wenn sie weiter kommen und vieles erreichen wollten.   Leise öffnete sich die Tür zu ihrem Aufenthaltssalon und als das Ehepaar sich umdrehte, kam Rosalie auf sie zu. „Lady Oscar. André. Eure Kinder sind satt und zufrieden eingeschlafen.“   „Danke dir, Rosalie.“ Oscar lächelte gütig. „Ich weiß gar nicht, was wir ohne dich gemacht hätten.“   „Ihr braucht mir nicht zu Danken. Im Gegenteil, ich habe zu danken. Es ist mir eine Freude, hier bei euch wieder zu sein und mich um eure Kinder zu kümmern.“ Rosalie bekundete diese Freude mit einem reinen Lächeln und erhaschte einen Blick aus dem Fenster. „Arme Diane... Ich frage mich manchmal, was schlimmer ist, zuzusehen wie jemand stirbt oder dem Tod selbst zu entkommen...“   „Rosalie!“ Oscar sog erschrocken die Luft an. „Sage nicht so etwas! Beides ist schlimm genug, um die anderen, liebenden Menschen traurig zu machen!“   „Ihr habt recht, Lady Oscar, bitte verzeiht mir...“ Rosalie ging näher ans Fenster heran. „Aber ja, schon gut...“, hörte sie Lady Oscar im versöhnlichen Ton sagen und legte ihre Handfläche an die Glasscheibe. „Vor ein paar Tagen sagte mir Diane...“   „Was?“, unterbrach das Ehepaar sie im Chor. „Diane sagte?“, meinte überrascht André und Oscar ergänzte ebenso verwundert: „Du meinst, Diane hat gesprochen?“   Rosalie lächelte leise. „Ja, vor wenigen Tagen beschäftigte sie sich mit einem eurer Kinder, während ich das andere Stillte. Das Kind in ihren Armen war sehr fröhlich und sie sagte dabei, dass, wenn sie die Zwillinge sieht und mit ihnen spielen darf, dann vergisst sie ihre Trauer und will weiter mit ihnen spielen und sie fröhlich aufwachsen sehen. Aber das kann sie nicht, weil sie irgendwann gehen muss...“   „Wer hat gesagt, dass sie gehen muss?“, wunderte sich Oscar.   „Niemand, Lady Oscar. Das waren nur ihre Gedanken, die sie laut ausgesprochen hatte und danach kam wieder kein Wort von ihr...“   Oscar sah zu André, verständigte sich mit ihm mit einem stummen Blickwechsel und dann sagte sie zu Rosalie: „Diane kann mit ihrer Mutter hier auf dem Anwesen so lange wohnen wie sie wollen, und auch mit den Kindern spielen, wenn es ihr eine Freude bereitet und sie dadurch ins Leben zurückkommt. Ich werde das so veranlassen, dass ich ein neues Dienstmädchen und ein Kindermädchen für die Zwillinge eingestellt habe. Ich denke, das wird kein Problem sein und so kannst du es Diane ausrichten.“   „Das wird sie bestimmt erfreuen.“ Rosalies Mundwinkeln zogen sich noch mehr nach oben und ihre Augen glänzten freudig. Sie konnte es nicht verbergen, dass sie Diane bereits ins Herz geschlossen hatte und ihr gerne geholfen hätte, ihr das Leid zu mindern. Und nebenbei ihr eigenes ganz zu vergessen.   „Das werde ich dann auch Alain sagen, wenn wir in der Kaserne sind.“, fügte André hinzu.   „Ja, das kannst du machen. Vielleicht würde diese Neuigkeit ihm bessere Laune bringen.“ Oscar hakte sich kurz bei ihrem Mann ein. „Und jetzt verabschieden wir uns von unseren Kindern und brechen endlich nach Paris auf.“   So zog Diane und ihre Mutter bei Oscar endgültig ein – als ein neuer Personal und Kinderfrau für die Zwillinge versteht sich. Der jungen Frau ging es von Tag zu Tag immer besser – die Beschäftigung mit den kleinen Kindern half ihr das Erlebte immer mehr zu verdrängen, aber die Zeiten selbst wurden immer schwieriger: Aufstände flammten zunehmender auf, die Kutschen der Adligen wurden überfallen und kein so erhabener Mensch war in Paris mehr sicher. Kapitel 34: Dreiständekammer ---------------------------- Der erste Schnee legte sich leise auf die dunkle Erde und hüllte alles in seinen weißen Mantel ein. Die Staatskassen waren durch hohe Ausgaben so gut wie leer und die Unzufriedenheit des Volkes wuchs ins Unermessliche, genauso wie die Steuern. Versammlungen fanden nun auf offenen Straßen statt und die mutigen Sprecher forderten die Menschen dazu auf, nicht mehr tatenlos alles hinzunehmen, sondern sich zu erheben und zu handeln, denn zu lange hatten die Adligen auf ihre Kosten gelebt und die einfachen Menschen auf diese Weise ausgebeutet.   „Schau, André, ist das nicht Bernard?“, wies Oscar ihren Gemahl während einer Patrouille auf eine dieser Versammlungen hin.   „In der Tat... Das ist Bernard...“ Beim genaueren Hinsehen, erkannte er den ehemaligen schwarzen Ritter.   „Reiten wir hin und hören uns an, was er so vor dem Volk spricht“, schlug Oscar vor und wendete ihr Pferd in die Richtung der versammelten Menge. Sie waren ja ohnehin bei einem Kontrollritt und könnten sich sogleich ein genaueres Bild von solchen Versammlungen machen.   „...der Tag wird kommen, an dem wir wie Menschen leben werden!“, hörten sie gerade Bernards entschlossene und motivierende Rede über alle Köpfe hinweg hallen. „Denn wir sind Menschen, genau wie die da oben und wir haben ein Recht auf unseren Leben.“   „So gesehen hat er eigentlich recht...“, murmelte André kaum hörbar.   Oscar sah schlagartig zu ihm, aber sagte nichts, denn sie wusste genau, was er damit meinte und war demzufolge auf seiner Seite. Bernard sprach schon weiter ohne das Ehepaar am Rande der versammelten Menschen wahrzunehmen und diese hörten ihm wieder zu: „Lang genug hatten sie uns wie Tiere im Dunkeln gehalten, aber jetzt ist unsere Stunde gekommen – die Zeit der Unterdrückung ist vorbei!“   Die Menschen bejubelten ihn, stimmten in ihrer Euphorie angespornt ihm zu und in diesem Moment wendete Oscar ihr Pferd. „Hier scheint noch alles in Ordnung zu sein. Reiten wir weiter, André.“ Dieser holte sie sogleich ein. „Wollen wir ihm nicht einen Besuch abstatten?“   „Du hast recht, immerhin ist seine Rosalie bei uns und er hat das Recht zu erfahren, wie es ihr geht.“       - - -       „Oh, welch eine Freude!“, begrüßte Bernard seine Freunde und ließ sie in seine Wohnung herein. Er bereitete gleich einen Tee zum Aufwärmen für sie. „Wie geht es meiner Rosalie?“, fragte er dabei.   „Ihr geht es gut. Sie scheint etwas aufgeblüht zu sein.“, erklärte Oscar.   „Die Fürsorge für Eure Kinder ersetzt ihr den Verlust...“, meinte Bernard trüb. „Aber ich bin erleichtert, dass es ihr bei Euch soweit wieder gut geht.“   „Das wird schon, Bernard“, versuchte André ihn aufzumuntern.   „Das hoffe ich.“ Bernard runzelte missmutig mit seiner Stirn und senkte seine Stimme fast zum Flüstern: „Aber andererseits ist es vielleicht besser ohne Kinder zu sein...“   „Wie meinst du das?“, fragte Oscar erschrocken und kam gleich selbst auf die Antwort. „Vermutlich hast du in diesem Falle recht – die Zeiten sind viel unruhiger geworden und wenn ein Krieg ausbricht, dann werden die Kinder meistens die ersten Opfer sein...“   „Ihr habt es gut erfasst, Lady Oscar...“ Bernard kam an den Tisch zurück und stellte das Tablett mit einer Kanne Tee und drei Tassen darauf ab. „Wie geht es denn eigentlich Euren Zwillingen in diesen unberechenbaren Zeiten?“   Oscar nahm dankend einen Schluck von dem warmen Getränk und als sie die Tasse von ihren Lippen absetzte, meinte sie nur knapp: „Sie wachsen und bekommen nichts von dem Chaos mit.“   „Und sie werden weiterhin nichts davon mitbekommen“, fügte André hinzu und nippte auch an seinem Tee. „Dafür werden wir schon sorgen.“   „Ja, wir werden schon dafür sorgen, dass es ihnen gut geht. Momentan scheint es noch in Ordnung zu sein.“ Oscar behagte dieses Thema nicht und sie wechselte es daher. „Wir haben deine Rede angehört.“   „Ganz großartig, wir waren begeistert!“, stimmte André auch mit ein.   Bernard konnte die beiden verstehen und lächelte angetan für das Kompliment von André. „Bisher war alles in Ordnung – jedenfalls bei Leuten wie euch, aber die Zeiten ändern sich. Ich arbeite wie ihr wisst längst für Robespierre. Meine Mithelfer verteilen die Handzetteln und ich mache solche Versammlungen.“   „Wie interessant...“ Oscar spitzte hellhörig ihre Ohren.   Bernard kam sogleich ein Einfall in den Sinn. „Wollt Ihr und André bei uns nicht mitmachen? Ihr seid doch auf der Seite der Gerechtigkeit und solche Menschen wie Ihr werden wir sehr brauchen.“   „Nun...“ Oscar war für kurzen Moment sprachlos.   „Der Tee ist wirklich vorzüglich.“, mischte sich André ein. Er hatte Oscars Stummheit anders interpretiert. „Willst du nicht auch eine Tasse trinken?“   „Ihr weicht mir aus.“ Bernard runzelte missverständlich die Stirn. „Wenn ihr keine Interesse an der Bewegung habt, wieso wart ihr dann bei der Versammlung und habt meine Rede angehört?“   „Niemand hat gesagt, dass wir kein Interesse haben...“, klärte Oscar auf. „Wir werden darüber nachdenken. Danke für deine Gastfreundschaft, Bernard. Nun müssen wir zu unseren Kindern zurück.“   „Bernard! Hey, Bernard mach auf!“, erscholl es hinter der Tür, gefolgt von einem heftigen Klopfen. Bernard machte die Tür auf und zwei seiner Helfer platzten herein. „Du musst sofort mitkommen! Wir haben es geschafft! Die Dreiständekammer ist bestätigt!“   „Was sagt ihr? Ist es wirklich wahr?“ Bernards Gesicht hellte sich auf.   „Ja, Bernard, das ist wahr!“       Wegen den schlechten Umständen des Landes war der König sozusagen gezwungen, eine Dreiständekammer einzuberufen. Im Januar erließ er den Befehl die Dreiständekammer einzuberufen und am ersten Mai 1789 begann das Parlament. Die Söldnertruppe unter der Führung von Oscar sollte das Parlamentsgebäude bewachen und für Ordnung sorgen.   „Seit das Parlament eröffnet wurde, gab es keine Pause“, meinte André an einem sonnigen Tag bei der Wache zu seinem Freund. „Es scheint heiß her zu gehen.“   „Ja.“, bestätigte Alain. „Es wird erzählt, dass unsere Volksvertreter denen von der Kirche und Nichtstuern von Adel ganz schön kräftig zusetzen. Ich gäbe was dafür, wenn ich dort Mäuschen spielen dürfte.“ Er sah zu André und dann über seine eigene Schulter. „Oh, da kommt deine Oscar.“ Oscar kam zu den beiden näher und Alain verwickelte sie gleich in ein Gespräch. „Und was tut sich da? Gibt es etwas Neues im Parlament?“   „Sie liefern sich bittere Mordgefechte.“ Oscar ging an den beiden Männern vorbei. „Wenn diese Konferenz vorbei ist, brauchen wir einen Urlaub. Aber bis dahin müssen wir hart arbeiten.“   „Was macht eigentlich Diane, Oberst?“ Wenn sie schon hier an ihnen direkt vorbeilief, da konnte er auch gleich etwas über seine Schwester erfahren.   Oscar blieb unvermittelt stehen. „Ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen.“, sagte sie und schmunzelte unwillkürlich. „Aber ihr geht es gut.“   „Das kann ich nur bestätigen.“ Auch André konnte kaum ein Grinsen verbergen. Alain sollte ja nicht wissen, was er und Oscar einen Monat vor der Parlamentseröffnung entdeckt hatten. Mit dem Wissen, dass es seiner Schwester immer besser ging und nach einigen Besuchen auf dem Anwesen blühte auch Alain auf und war wieder ganz der Alte. Aber da er trotzdem noch alle Männer mit seinem scharfen Mörderblick erdolchte, sobald einer von seinen Kameraden nach Diane fragte, war es daher besser, ihm nichts von den Beobachtungen an dem einem so angenehmen Frühlingstag zu erwähnen. Gilbert hatte nämlich Diane an der Hand gehalten, aber so vorsichtig und schüchtern, dass das Ehepaar immer noch darüber schmunzelte. Sie hatten das Pärchen rein zufällig beobachten können und sich nicht eingemischt. Das war eine Sache zwischen den beiden und es entstand eine kleine Hoffnung in diesen düsteren Tagen auf ein frisches Liebesglück. Gilbert hatte Diane ganz diskret seine Unterstützung angeboten und ihr sein Herz zu Füßen gelegt. Seit dem lief Diane ständig mit rotglühenden Wangen und spannte den armen Gilbert mit ihrer Antwort auf die Folter und Oscar mit André behielten daher das alles lieber für sich.       Eine Kutsche fuhr an ihnen plötzlich vorbei und verließ den Hof. Oscar sah ihr mit mulmigen Gefühlen nach. „Die Kutsche von Marie Antoinette. Das heißt, dass die Parlamentssitzung abgebrochen wurde...“ Und den Grund dafür sprach niemand laut aus. Der Thronfolger, Prinz Louis Joseph war sehr krank und es ging ihm anscheinend noch schlimmer, dass die Versammlung des Parlaments deshalb unterbrochen werden musste...   Man hoffte und bangte, dass es nicht so schlimm sei, aber die Hoffnung zerplatzte und der junge Prinz lebte nicht mehr lange...   „Er war erst sieben Jahre und acht Monate alt geworden...“, sagte Oscar zu ihrem Mann an dem einen verregneten Junimorgen in ihrem Salon und ritt gleich danach unverzüglich zum Schloss, um der königlichen Familie ihr Beileid auszusprechen.       Der Trauer währte nicht lange, wie bitter es auch war, aber die Parlamentssitzung musste fortgesetzt werden – die Menschen bestanden darauf. Jedoch stritt man sich nur die meiste Zeit, anstelle zu einem Ergebnis zu kommen.   „Heute wird Robespierre eine wichtige Rede halten... Wer weiß, vielleicht hat er die Lösung für diese verfahrene Situation...“ Oscar ging die Reihe ihrer Soldaten vor dem Parlament durch und war bereits schon vollkommen durchnässt. Seit Tagen regnete es ohne Unterlass und Oscar fühlte sich nicht wohl. Sie dachte, es eine Erkältung war, aber es war noch schlimmer. Wieder stieg der brennende Reizhusten ihre Kehle hoch, in ihren Lungen rasselte es und sie musste ihre behandschuhte Hand vor dem Mund halten, um den plötzlichen Husten abzudämpfen. Sie lehnte sich etwas an einer Säule an und der Husten schien sich zu legen.„Halte durch, du schaffst das...“, redete sie sich ein und schloss die kleinen Blutstropfen auf ihrem weißen Handschuh in eine Faust so stark und fest, dass es beinahe wehtat. Kapitel 35: Offenbarung ----------------------- André machte sich große Sorgen um seiner Frau. Mit Oscar stimmte etwas nicht – sie wirkte immer blasser und erschöpft. Nun gut, erschöpft waren sie alle, in Anbetracht der Umstände, die in den letzten Wochen geschahen. Der Streit im Parlament zwischen den Abgeordneten spitzte sich weiterhin zu und es schien kein Ende zu haben.   „Sag mal, wo ist eigentlich unser Oberst?“, fragte ihn Alain während der Wache vor dem Parlamentsgebäude an einem von grauen Wolken verzogenen Junitag. Das war äußerst selten, dass Oscar unbegründet ihren Posten als Verantwortliche für die Sicherheit und als Befehlshaber verließ.   „Sie ist nach Versailles geritten“, meinte André und versank wieder in Grübeleien über seine Frau.       Oscar war in der Tat zu Audienz bei der Königin vorbestellt. „Ihr habt mich rufen lassen, Majestät?“ Sie beugte ordnungsgemäß das Knie.   Marie Antoinette saß wie immer hochmütig auf ihrem Thron – seit das Parlament geöffnet wurde, war sie hager und ernster geworden. Neben ihr stand Madame de Jarjayes und begutachtete sorgenvoll ihre Tochter. Und da war noch ein Mann dabei – ein Arzt, der bei ihr ein ungutes Gefühl hervorrief. Was sollte er hier? Ging es der Königin etwa nicht gut?   Das wäre gut möglich, nach den ganzen Strapazen wegen der Nationalversammlung und dem Verlust des Kindes... Marie Antoinette deutete Oscar mit einem Wink, aufzustehen. „Erhebt Euch, liebe Oscar.“ Oscar tat wie ihr geheißen und Ihre Majestät fuhr fort. „Wie geht es Euch?“   „Mir geht es bestens, Euer Majestät.“   „Oscar...“, murmelte Emilie verständnislos.   Marie Antoinette schüttelte den Kopf und gab zu verstehen, dass sie ihr nicht glaubte. „Lady Oscar, warum seid Ihr nicht ehrlich?“   „Ich verstehe nicht...“ Oscar wunderte sich und das Gefühl des Unbehagens wuchs. „Ich war stets ehrlich zu Euch und das bin ich noch immer...“, versicherte sie überzeugt.   Erneut schüttelte die Königin den Kopf und gab dem Arzt ein Handzeichen, woraufhin dieser ein Taschentuch rausholte, es auffaltete und ihr vorzeigte. Oscar war erschrocken, denn auf dem Tuch hafteten sich vertrocknete Blutstropfen und in einer Ecke waren ihre Initialen aufgenäht. „Woher...“   „Ein Stallknecht hatte es in Euer Satteltasche gefunden.“, erklärte Marie Antoinette nachdrücklich. „Das ist doch Euer Tuch, nicht wahr? Und Ihr seht blass aus...“   Besser gesagt ein Stallknecht erhoffte sich wohl in den Satteltaschen von dem erhabenen Kommandanten Oscar auf etwas Wertvolles oder Essbares zu stoßen und stattdessen fand er aber das blutbefleckte Taschentuch, was er auch gleich der Königin meldete und diese dann ihre Eltern einweihte.   „Das bedeutet noch gar nichts!“, schnaubte Oscar außer sich.   „Oscar, bitte...“, flehte ihre Mutter. „Verrate uns was du hast...“   „Nichts, Mutter, ich schwöre es!“, verteidigte sich Oscar und bekam mehr das Gefühl, auf einem schmalen Pfad zu laufen und kurz vor dem Abgrund zu stehen, denn niemand glaubte ihr hier.   Marie Antoinette schüttelte abermals den Kopf, aber diesmal bedauerlich. „Dann lasst Ihr uns keine andere Wahl, als Euch erneut zu untersuchen, Lady Oscar...“   „Wie bitte? Nein, ich...“, setzte Oscar zum Protest an, aber die Königin verbat ihr sofort den Mund. „Ihr verlasst diesen Raum nicht, bevor Ihr nicht untersucht worden seid!“, erhob Marie Antoinette ihre Stimme und schaute auffordernd zum Arzt. „Doktor, Ihr könnt beginnen.“   „Jawohl, Euer Majestät.“       Wohl oder übel musste sich Oscar fügen. In dem kleinen, abgetrennten Zimmer untersuchte der Arzt sie und als er fertig war, stellte er eine schreckliche Diagnose fest. „Tuberkulose?“ Marie Antoinette wurde kreidebleich.   „Ja, Euer Majestät, mein Verdacht wurde nun bestätigt. Ich empfehle Lady Oscar, ans Meer und dort, wo es wärmer ist, zu fahren. Sonst wird es noch schlimmer und ihre Lebenszeit ist verkürzt. Hier im Norden herrscht zur Zeit Chaos und auch regnet es ununterbrochen, das wird die Krankheit nur noch verstärken und ausbreiten lassen.“   „Danke, ich habe genug gehört, Doktor.“ Marie Antoinette sah wieder die perplexe Oscar an. „Ihr werdet zu Eurem Gutshaus in die Normandie gehen, Lady Oscar, dort ist es wärmer und die Meeresluft wird Euch sicherlich kurieren können.“   „Majestät, ich kann aber nicht ausgerechnet jetzt meinen Posten als Kommandant verlassen!“, empörte sich Oscar.   „Nun, ich entbinde Euch von dem Posten als Kommandant für zehn Tage und wenn Ihr zurück seid, dann könnt Ihr ihn wieder aufnehmen. Ach ja, damit keiner Euer Soldaten Verdacht schöpfen kann, lasse ich verlauten, dass Ihr in meinem Auftrag in die Normandie gereist seid.“   „Nein, ich bitte Euch, schickt mich nicht fort, meine Männer brauchen mich!“   „Deine Kinder brauchen dich auch, Oscar...“, hielt Emilie es nicht mehr aus und Oscar hielt inne. „Meine Kinder...“, murmelte sie leise.   „Was soll denn aus ihnen werden, wenn Ihre Mutter der Krankheit erliegt?“, fügte Emilie ganz mitleidig hinzu. „Und erst recht aus ihrem Vater, wenn er seine geliebte Frau verliert?“   Daran hatte Oscar nicht gedacht. „Trotzdem möchte ich hier bleiben...“, brachte sie beinahe kleinlaut von sich.   „Lady Oscar, mein Entschluss steht fest.“ Marie Antoinette wollte keine Widerrede mehr hören. „Ihr geht in die Normandie und die Kinder werden derweilen bei mir in Versailles sein.“   „Bitte nicht...“, schoss es Oscar in Gedanken, aber bevor sie weiteren Protest von sich gab, sprach Ihre Majestät schon unbeeindruckt weiter: „Da fällt mir ein, Euer Vater hatte sogar vorgeschlagen, seinen Ziehsohn hier schon bald in Erziehung zu geben und damit können wir eigentlich gleich beginnen...“   „Nein!“ Oscar hielt es nicht mehr aus, ihr platzte der Kragen. „Mein Vater hat nicht über seinen Ziehsohn zu bestimmen! Das alleinige Recht haben nur dessen leibliche Eltern! Sonst niemand mehr! Ich lasse das nicht zu!“   „Ich habe geahnt, dass du so reagierst, Oscar.“, mischte sich nun auch Emilie ein – in einem gelassenen und ruhigen Ton, als rede sie auf einen unbändiges Kind ein. „Deswegen bat ich Ihre Majestät, die Kinder mit dir in die Normandie zu schicken, da sie noch klein sind und weil hier in Versailles und der Umgebung große Unruhen herrschen.“   „Und ich habe bereits zugestimmt. Auch Eure Mutter beurlaube ich für zehn Tagen, damit sie sich um ihre Ziehkinder und Euch kümmern kann.“, meinte Marie Antoinette und lies Oscar somit keine andere Wahl zu weiteren Einwänden. „Also fahrt in die Normandie mit ihnen und erholt Euch, das ist nun ein Befehl, Lady Oscar.“   „Damit kann ich leben...“, sagte Oscar zähneknirschend und verneigte sich tief.       - - -       „Normandie? Aber wieso?“, fragten Alain und André fast im Chor, als Oscar ihnen das mitteilte.   „Ja, im Auftrag Ihrer Majestät soll ich schon morgen dorthin aufbrechen. Deswegen übernehmt ihr beide die Befehlsgewalt für mich. Es sind nur zehn Tage, aber haltet mich auf den Laufenden und wenn etwas passiert, dann lasst nach mir sofort rufen.“   „In Ordnung, Oberst.“ Alain salutierte. „Wir werden hier schon für Sicherheit und Ordnung sorgen, darauf könnt Ihr Euch verlassen.“   „Gut. Und ich vertraue auf euch. Jetzt muss ich noch meine Sachen packen.“ Oscar ritt dann gleich Heim, in Begleitung von André.   „Ich werde dich natürlich begleiten.“, sagte André auf dem Weg wie selbstverständlich.   „Nein, bleibe bitte hier und sorge mit Alain für Ordnung.“ Sonst würde er noch über ihre Krankheit herausfinden und das wollte Oscar ihm nicht antun.   „Aber Oscar...“   „Bitte André, mache es mir nicht noch schwerer...“ Oscar schluckte bitter und versuchte ihn zeitgleich zu beruhigen. „Und zudem noch kommen unsere Kinder und meine Mutter auch mit. So ist es sicherer für sie.“   „Ich verstehe nicht, was das für ein Auftrag sein sollte, dass du unsere Kinder und deine Mutter mitnimmst?“ Es reichte! André war genug am verzweifeln und nun wollte er sich endgültig Klarheiten verschaffen. „Was ist passiert, Oscar? Was ist mit dir in letzter Zeit los? Du siehst blass aus...“   „Ich habe mich nur erkältet, mehr nicht...“ Oscar sprach das nicht einmal zu Ende aus, als André ihr ungewöhnlich scharf das Wort abschnitt: „Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass die Königin dich nur wegen einer Erkältung in die Normandie schicken würde und das auch noch mit den Kindern! Mir kannst du nichts vormachen, ich spüre doch ganz genau, dass mit dir etwas los ist. Bitte, Oscar, sag mir, was du hast!“   Oscar war hin und her gerissen. Sie wollte ihm nichts sagen, aber genauso wollte sie ihn nicht im Ungewissen lassen. Es blieb ihr nur eine Möglichkeit, aber dafür brauchte sie sein sicheres Wort. „Versprich mir aber, dass du hier bleibst.“   „Ich schwöre es dir sogar, Oscar!“ Egal was er zu Hören bekommen würde, aber Hauptsache war, dass sie ihm endlich alles erzählte! „Bitte befreie mich von dieser Ungewissheit!“   „André...“ Oscar hatte Mühe, ihren Mut zu sammeln und ihm die schreckliche Gewissheit offenbaren: „Ich habe Blut gehustet... Ihre Majestät hat den Verdacht, dass ich Tuberkulose habe und deshalb schickt sie mich fort, damit ich mich von dieser Krankheit erholen kann...“ Kapitel 36: Arrest ------------------ Oscar spazierte am Strand und atmete tief die salzige Meeresluft in ihre Lungen ein und ließ sie durch die Nase lautlos ausatmen. Hier war es in der Tat wärmer und ihr ging es schon etwas besser. Jedoch an Erholung dachte sie nicht. Unruhe und Sorge herrschten in ihr. Die Schatten einer dunklen Vorahnung begleiteten sie auf Schritt und Tritt. Sie musste ständig an ihren André denken und wie er sie schweren Herzens gehen ließ – weil er ihr es versprochen hatte, in der Kaserne zu bleiben und mit Alain stellvertretend über die Kompanie zu bestimmen. Zwar hatten sie den Oberst Dagout, aber Oscar verließ sich mehr auf die beiden als auf den ihresgleichen untergebenen Adjutanten.   „Oscar, liebes, du bist wieder in Gedanken“, hörte Oscar die sorgenvolle Stimme neben sich und kehrte in die Wirklichkeit zurück. „Es ist nichts, Mutter. Der Wind wird frischer. Gehen wir lieber wieder ins Haus.“   „Wie du willst.“       - - -       „Madame Oscar! Gilbert ist hier.“, teilte Rosalie mit, kaum dass die zwei Damen das Haus betraten und Oscar war sofort auf der Hut. „Ist etwas passiert?“   „Das wollte er uns nicht sagen, solange Ihr nicht zurück seid.“, erwiderte Rosalie und Oscar eilte in den Empfangssalon. Gilbert stand sofort von einem Stuhl auf und verbeugte sich. „Lady Oscar...“   „Rede, was vorgefallen ist!“, verlangte Oscar auf der Stelle.   Gilbert reichte ihr stattdessen einen versiegelten Brief. „Ich sollte Euch das von Grafen de Girodel übergeben. Er meinte, er habe alles Mögliche getan, aber mehr kann er auch nicht tun...“   Oscar brach hastig das Wachssiegel und überflog schnell den Brief ihres einstigen Untergebenen: „Madame, ich grüße Euch. Ich hätte Euch gerne besucht, aber zu meinem Leidwesen stehe ich unter Hausarrest. Diesen Brief habe ich deshalb in Eile geschrieben und wenn Ihr ihn liest, dann habe ich es auch rechtzeitig geschafft, ihn Eurem einstigen Kindermädchen zu geben, damit sie jemanden findet, der ihn Euch übergeben kann. Aber nun zur Sache: Gestern wurde das königliche Regiment zum Parlament beordert, um die nationale Volksversammlung mit Waffengewalt zu vertreiben. Ich habe an Euch gedacht und dementsprechend gehandelt. Ich habe dem obersten General erklärt, dass wir nicht gegen Unbewaffnete angehen können und abwarten, bis sie zu Waffen greifen. Dafür wurde ich unter Hausarrest gestellt – im Gegensatz zu gewissen Söldnern, die den gleichen Befehl von gestern, wenige Stunden bevor ich denselben Befehl erhalten habe, verweigert hatten. Sie beharrten darauf, dass nur ihr Oberst ihnen die Befehle erteilen kann und solange dieser nicht zurück ist, werden sie nichts unternehmen. Tja... Der Anführer dieser Abtrünnigen, mit einem roten Halstuch, sein einäugiger Freund und elf weitere Männer wurden wegen Befehlsverweigerung verhaftet und im Gefängnis eingesperrt... Sie werden alle am ersten Juli um die Nachmittagszeit hingerichtet. Ich bedauere sehr, Euch damit konfrontieren zu müssen, meine liebe Madame, aber der Hausarrest ist nicht gerade erheiternd und Eure Anwesenheit könnte die Stimmung natürlich in andere Bahnen lenken. Mit vielen Grüßen, Euer treuergebener Freund.“   Es gab keinen Namen, aber Oscar verstand auch zwischen den Zeilen sehr gut, wer alles gemeint war. Der Brief stellte eine geheime Botschaft dar, falls er in falschen Hände geraten sollte. Der erste Juli... Noch drei Tage bis dahin... Es müsste etwas im Parlament vorgefallen sein, weshalb der oberste General den Männern solch einen abschreckenden Befehl gegeben hatte! Und sie, Oscar, hatte fast eine Woche hier vergeudet, ohne ihren Männern Rückhalt zu gebieten oder ihnen auch beistehen zu können! Oscar hatte genug gelesen. „Rosalie, hol meine Uniform sofort aus der Truhe! Ich muss auf der Stelle nach Paris!“   „Was ist passiert?“ Emilie kam besorgt auf sie zu.   „Mein André ist in Gefahr!“ Oscar drückte ihr nur den Brief in die Hand, bevor sie auf ihr Zimmer stürmte, um sich umzuziehen. „Lest selbst, Mutter!“       - - -       „Ich habe es geahnt, ich hätte nicht abreisen dürfen!“, erklärte sie allen Beteiligten, als sie wieder im Salon in ihrer blauen Uniform erschien. Die Stimmung war angespannt und hing schwer im Raum. „Gilbert, du kommst mit mir mit! Mutter, Ihr, die Kinder, Rosalie und Diane bleiben hier! Am besten kehrt ihr alle nie mehr nach Paris!“ Sie ging an die Wiege und strich den schlafenden Zwillingen liebevoll über die Wange. „Ich bringe euren Vater zurück, ich schwöre es!“ Sie drehte sich um und sah die verängstigte Diane an. „Auch Alain, und alle anderen meiner Männer! Ich lasse niemanden sterben!“   Emilie kam auf sie zu und nahm ihre angespannten Hände an sich. Sie betrachtete kurz ihr Gesicht, das schon seit Tagen keine verräterische Blässe mehr aufwies und auch das Bluthusten hatte sich zwei Tage nach ihrem Aufenthalt hier in der Normandie abgeebbt. Oscar sah genesen aus und doch war Emilies mütterliches Herz voller Sorge. „Ich weiß, ich kann dich nicht aufhalten, aber versprich mir, dass du auf dich aufpasst, mein Kind.“   „Ich verspreche es, Mutter.“ Oscar sah sich im Raum um. „Gilbert, wir gehen!“   Dieser nahm nur noch Dianes Hand und hauchte ihr einen Kuss darauf. „Mach dir keine Sorgen, es wird alles gut.“ und dann eilte er Oscar nach.       Oscar ritt geradewegs zum Anwesen und gönnte weder sich, noch ihrem Pferd eine Pause. Die Zeit rann ihr davon wie Wasser zwischen den Fingern. Morgen sollte die Hinrichtung stattfinden – das war zu knapp, um die Königin oder den obersten General um die Freilassung zu bitten. Sie musste sich etwas anderes einfallen lassen!       „Lady Oscar?“ Sophie war sichtlich erstaunt, als ihr Schützling unverhofft durch das Anwesen stürmte.   „Ist mein Vater zuhause?“ Oscar hatte im Stall sein Pferd gesehen und schöpfte eine gewisse Hoffnung. Sophie nickte nur und Oscar erstürmte buchstäblich dessen Salon. „Vater, ich muss mit Euch reden!“   „Was machst du hier, Oscar?!“, brauste General gleich auf. „Du musst in der Normandie sein!“   „Aber nicht wenn mein Mann und meine Soldaten schon morgen hingerichtet werden sollen!“ Oscar schnaufte schnell und außer sich vor Wut und Reynier glaubte noch etwas in ihrem gehetzten Blick zu erkennen. Etwas, was einer Verzweiflung glich. Aber er versuchte das zu ignorieren, er war noch für einen Wimpernschlag verdattert. „Woher weißt du das?“   „Das spielt keine Rolle!“, fauchte Oscar kaum noch an sich haltend. „Ich bin hier, um sie freizulassen! Sie sind unschuldig und hatten nur meinem Befehl gefolgt!“   Welchen Befehl? Wie konnte sie Befehle erteilen, wenn sie in der Normandie war? Woher wusste sie überhaupt, was hier geschah? „Du sorgst dich um deine Soldaten?“ Reynier wurde in demselben Moment etwas klar: Jemand musste Oscar eingeweiht haben. Wer das allerdings war, würde er später herausfinden. Jetzt musste er als erstes seine Tochter in die Schranken weisen. „Ich hätte es verstanden, wenn es nur André wäre...“   „Er gehört mit dazu!“   „Schweig!“, schnitt Reynier ihr barsch das Wort ab. „Du missachtest die Befehle Ihrer Majestät, kommst frühzeitiger zurück als es dir angeordnet wurde und stellst mir auch noch Forderungen!“   „Es sind keine Forderungen, Vater! Es ist eine Bitte!“ In Oscar stieg noch mehr Wut und Aussichtslosigkeit zu gleich. Es war anscheinend keine gute Idee einer falschen Hoffnung zu glauben, sich ausgerechnet an ihren Vater zu wenden, denn einen Verständnis für so ein Handel würde er nie zeigen, geschweige denn ihr die Bitte erfüllen. Dennoch hatte sie keine andere Wahl und die Zeit war auch noch knapp... „Ich stelle Euch sogar gerne mein eigenes Leben zur Verfügung, um das der meinem Männer zu schützen!“   „Du stehst höchstens unter Hausarrest!“, beschied sie Reynier streng, aber bei Oscar prallte das ab wie Wasser und sie geriet immer mehr in Rage. „Und was ist mit meinen Männern? Bedeuten denn deren Leben gar nichts?“   „Wenn sie keine Verräter wären, dann schon!“ Reynier kam immer näher auf sie zu. Wenn sie nicht gleich aufhören würde, dann würde er für nichts garantieren können!   Oscar spürte, dass jetzt etwas geschehen würde, dass er gleich etwas machen würde, aber das war ihr gleichgültig und sie war nicht bereit, vor ihm deswegen nachzugeben. „Einem Befehl ihres Kommandanten zu folgen ist kein Verrat, Vater!“   Reynier hielt es nicht mehr aus und verlor die Kontrolle über sich. Er hatte sie ja gewarnt! „Ich sagte, du sollst schweigen und mir zu hören!“ Hart schlug seine Handfläche gegen Oscars Wange, dass seine Tochter zurücktaumelte, aber in ihrer Standhaftigkeit nicht brach. „Dafür ist es keine Zeit!“ Oscar stellte sich wieder aufrecht hin und verbat sich an der rotglühenden Wange zu reiben. „Wenn Ihr es nicht wollt, dann gehe ich selbst zu dem König!“   „Das wird dir nichts nützen!“, schnaubte Reyner gedämpft und das bewirkte, dass Oscar verwundert auf der Stelle verharrte. „Woher wollt Ihr das wissen?!“   „Weil ich schon mit seiner Majestät und dem obersten General darüber gesprochen habe!“   „Und was haben sie geantwortet?“ Besser gesagt, warum sagte ihr Vater das nicht gleich, sondern ließ es zuerst zu so einer Debatte kommen?!   „Das, was ich dir bereits gesagt habe.“, meinte Reynier und ließ sie nicht aus den Augen. „Die Hinrichtung wird vollzogen und an den Männern ein Exempel statuiert.“   „Nein, bitte nicht...“   „Doch, Oscar. Sie willigten ein, nur einen einzigen Mann zu verschonen, dank meinen guten Verdiensten und der Bitte Ihrer Majestät der Königin...“   „André...“ Oscar schluckte hart.   „Ja, André. Allerdings wird er erst nach der Hinrichtung freigelassen – gerechtigkeitshalber. Und jetzt geh auf dein Zimmer und störe mich nicht! Ich muss heute noch nach Versailles und wenn du dein Hausarrest abgesessen hast, sollst du das Gleiche tun und dich bei Ihrer Majestät bedanken, wenn du nicht als Verräterin da stehen willst.“   „Ja, Vater...“ Im Gegensatz zu ihrer Zustimmung dachte Oscar aber nicht daran, hier tatenlos herumzusitzen. Sie wartete, bis ihr Vater fort war und noch in derselben Nacht suchte sie Bernard in Paris auf. „Ich bitte Euch mir zu helfen, Bernard...“ Sie schilderte ihm die Lage ihrer gefangengenommenen Männer ausführlich.   „Ich werde Euch selbstverständlich helfen, Lady Oscar! Ich schulde Euch doch einen Gefallen und Ihr kümmert Euch bereits seit langem um meine Rosalie...“   „Ich danke Euch von Herzen, Bernard.“, verabschiedete sich Oscar. Sie schaffte es gerade rechtzeitig nachhause zu kommen und sich umzuziehen, als ihr Vater sie beim Morgengrauen aufsuchte. „Oscar! Ich habe gerade von Ihrer Majestät erfahren, dass dein Hausarrest aufgehoben wird!“   „Aber wie...“   „Nun, es gab Gerüchte, dass tausende Menschen sich vor dem Gefängnis von Abaye versammeln und du sollst mit deinen Soldaten dafür sorgen, dass es keinen Aufstand gibt! Das ist die beste Gelegenheit für dich deine Königstreue zu beweisen! Also enttäusche mich nicht!“   Also hatte es Bernard geschafft. Als der Befehlshaber der Wache war Oscar für die Ruhe in der Stadt verantwortlich und konnte mit ihrem Vorhaben den König davon überzeugen, dass eine aufgebrachte Bevölkerung durchaus anders sein könnte um die Männer zu begnadigen – darauf hoffte Oscar sehr, während sie ihre blaue Uniform anzog und zur Kaserne aufbrach. Kapitel 37: Sie wird kommen --------------------------- André stand am vergitterten Fenster des Gefängnisses, wenn man das überhaupt als Fenster bezeichnen konnte, und sah lustlos auf das sichtbare Stück Himmel. Heute war der Hinrichtungstag. „Sie wird kommen...“, wiederholte er immer wieder die Worte wie eine Losung und versuchte die Ruhe zu bewahren, denn sie saßen hier angespannt schon seit fünf Tagen und die Henkersmahlzeit war ihnen auch schon heute früh gebracht worden... Wie eigenartig, dass einem das Leben in einem Lauf im Kopf durchgeht, wenn man sich bewusst wird, wie wenig noch zum Leben zur Verfügung übrig blieb... „Sie wird kommen...“   Vor fünf Tagen hatte André nicht einmal in Erwägung gezogen, dass es so enden würde... Man hatte ihnen zuerst befohlen, die Parlamentarier nicht in das Gebäude rein zulassen – die Volksvertreter sollten nach getrennten Ständen weiter diskutieren, war die Erklärung gewesen. Welch ein bitterer Schlag für das Volk – die Obersten und der König missachteten damit die Rechte der Menschen und traten sie mit Füßen. Alain, mit Hass auf die ungerechte und unwürdige Behandlung von den oberen Mächten, befahl seinen Kameraden die Türen zu öffnen. Diese ließen sich das nicht zwei Mal sagen und befolgten mit Freude dessen Befehl. André hatte sich dabei überlegt, ob Oscar auch so handeln würde und kam zu Erkenntnis: Ja, das würde sie!   Nicht lange und der Oberst Dagous befahl ihnen, die Parlamentarier mit Waffengewalt aus dem Gebäude zu verjagen, aber keiner der Söldner hatte sich vom Fleck gerührt. „Wir werden nicht weichen, bis Oscar hier eintrifft!“, hatte André mit Inbrunst verlautet und Alain stimmte ihm zu. „Genau! Nur unser Kommandant hat das Recht, uns Befehle zu erteilen!“   Elf weitere Kameraden schlossen sich ihnen an und kurz darauf wurden sie verhaftet. Nun harrten eben diese Männer still aus und verabschiedeten sich bestimmt in Gedanken von ihrem Leben. Alain stand auf und kam zu André. „Das ist natürlich ein tröstender Gedanke, Kumpel, dass deine Oscar kommt... Aber wie soll sie denn kommen, wenn sie nicht einmal weiß, was hier geschehen ist?“   „Ehrlich gesagt, keine Ahnung, Alain...“ André seufzte schwer. „Aber sie wird kommen, das spüre ich...“   „Männer, seid leise!“, unterbrach sie einer der Söldner. „Hört ihr das?“   André und Alain horchten auf. Draußen geschah etwas, was sie nicht sehen konnten. Zu hoch waren die Gitter angebracht. Aber sie hören es immer deutlicher: Es klang nach einem Aufstand von vielen Menschen, die allerdings ruhig zu verlaufen schien. Nur ihre lauten und fordernden Stimmen erreichten sie. Und kurz darauf öffnete sich plötzlich die Eisentür des Gefängnisses. „Ihr alle seid frei.“, sagte der Wachmann – nicht gerade begeistert und mit verzogenem Gesicht.   Die Männer starten ihn ungläubig an, versuchten zu verstehen, aber dann marschierten sie erhobenen Hauptes aus der Zelle. Draußen neigte sich der Tag dem Nachmittag zu und viele tausende Menschen vor dem Gefängnis bejubelten deren Freilassung. „Oscar!“ André rannte beinahe los, als er seine Frau an der Spitze der anderen Söldner im Sattel sitzend sah. „Ich wusste, dass du kommst!“   „Es war aber knapp.“ Oscar lächelte zufrieden und sah gleich Alain an. „Diesen Erfolg habt ihr nicht Bernards, sondern meinem Einfluss zu verdanken. Es war die Macht des Volkes.“   Alain bestaunte sie kurz, dann reichte er ihr die Hand. „Wisst Ihr was, Kommandant? Allmählich fange ich an zu verstehen, worauf es im Leben wirklich ankommt.“   Oscar drückte ihm die Hand fachmännisch und besiegelte somit die Freundschaft zwischen ihnen. „Ihr habt während meiner Abwesenheit sehr gut durchgehalten, wofür ich euch allen danke. Und jetzt geht nach Hause, erholt euch und morgen tretet ihr wieder euren Dienst an.“   „Unter Eurer Führung sehr gerne, Oberst.“ Alain grinste schief.   „Wie ihr seht, bin ich bereits ab heute wieder im Dienst.“ Oscar blieb undurchschaubar und kühl.   „Umso besser für uns alle.“ Alain entzog ihr seine Hand und drehte sich zu seinen Männern um. „Lasst uns in einen Gasthof gehen und auf unseren Oberst anstoßen!“   Die Männer johlten und marschierten los. Alle, bis auf André. Er bekam von einem seiner berittenen Kameraden ein Pferd und ritt mit Oscar zum Anwesen. Auf dem Weg durch den Wald erzählte sie ihm die Ereignisse. André erfuhr nun alles und dass es die Königin war, die den König zu der Freilassung bewog – um wegen 12 Männer das schöne Paris nicht in Schutt und Asche zu legen...       - - -       „André, mein Junge!“ Sophie warf sich ihrem Enkel um den Hals, kaum dass dieser das Anwesen betrat. Sogleich aber machte sie sich von ihm los und rümpfte mit der Nase. „Du riechst, als hättest du monatelang kein Wasser gesehen!“   „Ich war fast eine Woche im Gefängnis, Großmutter...“, André wich etwas beschämend zurück und rieb sich verlegen den Nacken.   „Du wirst sofort ein Bad nehmen!“ Sophie, kaum dass sie das sagte, marschierte schon energisch los.   „Lass aber bitte den Zuber in meinem Zimmer bereiten, Sophie.“, hielt sie Oscar kurz auf.   Die alte Haushälterin blieb stehen. „Wir haben dafür aber Baderäume! Und Ihr wollt doch nicht zusammen mit ihm in einem Zuber baden?“   „Was ist dabei? Wir sind doch verheiratet.“ Oscar hätte am liebsten aufgelacht, aber sie wollte Sophie nicht beleidigen.   „Ist schon recht, Lady Oscar.“ Sophie ging weiter.   Oscar sah zu ihrem Mann und dieser lächelte sie liebevoll an, aber nicht für lange – ein junger Mann betrat vorsichtig den Raum. „Lady Oscar?“   „Was ist, Gilbert?“ Der liebreizende Glanz erlisch sich gleich bei Oscar.   Gilbert kaute nervös auf der Lippe, bevor er leicht stotternd mit dem Reden anfing: „Es ist gerade nicht passend... und ich will Euch nicht weiter aufhalten... aber darf ich Euch trotzdem etwas fragen?“   „Um was geht es?“ Oscar zog schon streng ihre Augenbrauen zusammen. Es könnte ja eine schlechte Kunde sein und sie bereitete sich schon darauf vor.   „Nun... es geht um Diane... ich... sie...“ Gilbert traten bereits Schweißperlen auf die Stirn und er verfluchte sich innerlich für seine Aufregung.   „Komm zur Sache.“, drängte André. Obwohl er ahnte, was Gilbert zu sagen beabsichtigte, wollte er ja ebenso so schnell wie möglich mit seiner Oscar alleine sein.   Oscars Stirn glättete sich, ihr leuchtete alles ein und sie atmete erleichtert auf – es war nichts zu befürchten und das war gut. „Er ist verliebt und will bestimmt um ihre Hand bitten“, half sie ihrem Mann auf die Sprünge.   „Ähm... ja... das stimmt...“ Gilbert schluckte mehrmals.   „Na siehst du, war das so schwer?“ Oscar schmunzelte. „Aber leider kann ich dir keine Zustimmung darauf geben. Da musst du schon ihren Bruder fragen.“   „Und er schlägt jeden grün und blau, wer nur ein Auge auf Diane wirft, ich weiß... Davon hatte ich schon zu genüge gehört...“, schniefte Gilbert aussichtslos. „Deswegen dachte ich, lieber Euch fragen, da Ihr Euch um sie kümmert und sie Eure Kinder großzieht...“   „Nun...“ Oscar war für einen Augenblick sprachlos, aber dann schüttelte sie bedauernd den Kopf. „Tut mir leid, ich kann nicht für Alain entscheiden.“   Gilbert senkte trüb den Kopf und André kam ein Einfall. „Hast du eigentlich Diane gefragt, ob sie deine Frau werden will?“   „Nein, noch nicht... aber sie liebt mich, das weiß ich.“   Oscar tat der junge Mann beinahe leid. Also legte sie ihm aufmunternd die Hand auf Oberarm. „Dann schlage ich vor, dass du zu ihr reitest und sie fragst. Wenn sie einverstanden ist, dann wird auch Alain nichts dagegen haben.“   „Bist du dir sicher, Oscar?“ André zweifelte irgendwie daran, dass Alain so leicht einverstanden sein würde. „Ich meine, wir kennen doch Alain besser und nach dem was mit seiner Schwester passiert ist, würde er bestimmt...“   „Das ist ungewiss, was er machen wird.“, unterbrach ihn Oscar. „Aber ich denke, dass Diane die Einzige ist, die ihren Bruder überzeugen kann und weil er sie so sehr liebt, wird er schon klein beigeben.“ Sie schaute wieder zu dem jungen Mann. „Also morgen kannst du aufbrechen. Und zusätzlich kannst du meiner werten Mutter erzählen, dass es alles gut gegangen ist und dass es uns gut geht.“   „Ja, das werde ich!“ Gilbert erstrahlte. „Ich danke Euch, Madame Oscar!“   „Danke nicht mir, denn ich habe nichts getan. Also viel Glück dir.“ Oscar wandte sich zum Gehen ab. „André, ich gehe schon mal vor.“   „In Ordnung, ich komme gleich nach.“ André schaute ihr sehnsuchtsvoll nach, bis sie aus seiner Sicht entschwand.   Gilbert bemerkte diesen Blick sehr wohl. „Du liebst sie sehr, nicht wahr, André?“   „Ja, das tue ich...“   „Wie ist es eigentlich, so eine Frau zu lieben?“ Das hätte Gilbert schon mal gerne gewusst.   „Das verrate ich dir doch nicht!“   „Verstehe...“ Gilbert sah darüber hinweg. „Ihr gebt aber trotzdem ein gutes Paar ab. Also dann, gute Nacht, André.“   „Gute Nacht, Gilbert!“, verabschiedete ihn André und ging geradewegs in Oscars Zimmer, welches er seit der Heirat auch bewohnte. Kapitel 38: Ehevergnügen ------------------------ Oscar war gerade dabei, in den Zuber zu steigen, als André ihren gemeinsamen Salon betrat. Weit und breit war niemand zu sehen – weder Sophie noch andere Dienstmädchen. André schob schmunzelnd den Türriegel hinter sich vor und ging auf seine Frau zu. Oscar tat so, als hätte sie ihn nicht bemerkt und tauchte im Wasser unter. Ihr Körper bäumte sich auf, enthüllte all ihre Reize und André konnte sich nicht an ihr satt sehen, während er sich immer schneller seiner verdreckten Uniform entledigte. Oscar schellte an die Oberfläche und lehnte sich ganz bequem im Zuber zurück. Achtlos ließ André seine Kleidungstücke zu Boden fallen und dann hockte er splitternackt vor dem Zuber. Er strich Oscar sachte an dem nassen Arm entlang. „Jetzt siehst du besser aus.“   Oscar drehte ihren Kopf ruckartig zu ihm. „Inwiefern?“   André schmunzelte noch breiter und seine Finger fuhren von ihrem Oberarm zu ihrer Wange. „Du siehst nicht mehr so blass aus, wie vor einer knappen Woche... Geht es dir wirklich besser?“   „Ja, André, ich huste kein Blut mehr und mir geht es gut.“, versicherte sie ihm.   „Schon gut, ich glaube es dir.“ André lächelte sanft. „Was machen die Kinder?“   „Sie krabbeln um die Wette, wachsen und gedeihen. Kurzum, ihnen geht es bestens. Willst du nicht lieber in den Zuber steigen?“   „Ja, das will ich...“ Und nicht nur das! André zog ihr Gesicht zu sich und während er sie küsste, stieg er in das Zuber.   Oscar musste ihn gleich zwischen ihre Beine lassen, damit sie beide Platz hatten. „Warte, André...“, stöhnte sie, als seine Hände schon auf die Wanderung ihres Körpers unter dem Wasser gingen.   „Was ist?“   „Es ist etwas eng hier...“   André entfernte sich bis an das andere Ende des Zubers, aber nahm Oscar bei den Händen und zog sie auf seinen Schoß. „Besser?“   „Erträglich.“, kokettierte sie schelmisch.   André umfasste ihr Becken und schob sie schwungvoll an sich enger heran - so dass seine steife Männlichkeit sich hartnäckig gegen ihre Schamlippen presste. „Ich habe an dich jeden Tag gedacht...“   „Das glaube ich...“ Oscar hielt sein Gesicht mit beiden Händen, schob ihm die Haarsträhne von der erblindeten Seite und sah ihm tief in die Augen. Dass er in der Tat etwas zu streng nach Schweiß roch, störte sie nicht. Hauptsache er war am Leben und ganz nah bei ihr. „Wenn ich von der Festnahme eher gewusst hätte, dann wäre ich schon längst da gewesen... Das war ein Fehler, in die Normandie zu gehen.“   „Nein, Oscar, das war kein Fehler...“ André hielt sie mit einer Hand am Rücken und die andere schob er ihr unter das tropfnasse Haar bei den Schulterblättern. „Sonst hättest du nicht genesen können...“   „Ich wäre schon nicht gestorben, André, denn du bist mein Leben...“, hauchte Oscar und ihre Atmung wurde immer schneller. „Du und unsere Kinder...“   „Ach, meine Liebste...“ André vergrub seine Finger in ihrem Nacken und bewegte ihren Kopf zu sich. „Du und unsere Kinder, ihr seid mein Leben...“, flüsterte er, bevor er sie innig küsste. Seine freie Hand glitt an ihrem nassen Rücken nach unten, umrundete das Becken und strich an ihren Schamlippen.   Oscars Beine spreizten sich schon systematisch bei seiner Berührung noch weiter und rieben sich schmerzhaft an der Wand des Zubers. „André...“, unterbrach sie wieder stöhnend den Kuss. „Lass uns das bitte später machen. Es ist einfach zu eng hier für unsere Reiterei.“   André musste bei diesem Vergleich leise lachen. „Schon gut. Dann waschen wir uns schnell und gehen ins Bett.“   „Du bist noch unersättlicher als ich!“, neckte Oscar, aber griff selbst schon nach der Seife und schäumte sich das Haar.   „Wenn du meinst...“ André griff nach dem Waschtuch, seifte es ein und wusch den Körper von Oscar.   Oscar tat das Gleiche bei ihm, während er sein Haar einschäumte. Dann ließ André sie nach hinten herabsinken und während sie ihren Kopf unter das Wasser tauchte fuhr er mit seinen Fingern die Kontur ihrer Brüste entlang. Dann zog er sie wieder zu sich und umschloss ihre Brustwarzen mit seinen Lippen. Mit einem Arm hielt er sie weiterhin um das Becken fest und die Finger seiner freien Hand streichelten ihr die Innenseite ihres Schenkels, erreichten das beharrte Dreieck und drangen ganz sanft in ihre Höhle ein.„Tut mir leid, ich kann nicht mehr abwarten...“, flüsterte er in ihre Haut hinein. „Ich will dich...“   Oscar wollte ihn auch und konnte selbst kaum an sich halten. Aber das Problem war eben der enge Zuber. „Wir haben es gleich geschafft...“, stöhnte sie, stemmte ihre Hände am Rand des Zubers und zog sich in die Höhe.   „Ich werde mich beeilen“, sagte André und wartete, bis Oscar aus dem Zuber stieg, um dann unter das Wasser zu tauchen und den Schaum abzuspülen. Als er wieder auf der Oberfläche hoch schnellte, trocknete sich Oscar bereits ab und umhüllte ihren noch etwas feuchten Körper mit dem Tuch.   „Ich warte auf dich.“ Oscar beugte sich zu ihm vor und schenkte ihm einen Kuss.   André beeilte sich in der Tat, ihr nachzukommen. Er stieg aus dem Zuber aus, trocknete sich schnell und hastete ins Schlafzimmer, das sie seit ihrer Heirat gemeinsam teilten. Oscar lag bereits, wie Gott sie erschuf, unter den Laken in ihrem Bett und schien eingenickt zu sein. André kam auf das Kopfende zu und setzte sich vorsichtig auf die Bettkante. Ihr noch feuchtes Haar lag wellig auf dem Kissen ausgebreitet und ihre noch vom Baden rosige Haut verströmte den Duft nach Rosenseife. Ein betörender und magischer Anblick, der ihn in eine Art träumerischen Zustand versetzte und seine Sinne benebelte...   „Wie lange willst du mich noch beobachten?“, fragte sie und schlug ihre Augen auf.   André schob das Laken etwas beiseite und setzte sich wieder zu ihr. „Ich muss dir etwas beichten...“   „Was beichten?“ Oscar saß schlagartig auf.   „Von einer langen Zeit, hatte ich dich schon einmal geküsst...“ Damals, als sie angefangen hatte, Gefühle für Fersen zu entwickeln, aber das sagte er lieber nicht. „Du hast geschlafen und ich musste den Wein wegräumen, den du zuvor getrunken hast...“   „André!“ Oscar war baff. Wann war das gewesen und warum konnte sie sich nicht daran erinnern?   „Verzeihst du mir?“ Er sah sie so unschuldig an, dass sie ihm nicht widerstehen konnte und es war sicherlich in dieser qualvollen, unerträglichen Zeit passiert, als sie mit ihren Gefühlen dem Grafen von Fersen nachhing. „Also gut...“, gab Oscar deshalb nach. „Da ich bestimmt auch daran Schuld hatte, verzeihe ich es dir...“   „Danke...“ André strich ihr das feuchte Haar hinters Ohr und küsste sie.   Oscar erwiderte ihm den Kuss mit Leidenschaft und drängte ihn, in das Bett zu steigen, was er auch tat. Dann war er über sie, platzierte sich zwischen ihre Schenkel und setzte sein Ritt fort, den er im Zuber zuvor unterbrechen musste. Oscar stöhnte und bäumte sich unter ihm immer mehr. Unerwartet schob er seine Hände unter ihr und rollte sich auf Rücken. Nun lag sie auf ihm. Sofort setzte sie sich auf, nahm ihn wieder in sich und bewegte ihr Becken. Sie tobte sich bis zu ihrem Höhepunkt aus, dann stieg sie von ihm ab und er war wieder über sie. Er küsste sie, liebkoste ihren Körper, drang in sie wieder ein und tobte sich selbst in ihr aus.   Das war schon lange her, dass sie sich dermaßen heftig geliebt hatten. Vielleicht waren das die ganze Frust, Geschehnisse und Angst um das Leben des anderen, dass sie in ihrer Leidenschaft ausluden. Und das tat gut. Kapitel 39: Aufstand -------------------- Die Sonne des nächsten Tages ging gerade erst auf, als Oscar nach Versailles aufbrach. Ein eigenartiges Gefühl kam in ihr hoch, während sie durch das große Tor ritt, denn sie war schon lange nicht mehr hier gewesen. Ein Soldat kam ihr entgegen und salutierte ordnungsgemäß, bevor er die Zügel ihres Pferdes nahm. Oscar nickte zum Gruß und stieg galant ab. „Ich werde gleich wieder da sein. Also bleibt hier und wartet auf mich.“   Der Soldat salutierte noch einmal und Oscar ging weiter. Ihre Schritte erzeugten ein kleines Echo, als sie durch die menschenleeren, aber noch immer vor Glanz und Prunk strotzenden Gänge zu den Gemächern ihrer Majestät ging. Früher hatte hier reges Treiben geherrscht und man begegnete vielen Höflingen, aber heute war kaum noch jemand von ihnen anzutreffen. Viele der Adligen verließen bereits Versailles und wandten sich von der Königin ab. Oscar erreichte den Salon von Marie Antoinette und nach einem leisen Klopfen an der Tür, trat sie ein.   „Oscar, wie schön!“, begrüßte die Königin sie mit aufrichtiger Freude und Oscar beugte sogleich das Knie vor ihr, wonach Marie Antoinette mit ihrer Rede fortfuhr: „Immer weniger der Adligen kommen zu mir auf Schloss. So einsam wie jetzt habe ich mich noch nie gefühlt. Was sind das nur für Zeiten? Für das Begräbnis von Louis Josef habe ich Silberbesteck und goldene Kerzenhalter verkaufen müssen. Ich will Euch nicht langweilen. Ihr habt sicher viel zu tun. Ihr hättet Euch nicht hierher bemühen müssen, um mir zu danken.“   Oscar senkte ehrerbietig vor ihr das Haupt. „Majestät, ich hatte fest mit meiner Bestrafung gerechnet, denn ich habe gegen Eure Anordnung verstoßen. Durch Eure freundliche Fürsprache blieb sie mir erspart. Dafür danke ich Euch.“   „Aber Oscar.“ Die Königin erhob sich vom Stuhl. „Es war doch eine Selbstverständlichkeit. Wir sind seit zwanzig Jahren Freunde.“ Sie deutete Oscar sich zu erheben, ging an ihr vorbei zu einem mannshohen Spiegel und Oscar folgte ihr wie auf dem Fuß. „Mein jetziges Leben erscheint mir unerträglich. Ich fühle mich so erschöpft. Aber ich hoffe, dass bald andere Zeiten kommen. Bewaffnete Truppen aus allen Teilen Frankreichs werden zu unserer Sicherheit nach Paris abkommandiert. Alles in allem werden es mehr als tausend Soldaten sein. Ich, die Königin von Frankreich, habe das veranlasst. Ich bin noch nicht am Ende. Ich habe sie gerufen, um für alle Mal klarzustellen, wer in diesem Land regiert. Die Dynastie der Bourbonen wird nicht untergehen, niemals. Alle Wachtruppen werden demnächst in die Stadt beordert. Wenn es nötig ist, wird der König sich dazu entschließen, die Aufständischen zu bekämpfen. Falls es dazu kommen sollte, verlasse ich mich ganz auf Euch, Oscar.“   Oscar dachte entsetzt den ganzen Tag an diese Worte, auch in der Kaserne. Wenn Marie Antoinette früher nur so gehandelt und sich für ihr Volk, wie für diese einfachen Soldaten vor wenigen Tagen, eingesetzt hätte... Dann wäre womöglich der Frieden noch zu retten gewesen...   Aber nein, weitere Aufstände entflammten in Kürze wieder, weil ebendiese tausende Soldaten, von denen die Königin gesprochen hatte, zum Schutz der königlichen Familie aus allen Ecken des Landes nach Paris beordert worden sind. Sie verboten die öffentlichen Versammlungen, drangsalierten und bespitzelten die Bevölkerung... Die Hauptstadt von Frankreich war sehr gefährlich geworden und Oscar beschloss, die Kinder in Sicherheit zu bringen, bevor die Lage noch mehr eskalierte. So dachte sie, während sie in ihrem Offizierszimmer in der Kaserne einige Dokumente durchlas. Jemand klopfte an der Tür und riss sie aus den Gedanken. „Herein!“, rief sie gleich und ein mehr als vertrautes Gesicht ihres Mannes trat über die Schwelle.   „Oscar, es ist Zeit für unsere Patrouilliere durch Paris.“ Auch André sah man eine gewisse Besorgnis im Gesicht stehen.   „Sag Alain Bescheid, er soll schon alle auf dem Exerzierplatz versammeln. Ich komme nach.“   „Was ist los, Oscar?“ André beschlich eine ungute Vorahnung. „Du bist so nachdenklich.“   „Ach, nichts, André...“ Oscar entließ einen schweren Seufzer. „Ich sorge mich nur um unsere Kinder...“   Seine Vorahnung war bestätigt. „Sie sind in der Normandie, dort sind sie sicher aufgehoben“, versuchte Andre sie zu beruhigen, obwohl er selbst ein ungutes Gefühl hatte.   Wieder klopfte jemand an der Tür und nach einem herein, trat Alain über die Schwelle und er war nicht alleine. „Gilbert?“ Oscar stand überrascht und erschrocken von ihrem Platz auf. „Was ist passiert? Wieso bist du nicht in der Normandie?“   „Lady Oscar...“ Gilbert war es anzusehen, dass ihm die Kunde zu überbringen nicht geheuer war, aber er zwang sich dazu. Denn Lady Oscar und André hatten das Recht darüber zu erfahren, auch wenn der General das nicht für Nötig oder gar wichtig gehalten hatte. „Euer Vater hat Eurer Mutter befohlen, zu seinem Anwesen zurückzukehren.“   „Wie bitte?“   „Das ist noch nicht alles... Er hat auch befohlen, seine Ziehkinder nach Versailles in der Nähe der Königin zu bringen – so wie auch Eure werte Mutter...“ Gilbert merkte sofort, wie diese Nachricht Lady Oscar zur Weißglut und André in hilflose Wut trieb, aber er setzte dennoch bemüht fort: „Diane und Rosalie dürfen da natürlich nicht mit... Wir sind gerade aus der Normandie angekommen und ich fand es nur richtig, dass Ihr darüber Bescheid wisst, bevor der Befehl Eures Vaters in die Tat umgesetzt wird.“   „Das hast du richtig gemacht!“ Oscar wandte sich um. „Alain, du übernimmst heute die Patrouille!“   „Lady Oscar...“, hielt sie Gilbert kurz auf.   „Was ist noch?!“ Oscar befürchtete schon das Schlimmste und ballte ihre Hände krampfhaft zu Fäusten.   Gilbert sah vorsichtig zu Alain. „Diane und ich haben beschlossen nach Arras zu gehen. Es wird hier demnächst ein Aufstand ausbrechen, in Maßen, die wir noch nie gesehen haben...“   „Ich würde es Revolution nennen...“, mischte sich Alain ein und durchbohrte Gilbert mit seinem Mörderblick. „Und wer bist du überhaupt? Wieso hat Diane sich entschieden mit dir nach Arras zu gehen?!“   „Nun... ähm... wir...“, stotterte Gilbert und konnte ihn nicht ansehen.   Zu seinem Glück erlöste ihn Lady Oscar aus der misslichen Lage. „Das spielt jetzt keine Rolle!“, beschied sie. „Die Kinder müssen weg von hier! In Versailles sind sie noch mehr in Gefahr als auf dem Anwesen!“   „Was hast du vor?“, fragte André mit einem unguten Gefühl.   „Wir gehen jetzt unverzüglich zum Anwesen! Gilbert, du nimmst die Kinder und Diane und gehst mit ihnen nach Arras! André, du gehst mit ihnen mit!“   „Wie bitte?“ Das war unvorstellbar! Was sollte er denn ohne seine Frau in Arras?! „Aber Oscar...“   Als hätte Oscar seine Einwände geahnt, milderte sie ihren barschen Tonfall. „Bitte tue es für mich, André, jemand von uns muss bei ihnen sein!“   „Nein, nicht ohne dich!“, hätte André am liebsten gesagt, aber wenn er die Umstände im Kopf genauer erwog, dann musste er ihr recht geben. „In Ordnung. Aber lass mich sofort wissen, wenn etwas passiert und ich werde da sein.“ André stimmte wohl oder übel ein und sah zu seinem Freund. „Pass auf sie auf.“   „Das mache ich doch mit Sicherheit, André, verlass dich darauf.“, versprach ihm Alain wie selbstverständlich.           - - -           „Mutter, Ihr müsst hier fort!“, wiederholte Oscar abermals.   „Nein, Oscar, das kann ich nicht...“ Emilie lehnte es ungern ab, aber sie hatte keine andere Wahl. „Ich kann nicht wie du deinem Vater die Stirn bieten.“   „Doch Mutter!“ Oscar wurde immer lauter: „Begreift Ihr denn nicht, hier wird bald eine Hölle losbrechen und mir wäre es lieber, Euch und die Kinder in Sicherheit zu wissen!“   „Tut mir leid, Oscar...“ Emilie schüttelte trüb den Kopf und holte ihr Schmuckkästchen und ihre Ersparnisse aus ihrem Schlafgemach. Das alles gab sie an André. „Hier nimm, mein Sohn. Das wird euch in Arras eine Zeit über die Runden helfen.“   „Madame, gestattet mir bei Euch zu bleiben?“, bat auf einmal Sophie.   „Großmutter!“ Diesmal mischte sich André auch verständnislos ein.   „Misch dich nicht ein!“, wies ihn Sophie gleich in die Schranken. „Ich bin zu alt für solche Reisen! Und jemand muss sich ja um die Herrschaften kümmern – die Bediensteten verlassen doch in Scharen das Haus!“   „So sei es...“, gab Oscar das letzte Wort und holte selbst ihre Ersparnisse und gab sie André. Sie verabschiedete sich von ihrem Mann und den anderen, und als alle fort waren, schloss sie sich Alain an und patrouillierte durch die Stadt. Gerade rechtzeitig wiegte Oscar ihre Lieben in Sicherheit, denn zwei Tage später brach das reinste Chaos und dann die Revolution aus. Kapitel 40: Abschied -------------------- Wenn Oscar und André an die Revolution dachten, dann grauten ihnen die Erlebnisse noch immer. Und jeden anderen Menschen, der diese grausigen Zeiten miterlebt und überlebt hatte. Die Menschen wurden zu Bestien, reinstes Chaos herrschte überall und jeder musste sich entscheiden, auf wessen Seite er stand. Oscar hatte versucht mit der Königin zu reden, aber war gescheitert.   „Ich flehe Euch an, Majestät, bitte gebt den Befehl, dass Eure Soldaten sich aus Paris zurückziehen. Die Lage eskaliert, es muss unter allen Umständen verhindert werden, dass es zu einem Blutbad kommt...“, sprach Oscar immer wieder auf die Königin mit Nachdruck ein.   „Oscar...“ Marie Antoinette schien sie aufs Neue zu überhören. „Falls das Schlimmste nicht zu Verhindern sein sollte, werdet Ihr mich dann beschützen?“   „Es tut mir leid...“ Oscar schmerzte es sehr, dies zu sagen: „Aber, dann sehe ich mich gezwungen, meinen Dienst zu quittieren. Bitte, Majestät, hört auf mich. Zieht Eure Soldaten zurück. Es darf nicht sein, dass die königliche Familie sich gegen das eigene Volk richtet. Ich bitte Euch...“   Die Königin betrachtete sie eine Weile und schien zu überlegen. Seit fast zwanzig Jahren hatte Oscar ihr gedient, ihr oft geholfen und sie konnte ihr blindlings vertrauen. Oscar war eine zuverlässige, treue Seele und jetzt wollte sie sie verlassen. Das schmerzte tief, die Jahre ihrer Freundschaft verloren für einen Augenblick die Bedeutung, sodass die Tränen sich in den Augen sammelten und dennoch... „Nein, ich kann nicht. Es tut mir leid...“ Marie Antoinette bedauerte ihre Worte, aber es gab keinen Weg mehr zurück. Noch mehr füllte sich der Schmerz in ihren Herzen, als Oscar sich wortlos erhob und ihr mit gesenktem Kopf den Rücken kehrte. „Oscar...“, murmelte sie mit belegter Stimme und Oscar blieb kurz stehen. „Ihr weint, Ihr weint ja... Denkt Ihr denn, wir werden uns nie wieder sehen?“ Von Oscar kam keine Antwort und da begriff Ihre Majestät, dass dem so war und dass es ein Abschied für immer bedeutete. „Auf Wiedersehen, Oscar.“   „Auf Wiedersehen...“ Mit traurigem Herzen hatte Oscar sich von ihr verabschiedet und mit ihren Soldaten am nächsten Tag auf die Seite des Volkes gewechselt.           - - -           „Wie bitte?“ Marie Antoinette konnte es kaum glauben, wie auch die Generäle und der König, welche grausige Neuigkeiten der Bote ihnen gerade berichtete. „Oscar hat die Seiten gewechselt und den Sturm auf die Bastille angeführt?“   „Das ist Verrat!“, rief einer der obersten Generäle empört. „General de Jarjayes, wie konnte Eure Tochter uns allen das antun?!“   „Ich hörte, sie soll jetzt zu Eurem Anwesen zurück gekehrt sein...“, meinte ein Adjutant und Reynier trat fest entschlossen vor. „Majestäten, gestattet mir, Oscar selbst zu bestrafen und die Ehre der Familie somit zu bereinigen!“   „Ich gestatte es Euch, General.“, entließ ihn der König, ohne seine Frau anzusehen. Er hatte schon einmal auf ihre Bitte Oscar begnadigt, aber genug war genug und es würde kein zweites Mal mehr geben. Marie Antoinette verstand und sagte deshalb nichts. Auch wenn sie der Seitenwechsel ihrer Freundin zu tiefst erschreckte, wünschte sie ihr dennoch, dass sie heil aus der Sache rauskommen und am Leben bleiben würde...       - - -       Reynier war außer sich vor Wut. Seine ungehorsame Tochter würde was erleben! Sie würde ihres Lebens nicht mehr froh sein! Auf dem Anwesen änderte sich seine Stimmung schlagartig in Hilflosigkeit. Wie ein Wüterich stürmte er durch sein Anwesen und platzte in Oscars Zimmer rein. „Oscar! Stell dich mir sofort! Ich weiß, dass du hier bist! Du kannst dich vor mir nicht verstecken!“   Anstelle von Oscar kam Emilie aus dem Zimmer. „Sie schläft...“   „Um diese Zeit? Was fällt ihr ein?!“ Der General erstürmte das Schlafzimmer, aber bekam gleich den Schreck seines Lebens: Oscar lag unter den Bettlaken in ihrem Bett und sah mehr tot als lebendig aus. Ihr Körper zierten mehrere Schichten von Verbänden und um ihre Mitte sickerte immer noch das Blut durch. „Was ist mit ihr?“   „Sie wurde beim Sturm auf die Bastille von der gegnerischen Besatzung mehrfach angeschossen“, erzählte ein Söldner mit dem roten Halstuch, den Reynier erst jetzt wahrgenommen hatte. Dieser Söldner musste sie hierher gebracht haben. Auch noch ein Abtrünniger! Am liebsten hätte Reynier ihn gleich geköpft, aber der grausame und blutverschmierte Anblick auf Oscar ließ ihn in eine Art Schreckensstarre verharren.   „Wir konnten ihr alle Kugeln bereits entfernen und soweit die Blutung stillen...“, erklärte auch der Arzt, Doktor Lasonne. „Ihr Herz und ihre Lungen waren zum Glück nicht getroffen, aber dafür hatten die Kugel in ihrem Unterleib große Schaden angerichtet... Es ist die einzige Stelle, wo das Blut nicht aufhören will zu fließen... Und eine Kugel hatte auch ihren Kopf erwischt... Aber auch da hatte sie großes Glück und es war nur ein Streifschuss...“   „Das heißt, sie wird sterben...“, flüsterte Emilie zitternd hinter ihrem Gemahl. „...aber wenn ein Wunder geschieht und sie überlebt, dann wird sie nie wieder Kinder haben können... Sie wird bis ans Ende ihres Lebens womöglich ein Krüppel bleiben... Willst du trotzdem über sie richten, mein Gemahl? Sie bestrafen und des Verrates beschuldigen? Sogar in diesem Zustand?“   „Es wird sich zeigen!“ Der General schleppte sich bis ans Bett, begutachtete seine Tochter und dann fiel er urplötzlich auf seine Knie. Er griff nach ihrer Hand. „Was habe ich getan... Das ist alles meine Schuld... Du darfst uns nicht verlassen, Oscar. Hörst du deinen Vater? Ich verbiete dir zu sterben! Hast du verstanden? Tu dieses einzige Mal, was ich dir sage... Hast du verstanden? Bitte mein geliebtes Kind, komm zu dir und mach uns nicht unglücklich...“   Oscars Augen öffneten sich mühsam. Sie sah alles verschwommen und ihr ganzer Körper brannte wie auf einem Scheiterhaufen. Wo war sie? Doch nicht etwa in der Hölle? Langsam erkannte sie die Konturen eines Mannes, der streng und gleichzeitig verzweifelt sie ansah und ihre Hand noch dazu hielt. Erschrocken entzog sie ihm ihre Hand, die Schmerzen jagten noch schlimmer durch ihren ganzen Körper. „Wer... wer seid Ihr?“, brachte sie krächzend hervor und fiel wieder in die schwarze, aber schmerzfreie Ohnmacht...   Stunde später wachte sie erneut auf, aber konnte weder ihren Vater noch jemand anderen in dem Zimmer erkennen...           - - -           André träumte von einem Grab mit dem Namen seiner Frau darauf. Schweißgebadet wachte er auf und begann seine Sachen zu packen. Er musste zu Oscar! Der Sturm auf die Bastille lag bereits fünf Tage zurück. Viele Verletzte, Waisen und verzweifelte Menschen kamen in Scharen von Paris nach Arras. Im Gasthof „Zum alten Allas“ wurden sie mildtätig verarztet und versorgt, mit dem Wenigen was der Wirt und André aufbringen konnten.   „Ich gehe nach Paris und komme ohne Oscar nicht zurück!“, verlautete André den seinen.   „Aber das kannst du nicht! Niemand verlässt und betritt die Stadt unbeschadet!“, ermahnte ihn Gilbert.   „Ich nehme ja auch nichts mit!“   „Und was ist mit den Kindern?“, wisperten Diane und Rosalie.   „Ihr sorgt für sie! Ich werde mich beeilen!“, sagte André mit dem Blick auf alle Anwesenden, besonders auf die Zwillinge und machte bei ihnen einen kurzen Halt. „Ich werde eure Mutter zurückbringen, ich schwöre es!“ Er strich den beiden sachte durch die weichen Locken, schaute ein letztes Mal in die Runde und eilte aus dem Haus. André gelang es nach Paris zu Bernard unbeschadet durchzukommen. Von ihm erfuhr er von dem Sturm auf die Bastille und brach sofort zum Anwesen der de Jarjayes auf.   „André?!“ Sophie, Emilie und Alain waren überrascht ihn zu sehen und ließen ihn zu Oscar. Der General war nicht mehr anwesend.   „Sie kann nur niemanden mehr erkennen...“, teilte ihm Emilie traurig mit, als er das Bett mit Oscar erreichte und sich perplex zu ihr hinsetzte.   André bekam den Schock seines Lebens. „Nein, tu mir... tu uns das bitte nicht an...“, flehte und weinte er, sie möge leben und ihn nicht alleine lassen, aber Oscar schlief ungerührt und reglos weiter.   Alain kam hinter ihm näher heran und legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter. „Tut mir leid, Kumpel... Ich konnte sie nicht von den Kugeln bewahren... Es ging alles so schnell und ich war zu weit entfernt, als die gegnerische Besatzung auf sie das Feuer eröffnete... Aber sie wird leben... Ich habe sie dann sofort auf das Anwesen gebracht...“   „Warum wurde ich nicht gleich informiert?“ Und warum war es dazu gekommen?! André schoss in die Höhe und packte Alain am Kragen. Sein Gewissen sagte ihm, dass es falsch war, dass Alain im Grunde nichts dafür konnte, aber in Anbetracht der Umstände und dem schlimmen Zustand seiner Frau, wusste André keinen anderen Ausweg.   „Lass ihn los, André.“, sagte Emilie hinter seinem Rücken. „Du wurdest nicht in Kenntnis gesetzt, weil wir es nicht gestattet haben.“   Langsam ließ André von Alain ab und in dem Moment öffnete Oscar die Augen. Sie stöhnte vor Schmerzen, verzog ihr Gesicht und das bewog André auf der Stelle, zu ihr ans Bett zurückzukehren. Sachte nahm er ihre Hand in die seine und unterdrückte dabei die anlaufenden Tränen. Oscar sollte davon nichts mitbekommen! „Liebes, bewege dich nicht, es wird alles gut...“ André war es egal, dass er log. Ihr Blick schien trüb und an ihm vorbei ins Leere zu gehen und ihm kam es so vor, als würde er selbst in kleinste Stücke zerbrechen und qualvoll verbluten.   „Sie kann auch dich nicht erkennen...“, schluchzte Sophie im Hintergrund.   André wandte verbittert den Blick von seiner Frau ab, damit sie seinen Schmerz nicht sah, ließ ihre Hand los und schloss hilflos ein Stück Laken in seiner Faust. Wie sollte es nun weiter gehen?! Was sollte er nun tun? Das konnte doch alles nicht wahr sein! Er hätte darauf bestehen sollen, bei ihr zu bleiben und sie niemals verlassen dürfen! Plötzlich spürte er eine hauchfeine Berührung auf seiner verkrampften Faust und sah überrascht hin. Oscars Hand lag auf der seinen und ihre schrumpligen Lippen formten ein Wort: „Doch...“   „Oscar!“ André rückte sich sofort in ihr Blickfeld und umschloss sachte ihre Finger. Die hilflose Wut wich einer Hoffnung. „Du... erkennst mich?“   „Ja...“ Ihre Wimpern wurden feucht, ihr Blick klärte sich und dann sah sie direkt in seine Augen. „André... mein Mann...“   Welch ein Wunder! Es war rührend und traurig zu gleich! Nur ein Blick in sein Gesicht und in seine Augen, in denen ihr ganzes Leben niedergeschrieben zu sein schien, genügte, um sich an alles wieder erinnern zu können. Und im Nachhinein auch an die anderen Menschen. Das war der Streifschuss an ihrer Schläfe, der sie einiges vergessen und an niemanden erinnern ließ, erklärte der Arzt später.       - - -       Zwei Tage später stürmte Reynier aufgebracht in das Anwesen. „Sie muss hier fort! Ihr alle müsst hier fort!“, rief er schon auf dem Gang und während er in die Gemächer seiner Tochter eilte. Als er André in dem Salon entdeckte, steuerte er unverzüglich auf ihn zu. „Gut, dass du hier bist, mein Junge – du wirst sie mir alle sicher nach Arras schaffen!“   André merkte schon an dem äußerst ernsten Gesichtsausdruck und der Unruhe des Generals, dass etwas Schreckliches vorgefallen sein müsste und nickte ohne zu zögern. „Jawohl General.“   „Und was ist mit dir, mein Gemahl?“ Auch Emilie spürte die Anspannung ihres Gemahls und war auf der Hut.   „Ich bleibe bei der königlichen Familie! Ihr alle bringt euch dagegen in Sicherheit und kümmert euch um Oscar!“ So stürmisch wie er heimkam, so schnell war er wieder weg. „Und Oscar erkläre ich in Versailles für tot...“ Kapitel 41: Schreckensjahre --------------------------- Oscar erholte sich langsam, aber sie erholte sich. Die Frauen im Haus strickten und nähten was das Zeug hielt – für den nahenden Winter. Aber jetzt war noch Ende August. Unwetter, Regen, Hagel und Überschwemmungen waren seit einiger Zeit an der Tagesordnung. Und diese Woche schien zum ersten Mal die Sonne durch, die am Ende auch nicht viel Gutes mit sich brachte: Die Ernte war so oder so zum großen Teil bereits verdorben und die schwüle Hitze machte es den Menschen auch nicht gerade leicht. Nichtessostrotz waren Oscar und ihre Familie in Arras besser aufgehoben als in Paris...   Oscar hielt es nicht mehr aus – seit einem Monat war sie hier und musste noch immer das Bett hüten. Sie durfte nicht aufstehen und wenn, dann nicht ohne fremden Hilfe und Stütze. Zu essen gab es nicht viel, aber sie hatte auch keinen sonderlichen Appetit. Nun war es aber genug! So stand sie quälend langsam auf und verließ das Zimmer, das sie mit André teilte. Von ihm war in dem Moment nichts zu sehen, als wäre er fort. Und im Allgemeinen herrschte im Haus Stille – sehr eigenartig, denn der fehlende Trubel und das fehlende Quengeln der Zwillinge machte Oscar stutzig.   Schleppend langsam bewegte sich Oscar an der Wand, mit einer Hand stützte sie sich an der kahlen Oberfläche und den anderen Arm hielt sie um ihre Mitte. Hier und da pochte noch der dumpfe Schmerz und auch ihr Kopf dröhnte bei heftigen Anstrengungen. Oscar aber wollte unbedingt an die frische Luft. Sie stieg die Treppen herab, von wo man gleich die Küche sehen konnte. Dort verrichteten Sophie und Madame de Soisson geschäftig ihre Aufgaben. Oscar huschte so unbemerkt wie möglich vorbei, um Sophies sorgenvollen Tiraden zu vermeiden. Das hätte ihr gerade noch gefehlt! Dann kamen weitere Räume, wo die Diener des Hauses nächtigten und dann endlich die Außentür.   Mit heimlicher Freude und Erleichterung stieß Oscar sie auf und trat hinaus auf den kleinen Hof hinter dem Haus. Sofort schlug ihr die stickige Luft entgegen, aber es war auf jeden Fall besser, als im Haus und auf ihrem Zimmer. Nicht einmal eine leichte Brise des Windes wehte vorbei und dennoch fühlte sich Oscar erheiternder. Ihr Blick fixierte drei ihr sehr bekannte und treue Menschen. Sie wusste nicht, ob sie einschreiten oder es belassen sollte. Aber andererseits hätte sie gerne den Grund der kleinen Auseinandersetzung gewusst. Sie bewegte ihre Füße und bekam nur mit, wie Alain den armen Gilbert beinahe verprügelte. Sie schritt doch ein und erfuhr, dass er ihn erwischt hatte wie dieser Diane innig umarmt hatte. Auch Diane beteuerte, dass es auch ihr Wille war, aber Alain wollte nichts davon hören. „Gönne deiner Schwester das Glück, Alain.“ Und während alle sie verwundert ansahen, sprach sie schon das junge Paar an: „Allerdings müsst ihr mit eurer Hochzeit abwarten.“   „Gewiss, Lady Oscar.“ Das war schon Hoffnung und Segen für Gilbert – viel besser als bei Alain, obwohl dieser mehr das Recht hatte.   „Ihr dürft nicht hier sein, Oberst!“, schnaufte dieser.   „Du willst mir doch nicht vorhalten, was ich darf und was nicht?“ Oscar verzog eine schiefe Grimasse.   „Nein, das nicht, aber...“   Oscar wollte nicht mehr darauf eingehen. „Wo sind die anderen?“   „André ist mit euren Kindern und Rosalie zum Wirt gegangen und sie besprechen im Gasthof „Zum alten Allas“ wichtige Angelegenheiten wegen der Ernte.“, erklärte Diane und kam zu ihr, um sie zu stützen. „Eure werte Mutter und Sophie sind im Haus.“   „Und es gibt Neuigkeiten aus Paris.“, fügte Gilbert hinzu und Oscar wurde hellhörig. „Sprich!“, verlangte sie auf der Stelle.   „Nun...“ Gilbert zögerte. Seit Monaten versuchten sie Lady Oscar nicht mit den politischen Dingen zu belasten – aus Sorge, dass ihre Wunden dadurch nicht gut verheilen würden. Das hatte ihnen der Arzt empfohlen und sie hielten sich alle daran.   Alain war dagegen nicht so zurückhaltender wie die anderen. „Die Rechte aller Menschen und Bürger wurden erklärt und gleichgestellt...“   „Gut. Wenn André und Rosalie da sind, werden wir besprechen, wie es weiter geht.“, meinte Oscar undurchschaubar und in ihrem Kopf plante sie schon alles Mögliche.       - - -       Mit der Revolution wurde es immer schlimmer. In Arras hatte man viel zu tun und jeder hielt sich gerade so über die Runden und half den anderen Menschen wie und wo sie konnten. Im Oktober wurde Versailles gestürmt und die Königsfamilie nach Paris in den Palais Tuilerien verbannt – das hatte Bernard bei seinem Aufenthalt in Arras offenbart. Seitdem brachte er jeden Monat Neuigkeiten aus Paris. Oscars Wunden verheilten immer besser und wenn es nach ihr ginge, wäre sie schon längst nach Paris mit Bernard aufgebrochen. Nur mit Mühe und Geduld konnte André sie stets dazu bewegen, in Arras bei ihm und ihren gemeinsamen Kindern zu bleiben. Vielleicht lag es an dem Alter der Zwillinge, weshalb Oscar sich überreden ließ – denn die beiden brauchten ihre Eltern wie noch nie zuvor und in diesen vom Krieg gekennzeichneten Land sie alleine zu lassen war sehr gefährlich.   Im Sommer 1791 brachte Bernard die nächsten Nachrichten aus Paris. „...die königliche Familie wurde bei ihrer Flucht natürlich erkannt und zurück nach Paris gebracht. Seitdem fordern alle Bürger die Absetzung des Königs.“   Oscar fluchte und war wütend. So konnte man doch nicht mit dem König umgehen! Was war nur in die Menschen gefahren?! Und noch mehr war sie entsetzt, als man den König im Januar 1793 hinrichtete...   Oscar konnte nicht mehr in Arras bleiben – sie musste einfach nach Paris! Auch da stellten sich ihre Angehörigen quer und ließen sie nicht gehen. „Erlaubt bitte mir zu gehen.“, erbot sich Rosalie. „Ich werde an Eurer Stelle mich um die Königin kümmern und Euch auf den Laufenden halten.“   Oscar wollte nicht, aber das war die beste Alternative, um die anderen milder zustimmen. Zumal Rosalie als Bürgerliche und Ehefrau von Bernard dort nichts passieren würde, im Gegensatz zu einer Aristokratin. Denn in Paris rollten noch immer die Köpfe und die prachtvollen Häuser der Adligen wurden zum größten Teil dem Erdboden gleichgemacht. Es dauerte nicht lange, bis auch die Königin hingerichtet wurde und da brach Oscar zusammen. Nicht Bernard brachte ihr die Nachricht, sondern ihr Vater, der nach der Hinrichtung gekommen war, um sie und seine Frau abzuholen und ins Ausland zu gehen. Oscar blieb dennoch in Arras – es gab hier noch immer viel zu tun.   Nicht lange und auch Robespierre geriet später im Jahr 1794 unter der Guillotine und die Terrorherrschaft war damit beendet. Neue Zeiten brachen an und nach zehn Jahren der erbitterten Kämpfen schien endlich etwas Ruhe und Frieden einzukehren. Das Land atmete auf. Die Revolution, Elend und Grausamkeit hatten viele Opfer gekostet. Darunter auch die Mutter von Alain und die Großmutter von André. Einzig ein schlichtes und fröhliches Ereignis fand doch noch statt – Gilbert und Diane hatten geheiratet und es dauerte nicht lange, bis bei ihnen Nachwuchs sich ankündigte.       - - -       „Bist du dir sicher, dass die Weiber heute alleine sind?“   „Ganz sicher! Bis auf das Mannsweib sind die Männer außer Haus.“   „Umso besser... Mit der hab ich sowieso eine gewisse Rechnung zu begleichen...“       - - -       „Mama, Mama, schau!“, rief die achtjährige Andrée aus dem Zuber, als Oscar den Baderaum betrat: „Ich kann unter dem Wasser lange aushalten, ohne zu atmen!“   „Ach ja?“ Oscar zog eine Braue nach oben und ihre Tochter tauchte sogleich unters Wasser.   „Das übt sie schon die ganze Zeit.“, meinte Diane lächelnd und legte frische Sachen und Tücher neben dem Zuber auf eine Holzbank. „Braucht Ihr noch etwas, Madame Oscar?“   „Nein, danke, ich komme schon alleine zurecht.“ Oscar entkleidete sich bis auf die Haut, nachdem Diane den Baderaum verlassen hatte. Sie blieb vor dem Zuber stehen – Andrée befand sich immer noch unter Wasser und dann schnellte sie ruckartig an die Oberfläche. „Hast du gesehen, Mama? Wie lange habe ich es unter Wasser ausgehalten?“   „Lange genug.“ Oscar stieg in den Zuber, tauchte selbst kurz unters Wasser, nur um ihre Haare nass zu machen und dann wieder hoch. „Jetzt wasche dich, wir erwarten heute einen Besuch.“   „Von wem?“ Andrée seifte sich derweilen schnell ein.   „Von deinen Großeltern.“ Oscar tat das Gleiche und Andrée verzog sogleich ihr Gesicht, als sie das hörte. „Wenn ich ehrlich bin, dann ist es mir gleich, ob sie kommen... Großpapa kommt zu uns nur wegen Oskar...“   Da musste Oscar ihrer Tochter recht geben. „Aber meine Mutter kommt doch wegen euch beiden.“   „Ja, das stimmt.“   „Na siehst du. Mach also nicht so ein trübes Gesicht.“   „In Ordnung, Mama.“ Andrée lächelte wieder und tauchte wieder unters Wasser, um den Schaum abzuspülen. „Ich steige dann raus, Mama.“   „Ja, mach das. Kannst du mir gleich ein paar Tücher und mein Hemd reichen?“   Andrée beeilte sich beim Abtrocknen, schlüpfte in ihr knöchellanges Unterkleid und brachte ihrer Mutter die genannten Sachen, während diese sich gewaschen hatte. „Hier Mama.“   „Danke.“ Oscar trocknete sich ab, während ihre Tochter sie musterte. „Tun dir die Wunden noch weh?“   „Nein, sie sind schon längst verheilt.“, erklärte Oscar knapp und zog ihr knielanges Hemd an.   „Und dennoch seid Ihr trotzdem noch ansehnlich geblieben, Kommandant Oscar Francois de Jarjayes...“, erscholl eine tiefe Stimme von der Türschwelle.   Entsetzt und erschrocken starrten Mutter und Tochter auf den Mann, der die Tür gerade hinter sich schloss und hämisch grinste. „Es freut mich, Euch in dieser Aufwartung anzutreffen, Ihr macht es mir umso leichter Euch zu besiegen...“   „Wer seid Ihr?“ Oscar schob ihre Tochter schützend hinter sich und sah den Mann herausfordernd an, obwohl sie sich ihrer aussichtslosen Lage und Blöße bewusst war. „Wie kommt Ihr überhaupt hierher?“   Der Mann machte langsame Schritte auf sie zu. „Schade, dass Ihr mich vergessen habt... Ich dagegen habe an Euch all die Jahre gedacht, um mich eines Tages an Euch zu rächen, dafür dass Ihr mich damals bloß gestellt habt! Ich bin mit meinen Gehilfen hier...“   Oscar kam sogleich eine Erinnerung hoch. „Ihr seid der Steuereintreiber, der arme Bauern schikaniert hat, Monsieur Vicedo!“   „Gut erraten! Und nun bin wieder hier und meine Freunde bändigen gerade Eure widerspenstigen Weiber!“ Vicedo grinste noch breiter und entblößte seine Zähne.   „Was habt Ihr mit ihnen vor?!“   „Das Gleiche, was ich auch jetzt mit euch vor haben werde! Ich nehme Euch, hier und jetzt...“ Vicedo leckte sich anzüglich die Oberlippe und warf einen anzüglichen Blick auf das Mädchen hinter Oscars Rücken. „Und dann Eure Kleine als Nachspeise...“   Oscars Blut kochte, ihre Gedanken überschlugen sich, aber ihre Haltung blieb gerade und unbeugsam. „Das glaubt Ihr doch wohl selber nicht!“   „Doch...“ Der ehemalige Steuereintreiber blieb direkt vor ihr stehen und umfasste ihr Kinn.   Oscar schlug seine Hand sofort weg. „Fasst mich nicht an!“   „Kratzbürstig wie eh und eh...“ Er packte sie grob am Handgelenk. „Du wirst mir gehorchen!“   „Nein!“ Oscar wehrte sich, stieß ihn von sich ab und ging von ihm rückwärts weg. Sie trat in eine Pfütze und rutschte aus – ein fataler Fehler ihrerseits. Vicedo stürzte sich auf sie und drückte sie am Hals gegen den Boden, bis ihre Gegenwehr erlahmte und ihre Kräfte nachließen, aber sie selbst noch bei Bewusstsein war. Kapitel 42: Der blutige Überfall -------------------------------- Mit einem Knie zwang er ihre Beine gewaltsam auseinander und schob sich zwischen ihre Schenkel. Mit einer Hand hielt er sie am Hals gegen den Boden weiterhin gedrückt und die Finger seiner anderen Hand nestelten an seinem Hosenbund.   „Lass meine Mama los!“, schrie ein dünnes Stimmchen panisch und dann traf ihn etwas Hartes gegen den Rücken.   Der Effekt funktionierte, er ließ von Oscar ab und wandte sich an den Störenfried. „Du kleines Miststück!“   Andrée fiel der Schürhaken aus der Hand, als der Mann sich in ganzer Größe aufrichtete und auf sie zusteuerte. Sie wich von ihm zurück. „Jetzt hast du wohl Angst?“ Vicedo lachte, machte weitere Schritte auf sie zu und trieb sie somit gegen die Wand hinter ihrem Rücken. „Dann nehme ich dich halt als Vorspeise!“ Er griff nach ihr, wollte sie an ihrem Ausschnitt an sich ziehen und erstarrte dann plötzlich mit weit aufgerissenen Augen. Ein schmerzvolles Stöhnen entwich seiner Kehle und seine Finger ließen das Opfer los. Aus seinem Mundwinkel floss ein dünnes Rinnsal von Blut an dem Kinn herab und aus seinem Brustkorb ragte die Spitze von dem Schürhaken. Vicedo schwankte, drehte sich um und sah nur den eiskalten Blick von Oscar, bevor er zur Seite fiel und nicht mehr aufstand. „Niemand rührt meine Familie an!“, schnaubte Oscar außer sich vor Wut und konnte kaum noch an sich halten, nach dem Leichnam des Peinigers zu treten.   „Mama!“ Andrée eilte zu ihr und drückte sich verängstigt an sie. Ihr schmächtiger Körper zitterte und Oscar strich ihr sanft durch das feuchte Haar. „Es ist alles gut, aber nicht vorbei... Sei tapfer... Wir müssen Diane und anderen helfen...“ Auch wenn es nicht gerade leicht war, musste sie einen klaren Kopf bewahren und an alles andere denken.   „Bleib bei mir, Mama...“, wisperte ihre Tochter und Oscar drückte sie noch mehr an sich. „Ich bleibe bei dir, hab keine Angst... Ich hole nur meinen Degen, dann können wir sie besiegen...“   „Ja, Mama...“, schniefte die Kleine, aber wirkte sogleich aufgemunterter und entschlossen. Oscar zog nur noch schnell ihre Hose an und verließ hastig mit ihrer Tochter den Baderaum.       - - -       André ritt zusammen mit Alain und seinem achtjährigen Sohn heimwärts, als ihnen mitten auf dem Weg eine Kutsche begegnete. „Das ist doch...“ André trieb sein Pferd etwas schneller. Er hatte die Frau erkannt, die aus dem Fenster der Kutsche zu sehen war. „Madame Jarjayes!“   „Wir reiten schon mal vor!“, rief ihm Alain nach und preschte mit seinem Schwager in Richtung des Hauses, um allen über die Ankunft des Generals und dessen Frau mitzuteilen.   „Kutscher halte ein!“, rief Emilie, als sie aus dem Fenster genauer hinausschaute und ihren Schwiegersohn erkannte. „André, mein Junge.“, grüßte sie ihn erfreulich und dieser verneigte sich zum Gruß im Sattel. „Madame. General. Ihr seid sicherlich auf dem Weg zu uns?“   „Können wir weiterfahren?“, brummte Reynier aus der Kutsche, aber gleich darauf wurden seine strengen Gesichtszüge weicher und er schmunzelte sogar, als er neben André seinen Enkelsohn entdeckte. „Oskar, mein Junge! Du bist aber groß geworden!“   „Danke.“ Oskar begrüßte seine Großeltern mit dem gleichen Respekt, wie sein Vater.   Reynier begutachtete mit einem stolzen Aufleuchten in seinen sonst eisigen Blicken den hochgewachsenen Knaben. „Kein Wunder, denn der letzte Besuch liegt schon ein paar Jahren zurück.“ Zwei Jahren, um genauer zu sein, als General Jarjayes mit seiner Frau aus dem Ausland in die Normandie zurückgekehrt war und kurz darauf Oscar besucht hatte.   „Ja, Großvater.“ Oskar sah zu seinem Vater mit einem besorgten Blick. „Können wir weiter reiten? Ich habe ein bedrückendes Gefühl, das etwas vorgefallen sein könnte...“   „Das Gefühl habe ich auch...“, gab André zu und der General lachte darauf. „Sagt lieber, dass Oscar über meinen Besuch nicht gerade begeistert sein wird.“   „Ich bedauere Euch enttäuschen zu müssen, aber meine Frau war erfreut, als sie letzte Woche einen Brief über Euren Besuch bekommen hatte.“   „Das will ich sehen!“ General glaubte immer noch nicht daran und gab dem Kutscher den Befehl, weiter zu fahren.       - - -       Der Hof war verweist und leer, als sie allesamt an ihr Ziel ankamen. „Sagte ich doch, Oscar ist noch immer nicht begeistert mich zu sehen!“, meinte Reynier besserwissend, als er aus der Kutsche stieg und seiner Frau beim Aussteigen half.   „Es stimmt etwas nicht...“ erwiderte André während er vom Sattel herabstieg und seinem Sohn nach unten half. „Alain ist doch vorgeritten...“ Und dann hörten sie alle einen entsetzten Schrei von Gilbert, der ihnen durch Mark und Bein ging. Oskar stürmte unverzüglich ins Haus und dann zu dem kleinen Rosengarten im Hinterhof. André ließ alles stehen und liegen und rannte ihm nach.   „Du bleibst hier!“, befahl Reynier seiner Frau, zog sein Amtsschwert und marschierte den beiden mit langen Schritten nach.       André hatte in den Zeiten der Revolution viele Schreckensbilder von dem Tod und Blut gesehen... Aber das, was sich vor seinen Augen eröffnete, ließ augenblicklich das alles in den Schatten stellen: An dem kleinen Hühnerstall niederstreckte Alain einen Mann und nicht weit von ihm am Boden lagen bereits zwei weitere in ihrer eigenen Blutlache. Gilbert kniete in der Nähe des Hühnerstalls am Boden und wiegte seine blutüberströmte Schwester in den Armen. Sein jüngere Bruder Avel hielt sich eine klaffende Wunde an der Seite, war bereits grau im Gesicht und drohte umzukippen. André gebot ihm Halt. „Was ist passiert?“   „Wir wurden überfallen...“, röchelte Avel schwach. „Die Steuereintreiber von damals sind mit Verstärkung zurückgekehrt und haben Marguerite überrascht, als sie in den Stall wollte... Sie wurde... sie wurde von ihnen...“, weiter kam er nicht, seine Kräfte verließen ihn immer mehr, sein Körper sackte vollends in Andrés Armen zusammen und seine Augen flatterten... „Ich wollte sie retten, aber sie waren in der Überzahl... Diane hatte das gesehen und ist dann zurück ins Haus gerannt... Aber drei von ihnen haben sie auch gesehen und sind ihr nach... Ich habe mich gewehrt, wollte auch sie retten, aber meine Gegner waren stärker... Dann kamen Alain und Gilbert...“   „Wo sind Oscar und Andrée?“ Auch wenn André es zutiefst leid tat, Avel im Sterben zu sehen, aber er konnte für ihn nichts mehr tun.   „Im Haus... Lady Oscar wollte mit Andrée ein Bad nehmen...“ Der junge Mann schloss seine Augen, atmete tief durch und dann lag er still.       - - -       „Lasst sie sofort los!“, befahl Oscar wutentbrannt den beiden Männern, die Diane und Andrée festhielten, während sie selbst mit dem dritten kämpfte.   „Ich habe ein besseren Angebot.“, sagte dieser und während er Oscar abwehrte, gab er den Männern kurz ein Zeichen. Der eine drückte Andrée den Hals zu, bis diese nach der Luft schnappte und der andere legte Diane ein Messer an die Kehle und das andere Messer lehnte er mit der Spitze an ihren gerundeten Leib.   „Nein!“ Oscar wehrte mit der letzten Kraft den Hieb ihres Gegners mit dem Degen ab und ließ nach. „Bitte nicht... Ich, ich ergebe mich...“   „Nein, Lady Oscar!“, beschwor Diane und stellte somit das eigene Leben und das ihres ungeborenen Kindes aufs Spiel.   „Nein Mama!“, wand auch Andrée ein und versuchte sich zu befreien, aber der eiserne Griff ihres Peinigers wurde nur noch stärker.   „So ist es brav...“ Der Mann bei Oscar entwaffnete sie und kam ihr zu nahe. „Es ist jammerschade, dass du unseren Anführer getötet hast, aber umso mehr bleibt für uns übrig...“   „Fast mich nicht an!“, spie Oscar heiser, als dieser nach ihr seinen Arm streckte.   „Wie du willst...“ Der Mann hob wieder die Hand und seine Kumpanen verstärkten den Druck bei dessen Opfern. Andrée röchelte, schnappte nach Luft und bei Diane floss ein dünnes Rinnsal von Blut an dem Hals herab.   „Aufhören!“ Oscar konnte das nicht länger mit ansehen und sie war an dieser Stelle gezwungen, endgültig aufzugeben – für ihre Lieben und dass ihnen nichts geschah. „Ich... ich tue was ihr wollt... aber nicht hier... nicht vor den Augen meiner Tochter...“   „Gut, dann kommst du mit mir um die Ecke...“ Der Mann wies mit seinem Kinn auf die besagte Ecke des Hauses und warf einen kurzen Blick auf seine Kumpanen. „Und ihr sorgt dafür, dass die beiden Weiber keinen Mucks machen!“   „Gerne...“, erwiderten alle beide und grinsten hämisch, während deren Anführer Oscar packte und vor sich her trieb.   Um die besagten Ecke des Hauses sprießten bereits Rosen mit spitzen Dornen an der Hauswand. Oscars Rücken und Füße scheuerten sich Wund, als der Mann sie gegen die Wand drängte. „Denk daran, dass die zwei sterben werden, sobald du eine kleine Dummheit machst...“, lechzte der Mann und drückte sie stärker in die Dornen. Gleichzeitig ließ er seine andere Pranke über ihren Körper wandern und raffte ihr das Hemd hoch. „So ist es brav...“ Mit seiner Zunge fuhr er den schlanken Hals entlang und Oscar drehte vehement den Kopf weg. Für einen Wimpernschlag erhaschte sie einen Blick über seine Schulter und hielt inne. Überrascht riss sie ihre Augen auf, aber da blitzte schon die scharfe Klinge auf und durchbohrte den Mann. Ohne dass dieser wusste, wie ihm geschah, glitt er an Oscar lautlos herab und fiel zu ihren Füßen tot um.   Oscar starrte ihren Retter perplex und mit butterweichen Knien an. „Vater...“, formten ihre Lippen und ihre Knie knickten ein.   Reynier fing sie ab, zerrte sie aus der Dornenhecke und hielt sie an sich. „Ganz ruhig... Niemand beleidigt meine Familie!“   „Ich danke Euch, Vater...“   „Mama!“   „Oskar...“ Oscar riss sich aus den Armen ihres Vaters und drückte ihren Sohn an sich, aber dann besann sie sich gleich. „Ich muss zu Andrée und Diane!“ Sie rannte um die Ecke und blieb wie angewurzelt stehen. Alain streckte gerade einen Mann nieder, der seine Schwester festgehalten hatte. Gilbert kam aus dem Hinterhalt und fing Diane auf. André versuchte den Mann anzugreifen, der seine Tochter festhielt... Letztendlich und aus irgendwo her tauchte der General auf und entriss seine Enkelin dem Mann aus den Händen und André konnte ihm endlich den Garaus machen. Oscar wusste am Ende nicht, zu wem sie rennen sollte.   „Sie sind gerettet, Mama!“, rief Oskar euphorisch und lenkte alle Blicke in ihre Richtung.   „Oscar...“ André ging langsam auf seine Frau zu und musterte sie besorgt von Kopf bis Fuß.   „Ich bin unversehrt...“, murmelte Oscar und ihr traten beinahe vor Freude und Schmerz die Tränen in die Augen. „Es ist nicht mein Blut...“   „Oscar!“ André glaubte es ihr erst dann, als er sie herzzerreißend an sich drückte und sich selbst von ihrer Unversehrtheit überzeugte.   „Ich würde sagen, du machst dich frisch und ziehst dich um, bevor deine Mutter dich so sieht.“, brummte Reynier im Hintergrund und Andrée sah zu ihm auf. „Ist etwa Großmutter auch hier?“   „Ja.“ Reynier legte seine Hand auf den Scheitel seiner Enkelin. „Wir sind alle da. Rechtzeitig angekommen, um euch zu beschützen.“ Er lächelte und zog sie beherzt an sich. Dankbar lehnte sich Andrée an ihn und zum ersten Mal spürte sie, dass sie ihrem Großvater doch noch nicht so gleichgültig war, wie sie es bisher angenommen hatte. Kapitel 43: Unfall ------------------ Nach dem Überfall versuchten die Hinterbliebenen ihr Leben weiter zu führen wie gewohnt. Das war schwer, aber mit Ankunft des ersten Kindes von Diane schien es sich endlich zu normalisieren, denn es bedeutete Hoffnung und ein neues Leben. Weitere Jahre genossen Oscar und André das Familienleben und versuchten das Geschehene zu vergessen.   Rosalie und Bernard kamen einmal zu Besuch und überraschten sie, als sie zwei kleine Jungen mit sich brachten. Rosalie hatte also doch ihr Mutterglück gefunden, was Oscar sehr erfreute und die vierköpfige Familie Chatelet blieb über Winter bei ihnen.   Leise knirschte der Schnee unter den dicken und mit Wolle gefüllten Stiefeln, als die vierzehnjährige Andrée über den zugefrorenen Fluss glitt. „Geh aber nicht allzu weit weg!“   „In Ordnung, Mama!“ Was sollte da schon passieren? Sie war ja hier nicht zum ersten Mal. Nun gut, am Ende des Winters und wo der Frühling vor der Tür stand, war es bereits gefährlich über das Eis zu laufen, aber für sie galt das nicht. Sie wog gar nicht so viel und das Eis war noch nicht so dünn, dass sie schon hier, nicht weit von dem Ufer, einbrechen konnte. Ihr Zwillingsbruder rief ihr auch noch etwas zu, aber ihn nahm sie kaum wahr. Er wollte sie bestimmt dazu motivieren, mit Dianas und Rosalies Kindern bei der Schneeballschlacht mitzuspielen. Andrée jedoch hatte dazu keine Lust. Seit dem blutigen Überfall war sie im Allgemeinen zurückhaltender geworden und mied laute Gesellschaften, sei es auch ihr eigener Bruder oder all die vertrauten Menschen in ihrer Umgebung. Sie war lieber alleine mit sich oder mit ihrer Mutter, denn sie hatte noch immer dieses Gefühl, dass etwas Schlimmes passieren könnte... Das war albern und kindisch, aber noch vor zwei Jahren war es noch schlimmer. Dank diesen Übeltätern war sie zu ihrer Mutter sehr anhänglich geworden und folgte ihr überall hin. Nicht einmal beim Einschlafen wollte sie von ihr getrennt sein, auch wenn ihr damit bewusst war, dass sie wegen ihren Verhaltens immer mehr zur Last fiel...   Letztes Jahr hatte sie ihren ersten Monatsfluss bekommen und seitdem versuchte sie sich zu ändern. Denn sie war jetzt zu einer reifen Frau geworden und auch wenn ihre Eltern der Meinung waren, sie wäre noch zu jung für eine Heirat und ließen ihr diesbezüglich die freie Wahl, konnte sie trotzdem nicht weiter wie ein kleines und anhängliches Kind leben. Besonders nicht, wenn ihre Großeltern oder Rosalie mit ihrer Familie zu Besuch da waren. Morgen würde die gesamte Familie Chatelet abreisen und zurück nach Paris kehren und deshalb unternahmen sie heute alle zusammen einen Spaziergang an dem Fluss.   Andrée glitt in Gedanken versunken immer weiter auf das Eis, entfernte sich immer mehr von dem Ufer und als sie das bemerkte, erinnerte sie sich an die Worte ihrer Mutter und machte kehrt. Ihr Bruder machte leutselig mit den kleinen Kindern von Diane und Rosalie eine Schneeballschlacht und ihre Eltern mit den anderen standen nicht weit davon entfernt und winken ihr zu. Andrée verstand. Das war ein Zeichen, dass sie nach Hause aufbrechen wollten und sie beeilte sich. Die frostige Kälte zwickte ihr in die Wangen und der Nase, aber das war für sie kaum von Bedeutung. Sie würde ja gleich Zuhause sein und sich an dem Kaminfeuer wärmen. Andrée blieb kurz stehen, hüllte sich noch mehr in ihren Mantel ein und hastete weiter, als es plötzlich unter ihren Füßen knackte und eine verdächtige Zickzacklinie direkt vor ihren Füßen sich in die Länge ausbreitete und ihr Körper in das Eis einbrach...       - - -       Wasser... eisige Kälte... Atemnot... panische Angst... und die Dunkelheit... Aber sie konnte doch lange unter dem Wasser ohne zu atmen durchhalten, sie hatte doch früher viel dafür geübt... Ja, früher, als sie noch ein Kind war und ein unbeschwertes Leben geführt hatte... bis die bösen Männer kamen und ihr, ihrer Mutter und den anderen, ihre lieben Menschen, Leid antun wollten...       - - -       Der vierzehnjährige Oskar stürmte in das elterliche Gemach ohne Anzuklopfen. Nachdem was heute Nachmittag, vor wenigen Stunden geschah, würden sie ohnehin nicht schlafen können. „Mutter! Vater! Andrée geht es schlimmer! Sie schlägt um sich und sie schreit!“   Oscar und André rannten unverzüglich los, kaum dass sie sich in trockene Sachen angezogen hatten. Es war ein Fehler, Andrée zu verlassen und nun hatten sie die Strafe dafür. Aber was hätten sie denn sonst tun sollen? Sie wollten doch, auf Empfehlung des Arztes, sich nur umziehen und Andrée hatte ja friedlich ausgesehen...   Die Bilder des Unfalls gingen allen beiden nur so durch den Kopf, während sie zu dem Zimmer ihrer Tochter rannten: Andrée, wie sie zu ihnen ans Ufer rannte und dann plötzlich in das eisige Wasser eingebrochen war. Oscar und André waren sofort zu ihr geeilt, das bereits angeschlagene Eis brach auch unter ihren Füßen, aber das war ihnen egal. Nur ihre Tochter zählte und sie konnten schwimmen, im Gegensatz zu ihr. Sie hatten sie gerettet, aus dem Wasser gezogen und nach Hause gebracht, jedoch war sie bereits bewusstlos. Bis der Dorfarzt von Alain geholt wurde, wachten sie über sie. Rosalie und Diane hatten ihr die nassen Wäsche ausgezogen, in ein trockenes Nachthemd gekleidet und ins Bett gelegt. Gilbert und Bernard machten Feuer im Kamin und Oskar, zusammen mit den Kindern von Diane und Rosalie, brachte warme Decken.   Nun, nachdem der Arzt sie untersucht und medizinisch versorgt hatte, bekam Andrée Fieber, lag schweißgebadet in ihrem Bett, schlug um sich und schrie, wie Oskar zuvor geschildert hatte. „Nein! Lasst sie los! Mama! Mama!“   Oscar drang sich bis ans Kopfende ihres Bettes vor und nahm sie in ihre Arme. „Ich bin hier! Mir geht es gut!“, beschwor sie immer wieder und haderte mit ihren eigenen Gewissensbissen. Wozu hatte man sie wie ein Mann erzogen, ihr der Kraft und Stärke gelehrt, sich zu verteidigen, wenn sie das Leben ihrer eigenen Tochter nicht gut genug beschützen konnte?   „Es wird alles gut...“ Auch André setzte sich von der anderen Seite und nahm alle beide in die Arme. Es tat höllisch weh, sie so zu sehen und er hoffte wirklich auf eine Besserung.   Seine und Oscars Stimme schienen ins Bewusstsein von Andrée durchzudringen und sie zu beruhigen. Langsam wurde sie still und Oscar legte sie behutsam in die Kissen zurück. „Bleibt bei mir... Mama... Papa...“   Oscar nickte. „Das werden wir.“, beschloss sie selbstverständlich und auch André stimmte ihr zu.       - - -       Die aufgehende Sonne des nächsten Tages erhellte das Zimmer von Andrée und kitzelte die Gesichter der Schlafenden. André machte seine Augen auf und realisierte kurz, wo er gerade war. Auf jeden Fall nicht in seinem Ehegemach. Neben ihm schliefen seine Tochter und Oscar. Er stützte sich ganz vorsichtig auf einen Ellbogen, um beide besser betrachten zu können und schmunzelte bei dem sinnlichen Bild. Andrée schien es besser zu gehen, sie hatte wieder die normale Hautfarbe im Gesicht und ihr Atem ging gleichmäßig. Auch die ganze Nacht hatte sie ruhig geschlafen und er befühlte ihr die Stirn. Das Fieber schien nachgelassen zu haben, was ihn noch mehr erleichterte und ihn dazu bewog seine Frau zu wecken. Sachte strich er ihr durch das blonde Haar und dann an der Wange, bis Oscar ihre Augen öffnete und zu ihm schaute. „Guten Morgen, meine Liebe.“ Er hätte ihr gerne einen Kuss gegeben, aber da Andrée zwischen ihnen beiden lag und er sie nicht wecken wollte, beließ er es dabei.   „Guten Morgen Liebster.“ Noch etwas schlaftrunken saß Oscar auf und schaute sofort zu ihrer Tochter.   „Es geht ihr besser.“, flüsterte André und Oscar atmete auf. „Gott sei Dank“, wollte sie sagen, aber hielt inne. In ihren Lungen rasselte es und ein brennender Reiz kroch in ihrer Kehle.   „Was hast du, Liebes?“   „Ich glaube, ich habe mich erkältet...“, vermutete Oscar und André glaubte eine gewisse Besorgnis in ihren Augen gelesen zu haben. Ein leises Stöhnen ließ ihn jedoch nicht weiter fragen und sein Blick folgte dem seiner Frau auf Andrée, die gerade aufwachte. „Mama, Papa...“, murmelte sie mit schwacher Stimme und lächelte etwas.   „Wie fühlst du dich?“ fragte das Ehepaar fast im Chor und hätte deswegen fast gelacht.   „Etwas schwach, aber besser...“, erwiderte Andrée wahrheitsgemäß und von der anderen Seite des Bettes hörte sie schon die erfreute Stimme ihres Bruders: „Endlich! Du hast uns allen einen mächtigen Schreck eingejagt! Aber jetzt wird alles wieder gut!“ Er schoss aus dem gepolsterten Stuhl, in dem er die ganze Nacht verbracht hatte und solange seine Eltern ihn überrascht ansahen und ihn nicht diesbezüglich befragten, ging er mit langen Schritten aus dem Zimmer. „Ich sage den anderen Bescheid und hole den Arzt.“, rief er noch zu und dann war er weg. In dem Moment überkam Oscar ein Husten und sofort verdeckte sie ihren Mund mit der Hand und brachte Abstand zu ihrer Tochter. „Ich stehe lieber auch auf, bevor ich euch mit meiner Erkältung anstecke.“, sagte sie mit einem matten Lächeln, als der Husten aufhörte und schloss dabei die kleinen Blutstropfen verborgen in ihrer Faust...       Mit jedem Tag ging es Andrée besser und nach zwei Wochen Ruhe, Fürsorge und Pflege konnte sie sich richtig erholen und wurde gesund. Dafür aber wurde Oscar immer kränker und hustete oft Blut wieder. Das war schrecklich! Der Dorfarzt empfahl ihr ans Meer zu gehen, denn die salzige Meeresluft konnte den Lungen gut tun, wie damals bei dem ersten Anfall.   „Ich kann nicht gehen.“, protestierte Oscar. „Bald ist Saatzeit und es muss deswegen vieles erledigt werden.“   „Ich werde mitkommen, denn schließlich geht es um dich, Oscar...“, meinte André besorgt und fügte noch vorsichtig hinzu: „Wir wollen dich nicht verlieren.“ Sie saßen zu siebt in dem großen Gemeinschaftssalon und berieten sich gewohnheitsgemäß über geschäftliche Sachen.   Alain zog seine buschigen Augenbrauen zusammen und ließ seine Meinung nicht hinter dem Berg stehen. „Entschuldigt, dass ich mich einmische, Oberst, aber Ihr müsst fort...“   „Da hat er nicht unrecht...“, sagte Gilbert und Diane ergänzte es genauer: „Wir werden uns um den Haushalt kümmern, während Ihr Euch in der Normandie erholt.“   Oscar runzelte missverständlich die Stirn. Auch wenn ihr die ausgesprochenen Worte nicht passten, musste sie dennoch allen recht geben. „Nun gut, ich werde in die Normandie gehen, aber du bleibst hier.“, entschied Oscar mit dem Blick auf ihren Gemahl. „Und ich nehme Andrée mit.“ Damit sie ganz genesen konnte und auch um sicherzugehen, dass sie ihre Tochter nicht angesteckt hatte.   „Ich lasse dich nicht alleine gehen.“, beschloss André unverzüglich und erntete Oscars Kopfschütteln. „Nein, du bleibst und kümmerst dich um die Geschäfte, André.“   „Ich muss ihr recht geben.“, mischte sich Alain erneut ein. „Einer von euch muss hier bleiben, denn die Menschen werden ohne es mit euch abgesprochen zu haben, sonst nichts machen und nichts auf ihre Felder säen können. Sie lassen doch nur mit euch Geschäfte machen.“   „Und wir begleiten Euch, Lady Oscar.“, erbot sich Rosalie und Bernard stimmte ihr zu. „Ich komme wieder hier her, sobald wir dort sicher angekommen sind und halte euch im Laufenden.“, versprach er André und sein Freund gab wieder einmal gezwungenermaßen nach. Nur wegen dem Haushalt und den laufenden Geschäften musste André zustimmen. Um Oscar zu Liebe ließ er sie mit ihrer gemeinsamen Tochter gehen und erwartete mit Sehnsucht auf den ersten Besuch von Bernard. Dieser kam in drei Wochen und seitdem besuchte er seinen Freund fast jeden Monat, um ihm die Neuigkeiten aus der Normandie mitzuteilen. Epilog: Epilog -------------- „...und deswegen ist Oscar in die Normandie zu ihren Eltern gegangen. Die Meeresluft hatte ihr schon immer gut getan.“, beendete André seine Erzählung und schaute wieder auf den Ehering an seinem Finger. Um ihn herum hatte sich schon eine kleine Kinderschar versammelt, um die Geschichte zu hören und auch deren Mutter hatte sich zu ihnen gesellt. Erneut strich sich Diane ihre Haarsträhne hinters Ohr und wieder blitzte der Ehering durch das einfallende Sonnenlicht auf. Die letzten Kapitel von Andrés Erzählung waren ihr nicht geheuer, denn sie war damals schon zum zweiten Mal dem Tode entkommen... Aber mit einem Blick auf ihre Kinder beruhigte sich ihr Gemüt und ließ die schreckliche Vergangenheit in den Hintergrund rücken. Ihre Kinder, ihr Mann, ihr Bruder und alle anderen waren ihre Lebensfreude und daran hielt sie sich.   „Willst du nicht Oscar besuchen?“, fragte Bernard seinen Freund nach und erklärte sogleich lächelnd: „Ich will gleich in die Normandie aufbrechen, um meine Frau und unsere Söhne abzuholen.“   André wollte etwas erwidern, aber da ging das Haustor auf und zwei Männer kamen herein. „Was geht hier denn vor?“, wunderte sich einer von ihnen mit dem roten Halstuch.   „Vater erzählt gerade über Mutter, Alain.“, erklärte der vierzehnjährige Oskar und schaute wieder seinen Vater an. Seine blauen Augen schimmerten und sein blondes, kurzes Haar leuchtete bei dem einfallenden Sonnenlicht.   „Ach, deshalb ist es heute so ruhig!“, kommentierte der andere Mann an Alains Seite. Er ging zu den kleinen Kindern und beim Vorbeigehen zerzauste er jedem einzeln die Haare als Begrüßung.   Diane erhob sich und ihre Augen leuchteten verzückt. „Gilbert!“ Kaum dass er bei ihr ankam, hing sie ihm schon um den Hals. „Es war so eine rührende Geschichte!“   Gilbert küsste sie flüchtig auf den Mund. Er hatte so eine Ahnung, um was es in der Geschichte ging und hoffte nur, dass André den schlimmeren Teil nicht erwähnt hatte. Er ließ seine Frau los und warf einen Blick auf André. Dieser nickte ihm nur zum Gruß zu und in seinem trübsinnigen Gesicht war nur diese Sehnsucht nach seiner Frau abzulesen. „Ich spiele mit dem Gedanken, mit Bernard gleich aufzubrechen. Er will seine Rosalie und seine Kinder in der Normandie abholen.“, sagte er dabei schwer seufzend.   „An deiner Stelle würde ich nicht überlegen, sondern gleich losrennen.“ Alain zwinkerte ihm zu und klopfte freundschaftlich dem Jungen auf die Schulter. „Du willst sicherlich deine Mutter auch sehen, Kumpel?!“   „Ja, Alain!“ Oskar lächelte kaum merklich. „Und auch Andrée.“   „Und wer wird sich um das Haus und um die anderen Sachen kümmern?“, wand André fraglich ein. „Ich kann doch hier nicht alles stehen und liegen lassen! Das würde auch Oscar nicht wollen...“   „Dafür hast du aber uns, Kumpel!“ meinte Alain und klopfte nun auch ihm die Schulter. „Mein Schwager und ich werden schon hier für Ordnung sorgen! Zumal sind die großen Geschäfte bereits vor drei Monaten erledigt und das Saatgut gesät. Im Sommer werden die Menschen ein paar Wochen auch ohne euch auskommen können und mit mir und Gilbert als Stellvertretender vorlieb nehmen müssen.“   „Wenn du meinst, Alain...“, seufzte André noch schwermütiger. Er wollte Oscar von ganzem Herzen sehen, aber er wusste nicht, wie sie auf seinen Besuch reagieren würde...       - - -           „...und deswegen musste ich in die Normandie gehen.“, beendete Oscar ihre Erzählung und hob ihre Hand. Sie beschaute den Ehering an ihrem Finger und ihr Herz zog sich schmerzlich zusammen. „Ich muss zugeben, er fehlt mir...“   „Mir auch...“, seufzte ihre vierzehnjährige Tochter neben ihr und sah zu ihr. „Sowie auch Oskar...“   „Andrée...“ Oscar blieb unvermittelt stehen und bewog damit die zwei anderen es ihr gleich zu tun. Sie sah in die grünen Augen ihrer Tochter und musste noch mehr an André denken. Das dunkelbraune Haar hatte sie auch von ihm. „Du weißt doch, dass es zurzeit nicht möglich ist...“   „Ja, Mutter...“ Das Mädchen senkte trüb ihren Kopf. Auch wenn es ihr in der Normandie gefiel und es ihr bei den Großeltern gut ging, hatte sie trotzdem hin und wieder die Sehnsucht nach dem getrauten Heim und all diejenigen, die sie dort kannte und liebte.   „Mama! Mama!“ Zwei kleinen Knaben preschten zu ihnen entgegen und riefen durcheinander zu Rosalie: „Da kommt jemand zu uns!“ Sie zeigten aufgeregt in die Ferne mit ihren Fingern und ihre Mutter folgte ihnen mit ihren Blick. „Lady Oscar!“ Rosalie musste ihren Söhnen recht geben und machte alle beide auf einen Punkt in der Ferne aufmerksam: „Da kommt wirklich ein Reiter!“   Oscar und Andrée sahen gleichzeitig in die hingewiesene Richtung hin. In der Tat bewegte sich ein Reiter auf einem Pferd auf sie zu. Im gestreckten Galopp erreichte er sie schnell und hielt erst direkt vor ihnen an. „Lady Oscar.“, schnaufte er außer Puste, als wäre er zusammen mit dem Pferd um die Wette gerannt.   Oscar war sogleich auf der Hut und runzelte die Stirn. „Ist etwas passiert, Girodel?“, forschte sie in einem sachlichen Ton nach, obwohl ihr Herz immer aufgeregter schlug und ihr Blut immer wärmer durch die Adern floss.   „Ihr habt Besuch.“ Girodel wirkte nicht gerade erfreulich, aber auch nicht besorgt.   Oscar dagegen staunte und ihr Herz drohte endgültig aus dem Brustkorb zu springen. Wer mochte es noch sein? Jedoch bewahrte sie äußerlich Ruhe und Gelassenheit. „Deshalb seid Ihr hierher geritten, um mir das mitzuteilen?“   „Nein, Lady Oscar“, erwiderte Victor freundlich und höflich. „Ich wollte mich von Euch verabschieden. Ich muss wieder zu mir nach Hause. Lebt wohl, Lady Oscar. Es war schön, Euch wieder gesund zu sehen.“   „Danke, Graf.“ Oscar bekam so eine Ahnung... „Lebt Wohl und gebt auf Euch acht.“   „Das werde ich, Lady Oscar.“ Girodel verneigte sich im Sattel, gab seinem Pferd die Sporen und ritt davon.   Oscar eilte gleich darauf mit Rosalie, den beiden Jungen und Andrée zu dem Haus zurück. Ihre Eltern saßen noch immer beim Tee und Gebäck im Garten und zwar mit dem Besuch, den Girodel gerade eben erwähnt hatte. Zwei Männer und ein Knabe unterhielten sich am Tisch. Oscar blieb mitten auf dem Weg stehen und riss überrascht die Augen auf. „André...“ Sie hatte es ja geahnt! Sie wollte sich nur überzeugen und nun bewahrheitete sich das! Ihre Gefühle überschlugen sich, ihr Herz stand in Flammen und die tiefe Sehnsucht schien nun endlich gestillt zu sein!   André hörte ihre Stimme und sah zu ihr. Beherrscht erhob er sich von seinem Platz und machte langsame Schritte auf sie zu. Er musterte sie dabei ausgiebig und sein Herz verlangte, zu ihr zu rennen, sie in seine Arme zu schließen und sie nie mehr wieder loszulassen. „Oscar...“ Andrerseits wollte er nicht überstürzt sein und sie womöglich auch noch mit seinem Verhalten verärgern.   Oscar jedoch bewegte ihre Füße. Schritt für Schritt, erst zögerlich, aber dann rannte sie. André breitete seine Arme aus, seine grünen Augen erzeugten ein magisches Leuchten und seine Mundwinkel zogen sich immer mehr nach oben. Wie sie das vermisst hatte! Wie sehr sie ihn all die Monate vermisst hatte! „André!“ Oscar fiel direkt in seine Arme, er schloss sie fest an sich und ihre Herzen füllten sich endlich mit der Wärme der Liebe und Geborgenheit.   Wie eine heftige Flutwelle trafen sie sich aufeinander und genossen die tiefe Umarmung. Der darauffolgende, leidenschaftliche Kuss besiegelte anschließend ihr Wiedersehen und als sie sich voneinander lösten, war das Freudenstrahlen in ihren Gesichtern nicht zu übersehen. „Meine geliebte Oscar...“ Seine Unsicherheit war zerstreut, seine Frau machte ihm keine Vorenthaltung und sie sah nicht mehr so krank aus. „Du siehst wesentlich besser aus, als vor unseren Trennung.“, ergänzte er und Oscar berichtete ihm mit dem Glanz des neuen Lebens, wie es ihr wirklich ging: „So fühle ich mich auch. Der Bluthusten ist wieder weg und in den Lungen ist auch kein Brennen mehr. Ich vermute, in ein oder zwei Wochen kann ich wieder nachhause kommen.“     Nicht weit von ihnen am Tisch schüttelte General Jarjayes schmunzelnd den Kopf. „Nicht einmal drei Monate können sie ohne einander aushalten. Und dabei sind sie eigentlich schon seit Kindesbeinen an zusammen.“   „Das nennt man Liebe, mein Gemahl.“, sagte Emilie Jarjayes und betrachtete verzückt ihre Tochter und ihren Schwiegersohn. Diese begrüßten gerade ihre Kinder mit freudiger Umarmung und begaben sich dann mit ihnen und den anderen zurück an den Tisch. Ja, das nannte man Liebe... Eine reine, aufrichtige und bedingungslose Liebe, die schon seit ihrer gemeinsamen Kindheit währte, die in ihnen lange Jahre schlummerte, sich dann entfaltete und nun in voller Blüte stand. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)