Life is precious von JesLea (Das Leben ist wertvoll) ================================================================================ Kapitel 24: Amanda, Miranda --------------------------- Am nächsten Tag merkte ich, dass die Sache mit dem Unfall doch noch nicht erledigt war. Es waren nur Kleinigkeiten, wie ein Blick oder eine Bemerkung – im Lesen zwischen den Zeilen war ich ziemlich gut. Jesse meinte es wahrscheinlich nicht böse, war sich dessen, was er sagte, und wie es auf mich wirkte, gar nicht bewusst. Oder ich bewertete alles über. Beim Frühstück zum Beispiel fragte er mich, ob er mir den Semmel aufschneiden sollte. Als ob es unverantwortlich wäre, mir nochmal ein Messer in die Hand zu drücken. Oder als ich etwas aus der Speisekammer holen wollte, bot er sich an, das für mich zu erledigen. Als wäre die Kombination von mir und der Speisekammer ein Vorzeichen für Unheil. Helen hatte gestern darauf bestanden, Kelly wieder mit nach Hause zu nehmen, ungeachtet der Widerworte, die Jesse eingelegt hatte. Sie gab die fürsorgliche Oma, die auf ihre Enkelin achten wollte. Aber ich war mir sicher, dass sie nur darauf bestanden hatte, um Jesse und mich zu entlasten. Wenn die Kleine hiergeblieben wäre, den dicken Verband – den sie gestern Abend ziemlich cool gefunden hatte – um den Finger gewickelt, wäre Jesse mir vielleicht doch nochmal böse geworden. Ich sah ihm dabei zu, wie er einen Bericht über Freuds Theorien las. Völlig konzentriert, immer wieder einen Schluck Kaffee nehmend, ohne von dem Blatt aufzusehen. Seine Haare kräuselten sich noch ein wenig mehr als sonst, weil er gerade erst geduscht hatte. Ich beobachtete seinen Kehlkopf, wie er bei jedem Bissen nach unten und wieder nach oben glitt, seinen Kiefer beim Kauen, seine Hand, die das Croissant immer wieder an seine Lippen führte. „Du starrst schon wieder.“ Erwischt. Wie konnte er das sehen, wo seine Augen doch fest auf das Blatt vor sich gerichtet waren. Doch nun ließ er den Text links liegen und schenkte mir ein verschmitztes Lächeln. Ich würde es niemals zugeben, auch wenn wir beide wussten, dass er Recht hatte. Deshalb zuckte ich nur die Schultern und nahm einen großen Zug von meinem Kakao. Jesse nahm meine Hand und malte mit seinem Daumen kleine Kreise auf meine Handinnenfläche. „Was machen wir heute?“, fragte er mich und verschlang den Rest seines Croissants mit einem Bissen. Ich sah ihn freudig überrascht an. „Musst du nicht lernen?“ Demonstrativ wanderte mein Blick zu den Blättern, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Jesse winkte ab. „Das kann warten. Wir haben schon so lange nichts mehr nur für uns gemacht.“ Konnte er Gedanken lesen? Ich konnte das breite Grinsen, das sich auf meinen Lippen ausbreitete, nicht zurückhalten. „Und das sehe ich in letzter Zeit auch viel zu selten“, flüsterte er und strich mir über die Lippen. Mein Körper reagierte sofort. Die letzte Nacht war mir noch gut in Erinnerung. Jesse anscheinend auch, denn ich konnte sehen, wie sich der Ausdruck in seinen Augen veränderte. Er sah aus, als wollte er mich gleich hier und jetzt verschlingen. Ich spürte die Wärme in meine Wangen und Ohren steigen, doch ich hatte mich inzwischen daran gewöhnt, vor Jesse zu erröten. Er hatte mir mal gesagt, dass er es liebte, wie sich meine Wangen pink färbten. Ich wollte ihm gerne sagen, dass ich einfach alles an ihm liebte. Dass ich ihn liebte. Dies war der richtige Augenblick. Ich fühlte mich bereit, es laut auszusprechen. „Morgen!“ Gregs Stimme beförderte uns zurück in das Hier und Jetzt und Jesse ließ seine Hand sinken. Meine Lippen kribbelten, wo er mich berührt hatte. Mit der anderen hielt er mich weiterhin fest. „Na, ihr Turteltauben! Wieder versöhnt?“ Ich hoffte inständig, dass Jesses Bruder damit nicht auf gestern Nacht anspielte. Hatten sie uns etwa gehört? Oh Gott, wäre das peinlich. Jesse lachte, als das Rot in meinem Gesicht noch dunkler wurde. Ich war froh darüber, mir anscheinend nur eingebildet zu haben, er sei noch nachtragend, aber in diesem Moment würde ich ihm gerne einen Seitenhieb verpassen. Auch wenn ich den Klang seines Lachens liebte. Und Gregs breites Grinsen machte es auch nicht besser. Wir entschieden uns für einen Ausflug in die Stadt. Ein bisschen shoppen, irgendwo ein Eis essen, einfach das schöne Wetter und einander genießen. Jesse war jetzt zweiundzwanzig. Ich fragte mich, ob man uns den Altersunterschied anmerkte. Wie wir überhaupt miteinander aussahen. Oder vielmehr: Ob ich ihm gerecht wurde. Diese Bedenken konnte ich leider nicht so einfach abstellen. Doch sobald Jesse meine Hand nahm oder mir den Arm um die Schultern legte, waren alle Zweifel sofort verflogen. Ich konnte sehen, wie die jungen Mädels auf der Straße sich nach Jesse umdrehten. „Ich kann dieses Geglotze nicht ausstehen“, knurrte er, was mich ein wenig verwirrte. Zu seinen Groupies war er normalerweise sehr charmant. „Wenn sie noch länger so starren, muss ich wohl oder übel eingreifen.“ Wir standen an einer Ampel und warteten auf das grüne Signal. Als ich seinem Blick folgte, wurde mir erst bewusst, dass er nicht von Frauen sprach, sondern zwei Männern, die sich auf der gegenüberliegenden Seite befanden und uns immer wieder Blicke zuwarfen. MIR Blicke zuwarfen. Jetzt ergab das alles einen Sinn. Ich legte eine Hand um Jesses Oberarm und drückte leicht, damit er sich von den Schaulustigen losriss und mich ansah. Ich lächelte ihn an. „Die sind mir völlig egal.“ Er grummelte etwas Unverständliches und zog mich demonstrativ an sich. Dieses Revierverhalten kannte ich von ihm gar nicht. Beschämenderweise musste ich zugeben, dass es mir sogar gefiel. War ihm denn nicht bewusst, wie fest er mich bereits in seinen Bann gezogen hatte? Dass ich nur noch Augen für ihn hatte? Ich nahm seine Hand und hielt sie ganz fest, was ihn ein wenig besänftigte. Trotz allem konnte er es nicht lassen, die beiden jungen Männer herausfordernd anzufunkeln, als wir schließlich die Ampel überquerten. Glücklicherweise waren sie nicht auf Streit aus und wandten schnell die Blicke ab. „Hättest du dich wirklich mit denen geprügelt?“, fragte ich Jesse später, als ich fasziniert meinen riesigen Eisbecher voller Früchte und Sahne beäugte. Er zuckte mit den Schultern. „Wenn sie es drauf angelegt hätten“, meinte er schlicht. Ich lachte. „Dir ist schon bewusst, dass du es warst, der es drauf angelegt hat, oder?“ Er nahm einen viel zu großen Löffel Eis aus seinem Becher und verschluckte sich fast dabei. „Sie hätten dich eben nicht so anglotzen sollen.“ Ein wenig Eifersucht fand ich ja süß, aber bevor das Ganze aus dem Ruder lief, wollte ich ihn von dem Thema ablenken. „Hättest du es denn mit ihnen aufnehmen können?“ Er sah mich stirnrunzelnd an, als wollte er mich dafür tadeln, an seiner Kraft zu zweifeln. Ich zuckte nur mit den Schultern. „Immerhin waren sie zu zweit.“ Er klaute mir etwas Sahne, weil sie die in seinem Eisbecher vergessen hatten. „Ich habe im Internat Kickboxen gelernt, also...“ Das erklärte endlich mal, wo seine Muskeln herkamen, denn ich hatte ihn noch nie Sport treiben sehen. Beeindruckt ließ ich meinen Löffel sinken. „Also bist du eine richtige Killermaschine, was?“ Ein verschmitztes Grinsen stahl sich auf seine Lippen. „Möchtest du's rausfinden?“ Ich hob abwehrend die Hände und schüttelte den Kopf. „Nein, danke. Ich ergebe mich.“ Seine Miene wurde ernster. „Ich könnte dir ein bisschen davon zeigen, wenn du möchtest.“ Liebend gerne würde ich seinen Muskeln dabei zusehen, wie sie mir seine Stärke demonstrierten, aber bei der Vorstellung, die Übungen dann auch nachmachen zu müssen, hörte der Spaß für mich auf. „Nicht nötig.“ Doch er ließ nicht von dem Thema ab. „Ich habe im Keller einen kleinen Trainingsraum eingerichtet. Du kannst es dir doch einfach mal ansehen.“ Er hätte auch ein Versuchslabor haben können, in dem er Schafe klonte, und ich hätte keine Ahnung davon. Wieso gab es so viele Dinge, die ich von Jesse nicht wusste? Das störte mich. „Ich bin nicht besonders sportlich, weißt du. Aber ich sehe es mir gerne mal an“, beschwichtigte ich ihn, weil ich ihm die Enttäuschung ansehen konnte. Eleonore wäre bestimmt sofort Feuer und Flamme gewesen. Hör auf, dich mit ihr zu vergleichen, ermahnte ich mich selbst. Ich konnte nicht ständig daran denken, was sie gesagt oder getan hätte. Damit tat ich keinem einen Gefallen. Mir am allerwenigsten. Und hätte er eine vor Energie sprühende, Witze reißende und abenteuerlustige Freundin gewollt, wäre ihm bestimmt schon längst aufgegangen, dass ich dafür nicht die richtige Kandidatin war. „Hey. Wo bist du mit deinen Gedanken?“ Jesse kannte meine gelegentlichen Ausflüge in eine nur mir bekannte Welt und wartete jedes Mal ruhig ab, bis ich wieder zu ihm zurückfand. Ich schüttelte den Kopf und lächelte, um ihn zu beruhigen. „Tut mir Leid. Alles okay.“ Wie immer sah er mich mit diesem Blick an, der besagte, dass ich ihm alles anvertrauen konnte, was es auch war. Aber er drängte mich nicht, meine Gedanken mit ihm zu teilen - wofür ich ihm sehr dankbar war. „Ich habe mir nur gerade vorgestellt, wie ich aussehen würde, wenn ich dieses... Kickboxen probieren würde.“ Ich müsste ihn nicht anlügen, ich könnte es einfach dabei belassen. Aber es war ein so perfekter Tag und ich wollte ihn für gestern entschädigen. Also war ich darauf bedacht, nichts zu tun oder zu sagen, worüber er sich Sorgen machen könnte, nicht mal ein kleines bisschen. „Ich dachte, zur Selbstverteidigung wäre das doch ganz gut.“ Er sagte es leise, nur ganz beiläufig und versenkte seinen Löffel tief im Eis, um nach der Schokoladensauce zu graben. „Wieso? Läuft irgendwo ein Mörder frei rum?“ Ich war belustigt, zog seinen Kommentar ins Lächerliche, doch als ich sah, wie seine Stirn sich kräuselte und seine Brauen sich zusammenzogen, verkniff ich mir weitere Kommentare. „Ich würde mich einfach wohler fühlen, wenn ich wüsste, dass du dich wehren kannst.“ Zwar hatte ich keine Ahnung, wo seine plötzlichen Befürchtungen herrührten, aber ich fand es unglaublich niedlich, wie sehr er sich um mich sorgte. Ich legte meine Hand auf sein Knie. „Mir passiert schon nichts. Und wenn es dich beruhigt, kannst du mir ruhig ein paar Kniffe zeigen, wenn du möchtest.“ Er blinzelte mich gegen die Sonne an. „Ich will kein Kontrollfreak sein.“ Ich schüttelte beschwichtigend den Kopf, als mir endlich klar wurde, was Sache war. Der Unfall mit Kelly gestern hatte ihn ziemlich aufgewühlt und er hatte Angst, nochmal jemanden zu verlieren. „Aber dir ist schon klar, dass du dir dann in Zukunft zweimal überlegen solltest, ob du dich mit mir anlegst“, sagte ich und lehnte mich in meinem Stuhl zurück. Jesse tat so, als bliebe ihm ein Lachen im Hals stecken. „Provozier mich nicht, Zwerg, oder du wirst es bereuen.“ Wir plänkelten heiter vor uns hin und Jesse versuchte erneut, mir zu entlocken, was für ein Geschenk ich denn für ihn besorgt hätte, doch ich weigerte mich strikt, ihm die Wahrheit zu sagen. „Irgendetwas musst du mir aber schenken“, wand er ein und kaute auf seiner Unterlippe. Das machte er mit Absicht. So konnte ich mich schlechter konzentrieren. „Du hast gesagt, du willst nichts.“ Demonstrativ verschränkte ich die Arme vor der Brust, damit er nicht auf die Idee kam, meine Hand zu nehmen um mich mit seiner Berührung noch mehr aus der Fassung zu bringen. „Das sagt man doch nur so. Insgeheim wünscht man sich trotzdem, etwas zu bekommen.“ Ich zog die Nase kraus. „Lügner.“ Jesse stützte seine Unterarme auf dem Tisch ab und lehnte sich darüber, ein Funkeln in den Augen. „Oder habe ich das Geschenk etwa gestern Nacht bekommen?“ Seine Augenbrauen wackelten anzüglich und ich sah mich schnell um, ob uns jemand an den umliegenden Tischen zuhörte. „Jesse“, raunte ich, schon wieder errötend. Doch dann schüttelte er den Kopf und fuhr mit Daumen und Zeigefinger über seine Lippen. „Nein. Unmöglich. Du hast gesagt, es sei ein blödes Geschenk. Und das, was gestern in meinem Bett lief, war definitiv nicht-“ Ich schnellte vor und hielt ihm den Mund zu. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich nun peinlich berührt oder amüsiert sein sollte, weil er unser Liebesleben so in die Welt hinausposaunte. Er hatte zwar nichts Konkretes gesagt, aber ich traute ihm durchaus zu, dass er sich in Ausschweifung ausließ, sollte ich ihm nicht endlich beichten, was ich ihm hatte schenken wollen. Der Gutschein befand sich immer noch in meiner Tasche. Ich hätte ihn einfach herausnehmen und ihm überreichen können. Doch ich tat es nicht. Wir wollten gerade aufbrechen, als ich spürte, wie jemand seine Hände auf die Rückenlehne meines Stuhls legte. Ich sah nur manikürte Fingernägel aus dem Augenwinkel und rechnete mit Jen, doch die Stimme, die dann ertönte, passte eindeutig nicht zu ihr. „Hi, Jesse. Lange nicht gesehen.“ Jemand anderem wäre sein kurzes Innehalten nicht aufgefallen, doch ich kannte ihn so gut, dass mir das kleine Zucken seiner Hand auffiel, während er sein Wasserglas zum Mund führte, um es mit einem großen Schluck vollständig zu leeren. Versuchte er, Zeit zu schinden? Ich verrenkte mir den Hals, um zu sehen, wer dort hinter mir stand und kam mir dabei ziemlich blöd vor. Als meine Augen auf diese wallend blonden Haare und die durch und durch kurvige Figur des Mädchens trafen, durchschoss mich die Eifersucht wie ein heißer Blitz. Miranda! „Amanda“, sagte Jesse und setzte ein Lächeln auf. Er sah aus, als würde er sich tatsächlich freuen, sie zu sehen. Merkte ich mir ihren Namen absichtlich nicht, quasi aus Protest? „Ja, es ist eine Weile her.“ Bilder aus dem Garten tauchten in meinem Kopf auf. Wie Jesse zunächst gelangweilt Richtung Haus geblickt und dieses Mädchen ihre Schimpftirade abgefeuert hatte; wie sie ihn geohrfeigt hatte; wie er sie gegen die Wand der Gartenhütte gepresst hatte und seine Finger unter ihr T-Shirt geglitten waren. Ich krallte meine Hände in die Tasche, die auf meinem Schoß lag, achtete aber darauf, dass Amanda das nicht mitbekam. Ich wollte ihr nicht die Genugtuung geben, ihr zu zeigen, wie sie mich verunsicherte und rasend machte. Ich spürte, wie die roten Flecken langsam meinen Hals hinaufwanderten, während ich versuchte, ruhig zu bleiben und mir nichts anmerken zu lassen. Doch die Mühe konnte ich mir sparen, denn Jesse beachtete mich überhaupt nicht. „Ich habe dich schon vermisst.“ Uns Menschen ist es aus anatomischen Gründen nicht möglich, zu schnurren, trotzdem erinnerte mich Amandas Stimme an eine rollige Katze. Ich meinerseits hätte jetzt lieber die Fähigkeit besessen, meine Krallen auszufahren. Sollte ich nicht den Mund aufmachen und ihr verklickern, dass sie ihre dreckigen Finger von meinem Freund lassen sollte? Noch dazu vor meinen Augen! „Da habe ich wohl einen bleibenden Eindruck hinterlassen“, meinte Jesse und grinste. Machte er das mit Absicht? Mit dieser Miranda – gut, wem machte ich hier eigentlich was vor, ich wusste ganz genau, wie ihr richtiger Name lautete – vor meinen Augen zu flirten. War er etwa doch noch sauer und zahlte es mir so heim? „Nicht nur einmal.“ Es war verdammt unhöflich, so hinter mir zu stehen und mich völlig zu ignorieren. Wo waren ihre Manieren! So etwas machte man einfach nicht. Man stellte sich höflich vor, gab einem die Hand und erkundigte sich gegebenenfalls noch nach dem Befinden seines Gegenüber. Mit diesen Gedanken versuchte ich, zu verhindern, dass ihre eben ausgesprochenen Worte mein Gehirn erreichten und überfluteten. Nicht nur einmal. Nicht nur einmal. Nicht nur einmal. Wie naiv war ich doch gewesen. Wie hatte ich davon ausgehen können, dass die beiden sich auf der Party zum letzten Mal gesehen hatten. Vielleicht schrieben sie sich sogar noch gelegentlich. Vielleicht telefonierten sie. Vielleicht trafen sie sich. Vielleicht... Die Bilder in meinem Kopf, die sich daraufhin bildeten, vertrieben die Röte aus meinem Gesicht und ließen mich erbleichen. „Ich bin eben gut in dem, was ich tue.“ Nahm er diese Worte tatsächlich in den Mund, vor mir, wo ich doch direkt neben ihm saß? Mir fiel es schwer, meinen Unterkiefer wieder hochzuklappen. Ich starrte ihn an, doch er bemerkte es gar nicht. Ich träume, dachte ich benommen. Das war die einzige Erklärung für diese absurde Situation. Er flirtete mit einer anderen – oder zumindest ließ er die Vergangenheit ihrer amourösen Beziehung Revue passieren. Aber das war schon schlimm genug. Ich war nicht weniger entsetzt, als hätte er mir eine Ohrfeige gegeben. Es hatte mir die Sprache verschlagen. Sollten sie doch turteln und sich an alte Bettgeschichten erinnern. Ich würde ihnen nicht die Genugtuung geben, die Verletzte zu mimen. Denn eines durfte man nicht vergessen: Im Ignorieren war ich besser als jeder andere. Ich blendete ihr Geplänkel aus und nippte seelenruhig an meinem Rest Zitroneneistee. Trotzdem konnte ich nicht bestreiten, dass ich verdammt froh war, als der Kellner uns endlich die Rechnung brachte. Ich machte keine Anstalten, mein Portemonnaie herauszuholen, denn wie immer bezahlte Jesse für uns beide. Anfangs hatte ich noch versucht, ihn davon abzubringen, aber er war hartnäckig geblieben. „Wir sollten das mal wiederholen.“ Oh ja. Ein Dreier, das wäre doch was. Ganz bestimmt würde mir das gefallen, Miranda! Ich spielte kurz mit dem Gedanken, meinen Stuhl mit den Füßen umzukippen und sie so unter mir zu begraben. Das Bild entlockte mir ein Lächeln, oder zumindest das Zucken eines Mundwinkels. Ich tauschte Amanda gegen das kleine Mädchen im Gebüsch aus und bewarf sie mit Steinen. Das Ausmaß der Ausschweifungen meiner Fantasie machte mir Angst. Ich sah einen Zug über Schienen fahren, blonde Haare auf den Gleisen. Ein See, ein aufgedunsener Körper, der im dunklen Wasser trieb, bis zur Unkenntlichkeit ergraut, bis auf die roten Fingernägel, die sich gerade in meine Stuhllehne krallten. „Da muss ich leider passen.“ Leider? Das wurde ja immer besser. „Ich bin nicht mehr zu haben.“ Der hohe Sockel, auf den ich Jesse immer gestellt hatte, fing langsam an, zu bröckeln. Ich konnte das Rad in Amandas kleinem Hirn rattern hören und spürte ihren Blick auf mir. „Herrje, tut mir Leid. Ich hatte ja keine Ahnung.“ Sie nahm ihre Hände von meinem Stuhl und trat zur Seite, sodass ich ihr endlich in die Augen sehen konnte, in diese verdammt strahlend blauen Augen. „Entschuldige.“ Es hörte sich aufrichtig an. Und wie konnte ich ihr eigentlich verübeln, einen Narren an Jesse gefressen zu haben? Schließlich wusste ich ganz genau, wie schnell sein Zauber sich über einen legte. Ich streckte ihr die Hand entgegen, die sie perplex schüttelte. „Hi. Ich bin Lea.“ Hatte er uns tatsächlich nicht vorgestellt? Was war in ihn gefahren? „Schön, dich kennen zu lernen.“ Ich setzte ein strahlendes Lächeln auf, was sie noch mehr verwirrte. Wäre ich an ihrer Stelle, würde ich am liebsten im Erdboden versinken. Und so sah sie auch aus. Meine Vision der Männer fressenden Amanda löste sich auf, die Schienen und der See blieben verlassen. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Jesse nicht mit meiner Reaktion gerechnet hatte. Tatsächlich schien er jetzt erst die Absurdität der Situation zu begreifen. Ihm konnte ich sein Verhalten jedoch nicht so einfach vergeben. Er sollte es besser wissen. „Jesse, wollen wir langsam los? Wir kommen sonst zu spät.“ Ich stand auf, ohne seine Antwort abzuwarten. Wir hatten keine Eile, mussten nirgendwo hin. Doch dieses Mal war Jesse schlau genug und hielt den Mund. Er realisierte langsam, dass er Mist gebaut hatte, das konnte ich an seinem Blick sehen, der ständig zwischen Amanda und mir hin und her huschte. „Bis dann, Amanda.“ Ich lächelte dieses hübsche Mädchen an und hoffte inständig, dass keiner von uns beiden sie je wiedersehen würde. Jesse nickte ihr kurz zu und stand ebenfalls auf. „Ja, bis dann“, stammelte sie, während ich mich einfach umdrehte und ging. Ich entfernte mich mit großen Schritten, weil ich schnellstmöglich so viel Raum wie möglich zwischen mich und Amanda bringen wollte. Im Moment war mir ziemlich egal, ob Jesse mir folgte, oder nicht. Aber ich hörte seine Schritte dicht hinter mir. Er spürte wohl, dass ich ihn nicht bei mir haben wollte. Vielleicht steigerte ich mich da auch nur total rein, aber war es nicht unerhört, wie er sich gerade verhalten hatte? Stellte uns nicht vor, ließ mich links liegen und schwelgte lieber mit seiner Affäre in Erinnerungen. Viel respektloser ging es nicht. Es hatte mich fast schon gewundert, als er zugegeben hatte, vergeben zu sein – und das auch noch an mich – und nicht gleich aufgesprungen und mit Amanda hinters nächste Gebüsch gesprungen war. Wenn ich daran dachte, wie eifersüchtig er sich gegeben hatte, als der Kuss mit Rob rausgekommen war, passte das nicht zu seiner jetzigen Leichtigkeit bezüglich des Themas alte Geschichten. Ich würde die Bilder von sich wälzenden Körpern, schwitzend und stöhnend, ineinander verschlungen, nicht so schnell loswerden. War es Zufall, dass sie Eleonore ähnelte? Oder war das wieder eines meiner Hirngespinste? Auf einmal verspürte ich das Bedürfnis, Jesses andere Verflossenen zu sehen. Ließ sich da ein bestimmtes Muster erkennen? Fiel ich aus dem Rahmen? Ich hasste es, schon wieder Selbstzweifel zu verspüren. Langsam hatte ich aufgehört, zu denken, nicht gut genug zu sein, ihn nicht zu verdienen. Schweigend gingen wir zurück zum Auto. Als ich mich angeschnallt hatte, sah ich Jesse an und bat ihn, mich nach Hause zu fahren. „Lea.“ Es ging ihm gegen den Strich, sich zu entschuldigen, das war nicht zu übersehen, doch er sah wohl auch ein, dass es sein musste. „Ich hätte mich nicht so verhalten sollen“, räumte er halbherzig ein. Er sagte das nur, weil ich es hören wollte und nicht, weil er es so meinte. Ich presste die Lippen aufeinander. „Bitte fahr mich heim. Ich habe Kopfschmerzen.“ Das war gelogen und wir wussten es beide, doch Jesse befand sich nicht in der Position, mir das vorzuhalten. „Sie ist mir egal. Das weißt du, oder? Ich war nur nett.“ Ich musste mich wirklich anstrengen, um nicht verächtlich zu schnauben. „Ich will im Moment einfach nicht in deiner Nähe sein“, flüsterte ich und schloss kurz die Augen. Als ich realisierte, dass ich meine Worte tatsächlich so meinte, erschreckte mich das zutiefst. Noch nie hatte ich genug von Jesse gehabt, noch nie den Wunsch verspürt, nicht bei ihm zu sein. Die von Stille erdrückte Fahrt war mir unangenehm. Eigentlich hatte ich gehofft, er würde sich mehr bemühen. Sobald wir anhielten, schnallte Jesse sich ab und drehte sich zu mir um. „Sehen wir uns morgen?“ Das war sein Versöhnungsangebot. „Ich weiß noch nicht. Kann ich dich anrufen?“ Ich warf ihm einen entschuldigenden Blick zu, um meine Worte zu entschärfen. Dann stieg ich schnell aus, bevor ich doch noch schwach wurde und ihm leichtfertig vergab. Er knallte seine Autotür zu, was mich herumfahren ließ. „Ich verstehe das nicht. Ich trage dir die Sache mit Kelly nicht nach, aber du darfst jetzt beleidigt sein? Ich habe doch gar nichts gemacht!“ Ich sah kurz Richtung Haus. Hoffentlich war niemand da. „Das mit Kelly war ein Unfall. Das weißt du ganz genau. Und mir das jetzt vorzuhalten, ist echt gemein. Du weißt genau, was für Vorwürfe ich mir deswegen mache.“ Würde er die Kelly-Karte jetzt immer ziehen, wenn ich einen Fehler machte? „Ich meine ja nur, du solltest nicht so eine große Sache daraus machen. Ich habe dir ja auch verziehen, oder nicht.“ „Tut mir Leid. Ich wusste nicht, dass wir jetzt eine Strichliste führen. Dann vergebe ich dir natürlich!“ Meine Stimme wurde lauter, was ich nicht zu verhindern versuchte, und ging den Fußweg entlang, um Abstand von unserem Haus zu halten. Meine Eltern mussten nichts von unserem Streit mitbekommen, falls sie zuhause waren. Jesse folgte mir. „Vergeben? Was denn vergeben? Es ist doch gar nichts passiert. Du tust gerade so, als hätte ich dich betrogen. Dabei bist doch du diejenige, die in meiner Speisekammer rumknutscht.“ Mir fiel die Kinnlade runter. „Wow. Das war echt unnötig.“ Jesse verdrehte die Augen. Er verdrehte wirklich die Augen! „Hast du überhaupt eine Ahnung, wie ich mich gerade gefühlt habe? Als sie dich angemacht hat, vor meinen Augen, und ihr über alte Zeiten geplaudert habt, als wäre ich gar nicht da? Es hat mich gewundert, dass du nicht noch einen Dreier vorgeschlagen hast.“ „So ein Quatsch. Ich dachte, es ist okay für dich, wenn wir uns unterhalten. Du hast nichts gesagt.“ „Tut mir Leid. Ich bin davon ausgegangen, dein gesunder Menschenverstand würde dir sagen, nicht mit deiner Ex vor deiner neuen Freundin zu flirten.“ „Wir haben nicht geflirtet.“ Damit konnte er nicht mal sich selbst überzeugen. Aber er wollte nicht zugeben, im Unrecht zu sein. „Wenn ihr nicht geflirtet habt, will ich nicht wissen, wie es aussieht, wenn du mal mit einer anderen flirtest.“ „Wieso sollte ich das tun? Ich habe doch – Weißt du was, es ist mir echt zu blöd, mich für etwas zu rechtfertigen, das gar nicht passiert ist. Keine Ahnung, wieso du dich so auf Amanda fixierst.“ Er bekam langsam richtig schlechte Laune, das spürte ich. Aber es interessierte mich nicht. Egal wie schlecht er drauf war, mir ging es noch miserabler. „Weißt du das wirklich nicht?“ Mir ging langsam die Luft aus. Stellte er sich nur so dumm, oder hatte er tatsächlich keinen blassen Schimmer? Jesse steckte die Hände in die Hosentaschen und zuckte die Schultern. „Tut mir Leid, ich kann nicht hellsehen.“ Ich schüttelte den Kopf. „Zwei gesunde Augen sollten eigentlich ausreichen.“ „Tja, dann bin ich wohl blind. Können wir mit diesem bescheuerten Ratespiel aufhören, und du sagst mir einfach, was Sache ist?“ „Sie ist Eleonore so ähnlich.“ Es platzte aus mir heraus und ich konnte es nicht aufhalten. Ich hatte nicht vorgehabt, das Thema auf sie zu lenken, aber mein loses Mundwerk war schneller gewesen als mein Verstand. Wir blieben beide stehen, und er sah mich mit einem undeutbaren Blick an. Ich atmete tief durch, um das Zittern in meiner Stimme zu vertreiben. Es war nie mein Plan gewesen, mit ihm über Elly zu reden. Sie war ein Teil seines Lebens, sie war Kellys Mutter, das konnte ich akzeptieren, aber dass ich mich ständig mit ihr verglich, wollte ich ihm eigentlich nie erzählen. „Was hast du gesagt?“ Ich konnte nicht einschätzen, ob er sauer war, weil ich sie erwähnt hatte. Aber wenn das zwischen uns funktionieren sollte, musste ich ihm sagen, wie es in mir aussah. Ich konnte nicht ewig Verstecken spielen. „Amanda sieht Eleonore sehr ähnlich.“ Jesse war anzusehen, dass er die beiden vor seinem inneren Auge verglich. „Nein, tut sie nicht“, stritt er das Unverkennbare ab. „Doch, es ist wahr.“ Er erwiderte nichts darauf, trat mit seinen Hacken ein Loch in den Rasen des Nachbargartens. Schnell wischte ich mir über die Augen, nutzte den Moment, in dem er zu Boden sah, damit er nicht merkte, wie nah ich den Tränen war. Ich sah mich um, ob irgendjemand in der Nähe war, seinen Hund spazieren führte oder von der Arbeit nach Hause kam, aber wir waren allein. Ich fühlte mich in seiner Gegenwart allein. „Darum geht es hier eigentlich, oder? Um Eleonore?“ Die Antwort darauf kannte ich selbst nicht. Ging es um Eleonore? Ging es um Amanda? Oder ging es um die einfache Tatsache, mir im Moment nicht vorstellen zu können, wie eine gemeinsame Zukunft mit Jesse aussehen sollte? Oder dass ich mir immer noch Vorwürfe wegen Kelly machte, Angst hatte, keine Verantwortung für sie übernehmen zu können? Oder waren es meine Verlustängst, hervorgerufen von Natalie? „Ja, es geht auch um Eleonore. Es geht um so viele Dinge. Ich frage mich einfach, ob das überhaupt etwas bringt.“ Ich verfiel in alte Verhaltensmuster: Lieber schubste ich die anderen von mir fort, bevor sie mir wehtun konnten. „Ob was etwas bringt?“ Er trat einen Schritt auf mich zu, sauer und zugleich besorgt. Ich gestikulierte zwischen uns beiden hin und her. „Na, das mit uns. Sieh uns doch an. Wir streiten uns wegen dieser dummen Tussi.“ „Nur weil du eifersüchtig bist, musst du sie nicht gleich beleidigen.“ Mir klappte die Kinnlade runter. „Verteidigst du sie jetzt auch noch?“ Natürlich, tief in meinem Innern, wusste ich, dass Amanda eigentlich nichts für all das konnte. Sie war zwar vielleicht etwas unsensibel und hatte echt ein schlechtes Timing, aber ich schob es auf ihren beschränkten IQ, nicht gecheckt zu haben, wer ich war. Trotzdem sollte Jesse auf meiner Seite stehen, nicht auf ihrer. Hatte er in den letzten zehn Minuten denn nichts gelernt? Hatte er mir überhaupt zugehört? „Sie hat dich vor meinen Augen angemacht. Zumindest in meinem Universum ist das etwas, das kein anständiger Mensch tut.“ „Wie oft soll ich es dir noch sagen? Das war alles ganz harmlos.“ Mir reichte es. „Schön, dann freut es dich bestimmt, zu hören, dass ich auch ein ganz harmlose Dates mit Rob hatte. Aber keine Angst, wir haben nur in alten Zeiten geschwelgt und uns darüber ausgelassen, wie gut wir sind, in dem was wir tun.“ Ich benutzte mit Absicht seine Worte und malte dabei mit meinen Fingern Anführungszeichen in die Luft. Es war nicht mal ein richtiges Date gewesen, aber das musste Jesse ja nicht wissen. „So, jetzt ist es raus. Aber da ich weiß, dass das für dich kein Problem ist, weil es ja so harmlos war, kann ich es dir ja beruhigt erzählen.“ Jesses Gesichtsfarbe wurde einige Nuancen dunkler. Gut. Genau das hatte ich erreichen wollen. „Ich hoffe für dich, du hast das gerade nur erfunden“, presste er zwischen den Zähnen hervor. Ich zuckte mit den Schultern. „Wieso sollte ich? Es ist doch alles bestens, oder nicht? Du hast nichts gemacht, ich habe nichts gemacht. Also können wir einfach weitermachen wie zuvor.“ Meine Stimme war zuckersüß, aber mein Blick kalt und abweisend. „Das ist etwas völlig anderes.“ Da war es wieder. Wenn er mit einem Eleonore-Double vögelte, war das okay, aber wenn ich mich mit Rob traf, schwenkte er das rote Tuch. „Es ist überhaupt nichts anderes. Das mit Rob war vor uns. Amanda war vor uns. Was regst du dich also auf?“ „Das mit Amanda war lange vorher vorbei. Außerdem fährt Rob total auf dich ab, das weißt du ganz genau.“ Da konnte ich ihm nicht wiedersprechen, und für einen Moment tat es mir Leid, Rob zu benutzen, um Jesse auf die Palme zu bringen. Ich hoffte nur, dass er nicht morgen vor seiner Tür auftauchte und ihm die Nase brach. „Ach, und Amanda fährt nicht total auf dich ab, oder wie?“ Jesse schnaubte frustriert. Im Haus auf der anderen Straßenseite ging im Fenster ein Licht an, was uns zurück zu seinem Auto scheuchte. „Zum letzten Mal: Es war nur eine Bettgeschichte.“ Als würde mich das beruhigen. „Das mit Amanda und mir hatte nie eine Zukunft. Aber dass du dich mit Rob getroffen hast, der total in dich verknallt ist... Hast du Gefühle für ihn?“ Ich würde Jesse nicht auf die Nase binden, bei dem Date mit meinen Gedanken ständig bei ihm gewesen zu sein. Aber warum regte er sich jetzt so über dieses Date auf, wo er doch schon von dem Kuss wusste? Was glaubte er, was wir getan hatten? Ein romantisches Candle-Light-Dinner mit anschließendem Stelldichein? Traute er mir das wirklich zu? Ich könnte ihn einfach erlösen, indem ich ihm erklärte, dass der Kerzenschein nur aus schwachem Neonlicht bestanden hatte, das Dreigängemenü ein triefender Döner und die romantische Musik das Summen des Tellerwäschers gewesen war. Und statt zweier starker Arme, die mich im Schlaf hielten, hüllte mich die Gewissheit ein, dieses Schuljahr wahrscheinlich wiederholen zu müssen, meine Mutter trotz Pralinen und Blumen stinksauer auf mich war – obwohl ich zugeben musste, dass der Ärger durch die Bestechung deutlich kleiner ausgefallen war – und dass Jesse immernoch unerreichbar für mich war. Das waren damals meine Gedanken gewesen, und heute stand ich hier und stritt mich mit meinem Freund über ein belangsloses Treffen mit einem anderen, das schon ewig her war. Es ein Date zu nennen, war wohl ein wenig übertrieben. Beinahe tat er mir Leid. Aber nur beinahe. Ich musste mich nur an Jesses Gespräch mit Amanda erinnern, und schon war jeder Zweifel ausradiert. „Nein. Ich habe nie ernsthaft darüber nachgedacht, eine Beziehung mit ihm anzufangen. Aber gerade Frage ich mich, ob das vielleicht ein Fehler war.“ Mit Rob wäre bestimmt alles viel einfacher. „Er hat mir wenigstens gezeigt, wie viel ihm an mir liegt.“ Jesse trat gegen den Hinterreifen seiner Schrottkarre. „Ach ja? Ich bin mir sicher, er kann mir in der Beziehung nicht das Wasser reichen. Aber es fällt mir nun mal verdammt schwer, dir das klarzumachen, wenn du dich verhältst wie eine...“ Er stoppte sich gerade noch rechtzeitig. „Wie eine was?“ Er vermied tunlichst Blickkontakt. „Wie eine was, hm? Spucks schon aus.“ Doch kein Wort kam mehr über seine Lippen. Jesse schüttelte nur den Kopf. „Weißt du was, vergiss es.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte ich mich um und rannte ins Haus. Es vergingen drei Tage, in denen er sich kein einziges Mal meldete. Ich hatte mein Handy immer wieder in die Hand genommen, den Daumen über dem grünen Telefonzeichen schwebend, aber ich hatte es nicht über mich gebracht, ihn anzurufen. Wenn ich mich zuerst meldete, hieß das auch, mich entschuldigen zu müssen. Aber ich fühlte mich im Recht, jetzt mal unabhängig von der Geburtstagsparty. Das Schlimme war, ich wusste genau, dass Jesse den Vorfall mit Kelly eben doch noch nicht ganz weggesteckt hatte. Hätte er mir das verziehen, hätte er längst angerufen, denn für ihn war der Streit wegen Amanda nur eine Lappalie. Nicht so für mich. Es verletzte und verunsicherte mich, wenn er mit seiner alten Flamme fröhlich plauderte. Warum konnte er das nicht verstehen? Nicht genug damit, dass ich mich ständig mit Eleonore verglich, die sowieso völlig außer Konkurrenz stand, nun musste ich mich auch noch fragen, ob ich Amanda im Bett das Wasser reichen konnte. Wie sollte ich je wieder mit Jesse intim werden, ohne daran zu denken? Frustriert schlug ich das Buch zu, das ich gerade las. Es trug auch nicht gerade zu meiner guten Laune bei. Ich betrachtete die schwarzen Vögel auf dem blauen Cover, das Haus, das eine Windmühle darstellen sollte. Krabat. Tammy hatte zufällig noch eine alte Auflage davon in ihrem Schrank gehabt. Liebe Lea, ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr es mich gefreut hat, den Brief von dir zu erhalten. Danke, dass du mir geantwortet hast. Und ich danke dir, dass du so ehrlich zu mir warst. Es bestürzt mich, der Auslöser für deine Schwierigkeiten gewesen zu sein. Das werde ich nie wieder gutmachen können. Es tut mir sehr Leid! Aber ich verspreche dir, mich zu bemühen, dir in Zukunft eine bessere Freundin zu sein. Ich bin immer für dich da, auch wenn ich momentan sehr weit weg bin. Ich hoffe, nicht mit der Tür ins Haus zu fallen, aber ich würde mich wirklich freuen, dich zu sehen. Nächstes Wochenende ist Besuchszeit. Hast du Lust, zu kommen? Das würde mich echt glücklich machen. Ich bin gespannt, wie du aussiehst. Ob du dich verändert hast, meine ich, älter und reifer geworden bist. Aber du warst sowieso immer die erwachsenere von uns beiden. Normal sollte ich sagen: Hätte ich damals nur auf dich gehört. Würde ich auch, hätte ich hier nicht Angus getroffen. Er wurde letzte Woche in die Freiheit entlassen, wie wir es nennen. :-) Aber er ruft mich jeden Tag an und unterstützt mich weiterhin, so gut er kann. Dass du auch jemanden gefunden hast, freut mich total. Jesse scheint ein echt netter Kerl zu sein. Den darfst du dir nicht durch die Finger gehen lassen. Was meinst du, glaubst du, wir können mal alle zusammen ausgehen? Auf ein Doppeldate sozusagen? Bitte schreib mir wieder! In Liebe, Natalie Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)