Life is precious von JesLea (Das Leben ist wertvoll) ================================================================================ Kapitel 10: Spaß mit Hello Kitty -------------------------------- „Lea?“ Jen klopfte zwar an, wartete aber nicht, bis ich sie hereinbat. Ich hatte sie länger nicht gesehen. Das Erste, woran ich dachte, als ich sie sah, war, dass ich mir noch immer nicht vorstellen konnte, dass sie in Greg verknallt war. „Hi“, sagte ich und legte mein Buch zur Seite. Jen setzte sich neben mich aufs Bett und Tammy lehnte sich gegen den Türrahmen. „Jen. Lass es doch einfach.“ Sie wirkte genervt und besorgt zugleich. Ich wurde neugierig. „Was gibt’s?“, fragte ich. „Ich habe gehört, du hast einen Verehrer“, begann Jen und ich sah, wie Tammy die Augen verdrehte. „So habe ich das nicht gesagt, ich schwör’s“, verteidigte sie sich. So oder so war klar, wen sie meinte. Und dumm wie ich war, hatte ich Tammy davon erzählt. Ursprünglich, um sie zu beruhigen, dass ich nicht vollkommen von der Welt abgeschnitten war. „Wie auch immer“, winkte Jen ab. „Kasper heißt er, richtig?“ Erleichtert seufzte ich auf. Ich hatte schon befürchtet, hier ginge es um Rob. Hatte sie tatsächlich vor, mit mir über Jungs zu reden? Ich musste mir auf die Zunge beißen, um Greg nicht zu erwähnen. Ich hatte Tammy versprochen, es für mich zu behalten. „Ja, Kasper“, antwortete ich simpel, weil ich nicht wusste, worauf sie hinauswollte. Jen spielte mit einer ihrer Haarsträhnen. „Kasper macht doch gerne Fotos, richtig?“ Am liebsten wollte ich sie schütteln und ihr sagen, sie solle einfach mit der Sprache herausrücken, anstatt hier so um den heißen Brei herumzureden. Ich nickte. „Er fängt bald eine Lehre als Fotograf an.“ Jen klatschte in die Hände. „Perfekt. Glaubst du, du kannst uns deinen Freund mal für einen Tag ausleihen?“ Ich runzelte die Stirn. „Er ist nicht mein Freund“, stellte ich klar. „Wozu braucht ihr ihn denn?“ Tammy warf Jen einen warnenden Blick zu, doch sie ignorierte dies gekonnt. „Wir machen Flyer für Zero. Da wäre eine erfahrene Hand hilfreich.“ Das war eine gute Idee. Werbung konnte den Jungs nicht schaden. „Meinst du, du könntest Kasper mal fragen, ob er Interesse hätte?“ Ich nickte. „Klar.“ Ich verstand gar nicht, wieso Tammy sich so komisch verhielt, wenn das alles war, was Jen von mir wollte. Diese sah mich abwartend an. „Du meinst, jetzt gleich?“, fragte ich und griff zum Handy, weil ich die Antwort schon kannte. „Das wäre entzückend.“ Ich schrieb Kasper eine SMS, weil ich nicht vor den Mädels mit ihm telefonieren wollte. Mir fiel der Brief wieder ein, der unberührt auf meinem Schreibtisch lag und ich schielte zu dem weißen Umschlag hinüber. Es schien, als wolle er mich gleich anspringen. „Wann wollt ihr das machen?“, fragte ich, während ich die SMS schrieb. „Am besten wäre dieses Wochenende. Dann haben wir nicht so einen Zeitdruck mit der Fertigung. In zwei Wochen ist der nächste größere Gig.“ Während wir auf seine Antwort warteten, erzählte Jen begeistert von dem Erfolg, den Zero in der kurzen Zeit gehabt hatte. Sie bekamen so viele Anfragen, dass sie sich aussuchen konnten, wo sie spielen wollten. „Kein Wunder. Sie sind fantastisch“, sagte ich und meinte es ganz ehrlich. Ich fragte mich, ob es eines meiner Lieder in ihre Playlist geschafft hatte, doch ich wollte nicht nachhaken. Kasper antwortet schnell und sagte euphorisch zu. „Er ist dabei“, verkündete ich die frohe Botschaft. Jen packte mich und küsste mich auf die Wange. „Wunderbar. Dann sehen wir euch zwei Süßen am Samstag, ja?“ Ich wollte Einspruch erheben, denn ich hatte nicht vor, mitzugehen. Ich konnte nicht mitgehen. Aber das konnte ich auch alleine mit Kasper klären. Ich hatte jetzt definitiv keine Lust, mit Jen darüber zu diskutieren. Tammys Handy vibrierte. „Brandon ist da. Komm, Jen, wir müssen.“ Jen wuschelte mir durchs Haar und verabschiedete sich mit einer Umarmung. Als die beiden gegangen waren, schnappte ich mir ein Kissen, legte es über mein Gesicht und schrie. Ob ich mich selbst ersticken könnte? Keine hibbelige Jen mehr, keine besorgten Blicke von Tammy, kein Schulstress. Kein schlechtes Gewissen, weil ich den Brief noch nicht gelesen hatte; keine Gewissensbisse, weil ich Rob hatte abblitzen lassen. Und kein Kampf in meinem Innern, ob ich nun Gedanken an Jesse zuließ oder nicht. Anstatt mir mit dem Kissen die Luft abzuschnüren, pfefferte ich es auf meinen Schreibtisch, sodass Blätter und Stifte herunterfielen. Die Genugtuung, die mich daraufhin erfüllte, hielt jedoch nicht lange an. Kopfschüttelnd reichte ich Kasper die Utensilien, die er von mir verlangte. Ich wusste noch immer nicht, wie ich mich hatte überreden lassen, ihm zu assistieren. Naja, es war eigentlich ganz einfach gewesen: Er hatte mich darum gebeten, und ich hatte Ja gesagt. Wenn ich mich geweigert hätte, hätte Kasper sofort gewusst, dass irgendetwas nicht stimmte. Und so gut wie er mich kannte, würde er irgendwann aus mir herauskitzeln, dass es mit einem der Jungs zu tun hatte. Das wollte ich unbedingt vermeiden. Ty half uns, ein halbwegs professionelles Set aufzubauen. In der beengten Garage war das gar nicht so leicht. Ich hatte Kaspers Leidenschaft fürs Fotografieren unterschätzt. Er hatte sogar eine eigene Leinwand und einen Lampenschirm. So konnten wir die Jungs ideal in Szene setzen. Ich sah auf die Uhr und versuchte, ruhig zu bleiben. In einer halben Stunde würden sie hier auftauchen - würde er hier auftauchen. Ich redete mir ein, dass ich die Wimperntusche und den leichten Lidstrich nur für Kasper aufgetragen hatte. Meine Haare trug ich offen und war erstaunt, wie lange sie inzwischen waren. Sie reichten beinahe bis zu meinem Bauchnabel. Wir rückten gerade den Lampenschirm zurecht, als das Garagentor nach oben schwang und die Jungs hereinkamen. Ich zwang mich zu einem Lächeln und ließ meinen Blick über sie schweifen, ohne sie wirklich anzusehen. Trotzdem fiel mir Jesses überraschter Blick auf, als er mich sah. Wahrscheinlich hatte keiner von ihnen damit gerechnet, mich je wiederzusehen. Plötzlich kam ich mir unhöflich vor. Um eventuellen Umarmungsrunden zu entgehen, tat ich so, als wäre ich äußerst beschäftigt mit der Ausrichtung des Lampenschirms. „Hi“, war alles, was ich sagte. Mehr brachte ich nicht heraus. Ich spürte Jesses Anwesenheit beinahe körperlich, auch wenn ich vermied, ihn anzusehen. Verdammt. Es hatte sich nichts geändert. Mein Herz raste bereits. Aber ich versuchte, es zu ignorieren. Nur heute, sagte ich mir. Ich musste nur heute überstehen, dann konnte ich wieder so tun, als würde es ihn nicht geben. „Hallo Leute. Ich bin Kasper“, stellte sich Natalies Bruder selbst vor und reichte allen die Hand. Meinte ich das nur oder war Jesses prüfender Blick etwas härter als der der anderen? Wunschdenken, schalt ich mich, und half Ty mit dem Aufstellen des Stativs. „Schön, dass ihr ausnahmsweise mal pünktlich seid“, scherzte Ty und legte einen Arm um mich, als wäre ich nie weggewesen. „Sind alle da?“, fragte Kasper, der ja noch nie auf die Jungs getroffen war. „Ja, wir sind komplett“, antwortete Brandon und bedeutete Kurt, Ezra und Jesse, sich vor der Leinwand aufzustellen. Kasper ließ seinen Arm auf dem Stativ ruhen und betrachtete die Jungs. Wahrscheinlich überlegte er, wie man sie am besten in Szene setzen konnte. „Also, wie wollt ihr es machen?“, fragte er und ich war froh, dass er Tammy und Jen mehr oder weniger verboten hatte, zu kommen. „So wenig Zuschauer wie möglich“, hatte er gebeten. War auch besser so. Es war eh schon eng in der Garage. Die beiden Mädels würden die Jungs wahrscheinlich am liebsten in einer typischen Boybandpose ablichten, aber da würde Zero sowieso nicht mitmachen. Die Jungs hatten sich hingegen anscheinend gar keine Gedanken gemacht, denn sie zuckten nur die Schultern und sahen sich ratlos an. „Sollen wir nicht die Instrumente dazustellen? Dann wirkt es authentischer“, schlug Ty vor. Kasper schüttelte jedoch den Kopf. „Das kriege ich hier nicht aufs Bild. Ich dachte, ich komme einfach beim nächsten Gig vorbei und fange euch dann in Aktion ein.“ Gute Idee. Ich hoffte nur, dass ich ihm nicht wieder assistieren musste, sonst waren meine Versuche, mich von Jesse fernzuhalten, eindeutig fehlgeschlagen. „Ich würde vorschlagen, heute Gruppenfotos und Einzelporträts zu machen und das alles dann zu einer Collage zusammenzufügen. Habt ihr ein Bandlogo?“ Ty nickte und reichte Kasper eine der gebrannten CDs, von denen auch ich eine besaß. Auf den Aufnahmen war noch Freds Stimme zu hören, Jesses Vorgänger. Seine Stimme klang ganz anders. Sehr rockig. Ich musste mir das Lachen verkneifen, als Kasper die Nase beim Anblick des simplen Logos krauszog. „Wirklich?“, fragte er nur und zuckte mit den Schultern. „Wir können das auch ändern“, meinte Brandon. „Wir hängen nicht besonders daran. Nur leider sind wir nicht so begabt in… diesem kreativen Zeug.“ Und das aus dem Mund eines Musikers. Kasper nickte. „Das kriegen wir schon hin. Lea?“ Er warf mir die CD-Hülle zu und ich war froh, dass ich sie nicht fallen ließ. „Glaubst du, du kannst da was machen?“ Ich sah ihn einen Moment entgeistert an. Wieso ich? Doch dann fiel mir wieder ein, wie lange er mich schon kannte. Er wusste, wie gerne ich zeichnete. Wie konnte ich schon Nein sagen? Das würde nur Fragen aufwerfen. „Klar. Ich probier’s.“ Ezra hob eine Augenbraue. „Lea, du hast uns ja gar nichts von deinen künstlerischen Fähigkeiten erzählt. Wenn ich mich recht erinnere, hast du in letzter Zeit eigentlich gar nichts erzählt.“ Ich schluckte schwer. „Können wir uns bitte wieder darauf konzentrieren, wie wir die Flyer haben wollen?“, rettete mich Brandon. Ich warf ihm einen dankbaren Blick zu. „Irgendwelche Ideen?“ Es hatte sich wirklich keiner von ihnen Gedanken darüber gemacht. „Wie wär’s in schwarz-weiß“, schlug ich vor, bevor ich mich stoppen konnte. Kasper schenkte mir ein Lächeln. „Das halte ich für eine gute Idee. Den Rest können wir auch später genauer besprechen. Das ist der Vorteil an einer Collage.“ Keiner hatte Einwände – es hatte ja auch keiner Ahnung. „Okay, dann machen wir zuerst ein paar Gruppenfotos und später jeden einzeln, in Ordnung?“ Als sie das Shooting begannen, entfernte ich mich und legte eine CD ein. Außerdem musste ich woanders hinsehen, sonst würde ich die ganze Zeit Jesse anstarren. Es passierte einfach, ob ich es wollte oder nicht. Auch wenn ich mich zwang, die anderen anzusehen, wanderte mein Blick immer wieder zu ihm zurück und verfing sich in Kleinigkeiten. Seine linke Augenbraue, die sich ab und zu leicht nach oben zog, während er versuchte, sich nicht zu bewegen. Seine Nasenflügel, die sich nach innen legten, wenn er die Nase hochzog. Seine Hände, die er in die Hosentaschen steckte, weil er nicht wusste, was er sonst mit ihnen anfangen sollte. Seine Augen, die mit der Kamera flirteten. War ich jetzt ernsthaft eifersüchtig auf eine Kamera? Ich drückte auf Play und die Musik dröhnte lauter aus den Boxen, als ich erwartet hatte. „Tut mir Leid“, rief ich und drehte am Regler, um etwas leiser zu machen. Ich hoffte, die Musik würde uns allen helfen, zu entspannen. Den Jungs, weil sie wirklich steif auf den Fotos wirkten und mir, dass ich an etwas anderes denken konnte, als mit Jesse in einem Raum zu sein. Mit der Zeit wurde es besser. Kasper brachte Abwechslung ins Spiel, indem er sie bat, ihre Posen zu wechseln. Mal der eine links, dann wieder rechts, etwas versetzt nach hinten und vorne, mit Stühlen usw. Irgendwann begannen die Jungs Blödsinn mit den Reifen zu machen, und auch das hielt Kasper auf der Kamera fest. Ich fand, dabei entstanden die besten Bilder. Spontan und nicht aufgesetzt. Nach etwa zwanzig Minuten hatte Kasper genug Bilder im Kasten, um die Jungs zu erlösen. Zumindest von den Gruppenfotos. „Darf ich zuerst?“, bat Brandon, als es an die Reihenfolge der Einzelporträts ging. „Ich habe noch ein Date.“ Er grinste breit. Schön, dass er sich so auf meine Schwester freute. „Aber sicher“, willigte Kasper ein. „Ja. Freiwillige vor!“ Kurt ließ sich auf einen Reifen fallen. Er hatte offensichtlich keine Lust auf dieses ganze Theater. Ezra schien dagegen nahezu kamerageil zu sein. Ich klickte mich durch die Bilder auf dem Laptop, der direkt mit der Kamera verbunden war. Zero war unglaublich fotogen. Einige der Schüsse waren besser als so manche CD-Cover von bekannten Bands. Die Pizza, die Ty vorhin bestellt hatte, traf ein und während Brandon und Kasper weiterarbeiteten, stürzten sich alle auf das Essen und gaben eher unprofessionelle Kommentare zu Brandons Posen. „Wie wär’s mit oben ohne?“, schlug Kurt breit grinsend vor. „Ja, wir könnten dich mit Öl einreiben, damit du so richtig schön glänzt“, ergänzte Ezra grinsend und schielte zum Ölkanister im hintersten Eck der Garage. Aber immerhin brachten sie Brandon damit zum Lachen und dabei entstand ein sehr hübsches Bild. Ich konnte verstehen, wieso meine Schwester mit ihm ausging. „Lea.“ Ich hatte gar nicht gemerkt, wie Jesse sich neben mich gestellt hatte, da ich so konzentriert auf das Shooting war. Es war das erste Mal heute, dass er mich direkt ansprach. Ich sah ihn abwartend an, bis ich bemerkte, dass er mir ein Stück Pizza entgegenhielt. „Danke“, sagte ich nur. Was sollte ich auch sonst sagen? Ich hoffte, mein laut schlagendes Herz war nicht zu hören. Unsere Finger berührten sich, als ich ihm die Quattro Formaggi abnahm, und mein Magen verkrampfte sich. Ich würde am liebsten nach seiner Hand greifen und unsere Finger ineinander verschränken. In der Garage war es schon eine Weile ziemlich warm, daher hatte ich bereits seit längerem gerötete Wangen, sonst hätte ich mich jetzt verraten. „Das war’s. Ich glaube, ich hab’s“, holte Kasper mich wieder aus meinen Gedanken. Brandon war erlöst. „Lea, zeigst du Brandon die Aufnahmen?“ Ich wollte wiedersprechen. Ich wollte genau hier stehen bleiben, direkt neben Jesse, und einfach nur das Gefühl genießen, ihm so nahe zu sein. Aber natürlich sagte ich das nicht. „Klar“, hörte ich mich stattdessen antworten. Brandon und ich klickten uns durch circa fünfzig Fotos, die Kasper gemacht hatte. „Wer will als Nächstes?“ Kasper nahm sich eine Pizza und machte kurz Pause. Mein Stück war inzwischen kalt. Aber glücklicherweise handelte es sich hier um Pizza, die musste man nicht warm essen. Brandon warf sich inzwischen seine Jacke über und klopfte Kasper auf die Schulter. „Danke, Mann. Das sind klasse Aufnahmen. Aber ich muss los. Tammy wartet auf mich.“ Eifersucht stieg in mir auf. Nicht direkt auf meine Schwester, aber auf die Tatsache, dass die beiden jetzt ein Date hatten und ich hier versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie schwer es mir fiel, in Jesses Nähe zu sein. Ich stellte mir vor, wie stattdessen wir beide ein Date hatten, scheiterte aber kläglich. Selbst für mich war es unvorstellbar. Ich seufzte und warf den Rest meines Pizzastücks in einen der leeren Kartons. „Hey. Das kannst du doch nicht wegschmeißen. Das ist Pizza!“, empörte sich Kurt. Ich lächelte ob seinem ernsthaft schockierten Blick. Ich zuckte die Schultern. „Tut mir Leid. Ich habe schon zuhause gegessen“, log ich. Er schüttelte nur ungläubig den Kopf. „Man vergeudet keine Quattro Formaggi“, bläute er mir ein und ich konnte nicht anders, als zu lachen. Ich war schon kurz davor, mir meine Überreste zu schnappen und zu verschlingen, um ihn glücklich zu machen. „Reg dich ab. Deine heilige Pizza wird schon nicht verschwendet“, mischte Jesse sich ein, nahm mein halb aufgegessenes Stück und aß es in drei großen Bissen. Ich starrte ihn nur an. Er hatte meine Pizza gegessen. Die, von der ich bereits abgebissen hatte. Ich schluckte. Ja, klar war das keine große Sache, aber irgendwie gefiel mir das. Man aß nichts Angeknabbertes von Leuten, die man nicht mochte. So ging es mir zumindest. Hieß das, er mochte mich? Ich versuchte wirklich, da nicht zu viel hineinzuinterpretieren. Wahrscheinlich war ihm scheißegal, wessen Pizza das war, Hauptsache mehr davon. Und trotzdem konnte ich die Glücksgefühle einfach nicht abstellen. Ich schenkte Jesse ein dankbares Lächeln, das er mit gefüllten Backen erwiderte. Fand ich das nur so süß, weil ich in ihn verknallt war und mein Gehirn nicht mehr klar denken konnte, oder war er einfach tatsächlich immer umwerfend, egal, was er machte? Ich vermutete, ein bisschen von beidem. Ezra meldete sich als Nächster freiwillig. Er schien die Kamera mit seinen Blicken ausziehen zu wollen. Ich dachte an meine erste Begegnung mit Ty und wie ich herausgehört hatte, dass er ein Auge auf Ezra geworfen hatte. Das schien eine Ewigkeit her zu sein. Wie es aussah, hatte Ezra jedoch keine Ahnung von seinem Verehrer. Das bedeutete wohl, das Ty und ich heimliche Leidensgenossen waren. Wir hatten uns beide einen Typen ausgesucht, der für uns unerreichbar war. Nur machte Ty das schon viel länger mit. Ich fragte mich, wie er das aushielt. Ich hatte es ja so schon kaum fertiggebracht, mich nicht von meinen Gefühlen beherrschen zu lassen, aber ich hatte Jesse auch schon seit Wochen nicht mehr gesehen. Außer in meinen Träumen vielleicht. Jesse wechselte die CD, als die andere endete. Der Sound war mir eindeutig bekannt. Imagine Dragons. Ich liebte Imagine Dragons. Und noch mehr liebte ich, dass sie Jesse dazu brachten, mitzusingen. Nicht aus vollem Hals, es war eher ein Summen. Ich könnte mir das den ganzen Tag anhören. Und ich könnte ihn den ganzen Tag ansehen. Stattdessen beschäftigte ich mich mit den Bildern, die Kasper machte. Als Jesse an der Reihe war, tat ich so, als würde ich mit meinem Handy spielen. Denn wenn ich ihn zu lange ansah, würden mir mit Sicherheit die Augen aus den Höhlen fallen. Er saß auf dem Boden im Schneidersitz und unterhielt sich mit Kurt über irgendein Festival, das in einem Monat stattfand. Anscheinend gefiel Kasper diese lockere Haltung, denn er wies Jesse nicht an, etwas anderes zu machen. Direkt nach seinem Shoot verabschiedete sich Jesse und ich versuchte die Leere zu ignorieren, die sich in mir ausbreitete. Glücklicherweise erhielt ich reichlich Ablenkung, weil es relativ schwierig war, Kurt richtig in Szene zu setzen. Letztendlich lockte Kasper ihn aus der Reserve, indem er ihm seine Gitarre in die Hand drückte und ihn bat, darauf zu spielen. „Soll ich noch beim Abbau helfen?“, fragte Kurt später. „Nein, schon okay. Das schaffen wir schon“, erlöste Kasper ihn. „Gut. Ich treffe nämlich ein paar Groupies.“ Er ließ die Augenbrauen spielen. Mir wurde flau im Magen. Meinte er nur sich, oder waren die anderen Jungs auch dabei? Brandon war natürlich raus, der war bei meiner Schwester. Aber was war mit Jesse? Bisher hatte ich dieses Gefühl der Eifersucht nie wirklich empfunden, aber jetzt, da es sich durch jede einzelne Faser meines Körpers schlängelte, befand ich, es sei das beschissenste Gefühl, das es gab. Kurt ließ sich nicht zweimal sagen, dass er entlassen war, und wünschte uns einen schönen Abend. „Coole Jungs“, sagte Kasper, als wir allein waren. „Ja, stimmt“, erwiderte ich lahm, weil meine Gedanken bei Jesse waren. „Hängst du öfter mit ihnen ab?“, fragte er, obwohl er die Antwort bereits kannte. „Nicht mehr.“ Hätte ich mich nicht in einen von ihnen verknallt, hätte ich jetzt möglicherweise Freunde. Es war das erste Mal, dass mir dieser Gedanke kam. „Wieso?“ Diese Frage musste ja kommen. Ich biss mir auf die Zunge. Eigentlich brauchte ich unbedingt jemanden zum Reden. Vielleicht könnte Kasper mir einen Rat geben, wie ich meine Gefühle unter Kontrolle brachte. Ich wollte gerade zu einer Erklärung ansetzen, da klingelte sein Handy. „Hi, Mom. Was? Er hat was? So ein Vollidiot. Ja, ich komme sofort.“ Ich sah ihn fragend an. „Was ist los?“ Kasper schnappte sich seine Tasche. „Tut mir leid, ich muss los. Bux hat irgendein Spielzeug verschluckt und jetzt röchelt er ganz komisch. Das Auto meiner Eltern ist gerade in der Werkstatt, also… Ich komme später wieder.“ Ich winkte ab. „Nicht nötig. Ich räume das hier noch fertig auf, dann fahre ich mit dem Bus. Kümmere du dich lieber um Bux“, versicherte ich ihm. Er hielt noch einmal kurz inne. „Danke, du bist ein Engel. Ciao.“ Er klopfte mir auf die Schulter und eilte dann zu seinem Auto. Ich schloss die Garagentür, weil es draußen recht kalt war. Inzwischen war es März, doch die Sonne wollte nicht so wirklich rauskommen. Armer Bux. Hoffentlich konnte der Tierarzt ihm helfen. Wahrscheinlich musste man ihn narkotisieren und ihm den Magen auspumpen. Keine schöne Sache. Aber er war auch wirklich ein Trottel. Ich versuchte, das Chaos, das die Jungs verursacht hatten, wieder zu beseitigen und die Autoreifen stapelte ich ordentlich aufeinander. Verdammt schwer, diese Dinger. Ich stopfte alle Getränkedosen und Pizzakartons in einen Sack. So langsam sah es wieder ansatzweise wie vorher aus. Nicht, dass die Garage je aufgeräumt gewesen wäre. Als das Garagentor aufschwang, erschrak ich ziemlich und fuhr herum. „Hey“, entfuhr es mir, als Jesse durch das halb hochgeschobene Tor schlüpfte. „Du bist noch hier?“, stellte er die überflüssige Frage. „Ja… Hast du was vergessen?“ Er begann, in dem Müllsack rumzuwühlen, den ich auf den Boden gestellt hatte. „Mhm. Hast du meine Zigaretten gesehen?“ Nein. Aber hätte ich sie gefunden, wären sie definitiv im Müll gelandet. Ich schüttelte den Kopf. „Nein, leider nicht.“ Er stöberte weiter und ich begann, mich ebenfalls umzusehen. „Wo ist Kasper abgeblieben?“ Ich kramte in den in einem wilden Haufen übereinander liegenden CDs auf dem Tisch. „Hab sie“, rief ich triumphierend und hielt die Schachtel in die Höhe. Jesse streckte die Hand danach aus und ich überlegte einen Moment, ob ich mich weigern sollte, sie ihm wiederzugeben. Aber er war alt genug. „Danke.“ Er steckte sich eine hinters Ohr und ließ die Schachtel in seiner Jacke verschwinden. „Also?“ Also was? Ich musste wohl genauso ratlos gucken, wie ich mich fühlte. Jesse grinste ob meiner beschränkten Auffassungsgabe. War ja klar, dass ihn das wieder amüsierte. „Hm?“ Ich sollte mich wirklich mehr auf andere Dinge als seine Augen konzentrieren. „Wo dein Freund ist“, erinnerte er mich an die Frage. „Er ist nicht mein Freund“, schoss es aus mir heraus. „Also, ich meine, er ist nicht mein Freund… Er ist ein Freund.“ Jesse schüttelte grinsend den Kopf. „Das war nicht die Frage.“ Er hob eine Augenbraue. Konnte er vielleicht damit aufhören? Ich fragte mich, ob Tammy möglicherweise doch recht gehabt hatte und es Jesse Spaß machte, mich zu necken. „Ich weiß. Er ist… Sein Hund ist krank.“ Wow. Das klang ja super. „Und dann lässt er dich einfach hier allein zurück?“ Ich ordnete die CDs zu einem geraden Stapel, um etwas zu tun zu haben. „Er musste schnell weg. Ich habe ihm gesagt, er soll gehen. Es fährt ja ein Bus.“ Wieso erzählte ich ihm das überhaupt? Ich sollte verschwinden. Ich sollte nicht länger als nötig mit ihm in einem Raum sein – oder in einer Garage. „Ich kann dich fahren.“ Ich sollte davonlaufen. Am besten schreiend. Ich sollte sein Angebot ablehnen und ihm sagen, er solle mich in Ruhe lassen. Ich brauchte Abstand. Wenn ich vernünftig war, hielt ich mich besser von ihm fern, sonst würde ich nie von ihm loskommen. „Das wäre sehr nett“, hörte ich mich sagen. Scheiß auf Vernunft! Jede Sekunde mit Jesse war besser, als ohne ihn. „Okay. Bist du hier fertig?“ Er sah sich in der Garage um. Ich nickte und schnappte mir meine Tasche. „Ja, kann losgehen.“ Jesse hob das Tor hoch und als ich schon halb durchgeschlüpft war, hielt ich nochmal inne. Der Müll. „Oh, warte.“ Jesse wartete geduldig, bis ich mir die Mülltüte geschnappt hatte und in die kalte Abendluft entschwand. Ich warf den Müll in die Tonne und stieg zu Jesse ins Auto, begleitet von einem stetigen lauten Herzklopfen. Es war das erste Mal, dass ich auf dem Beifahrersitz Platz nahm. Einerseits vermisste ich den Blick auf Jesses Nacken, andererseits fühlte ich mich ihm so noch näher. Er parkte schwungvoll aus und ich bemerkte, dass er nicht angeschnallt war. Ich biss auf meine Lippe, um mir einen Kommentar zu verkneifen. „Ist was?“, fragte er und warf mir einen prüfenden Blick zu. Ich konnte kaum glauben, allein mit ihm zu sein. Ich konnte kaum glauben, wie wunderschön er war. Und vor allem konnte ich nicht glauben, wie unglaublich schnell ich mich in ihn verliebt hatte, und wieso. Ich vermutete, es war in dem Moment passiert, als ich ihn das erste Mal singen hörte. Seine Stimme war an allem Schuld. „Lea, hey.“ Er wedelte mit seiner Hand vor meinem Gesicht rum, um meine Aufmerksamkeit zu erregen. Mein Kopf fuhr zu ihm herum. „Hm? Tschuldige. Was?“ Er musste mich echt für eine Idiotin halten. Immer war ich mit meinen Gedanken woanders. Naja, das stimmte nicht ganz. Immerhin waren meine Gedanken meistens bei ihm. „In welche Richtung?“ Wir standen an einer Kreuzung und ich brauchte einen Moment, um mich zu orientieren. Er hatte uns doch schon mal abgeholt. Also hatte er zumindest kein unfehlbares Gedächtnis. „Rechts. Nein, links. Links.“ Er sah mich amüsiert an. „Bist du sicher?“ „Links. Ja, ich bin sicher.“ Das war gelogen. Ich war total unsicher. Nicht wegen der Straße, sondern wegen ihm. Was sollte ich davon halten, dass er mich nach Hause fuhr? Und dass er mein Pizzastück gegessen hatte? Und dass er sich auf der Party um mich gekümmert hatte? „Danke übrigens nochmal. Wegen der Party, meine ich. Weil du auf mich aufgepasst hast.“ Jesse zuckte die Achseln. „Die Party war eh lahm.“ Wow. Sollte heißen: Mir war langweilig und ich hatte sowieso nichts Besseres zu tun, als den Babysitter zu spielen. Wie hatte ich auch annehmen können, dass ihm etwas an mir lag? Plötzlich wünschte ich mir, ich wäre nicht in sein Auto gestiegen. „Und mit dir und Rob ist wirklich alles in Ordnung?“ Ich verdrehte die Augen und stöhnte. Nicht das schon wieder. „Ernsthaft?“, fragte ich und legte meinen Kopf an die Stütze. Jesse lächelte nur. Oh Mann, ich könnte ihn die ganze Zeit wirklich nur anstarren. Er schaltete das Autoradio um auf CD, weil Nachrichten kamen. Es ertönte Sail von Awolnation. Das konnte Zufall sein, doch als ich zur Fahrertür hinüberschielte, erkannte ich tatsächlich mein CD-Cover. Mein Herz machte einen Hüpfer. Ich fühlte mich wie in einer Achterbahn. „Du hörst meine Playlist?“, fragte ich so beiläufig wie möglich. Meine Freude darüber musste er ja nicht unbedingt mitkriegen. Jesse nickte. „Ja, ich höre mir alle CDs im Auto an. Dann kann ich so laut aufdrehen, wie ich will.“ Meine Schmetterlinge verflogen bei der Erkenntnis, dass er auch die anderen Playlists im Auto hatte. Aber immerhin hatte er meine mühsam erstellte Liste noch nicht für Müll befunden und aus dem Fenster geworfen. „Und, was hältst du davon?“ Ich musste es einfach wissen. Jesse ließ sich Zeit mit der Antwort. „Manche Lieder passen ziemlich gut. Aber nicht alle.“ Okay. Mit der Kritik konnte ich jetzt nicht besonders viel anfangen. „Welches gefällt dir am besten?“ Es wirkte vielleicht nach fishing-for-compliments, aber ich wollte mehr über seinen Musikgeschmack wissen. Er schaltete auf Song fünf. Teenage dirtbag. Ein Klassiker, zumindest für mich. Ich grinste. „Ich bin schon gespannt auf die zweite.“ Die langsame Playlist war definitiv persönlicher. Am liebsten hätte ich Jesse gebeten, sie sich nicht anzuhören. Eine Weile schwiegen wir beide und hörten einfach nur Musik. Jesse drehte ziemlich laut auf. Jetzt verstand ich das mit dem Auto. Meine Eltern würden mir meine Verstärker wegnehmen, wenn ich so laut Musik hören würde. Nach ein paar Liedern stellte er wieder leiser. „Also, was ist deine Ausrede?“ Ich sah Jesse verwirrt an. „Ausrede? Für was?“ Er warf mir einen intensiven Blick zu, bevor er sich wieder auf die Straße konzentrierte. „Hier links“, wies ich ihn an. „Du hast wochenlang nichts von dir hören lassen. Und jetzt tauchst du einfach wieder auf…“ Ich schluckte. „Ich bin momentan ziemlich beschäftigt, weißt du.“ Ich war keine besonders gute Lügnerin. „Womit?“ Musste er unbedingt nachhaken? Und mussten sich seine Augen in meine bohren? „Ich muss lernen. Viel lernen. Wenn ich nicht aufpasse, falle ich dieses Jahr durch.“ Zumindest entsprach das der Wahrheit. „Aha“, sagte Jesse, nicht gerade überzeugt. „Musst du heute Abend auch büffeln?“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Heute nicht mehr.“ Ein Grinsen schlich sich auf seine Lippen. „Gut.“ Ohne Vorwarnung wendete er direkt auf der Straße. Ich schnappte nach Luft. Gottseidank war gerade kein anderes Auto in der Nähe. „Was machst du?“ Jesse hob spielerisch die Augenbrauen. „Wir haben jetzt Spaß.“ Das war alles, was ich als Antwort bekam. Der Gedanke, dass er mich irgendwohin entführte, war zwar sehr reizvoll, und meine Fantasie setzte tausende Gedanken frei, was sich Jesse unter Spaß vorstellte, doch ich wollte wirklich wissen, wo wir hinfuhren. Zuletzt schleppte er mich noch auf eine überfüllte Party, wo nur Kiffer und Besoffene rumlungerten. „Wo fahren wir hin?“, wollte ich wissen. „Du wolltest doch ein Tattoo, wenn ich mich recht entsinne.“ Mein Blut gefror zu Eis. „Nein. Nein, wirklich nicht. Ich habe Schiss vor Nadeln.“ Jesse grinste breit. Er nahm mich nur auf den Arm. „Ich dachte nur. Dann hättest du dich selbst anstarren können, anstatt mich.“ Ich schlug die Hände vor den Kopf. War das peinlich. „Ich starre nicht“, versuchte ich kläglich, mich zu verteidigen. Doch Jesse schüttelte unnachgiebig den Kopf. „Doch, tust du.“ Ich seufzte. Hoffentlich glaubte er wirklich, dass ich ihn nur anstarrte, weil ich seine Tattoos so faszinierend fand. Zumindest konnte ich so tun. „Tut es denn weh?“, fragte ich, ehrlich interessiert. „An manchen Stellen mehr, an anderen weniger. Fußknöchel sind unangenehm. Aber man gewöhnt sich dran.“ Er kratzte sich an der Nase. „Überleg dir besser schon mal, was für ein Motiv du willst“, sponn er weiter. Zumindest glaubte ich, dass er nur scherzte. Ganz sicher war ich mir nicht. „Hm…“ Ich rieb meine Hände gegeneinander, weil es ziemlich kalt im Auto war. „Wie wär’s mit einem Delfin?“ Meine Mutter hatte einen auf der Schulter. Frühe Jugendsünde. Er war gut gemacht, aber ganz ehrlich, ein Delfin? „Ja, wieso nicht gleich ein Hello Kitty?“ Mich wunderte ein wenig, dass Jesse überhaupt wusste, was das war, sparte mir aber einen Kommentar dazu. „Wie wär’s mit einem Namen? Kasper würde sich zum Beispiel…“ Ich schlug ihn. Nicht ernsthaft, aber doch fest genug, dass daraus ein blauer Fleck werden konnte. Es hielt ihn nicht davon ab, kichernd weiterzumachen. „Oder Rob.“ „Hörst du wohl auf! Das sind nur Freunde.“ Ich fragte mich, ob es ihn stören würde, wenn es anders wäre; wenn ich einen Freund hätte. Ich schüttelte den Kopf. Wieso sollte es? Jesse konnte es herzlich egal sein, was ich mit anderen Typen trieb. „Wo bringst du mich denn jetzt hin?“ Meine Neugierde war einfach zu groß. „Ich dachte an einen Stripclub.“ Konnte er nicht ein Mal ernst sein? Andererseits: Wollte ich das überhaupt? Ich stieg auf sein Spiel ein. „Oh, klasse Idee. Ich war schon lang nicht mehr in einem Stripclub.“ Ich würde keine fünf Minuten dort überleben. Wenn dort nur Mädels waren, okay, aber da ich schon bei Magic Mike rot angelaufen war, und das nur aufgrund eines Flachbildschirms, würde ich beim Anblick echter strippender Männer wohl ohnmächtig werden. Bei der Vorstellung musste ich lachen. Wenn ich mir dagegen ausmalte, wie Jesse sich in eines dieser Etablissements begab und sich am Anblick halb oder auch ganz nackter Frauen erfreute, stieg ein ziemlich ungutes Gefühl in mir auf. Jetzt war ich schon eifersüchtig auf imaginäre Stripperinnen. Viel schlimmer konnte es jetzt wohl nicht mehr werden. „Da sind wir.“ Jesse nahm die Einfahrt zu einem großen kastenartigen, fensterlosen Gebäude. Sah nicht gerade einladend aus. Und als er dann tatsächlich vor einem Eingang hielt, über dessen Türe tattoo hell stand, wurde ich beinahe ohnmächtig. „Jesse, ich habe das mit dem Tattoo nicht ernst gemeint. Ich will keins. Echt nicht. So gar nicht.“ Er zog eine enttäuschte Schnute. „Also kein Hello Kitty für dich?“ Ich war mir jetzt wirklich nicht mehr sicher, ob er scherzte. Ich schüttelte heftig den Kopf. „Nein. Kein Hello Kitty, kein Delphin, Nichts. Mir gefällt meine Haut ganz gut so, wie sie ist.“ Tat sie das? Keine Ahnung, ich hatte noch nie darüber nachgedacht. Und im Eifer des Gefechts fiel mir nichts Besseres ein. „Ja, mir auch“, sagte Jesse und stieg aus. Was? Hatte er mir gerade ein Kompliment gemacht, oder war er immer noch am rumblödeln? Ganz egal, mein Herz pochte wie wild. Die Beifahrertür wurde aufgerissen und Jesse beugte sich herunter. „Komm schon, Eisprinzessin.“ Da war es wieder. Eisprinzessin. Doch dieses Mal zog ich nur die Nase kraus und sparte mir einen Kommentar. „Hast du mich wirklich entführt, damit ich mir ein Tattoo stechen lasse?“, fragte ich und stieg aus. „Entführt, hm?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Immerhin hast du mir keine Wahl gelassen.“ Jesse ging voraus, und ohne darüber nachzudenken, folgte ich ihm in den Tattooladen. Würde ich mir – rein hypothetisch – eines Stechen lassen, wenn er mich ernsthaft darum bat? Nein, entschloss ich. So treudoof war ich dann doch nicht. Aber schon die Tatsache, dass ich auch nur darüber nachdachte, erschreckte mich. Ich mochte keine Tattoos. Zumindest nicht auf meiner eigenen Haut. Von innen gefiel mir der Laden ziemlich gut. Es war zwar düster, aber alles hier schien ein einziges Kunstwerk zu sein. Vom Boden bis zur Decke war alles bemalt. Tattoos mischten sich mit Porträts bekannter Persönlichkeiten und Graffiti- Sprüchen. Ein schwarzer Kronleuchter rundete die Stimmung ab. Mir war klar, dass ich absolut nicht in diesen Laden passte. „Jesse“, wurden wir euphorisch von einem kahlköpfigen, vollbärtigen Mann mit Ringen in den Ohren, durch die man durchgucken konnte, begrüßt. Er hatte satte grüne Augen, ganz anders als die von Jesse, die eher mattgrün-grau waren. Jesse hob die Hand zur Begrüßung und lehnte sich gegen den ebenfalls bunt verzierten Tresen, hinter dem der Tätowierer stand. „Und Frischfleisch“, wandte er sich an mich. Er sagte es nicht anzüglich oder auf eine unverschämte Weise. Er schien sich nur über neue Kundschaft zu freuen. Doch ich schüttelte den Kopf. „Hi. Tut mir Leid. Ich bin nur…“ Was war ich denn? Eine Freundin? Die Schwester einer Freundin? Die Schwester einer Bekannten eines Freundes? „Das ist Lea“, half mir Jesse. Danke, meinen Namen hätte ich gerade so noch selbst hingekriegt. „Meine künstlerische Beratung“, fügte er hinzu. Oh. Wollte er sich etwa ein neues Tattoo stechen lassen? Und ich sollte es mit aussuchen? „Hast du die Entwürfe fertig?“ Jesse meinte das tatsächlich ernst. Needle, wie auf seinem Schild angeschrieben, kramte in ein paar Papieren und zog dann ein Blatt mit seinem Namen heraus. Jesse Adburn. Jetzt kannte ich wenigstens seinen Nachnamen. „Ich hab’s mit verschiedenen Schrifttypen und –größen probiert. Ich konnte mich nicht so wirklich entscheiden.“ Jesse dankte ihm und legte das Papier so hin, dass auch ich einen Blick darauf werfen konnte. „Was sagst du dazu?“, fragte er ernsthaft. Ich starrte auf die Worte, die sich immer wieder in unterschiedlichem Design wiederholten. Life is precious. Das Leben ist wertvoll. Ein schöner Spruch, sowas tiefgründiges hätte ich Jesse ehrlich gesagt nicht zugetraut. Die wenigen Tattoos, die ich bisher genauer gesehen hatte, waren zwar alle sehr schön gearbeitet, aber einen tieferen Sinn sah ich dahinter nicht. Ein Unendlichkeitszeichen, die vier Kartenfarben, eine Wolfstatze, ein Notenschlüssel, ein Anker... Aber keine Worte oder Zitate. Kein Name irgendeines Mädchens. Gott sei Dank. Doch es gab ja unzählige Stellen seines Körpers, die ich noch nicht gesehen hatte. Noch nicht? Ich schüttelte den Kopf. Ich würde sie niemals sehen, da brauchte ich mir nichts vormachen. Wollte ich das denn? Jeden Zentimeter seines Körpers… Mir wurde heiß und ich lief rot an. Ich studierte ausgiebig die verschiedenen Schriftzüge und ließ mein Haar nach vorn fallen, um mein Gesicht zu verdecken. Manche Entwürfe waren eher grob und fransig, andere waren fein geschwungen. „Das da“, meinte ich schließlich und zeigte auf eine der kleineren Versionen, etwa zehn Zentimeter lang. „Das sieht irgendwie aus wie Altdeutsch. Das gefällt mir.“ Jesse betrachtete meine Version lange und steckte den Zettel schließlich ein. „Ich überleg’s mir noch. Danke dir“, sagte er zu Needle, der salutierte und mir zuzwinkerte. „Falls du deine Meinung änderst, Lea: Jetzt weißt du, wo du mich findest.“ Ich versicherte ihm, es mir zu überlegen – ganz bestimmt nicht – und folgte Jesse aus der Tattoohölle. Ich glaubte schon, dies sei das Ende unseres kleinen Ausflugs, doch Jesse nahm gleich den nächsten Eingang in dem dunklen Komplex. Was kam jetzt? Piercings? Oder der Stripclub? Doch es entpuppte sich als eine Bar, nein, nicht nur eine Bar; ich sah Bowlingbahnen und Billardtische. Das könnte interessant werden. Jesse steuerte auf einen runden Tisch im Eck des Raumes zu. Wenn ich mich so umsah, war nicht besonders viel los. Ein paar Gruppen, eher so in Gregs Alter, spielten an den Bowlingbahnen. „Wie alt bist du eigentlich?“, fragte ich Jesse geradeheraus. Das war schließlich keine ungewöhnliche Frage, oder? „Einundzwanzig.“ Er sah mich an, als müsste ich etwas darauf erwidern. „Darf ich mit siebzehn überhaupt schon hier sein?“ Ich tippte auf den Tisch. Es gab durchaus solche Einrichtungen, die erst ab achtzehn waren. Gleichzeitig hatte ich ihm somit ganz subtil unseren Altersunterschied von vier Jahren mitgeteilt. Nur für den Fall, dass es ihn interessierte. „Wir müssen es ja keinem verraten“, sagte er verschwörerisch. Eine Bedienung kam und händigte uns zwei Speisekarten aus. „Was zu trinken?“, fragte sie etwas gelangweilt, versuchte aber, höflich zu bleiben. „Ein Bier“, orderte Jesse und sah dann mich an. „Wasser, bitte.“ Als sie wegging, schob Jesse seine Ärmel hoch – es war echt warm hier drin, und nein, nicht wegen ihm -, stützte einen auf seinen Oberschenkel, mit dem er unruhig wippte, den anderen legte er neben seine Karte auf den Tisch. Ich mochte die Armbänder, die er trug. Eigentlich mochte ich alles an ihm. „Wie viele Tattoos hast du eigentlich?“ Ich war wirklich neugierig, mehr über ihn zu erfahren. Und das schien mir das unverfänglichste Thema zu sein. Er überlegte einen Moment. „Dreiundzwanzig.“ Ich stutzte. „Wow.“ Ich wollte mehr wissen, doch da er die Karte studierte, wollte ich ihn nicht dabei stören. Ich warf ebenfalls einen kurzen Blick auf das Angebot. Viel Auswahl gab es nicht. Pommes, Schnitzel, Salat, Flammkuchen. „Willst du nichts essen?“, fragte er, als er mich dabei ertappte, wie ich mich in der Bar umsah. Mit meiner üblichen Ausrede, dass ich schon zuhause gegessen hatte, kam ich heute nicht durch, weil wir beinahe den ganzen Tag miteinander verbracht hatten. Und die Pizza war schon eine Weile her. Außerdem hatte er ja mein angeknabbertes Stück aufgegessen. „Ich habe keinen großen Hunger. Ich glaube, ich nehme nur einen Salat.“ Jesse hob die Augenbraue. „Das ist nur ein Beilagensalat. Davon wird man nicht satt.“ Glücklicherweise wurden wir von der Bedienung unterbrochen, die unsere Getränke brachte und fragte, ob wir auch etwas essen wollten. „Einen Salat, bitte“, sagte ich, bevor Jesse auf die Idee kommen konnte, mir etwas anderes zu bestellen. Das machte meine Schwester nämlich gerne. Wieso verglich ich Jesse mit meiner Schwester? „Den Flammkuchen mit Schinken. Danke.“ Die Bedienung mühte sich ein Lächeln ab und dampfte dann wieder ab. Jesse sah ihr nach. „Was für ein Sonnenschein.“ Ich trat ihn unter dem Tisch, konnte mir ein Grinsen aber nicht verkneifen. „Sei nicht so gemein. Vielleicht hat sie nur einen schlechten Tag“, verteidigte ich sie. Jesse schüttelte den Kopf. „Nein, glaub mir. Ich bin öfter hier. Die ist immer so.“ Meine Mundwinkel zuckten. „Vielleicht ist sie nur so, wenn du da bist.“ Er sah mich direkt an. „Touché.” Ich nahm eine Serviette und faltete sie, ohne genau zu wissen, was ich eigentlich tat. „Also, was willst du machen?“ Ich hatte wohl schon wieder ein Fragezeichen im Gesicht, denn Jesse grinste und nickte in Richtung Bowlingbahn. „Oh, nein. Ich bin eine absolute Niete im Bowlen“, beteuerte ich und hob abwehrend die Hände. „Billard. Darts.“ Ich stellte mir vor, wie ich einen unglücklichen Gast mit einem der Pfeile erstach, weil er aus Versehen in meine Schussbahn geraten war. „Billard? Ich habe das aber noch nie gespielt.“ Jesse musste sich unglaublich mit mir langweilen. Er hatte zwar gesagt, wir würden Spaß haben, da hatte er aber noch nicht gewusst, dass ich vergessen hatte, wie das ging. Er zuckte mit den Schultern. „Ich bin auch nicht gerade ein Ass darin. Wir müssen dich erst mal dazu bringen, die Kugeln zu treffen. Die Regeln sind am Anfang nicht so wichtig.“ Ich nickte. „Okay.“ Mein Handy klingelte. Eine SMS von Kasper. Bux geht’s wieder gut. Ist noch etwas benebelt von der Narkose. Ist ziemlich amüsant. Er hatte ein Bild angefügt, das die Dogge in einer seltsamen sitzenden Position zeigte. Er sah aus wie eine Giraffe am Wasserloch und schielte ein wenig. Ich prustete laut, bevor ich mich besann, wo ich war, und hielt mir die Hand vor den Mund und kicherte leise weiter. „Was ist so komisch?“, wollte Jesse wissen und lehnte sich über den Tisch, als ich ihm mein Handy hinhielt. „Das ist der Grund, warum Kasper so schnell wegmusste.“ Jesse grinste. „Er scheint noch ziemlich auf Droge zu sein.“ Ich stimmte ihm zu, da kam schon wieder eine Nachricht. Tut mir Leid, dass ich so überstürzt abgehauen bin. Bist du noch gut nach Hause gekommen? Ich wollte Kasper irgendwie nicht auf die Nase binden, dass ich mit Jesse unterwegs war. Das war schließlich kein Date, also nicht erwähnenswert. Aber wenn es kein Date war, musste ich es auch nicht verheimlichen, oder? Hin- und hergerissen entschied ich mich für einen Kompromiss. Ja, danke. Jesse hat mich heimgefahren. Das war ja nicht wirklich gelogen. Bin froh, dass alles gut gelaufen ist. Drück den Tollpatsch von mir. Ich fügte noch einen zwinkernden Smiley hinzu – ich war eigentlich nicht so der Typ für Smileys – und steckte das Handy wieder weg. Jesse nahm einen Schluck von seinem Bier, sah mich aber über das Glas hinweg an. „Was ist?“, fragte ich ob seinem intensiven Blick. Noch hatte ich nichts gegessen, also konnte ich nicht gekleckert haben. Er stellte das Glas langsam ab und verschränkte dann die Arme auf dem Tisch. „Wieso kommst du nicht mehr vorbei?“ Ich brach den Blickkontakt ab. „Ich habe dir doch gesagt, ich muss lernen. Meine Noten sind miserabel.“ Zum Glück war das die Wahrheit – zwar nur ein Teil davon, aber immerhin- denn ich war wie gesagt eine verdammt schlechte Lügnerin. „Kein Mensch muss vierundzwanzig Stunden rund um die Uhr lernen“, hielt er dagegen. Ich zuckte die Schultern. „Vielleicht bin ich einfach dumm.“ Er war nicht amüsiert. „In welchen Fächern bist du gefährdet?“, bohrte er weiter. „Chemie, Physik, Französisch, Geschichte. Und Mathe. Vor allem Mathe.“ Mir wurde schon schummrig, wenn ich nur an all die Formeln und Gleichungen dachte, die für mich keinen Sinn ergaben. „Und das ist wirklich der einzige Grund, weshalb du dich so abschottest?“ Verdammt. Jetzt ging er mir echt unter die Haut. „Nein. Das sind fünf Gründe. Und die halten mich ganz schön auf Trab.“ Unser Essen kam. Gott sei Dank. Jesse rieb sich die Hände. „Gut. Dann gebe ich dir Nachhilfe. Dafür kommst du zu unseren Gigs. Deal?“ Er hielt mir die Hand über dem Tisch entgegen. Ich wollte nicht einschlagen. Damit erreichte ich genau das Gegenteil von dem, was ich mir eigentlich vorgenommen hatte. Nämlich mich von ihm fernzuhalten. Aber er würde in meiner Nähe sein. Und war das nicht genau das, was ich mir wirklich wünschte? Ich wollte nicht länger gegen meine Gefühle ankämpfen. Es funktionierte sowieso nicht, wie ich ja schon festgestellt hatte. Ich nahm seine Hand und versuchte, das Gefühl von seiner Haut auf meiner in mein Gehirn einzubrennen. Für den Fall, dass es nie wieder passieren sollte, wollte ich wenigstens eine Erinnerung haben. Und wenn er mich schon bat, zu den Gigs zu kommen, wollte ich nicht Nein sagen. Außerdem war Zero wirklich eine talentierte Band, der ich gerne zuhörte. Eine leise Stimme in meinem Kopf flüsterte mir zu, dass meine Schwester Jesse hierzu angestiftet haben könnte. Mir schöne Augen zu machen, um mich aus meinem Schneckenhaus zu locken. Aber Jesse würde da doch nicht mitmachen, oder? Ich verdrängte den Gedanken. „Ich muss dich warnen. Ich bin wirklich keine Leuchte in Mathe.“ Jesse begann, seinen Flammkuchen zu essen. Wie konnte man Pizza und Flammkuchen am selben Tag essen? Und dabei so schlank bleiben? „Macht nichts. Ich bin klug genug für uns beide“, sagte er beiläufig und ich fragte mich, ob er das wirklich war. „Und eingebildet genug für uns beide“, stichelte ich, doch er grinste. Er hatte schließlich auch allen Grund, selbstbewusst zu sein. Er sah gut aus, die Mädels standen bei ihm Schlange und er hatte eine fantastische Stimme. Ich aß langsam meinen Salat, der wirklich ziemlich klein war, und fragte mich, wieso er mich hierher gebracht hatte. Wäre ich mutiger gewesen, hätte ich ihn gefragt. Aber vielleicht wollte ich auch einfach die Antwort nicht hören. Jesse bot mir ein Stück von seinem Flammkuchen an, doch ich lehnte dankend ab und eröffnete ihm, dass ich seit Jahren Vegetarier war. „Woher kennst du Kasper?“, fragte Jesse und wischte seine Hände an der Serviette ab und nahm noch einen Schluck von seinem Bier. Wieso redeten wir die ganze Zeit von Kasper? Glaubte er mir nicht, dass wir nur Freunde waren? Ich räusperte mich und stocherte in meinem Salat herum. „Ich kenne ihn schon seit Ewigkeiten. Seine Schwester, Natalie, sie war… ist meine beste Freundin.“ Ich konnte sie nicht mal in einem Nebensatz erwähnen, ohne traurig zu werden. Der Brief. Ich hatte den Brief noch immer nicht geöffnet. „Bring sie doch mal mit“, schlug er vor und wartete auf eine Antwort. Ich schob die Tomate auf meinem Teller von links nach rechts und wieder zurück. „Das geht nicht. Sie ist… Es ist kompliziert.“ Ich wollte nicht darüber reden. Ich wollte gerade auch nicht daran denken. Nach so langer Zeit war sie endlich mal nicht der einzige Gedanke in meinem Kopf, und jetzt brachte Jesse das Thema auf sie. „Wieso?“ Ich schüttelte den Kopf. „Ist eine lange Geschichte. Ich kann das nicht in fünf Sätzen erklären.“ Jesse sah mich prüfend an. „Wir haben doch Zeit.“ Ich wollte nicht mit Jesse darüber reden. Nicht, weil es mir unangenehm war, was mit Nati passiert war; aber ich müsste dann auch erzählen, dass ich seitdem kein richtiges Leben mehr hatte, keine Freunde, keinen Spaß; die Depressionen. „Können wir bitte das Thema wechseln?“, sagte ich leise und starrte auf meinen Teller. Ich erwartete schon, dass Jesse weiterbohrte oder einen Witz riss. Stattdessen blieb er stumm und schob eine Hand über den Tisch, die mit dem Tattoo am Daumen, und legte sie um meine. Wir sagten nichts, aßen schweigend weiter und Jesse nahm die Hand nicht wieder weg. Erst als die Bedienung kam, um unsere leeren Teller abzuräumen, zogen wir beide unsere Arme zurück. Meine Haut fühlte sich kalt und einsam an nach dieser langen Berührung. „Ich werde echt nicht schlau aus dir“, waren Jesses erste Worte nach der langen Stille. „Komm mir jetzt bloß nicht wieder mit diesem mysteriös-Scheiß“, sagte ich lächelnd. Ich hoffte, er hielt mich jetzt nicht für einen Freak, weil ich die Stimmung so runtergezogen hatte, aus einem Grund, den er nicht nachvollziehen konnte. „Naja, starren tust du immer noch.“ Ich seufzte. „Ich starre nicht.“ Jesse lachte. „Wie du meinst. Deine Abneigung gegen mich scheint jedoch abgeklungen zu sein. Ich glaube, du hast den Crash auf dem Eis inzwischen überwunden.“ Wenn er nur wüsste. „Möglicherweise. Aber die Backstage-Geschichte hängt mir noch nach. Ich werde nicht so gerne gezwungen, auf Knien zu betteln.“ Jesse hob abwehrend die Hände. „Du hattest die Wahl. Und das mit dem Knien war deine Idee. Mir fallen eindeutig angenehmere Dinge ein, wenn ich ans Hinknien denke“, sagte er, ein Grinsen verkneifend. Ich verschluckte mich an meinem Wasser und hustete. Sofort lief ich rot an. „Jesse!“ Ich sah mich um, ob uns jemand gehört hatte. Er hatte nicht gerade leise gesprochen. „Entspann dich. Wir wollten doch Spaß haben, oder nicht?“ Ich schluckte schwer. Das war jetzt etwas zweideutig nach dem Spruch. Meinte er nur, ich sollte nicht so verkrampft sein und mich nicht darum kümmern, was andere dachten? Oder war das eine Aufforderung, mit ihm auf die Toilette zu verschwinden und… Definitiv Ersteres! „Lass uns dieses Billard-Ding probieren“, schlug ich vor, um vom Thema abzulenken. Jesse stand auf und ging mit mir zu dem nahe gelegenen Tisch. Er warf zwei Euro in einen Kasten, der sich daraufhin öffnete und ein dreieckiges Tablett mit vielen bunten Kugeln zum Vorschein brachte. Ich hatte schon im Fernsehen Leute Billard spielen sehen, aber ich hatte es noch nie selbst ausprobiert. „Was weißt du über Billard?“, wollte Jesse wissen, während ich noch immer seinen Spruch von vorhin verdaute. Er legte die Kugeln auf die grüne Oberfläche und stülpte das dreieckige Tablett darüber, damit sie richtig angeordnet waren. „Naja, mit den Stöcken versucht man die Kugeln in die Löcher zu befördern.“ Das summierte so ziemlich mein gesamtes Wissen über dieses Spiel. Jesse nahm zwei von den schmalen Stöcken von einer Vorrichtung an der Wand und drückte mir einen davon in die Hand. „Das ist ein Queue.“ Ich wiederholte das Wort. „Mit der weißen Kugel stößt man die anderen an.“ Jesse erklärte mir die Grundregeln des Billard, doch ich achtete weniger darauf, was er sagte, sondern mehr auf die Ausführung, wenn er mir die Abläufe demonstrierte. Wie sich eine Hand um den Queue schloss und die andere auf dem Billardtisch ruhte, wie er sich nach vorne beugte und seine Augen intensiv nach der bestmöglichen Abschlagspur suchten. Als er mich aufforderte, auch einen Versuch zu wagen, suchte ich nach einer günstig liegenden Kugel, nahe an einem der Löcher. Nur nicht die schwarze Acht. So viel hatte ich mir gemerkt. Ich versuchte, Jesses Körperhaltung nachzuahmen, wobei mir meine offenen Haare über die Schulter fielen. Hätte ich nur einen Haargummi mitgenommen. Ich strich mir die Strähne hinters Ohr und peilte erneut mein Ziel an. Die Gewissheit, dass Jesse jede meiner Bewegungen beobachtete, trug nicht gerade zu meiner Beruhigung bei. Ich hoffte nur, dass ich nicht vollkommen bescheuert aussah. Aber nach den ersten missglückten Schüssen schaffte ich es sogar, ihn auszublenden und mich völlig auf die Kugeln zu konzentrieren. Ich mochte dieses Spiel. Ich war zwar nicht besonders begabt darin, aber ich mochte es. Wir spielten so gut wie ohne Regeln. Jesse ließ mich mehrmals hintereinander anschlagen, auch wenn ich nichts traf. Er hatte gelogen. Er war gut in diesem Spiel. „Und, hattest du Spaß?“, fragte er im Auto, während er das Fenster herunterkurbelte, um seine halb gerauchte Zigarette auf die Straße zu schmeißen. Ich fühlte mich inzwischen ziemlich wohl in seiner Gegenwart und nickte lächelnd. „Ja, sehr.“ Auch wenn ich diesen Abend genossen hatte, brannte mir doch noch eine Frage auf den Lippen. „Jesse.“ Ich sprach seinen Namen gerne laut aus. „Hm?“ Für einen Moment glaubte ich, er wolle mir die Hand aufs Knie legen, doch er betätigte nur die Kupplung. Mein Herz schlug trotzdem schneller. „Kann ich dich was fragen?“ Ich hatte ihn heute schon viele Sachen gefragt. „Sicher.“ Er runzelte leicht die Stirn. „Wieso hast du das gemacht?“ Jetzt schien ausnahmsweise einmal er verwirrt. „Was gemacht?“ „Mich mitgenommen.“ Ich flüsterte es nur. Plötzlich wollte ich die Antwort nicht mehr hören. Was, wenn wirklich meine Schwester dahintersteckte? Oder noch schlimmer, wenn er tatsächlich nur mit mir spielte. Ich wollte diese Dinge nicht denken, aber ich konnte nichts dagegen machen. Sie kamen mir einfach in den Sinn und ließen mich nicht mehr los. Ich hatte verlernt, anderen Menschen zu vertrauen. Wahrscheinlich hatte ich sogar verlernt, mir selbst zu trauen. „Wie meinst du das?“ Er war skeptisch. Er wusste, dass ich mir in meinem kranken Hirn irgendwas zusammenreimte. Ich antwortete ihm zunächst nicht, starrte nur aus dem Fenster. „Hat Tammy was zu dir gesagt?“ Schließlich fand ich doch den Mut, es auszusprechen. Wenn er mich nur verarschte, wollte ich es besser gleich wissen. Vielleicht würde mir die Gewissheit ja dabei helfen, von ihm loszukommen. „Was soll sie denn gesagt haben? Lea?“ Ich biss mir auf die Lippe. „Tut mir Leid. Vergiss es.“ Ich glaubte nicht, dass er mich deswegen anlügen würde oder sich dumm stellte. Ich traute ihm zwar zu, mich zu verarschen, aber nicht, mich zu belügen. Wie paradox war das denn? Das war eine der negativen Nebenwirkungen, wenn man verliebt war. Ich konnte nicht mehr klar denken. Glücklicherweise bogen wir gerade in meine Straße. Also konnte ich diese peinliche Situation schnell beenden. Ich schnallte mich ab, noch bevor der Wagen anhielt. „Danke für’s Mitnehmen. Und alles andere auch.“ Er hatte für alles bezahlt. Nicht einmal die zweite Runde Billard hatte ich ausgeben dürfen. Ich sah Jesse nicht an, als ich fluchtartig das Auto verließ. Ich hörte, wie hinter mir die Autotür zugeschlagen wurde und Schritte, die mir folgten. Ich blieb stehen, weil ich nicht wollte, dass man uns vom Haus aus sehen konnte. Auf Tammys bohrende Fragen hatte ich echt keine Lust. Oder auf eine Unterhaltung mit meinen Eltern. „Lea, hey.“ Jesse packte mich am Arm und drehte mich zu sich um. Ich war durcheinander. Und sauer auf mich, dass ich in den letzten fünf Minuten den Abend verdorben hatte. Ich hätte einfach meinen Mund halten sollen. Ich wusste, für Jesse war es nichts Besonderes, aber ich hatte schon lange nicht mehr so viel Spaß gehabt. Ich spürte, wie meine Augen feucht wurden und blinzelte mehrmals, um die Tränen aufzuhalten. Gott sei Dank half es. Wenn ich hier vor Jesse in Tränen ausbrach, würde er mich endgültig als Freak abstempeln. Er sah mich mit seinen mattgrünen Augen prüfend an. Wir formten kleine weiße Wölkchen beim Atmen. „Tut mir Leid. Hab' ich wieder was Falsches gesagt? Du weißt, ich meine das nicht so.“ Was? Er glaubte, er hätte mich verletzt? Ich schüttelte den Kopf. „Du hast gar nichts gemacht. Ich bin nur…“ Ich bin nur in dich verliebt und kann deshalb nicht mehr klar denken. „Ich bin etwas durcheinander.“ Ich zuckte die Schultern und trat von einem Fuß auf den anderen. „Weswegen?“ „Ich dachte, du hasst mich“, sagte ich leise und sah zu Boden. Jesse lachte zu meiner Verwunderung. „Was ist daran so komisch?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich hasse dich nicht. Und habe ich im Übrigen auch nie. Wie kommst du darauf?“ Erneut zuckte ich die Achseln und sah zum Haus. Niemand hatte uns bisher bemerkt. „Ich kann dich gut leiden, Lea.“ Er sah so bezaubernd aus, wie er so vor mir stand und weiße Wölkchen atmete, die Hände in der Jackentasche, weil es so kalt war. „Okay“, sagte ich nur. Er konnte mich gut leiden. Hieß das, wir waren jetzt Freunde? „Kriege ich keine Antwort?“ Er wollte eine Antwort? Gut, sollte er sie haben. Ich überwand die paar Schritte Abstand zwischen uns, packte den Kragen seiner Jacke und küsste ihn. Nicht sanft, nicht schüchtern. Ich küsste ihn, so wie ich es wollte, wenigstens ein Mal. Seine Lippen waren himmlisch, besser, als ich es mir vorgestellt hatte – und ich hatte es mir oft vorgestellt! Abrupt löste ich mich von ihm und sah ihm direkt in die Augen. Die Überraschung darin spiegelte meine eigene wider. Was war nur in mich gefahren? Meine Augen füllten sich nun tatsächlich mit Tränen. Das war’s dann mit dem Versteckspielen und mit meiner neuen Clique. Ich konnte ihm nie wieder unter die Augen treten. „So, jetzt weißt du’s“, sagte ich mit brüchiger Stimme. Seine Reaktion war genauso, wie ich erwartet hatte. Er war schockiert, sprachlos. Damit hatte er definitiv nicht gerechnet. Verdammt, damit hatte nicht einmal ich gerechnet. „Ich glaube, ich habe dich nicht richtig verstanden“, sagte er. Wie konnte man das nicht verstehen? Machte er sich jetzt etwa lustig über mich? Ich wollte ihn anschreien, dass er sich zum Teufel scheren sollte und ich die ganze Zeit geahnt hatte, was für ein Idiot er war. „Ich hab' dich nicht verstanden. Könntest du das bitte nochmal wiederholen?“ Ein Grinsen schlich sich auf seine Lippen. „Was?“ Bevor ich darüber philosophieren konnte, ob er mich wieder bloßstellte, trat er einen Schritt auf mich zu und legte seine Lippen auf meine. Sein Kuss war so viel sanfter als meiner. Ich spürte die Kälte nicht mehr, nur seine Nähe, seinen Atem, mein Herz, das gleichzeitig raste und stillstand. „Gute Nacht, Lea“, hauchte er, als er sich von mir löste. Es war wie damals auf dem Eis. Sein rauchiger Atem, der mich streifte, mein pochendes Herz, und die Zeit, die stehengeblieben zu sein schien. Wie in Trance sah ich ihm nach, wie er ins Auto einstieg – jedoch nicht, ohne sich nochmal zu mir umzudrehen. Mein Herz pochte so heftig, dass es mir beinahe aus der Brust sprang und der Boden schien plötzlich aus Watte zu bestehen. Meine Knie übrigens auch. Wir hatten uns geküsst. Zweimal. Ich erinnere mich nicht, wie ich in mein Zimmer gelangt war, nur daran, dass ich selig lächelnd an die Decke gestarrt hatte, bis ich schließlich eingeschlafen war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)