Life is precious von JesLea (Das Leben ist wertvoll) ================================================================================ Kapitel 9: Im Schneckenhaus --------------------------- Hey, Lea. Ich wollte nur wissen, ob du gestern noch gut nach Hause gekommen bist. Wie geht’s deinem Kater? Ich las die SMS nun schon zum dritten Mal und stellte mir immer wieder vor, sie wäre von Jesse. Doch so lange ich den Namen, der darunter stand, auch ignorierte, er verschwand einfach nicht. Rob. Frustriert ließ ich mich zurück aufs Bett fallen. Glaubte er etwa, ich wollte was von ihm? Er wusste doch, dass ich völlig betrunken gewesen war, als ich ihn geküsst hatte. Das musste ich wohl klarstellen. Hi Rob. Ja, danke. Brandon hat uns heimgefahren. Und der Kater ist eher ein ausgewachsener Tiger. ^^ Ich schickte die Nachricht noch nicht ab. Wie konnte ich ihm nur klarmachen, dass mir der Kuss nichts bedeutete, ohne ihn vor den Kopf zu stoßen? Tut mir übrigens Leid wegen dem Kuss. Ich habe dich nur benutzt, um nicht an Jesse denken zu müssen. Kommt nicht wieder vor. Natürlich schrieb ich das nicht. Vielleicht wollte Rob auch nur höflich sein und sich nach meinem Befinden erkundigen. Möglicherweise war ihm die Situation genauso unangenehm wie mir und er wollte nur nichts sagen, um mich nicht zu verletzen. So kamen wir aber nicht weiter. Und wenn es nicht so war? Ich spielte mit dem Gedanken, Rob eine Chance zu geben. Wer wusste, wo uns das hinführte. Vielleicht fand ich heraus, dass wir super zusammenpassten. Er war immerhin sehr nett und gutaussehend noch dazu. Mit ihm wäre es bestimmt viel einfacher als mit Jesse. Rob würde mir keine Gemeinheiten an den Kopf werfen oder mir völlig den Verstand rauben. Denn wenn ich mal ehrlich mit mir selbst war: Selbst wenn Jesse nicht ständig von irgendwelchen Mädchen angehimmelt wurde oder sich über sie hermachte, und ich jemals den Mut aufbringen sollte, ihm zu sagen, dass ich ihn anziehend fand - mehr als nur anziehend - wusste ich doch ganz genau, was die Antwort darauf sein würde. Keine erfreuliche. Aber Rob deswegen auszunutzen, nur um mich abzulenken, war vollkommen falsch. Ich könnte niemals jemanden so benutzen. Der Kuss gestern zählte nicht. Da war ich betrunken gewesen. Ich beschloss, die SMS ohne weiteren Hinweis auf den Speisekammervorfall abzuschicken. Wenn er es nicht erwähnte, würde ich es auch nicht. Es war schließlich keine große Sache gewesen. In ein paar Tagen hatten wir das wahrscheinlich schon vergessen. Jesse jedoch konnte ich nicht aus meinem Kopf verdrängen. Wann immer ich versuchte, an etwas anderes zu denken, vernetzte mein Gehirn ihn irgendwie mit dem Thema und holte ihn wieder ins Zentrum meiner Aufmerksamkeit zurück. Der einzige Weg, wie ich ihn vergessen konnte, war wohl, mich nicht mehr mit den Jungs von Zero zu treffen, jetzt, wo er der neue Leadsänger war. Nicht, dass ich mich bereits zu ihrer Clique zählte, aber ich hatte es doch genossen, Zeit mit ihnen zu verbringen. Aber wo immer sie nun waren, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass Jesse auch dort sein würde. Ein paar Tage später bekam ich mit, wie Tammy mit Jen telefonierte. Sie hatten anscheinend ein Date mit den Jungs. Sie fragte mich nicht, ob ich mitkommen wollte. Einerseits war ich erleichtert, auf der anderen Seite bedeutete das wohl, dass auch sie mich lieber von Jesse fernhielt. Gut, dann würde sie nicht mehr ständig fragen, ob ich sie auf irgendwelche Gigs, Bandproben, oder Partys begleitete. Die Frage war nur: Was fing ich mit meiner ganzen Zeit an? Obwohl ich es ziemlich traurig fand, an einem Sonntagmittag nichts Besseres zu tun zu haben als zu lernen, holte ich meine Schulsachen heraus und breitete alles, was mit Mathe zu tun hatte, vor mir aus. Letztes Jahr hatten mich meine durchschnittlichen Noten des ersten Halbjahres gerettet, doch wenn ich nicht aufpasste, würde ich dieses Jahr durchfallen. Theoretisch war mir das egal. Schule hatte mich noch nie so wenig interessiert wie jetzt. Aber bei dem Gedanken, deswegen noch länger die Schulbank drücken zu müssen, setzte ich mich doch lieber auf meinen Hintern und versuchte, das Beste aus meinen vernachlässigten grauen Zellen zu machen. Außerdem lenkte mich das vielleicht ab von… Nicht dran denken! Lernen mit Kater war keine besonders gute Idee. Schon nach einer halben Stunde dröhnte mir der Kopf und irgendein kleines Monster klopfte mir stetig gegen meine Schläfen. Irgendwann beschloss ich, aufzugeben. Erstens, weil es sowieso nichts brachte – ich war nicht einen Schritt weitergekommen - und zweitens, weil ich mich dank des anwachsenden Schmerzes nicht konzentrieren konnte. Ich nahm eine Kopfschmerztablette, machte leise Musik an, um mich zu entspannen, und legte mich auf mein Bett. Mir fiel die Playlist wieder ein. Auch wenn ich nicht mehr mit Zero abhängen würde, beschloss ich, trotzdem eine CD zu brennen. Keine Ahnung, ob sie was damit anfangen konnten, aber immerhin hatte ich es ihnen versprochen. Ich schloss die Lider und überlegte, was ich alles auf meine Liste setzen wollte. Als ich die Augen wieder öffnete, war es dunkel. „Scheiße.“ Ich fuhr hoch und warf einen schnellen Blick auf mein Handy. Es war nach sechs. Mist, ich war eingeschlafen. Ich rappelte mich hoch und stolperte die Stufen hinunter, das immer noch vorhandene Pochen in meiner Stirn ignorierend. Meine Eltern saßen im Wohnzimmer und sahen die Nachrichten im Fernsehen. „Wieso habt ihr mich nicht geweckt?“, fragte ich sie wütend. Sie wussten genau, dass ich normal um drei ins Tierheim ging. „Du sahst so erschöpft aus. Ich wollte dich nicht wecken“, sagte meine Mom. Wäre sie doch nicht so übervorsichtig mit mir. Ich war nicht aus Porzellan. „Du hättest mich wecken sollen“, sagte ich etwas zu unfreundlich, nahm es aber nicht zurück. „Du kannst ruhig mal einen Tag Pause machen, Lea“, mischte mein Vater sich ein. Das sagte gerade er, der Workaholic schlechthin. „Ich habe im Tierheim angerufen und Bescheid gesagt, dass du heute nicht kommen kannst“, erklärte meine Mutter mit einem sanften Lächeln. „Ich könnte jetzt noch hinfahren. Martha ist noch mindesten eine Stunde dort“, überlegte ich laut, doch meine Eltern schüttelten den Kopf. „Lass es gut sein für heute“, meinte mein Vater beruhigend. Aber ich wollte keine Ruhe. Ich brauchte Ablenkung. „Willst du nicht mit uns fernsehen? Es kommt gleich Free Willy.“ Diesen Film hatte ich als Kind geliebt. Tat ich immer noch, irgendwie. Aber auch Free Willy konnte mich jetzt nicht besänftigen. Also schüttelte ich nur den Kopf und stapfte die Treppe wieder hinauf. „Hast du heute schon was gegessen, Schatz?“, rief mir meine Mutter hinterher. Ich antwortete ihr nicht. Meine blöden Eltern. Blöder Fernseher. Blöder Free Willy! Ich schnappte mir meinen Laptop und begann fahrig, meine blöde Playlist zu erstellen. Ein paar Tage später stand ich vor dem Süßigkeitenregal im Einkaufszentrum und ließ meine Augen über die Reihen schweifen. Schokolade, Kekse, Chips, Bonbons. Alles nicht das Richtige für mich. Doch ich brauchte unbedingt Frust- und Nervenfutter, da ich schon wieder eine schlechte Note mit nach Hause brachte. Dieses Mal war ausnahmsweise nicht ich Schuld, oder zumindest nur teilweise. Ich hatte mich tatsächlich ein wenig auf die Unterrichtsstunde vorbereitet, aber die Lehrerin konnte mich einfach nicht ausstehen. Mrs. Carberry stand bereits seit der fünften Klasse mit mir auf Kriegsfuß, keine Ahnung, wieso. Bis letztes Jahr hatte ich jedoch das Glück gehabt, sie höchstens mal als Vertretung zu haben. Aber inzwischen machte sie mir jede Geschichtsstunde zur Hölle. Und heute hatte sie entschieden, mich nicht über die letzte Stunde auszufragen - was ja kein Problem gewesen wäre -, sondern über geschichtliches Allgemeinwissen, und zwar im Detail. Natürlich kannte ich die groben Eckdaten, aber die interessierten sie nicht. Ich war am Arsch. Nach der fünften Frage, die sie so kompliziert stellte, dass ich nicht einmal wusste, worauf sie eigentlich hinauswollte, verschränkte ich schließlich die Arme vor der Brust und rutschte tief in meinen Stuhl hinein. Ich strafte sie mit Schweigen, hielt ihrem Blick jedoch stand. Nach drei weiteren Fragen, die unbeantwortet im Raum stehen blieben, schlug sie ihr Notizbuch zu und seufzte theatralisch. Meine Mitschüler tuschelten. „So kann das nicht weitergehen, Lea.“ „Warum geben Sie mir das nächste Mal nicht gleich eine Sechs und ersparen uns diese Farce?“ Die Worte waren heraus, bevor ich mich bremsen konnte. Und jetzt würde ich wegen Geschichte durchfallen, wenn nicht noch ein Wunder geschah. Ich hätte es wie vor ein paar Monaten machen sollen: Einfach gar nicht in die Schule gehen. „Ich würde dir nicht die Erdnüsse empfehlen. Ich habe gehört, damit kann man ziemlichen Schaden anrichten.“ Rob tauchte grinsend neben mir auf und beendete somit meine stumme Schimpftirade auf Mrs.-Arsch-Geschichte. „Hey, Rob.“ Er bemerkte meine schlechte Laune sofort und legte die Stirn in Falten. „Ärger im Paradies?“ „Welches Paradies? Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie auch nur einen Grashalm vom Garten Eden gesehen.“ Das war vielleicht ein wenig übertrieben, aber ich war ziemlich gut darin, mich selbst zu bemitleiden. „Dann vielleicht doch die Erdnüsse.“ Er nahm eine Dose aus dem Regal und drückte sie mir in die Hand. Erst jetzt wurde mir so richtig bewusst, dass ich gerade neben dem Typen stand, den ich letztens auf der Party völlig mit meinem Kuss überrumpelt hatte. Ich strengte mich sehr an, nicht rot zu werden, und stellte die Erdnüsse zurück ins Regal. „Die sind nicht für mich. Ich brauche etwas für meine Mom, um sie zu besänftigen“, erläuterte ich, um das Gespräch auf neutralem Terrain zu halten. Ich wusste nicht, wie ich ihm den Kuss erklären sollte, und warum ich auf seine Nachrichten nicht geantwortet hatte. Er schien es mir nicht krumm zu nehmen, so wie er vor mir stand und mich anlächelte. Er grinste viel zu breit und sah mich zu intensiv an. Hatte ich mit meiner Aktion in der Speisekammer doch einen bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen? „Was hast du angestellt?“ Ich richtete meinen Blick wieder auf die unzähligen Naschereien, weil ich ihm nicht länger in die Augen sehen konnte. „Hab mal wieder 'ne schlechte Note eingesackt. Und jetzt falle ich wahrscheinlich durch.“ Endlich fand ich, wonach ich gesucht hatte. Eine besonders ausgefallene und teure Pralinenmarke. Meine Mutter liebte sie. Sobald die Verpackung einmal aufgerissen war, hielt es der Inhalt keinen Tag durch. „Du könntest statt deiner Mutter doch deine Lehrer damit bestechen“, schlug Rob vor. Wenn es nur so einfach wäre. Ich schenkte ihm ein Lächeln, obwohl mir nicht danach war. Er war so nett. Wie sollte ich ihm bloß sagen, dass ich kein Interesse hatte? Andererseits, wie konnte ich so sicher sein, dass er auf mich stand? „Meinst du, du könntest die Besänftigung deiner Mutter ein wenig aufschieben und mich zum Essen begleiten? Lebensmittel scheinen uns irgenwie immer ein Stück näher zu bringen, findest du nicht auch?“ Er lächelte verschmitzt, während er das sagte, aber er meinte es ernst. Essen mit Rob. War das dann sowas wie ein Date? Ich hätte Nein gesagt, wäre heute nicht Carberry-Hass-Tag. Vielleicht konnte er mich auf andere Gedanken bringen. Dass ich ihn schon wieder benutzte, steckte ich ganz tief in eine Schublade, die ich sorgfältig verschloss. „Gern.“ Um es möglichst nicht nach einem Date aussehen zu lassen, suchte ich das unpassendste Restaurant im Kaufhaus aus. Einen Dönerladen. Und obwohl ich überhaupt keine Lust hatte, mir so ein fettiges, vollgestopftes Ding in den Mund zu schieben, bestellte ich einen vegetarischen Döner mit Fetakäse. Wenn Rob sah, wie ungalant ich dieses Riesenbrötchen verschlang und mir die Soße aus dem Mundwinkel tropfte, verlor er vielleicht das Interesse. So, wie er mir beim Essen zusah, konnte er nicht nur Freundschaft wollen. Aber er versteckte es gut, machte viele Scherze, brachte mich zum Lachen und redete über alle möglichen Dinge. Es war angenehm, mal nur zuhören zu können, anstatt ständig aufgefordert zu werden, auch etwas zu erzählen. Auch wenn sein Redefluss kein Ende kannte. Bestimmt war er nur nervös. Wenn ich mir vorstellte, mit Jesse an diesem Tisch zu sitzen... Und schon war der Tag wieder gelaufen. Jesse, Jesse, Jesse. Kannte ich denn wirklich kein anderes Thema mehr? Das konnte so nicht weitergehen. Jetzt war es schon so weit, dass ich Rob nicht mehr folgen konnte, der gerade einen Witz erzählte. Aber die Pointe allein reichte leider nicht aus, um einen Witz zu verstehen. Den Anfang hatte ich damit verbracht, mir Jesse vorzustellen, wie er sich über seinen Döner beugte, die Zähne und die Lippen um das prall gefüllte Brötchen schloss, das er in seinen perfekten Händen hielt, während die Soße an seinem Handgelenk herunterrann, und herzhaft abbiss. Oh Gott, ich war ein Wrack! Ich grinste höflich und nahm einen Schluck von meinem Wasser. Aber Rob hatte bemerkt, dass ich unaufmerksam war. „Du bist nicht ganz bei der Sache, hm?“ Schuldgefühle brandeten in mir hoch. „Tut mir Leid. Es ist nur...“ Ich bin verknallt in einen anderen. „Schon okay. Ich kann verstehen, dass du nervös bist. Deine Mom wird dir schon nicht den Kopf abreißen.“ Ich hätte mich in Rob verlieben sollen. Er war so lieb und einfühlsam. Und er interessierte sich für mich. „Komm, wir kaufen ihr noch einen Strauß Blumen, dann kann sie gar nicht böse sein.“ Und ob sie konnte. „Wenn ich ihr mit Blumen komme, glaubt sie noch, ich sei schwanger oder so.“ Ich versuchte endlich, auch etwas zur guten Stimmung beizutragen. „Also wenn sie das von dem Schulthema ablenkt, kann ich dir dabei gern behilflich sein.“ Wir wurden beide rot, als er das sagte, und lachten verlegen. Gut zu wissen, dass ich nicht die Einzige mit einem zu schnellen Mundwerk war. Unser Abschied war etwas steif. Er wollte mich umarmen, aber ich presste die Blumen so fest an meine Brust wie einen Schutzschild. Er wünschte mir viel Glück bei meiner Beichte und ich bedankte mich für die Aufmunterung. Kaum hatten sich unsere Wege getrennt, waren meine Gedanken wieder bei der einzigen Person, die es in meinem Universum noch zu geben schien: Jesse. In den nächsten Wochen bestand mein Leben nur noch aus Schule und Tierheim. Martha machte sich Sorgen um mich, weil ich so gut wie jeden Tag auftauchte. Nicht, dass sie nicht froh über die zusätzliche Hilfe war, aber ich sah ihr an, wie gerne sie mich manchmal fragen würde, was los war. Sie ließ es jedoch bleiben und ich war sehr dankbar dafür. So blieb mir erspart, laut auszusprechen, dass ich keine Freunde hatte und ich die einzigen Leute, die zumindest so etwas ähnliches waren, mied, weil ich meine Gefühle bezüglich einer dieser Personen nicht im Griff hatte. Außerdem machte ich endlich meinen Führerschein zu Ende, den ich vor der Sache mit Natalie begonnen hatte. In der Schule wurde ich tatsächlich etwas besser. Allerdings nicht in Mathe. Dafür rutschte ich in Englisch und Chemie auf einen Dreier. Immerhin etwas. Die Lehrer waren über meinen plötzlichen Wandel erstaunt. Es war nicht so, dass ich mich jetzt strebermäßig immer meldete, wenn ich etwas wusste oder mich groß am Unterrichtsgeschehen beteiligte, aber zumindest konnte ich Fragen beantworten, wenn sie mich aufriefen. Eine Ausfrage, zwei Exen und eine Schulaufgabe fielen besser aus, als das ganze bisherige Jahr. Ich schwänzte nicht mehr, weil ich um jede Minute froh war, die mich davor bewahrte, meinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Abends las ich so viel wie nie zuvor - und ich hatte schon immer viele Bücher gehabt - oder ich feilte an meiner Playlist. Ich hatte beschlossen, zwei CDs zu machen. Eine für die schnellen, und eine für die langsamen Lieder. Ich änderte mal hier und mal dort einen Titel und überlegte mir immer, ob die Lieder die Zuschauer ebenso begeistern könnten wie mich. Wenn Zero sie spielte und ihnen ihre eigene Note verlieh, so wie bei Run boy run, hatte ich da keine Bedenken. Nur einmal fragte Tammy mich noch, ob ich mitwollte zur nächsten Bandprobe. „Es sind deine Freunde, Tammy, nicht meine. Ich kann nicht ständig mit deiner Clique rumhängen. Ist schon gut. Geh und amüsiere dich.“ Wir beide wussten, dass meine Schwester die Jungs nicht wirklich viel länger kannte als ich, aber wir schwiegen in stillem Einvernehmen. Ich konnte nicht genau sagen, wieso sie plötzlich aufhörte mit ihrem Lea-Beschäftigungsprogramm. Möglicherweise hatte sie erkannt, dass ich ein hoffnungsloser Fall war, nicht sozialisierbar. Oder sie glaubte tatsächlich immer noch, Jesse stelle eine Gefahr für mich dar. Wie lächerlich. Über Rob hatte sie versucht, mich auszufragen, aber ich hatte abgeblockt. Rob meldete sich noch zwei-, dreimal bei mir, fragte, ob ich etwas mit ihm unternehmen wolle, Kino oder so. Ich hätte gerne Ja gesagt, weil ich ihn wirklich gut leiden konnte und er mir immer gute Laune bereitete. Aber ich hielt es nicht für klug, mit einem Jungen auszugehen, dem ich nicht mehr bieten konnte als Freundschaft, wenn er doch eindeutig mehr wollte. Es wäre nicht fair, ihm vorzuspielen, dass er eventuell eine Chance bei mir hatte. Denn dem war nicht so. Ich hatte reichlich darüber nachgedacht, ob ich ihn vielleicht doch mehr mögen könnte, wenn ich nur genug Zeit mit ihm verbrachte; wenn ich merkte, wie gut er mir tat. Immer wieder erinnerte ich mich an den Kuss, und wie diskret er danach gewesen war. Nicht mal bei unserem Treffen hatte er ihn erwähnt. Als hätte es ihn nie gegeben; oder die Tatsache, dass Jesse ihn zur Schnecke gemacht hatte, weil er geglaubt hatte, Rob wäre mir an die Wäsche gegangen. Doch nichts von alledem konnte mein Herz dazu bringen, schneller zu schlagen, wenn ich an ihn dachte, oder meinen Kopf davon überzeugen, dass er eindeutig die bessere Wahl wäre. Aber so lief das mit der Liebe nunmal nicht. Man konnte sich nicht aussuchen, wem man sein Herz schenkte und um wen sich seine Gedanken kreisten. Und bei mir war es bereits entschieden. Ich konnte nichts daran ändern. Also wimmelte ich Rob jedes Mal freundlich ab, obwohl es mir einen Stich versetzte, einen der wenigen Menschen aus meinem Leben zu verscheuchen, die ich lieb gewonnen hatte. Aber es war besser so für ihn. In meinem Herzen war kein Platz mehr. Jede Ritze, jeder Milimeter, jeder noch so kleine Winkel war bereits besetzt von Jesse. Ich ging oft auf lange Spaziergänge oder setzte mich in ein Café und las, um danach behaupten zu können, ich hätte etwas mit meinen Klassenkameradinnen unternommen. Nicht zu oft natürlich, sonst kaufte mir das keiner ab. Ich wollte nur nicht, dass sich meine Familie Sorgen machte. Meine Playlists gab ich Tammy mit, doch sie erzählte mir nie, ob Zero meine Vorschläge gefielen oder nicht. Und ich fragte nicht nach. Brandon war der Einzige, den ich ab und zu zu Gesicht bekam, weil er Tammy hin und wieder abholte. Die beiden waren jetzt offiziell ein Paar. Das freute mich für meine Schwester. Und für mich selbst. Weil sie so beschäftigt war mit ihren Schmetterlingen im Bauch, dass sie keine Zeit hatte, sich groß Gedanken über mich zu machen. Mein einziger regelmäßiger sozialer Kontakt war Kasper. Er kam ab und zu im Tierheim vorbei, um mit Bux, Pearl und mir einen Spaziergang zu machen. Inzwischen hatte sie sich an die Leine gewöhnt. Mir tat seine Anwesenheit gut. Er war so unkompliziert. Und ich musste mich nicht vor ihm verstellen. Er wusste, wer ich war. Wie ich war. Und meistens übernahm er das Reden. Ich genoss das. Ihm gingen die Geschichten von der großen weiten Welt niemals aus. „Ich schwöre dir. Fordere niemals einen Strauß heraus. Da kann man nur verlieren.“ Ich lachte und war gleichzeitig erschrocken, dass ich nicht mehr an diesen Klang gewöhnt war. „Du kannst einem Strauß aber auch nicht einfach sein Ei stehlen“, erwiderte ich. Kasper zuckte die Achseln. „Ich wollte ja nur ein Foto machen.“ Ich schüttelte grinsend den Kopf. „Du bist unverbesserlich!“ Kasper warf Bux einen Stock. „Man lebt schließlich nur einmal.“ Meine Brust zog sich ein wenig zusammen. Wenn ich daran dachte, wie Kasper sein Leben genoss, und ich nur so vor mich hin dümpelte, bekam ich beinahe ein schlechtes Gewissen. Worauf wartete ich eigentlich? Auf eine Einladung ins Leben? „Ich habe übrigens etwas für dich“, sagte Kasper, ungewohnt ernst. Ich sah ihn fragend an. „Einen Brief.“ Oh. Es gab nur eine Person, von der er mir einen Brief überbringen konnte. Mein Herz begann, schneller zu schlagen. „Wirklich?“ Ich konnte es kaum glauben. Sie hatte sich monatelang nicht gemeldet, und ich hatte aufgehört, sie zu bedrängen, da sie mir nie geantwortet hatte. Ich hatte es mit Briefen probiert, Emails, sogar eine Videobotschaft hatte ich ihr geschickt, aber nichts. Und jetzt dieser Brief? Ich bekam schwitzige Hände. Kasper zog einen einfachen weißen Umschlag aus seiner Jackentasche. Er war nicht beschriftet. „Hier.“ Ich starrte das Papier eine Weile nur an, bevor ich es entgegennahm. Irgendwie hatte ich Angst vor dem Inhalt. Ich war neugierig und verärgert. Wieso erst jetzt? Warum ausgerechnet jetzt? Ich hätte sie so sehr gebraucht. Ich hätte ihr so viel zu erzählen gehabt. Ich hätte eine Schulter gebraucht, an der ich mich ausweinen konnte. Aber dieser Brief war besser als nichts. Meine Hand zitterte und ich überlegte fieberhaft, ob ich Natalies Zeilen jetzt gleich lesen sollte oder lieber, wenn ich alleine war. Ich war so neugierig und sehnte mich nach einem Lebenszeichen von ihr. Ich brauchte einen Beweis, dass wir immer noch so verbunden waren wie damals, dass wir immer noch Freunde waren, wie ich immer gehofft hatte, wie ich immer angenommen hatte. „Danke“, kam meine späte Antwort und ich konnte nicht mehr sagen, weil mir meine Stimme versagte. „Du musst ihn nicht jetzt gleich lesen“, versicherte mir Kasper, obwohl ich ihm ansah, wie neugierig er war. Er bekam seine Schwester immerhin alle paar Wochen zu Gesicht. Er erzählte mir zwar von ihren Fortschritten, aber das war nicht dasselbe. Plötzlich hatte ich es nur noch eilig, nach Hause zu kommen, die Tür hinter mir abzuschließen und Natalies Worte in mich aufzusaugen. Doch als es so weit war, kam mir der Brief auf einmal suspekt vor. Ich traute mich nicht, ihn zu öffnen. Was, wenn sie mir ein für allemal klar machen wollte, dass ich sie in Ruhe lassen sollte? Oder wütend auf mich war, weil ich mich nicht mehr bemüht hatte, den Kontakt mit ihr zu halten. Schließlich war sie diejenige, die schon so viel auf ihren Schultern lasten hatte. Wie konnte ich da erwarten, dass sie die Energie aufbrachte, sich auch noch um mich zu kümmern? War das nicht selbstsüchtig? Meine Nerven flatterten. Endlich hatte ich ein Lebenszeichen von Natalie erhalten, doch ich war nicht bereit dafür. Sobald ich die Zeilen gelesen haben würde, könnte ich es nicht mehr rückgängig machen. Dann war alles entschieden. Ich wollte nur noch einen weiteren Tag verbringen, als wäre alles unverändert. Morgen. Morgen würde ich den Brief öffnen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)