Alice in Magicland von Lazoo (Die Geheimnisse von Taleswood) ================================================================================ Epilog: Des Wunders Ende ------------------------ In warmen, goldenen Mustern, gebrochen durch das dichte Laub, schien das Sonnenlicht auf das alte, aber gepflegte Holzkreuz. Darum erblühte eine Vielzahl von Blumen: Stiefmütterchen, Wildrosen, Narzissen, Mohn... Viele wuchsen so wild durcheinander, dass man kaum unterscheiden konnte, welche Blüte zu welchem Stiel gehörte und so entstand ein Meer aus unzähligen Farben und Formen – mit dem Kreuz als resolute Insel in deren Mitte. Durch die eingebrannten Buchstaben zog sich ein Riss, der sie verworren miteinander verband und zu einer einzigen langen Rune machte, dennoch konnte man ganz genau erkennen, was auf ihnen stand: Claire Maeldun. Sonst nichts, keine Jahreszahlen, kein Abschiedsgruß, denn so war es in Taleswood Gang und Gebe. In einer Stadt, in der der Pastor mit den Geistern kommunizierte, gab es keinen Abschied für immer. Und ich hoffte, dass dies auch auf mich zutraf. Jemand gesellte sich zu mir. Ich schaute nach rechts und sah eine dunkelbraune Hand, die mir die kleine, goldene Spieluhr mit meinen darauf bestickten Initialen übergab. „Jack wollte sie selbst ans Grab bringen, aber er ist aktuell wohl noch ein wenig beschäftigt“, meinte der Reverend und schaute nach hinten. Vater hatte sein Hemd bis zum Anschlag hochgekrempelt, dennoch war es mit einem Haufen Schmutz versehen. Immer und immer wieder stach er mit dem Spaten in den riesigen Erdhaufen und trug den Dreck in das Loch vor ihm. Zwischenzeitlich machte er eine kurze Pause und hielt sich die Seite. „Er sollte aufpassen. Nicht, dass die Wunde wieder aufreißt. Gretchen gab sich beim Flicken die beste Mühe.“ „Er will es so. Lassen Sie ihn ruhig machen, Miller.“ Mit diesen Worten nahm ich die Spieluhr und legte sie direkt inmitten der Blumen ab. Ein letztes Mal zog ich sie auf und lauschte ihren dunklen, aber zugleich beruhigend klaren Tönen. Ein Lächeln lag auf meinen Lippen, während ich die Hände faltete. Ich betete nicht wirklich. Ich dachte auch an nichts. Aber es reichte aus, dass sich ein schwacher Schimmer vor meinen Augen zeigte und eine warme Brise mir lieblich ins Gesicht hauchte. Heute würde ich mich auch von ihr verabschieden müssen... und obwohl ich nie die Gelegenheit bekommen hatte, sie richtig kennenzulernen, so fühlte ich eine Spur von Wehmut und bemerkte, wie schwer mir dieser Abschied fiel. Ein Reiz in meinem Hals überkam mich und als ich hustete, sah ich einige Blutspuren. Wir hatten den gesamten gestrigen Tag damit verbracht, die Spuren des Abends zu beseitigen. Nun blieb mir nicht einmal ein Tag und mein Körper lies mich diesen Umstand nur allzu deutlich spüren. Offiziell wurden Floyd und der Wachmann von Véronique bei einem Kampf getötet und Jack hatte sie erledigt. Über Mycraft fiel kein Wort. Warum sollte es auch? Seine Leiche war – nachdem die Anomalien ihn aufgegeben hatten – binnen Sekunden zu Staub zerfallen... am Ende war er vielleicht doch nicht viel mehr gewesen, als eine leere Hülle. Die Tür zum Raum im Keller, so fand Jack heraus, war in Wahrheit ein Portal, der Raum selbst befand sich direkt unter der goldenen Uhr; es war fast das gleiche Prinzip wie mit dem Unterschlupf in Doktor Engels' Haus. Als der Magiekreis um die Tür vernichtet wurde, war auch das Portal gelöscht. Nun führte diese Tür nur noch zu einer leeren Abstellkammer. Coleman war nicht mehr aufgetaucht. Er musste gespürt haben, dass Mycraft tot und sein Fluch damit gebrochen war. Es hatte sicherlich nichts mit Unhöflichkeit zu tun. Er war wohl einfach nicht der Typ für lange und persönliche Abschiede. Doch ich fand auf meinem Nachttisch am morgen eine eingetretene Melone mit einer angehefteten Notiz, auf der nicht mehr stand als „Danke“. Trotz aller Eifersucht auf mich und Mutter war der Doc bei unserer letzten Begegnung ein anderer Mensch. Die Zeichen des Wahnsinns waren wie weggeblasen und der alte, zerbrochene Charakter war einem neuen, reinen gewichen, der sich nur wenig von dem kleinen Mädchen unterscheiden konnte, dass sie einst gewesen war. Jacks Wunde hatte sie mit akribischer Sorgfalt genäht und desinfiziert und auch um meine Verletzungen kümmerte sie sich anstandslos. Von dem bösen Geist befreit, lies sie sich dennoch nicht von ihren Gefühlen zu Jack ablenken. Sie liebte ihn wirklich. Doch sie würde nun fähig sein, auch ohne ihn leben zu können. Es war ein Leichtes, alles auf Véronique zu schieben – sie war in dieser Stadt nie sonderlich beliebt gewesen – und die Entscheidung dazu hatten wir im Einklang getroffen, war es doch die am leichtesten zu verdauende Mitteilung. Niemand wäre auf die Idee gekommen, einen solch einflussreichen Magier in Frage zu stellen – insbesondere wenn er verletzt war – doch ich hatte es Vater angesehen, wie unwohl er sich dabei gefühlt hatte. Nebst all den schrecklichen Dingen, die sie getan hatte, war sie am Ende ein weiteres von Mycrafts Opfern und nicht zuletzt eine Verbündete gewesen. Eine anständige Beerdigung – weit weg von Taleswood und dazu noch in Mutters Nähe – war ein klares Zeichen der Anerkennung von Jacks Seite. Er hatte mir nicht verraten, was sie in ihren letzten Minuten gesagt hatte, doch was es auch immer war... es hatte wohl seine Haltung ihr gegenüber nachhaltig geändert. „Ich glaube, du wirst mir nicht verraten, was passiert ist, oder?“ Reverend Miller schaute etwas unsicher, er kannte die Antwort wohl bereits. Ich wusste, er und der Doc würden niemandem etwas sagen, aber vielleicht war es besser, sie nicht unnötig zu belasten. „Entschuldigen Sie, Reverend. Jetzt ist nicht die Zeit. Vater wird es bestimmt einmal erzählen.“ Der Pastor lachte: „Naja... Vielleicht, wenn ich es ihm lang genug aus der Nase ziehe.“ Dann wurde er still und nachdenklich. „Er sagte mir, dass du uns verlassen wirst? Ist das denn wirklich nötig?“ „Es ist unumgänglich. Ich gehöre nicht hierhin.“ „Das ist nicht wahr. Du bist eine von uns, ohne wenn und aber. Und möchtest du Fleur wirklich so traurig machen?“ Ich schwieg und schlug die Augen nieder. Er konnte nicht wissen, was ich mit meinen Worten meinte. Und Fleur... meine Zähne pressten sich aufeinander. „Ich habe es sofort gesehen, als ihr beide das erste Mal zusammen vor mir standet. Naja, du wirktest damals noch etwas unwissend, aber Fleur... sie konnte sowieso nie irgendwas verstecken.“ Ein kurzer, trockener Lacher entwich meinen Lippen. Ich war wohl wirklich blind gewesen. Blind für vieles, aber für Fleurs Gefühle ganz besonders. Ich hatte die Zeit zurückgedreht, vieles zum Besseren gewendet, aber uns konnte ich am Ende nicht retten. Der Reverend klopfte mir auf die Schulter und seufzte. „Also gut, ich hoffe dann mal, das wird kein Abschied für immer. Du bist allseits bei mir willkommen. Ich würde mich freuen, wenn wir mal wieder einen Kaffee zusammen trinken.“ Dann machte er kehrt, betete kurz vor Véroniques Grab, steckte ein hölzernes Kreuz vor Kopf und ging davon. Ein Abschied für immer... Ich konnte ihm nicht sagen, dass es genau das war. Und richtig verabschieden konnte ich mich auch nicht. Er schien es aber auch nicht zu wollen. Vielleicht war es am besten, wenn er nicht wusste, dass ich nicht mehr wiederkam. Still wurde es um uns herum. Außer dem Gesang des Vogelchores in den Wipfeln und dem Rauschen des Windes, der durch die Blätter wehte, war lediglich das dumpfe, metallische Schaben des Spatens zu hören, den Jack immer wieder in die Erde stach. Er selbst sagte nichts. Wir verbrachten einige Zeit in dieser Postion – schweigend, unseren eigenen Gedanken nachhängend. Ich strich mir durch das Haar. Es fühlte sich etwas strohig an und meine Haut war trocken und durch Striemen und Narben zerfurcht. Seit dem Ende des Kampfes habe ich es nicht mehr geschafft, in einen Spiegel zu sehen, aber es sollte mich nicht wundern, wenn ich eine doch recht bemitleidenswerte Figur aktuell abgab. In meinem Kopf hingen nach wie vor die Bilder jener Nacht fest, doch sie waren mittlerweile mehr aufflackernde kurze Schrecksekunden. Auch wenn mir mein Sieg nach wie vor wie ein Traum vorkam. Jack hatte aufgehört zu graben. Der Hügel Erde neben ihm war abgetragen und zu einem leichten Haufen vor seinen Füßen aufgetürmt. Erschöpft warf er die Schaufel zur Seite, zückte aus seiner Tasche sein Zigarettenetui und zündete sich eine an. Langsam gesellte ich mich zu ihm und umfasste seine Hand. Er drückte sie fest und lächelte müde. „Hätte nie gedacht, dass ich ausgerechnet ihr mal ein Grab schaufeln würde...“, murmelte er. Dann zog er noch einmal, schaute die nicht einmal zur Hälfte gerauchte Zigarette an, seufzte schwer und trat sie auf dem Boden aus. „Was ist?“, fragte ich, doch Vater schüttelte nur den Kopf. „Mir... ist einfach nicht danach.“ Wieder schwiegen wir eine Zeit lang, doch es war kein betroffenes, unangenehmes Schweigen, sondern ein entspanntes, ruhiges. „Du hast sie für Mutters Tod verantwortlich gemacht, nicht wahr?“, fragte ich schließlich. Vater sah mich an und kratzte sich am Kopf. „Ich habe fast jeden dafür verantwortlich gemacht. Insbesondere mich selbst. Aber nichtsdestotrotz hast du schon recht, lange Zeit sah ich sie – obwohl Mycraft derjenige war, der dich töten wollte und obwohl es Sam war, der in dieser Nacht an seiner Seite stand – als die Wurzel all dessen.“ „Hast du ihre Schwester gekannt?“ „Nein... niemand kannte Florence... Außer Claire selbst, aber anscheinend war auch ihr Treffen nur zufällig. Aber ich glaube, es hätte nichts geändert, wenn ich ihre Motive gekannt hätte. Am Ende waren wir verfeindet. Und das zu Recht. Aber jetzt... jetzt tut sie mir beinahe leid... Aber bestimmte Wunden heilen nicht.“ „Hatte das etwas mit Fleur zu tun?“ Aus seiner Tasche zog Vater ein kleines Päckchen mit einer minimalistisch aufgezeichneten Blüte auf dessen Vorderseite. Ihr Inhalt sah erst aus wie Sand, den er mit ausladenden Bewegungen auf dem Grab verteilte, doch während sich die feinen Körner auf der aufgewühlten Erde verteilten, erkannte ich, was sie in Wirklichkeit darstellten: Samen. Rasch zogen sie ein und noch ehe man sich versah, sprießten aus den Löchern die ersten Knospen, so schnell, dass man ihnen beim Wachsen zusehen konnte. „Fleur war... man könnte sagen, sie war mein letzter Strohhalm, mein Lichtblick. Der Weckruf, dass sich die Welt noch weiterdrehte, auch nachdem deine Mutter und du aus meinem Leben verschwunden wart. In ihrer Nähe... ich glaube wir alle kennen das Gefühl, aber in ihrer Nähe war ich einfach glücklich. Und genau das wollte mir Véronique nehmen. Immer und immer wieder. Sie manifestierte ihr Eigentumsrecht sogar mit diesem liederlichen Band, dass Fleur umgebracht hätte, sobald Véroniques Magie versiegen würde. Aber das hatte mich nicht aufgehalten. Ich habe alles notwendige getan, um Fleur zu beschützen... Das hatte aber nichts damit zu tun, Véronique eins auszuwischen. Viel eher wäre ich wohl zerbrochen, wenn sie mir auch genommen worden wäre.“ Ein glänzender Schimmer legte sich auf seine tiefbraunen Augen und ein verlegenes Lächeln umspielte seine Lippen. „Vater... kann es sein, dass du...?“ Weiter kam ich nicht. Er schaute gen Himmel, verschränkte die Arme vor der Brust und blies ein wenig Luft aus. Dann legte Jack einen Arm um mich, zog mich zu sich und drückte mich fest. Ich bettete meinen Kopf auf seine Schulter und atmete tief durch, während er mir sanft durchs Haar strich. Er würde mir keine Antwort geben. Vielleicht war es auch besser so. „Wie geht es dir?“, fragte er und legte prüfend seine Hand auf mein Gesicht. „Es geht... Ich fühle mich ein wenig schwach. Es bleibt wohl nicht mehr allzu viel Zeit.“ Vater nickte müde und drückte mich noch einmal mit einem traurigen Lächeln auf den Lippen. Seine Wärme legte sich wie ein Schal um mich, streichelte mich mit seinen feinen Texturen. Dann benetzte kaltes Wasser meine Bluse und ein schwaches Zittern ging durch seinen Körper. Ich legte meine Arme selbst um ihn und vergrub meine Finger im feinen Stoff seines Hemds. So verharrten wir eine ganze Zeit lang. Weder ihm noch mir kam auch nur ein Wort über die Lippen. Allmählich löste er sich von mir und sah mich mit nassen Augen an, während eine Hand noch einmal meine Wange streichelte, mich zu sich zog und einen sanften Kuss auf meine Stirn gab. Dann richtete er sich auf. „Nun denn! Ich glaube, du hast es dir mehr als nur verdient jede noch verbleibende Minute so zu verbringen, wie du möchtest. Und mit wem du möchtest“, sagte er und winkte schmunzelnd jemandem hinter uns zu. Ich drehte mich um und auch meine Mundwinkel gingen nach oben. Die Hände schlicht vor dem Schoß gefaltet, wartete sie in ihrem Dienstkleid am Rande der Lichtung. Das Sonnenlicht wurden von ihrer hellen Haut so stark gestreut, dass von ihr ein fast engelsgleiches Strahlen ausging und die violetten Augen funkelten darin wie purpurne Amethyste. Anders als unsereiner, an denen die Spuren der letzten Tage hingen wie lästige Kletten, wirkte sie geradezu taufrisch. Jack wuschelte mir kurz durchs Haar. „Geh zu ihr. Sie wartet doch schon sehnsüchtig.“ „Bist du sicher?“ „Bin ich. Der tränenfeuchte Abschied steht uns beiden nicht und außerdem...“ Sein Blick wanderte zu Mutters Grab. „...brauche ich noch einen kurzen Moment allein.“ Ich ging zunächst langsamen, dann immer schnelleren Schrittes in Richtung des Mädchens, doch auf halben Wege drehte ich mich nochmal um. „Tust du mir bitte einen Gefallen? In den nächsten Wochen wird ein junger Mann nach Taleswood kommen – ein guter Freund von mir. Er wird sicherlich Essen und Obdach benötigen.“ Er nickte ruhig und drehte sich zu Mutter. Kaum dass ich nur noch seinen Rücken sah, kniete er vor dem Blumenmeer nieder und vergrub bebend seine Hände in der Erde. Für einen Moment hatte ich schon vor, umzukehren, da erschien, aus den Partikeln der Sonne geformt, eine glänzende weibliche Silhouette, die sich sanft an ihn schmiegte und ihn tröstend streichelte. „Ist mit Master Salem alles in Ordnung?“, fragte Fleur, unsicher nach hinten blickend, als ich sie an der Hand nahm und mit mir zog. „Dem geht’s gut, er ist nur... ein wenig erschöpft.“ „Und... wohin gehen wir? Eigentlich sollte ich gleich die Wäsche...“ „Vergiss es, du hast heute frei. Lass uns rausgehen und die Sonne genießen. Du schuldest mir noch etwas für den Schrecken aus letzter Nacht.“ Verlegen lachend legte Fleur ihren langen Schopf über die Schulter und strich sich durch die Strähnen. „Ich weiß ehrlich gesagt auch nicht, was passiert war. Ich war nur aufgewacht und wollte nachschauen, ob ihr wieder da seid, da wurde es plötzlich komplett schwarz um mich herum. Ziemlich peinlich, nicht wahr?“ Ich schwieg. Niemand hatte ihr etwas von dem Band erzählt, dessen Trennung diese vorübergehende Ohnmacht wahrscheinlich ausgelöst hatte. Im Nachhinein eine sicherlich nachvollziehbare Reaktion, bedenke man doch, wie lange sie so gelebt hatte. Aber dennoch... als sie dort regungslos am Treppenabsatz gelegen hatte, war ich schon von dem Schlimmsten ausgegangen. Der Stein fiel mir erst vom Herzen, als sie heute morgen endlich wieder die Augen geöffnet und sich erhoben hatte, als wäre nie etwas passiert gewesen. Seufzend streckte ich mich, während wir weiter voranschritten. Durch meine Adern zog sich mal wieder ein dünner, schwacher Schmerz, wie er die letzten Tage regelmäßig vorkam. Ich merkte, wie etwas aus meiner Haut auszubrechen versuchte und langsam konnte ich dies nicht mehr ignorieren. Das Kollektiv ermahnte mich regelmäßig dazu, dass die Zeit langsam knapp wurde. „Hey... wollen wir uns nicht ein wenig an den Madcap River setzen?“, schlug Fleur vor und schaute zu dem Fluss einige Yard entfernt. Ich nickte. Es war sicherlich nicht falsch, nahe an dem Ort zu sein, zu dem ich letzten Endes ohnehin musste. Langsam schlenderten wir zum Ufer und schauten auf die glitzernde Oberfläche, welche unzählige tanzende, leuchtende Formen hervorbrachte. Dahinter huschten die Fische in ihrem altgewohntem Takt vorbei und selbst jetzt, wo die Sonne direkt auf das Wasser schien, war der Grund nicht zu erkennen – ein mulmiges Gefühl machte sich breit, als ich in die gähnende Tiefe starrte und als ich mich genau konzentrierte, da dachte ich für einen Moment, ich könnte die rot pulsierenden Tafeln des Rückgrats erkennen. „Weißt du, es ist seltsam, aber ich habe manchmal das Gefühl, dass in diesem Gewässer – irgendwo ganz tief verborgen – ein Teil meiner Selbst nach mir ruft.“ „Macht dir das keine Angst?“, fragte ich. Sie schüttelte den Kopf. „Deswegen bin ich doch so gerne hier. Bevor du hierher kamst, war ich oft allein. Also habe ich mich immer hierhin gesetzt und den Fischen beim Schwimmen zugesehen. Es ist einfach so herrlich friedlich.“ Schuldbewusst senkte ich den Kopf. Ich würde sie wieder allein lassen müssen. Fest presste ich meine Zähne aufeinander und drückte meine Finger in meine Arme um den langsam aufkommenden Heulkrampf zu unterdrücken, doch da legte sich ihr Kopf auf meine Seite und aus ihrem Mund entglitt ein zufriedener Seufzer, dann begann sie leise eine Melodie vor sich her zu summen. Ihre warmen Hände umklammerten mich fest, während Fleur sich noch enger an mich schmiegte. Ihr sanfter Duft umspielte meine Nase und ich kam nicht umhin, in ihren hauchenden Gesang einzustimmen, der wie eine zarte Windböe in meinen Ohren klang und mir eine angenehme Gänsehaut verpasste. Auch wenn es weh tat; lieber sah ich sie jetzt gerade noch wenige Minuten und lies sie dann allein, als noch einmal in ihr sterbendes Gesicht zu schauen. Dieser Moment, dieser Augenblick bewies mir, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Nun musste ich jede verbleibende Sekunde auskosten. Noch ehe sie sich versah, packte ich Fleur bei den Schultern und drückte sie ins saftige Grün, setzte mich auf ihren Schoß und unterdrückte ihren überraschten Aufschrei mit einem innigen Kuss. Ihre Hände versuchten noch, mich wegzudrücken, doch ich griff sie mit den meinen und drückte sie zu Boden, während ich mich langsam von ihr löste. In ihren Augen kochte eine Mischung aus Nervosität – oder gar Furcht – Neugier und Lust und ihre Lippen wussten noch nicht so recht, ob sie mich zum Aufhören oder Weitermachen auffordern sollten. Ich hatte sie vollkommen überrumpelt. „Alice... was...“ Sanft legte ich meine Lippen an ihren Hals und küsste jede noch so kitzelige Stelle ab, bis sie davon eine Gänsehaut bekam und ihre Finger sich unwillkürlich in meiner Hand verkrampften. Ich lies sie los, fuhr mit meinen Händen bis zu ihrer Brust und vergrub meine Finger darin, knetete sie fast schon, während meine Lippen die ihren suchten. Ihre Hände, welche noch wenige Momente zuvor nicht wussten, was sie tun sollten, packten meinen Nacken und drückten mich fester zu ihr. Unsere Zungen liebkosten sich unerlässlich, während meine Hände ihre dünne Bluse aufrissen, unter ihr Unterhemd fuhren und ihre nackten Brüste eingehend massierten. Doch dann stockte ich. Für einen Moment fühlte sich mein Herz an, als würde es aussetzen, verkrampfte sich darauf und pumpte mein Blut, bis meine Venen zu platzen drohten. Ich sah in das Gesicht meiner Angebeteten. Fleurs Wangen glühten vor Lust und ich konnte mir nur allzu gut vorstellen, wie die meinen aussahen. Ich wollte noch mehr, ich wollte sie in diesem Moment besitzen, mit Haut und Haar, eins mit ihr werden. Doch es ging nicht. So schnell und plötzlich wie ich sie überwältigt hatte, so schnell löste ich mich von ihr und sah ihr tief in die Augen. „Es tut mir leid...“, wisperte ich. „Das muss es doch nicht. Ich liebe dich über alles... Und ich bin glücklich, wenn du mich auch liebst.“ „Mehr als alles andere. Deswegen... muss ich das hier tun.“ Noch bevor sie darauf reagieren konnte, blies ich ihr sanft ein wenig Luft entgegen. Einen kurzen Moment sah sie mich noch verwundert an, dann schlossen sich ihre violetten Augen und sie schlief ruhig ein. Ich sah auf meine Hände und schüttelte den Kopf, dann knöpfte ich ihr Kleid wieder zu. Ich hätte es mir wirklich gewünscht, wenigstens einmal mit ihr zu schlafen, doch es sollte nicht sein, nicht jetzt und – schon aus allgemeinen Anstand – nicht hier. Einen letzten sanften Kuss gab ich ihr auf ihre dünnen Lippen, strich noch einmal ihre grauen Strähnen aus dem Gesicht, dann richtete ich mich auf und bewegte mich zum Fluss. „Du möchtest schon gehen?“ „Dir bleiben noch wenige Stunden, dessen bist du dir bewusst?“ Ist schon okay. Je länger ich hier bleibe, desto öfter und schmerzhafter werden die Krämpfe, oder nicht? Ich will nicht, dass sie mich leidend in Erinnerung behält. Ich möchte jetzt schon gehen, wenn das gestattet ist. Jetzt ist es noch meine Entscheidung. „Wie du wünschst.“ „Wir werden dich mit offenen Armen begrüßen, neue Schwester.“ Ich nickte und und schaute noch ein letztes Mal nach hinten. Sie lag ganz ruhig da und rekelte sich ein wenig. Noch einen letzten Abschiedskuss hauchte ich in ihre Richtung, dann ließ ich mich nach vorne fallen. Wie beim ersten Mal verschlang mich das Wasser auf der Stelle und zerrte mich in Richtung Abgrund und wie beim ersten Mal, war dies begleitet von einem tanzenden Ring unzähliger Fische. Meine Augen wurden allmählich schwerer und schwerer und mit eindringlichen Gesängen im Ohr und einem zufriedenem Lächeln auf den Lippen, erwartete ich sehnsüchtig das Ende meiner Reise. Ich hatte ja als Kind nie an Wunder geglaubt. Wunder, wie sie mir Taleswood gab, auch wenn einige sich als echte Schrecken herausstellten und auch wenn sie mir am Ende zum Verhängnis wurden. Nichtsdestotrotz möchte ich nicht eine Sekunde davon missen... oder auch nur einen Menschen, den ich dort getroffen habe. Und wenn es nun zu Ende war, dann bereute ich nur, sie nicht schon früher getroffen zu haben. Aber niemals würde ich dieses Opfer bereuen. Denn allein für ihr Lächeln war es mir dies zu jeder Sekunde wert. Ich hatte als Kind nie an Wunder geglaubt. Und niemals hätte ich geglaubt, einmal selbst ein Teil davon zu sein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)