№ 120 von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 10: Mädchen ------------------- * Heute war Sakura für den Postdienst zuständig. Erst verteilte sie eingegangene Briefe und später sammelte sie Briefe ein, die heute verschickt werden mussten. Dafür musste sie nach Feierabend zur Post gehen. Wie genau sie das schaffen würde, wusste sie noch nicht, denn neben den Briefen musste sie heute auch vier Pakete verschicken. Es waren prall gefüllte Ordner mit Unterlagen, die zurück an die jeweiligen Mandanten abgeschickt werden mussten. Sakura stapelte sie auf dem runden Tisch im Postraum, der mit natürlichem Licht erleuchtet war. In diesem Raum wurden Briefe und Pakete zum Versenden vorbereitet. In dem Schrank links von der Tür befanden sich Marken, kleine und größere Kartons, die man zusammenfalten musste, Stempel und Klebeband. Auf dem runden Tisch stand eine kleine Waage. Sakura wollte gerade den ersten Brief abwiegen, als sie ein Klopfen vernahm.   „Du hast was vergessen.“ Es war die Frau, die gestern Kaffee über ihre Bluse geschüttet hatte. Sie stand mit schräg gelegtem Kopf im Türrahmen; in der einen Hand hielt sie einen Brief, die andere hatte sie in die Hüfte gestemmt. Sakura legte die Stirn in Falten. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie alle Briefe eingesammelt hatte. Sämtliche Briefe mussten auf eine Ablage abgeladen werden, damit sie sichtbar für denjenigen waren, der gerade Postdienst hatte. Sie konnte einfach in die Räume hineingehen und sich die Briefe nehmen. Dennoch sagte Sakura nichts. Die Frau trat an Sakura heran und legte ihr den Brief auf den Tisch. „Sei das nächste Mal aufmerksamer“, sagte sie in einem mütterlich-tadelnden Ton und verschränkte die Arme vor der Brust. „Kommst du alleine zurecht?“ „Ich denke schon. Ich habe das bereits zweimal gemacht.“ „Ich werde dich dennoch kurz beaufsichtigen“, erwiderte die andere lächelnd. „Du weißt schon. Vier-Augen-Prinzip!“ Will sie nett sein oder…? Unsicher kehrte Sakura ihr den Rücken zu und begann, die Briefe abzuwiegen. Als sie damit fertig war, drehte sie sich um und stellte fest, dass sie alleine war. Darüber war sie nicht allzu betrübt; die Gegenwart der Frau war ihr nicht ganz geheuer gewesen. Es war dennoch sehr beängstigend, dass sie geräuschlos wie ein Geist verschwunden war. In Ruhe führte Sakura ihre Aufgabe aus und kehrte dann zu Izuna zurück, der auf ihren Tisch bereits einen Ordner abgelegt hatte. „Buchen Sie alles bis zum gelben Klebchen“, lautete der neue Arbeitsauftrag.   Es war 14:30 Uhr und Sakura war mit Schriftverkehr beschäftigt, als eine Sekretärin in der geöffneten Tür erschien. Sie klopfte gegen den Türrahmen und richtete Izunas und Sakuras Aufmerksamkeit auf sich. Die Augen der Sekretärin waren gerichtet auf Sakura. „Eine ganze Rolle mit Briefmarken ist verschwunden“, sagte sie, ohne den Blick von der Auszubildenden zu nehmen. Sakuras Augen weiteten sich. Sie öffnete den Mund, konnte aber im ersten Augenblick kein einziges Wort herausbringen. „Ich bin es nicht gewesen“, sagte sie dann langsam. Ihre Stimme war ruhig und sie blieb auf ihrem Stuhl sitzen; in ihrem Inneren dagegen drehten sich sämtliche ihrer Organe um und schickten eine furchtbare und unerträgliche Hitze durch ihren Leib. Sie hatte Mühe, die Fassung zu bewahren, und ihre Beine fühlten sich gelähmt an. Izunas Blick pendelte gemächlich zwischen Sakura und der Sekretärin. „Sie haben Frau Haruno dabei aber nicht beobachtet, oder doch?“, wollte er wissen. „Nein, das stimmt“, erwiderte die Sekretärin und runzelte die Stirn. „Ich denke, es wäre besser, wenn ich die Marken zu mir nehmen werde. Wenn Sie welche brauchen, kommen Sie runter zu mir.“ An die Briefmarken im Postraum konnte im Prinzip jeder herankommen. Dort gab es keine Kamera, eigentlich gab es nirgendwo in diesem Gebäude eine Kamera, was Izuna in diesem Moment bedauerte. Später auf der Versammlung würde er den Vorschlag unterbreitet, zumindest im Postraum und in den Archiven eine Kamera zu installieren. „… Ich war es wirklich nicht“, sagte Sakura, sobald die Sekretärin verschwunden war. Sie klang unglücklich und verzweifelt. Izuna lächelte aufmunternd. „Keine Sorge. Ich halte Sie nicht zu solchen Dingen fähig. Ich denke, da will man Ihnen nur eine Tat andrehen, die Sie nicht begangen haben.“ Sakuras Mundwinkel zuckten und Izuna betrachtete sie interessiert. „Haben Sie jemanden in Verdacht, Frau Haruno?“ Sakura starrte Izuna mit einem gequälten Gesichtsausdruck an. So vieles lag im Dunkeln. Wann genau war die Briefmarkenrolle verschwunden? Hatte es tatsächlich diese Frau gemacht? Was, wenn Sakura klar aussagen würde, dass nicht nur sie sich heute im Postraum aufgefunden hatte? Was, wenn die andere unschuldig war? Sie hatte schließlich nicht überprüft, wie viele Rollen sich im Karton befunden hatten, bevor die Frau erschienen war. Sakuras Kopf dröhnte. „Ich bin mir nicht sicher, Herr Uchiha“, gestand sie Izuna. „Ich verstehe. Ich werde der Sache auf den Grund gehen.“ Er kratzte sich am Kopf. „Gute Güte, ich komme mir mittlerweile wie ein Privatdetektiv vor.“ Er wollte noch etwas hinzufügen, da klingelte das Telefon. „Das könnte ein langes Telefonat werden“, setzte er Sakura ernst in Kenntnis und nahm den Hörer ab. Nach dem Telefonat atmete Izuna tief durch. So manch einer rief nicht nur an, um über das Eingemachte zu reden, sondern auch, um sich mitzuteilen. Einmal die Woche wurde Izuna von einem ihrer ältesten Kunden als Telefonpsychologe in Anspruch genommen und hörte fast eine ganze Stunde zu, bevor er sein Fazit aussprach. Izuna stand auf, massierte seinen steifen Nacken und sah über Sakuras Schulter. Sie hatte soeben einen Brief gedruckt, der von Madara unterschrieben werden musste. „Ich gehe zu ihm hoch und nehme das mit“, bot er ihr an, schnappte sich die Postmappe mit dem Brief und machte sich zu Madara auf. „Izuna“, konstatierte Madara, als Izuna eintrat. „Was gibt es?“ „Einmal unterschreiben. Und dann: Ich nehme an, dir ist die Geschichte mit der Markenrolle noch nicht zu Ohren gekommen.“ Fragend wurde Izuna von seinem Bruder angesehen. „Jemand hat aus dem Postraum auf unserer Etage eine ganze Markenrolle entwendet. Frau Haruno hatte heute Postdienst“, erklärte Izuna und machte eine kurze Pause. Madara unterschrieb den Brief. „Sie ist es nicht gewesen.“ Er schielte zu dem anderen hoch. „Zumindest denkst du das.“ „Nein, sie ist es ganz sicher nicht gewesen“, sagte Izuna fest. „Frau Haruno hat mich darum gebeten, es dir nicht zu erzählen, aber gestern hat eine gewisse Dame Kaffee auf ihre Bluse geschüttet. Und ich bin mir sehr sicher, dass ebendiese Dame heute in der Nähe gewesen war, als Sakura Briefe bearbeitet hat.“ Izuna sah Madara ernst an. „Es wäre besser, wenn du dich gegen Ende der Versammlung zum Gerücht äußern würdest.“ Izuna ging und Madara verfiel in Nachdenklichkeit. * Die Versammlung fand auf der gleichen Etage statt, auf der Madara und Hikaku ihr Büro hatten. Gemeinsam mit Izuna betrat Sakura einen großen, hellen Raum, in welchem insgesamt zehn Tische mit Stühlen standen. An jedem Tisch konnten bis zu sechs Personen Platz finden. Madara und Hikaku hatten ihren eigenen Tisch, der ganz vorne an der Wand stand; links und rechts befanden sich riesige Whiteboards. Izuna und Sakura besetzten einen Tisch am Fenster.   Es wurde durchgehend über interne Angelegenheiten und Arbeitsaufteilung gesprochen und Madara sprach am meisten. Während der Versammlung sah Madara ab und an zu Sakura hinüber, und als es galt, die finalen Worte auszusprechen, sagte er: „Bevor ich die Versammlung offiziell beende, möchte ich noch etwas sagen. Ich bin das Ziel eines unangenehmen Gerüchts geworden. Eigentlich muss ich sagen: Frau Haruno und ich sind das Ziel eines unangenehmen Gerüchts geworden, von dem der Großteil der Anwesenden hier wissen sollten.“ Er beschrieb einen großzügigen Halbkreis in der Luft und deutete dann auf Sakura. „Ich möchte dieses Gerücht in meinem Namen, aber auch in Frau Harunos Namen dementieren. Unsere Beziehung ist rein beruflicher Natur, weshalb die Annahme, ich würde eine romantische Beziehung oder ein romantisches Verhältnis zu diesem Mädchen unterhalten, schwachsinnig ist.“ Madara sah mit den Augen eines Falken in die Runde. Jeder hatte den Kopf gesenkt, mit Ausnahme von Sakura, Izuna und einigen anderen Angestellten. Seltsamerweise sprühte Sakuras Gesicht nur so vor Unzufriedenheit. Im ersten Augenblick konnte Madara nicht begreifen, weshalb. Doch dann hallten seine eigenen Worte in seinen Ohren wider und er fragte sich, ob er sie nicht verletzt hatte mit seinem letzten Satz. Madara schüttelte die Gedanken ab und nickte. „Gut. Sollte Frau Haruno in Zukunft das Ziel irgendeiner Intriganz werden, so wird deren Initiator sich vor mir verantworten müssen. Des Weiteren wurde mir heute der folgende Vorfall berichtet: Eine Markenrolle ist aus dem Postraum verschwunden.“ Izunas Hand schnellte in die Höhe, kaum dass Madara den Satz beendet hatte. „Ich schlage vor, nach langer Zeit endlich Kameras anzubringen. In der Eingangshalle, im Postraum und in den Archiven.“ Ein Raunen erblühte an einem Tisch auf und wurde an andere Tische weitergereicht. „Das ist ein guter Vorschlag. Ich werde morgen eine Rundmail verschicken mit einer Umfrage. Ich rufe alle Mitarbeiter auf, daran teilzunehmen. Das wäre alles. Die Versammlung ist hiermit beendet.“ Alle Mitarbeiter kehrten zurück an ihre Plätze, um ihre Rechner herunterzufahren, und nachdem sich Sakura von Izuna verabschiedet hatte, ging sie in den Postraum, um die Briefe und Pakete abzuholen. Pff, dachte Sakura sich beim Verlassen des Gebäudes. Auf ihren Händen trug sie die schweren Ordner, und darüber, in einer Tüte, die Briefe. Dieses Mädchen. Unsere Beziehung ist rein beruflicher Natur, weshalb die Annahme, ich würde eine romantische Beziehung oder ein romantisches Verhältnis zu diesem Mädchen unterhalten, schwachsinnig ist.“ Ach, war sie nicht gut genug für ihn? …Natürlich wäre ich das nicht. Ich bin ja nur ein Mädchen und keine Frau, dachte Sakura sich auf dem Weg zur Bahnhaltestelle. Sakura ärgerte sich darüber, dass sie sich über Madaras Worte ärgerte. Eigentlich sollte sie ihm nur dankbar für das sein, was er im Versammlungsraum gesagt hatte. Oder würde ihr seine kavaliermäßige Aussage am Ende nur schaden? Er hatte das Gerücht dementiert, hatte sie aber in Schutz genommen, und Sakura war sich sehr sicher, dass einigen auch das nicht passte. Ein Hupen schreckte sie auf und sie wirbelte herum. Madara stieg aus seinem Auto und winkte sie zu sich. Zaghaft begab sie sich zu ihrem Chef und fragte sich, was er von ihr wollen könnte. „Steigen Sie ein, ich setze Sie bei der nächsten Post ab“, befahl er ihr regelrecht und öffnete die Tür zum Beifahrersitz. Sakura blinzelte. „Ich soll einsteigen?“, wunderte sie sich. Bot er es ihr an, weil er sie zufällig gesehen hatte? Oder bot er es ihr an, weil er ihr etwas bei der Versammlung angemerkt hatte und ein schlechtes Gewissen hatte? Ach was, dachte sie sich. Er war ein Mann und Männer dachten nicht an solche Dinge. Sakura stieg ein und lud die Pakete und Briefe auf ihre Oberschenkel ab. Im Auto roch es nach Pfefferminze. Sie schwiegen die gesamte Fahrt über, und erst als sie bei der Post angekommen waren und Sakura dabei war, aus dem Wagen zu steigen, sagte Madara: „Sie sollten nicht schweigen, wenn Sie abermals Opfer irgendwelcher Gemeinheiten werden. Verstanden?“ Sakura nickte. „Ja. Vielen Dank fürs Mitnehmen.“ Sakura wollte die Beine aus dem Wagen schwingen, als Madara meinte, dass sie warten solle. Er schnallte sich ab, umging den Wagen und nahm ihr die Ordner und die Briefe ab, bevor er die Post ansteuerte. Sakura folgte ihm eilig und wusste nicht, ob sie sich gekränkt fühlen oder ihm dankbar sein sollte. Nur zwei Kunden standen in der Schlange, und so waren Sakura und Madara innerhalb von fünf Minuten wieder draußen. „Ich kann von hier aus zu Fuß gehen“, meinte Sakura lächelnd zu ihrem Chef. „Bis morgen und einen schönen Feierabend wünsche ich Ihnen.“ „Das wünsche ich Ihnen ebenfalls, Frau Haruno“, sagte er und entfernte sich. Hosted by Animexx e.V. 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