Die Seele der Zeit von Sechmet (Yu-Gi-Oh! Part 6) ================================================================================ Prolog: Sahara -------------- Prolog: Sahara Schwarz, wie ein Tuch von Samt lag die Nacht über dem Land. Tausende winzige Sonnen leuchteten am Firmament, als trugen sie einen Wettstreit aus. Doch sie alle konnten sich nicht mit der Kraft messen, mit der der Mond sein Licht auf die Welt hinab warf. Leise säuselte der Wind durch die Dünen, deren Höhen und Tiefen er einst geschaffen hatte. Sandkörner trieben vor ihm her, jagten in kleinen Schwaden davon. So war die Wüste auf ewig in Bewegung, veränderte sich von Tag zu Tag. Auch heute sollte hier wieder etwas geschehen. Vielleicht sollte sich gar das Ende einer Ära abzeichnen, in der Ägypten bisher Wohlstand und Frieden beschert worden waren. Zumindest erweckten die dunklen Reiter, die unter dem wilden Hufgetrampel ihrer Tiere durch die Nacht preschten, den Eindruck, als seien sie zu allem bereit. Schwarze Kutten verhinderten jeden Blick, der ihre Gesichter hätte identifizieren können. Keiner von ihnen sprach ein Wort. Ihr Weg schien sie zu einem felsigen Kamm zu führen, der sich über nicht endenden Sanddünen erhob. Sobald sie diesen erreicht hatten, zügelten sie ihre Pferde und mäßigten das Tempo. Einer nach dem anderen stiegen sie von den Tieren und schlichen, geschützt von Stein, weiter nach vorne, um einen besseren Blick auf das haben zu können, was sich unter ihnen erstreckte. Dort, am Rand des Nils, war ein Lager errichtet worden. Dutzende Feuer flackerten zwischen den zahllosen Zelten, die man für die Nacht aufgestellt hatte. Bewaffnete Männer patrouillierten umher. Einer der Männer, die das Lager beobachteten, wandte sich um, als eine verhüllte Gestalt an seine Seite trat. „Eine wahrlich große Armee, wenn ihr mich fragt“, glitt die leise Stimme einer Frau durch die Nacht. Der Mann neben ihr nickte. „Doch schon viele haben versucht, Ägypten zu Fall zu bringen. Auch welche mit einer noch größeren Truppenstärke. Wahrscheinlich wird es auch diesmal nicht gelingen. Und das sage ich nicht, weil ich mir eine weitere Regenschaft des Pharaonen Hauses wünschen würde.“ „Urteilt nicht voreilig, Kipino. Ihr wisst, was mein Vater erzählte. Seine Vision war eindeutig. Diese Schlacht wird anders sein als die vielen, die Ägypten bisher zu schlagen hatte. Aber nicht nur das ist es, was mich heute Nacht mit euch hier her kommen ließ. Meine Frage ist viel mehr, welche Rolle wir in diesem Spiel haben werden.“ Der junge Mann sah sein Gegenüber fragend an. „Bislang hielten wir uns stets aus den Schlachten heraus, die die Pharaonen zu schlagen hatten. Weshalb sollte es uns diesmal etwas angehen?“ Ruckartig wandte sie ihm das Gesicht zu. Helle, fliederfarbene Augen, die zwar schön, aber zugleich unerbitterlich waren, fixierten ihn. „Hätte mein Vater eine Vision gehabt, wenn es uns nicht betreffen würde? Irgendetwas wird geschehen. Etwas, das von großem Ausmaß sein wird. Das spüre ich. Jeder tut das. Selbst die Bauern nahe Men-nefer sind unruhig. Selbst sie spüren, dass dieser Kampf anders sein wird, als seine Vorgänger.“ Sie wandte den Blick wieder hinab auf das Heer, das dort unten in der Ferne lagerte. „Und genau deshalb bin ich hier. Ich werde heraus finden, wer dieser Kerl ist, der die Gewalt über diese Männer hat. Und was er vorhat.“ Kipino fuhr erschrocken herum. Ungläubig starrte er die junge Frau an. „Euer Majestät! Nein, das kann ich nicht zu lassen!“ „Du wirst es wohl zulassen müssen, mein Freund. Etwas anderes wird dir gar nicht übrig bleiben. Es sei denn, du legst mich in Ketten und selbst das würde doch nichts bringen.“ „Weiß euer Vater davon?“ „Sollte er?“ „Aber Majestät, etwas derartiges ohne Zustimmung eures Vaters zu tun, verletzt die Regeln der...“ „Es verletzt Regeln, an deren Schöpfung ich zum Teil beteiligt war. Wem stünde es also mehr zu, sie zu übertreten, als mir?“, kam die Antwort mit einem Grinsen, das zwischen diabolisch und schlicht frech schwankte. „Ihr könnt hier auf mich warten oder gehen. Das ist die einzige Entscheidung, die euch zusteht. Denn meine habe ich bereits getroffen.“ Der schwarze Umhang, in den sie gehüllt war, bauschte sich kurz in der nächtlichen Brise, als sie einem Schatten gleich von dem Vorsprung herunter glitt. Kipino schluckte schwer, als er ihre Gestalt verfolgte, die kaum sichtbar über den Sand hinweg auf das Lager zueilte. „Mögt ihr wohlbehalten zu uns zurückkehren, Prinzessin...“ Schon lange vor den Fluten des Nil wandelte sich die Wüste urplötzlich. Üppiges Grün schoss aus dem Boden hervor- perfekt, um sich ungesehen an die fremden Krieger heran zu pirschen. Keinen Laut von sich gebend schlich sie durch die Dunkelheit, sah sich bereits frühzeitig nach den Feuern des Lagers um, um ihrem Schein zu entgehen. Und tatsächlich gelang es ihr, bis dorthin vorzudringen, wo die Zelte am dichtesten standen, in das Herzstück dieser Armee. Sie beobachtete zwei Wachen, die unweit vor einer der sporadischen Behausungen standen. Offenbar nahmen sie ihren Dienst nicht allzu ernst, denn sie wirkten eindeutig betrunken. Gerade das waren die gefährlichsten. Zwar mochten sie in ihrem Zustand weniger mitbekommen, als ihre nüchternen Kollegen, doch wenn sie dann auf etwas aufmerksam wurden, reagierten sie ganz anders als diese. Ein pflichtbewusster Wächter würde sich zunächst vergewissern, auch wirklich etwas gesehen zu haben. Ein betrunkener hingegen begann, wild drauf los zu schreien und brachte das ganze Lager in Aufruhr- ein Umstand, den sie um jeden Preis vermeiden wollte. Auch wenn ihr bisheriger Eindruck von dem Heer nicht gerade positiv war. Die meisten von diesen Kerlen schienen das Wort Intelligenz höchstens aus Legenden zu kennen, andere wieder wirkten alt und gebrechlich. Dann waren da noch jede, die sich auf der bisherigen Reise wohl Krankheiten zugezogen hatten. Und mit solch einer Armee glaubte ihr Führer wahrlich, er könne sich dem Hause der Pharaonen stellen? Hier musste mehr im Spiel sein. Kein Mensch, der noch annähernd bei Verstand war, käme auf eine solch aberwitzige Idee. Als die beiden Wachen vor dem Zelt plötzlich begannen, sich anzuschreien und aussahen, als seien sie im Begriff sich zu prügeln, nutzte sie ihre Gelegenheit und huschte weiter. Inzwischen hatte sie ein Zelt ausmachen können, das die anderen bei weitem überragte. Wenn sie wissen wollte, wem diese Heerscharen gehörten, dann würde sie ihn gewiss dort finden. Denn noch etwas anderes kam ihr seltsam vor. Nirgendwo in diesem verfluchten Lager gab es auch nur ein einziges Wappen, das über die Herkunft der Krieger Auskunft gegeben hätte. Wenn hier nichts faul war, dann würde sie freiwillig dem Drängen ihres Vaters nachgeben und sich endlich verheiraten lassen. Diesen Gedanken konnte sie sich erlauben, denn sie war sich sicher, dass hier etwas nicht stimmte. Schließlich erreichte sie das größte aller Zelte. Um dieses herum standen weitere provisorische Behausungen, dicht gedrängt, sodass die Wachen lediglich am Eingang an der Vorderseite der Planen Platz gefunden hatten. Sie schlich sich von hinten heran. Als sie eine Stelle gefunden hatte, an der der Stoff einen kleinen Riss hatte, hielt sie inne und hockte sich nieder, sodass auch wirklich niemand sie sehen konnte. Gebannt lauschte sie, während sie versuchte, etwas im Inneren zu erkennen. Sie konnte drei männliche Stimmen ausmachen. „... nicht mehr lange dauern. Dann wird Ägypten nicht mehr auf uns herab blicken!“ „Zu wünschen wäre es euch, mein Gebieter. Doch bitte versteht meine Bedenken. Eure Truppen erwecken nicht den Anschein, als könnten sie es mit den Bestien der Ägypter aufnehmen...“ „Schweigt auf der Stelle! Wollte ihr euch wahrlich anmaßen, die Führungsqualitäten des großen Caesian in Frage zu stellen?“ Caesian also? Dieser Name war ihr durchaus ein Begriff, wenn auch nicht einer, den sie mit Ruhm oder großen Legenden verbunden hätte. Im Gegenteil. Caesian war der Herrscher eines Landes im Westen, das unter der größten Armut des gesamten Kontinents litt. Zudem waren die Gesetze dort mehr Zierde als ernst gemeinte Regeln. Niemand, der die Wahl hatte, setzte freiwillig einen Fuß in das Königreich dieses Mannes. „Lasst ihn ruhig zweifeln. Umso größer wird sein Erstaunen sein, wenn er sieht, wozu ich fähig bin.“ Plötzlich war das Klirren von Metall zu hören. Sie versuchte zu sehen, worum es sich handelte. Zunächst konnte sie nur die Gestalten der Männer erkennen. Doch dann fiel ihr Blick auf etwas, das einer von ihnen in den Händen hielt. Was auch immer das für ein Gegenstand war, er glänzte golden im Fackelschein. Vorsichtig ergriff sie die beiden Seiten des Lochs, durch das sie spähte, und zog sie weiter auseinander. Da erstarrte sie plötzlich. Das goldene Ding, dass dieser Mann in den Händen hielt, war über und über verziert mit ägyptischen Schriftzeichen. Aus Gold geschaffene Federn baumelten unterhalb der prachtvollen Spitze, die am oberen Ende des Zepters saß. Und zwischen Federn und Spitze saß ein Auge, das ihr nur zu vertraut war. „Bei allen Göttern Ägyptens... Das ist doch...“ Leise kroch sie ein Stück von dem Zelt zurück, ehe sie sich erhob. Dann huschte sie durch die Zeltreihen davon, so schnell sie eben konnte, ohne entdeckt zu werden. Kaum war auch die letzte Gruppe von Kriegern außerhalb ihrer Reichweite richtete sie sich auf und rannte, so schnell sie ihre Beine tragen konnten, zurück zu der Klippe, auf deren Kamm Kipino zweifellos auf sie warten würde. Ihre Gedanken schossen dabei wild durcheinander. Wo hatte dieser Caesian das Zepter her? Wenn er auch noch wusste, wie er es einzusetzen hatte, dann spielte es überhaupt keine Rolle mehr, ob seine Armee geradezu kläglich war. Denn in eben jenem Artefakt lagen Kräfte verborgen, die außerhalb der Vorstellungskraft vieler Menschen lagen. Und war das Zepter überhaupt das einzige, das er hatte? Als sie Kipino erreichte, der ihr helfend eine Hand entgegen streckte, um sie auf die Felsen hinauf zu ziehen, stürmte sie direkt an ihm vorbei zu ihrem Pferd. „Majestät? Was ist geschehen?“ Sie saß auf dem Tier auf. „Ich habe doch gesagt, irgendetwas stimmt hier nicht. Los, folge mir, wir müssen sofort zurück zu meinem Vater. Ich erkläre dir alles auf dem Weg.“ --- Kapitel 1: Anubis ----------------- Anubis Er eilte zwischen den ewigen Säulen dahin, die die Wege des Tempels flankierten. Die Sonne brannte erbarmungslos vom Firmament herab und ließ Sandstein und Marmor prachtvoll schimmern. Die Bemalung des Tempels leuchtete ihm entgegen. Er konnte sich ein erleichtertes Schnaufen nicht verkneifen, als er endlich in den Schatten des Heiligtums trat. Heute war es wieder besonders heiß. Aber vielleicht war es auch nur die Anspannung, die ihn so empfinden ließ. Denn eigentlich war er das Klima ja gewohnt. Er schüttelte den Kopf. Wie konnte er in solchen Zeiten über derartige Belanglosigkeiten sinnieren? Es gab weitaus wichtigere Dinge, über die er stattdessen nachdenken sollte. Zum Beispiel über die Truppen, die vor den Toren Men-nefers standen. Sie hatten alles versucht. Die größte Armee seit dem Kampf gegen Zorc war aufgestellt worden und gegen den Mann, der sich als Caesian zu erkennen gegeben hatte, gezogen. Ohne Erfolg. Ganz gleich, wie viele Ka-Bestien man gegen diesen Kerl geschickt hatte, sie waren alle zurück geworfen worden. Von einem einzigen Wesen. Einer Kreatur der Schatten, deren Stärke ihm bisher selten untergekommen war. Er hatte selbst seinen weißen Drachen nach kurzer Zeit zurück rufen müssen, um nicht zusammen zu brechen. Sogar der Einsatz dieser Bestie war fruchtlos gewesen. Sie hatten noch immer keine Ahnung, womit sie es zu tun hatten. Das Geschöpf wusste sich zu verbergen. Aber das war noch nicht alles. Gleich, wie viele Feinde sie niedergeschlagen hatten, es kamen immer neue nach. Als würde Caesian sie aus einer Quelle schöpfen, die niemals versiegte. Dabei war es schier unmöglich, so viele Männer auf einer so weiten Reise zu koordinieren und gesund ans Ziel zu führen. Immerhin mussten sie durch die Wüste marschiert sein. Ihre Truppenstärke hätte weitaus geringer sein müssen. Längst hätte Caesians Antlitz von der Welt gefegt sein müssen. Doch es war ihm nicht gelungen. Ein Umstand, der unerbittlich an seinem Stolz nagte. Zumal es schon schwer genug gewesen war, in die ihm vorgelegten Fußstapfen zu treten. Atemu hatte seine Spuren hinterlassen. Der Sieg gegen Zorc hatte ihm Ruhm eingebracht, der auch über seinen Tod hinaus anhielt. Das Volk liebte seinen jungen, dahin geschiedenen Pharao bis heute.Wobei sie alle im unklaren darüber waren, was genau mit ihm geschehen war. Offiziell hatte man erklärt, dass er nach der Schlacht gegen die Finsternis verschwunden sei und man nicht wisse, wo genau er sich befinden würde. Zugleich hatte man das Amt an Seto übergeben, der an seiner statt regieren sollte. Das Volk hatte es akzeptiert, die Entscheidung respektiert. Alles war ihnen recht gewesen, Hauptsache Zorc würde niemals wiederkehren. Der Umstand, dass man Atemu nie prunkvoll beerdigt hatte, kam dem amtierenden Pharao nun gerade recht. Denn für das, was er geplant hatte, wäre dies mehr als hinderlich gewesen. Das Geräusch seiner eiligen Schritte hallte von den Wänden wieder. Die Gesänge der Priester zogen wie eine Beschwörung durch die heiligen Hallen. Der Duft von Weihrauch lag in der Luft. Er konnte nicht leugnen, dass ihm der blasse, weiße Nebel des Öfteren Kopfschmerzen bereitete. Als ehemaliger Hohepriester hätte Seto dies jedoch nie zugegeben. Er grüßte beiläufig, als er an zwei älteren Frauen vorüber ging. Sie neigten sogleich das Haupt und schlugen die Augen nieder. Er versuchte, freundlich zu lächeln, doch es wollte ihm nicht gelingen. Zu sehr belasteten die Ereignisse der vergangenen Tage sein Gemüt. Doch wenn er hier fertig war, dann würde es vorbei sein. Dann würde Caesian seine Grenzen aufgezeigt bekommen. Man würde ihn aus Ägypten hinaus jagen und dafür sorgen, dass dieser Mann nie wieder auch nur einen Fuß in das Land des Nils setzen würde. Schließlich erreichte er das Heiligtum des Tempels. Ein Priester kniete vor der Barke, die man zu Ehren des Gottes Anubis aufgestellt hatte. Seto wartete, bis er mit seinen Gebeten fertig war, ehe der Mann ihn gewahrte und dann unter einer Verbeugung zügig davon huschte. Der Pharao betrat den dunklen Saal, der lediglich durch ein Loch in der Decke erleuchtet wurde. Die Luft war stickig, die Hitze in dem kleinen Zimmer geballt. Der Weihrauch tat sein übriges. Er verschränkte die Arme vor der Brust. Wo blieb das Mädchen nur? Sie hatten doch noch gestern Abend alles erneut durchgesprochen. Und sie hatte versprochen, rechtzeitig zu erscheinen. Doch irgendwie war ihm von vorne herein klar gewesen, dass Mana nicht pünktlich sein würde. Keine ihrer Stärken. Dann hörte er hastige Schritte, die schnell näher kamen. Schließlich ein Schlittern auf steinernem Boden, der von Sandkörnern bedeckt war. „Oh Verzeihung! Tut mir leid!“ Eine rasch gemurmelte Entschuldigung, als Mana beinahe in einen Priester hinein gelaufen wäre, dann stand sie vor ihm. Ein paar Schweißtropfen standen auf ihrer Stirn, ihr Atem ging stoßweise. Auf ihrem Rücken lag ein Sack, der über die Schulter geworfen war. „Bitte verzeiht, Seto... äh... mein Pharao. Ich bin noch am Markt vorbei gekommen und...“ „Schon gut. Hast du alles dabei, was wir benötigen?“, unterbrach Seto sie gezwungen freundlich, aber bestimmt. Sie nickte eifrig. „Ja. Die Zauberformeln, meinen... meinen Zauberstab!“ Sie warf den Sack zu Boden und knieten daneben nieder. Dann begann sie, hektisch darin zu wühlen. Seto sah ihr mit hochgezogener Augenbraue dabei zu. Wie konnte ein Mensch nur so schusselig sein? Ihm wurde beinahe ein wenig unwohl zumute. Bei ihrem Vorhaben durfte nichts schief gehen. Rein gar nichts. Das Schicksal des gesamten Landes stand auf dem Spiel. Er selbst war der Zauberei kaum mächtig, er musste voll und ganz auf die junge Magierin vertrauen. Zugegeben, ihre Fähigkeiten hatten sich in den letzten beiden Sommern sehr verbessert. Doch ihre Schusseligkeit hatte sie deswegen noch lange nicht verloren. Sie war meistens der Grund, wenn eine ihrer Formeln schief ging. Er hoffte inständig, dass dies heute ausbleiben würde. Seto schluckte hörbar, als Mana das Gesuchte noch immer nicht gefunden hatte. Innerlich atmete er auf, als sie schließlich doch ihren Zauberstab zu Tage förderte. „Hach, da ist er ja! Und ich dachte schon...“ „...du hättest ihn vergessen. Ist mir nicht entgangen.“ Sie zog eine Schnute, ehe sie sich stolz erhob und den Staub von ihren Kleidern klopfte. Anschließend griff sie nach dem schwere Buch, das sie mit sich führte und schlug es auf. Als sie nichts fand, worauf sie es ablegen konnte, schritt sie zu der Barke und missbrauchte sie als Stütze. „Bist du dann soweit?“, erkundigte sich Seto. „Ja, ich schon. Die Frage ist eher, ob ihr bereit seid, mein Pharao. Ich meine, keiner von uns weiß, was auf der anderen Seite wartet.“ „Ich werde dir anschließend ausführlich Bericht erstatten. Nun lass uns endlich anfangen.“ Der gute, alte Seto. Mürrisch wie immer. Mana konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Dann wurde ihr wieder bewusst, warum sie eigentlich hier waren. Ihre Züge verfinsterten sich. Das hier war ihre allerletzte Hoffnung. Men-nefer stand kurz vor dem Fall. Wenn es ihnen nicht gelang, Anubis zu beschwichtigen, dann wäre all das, was schon ihre Vorfahren Jahrhunderte zuvor errichtet hatten, verloren. Caesian würde die Stadt plündern, die Menschen ihrer Heimat berauben und die Religion mit Füßen treten. Sie war selbst an der Front gewesen und hatte an der Seite ihres Kas gekämpft. Sie hatte gesehen, wozu dieser eine Mann fähig war. Seine Bestie hatte Setos mit nur wenigen Streichen so sehr geschwächt, dass ihm nichts anderes übrig geblieben war, als auf ihre weitere Unterstützung zu verzichten und den Rückzug anzuordnen. Auch Darla, das schwarze Magiermädchen, hatte viele Treffer einstecken müssen. Zu viele. Es hatte Tage gedauert, bis sich Mana wieder erholt hatte. Zu groß war ihre Entkräftung und die ihrer Zwillingsseele gewesen. Sie mussten diesen Bastard namens Caesian in seine Schranken weisen. Ein letzter Blick auf Seto verriet ihr, dass er bereit war- zumindest so bereit, wie man sein konnte, wenn es darum ging, eine völlig unbekannte Zwischenwelt zu betreten. Und das noch mit einer Mission, von der das Schicksal eines ganzen Reiches abhing. Sie räusperte sich, machte ihre leicht trockene Kehle frei für die Worte, die von größter Wichtigkeit waren. Sie hielt den Stab auf Seto gerichtet, dann begann sie den uralten Text zu rezitieren, der vor ihr lag. In einem melodischen Singsang las sie vor. Es waren viele Zeilen und sie musste aufpassen, damit sie nicht über die eigene Zunge stolperte. Dafür hatte sie sich schon vor langer Zeit eine Methode überlegt. Einfach drauf los reden, den Kopf frei machen. Den Text nur mit dem Mund, nicht aber mit dem Kopf durchgehen. Auch diesmal trug diese Methode Früchte. Sie erreichte die letzten Worte, die von nun an unablässig wiederholt werden mussten, ohne einen Fehler. „Anubis, wir bitten dich, führe uns ins Licht. Anubis, wir bitten dich, führe uns ins Licht. Anubis...“ Die Kugel an Manas Zauberstab begann plötzlich zu glühen. Das grüne Schein des Kristalls ergoss sich über die Wände, die Barke und den Boden und erreichte schließlich den amtierenden Pharao. Dieser hatte inzwischen in die dauernde Wiederholung von Worten eingestimmt. Zwar leiser als Mana, aber dennoch deutlich zu vernehmen. Das Licht wurde immer intensiver, erleuchtete den düsteren Teil des Tempels und hüllte Seto ein wie ein lebendiges Wesen. Eine Schlange, die ihre Beute gefunden hatte. Er konnte nicht leugnen, dass sein Herz begann, einige Takte schneller zu schlagen. Doch er zwang sich, ruhig zu bleiben. Anubis war kein strafender Gott. Anubis war jener, der die Verstorbenen vor das Totengericht führte. Doch er war kein Toter. Noch nicht. Eine Wärme ohne Ursprung begann, sich in ihm ausbreiten, ehe sie von eisiger Kälte abgelöst wurde. Der Schein des Kristalls war noch greller geworden und es schien, als habe er seinen hellsten Punkt noch immer nicht erreicht. Dann wurde es mit einem Mal schwarz vor Setos blauen Augen. Langsam schob er die Lider auseinander. War es Wind, der sein Gesicht umspielte? Er war nicht sicher. Es fühlte sich so an, doch irgendetwas ließ diese Empfindung unwirklich erscheinen. Als er den Kopf ein Stück hob, sah er sich um. Sand trieb über den schwarzen Boden. Um ihn herum war sonst nichts als grauer Horizont. Doch dort, direkt vor ihm, glomm ein Licht. Er wusste nicht, warum, doch es zog ihn magisch an. Als würde es ihm den Weg weisen. Mit einer Leichtigkeit, die er nicht erwartet hätte, stand er auf. Sein Körper fühlte sich so schwerelos an, als habe er keinerlei Gewicht. Ohne darüber nachzudenken, steuerten seine Füße auf den hellen Schein am Ende des Horizonts zu. Sein Kopf war leer. Er stellte sich weder die Frage, wo er war, noch, wie er hier her kam. Auch, als sich mitten aus dem Nichts ein schwarzer Thron erhob, auf dem eine Gestalt saß, zögerte er nicht eine Sekunde. Es war, als habe er genau danach gesucht. Sein Verstand begann erst wieder einzusetzen, als er direkt davor stand. Und erkannte, wem er nun direkt in die dunklen Augen sah. Instinktiv fiel er auf die Knie und senkte das Haupt. Er wartete. Darauf, dass Anubis den ersten Schritt tun würde, wie es ihm als Gott zustand. Und tatsächlich drang die grollende, raue Stimme der schakalköpfigen Gottheit schließlich an seine Ohren. „Ägypten ist im Begriff, zu fallen.“ „Ja, so ist es“, erwiderte Seto leise. „Ich bitte euch, Anubis, Gott der Totenriten. Steht uns bei.“ „Das tue ich. Doch auch ich vermag das Schicksal selbst nicht zu ändern. Auch, wenn es mein Herz, das für Ägypten alleine schlägt, bluten lässt.“ „Es gibt einen Weg.“ „Ich weiß, wovon du sprichst. Doch bist du dir im klaren über das, was du von mir erwartest?“ „Mir ist bewusst, wie anmaßend meine Gedanken in euren Ohren klingen müssen, Anubis. Doch es ist unsere einzige Chance. Tausende unschuldiger Menschen werden sterben, wenn nichts geschieht.“ „Die Lichter dieser Leben haben bereits begonnen, zu flackern. Und ihr glaubt wahrlich, dass ein Mann in der Lage sein wird, dies zu ändern?“ „Euch wird nicht entgangen sein, was er im Kampf gegen Zorc vollbracht hat. Er hat die Macht, dieses Schicksal von uns abzuwenden. Ich flehe euch an, im Namen ganz Ägyptens!“ Der Gott schien zu überlegen. Seine schwarzen Augen verrieten nicht, woran er dachte. Das Schakalgesicht blieb völlig ungerührt. Selbst wenn er sprach, bewegten sich seine Züge nicht. Ebenso die Lippen. Schließlich ein kurzes Nicken. „Doch dies wird alles sein, was ich tue. Es steht nicht in meiner Macht, die Wege des Schicksals weitgreifender zu beeinflussen. Und ich muss eine Bedingung daran knüpfen.“ „Wir werden alles tun, was ihr verlangt.“ „Seid ihr euch dessen sicher?“ „Als Pharao ist es meine Pflicht, mir dessen sicher zu sein.“ „Nun gut. Dann hört, was ich verlange. Viele Leben waren abhängig von dem Wirken des dahin geschiedenen Pharao Atemu. Wenn ich ihn freigebe, so werden weitere Seelen zurückkehren, die er einst zu mir sandte. Doch sorgt euch nicht. Zorc ist und bleibt dahin.“ Seto verzog die Mundwinkel. Atemu hatte gewiss seine Gründe gehabt, diese Menschen von der Welt der Lebenden zu verbannen. Doch wenn dies der Preis war, den er für das Überleben seines Volkes und das Fortbestehen eines ganzen Reiches zu zahlen hatte, dann würde er ihn akzeptieren. Nichts konnte derzeit so bedrohlich sein, wie Caesian und seine Armee, die vor den Toren Men-nefers lauerten. Und wenn sein Vorgänger schon einmal mit diesen Seelen fertig geworden war, dann würde dies zur Not eben noch einmal der Fall sein. Schließlich nickte er entschlossen. „So sei es.“ „Gut. Kehre zurück in die Welt der Lebenden, Sterblicher. Erwarte mein Wirken bei Sonnenuntergang. Blicke gen Westen, wo das Licht die Erde berührt und du wirst finden, wonach du verlangst.“ Seto neigte das Haupt zum Boden. „Ich danke euch, Anubis. Mein Volk und ich- wir stehen auf ewig in eurer Schuld.“ Kaum waren diese Worte über seine Lippen gekommen, spürte er, wie ihm schwindlig wurde. Das wenige Licht, das die Zwischenwelt erleuchtete, begann, vor seinen Augen zu tanzen. Dann wurde es erneut schwarz. Der Körper des ehemaligen Hohepriesters begann an Substanz zu verlieren, bis er schließlich in dunklem Nebel verschwand. Anubis blieb alleine zurück. Ein Seufzen entwich der Kehle des Gottes. Seine Kräfte waren nicht mehr dieselben. Sie waren geschwunden. Das Entsenden des Mannes in seine Welt hatte ihm erneut deutlich gemacht, wie es bereits um ihn stand. Jemand missbrauchte die Kräfte, die er und die anderen vor tausenden Jahren versiegelt hatten, und ließ ihn so leiden. Anubis wusste, dass er nicht sterben konnte. Ganz gleich, welche Qualen er erlitt. Immerhin war er ein Gott. Doch die Tatsache, dass er Schmerzen empfand, war Zeichen genug. Er spürte eine Empfindung, die sonst nur die Sterblichen plagen konnte. Er griff sich an die Brust, als ihn erneut ein Schauer durchlief. Dieser Seto hatte recht. Atemu war die letzte Hoffnung Ägyptens. Vielleicht gar die letzte Hoffnung der Götter. Kapitel 2: Fata Morgana ----------------------- Fata Morgana Der Tag war zäh wie Honig dahin geflossen. Nachdem Seto im Tempel wieder zu sich gekommen war, hatte er im Palast sofort alles für die Rückkehr des ehemaligen Pharao veranlasst. Er hatte vorgeschoben, eine Nachricht erhalten zu haben, die dies angekündigt hatte. Nicht nur das Personal war völlig aus dem Häuschen. Auch Mana war seither damit beschäftigt, unaufhörlich durch die Flure des Palastes zu wuseln. Wenn sie nicht gerade dabei war, den Bediensteten zu erklären, was unbedingt noch getan werden musste, verschwand sie in ihrem Zimmer. Seto hatte inzwischen aufgehört, zu zählen, wie oft die junge Frau sich mittlerweile umgezogen hatte. Er hatte seine eigenen Theorien darüber, weshalb sie sich so verhielt. Es war kein Geheimnis, dass Mana und Atemu zusammen aufgewachsen waren. Doch es war nicht schwer, noch mehr dahinter zu vermuten. Ihm sollte es gleich sein. Was zählte, war das Schicksal Ägyptens. Gewiss handelte es sich bei Atemu nicht einfach nur um den vorherigen Pharao, sondern auch um Setos Cousin. Auch er hatte dies nicht einfach vergessen können, nachdem er ins Totenreich eingekehrt war. Wie würde das Wiedersehen wohl werden? Und wie würde Atemu reagieren, wenn er merkte, dass er in die Welt der Lebenden zurückgekehrt war? Würde er vielleicht wütend sein, weil man ihn in seiner Totenruhe gestört hatte? Oder würde er es verstehen können? War er nicht einer der gutmütigsten Herrscher überhaupt gewesen? Es gab so viele Möglichkeiten. Und jede davon erschien auf ihre eigene Art und Weise unrealistisch. Zumal Seto dies schwer einschätzen konnte, hatte er mit Atemu doch nur wenig Zeit verbracht, in der er nicht einfach nur der Hohepriester und Beschützer, sondern auch der Verwandte und Vertraute gewesen war. Er rieb sich die Schläfen. Eigentlich war es nun egal. Der Pakt mit Anubis war geschlossen. Es gab kein Zurück mehr. Er würde mit Atemus Reaktion leben müssen, ganz gleich, wie sie ausfiel. Er warf einen Blick ins Freie. Noch stand die Sonne mit dem üblichen, grellen Schein am Himmel. Doch sie hatte längst begonnen, sich dem Horizont entgegen zu neigen. Es wurde Zeit, zu gehen... Würde nur Mana endlich kommen. Seto seufzte. Wie immer. Am liebsten wäre er schon einmal los gegangen, doch die Worte der jungen Magierin schwirrten ihm noch deutlich im Kopf herum. Und wehe ihr geht ohne mich, Seto! Ich will dabei sein, wenn Atemu wieder zu uns kommt. Ihr mögt zwar sein Cousin sein, aber ich bin noch immer seine beste Freundin und stehe euch deshalb in nichts nach, habt ihr verstanden? Unruhig begann er mit dem Fuß zu wippen. Wo blieb sie nur so lange? Er warf abermals einen Blick nach draußen. Die Sonnenscheibe hatte sich orange verfärbt. Allmählich strapazierte sie seine Geduld. Er war schon beinahe erleichtert, als er das Tappen hastiger Schritte vernahm. Schließlich kam Mana um die Ecke geschlittert. Während sie außer Puste nach Luft schnappte, stellte Seto mit hochgezogener Augenbraue fest, dass sie sich erneut umgezogen hatte. Nun trug sie ein wie üblich kurzes, weißes Kleid. In der braunen Mähne saß ein ebenfalls helles Haarband. Ein goldener Reif, der einer Schlange ähnelte, saß um ihren Oberarm. Ihre Augenlider hatte sie schwarz nachgezogen. Ein ebenfalls weißer Umhang wallte von ihren Schultern. „Können wir dann?“, keuchte sie, als wäre sie es gewesen, die die ganze Zeit gewartet hatte. Seto verkniff sich einen Kommentar und erwiderte stattdessen nur ein Nicken. Gemeinsam verließen sie den Palast und wanderten durch die Straßen der Stadt, die zu erwachen begannen. Tagsüber mieden auch die Ägypter die Sonne. Sobald sie verschwand, erblühte das Leben. Nun, da es kühler war, war es leichter, Tätigkeiten nachzugehen. Oder sich einfach nur zu treffen und zu plaudern. So fiel nicht wenigen auf, wer da durch die Masse schritt. Überall wurden Rufe laut. Und auch, wenn das Treiben auf den ersten Blick fröhlich erscheinen mochte, so war die Angst, die in den Herzen der Menschen saß, doch deutlich zu spüren. Sie fürchteten um ihre Häuser, ihr Hab und Gut, ihre Heimat... und ihr Leben. „Der Pharao! Verneigt euch vor unserem Herrscher, Sethos III.!“ Wo er hinsah, fielen Menschen auf die Knie und neigten das Haupt. Für ihn war dieser Anblick nie ungewöhnlich gewesen. Er war von klein auf mit dieser Art der Ehrerbietung aufgewachsen. Mana hingegen hüpfte kaum merklich von einem Bein auf das andere. Es schien ihr unangenehm zu sein, neben Seto herzulaufen und ebenfalls den einen oder anderen Gruß zugesprochen zu bekommen. Nervös hob sie hier und da die Hand. „Hör' auf“, zischte ihr Seto schließlich zu. „Tu' wenigstens so, als würdest du es gar nicht merken.“ Mana sah ihn verwundert an, bemühte sich dann jedoch, seiner Aufforderung folge zu leisten. Als sie in die Nähe eines Stadttors kamen, eilte ihnen ein Wachmann entgegen. Er verneigte sich tief vor Seto, ehe er berichtete. „Mein Pharao. Caesians Truppen scheinen einige Feierlichkeiten in ihrem Lager abzuhalten. Wir konnten weit und breit keinen einzigen Wachposten entdecken.“ Dem amtierenden Herrscher schoss durch den Kopf, dass sich der Feind seiner Sache wohl sehr sicher sein musste, wenn er sein Lager des nachts unbewacht ließ. Doch es sollte ihm nur recht sein. So würden sie unbemerkt in die Wüste hinaus gehen können. Warte nur, Caesian... das Feiern wird dir bald vergehen..., dachte er mit einem leichten Schmunzeln. „Eure Leibgarde steht bereit, unsere Späher haben Position bezogen. Sollte auch nur ein Krieger unseres Gegners das Lager verlassen, werdet ihr es umgehend merken und in die Stadt zurückkehren können.“ Zudem konnte die Stadt auf dieser Seite vom feindlichen Lager aus nicht eingesehen werden. Es bestand zwar noch immer die Möglichkeit, dass fremde Späher sie beobachteten, doch bis diese Verstärkung geholt hatten, wären sie längst wieder außer Reichweite. Sofern Anubis sein Versprechen hielt, und Atemu tatsächlich bei Sonnenuntergang auftauchen würde. Sie warteten bis zum letzten Moment, dann gab Seto den Befehl, das Tor zu öffnen. Umringt von der königlichen Leibgarde schritten sie aus der Stadt hinaus. Gras und Sand raschelten unter seinen Füßen, als er in die Wüste hinaus schritt. Der Stelle entgegen, an der die Sonne jeden Augenblick die Erde berühren würde. Er glaubte fast, Manas Herzschlag hören zu können. Oder war es sein eigener? Es wäre möglich. Zu viel stand auf dem Spiel. Es musste funktionieren. Und immerhin erwartete er nicht irgendjemanden. Mein Cousin..., schoss es ihm durch den Kopf. Schließlich gab er die Anweisung, stehen zu bleiben. Von hier aus hatten sie, soweit das Auge reichte, das Land im Blick. Mitten im unendlichen Wüstensand erstreckten sich die Leben spendenden Fluten des Nil. Üppige Vegetation spross zu beiden Seiten des Flusses. Das rote Licht der Sonne ließ die Wüste wie ein Meer aus Magma erscheinen. Und auch, wenn ihn das Leuchten blendete, so konnte er den Blick nicht von der gleißenden Scheibe wenden, die immer weiter dem Horizont entgegen sank. Nur noch wenige Augenblicke, dann würde es so weit sein. Dann würde die Sonne in die Unterwelt eintauchen. Er ballte die Hände zu Fäusten. Lass' uns nicht im Stich!, schickte er ein stilles Stoßgebet zu dem Gott, der ihn angehört hatte. Ich flehe dich an... Die Sanddünen begannen, die grelle Scheibe zu verschlucken. Als sei die Erde ein lebendiges Wesen, vertilgte sie die Sonne auf's Neue, verbannte sie in die Unterwelt. Dann geschah es. Der Horizont begann, zu verschwimmen. Wie eine Fata Morgana mutete das Bild an, welches sich ihnen nun bot. Man hätte meinen können, es sei Wasser, dass fern aller physikalischen Gesetze in der Luft vibrierte. Sand und Himmel verschmolzen ineinander, umgeben von dem roten Glühen der untergehenden Sonne. Sie tanzten umeinander, als kämpften sie um die jeweilige Vorherrschaft. Setos Augen weiteten sich plötzlich. Dort, in mitten dieser Fata Morgana, erschien eine Gestalt. Noch war sie zu weit weg, um sie erkennen zu können. Doch für den Pharao bestand kein Zweifel. Es war Atemu. Mit wankenden Schritten lief er über den Wüstensand. Mana schüttelte ungläubig den Kopf. Es war tatsächlich wahr. Anubis hatte seine Kräfte genutzt und ihre Bitte erhört. Das dort war er. Der ehemalige Pharao Ägyptens, der das Land schon einmal vor großer Pein bewahrt hatte. Ihr Kindheitsfreund, der ihr soviel bedeutete, den sie so unendlich vermisst hatte. Der einzige, der ihr geblieben war, nachdem Mahad... Tränen rannen ihr Gesicht hinab, als sie los stürmte. Sie konnte nicht länger an sich halten. Dieser Moment war zu unglaublich, als dass sie eine Maske tragen wollte, die bescheide Freude vorgaukelte, wo unbändige Erleichterung herrschte. Der Sand knirschte unter ihren Füßen, während sie über ihn hinweg rannte. Längst hatte sie begonnen, seinen Namen zu rufen. Dann endlich fiel sie ihm um den Hals. Seine Haut war kalt, doch Mana war sich sicher, dass sie es bald nicht mehr sein würde. Sie schluchzte unter der Berührung, der ihr abermals verdeutlichte, dass sie nicht träumte. Als sie sich wieder von ihm löste, blickte sie in glasige Augen, die noch nicht realisiert hatten, was geschehen war. „Du bist wieder da...“, flüstere sie. Einen Moment lang schien es, als habe er sie nicht verstanden. Dann umspielte ein zaghaftes Lächeln Atemus Mundwinkel. „Ja... ich weiß...“ Mana schluchzte ergriffen, dann warf sie sich erneut um den Hals des ehemaligen Pharao. Es hatte lange gedauert, zu lange, bis sie endlich hatte akzeptieren können, dass er nicht mehr da war. Sie hatte ihm seine Ruhe gegönnt, zweifellos. Aber dennoch war es ein Verlust gewesen, ihn ins Totenreich gehen zu lassen. Sie war zu überwältigt von dem Augenblick, als dass sie gemerkt hätte, wie Seto neben sie trat. Erst als sie spürte, wie Atemu den Kopf hob, löste sie sich abermals von ihm. Auf den Zügen des amtierenden Herrschers lag ein Ausdruck, den sie nicht zu deuten vermochte. War es Freude? Oder lag eine gewisse Scheu darin? Vielleicht sogar so etwas wie Nervosität? Schließlich verzogen sich Setos Mundwinkel zu etwas, das man als Lächeln bezeichnen konnte. „Willkommen zurück“, sagte er mit einer Stimme, die nicht annähernd so fest war wie sonst. Ein Nicken Atemus, dann ein gemurmelter Dank, ehe die Stimme eines Soldaten sie alle aus den Gedanken riss. „Pharao Sethos! Es scheint, als wären weitere Menschen gekommen!“ Etwas auf Setos Zügen sagte Mana, dass er nicht annähernd überrascht war, dies zu hören. Sie war es dafür umso mehr. Als sie dorthin blickte, wo Atemu her gekommen war, entdeckte sie in all dem Flimmern tatsächlich zwei Gestalten, die regungslos am Boden lagen. Und eine davon jagte ihr einen eiskalten Schauer den Rücken hinab. Wie war das möglich? „Aber... das ist doch...“ Verständnislosigkeit lag in ihren Augen geschrieben, als sie den Kopf ruckartig zu dem amtierenden Herrscher umwandte. Doch dieser mied ihren Blick. Stattdessen erteilte er einen Befehl, der verriet, dass er mit einem derartigen Ereignis gerechnet hatte. „Nehmt sie mit. Sie kommen vorerst im Kerker unter. Bis ich weiß, was ich mit ihnen machen möchte.“ Kapitel 3: Ich lebe... ---------------------- Ich lebe... Langsam öffnete er die Augen. Doch kaum hatte er die Lider mühsam auseinander geschoben, presste er sie wieder zusammen. Es war zu hell. Eine ganze Weile brauchte er, bis er sich an das Licht gewöhnt hatte. Zu lange hatte ihn die Finsternis umschlossen. Die ewige Finsternis, die ihm nach so langer Suche Ruhe gegeben hatte. Er drehte den Kopf zur Seite. Die Sonne verriet ihm, dass der Tag bereits bis zur Mittagszeit voran geschritten war. Hatte er früher auch immer so lange geschlafen? Nein, es war wohl die Erschöpfung, die ihn solange hatte ruhen lassen. Aber der Schlaf hatte gut getan und seine Wirkung nicht verfehlt. Gestern Abend noch hatte er sich völlig ausgelaugt, beinahe krank gefühlt. Jetzt war es nicht anders als sonst. So wie damals, als er gelebt hatte. Leben... ja, er war tatsächlich wieder am Leben. Zunächst war es ihm wie ein Traum vorgekommen, als er vor Anubis getreten war. Die Worte des Gottes hatten seine Ohren erfüllt, doch seinen Kopf nicht erreicht. Er hatte eine Weile gebraucht, bis ihm klar geworden war, worum es ging. Doch dann hatte er ohne großes Überlegen zugestimmt. Ihm wäre nie eingefallen, die Bitten seiner Freunde und des ägyptischen Volkes auszuschlagen. Es lag nicht in seiner Natur, die Hilfe in der Not zu verweigern. Er wusste nicht, was genau vorgefallen war- Anubis hatte sich kurz gefasst- doch wenn ein Gott selbst einen Toten zu sich rief, um ihm eine Bitte aus dem Diesseits zu überbringen, dann konnte es sich nicht um eine Lappalie handeln. Egal, was es war, Ägypten musste in großen Schwierigkeiten stecken. Vorsichtig setzte er sich auf. Der Schwindel, den er befürchtet hatte, blieb aus. Er fühlte sich tatsächlich genau so fit, wie eh und je. Trotzdem blieb er vorsichtig, als er sich daran machte, aus dem Bett zu steigen. Man konnte ja nie wissen... Als er dann doch sicher auf seinen Füßen stand, ging er zu dem großen Balkon hinüber, der an das Zimmer grenzte. Die Strahlen der Sonne fielen warm auf seine Haut, während sie seine Augen zunächst blendeten. Der immer währende Wind durchfuhr seine Haare. Er hörte die Geräusche der Stadt, die niemals verstummten. Doch sie waren anders als sonst. Atemu glaubte regelrecht zu spüren, wie ihnen jegliche Heiterkeit fehlte. Was war hier nur geschehen? Für einen Moment schloss er die Lider und genoss die Wärme, sowie die Brise auf seiner Haut. Seto würde ihm die Antworten geben können, nach denen er verlangte. Er wandte sich um und verließ das Zimmer. Der Palast war noch genau so, wie er ihn in Erinnerung hatte. Mächtig und prunkvoll zogen sich die langen Korridore dahin. Als ihn einer der Wächter, die vor seinen Räumen aufgepasst hatten, gewahrte, verneigte er sich sofort tief. Atemu gebot ihm mit einer Handgeste, aufzustehen. „Wo finde ich den Pharao?“, war die schlichte Frage. Sein Gegenüber schien erstaunt, dass dies so einfach über seine Lippen gekommen war. Gewiss war es eigenartig, nicht mehr selbst diesen Titel zu tragen, nachdem er so lange Zeit selbst auf diese Weise angesprochen worden war. Doch es macht ihm auch nichts aus. Er war noch nie jemand gewesen, dem Ruhm und hochrangige Bezeichnungen allzu viel wert gewesen waren. Als der Mann meinte, Seto hielte sich in seinen Gemächern auf, bedankte sich Atemu und lief den Gang hinab. Als wäre es erst gestern gewesen, fand er seinen Weg durch die Hallen und Flure. Nichts hatte sich verändert. Wieso sollte es auch anders sein? Menschen wurden geboren und starben. Ebenso verhielt es sich mit den Pharaonen. Auch an ihnen ging der Tod nicht vorüber oder war anders, als bei gewöhnlichen Bauern oder Händlern. Ihm kam ein Sprichwort in den Sinn, das er noch aus seiner Zeit als Geist des Milleniumspuzzles kannte. Im Angesicht des Todes sind alle gleich... Wie zutreffend diese Zeilen doch waren. Er erreichte den Gang, von dem er wusste, dass an seinem Ende Setos Gemächer lagen. Schon von weitem konnte er deutlich die wütende Stimme einer Frau vernehmen. Als er sein Ziel fand, wusste er auch, weshalb. Die Tür zu den Kammern des amtierenden Pharao stand offen. Nun erkannte er auch, wer da schimpfte. Es war Mana. Im Türrahmen blieb er stehen. Der Magierin gegenüber befand sich Atemus Cousin, dessen Gesicht kenntlich machte, wie genervt er war. Die Arme hatte er vor der Brust verschränkt. „Du hättest es mir sagen müssen! Ich meine, was soll das? Zuerst helfe ich dir- wohlgemerkt war ich die Einzige, die dir helfen konnte!- und dann hintergehst du mich?“ „Ich habe dich nicht hintergangen“, entgegnete Seto kühl. „Ich habe dir lediglich ein paar Details erspart.“ „Ein paar Details? Details?“ Das letzte Wort hatte Mana beinahe geschrien. „Du tust gerade so, als sei es eine Belanglosigkeit, dass Bakura wieder aufgetaucht ist! Und nicht nur er alleine! Ich habe zwar keine Ahnung, inwiefern dieser Marlic, oder wie er sich nennt, Atemu auf die Nerven gegangen ist, aber er wird seine Gründe gehabt haben, diesen Kerl über den Jordan zu schicken! Der Typ kann nicht normal sein! Er ist geisteskrank! Alleine die Tatsache, dass er schon wieder quicklebendig durch die Gegend läuft, spricht für sich! Oder wie würdest du jemanden bezeichnen, der, kaum dass er wohlgemerkt aus dem Totenreich zurück gekehrt ist, beginnt, den halben Harem des Pharao anzugraben?“ „Lass' ihn doch. An den meisten dieser Frauen hege ich sowie so kein Interesse“, erwiderte Seto ungerührt. „Solange das alles ist, was er tut...“ „Und selbst wenn er nichts im Schilde führt, bleibt da immer noch Bakura!“ Atemu konnte förmlich hören, wie der Geduldsfaden seines Cousins riss. Es wurde Zeit, dazwischen zu gehen. „Pass mal auf, Mana! Vor den Toren Men-nefers steht eine Armee! Ich glaube kaum, dass dies ein Problem ist, mit dem sich der Faktor Bakura auch nur annähernd messen könnte! Ihn hat Atemu bereits einmal in die Knie gezwungen!“, schallte Setos Stimme durch den Raum, doch die Magierin blieb unbeeindruckt. „Wenn ich dich erinnern darf: Er hat ihn in die Knie gezwungen, ja. Aber unter verdammt hohen Verlusten! Wie konntest du dich nur auf so einen Kuhhandel einlassen? Wir wollten Atemu zurück haben, nicht auch noch diese beiden Spinner!“ „Weil es unsere einzige Chance war, wann begreifst du das endlich? Was glaubst du, wie hoch die tägliche Sterberate erst sein wird, wenn wir Caesian nicht...“ Seto brach mitten im Satz ab, als er Atemus Erscheinen wahrnahm. Auch Mana wurde schlagartig still. Ein Nicken von Seiten des amtierenden Pharao war die Einleitung, die die drückende Stille wieder durchbrechen sollte. „Seid gegrüßt, mein König. Bitte verzeiht, dass ihr diese Entgleisung mitanhören musstet.“ „Nicht der Rede wert“, erwiderte Atemu mit einem freundlichen Lächeln. Beinahe hätte er sich ein Grinsen nicht verkneifen können. Er wusste genau, dass es Mana weniger darum ging, dass Bakura oder Marlic aufgetaucht waren, sondern viel mehr darum, dass Seto sie vorab nicht darüber in Kenntnis gesetzt hatte. Er kannte sie einfach schon zu lange, um dies nicht zu bemerken. „Wie geht es euch, mein Pharao?“, kam schließlich die Frage von Seiten der jungen Magierin. „Mir geht es prächtig. Als hätte ich diese Welt nie verlassen“, antwortete Atemu freundlich. „Doch der Titel den du mir soeben gegeben hast, gebührt nun Seto alleine.“ „Nicht mehr“, mischte sich Besagter ein. „Ihr seid zu uns zurück gekehrt, mein König. In der Stunde schwerster Not. Das Volk hat längst davon Kenntnis genommen, dass ihr wieder heimgekommen seid. Wenn man so will, war ich nur euer Statthalter. Dieser Titel ist nun nicht mehr der meine. Sondern der seines rechtmäßigen Trägers.“ Wie um seine Worte zu unterstreichen, sank Seto auf die Knie hinab. „Doch es würde mich freuen, dürfte ich weiterhin im Amt des Hohepriesters zu euren Diensten sein, mein Gebieter.“ Atemu zeigte sich zunächst erstaunt. Bis ihm klar wurde, dass er hier wieder zwei Persönlichkeiten durcheinander brachte. Er hatte hier seinen Cousin vor sich, nicht Seto Kaiba, den Chef der gleichnamigen Kooperation aus dem 21. Jahrhundert. Diesem wäre nie im Traum eingefallen, vor Atemu nieder zu knien. Nicht um alles in der Welt. Nachdem sich die anfängliche Verwunderung des jungen Königs gelegt hatte, bedeutete er seinem Verwandten, sich zu erheben. „Selbstverständlich werdet ihr euer Amt beibehalten, Seto. Ich wüsste nicht, weshalb ich euch dies verwehren sollte. Voraus gesetzt ihr seid bereit, mir zu erklären, was vorgefallen ist, Cousin.“ Er sah die Augen des Hohepriesters kurz aufblitzen, als er das letzte Wort betonte. Dann folgte erneut ein Nicken. „Setzt euch“, forderte er die beiden Besucher seiner Gemächer auf und bot ihnen einen Platz am großen Tisch des Zimmers an. Einen Diener wies er an, Tee zu bringen. Erst, als das heiße Getränke gebracht worden und der Mann wieder verschwunden war, begann Seto zu berichten. „Vor zwei Mondläufen stand plötzlich diese Armee vor unseren Toren. Zunächst sah es aus, als wäre es ein gewöhnlicher, kläglicher Versuch, die Macht über Ägypten an sich zu reißen. Der Feldherr dieser Truppen ist Caesian, der Herrscher eines Landes im Westen, das als verarmt gilt. Des Weiteren scheinen sämtliche Gesetzte dort mehr Zierde als ernst gemeinte Regeln zu sein. Alles in allem also ein Ort, über den niemand regieren möchte. Doch das Volk trägt dabei keine Schuld. Allein Caesians Tyrannei kann dafür zur Rechenschaft gezogen werden.“ Atemu nickte immer wieder, um seinem Gegenüber zu verdeutlichen, dass er ihm folgen konnte. Seto fuhr indes fort. „Jedenfalls glaubten wir an einen einfachen und schnellen Sieg. Doch diese Illusion wurde bald zerstört. Wir zogen mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung standen, gegen Caesian. Ohne Erfolg. Sämtliche Truppen und auch unsere Ka-Bestien wurden zurück geworfen. Mit Mühe und Not gelingt es uns seitdem, die Stadt zu halten. Sämtliche Dörfer in der Umgebung sind geräumt, die Menschen hier her gebracht worden. Damit sie in Sicherheit sind.“ Der Hohepriester hielt einen Moment inne, ehe er weiter sprach. „Bitte verzeiht, dass wir kein Fest zu euren Ehren ausrichten ließen. Doch unsere Vorräte sind leider... etwas erschöpft...“ Er schluckte merklich, als dieses Eingeständnis über seine Lippen kam. Was sollte Atemu nur von ihm denken? Er hatte sein Amt in Setos Hände gelegt, in dem Glauben und in dem Vertrauen, dass er ihm ein würdiger Nachfolger sein würde. Und er hatte diese Erwartungen nicht annähernd erfüllen können. Er hatte versagt. Beinahe wäre ihm die Schamröte ins Gesicht gestiegen. Sein Stolz war tief verletzt, pulsierte wie eine offene Wunde auf seiner Seele. Das ganze nun auch noch in Worte fassen zu müssen, machte es nicht besser. Wie erstarrt saß er da und wartete auf Atemus Reaktion. Als er einen scheuen Blick in Richtung des Pharao warf, weiteten sich seine Augen. War das ein Lächeln auf seinem Gesicht? Wenn ja, warum fehlte ihm dann jeglicher Hohn, jede Ironie? Warum strahlte es so eine ungeheure Wärme und ein tiefes Verständnis aus? Schließlich legte sich auch noch eine Hand auf die Schulter des Hohepriesters. „Macht euch keine Sorgen, Seto. Wir werden die Feierlichkeiten einfach nachholen, sobald dieser Caesian verschwunden ist. Manchmal ist eben nicht der richtige Zeitpunkt für ein Fest.“ Das Volk hatte sich in dem jungen König keineswegs getäuscht. Die Güte war wahrlich sein zweiter Vorname. „Wie viele Soldaten sind uns noch geblieben? Wie haben sich die Kämpfe genau zugetragen?“, waren die nächsten Fragen Atemus. Seto holte einige Schriftrollen hervor. Sie enthielten allerlei Aufzeichnungen über den Verlauf der Schlachten. Jede Einzelheit konnte der entscheidende Hinweis sein. Dies würde gewiss ein langer Abend werden... Gerade, als der Hohepriester mit den näheren Ausführungen beginnen wollte, eilte ein Mann in das Zimmer. Ein Wachtposten, wie es schien. „Majestät? Irgendetwas ungewöhnliches ereignet sich im Westen!“ Regungslos lag er am Boden. Längst hatte er sein Bewusstsein wieder erlangt. Doch er bewegte sich nicht. Dachte nicht einmal daran. Es fühlte sich zu unwirklich an, um wahr zu sein. Der kalte Stein, der ihn selbst durch den Mantel hindurch noch frösteln ließ. Der raue Sand unter seinen Händen. Die Luft, die modrig in seine Lungen strömte. Die Geräusche der Wachen, die auf dem Gang auf und ab gingen. Sein Blick war starr an die Decke der bewachten Kammer gerichtet. Er hatte es noch immer nicht verstanden. Irgendwie entzog sich die gesamte Situation seinem Denkvermögen. Jedes Mal, wenn er glaubte, einen Faden gefunden zu haben, verlor er ihn sogleich wieder. Wie war es nur möglich? Wie konnte er wieder am Leben sein? Warum hatte Anubis ausgerechnet diese Bedingung an die Wiedergeburt des Pharao geknüpft? In seinen Augen war es nicht logisch. Beinahe regte sich so etwas wie Wut in ihm. Hatte ihn der verdammte Schakalkopf überhaupt gefragt, ob er wieder leben wollte? Nein, natürlich nicht! Der Kerl war ja auch ein Gott! Götter entschieden einfach, sie fragten nicht. Und genau das war es, was ihn ankotzte. Er hasste es, wenn man über seinen Kopf hinweg entschied. Allgemein konnte er es nicht leiden, wenn irgendetwas anders eintrat, als er es gewollt hatte. Das war schon zu oft geschehen. In seinem... anderen Leben? Die Bezeichnung war seltsam. Er hörte, wie sich die Wachen auf dem Flur unterhielten, dann pochte es an der Türe. Noch ehe er irgendwie reagiere konnte, wurde die Klinke herunter gedrückt. Desinteressiert sah er zur Seite. Und konnte sich einen genervten Laut nicht verkneifen. „Auch das noch“, murmelte er und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. „Hallo Kuralein...“, drang die feixende Stimme an seine Ohren. Er verdrehte instinktiv die Augen. „Was willst du?“ „Hey, nicht so unfreundlich! Draußen scheint die Sonne, es ist ein herrlicher Tag. Und du vegetierst hier in diesem Loch vor dich hin.“ Marlic war neben ihm auf die Knie gegangen und musterte ihn mit diesem hässlichen Grinsen, dass der Grabräuber auf den Tod nicht ausstehen konnte. „Dabei war der Pharao gar so nett und hat uns weitaus hübschere Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt. Von der dauerhaften Bewachung durch irgendwelche unterbezahlten Idioten mal abgesehen. Wie konntest du dieses nette Angebot nur ausschlagen? Mein Zimmer hat sogar Fenster mit Blick auf den Nil.“ „Weil ich kein Speichellecker bin, ganz einfach“, knurrte Bakura, ehe er seine Muskeln wieder entdeckte und sich stöhnend aufsetzte. Die Knochen taten ihm vom harten Boden weh. „Mein lieber Kura. Jetzt tust du mir aber unrecht.“ „Ach ja? Und wieso tue ich das deiner Meinung nach?“ „Du unterstellst mir, ich würde zu Füßen des ach so göttlichen Pharao kriechen. Dabei ziehe ich lediglich meine Vorteile aus der derzeitigen Situation.“ „Inwiefern?“ „Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest: Wir sind nicht mehr im Besitz unserer Milleniumsgegenstände“, begann Marlic zu erklären. „Ach, was du nicht sagst!“, kommentierte Bakura, ehe er sich wieder in eine liegende Position sinken ließ. Konnte ihn dieses Individuum nicht endlich wieder alleine lassen? „Ja, stell dir vor. Wir haben sie nicht mehr. Das bedeutet, wir sind derzeit so etwas wie ganz gewöhnliche Sterbliche. Einmal davon abgesehen, dass wir vor einem Tag aus dem Reich der Toten zurückgekehrt sind“, fuhr der andere jedoch unbeirrt fort. „Und bis sich das ändert, müssen wir eben das beste aus der Situation machen. Zumindest ich kann mich darüber bislang auch nicht beklagen. Der gute Seto scheint sich nicht wirklich für uns zu interessieren. Bislang konnte ich alles tun und lassen, was ich wollte. Aber gut, es ist nur zu verständlich, dass er momentan besseres zu tun hat. Ich meine, es steht eben nicht jeden Tag eine Armee vor den Toren der Hauptstadt Ägyptens.“ Bakura wurde hellhörig. „Eine Armee?“ „Ja. Irgendein Kerl namens Caesian oder so. Die ganze Stadt ist abgeriegelt. Aber warte nur. Wenn der Pharao den Typ in den Boden gestampft hat, und die Wege wieder frei sind, dann verdufte ich und mach' mir ein schönes, zweites Leben unter der ewigen Sonne.“ Der Grabräuber zog eine Augenbraue nach oben, dann drehte er sich desinteressiert auf die Seite. Kurz darauf spürte er, wie ihn Marlic piekte. „He, nicht schlafen! Los, lass uns gehen, mir ist langweilig. Ich hab' da ne' echt nette Absteige in der Stadt gefunden. Die haben sogar noch Bier. Komm' schon, ich lade dich auch ein. Wir könnten das Kriegsbeil begraben, das sich während Battle City zwischen uns aufgetan hat.“ „Wenn du dem Pharao in den Hintern kriechen willst, bitte. Ich bleib' hier.“ Der Grabwächter verzog das Gesicht. „Ich habe dir doch gerade eben erklärt, dass ich nicht...“ „Ist mir egal! Du strapazierst meine Nerven. Scher' dich endlich zum Teufel...“ Für einen Augenblick sah Marlic aus, als würde er platzen. Dann erhob er sich ruckartig, wobei er einen letzten, beleidigten Ton von sich gab, und verschwand. Bakura blieb allein zurück, beschäftigt mit seinen Gedanken. Kapitel 4: Sandsturm -------------------- Sandsturm Der Wind peitschte um ihn herum. Die Sandkörner brannten unerbittlich in seinen Augen. Immer wieder fiel er auf die Knie, wenn er über die eigenen Füße stolperte. Er versuchte etwas zu sehen, hielt die Arme verschränkt vor das Gesicht. Doch der Sandsturm war zu stark, er konnte kaum die Hand vor Augen erkennen. Verdammt... was ist hier los?, schoss es ihm durch den Kopf. Plötzlich drang die Stimme einer seiner Freunde an seine Ohren. „Joey? Joey, bist du das? Wo bist du?“, brüllte er, doch die Worte wurden vom Wind verschluckt. Kurz darauf wurde er zur Seite gestoßen, als jemand blind in ihn hinein lief. Er fand sich mit der anderen Person auf dem Boden wieder. „Yugi?“, fragte es irgendwo zwischen den tausenden Sandkörnern, die durch die Luft gewirbelt wurden. Auch, wenn sein Gegenüber jetzt direkt vor ihm hockte, er konnte Tea alleine an ihrer Stimme erkennen. „Wo sind die anderen?“, fragte er. „Ich weiß es nicht. Ich glaubte, ich hätte Joey gehört. Stattdessen habe ich dich gefunden“, erwiderte da Mädchen, indem sie so laut schrie, wie sie konnte. Anschließend spuckte sie mehrmals aus, um die feinen Körner aus ihrer Kehle zu verbannen. „Ich habe auch geglaubt, ich hätte ihn gehört“, erwiderte Yugi. „Und die anderen? Wo sind Ryou und Marik? Und wo sind wir hier eigentlich? Wo ist der Park?“, kam es von Tea. Das Tosen des Sturmes erfüllte ihre Ohren und machte die Kommunikation schwierig. „Keine Ahnung! Wir müssen versuchen aus diesem Unwetter heraus zu kommen! Dann wissen wir vielleicht mehr.“ Sie nahmen sich an den Händen, um einander nicht im Treiben der Sandkörner zu verlieren. Während sie versuchten, sich in einer Richtung aus dem Sturm heraus zu kämpfen, schossen Yugi tausende Gedanken durch den Kopf. Gerade eben war er noch mit Tea, Joey, Marik und Ryou im Park gewesen. Sie hatten gemeinsam den Beginn der Sommerferien genießen wollen. Dann war es vor seinen Augen schwarz geworden. Als er wieder zu sich gekommen war, hatte ihn bereits eine dünne Schicht Sandkörner bedeckt. Der Wind hatte an seiner Kleidung gezerrt. Irgendetwas stimmte hier nicht. Er war sich absolut sicher. Sie befanden sich nicht mehr in Domino City. „Tea?“, brüllte er durch den Sandsturm. „Kannst du dich daran erinnern, ob du plötzlich einen Blackout hattest? Ob dir schwarz vor Augen geworden ist?“ „Ja, so war es. Ich bin erst in diesem Unwetter wieder zu mir gekommen. Du etwa auch?“ „Jep, mir ging es genau so.“ Irgendwo zu ihrer Rechten hörten sie plötzlich leise Rufe. Beide versuchten, etwas zu sehen, doch es war vergeblich. Sie begannen, im Chor zu rufen, der anderen Stimme irgendwie den Weg zu weisen. Und es gelang tatsächlich. Kurz darauf stolperte Marik in sie hinein. „Verdammt, was ist hier los?“, waren die ersten Worte des Ägypters. „Wir haben keine Ahnung. Aber wir sollten versuchen, irgendwie hier rauszukommen!“ Doch Tea meldete erste Bedenken an. „Was ist mit Joey? Und Ryou? Was ist, wenn sie auch in diesem Sturm gelandet sind?“ „Sie werden bestimmt auch versuchen, einen Ausweg zu finden! Sie zu suchen wäre bei dieser Sicht absolut sinnlos!“, erwiderte Marik. „Er hat recht. Sie...“ Weiter kam Yugi mit seiner Antwort nicht. Ein Glühen in mitten der tausend Sandkörner ließ die drei jungen Erwachsenen herum fahren. Es bahnte sich einen Weg durch den dichten Staub, wurde immer heller. Der grüne Schein näherte sich ihnen. „Bei allen Göttern. Was ist das?“ Mariks gemurmelte Worte wurden vom Sturm verschluckt. Wo zum Teufel... nein. Je öfter er sich auch diese Frage stellte, er würde keine Antwort darauf finden. Das nagende Gefühl, dass etwas Gefährliches vor sich ging, machte sich für wenige Sekunden in ihm breit. Doch als das grelle Licht sie plötzlich einhüllte, verschwand es sofort wieder. Das Tosen des Sandsturmes legte sich, schwand zu einem leisen Rauschen, das weit entfernt schien. Die Körner hörten auf, sich in seine Haut zu bohren, auf sie einzupeitschen, wie tausende Nadeln. Auch Yugi und Tea wurden augenblicklich von dem Martyrium erlöst, das sie umgeben hatte. Die Freunde wechselten kurz nervöse Blicke, ehe sie wieder zu der Quelle des Glühens hinsahen, die sich immer weiter auf sie zu bewegte. „Hallo? Ich das wer?“, rief der Kleinste von ihnen, dessen Stimme nun wieder deutlich zu vernehmen war. Seine Züge waren angespannt. Was mochte sie wohl erwarten? War es ein Mensch? Oder doch etwas ganz anderes? Jedenfalls hatte keiner von ihnen mit dem gerechnet, was sich plötzlich aus dem gleißenden Licht heraus schälte. Das blonde Haar fiel in einer wilden Mähne unter dem spitzen Zaubererhut hervor, der sich dem Rücken entgegen krümmte. Die blaue Rüstung hüllte die Brust ein, ließ Bauch und Schultern jedoch frei. Statt eines rosafarbenen Rocks war nun ein langer, dichter Schleier der selben Farbe um die Hüfte geschlungen. Die blauen Armschienen umschmeichelten die Haut vom Handgelenk bis zum Ellenbogen hinauf. Die Füße waren nackt, lediglich einige goldene Bänder hingen um die Knöchel. Grüne, freundliche Augen musterten sie erstaunt. „Aber... du bist doch...“, begann Tea, ehe Yugi den Satz für sie beendete. „... das schwarze Magiermädchen!“ Das Wesen beäugte sie jetzt neugierig. „Mein Name ist Darla“, erklang schließlich die melodische Stimme. „Ich kenne euch. Ihr seid Freunde des Pharao.“ „Des Pharao? Du sprichst von Atemu, oder?“, erwiderte Yugi aufgeregt. Konnte es etwa sein, dass sie...? „Ja, ich sprechen von dem großen Herrscher, der Zorc einst in die Knie zwang. Auf seinen Geheiß bin ich hier her gekommen. Er nahm eine Präsenz in diesem Toben wahr, die ihm bekannt erschien. Nun wissen wir auch, warum er dies fühlte.“ Tea stutzte. „Moment... soll das etwa heißen, wir sind hier im Reich der Toten?“ Das Magiermädchen wandte ihr den Blick zu. Ein Lächeln lag auf den rosigen Lippen. „Oh nein, keineswegs. Ihr befindet euch im Lande Ägypten.“ „Was?“, kam es nun von Yugi. „Aber wie ist das denn möglich? Ich meine, wir saßen gerade eben noch in einem Park des 21. Jahrhunderts und nun sind wir hier. Wie kann das sein? Und wenn du sagst, der Pharao habe dich her geschickt... heißt das, Atemu ist wieder am Leben?“ „Wie ihr zu uns gelangt seid, vermag ich nicht zu beantworten. Doch vielleicht kann es unser König, der von den Toten auferstanden ist.“ Die Miene des Magiermädchens wirkte nachdenklich. „Doch lasst mich euch zunächst aus diesem Sturm heraus führen. Es gibt wahrlich angenehmere Orte, um derlei Unklarheiten aus der Welt zu schaffen. Folgt mir.“ Sie wandte sich um und ging in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war. Auf die Frage, ob Darla wisse, wo sich Ryou und Joey befanden, erwiderte das Wesen nur, dass man sich bereits darum kümmern würde. Es dauerte eine ganze Weile, die ihnen wie eine Ewigkeit vorkam, ehe die Sandkörner, die die schützende Hülle aus Licht umspielt hatten wie lebendige Wesen, sich endlich legten. Vor ihnen erstreckte sich nun eine unendliche Wüste im gleißenden Schein der Sonne Ägyptens. Als sie zurück blickten, konnten sie den tosenden Wind sehen, der einige Meter von ihnen entfernt inne gehalten hatte. Als stünde eine unsichtbare Mauer zwischen der Naturgewalt und den jungen Menschen. Es zuckten gar Blitze oben am Himmel. In der Ferne erkannten sie den Streifen von üppigem Grün, der die Fluten des Nil markierte. Am Horizont waren die Umrisse einer Stadt zu sehen. Ansonsten umgab sie nur eines. Sand. Tea und Yugi tauschten verwunderte Blicke. Beim letzten Mal hatte sich heraus gestellt, dass sie nur in einer künstlichen Welt als Spielfiguren benutzt worden waren. Sie konnten sich nicht erklären, weshalb, doch diesmal wirkte alles... anders. Auf eine seltsame, und irgendwie sogar beruhigende Art realer. Zugleich war dieser Gedanke jedoch auch beängstigend. Denn das würde bedeuten, sie wären wohl die ersten Menschen, die tatsächlich eine Art Zeitreise absolviert hatten. Marik wirkte nicht weniger erstaunt. „Dies ist also die Welt des Pharao?“, fragte er verdutzt, während er den Blick umher schweifen ließ. Die Umgebung unterschied sich nicht besonders von der in Ägypten im 21. Jahrhundert. „Es scheint so“, antwortete Yugi, der begonnen hatte, den Sand aus seinen Haaren zu schütteln. Er überlegte, Darla zu fragen, in welchem Jahr sie sich befanden. Doch er entschied sich schließlich für eine andere Art. „Darla? Darf ich dich fragen, welcher Dynastie der derzeitige Pharao angehört?“ Auch die Augen der beiden anderen richteten sich auf das schwarze Magiermädchen. „Der 20. Dynastie“, erwiderte sie, ohne den Blick von dem Sandsturm zu wenden, so als befürchte sie, er könne sich doch noch von der Stelle bewegen.. Marik bekam sogleich große Augen. „Aber das würde bedeuten, dass wir uns in einer Zeit befinden, die knapp dreitausend Jahre vor der unseren liegt.“ Sie tauschten besorgte Blicke. Ihre Herzen waren bang. Was ging hier vor sich? Und wo waren Joey und Ryou? Noch immer waren sie nicht aufgetaucht. „Darla? Was ist mit unseren Freunden?“, fragte Tea schließlich. „Keine Sorge. Sie werden gleich hier sein. Meine Herrin hat sie bereits gefunden“, war die angespannte Antwort. Während Marik weiterhin völlig verdutzt wirkte, kam von Yugi ein Laut, der zeigte, dass er wohl soeben etwas verstanden hatte. „Du bist Manas Ka-Bestie!“, rief er schließlich aus. Auch Tea schien ein Licht aufzugehen. Darla drehte sich halb zu ihnen um und zwinkerte. „Ja, so ist es. Ihr habt mich also doch wieder erkannt.“ Kurz darauf widmete sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Sandsturm, aus dessen tosenden Sandfluten sich jetzt mehrere Gestalten schälten. Allen voran die junge Magierin Mana, der zwei junge Männer folgten. Bei den drei Jugendlichen, die dem Unwetter bereits entronnen waren, machte sich Erleichterung breit. Sie hatte Joey und Ryou gefunden. Als die Zauberin sie entdeckte, hob sie die Hand zum Gruß. „Euch kenne ich doch!“, rief sie, während sie zu ihnen hinüber eilte. „Tea und Yugi, richtig?“ „Ja, wir sind es. Vielen Dank für eure Hilfe, ohne euch hätten wir niemals aus diesem Sturm heraus gefunden“, erwiderte der Kleinste. „Ach, nicht der Rede wert. Bedankt euch lieber bei Atemu. Hätte er nicht eure Präsenz gespürt, wir hätten es wohl für einen ganz normalen Sandsturm gehalten. Wer bist denn du, wenn ich fragen darf?“, meinte Mana schließlich an Marik gewandt. Sie beäugte ihn auf eine seltsame Art und Weise skeptisch, während er antwortete. „Gut. Tea, Yugi, Joey, Marik und Ryou... fehlt sonst noch jemand?“ „Nein, wir dürften komplett sein“, sagte Tea, während Joey und Ryou zu ihnen traten. Der Blonde versuchte, sich den Sand aus den Augen zu reiben, während er immer wieder die Frage aussprach, auf die sie alle eine Antwort suchten. Ryou hingegen rieb sich unablässig den Hinterkopf. „Hast du dich verletzt?“, meinte Marik schließlich. „Nun... nicht ganz...“, antwortete der Weißhaarige mit einem Seitenblick auf Mana. „Das tut mir wirklich, wirklich leid! Ehrlich! Aber in all dem Durcheinander habe ich tatsächlich im ersten Moment gedacht, du wärst Bakura!“ Ryou gab ein resignierendes Seufzen von sich, woraufhin Joey eine Augenbraue hochzog. „Hey, Mann, so ganz unrecht hat sie gar nicht.“ „Ist mir bewusst. Können wir das Thema jetzt bitte wechseln?“ „Ich würde vorschlagen, wir bringen euch erst einmal nach Men-nefer. Wir werden allerdings einen kleinen Umweg nehmen müssen. Darla, gehst du bitte voraus und sieht nach, ob irgendwelche Soldaten unterwegs sind?“ Die Ka-Bestie nickte, ehe sie sich vom Boden abstieß und einige Meter über dem Boden davon schwebte. „Was für Soldaten?“, fragte Yugi. Der besorgte Blick von Seiten Manas entging ihm keineswegs. „Auch das ist eine Sache, die wir vielleicht lieber im Palast besprechen sollten...“ Kapitel 5: Abscheu ------------------ Abscheu Marik fragte sich, ob er seinen Augen auch wirklich trauen konnte. Vielleicht war das Ganze hier nur ein verdammt realer Traum? Nein, dafür hatte er schon zu viele seltsame Dinge erlebt. Es war wohl doch Wirklichkeit. Direkt vor ihnen erstreckte sich der Palast von Men-nefer. Marik war nur zu gut mit der Geschichte seines Landes vertraut. Umso aufregender war es nun, dies alles direkt vor Augen zu haben. Die Menschen, die Häuser, die gewaltigen Bauten, die dem Pharao gehörten... Es war absolut umwerfend. Und dennoch entging im keineswegs, dass eine Spannung über der Stadt lag, die beinahe greifbar war. Nachdem sich der Weg nach Men-nefer hingezogen hatte, da sie einigen Soldaten aus dem Weg gehen mussten, hatte Mana doch noch begonnen, ihnen zu erklären, was derzeit vor sich ging. Sowohl er, als auch Ryou, hatten sofort in ihrem Wissen nach irgendwelchen Schriften oder Wandmalereien gesucht, die sich auf ein derartiges Ereignis beziehen konnten. Doch sie beide waren in ihren Überlegungen erfolglos gewesen. Der Weißhaarige lief neben ihm und kam ebenso wenig aus dem Staunen heraus, wie der Ägypter. Von seinem Vater hatte er nur allzu viele Rekonstruktionen alter Städte und Paläste gesehen. Doch keine einzige davon wurde der Wirklichkeit wahrlich gerecht. Immer wieder schüttelte er den Kopf. „Unglaublich...“, murmelte er unablässig. Es war atemberaubend. Yugi, Tea und Joey entging indes nicht, dass sie in ihren Kleidungsstücken auffielen. Ein Gesicht nach dem anderen wandte sich neugierig nach ihnen um, während Mana sie dem Palast entgegen führte. Es war anders als beim letzten Mal. Da hatten die Menschen hier sie nicht sehen können. Sie waren nur Spielfiguren in einer Welt gewesen, in die sie nicht gehörten. Sie hatten hier nicht existiert. Es verdeutlichte nur ihren Eindruck, dass es sich diesmal nicht um die Illusion eines Spiels handelte. „Mana?“, fragte Yugi schließlich besorgt. „Wie schlimm steht es wirklich um Ägypten?“ Zu seiner Überraschung war die Antwort unterstrichen von einem zuversichtlichen Lächeln. „Jetzt, da Atemu zu uns zurück gekehrt ist, wird Caesian bald sehen, dass er Land gewinnt. Er wird ihn in den Boden stampfen und dann haben wir endlich wieder unsere Ruhe!“ Teas Herz machte bei diesen Worten einen deutlichen Sprung. Es war so irreal... Sie waren dabei gewesen, als der Pharao die Pforte zum Totenreich durchschritten hatte. Ihnen allen hatte der 'andere Yugi' noch lange Zeit gefehlt. Er war eben ein Teil ihrer Clique gewesen. Ein elementares Mitglied, das nicht zu ersetzen war und ein Loch hinterlassen hatte, auch, wenn sie ihm seine Ruhe gegönnt hatten. Trotz der aufkeimenden Freude war ihr Herz dennoch bang. Sie hatten es schon mit den unterschiedlichsten Gegnern zu tun gehabt. Und jedes Mal, ganz gleich, wie der Kampf letztendlich ausgegangen war, waren es schwere Zeiten gewesen. Sie hatten das immer wieder durchgestanden, doch waren es stets gefährliche Situationen gewesen, in die sie sich begeben hatten. Nicht zuletzt der Kampf gegen Zorc, der zumindest auf dem irreal Spielfeld genügend Opfer gefordert hatte. Hatte sich das überhaupt auf diese Welt ausgewirkt? Hatte Shadi damals nicht gesagt, die Ereignisse müssten sich wiederholen, damit der Pharao seinen Frieden finden konnte? Und wenn es nur auf dem Feld eines RPGs geschehen war? Sie traute sich nicht, Mana direkt darauf anzusprechen. So verpackte sie ihre Frage ein wenig. „Mana? Es scheint trotzdem irgendwie so, als habe sich seit unserem letzten Treffen wenig verändert.“ Die Magierin nickte. „Nach dem Kampf gegen Zorc hatten die Menschen nur eines im Sinn. Sie wollten nach all den Kämpfen so schnell wie möglich in ihr altes Leben zurückkehren. So, als sei nichts passiert. Für die Bürger war dies auch recht einfach zu bewerkstelligen. Im Palast jedoch herrschte noch eine ganze Weile Ausnahmezustand. Nicht nur, dass Seto das Amt des Pharao übernehmen musste, auch die anderen Verluste, die wir erlitten haben, blieben noch eine ganze Weile präsent. Und einige werden wir wohl niemals vergessen“, fügte sie traurig hinzu. Tea konnte sehen, wie sich ihre Miene veränderte. Also war es tatsächlich so, wie sie gedacht hatte. Die Ereignisse hatten sich vor ein paar Jahren wiederholt. Bakura hatte damals lediglich versucht, sie zu beeinflussen, zu verändern. Also war dieses 'Spiel' doch nicht ganz so unrealistisch gewesen, wie sie geglaubt hatte. Schließlich ergriff wieder Yugi das Wort. „Du scheinst aber gar nicht allzu überrascht von unserer Anwesenheit zu sein“, meinte er an die Magierin gewandt. Diese seufzte. „In den letzten Monaten sind so viele Dinge passiert, mit denen niemand gerechnet hat. Erst Caesian, dann plötzlich die Rückkehr Atemus... man hätte sich beinahe erwarten können, dass sich diese Reihe ungewöhnlicher Ereignisse noch fortsetzen würde. Vielleicht überrascht es mich deshalb nicht so dermaßen, wie es vielleicht der Fall gewesen wäre, wärt in friedlichen Zeiten hierher zurück gekehrt. Man könnte fast sagen, dass ich seltsame Vorkommnisse inzwischen gewohnt bin. Ich meine, wer hätte schon mit der erneuten Erschütterung des ägyptischen Reiches oder der Wiederkehr eines verstorbenen Pharao gerechnet? Da mutet das Erscheinen von Leuten aus der Zukunft beinahe gewöhnlich an“, fügte sie mit einem Lächeln hinzu. „Andererseits wusste ich auch schon, was vor sich geht, ehe ich Joey und Ryou gefunden habe. Darla hatte mir bereits gesagt, dass die euch ausfindig gemacht hat. Da war ich im ersten Moment doch etwas überrascht. Im nächsten Augenblick allerdings habe ich nur den Kopf geschüttelt und mir gedacht: 'Gut. Momentan stimmt in diesem Land sowie so nichts mehr. Warum sollten also nicht auch alte Freunde von uns auftauchen, mit denen wir nie mehr gerechnet hätten?' Immerhin ist Atemu ja auch wieder da.“ „Wie hat Darla dir denn erzählen können, dass sie uns gefunden hat? Ihr habt euch doch erst wieder außerhalb des Sandsturms gesehen?“, fragte Tea. „Uns verbindet ein starkes Band, das nicht zwischen allen Menschen und ihren Ka-Bestien existiert. Sie weiß stets, was ich denke, und umgekehrt“, erwiderte die Hofmagierin. Sie erreichten das Gelände des Palastes, indem sie eines der großen, hölzernen Tore durchquerten. Marik entging dabei nicht, dass Mana ihm und Ryou immer wieder prüfende Blicke zuwarf. Anfangs ignorierte er es, doch nach einer Weile fragte er sich, was das zu bedeuten hatte. Schließlich konnte er es sich nicht mehr verkneifen und sprach sie darauf an. „Du beäugst mich die ganze Zeit so seltsam von der Seite. Und Ryou auch. Stimmt irgendetwas nicht?“ Mana blieb stehen und drehte sich zu ihnen um. Sie ließ ihren Blick erneut über die beiden jungen Männer wandern. „Bitte verzeiht dies. Ich wollte euch wirklich nicht so anstarren. Aber die Ähnlichkeit ist wirklich sehr verblüffend.“ Von Ryou war ein kaum merkliches Schlucken zu hören. Instinktiv fasste er sich an den Hinterkopf. Dann fiel ihm jedoch etwas ein. Bakura hatte in dieser Zeit gelebt. Aber der Parasit, der sich in Marik eingenistet hatte...? „Kennst du zufällig einen Marlic? Ihr seht euch nicht nur wahnsinnig ähnlich, ihr tragt sogar einen ähnlichen Namen“, fügte die Magierin schließlich hinzu. „Marlic? Nicht, dass ich wüsste. Von wem sprichst du?“, erwiderte Marik. Ein ungutes Gefühl machte sich in seiner Magengegend breit. „Ich habe euch doch bereits erzählt, dass der Pharao zu uns zurückgekehrt ist“, begann Mana zu erklären. „Das Problem war jedoch, dass Seto mir bis zu diesem Zeitpunkt eine Kleinigkeit verschwiegen hat. Atemu war nicht der einzige, der aus dem Jenseits wieder gekommen ist.“ Ryous Magen fühlte sich an, als drehe er sich augenblicklich um die eigene Achse. Er fürchtete die Worte, die die Magierin jeden Moment aussprechen konnte. „Bakura und so ein Kerl, der dein Bruder sein könnte, und sich eben Marlic nennt, sind ebenfalls durch das Tor zu uns gelangt. Wie ich erfahren habe, war dies Anubis' Bedingung, die er an die Wiedergeburt Atemus knüpfte.“ Für Marik bestand kein Zweifel, um wen es sich handeln könnte. Nur ein einziges Wesen kam dafür in Frage. Die dunkle Seite seiner Seele, die sich ihrer Zeit im Milleniumsstab manifestiert hatte. Die Verkörperung von Hass und Abscheu, der Gefühle, die einst sein Herz zerfressen hatten. Er schüttelte den Kopf. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Sie waren nicht nur in eine Zeit und an einen Ort geraten, da sich zwei Armeen gegenüberstanden, die um das Schicksal seiner- jetzt künftigen- Heimat fochten. Er war auch noch im Begriff, früher oder später diesem anderen Teil von sich, der doch wieder eine eigenständige Seele bildete, unter die Augen zu treten. Während er diese Nachricht erst einmal verarbeitete, berichteten Joey und Yugi von den Ereignissen in ihrer Zeit, da der Pharao Marlic im Battle City Turnier in die Knie gezwungen hatte und beantworteten somit Manas Frage, weshalb Atemu ihn ins Totenreich geschickt hatte. „Hey, Ryou! Ist alles okay?“, kam es plötzlich von Tea. Marik wandte sich um. Der Weißhaarige starrte stur ins Leere und begann, sich rückwärts laufend vom Palast zu entfernen. „Wo ist er?“, kam schließlich die Frage mit zittriger Stimme. „Wo ist Bakura?“, hakte er nach und sprach den Namen aus, als verbrenne es ihm dabei die Zunge. „In den Kerkern. Wir haben ihm zwar freigestellt, sich in der Stadt unter Bewachung zu bewegen, doch er hat das Angebot abgelehnt. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, er...“, setzte Mana an, doch Ryou schüttelte panisch den Kopf. „Ich gehe keinen Schritt in die Richtung, in der sich dieses Scheusal befindet! Niemals!“ „Er wird dir nichts tun können! Seine Kräfte sind nicht mehr dieselben wie früher. Sie sind geschwächt. Wenn man so will ist er ein ganz normaler Mensch! Das einzig Außergewöhnliche ist seine Ka-Bestie, aber auch die...“ „Das ist mir egal! Ich will diesen Kerl niemals wiedersehen. Macht was ihr wollt, aber ich geh' da nicht rein!“ Mit diesen Worten macht Ryou auf dem Absatz kehrt und marschierte zurück in die Stadt. „Ryou! Nun warte doch!“, rief Yugi ihm noch hinterher, doch der Weißhaarige hörte gar nicht darauf. Marik gebot ihm schließlich durch eine Handgeste, es sein zu lassen. „Geht ihr schon einmal voraus. Ich kümmere mich darum.“ „Bist du dir sicher, Alter? Ich meine, du kennst dich in der Stadt wahrscheinlich genau so wenig aus wie wir“, meinte Joey. Ein Lächeln spielte über die Lippen des gebürtigen Ägypters. „Keine Sorge. Ich glaube nicht, dass ich damit irgendwelche Probleme haben sollte. Wir sehen uns einfach später, der Palast ist ja nicht zu übersehen. Geht das in Ordnung, Mana?“ Die Magierin nickte. „Doch ich muss dich warnen. Wir befinden uns noch immer im Krieg. Im Falle eines Angriffs solltet ihr so schnell wie möglich zum Palast kommen. Und vor Einbruch der Dunkelheit solltet ihr das sowie so tun.“ „Keine Sorge, das krieg' ich hin“, antwortete Marik noch, dann eilte er Ryou hinterher, der sich schon ein gutes Stück entfernt hatte. „Es war bei ihm also ähnlich wie bei dir und Atemu“, meinte Mana schließlich nachdenklich an Yugi gewandt. „Nur, dass Bakura wirklich als Parasit bezeichnet werden kann.“ Der Kleinere nickte. Dazu brauchte er nichts sagen. Sie traf den Nagel damit zwar nicht annähernd auf den Kopf, doch er bezweifelte, dass es in Ryous Sinne gewesen wäre, hätte er das Gefühlsleben des jungen Mannes breit getreten. Er wusste, wie sehr er unter dem Ringgeist zu leiden gehabt hatte, und auch, dass sich die seelischen Wunden, die damals entstanden waren, noch längst nicht geschlossen hatten. „Können wir dann weitergehen?“, meinte Yugi schließlich mit einem Lächeln, das die trüben Gedanken vorerst vertrieb. „Ich würde Atemu wirklich gerne sehen!“ Auf Manas Nicken hin folgten sie ihr den Weg zum Palast entlang. Das Dunkel der Höhlengänge verscheuchte die Sonnenstrahlen, die soeben noch ihre Haut erwärmt hatten. Sie sah in den ersten Augenblicken kaum etwas, doch das spielte keine Rolle. Sie kannte die Tunnel nur zu gut. Jeder Stein, jede Furche war ihr vertraut. Ebenso der modrige Geruch, den die Höhlen verströmten. Hier fühlte sie sich geborgen. Zu Hause, wenn man so wollte, auch wenn dies vielleicht ungewöhnlich klingen mochte. Doch wenn Wüsten und Städte nur noch eine Gefahr darstellten, dann konnte selbst der verkommenste Unterschlupf heimisch wirken. Sie fand ihren Weg blind, bis schließlich Licht begann, die verborgenen Pfade zu erleuchten. Nun steckten Fackeln in den Wänden, deren lodernder Schein die Finsternis zurück drängte. Und schließlich wichen auch die Felswände zurück. Sie machten einer ausladenden, steinernen Halle Platz. Dutzende Menschen tummelten sich in der riesigen Höhle. Alte Männer saßen beieinander und spielten, während sie sich unterhielten. Frauen hockten in Gruppen und besserten Kleidung aus. Indes rannten Kinder umher und jagten einander durch Tunnel und um Felsen herum. Hier und da stieg der Rauch von Pfeifen auf. Allgemeines Gemurmel erfüllte den Saal. Ab und an neigten sich Häupter demütig, als sie an den Menschen vorüber ging. Sie zollten ihr Respekt. Eine Ehrerbietung, die sie sich hatte erarbeiten müssen. Umso lieber sah sie es, wenn sie auf diese Weise gegrüßt wurde.Sie durchquerte die Halle aus Stein zielstrebig und steuerte auf einen Tunnel am gegenüber liegenden Ende zu. Schließlich gelangte sie vor eine schwere Holztüre, gegen die sie mehrmals mit der Faust schlug. Als sie eine Stimme vernahm, trat sie ein. Der Mann im Inneren erhob sich, als sie näher kam. „Die Lage ist unverändert. Caesians Truppen lagern noch immer vor Men-nefer. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie wieder angreifen werden. Doch es gehen Gerüchte um“, kam sie gleich zur Sache. „Welche Gerüchte?“, fragte ihr Gegenüber. „Der ehemalige Pharao soll zurückgekehrt sein. Jener...“ Sie stockte einen Moment, ehe sie den Faden wiederfand. „Jener, der Zorc in die Knie gezwungen haben soll. Atemu.“ Der alte Mann nickte. Seine Mundwinkel, die von einem langen, grauen Bart umgeben waren, zuckten für einen Moment. „Dann erscheint ihre Situation bei Weitem nicht mehr so aussichtslos.“ „Gewiss.“ Die junge Frau seufzte. „Wisst ihr, Vater... eigentlich sollte ich voller Freude sein. Darüber, dass Men-nefer endlich fallen könnte. Aber nicht so. Dieser Mann ist wahnsinnig. Er hat keine Ahnung, wozu das Zepter in der Lage ist. Er nutzt seine Macht blind. Selbst wenn Atemu nun wiedergekehrt ist, wir müssen etwas unternehmen. Wir können nicht tatenlos dabei zu sehen, wie er mit diesem Artefakt unsere Welt bedroht. Wir dürfen uns nicht auf die Kräfte des Pharaonenhauses verlassen. Es ist zu riskant.“ Der Ältere schien zu überlegen. Doch schließlich nickte er. „Du sprichst mir aus der Seele, Kind. Wir werden etwas unternehmen. Doch wir dürfen auf keinen Fall unüberlegt vorgehen. Ich werde nicht zulassen, dass sich die unseren unnötig in Gefahr begeben. Ich werde darüber nachdenken.“ „Wie ihr wünscht, Vater“, erwiderte die Frau und wandte sich zum Gehen. Doch sie wurde noch einmal zurückgehalten. „Risha?“ „Ja?“ „Ist auch wirklich alles in Ordnung?“ In ihren fliederfarbenen Augen blitzte es kurz auf, dann zwang sie ein Lächeln auf ihre Züge. „Es ist alles gut, Vater. Wirklich. Es ist nur so schade, wisst ihr... Wäre es nicht Caesian, und hätte er insbesondere nicht das Zepter bei sich... Es wäre endlich vorbei.“ Ein wissendes Nicken des Mannes war die Antwort. Kapitel 6: Konfrontation ------------------------ Konfrontation „Ryou! Ryou, nun warte doch mal!“ Eine ganze Weile lief Marik dem Weißhaarigen nun schon hinterher. Inzwischen war er in eine Seitengasse eingebogen. Der Ägypter nutzte die Gelegenheit, schloss außerhalb des Trubels zu ihm auf und hielt ihn an der Schulter fest. „Jetzt bleib' doch mal stehen! Bitte.“ Ryou drehte sich zu ihm um und sah ihm fest in die Augen. „Wieso?“ Marik sah zum Himmel auf, dann schüttelte er kurz den Kopf. „Das ist doch albern.“ „Albern? Albern nennst du das?“, wurde der Ägypter auch sogleich angebrüllt. „Weißt du, wie ich das sehe? Als totalen Horror! Aber dass du das nicht nachvollziehen kannst, ist mir schon klar. Dir hat Bakura immerhin während Battle City beste Dienste erwiesen, nicht wahr?“ „Das ist absoluter Blödsinn. Darum geht es nicht, ich...“ „Du hast verdammt nochmal keine Ahnung! Du bist deinen Parasiten immerhin danach los gewesen. Hast du eigentlich einen Schimmer, was ich anschließend noch alles durchmachen musste?“ „Ryou, halt's Maul!“ Das hatte gesessen. Eigentlich hatte Marik nicht vorgehabt, den Weißhaarigen anzuschreien. Doch anders wäre er wohl nicht mehr zu Wort gekommen. „Du tust mir vollkommen unrecht! Weder hege ich irgendwelche Sympathien für Bakura, noch weiß ich nicht, wie es sich anfühlt, besessen zu sein. Du hast recht, nach Battle City war Marlic, wie er sich jetzt nennt, verschwunden. Dafür habe ich ihn bis dahin seit meinem sechsten Lebensjahr mit mir herum getragen. Und auch, wenn es Odeon gelang, ihn unter Kontrolle zu halten, habe ich verdammt nochmal mindestens genau so gelitten wie du!“ Ryou starrte ihn noch immer völlig perplex an. „Was ich damit sagen will...“, fuhr Marik schließlich in deutlich ruhigerem Tonfall fort. „Es bringt nichts, davor weg zu laufen. Auch ich hätte nicht damit gerechnet, mich diesem Geist noch einmal stellen zu müssen. Aber nun ist es eben so gekommen. Ich sehe es nicht als... Ironie des Schicksals. Ich sehe es als Gelegenheit, das Ganze endlich hinter mir zu lassen. Damit abzuschließen. Und dasselbe solltest auch du tun.“ Ryou sah ihn noch einen Moment an, als habe er die Worte nicht verstanden. Schließlich senkte er den Blick, als Tränen in seine Augen stiegen, und ließ sich an einer Hauswand zu Boden sinken. „Das... Marlic und du... das war etwas ganz anderes“, flüsterte er. „Inwiefern?“, hakte Marik nach. „Du hast nur unter ihm gelitten. Er hat dir nicht die Augen geöffnet.“ „Was meinst du damit?“ „Verstehst du denn nicht?“, schrie Ryou schon fast wieder. „Ich hab' es eingesehen, okay? Dass ich ohne Bakura verdammt nochmal ein Nichts bin! Er hatte vollkommen recht mit dem, was er immer zu mir sagte. Was war ich denn, bevor er in mein Leben trat? Der brave Streber, der ständig nur von allen herum geschubst wurde! Das hat erst aufgehört, als ich diesen verfluchten Ring bekommen habe!“ Er senkte den Kopf zurück auf die Knie. Die Tränen liefen über seine Wangen. Marik seufzte. „Aber Ryou. Freundlich und nicht aggressiv zu sein, ist doch keine Schande. Es gibt eben Idioten, und das überall. Gewalt war noch nie eine Lösung, ganz im Gegenteil.“ Der Weißhaarige hob zögernd den Kopf und sah ihn aus verweinten Augen an. „Hey! Glaubst du wirklich, Yugi und die anderen, mich eingeschlossen, wären mit dir befreundet, wenn du dich so verhalten würdest, wie Bakura? Ganz bestimmt nicht. Sieh' ihn dir doch an. Was glaubst du, warum er so wahnsinnig verbittert ist?“ Er beantwortete die Frage nicht selbst, sondern überließ sie Ryou. Der zögerte einen Moment, gab jedoch schließlich seine Überlegung preis. „Weil er durch seine Art nie Freunde hatte?“ „Ganz genau“, stimmte Marik mit breitem Lächeln zu. „Weil er nicht einmal den Hauch einer Ahnung hat, was dieses Wort bedeutet. Wirklich Ryou, du bist ein toller Mensch, so wie du bist. Und ich bin echt froh, dich kennengelernt zu haben.“ Marik, der auf die Knie gegangen war, erhob sich und streckte dem Weißhaarige eine Hand entgegen. „Na, was ist jetzt? Gehen wir in den Palast und sehen nach dem Pharao?“ Ryou wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, dann lächelte er. „Ja, lass uns gehen.“ Er ergriff die dargebotene Hand und ließ sich von dem Ägypter auf die Beine ziehen. Dann machten sie sich auf den Weg in den Palast. Alle drei waren ihm gleichzeitig um den Hals gefallen. Nun fand sich Atemu inmitten seiner Freunde wieder. Umringt von den Menschen, die ihm schon so oft aufopferungsvoll zur Seite gestanden waren. Ohne deren Unterstützung es ihm vielleicht das ein oder andere Mal nicht gelungen wäre, sich gegen die Mächte zu behaupten, die ihn auf den Knien sehen wollten. Während Yugi und Joey ihn einfach nur anstrahlten, standen kleine Tränen in Teas Augen. Immer wieder prasselte die Frage auf ihn ein, wie es ihm ginge, und er schlug vor, sich erst einmal in einem der großen Säle des Palastes niederzulassen. Diener brachten Tee und ein wenig Obst. „Mir geht es bestens, vielen Dank“, beantwortete er schließlich die Frage seiner Freunde. „Was mich eher überrascht hat, ist euer Erscheinen. Was ist geschehen?“ „Wir waren gerade im Park. Plötzlich wurde uns allen schwarz vor Augen, dann haben wir uns in dem Sandsturm wiedergefunden“, erklärte Joey. „Seltsam. Und ihr seid die einzigen?“, fragte Atemu. „Nein“, entgegnete Yugi. „Ryou und Marik sind ebenfalls hier. Allerdings hat Ryou ziemliche Panik bekommen, als Mana Bakura erwähnte. Er ist davon gelaufen. Marik kümmert sich um ihn.“ Der Pharao nickte. „Verständlich. Was ist mit Tristan? Und Duke?“ „Sie waren nicht bei uns“, erwiderte Joey. „Ich glaube nicht, dass sie ebenfalls hier gelandet sind. Hast du zufällig eine Ahnung, wie wir hier herkommen, Alter? Ich meine, wir haben ja schon einige seltsame Dinge erlebt. Aber selbst diese Spiele der Schatten waren manchmal nicht so abgefahren, wie das hier.“ Doch Atemu schüttelte ratlos den Kopf. „Ich weiß es wirklich nicht. Doch ich kann nicht behaupten, dass es mich stört, euch zu sehen. Im Gegenteil“, fügte er mit einem Lächeln hinzu. „Aber ich kann mir vorstellen, welche Fragen euch plagen. Ihr werdet irgendwann auch wieder zurück wollen.“ Yugi und seine Freunde konnten dies nicht leugnen. Gewiss freuten sie sich, den Pharao wiederzusehen. Doch irgendwann würden sie in ihre Zeit zurückkehren müssen. Wie genau verhielt es sich eigentlich? Lief die Uhr in Domino City ganz normal weiter? Hatte sein Großvater bereits das Verschwinden seines Enkels bemerkt? Und wenn ja, welche Sorgen machten sich wohl auch die Eltern und sonstigen Verwandten seiner Freunde? Der Gedanke bedrückte ihn. Er hatte seinem Großvater schon die eine oder andere schlaflose Nacht beschert. Er hatte dabei jedes Mal ein schlechtes Gewissen gehabt, das sich auch jetzt wieder in ihm breit machte. „Aber sag, wie geht es dir wirklich?“, meinte Yugi schließlich. „Mana hat uns erzählt, was geschehen ist. Warum Seto Anubis gebeten hat, dich zurück zu schicken. Und warum er sich darauf eingelassen hat, dass auch Marlic und Bakura wieder kommen.“ Atemu nickte. „Men-nefer hat wahrlich große Verluste erlitten. Vor allem, was Menschenleben anbelangt“, erwiderte er mit deprimiertem Unterton. „Doch bisher hat Caesians Armee keine weiteren Schritte mehr gemacht. Mein Cousin zieht bereits in Erwägung, dass alleine die Gerüchte um meine Rückkehr den Feind dazu bringen würden, abzuziehen. Was natürlich zu wünschen wäre. Nicht, dass ich auf dem Ruhm aus wäre.“ „Aber es wäre doch echt cool, wenn der Kerl seine Sachen von jetzt auf gleich packt, weil du wieder du wieder da bist, oder?“ Atemu konnte sich ein Grinsen auf Joeys Aussage hin nicht verkneifen. „Natürlich. Aber viel wichtiger wäre mir dabei, dass niemand mehr zu Schaden kommt. Mein Volk scheint in den letzten Monaten genügend durchgemacht zu haben.“ „Aber es ist schon beunruhigend, oder?“, meinte Tea schließlich.Der Pharao musterte sie einen Moment, dann fuhr sie fort. „Ich meine, Mana hat uns erzählt, was genau sich zugetragen hat. Dieser Caesian... irgendetwas scheint bei diesem Kerl nicht mit rechten Dingen zuzugehen.“ „Genau das ist es, was mich an einem baldigen Abzug zweifeln lässt“, stimmte Atemu zu. „Laut den Berichten, die ich vernommen habe, scheint der Strom an Soldaten, die ihn unterstützen, nicht abzureißen. Unsere Späher haben allerdings Weit und Breit keine Krieger nachrücken sehen. Die ganzen letzten Wochen nicht. Es stellt sich also noch immer die Frage, woher er solche Kräfte nimmt. Denn auch seine Partei hat in den Schlachten große Verluste erlitten. Des Weiteren sind viele seiner Soldaten erkrankt oder zumindest stark geschwächt. Da stimmt irgendetwas ganz eindeutig nicht. Zudem erzählte Seto, dass sein weißer Drache von einer Bestie angegriffen worden sei. Da selbst er sein Ka kurz darauf zurück rufen musste, können wir davon ausgehen, dass dieses Wesen wirklich stark ist. Was genau es jedoch ist, konnte mir niemand sagen. Es ist wohl genau so schnell wieder verschwunden, wie es aufgetaucht ist.“ Ein lang gezogenes Schweigen folgte den Ausführungen Atemus. „Das hört sich gar nicht gut an“, meinte Tea schließlich besorgt. Doch Joey winkte ab. „Ach, komm schon. Wenn der Kerl nochmal herum stresst, beschwört unser Pharao eben die drei Götter, oder am besten gleich Horakhti und setzt dem ganzen ein Ende.“ Er ballte die Faust und reckte sie in die Höhe. „Hey, wir reden hier von 'dem anderen Yugi'! Unserem königlichen Kumpel Atemu! Wäre doch gelacht, wenn er das nicht auch noch packen würde! Du trittst dem Kerl einfach kräftig in den Hintern und dann überlegst du dir, ob du weiter regieren oder doch lieber wieder deine Ruhe haben willst.“ „Hört sich gar nicht mal schlecht an“, stimmte Yugi mit einem zaghaften Lächeln zu. Atemu erwiderte es. „Aber eines frage ich mich noch immer. Mana meinte, du hättest eine Präsenz gespürt, weswegen sie sich überhaupt in die Nähe des Sandsturmes begeben hat. Was hat es damit auf sich?“ Der Pharao nickte. „Ja, so war es. Ich stand auf einem der Balkone und erblickte das Toben am Horizont. Irgendetwas sagte mir, dass dort jemand sei, der Hilfe benötigte. Jetzt weiß ich auch, warum ich das empfunden habe.“ „Und wieso?“, hakte Joey nach, der kein Wort zu verstehen schien. „Yugi und ich waren lange Zeit durch ein enges Band verbunden. So etwas verschwindet nicht einfach“, erwiderte Atemu lächelnd. Schließlich kamen auch Ryou und Marik hinzu. Während der Weißhaarige sein Gegenüber wie immer höflich begrüßte, verfiel der andere gleich wieder in die formelle Anrede des ägyptischen Hofes. Längst hatte sich die Sonne von der Welt verabschiedet, da unterhielten sie sich noch immer. Auch über das, was seit ihrem letzten, gemeinsamen Tag in Domino City passiert war. Nicht viel, wie man sich denken konnte. Der Alltag hatte schneller Einzug gehalten, als ihnen allen lieb gewesen war. Zugleich hatten sie sich zum ersten Mal seit langem gefühlt wie ganz normale, heranwachsende Menschen. Schule, lernen, Parties, Nachmittage im Schwimmbad oder in der Eisdiele... Sie alle waren trotz der bedrückenden Ereignisse, die über Men-nefer hingen wie ein Damoklesschwert, bester Laune. Bis sie plötzlich ein kühles Lachen von der Tür vernahmen, die in den Saal führte. „Ist das nicht rührend? Der Kindergarten, wie der gute Kaiba immer zu sagen pflegte, ist wieder vereint. Na ja, zumindest größtenteils.“ Yugi brauchte sich gar nicht umsehen, um zu wissen, wem die Stimme gehörte. Dafür schnellte Mariks Kopf abrupt in die Höhe. Er blickte in violette Augen, die seinen so ähnlich waren, und sich in dem, was darin lag, doch deutlich unterschieden. Dieses widerwärtige Grinsen, das eindeutig zu oft auf seinen eigenen Zügen gelegen hatte, feixte ihm entgegen. Die Haare standen wahllos in alle Richtungen ab, wie schon damals. Er hatte sich kein Stück verändert. Lediglich die Kleidung, die nun der hiesigen Zeit angepasst war. Eine übliche, schwarze Tunika umschlang den Körper, während ein violetter Umhang seinen Rücken hinab wallte. Goldene Reife saßen um die Oberarme, sowie um Hand- und Fußgelenke. „Was willst du? Ich rate dir, uns nicht zu behelligen. Ansonsten ist es mit deiner zweiten Chance ganz schnell vorbei“, meinte Atemu schließlich mit Nachdruck in der Stimme. „Du hast dich echt dazu entschieden, dem Irren ne' zweite Chance zu geben?“, kommentierte Joey verblüfft. „Das kann doch nicht dein Ernst sein.“ „Ja, wie liebenswürdig unser kleiner Pharao doch sein kann, nicht wahr? Keine Sorge, ich möchte nicht lange stören. Ich wollte lediglich meinem Freund Marik nach so langer Zeit der Trennung einmal 'Hallo' sagen.“ Der Unterton in Marlics Stimme war nicht zu überhören. Sie strotzte nur so vor Hohn. Doch sein ehemaliger Wirt entschied sich, gar nicht groß auf das Geschwätz einzugehen. Sämtliche Fragen nach dem Warum hatte er sich längst aus dem Kopf geschlagen. Zum einen, weil er nicht geglaubt hatte, diese Kreatur noch einmal wiedersehen zu müssen. Zum anderen würde er sowie so keine ernsthafte Antwort darauf erhalten. Es wäre wohl das Beste, ihn so schnell wie möglich abblitzen zu lassen. „Hallo“, meinte er daher in völlig nüchternem Ton. „Und jetzt zieh wieder ab.“ „Aber, aber. Warum denn gleich so unhöflich? Hast du denn schon die ganzen Jahre vergessen, die wir miteinander verbracht haben?“ „Nein, im Gegenteil.“ „Na also! Dann könnten wir doch bei einem guten Gläschen Wein ein wenig über alte Zeiten plaudern. Was meinst du?“ „Danke, kein Interesse.“ Gerade, als Marlic erneut ansetzen wollte, waren auf einmal hastige Schritte auf dem Gang zu hören. Kurz darauf stürmte Seto an der Reinkarnation des Ägypters vorbei in den Saal. „Mein Pharao? Irgendetwas geht in Caesians Lager vor sich!“ Kapitel 7: Überfall ------------------- Überfall Es war Eile geboten. Späher waren von ihren Posten herbei gestürmt und hatten berichtet, dass Caesian einige seiner Männer in die Wüste hinaus geschickt hatte. Es hatte ausgesehen, als suchten sie irgendetwas. Und Risha hatte sich nur zu gut vorstellen können, worum es sich dabei handelte. Sie durften nicht länger zögern. Jeder Moment, den dieser Kerl in Ägypten verbrachte, konnte der letzte sein. Was auch immer er über das Artefakt wusste, welches er in Händen hielt- es war nicht genug. Das hatten seine Taten bewiesen. Angespannt blickte sie über den Kamm der Düne. Nicht weit von ihrer Position leuchteten die Feuer des feindlichen Lagers beinahe unschuldig in der Nacht. Nichts regte sich zwischen den Zelten. Sie konnte lediglich die Stimmen einiger Männer hören, die in der Dunkelheit erklangen. In der Ferne erhob sich Men-nefer aus dem Wüstensand. Ihr Plan würde aufgehen, da war sie sich sicher. Vorsichtig schob sie sich von dem sandigen Kamm hinweg und kehrte zu der Gruppe zurück, die auf sie wartete. Einer der Reiter trat sogleich vor. „Wie sieht es aus?“ „Alles ruhig“, antwortete Risha.„Wir können anfangen.“ „Gut“, meinte ihr Gegenüber, ehe er sich zu den restlichen Männern umdrehte. „Begebt euch auf eure Positionen. Wir legen los. Und nur damit das klar ist...“ Er machte eine kurze Pause, während der sich unzählige Augenpaare auf ihn richteten. „... enttäuscht mich nicht! Ihr wisst, ich zähle auf euch.“ Ein leises Raunen ging durch die Menge,dann verstreute sich die Gruppe. Ein Lächeln spielte indes über die Lippen des jungen Sprechers. Risha schüttelte den Kopf. „Dass du immer so wahnsinnig dick auftragen musst, Riell.“ Die Antwort war ein breites Grinsen.„Nun komm' schon, Schwesterherz. So etwas nennt man Motivation. Das solltest du vielleicht auch einmal probieren.“ Sie zückte einen der langen Dolche, die zu beiden Seiten an ihrer Hüfte hingen. „Dies ist meine Art,Leute zu motivieren. Und glaub mir, bisher hat sie noch immer Früchte getragen.“ Er klopfte Risha auf die Schulter. „Schon gut. Kümmern wir uns zunächst um das Zepter. Danach können wir weiter über Formen und Farben der hohen Kunst der Motivation plaudern. In Ordnung?“ Sie nickte zustimmend, dann folgte sie ihm durch die Dünen. Je näher sie dem feindlichen Lager Caesians kamen, desto tiefer duckten sie sich in der Vegetation, die an dieser Seite des Nils spross. Noch immer regte sich zwischen den Zeltreihen absolut gar nichts. Sie konnte nicht einmal die üblichen Wachposten entdecken. Sehr schön. Denn ihr Plan mochte vielleicht einfach klingen, doch er war es nicht. Im Gegenteil. Sie gingen ein Risiko ein, das sie jedoch nicht hatten vermeiden können. Risha würde soweit wie möglich in Richtung des Hauptzeltes vordringen. Ihr Bruder hingegen hatte den Auftrag, das Tor an der Umzäunung zu öffnen, in der sich die Pferde der gegnerischen Armee befanden. Dies würde hoffentlich für genügend Unruhe sorgen, um die fremden Soldaten eine Weile zu beschäftigen. Der Rest ihrer Gruppe hatte sich bei den umliegenden Dünen positioniert, um jederzeit eingreifen zu können, sollten sie noch mehr Zeit benötigen. Als sie schließlich nahe genug an dem Lager waren, trennten sich die Geschwister mit einem Nicken. Risha huschte in den Schatten der ersten, schützenden Zeltreihe. Sie musste unglaublich leise sein. Manchmal war es regelrecht erstaunlich, wie gut die Ohren eines Menschen sein konnten. Doch diesmal fiel ihr der Weg deutlich leichter. Wohl, weil sie ihn bereits kannte und nicht erst danach suchen musste. Schließlich erreichte sie das Zelt, in dem sie bei ihrem letzten Besuch das Zepter erspäht hatte. Auch diesmal drang Licht aus dem Inneren. Sie lugte durch den Spalt, der noch immer in dem Stoff klaffte. Da war er. Caesian. Er saß an einem ausladenden, hölzernen Tisch. Wie es schien, war er in eine Schriftrolle vertieft. Perfekt. Er rechnete also nicht im Geringsten mit einem Überfall. Ein Grinsen schlich sich auf ihre Lippen. Das Zepter lehnte an einer der Stangen, die das Zelt trugen. Jetzt hieß es warten. Doch kaum war dieser Gedanke vorüber, erübrigte er sich auch schon. Irgendwo in der Ferne hörte sie ein Donnern- das Schlagen von Hufen. Riell hatte es also geschafft, das Gatter zu öffnen. Alles lief bis jetzt genau nach Plan. Die ersten Rufe hallten durch das Lager, und sie konnte sehen, wie sich Caesian erhob. Er lauschte einen Moment, dann begab er sich auf den Weg nach draußen. Ja! Volltreffer! Wenn er nun sein Zelt verließ, ohne... Er machte plötzlich auf dem Absatz kehrt. Er ging zu der Zeltstange hinüber. Seine große, raue Hand ergriff das Zepter. Verflucht! Hätte er das Ding nicht mal einen Moment aus den Augen lassen können? Nur, um es anschließend niemals wiederzusehen? Sie biss sich auf die Unterlippe. Gut, dann galt es nun, schnell zu sein. Sie schlüpfte hinter dem Zelt hervor und verharrte im Schatten. Sie beobachtete den Herrscher genau, währender in den Schein eines Lagerfeuers trat. Lockiges, schwarzes Haarfiel auf seinen Rücken. Die Gesichtszüge waren markant, aus ihnen hervor stach ein braunes Augenpaar. Doch wirkte die Farbe keineswegs warm. Im Gegenteil. Risha rann kurz ein eisiger Schauer den Rücken hinab. Er trug eine schwarze Tunika, die über und über mit goldenen Stickereien verziert war. Der lange, ebenfalls dunkle Umhang hingegen, war mit roten Fäden besetzt. Zudem war er an die zwei Meter groß und muskulös. Sie zog sich noch ein Stück weiter in die Dunkelheit zurück, als sie Schritte hörte, die sich rasch näherten. Ein Mann kam herbei geeilt. Er sah aus, als habe er bereits zu Bett gehen wollen. Die Ringe an seinen Hüften schwankten im Rhythmus seiner Schritte. „Was ist da los?“, blaffte Caesian ihn auch sogleich an. „Euer Majestät, es scheint, als seien die Pferde entkommen“, erwiderte der dickliche Kerl völlig außer Atem und mit piepsiger Stimme. „Wie kann so etwas passieren?“,donnerte der Befehlshaber. Bereits jetzt wurde sein Gesicht leicht rot vor Zorn. „Ich... ich weiß es nicht. Ich meine, noch nicht! Genau! Ich werde alles daran setzen, um heraus zu finden, wer sich da einen Streich erlaubt hat!“ Plötzlich schoss Caesians Hand nachvorne. Er packte sein Gegenüber am Kragen und zog ihn zu sich heran. „Das will ich dir auch raten, mein Guter. Ansonsten wirst nämlich du dafür gerade stehen!“ Mit einem Ruck stieß er seinen Untergebenen von sich, welcher rücklings zu Boden fiel. In Sekundenschnelle sprang er auf die Beine und eilte davon. Was bei dieser Körpermasse wahrlich beachtlich war, wie Risha fand. „Und fangt die verdammten Pferde wieder ein“, brüllte seine Majestät ihm noch hinterher. Die junge Frau konnte ein genervtes Seufzen vernehmen. Eines musste sie ihm lassen. Er wusste, wie man Leute motivierte. Sie fixierte das Zepter. Golden schimmerte es im Licht der Feuerstelle. Der Glanz spiegelte sich in ihren fliederfarbenen Augen. Es war zum greifen nah! Es war bereits absehbar, dass Caesian jeden Moment in sein Zelt zurückkehren würde. Sie musste vorher zuschlagen. Denn im Inneren der provisorischen Behausung wäre ihre Bewegungsfreiheit deutlich eingeschränkt, sollte sie in einen Kampf verwickelt werden. Doch wenn sie Glück hatte, würde es gar nicht so weit kommen. Sie würde sich von hinten heran schleichen, ihm einen Dolch in den Rücken rammen und das Artefakt an sich nehmen. Vorbei. Als er ihr seine Rückseite zuwandte, hatte ihre Stunde geschlagen. Leise, ohne auch nur den kleinsten Laut zu verursachen, schälte sie sich aus der Dunkelheit. Mit vollkommen ruhiger Hand löste sie einen der langen Dolche von ihrer Hüfte. Nur noch wenige Schritte, dann wäre dieses Theater endlich vorüber. Dann könnte ihr der Pharao ruhig einmal dankbar sein. Vielleicht würde er ihr die Hälfte ihrer elf Mal, die sie schon zum Tode verurteilt worden war, erlassen? Obwohl, ging das überhaupt? Konnte man fünf einhalb Mal sterben? Eigentlich ging das doch so bereits nur ein einziges Mal. Wussten die Mitglieder des Pharaonenhauses überhaupt, wen genau sie jagten? Bislang war nur bekannt gegeben worden, dass derjenige, der die ganzen ehemaligen Soldaten bei Nacht und Nebel ermordet hatte, sterben sollte. Einen Namen hatten sie nie genannt. Wie auch? Sie ging stets äußerst vorsichtig vor. Sie schob die Gedanken beiseite. Inzwischen war Caesian in greifbarer Nähe. Langsam, wie in Zeitlupe,um nicht das kleinste Geräusch zu verursachen, zog sie den Arm nachhinten. Gleich würde sich die Klinge in sein Fleisch hinein bohren. Ein Grinsen, das ihre ganze Vorfreude widerspiegelte, schlich sich auf ihre Lippen. Sie liebte Blut. Vor allem, wenn es nicht ihr eigenes war, das zu Boden tropfte. Dann war es soweit. Sie ließ den Arm nach vorne schnellen... Schmerz durchzuckte ihren Körper, als ihr das Zepter quer in den Bauch gerammt wurde. Keuchend fand sie sich auf dem Boden wieder, sprang jedoch sofort zurück auf die Beine und zückte nun auch den anderen Dolch. Caesian hatte den Speer drohend gegen sie erhoben. „Sieh mal einer an. Wen haben wir denn da? Einen kleinen Taschendieb? Sicher warst es auch du, die die Umzäunung meiner Pferde aufgebrochen hat.“ Ihre Chance war noch nicht vertan. Jetzt hieß es mitspielen. Sie musste nur ein wenig Zeit gewinnen. „Du musst ja ganz schön flink sein, wenn du es bis hier her geschafft hast.“ Wenn du wüsstest... immerhin saß ich vor einigen Sonnenläufen schon einmal direkt neben dir, ohne, dass du es gemerkt hast..., schoss es ihr durch den Kopf. Sie musste ein Grinsen unterdrücken. Lediglich ein selbstbewusstes Lächeln ließ sie auf ihren Lippen spielen. „Danke für das Kompliment. Aber so schwer war's gar nicht... bei der Gruppe von Vollidioten, die du Soldaten nennst!“ Doch sie hatte sich verspekuliert. Anstatt von Zorn trat lediglich ein resignierender Ausdruck auf das Gesicht Caesians. „Wem sagst du das... es ist heutzutage so schwer, ordentliche Untergebene zu finden. Aber weißt du was? Du scheinst eine recht wendige Frau zu sein. Wie wäre es? Nimm' die Waffenrunter und wir können über ein ordentliches Gehalt reden.“ „Während ich unter deiner Flagge kämpfe?“ „So sieht es aus.“ Risha ließ sich einen Moment Zeit. Tat so, als würde sie überlegen. Schließlich ging sie langsam auf ihn zu, ließ die Dolche sinken. „Hm... eigentlich gar kein schlechtes Angebot. Zumal es wirklich eine Ehre wäre, für solch einen großen Feldherren zu arbeiten“, sprach sie schließlich, schmierte ihm Honig um's Maul. Jetzt musste sie nur noch nah genug an ihn herankommen. „Kann es sein, dass da jemand noch auf mehr, als einen Platz an der Front aus wäre?“, erwiderteCaesian. „Wenn das so ist... mein Harem ist fern der Heimat zugegebener Maßen ein wenig dürftig.“ Sofort schoss Risha ein Stück zurück.Ihre Haltung war angespannt. „Vergiss es“, war schließlich die kalte Antwort. „Das einzige was ich will, hältst du in Händen. Und ich würde dir raten, es mir kampflos zu übergeben, wenn dir dein Leben lieb ist!“ Ihr Gegenüber zog eine Augenbraue nachoben. „Kleines, du glaubst nicht allen Ernstes, du könntest mir Angst machen, oder?“ „Du solltest besser Angst haben“, knurrte sie zurück. „Wie dem auch sei. Wenn du kein Interesse hast, dich meiner Armee anzuschließen oder meinem Harem beizutreten, dann verschwinde. Ich habe zu tun.“ Mit diesen Worten machte Caesian auf dem Absatz kehrt und ging seinem Zelt entgegen. In Risha überschlugen sich die Gefühle. Sie hatte, was diesen Kerl anging, einiges erwartet. Sie hatte sich gar darauf eingestellt, dass er auf sie losgehen würde, würde er sie bei dem Raubversuch erwischen. Eventuell hatte sie gar mit einem ebenbürtigen Gegner gerechnet, der ihr einiges an Können abverlangte. Aber nicht damit. Mit einem arroganten Arschloch, das sie einfach abtropfen und stehen ließ wie ein kleines Kind, das keinen Feind darstellte, das seiner Aufmerksamkeit nicht würdig war. Wenn sie etwas abgrundtief hasste, dann waren es zwei Dinge: Erstens, ignoriert zu werden. Zweitens, wenn man sie aufgrund ihres Geschlechts nicht für voll nahm. Und Caesian war soeben in beide Fettnäpfchen auf einmal getreten. Sie riss die Dolche nach oben und stürmte nach vorne. Metall krachte auf Metall. „Wir sind aber hartnäckig“, kommentierte Caesian. „Gib' mir das verdammte Zepter!“, zischte sie. Erneut schlug sie zu, doch er parierte ihren Hieb. Immer wieder trafen ihre Klingen, doch anstatt des Körpers, schlugen sie lediglich auf das Artefakt. Sie war schnell, doch ihm gelang es immer wieder, ihre Attacken abzublocken. Sie suchte nach irgendeiner Schwachstelle in seiner Verteidigung, doch fand keine. Ihre Blicke trafen sich. Risha konnte den Hohn in seinen Augen sehen. Er schien nicht einmal daran zu denken, in die Offensive zu gehen, sondern wehrte sie nur immer wieder ab. Sie kochte vor Wut. Ihre Schläge wurden heftiger, doch zeigten keinerlei Wirkung. Da schien der Geduldsfaden des fremden Herrschers letztendlich doch zu reißen. „Du verschwendest meine Zeit, Miststück!“ Mit diesen Worten ließ er das Zepter herum schnellen. Kurz glühte das Artefakt, dann spürte Risha eine der umstehenden Palmen im Rücken und unzählige Sandkörner im Gesicht. Keuchend sank sie zu Boden. Trotz der Schmerzen versuchte sie, rasch wieder auf die Beine zu kommen. Doch es war schon zu spät. Caesian stand direkt vor ihr, drückte die Spitze des Zepters an ihre Kehle. Hass stand in ihren Augen geschrieben, als sie aufblickte. Sie biss die Zähne zusammen. Jetzt zählte jede noch so kleine Bewegung... „Eigentlich ist es fast schon schade,dass ich dich töten muss. Du hast dein Leben tatsächlich für ein paar Gramm Gold hergegeben. Wie gesagt, bedauerlich. Denn schlecht siehst du bei Weitem nicht aus“, meinte er, während er sich zu ihr hinab kniete. Pah! Ein bisschen Gold? Für wie blöd hielt dieser Kerl sie eigentlich? Zudem reduzierte er sie erneut auf ihr Geschlecht. Wut wandelte sich endgültig in Hass. Sie wollte Blut fließen sehen, auf der Stelle. Und zwar sein Blut! „Wenn es schade um sie wäre, warum lässt du es dann nicht einfach sein?“ Risha Kopf fuhr nach oben. Erst jetzt gewahrte sie den Schatten, der direkt hinter dem fremden Herrscher aufgetaucht war. Eine Klinge lag in seinem Nacken. Sie konnte sehen, wie sich Caesian auf die Unterlippe biss. Riells Züge hingegen zierte ein triumphierendes Grinsen. „Und jetzt stehst du schön langsam auf und kommst weg von ihr. Es scheint nämlich nicht so, als würde sie deine Nähe genießen.“ Seine Majestät tat, wie ihm befohlen. Bedächtig erhob er sich, entfernte dabei die Spitze von ihrer Kehle. Sofort sprang Risha auf die Beine. „So...“, zischte ihr Bruder währenddessen. „Und nun her mit dem Zepter. Wird’s bald?“ Doch anstatt den Griff um das Artefaktauch nur annähernd zu lockern, begann Caesian plötzlich zu Grinsen. Ein Ausdruck, der beinahe wahnsinnig wirkte. Ein ungutes Gefühl durchzuckte Risha. Er befand sich in einer Lage, die nicht annähernd lustig war. Das musste doch selbst er begriffen haben. „Das Zepter wollt ihr also? Pah! Als ob ihr dämlichen Kinder auch nur den Hauch einer Ahnung hättet,worum es sich hierbei handelt!“ „Oh, glaub mir. Wir dürften besser über seine Kräfte Bescheid wissen, als du dir vorzustellen vermagst.“ Kurz schwand das Grinsen auf Caesians Gesicht. Doch nur einen Wimpernschlag später kehrte es noch breiter zurück. „Ach, wirklich? Na, das wollen wir doch einmal sehen!“ Keine Sekunde später wurde Riell in hohem Bogen, wie aus dem Nichts und umgeben von Sand, durch die Luft geschleudert. Kapitel 8: Des Nachts --------------------- Da bin ich wieder. Diesmal mit einem kleinen Einwurf, ehe es mit dem Kapitel „Des Nachts“ weitergeht. Zunächst möchte ich mich natürlich für die ganzen Kommentare bedanken. Außerdem freut es mich, dass Risha wohl- obgleich sie ein eigener Charakter ist- doch recht gut anzukommen scheint. Des Weiteren geht an dieser Stelle noch ein fettes Danke an Kianael, die den Text immer gegen liest, ehe er online geht- und das trotz derzeitigem Umzugsstress! Danke schön! Aber nun zum eigentlichen Thema. Nachdem man mich darauf hingewiesen hatte, dass ich wohl im letzten Kapitel ab und an vergessen habe, die Leertaste zu drücken: Das war nicht mein Fehler. Im Original auf meinem Rechner ist der Text genau so, wie er sein sollte. Anscheinend muss da beim Upload etwas schief gegangen sein. Ich habe schon probiert, die Fehler auszubessern, weiß aber nicht, ob das so erfolgreich war. Ich habe den Verdacht, dass einige Worte wieder zusammen gezogen worden sind. Also, sorry dafür an dieser Stelle. Und nun viel Spaß bei Kapitel Nummero 8. Des Nachts Atemu hastete an Setos Seite die Mauer entlang, die Men-nefer und den Palast umschloss. Er konnte die Schritte der anderen hinter sich hören. Als sie eine Treppe erreichten, eilten sie auf die Umgrenzung hinauf. Sofort drangen Schreie an das Ohr des Pharao, die vom Lager Caesians herüber wehten. Er erblickte winzige Schatten, die zwischen den Zeltreihen umher huschten. Immer wieder wurden schemenhafte Gestalten wie aus dem Nichts in den nächtlichen Himmel geschleudert. Es waren Menschen. „Was geschieht dort?“, fragte Atemu an Seto gewandt. Doch der Hohepriester schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht...“ Die Schreie der Männer und Frauen drangen an ihr Gehör. Schreckliche Ausrufe, die von Tod und Gewalt zeugten. Selbst auf diese Distanz waren sie noch deutlich zu vernehmen. Der Pharao glaubte gar, mit jeder sanften Brise, die an ihm vorüber zog, den Geruch von Blut wahrzunehmen. Diese Menschen mussten Qualen erleiden, tiefste Angst im Herzen tragen. Ein Soldat eilte auf den Herrscher Ägyptens zu und verbeugte sich kurz. „Majestät! Es sind die Schattentänzer!“ „Was? Schattentänzer?“ Mit wenigen Sätzen war sie bei Riell. Keuchend rappelte er sich auf. „Bei allen Göttern! Bist du verletzt?“ „Nein. Es geht schon...“ Caesian war in irres Gelächter ausgebrochen. Das Zepter hob er triumphierend über den Kopf. „Was habe ich gesagt? Ihr Narren! Ihr werdet euren Fehler mit dem Leben bezahlen!“ Irgendwo in der Ferne hörten sie die Schreie der anderen. Sie hatten wie abgesprochen eingegriffen. Doch damit hatte keiner von ihnen gerechnet. Dass genau das eintreten würde. Risha musste das Ruder herum reißen, solange sie noch die Möglichkeit dazu hatte. Sie sprang auf die Beine, die Dolche noch immer in den Händen. Kurz zuckte ein Lichtblitz durch die Nacht, dann materialisierte sich ihre Ka-Bestie direkt neben ihr. Rote, glühende Schwingen schlugen in der Luft. Weißes Fell schimmerte im Mondschein. Ein Viehren drang aus der Kehle der Kreatur. Hufe stießen sich kräftig vom sandigen Boden ab. „Cheron, töte ihn!“ Der Pegasus schoss nach vorne, direkt auf Caesian zu. Nur noch wenige Sekunden, dann wäre dieses Drama vorüber. Doch es sollte anders kommen. Kurz, bevor die mächtigen Hufe die Knochen des Mannes zertrümmern konnten, zuckte Schmerz durch Risha Körper. Ein brutaler Aufschrie ihrer Bestie, dann wurde das geflügelte Pferd rücklings durch die Luft geschleudert und krachte in eines der Zelte hinein. Die junge Frau griff sich an die Brust. Dorthin, wo der Schlag ihre Zwillingsseele getroffen hatte. Sie stöhnte. „Was habe ich gesagt? Ihr habt keine Ahnung von der Macht des Zepters!“ Wie um seine Worte zu unterstreichen, segelte plötzlich ein Schatten durch die Nacht. Riell und seine Schwester konnten sich im letzten Moment durch einen Sprung zur Seite retten. Im nächsten Augenblick schlug ein deformierter, zerfetzter Körper an der Stelle auf. Rishas Augen weiteten sich. Es war einer von ihnen. „Wir müssen hier weg!“ Ihr Bruder packte sie am Arm, wollte sie mit sich ziehen. Doch sie versuchte, sich ihm zu entwinden. „Nein! Das Zepter...“ „...werden wir niemals bekommen, wenn wir hier unser Leben lassen! Wir müssen uns eine andere Möglichkeit überlegen! Nun komm!“ Hasserfüllte Blicke streiften Caesian. Riell hatte recht. Dutzende der Ihren würden sterben, wenn sie sich nicht sofort zurück zogen. Etwas, für das sie nicht die Verantwortung übernehmen konnte. Sie fuhr auf dem Absatz herum und eilte ihrem Bruder hinterher. Ihre Ka-Bestie verschwand. Die Zelte flogen an ihnen vorbei. Immer wieder stellten sich ihnen Soldaten in den Weg. Sie ließen sich nicht auf Kämpfe ein, parierten die Hiebe, wenn es nötig war, und hasteten weiter. Das Gelächter Caesians schallte ihnen noch weit hinterher. Wut durchwogte Rishas Körper. Sie hatte versagt. Als sie auch die letzten, provisorischen Behausungen hinter sich gelassen hatten, sprangen sie sogleich auf zwei der Pferde, die noch immer außerhalb ihres Gatters herrenlos umher irrten. Mit heftigen Tritten in die Seite trieben sie die Tiere in die Wüste hinaus, gefolgt von den anderen, die durch Riells stetige Rufe aufmerksam geworden waren. Das wirst du büßen... Bei allen Göttern, dafür wirst du sterben!, war der einzige Gedanke, der Risha noch durch den Kopf schoss, dann ließ sie den Schein der Fackeln im Lager hinter sich und wurde von der Dunkelheit verschluckt. Atemu und Seto beobachteten indes, wie die schwarz gekleideten Gestalten am Horizont in Windeseile das Weite suchten. Dass einige von ihnen den Angriff nicht überlebt hatten, war offensichtlich. Ihre Schreie waren Beweis genug gewesen. „Diese Idioten...“, raunte der Hohepriester, während er sich von der Mauer abwandte. „Ihr solltet in den Palast zurückkehren, mein Pharao. Hier draußen ist es für Euch viel zu gefährlich.“ „Ich bewege mich erst von der Stelle, wenn Ihr mir erzählt habt, wer diese Schattentänzer sind“, erwiderte Atemu. Die Augen aller Umstehenden- Yugi und die anderen waren inzwischen hinzu gekommen- musterten zunächst ihn, ehe sie zu Seto wanderten. Der strenge Tonfall des Herrschers entging niemandem. Der Hohepriester schien einen Moment zu überlegen, seufzte jedoch schließlich. „Sie sind eine Gruppe Aussätziger. Ehe Caesian hier auftauchte, waren sie es, die hier Unruhe stifteten. Doch sie waren im Vergleich zu diesem Kerl ein Nichts.“ „Geht das vielleicht noch ein bisschen genauer?“, schaltete sich Joey ein. Er hatte es noch nie leiden können, wenn Leute in Rätseln sprachen. Seto funkelte ihn kurz an, dann fuhr er fort. „Welche Motive sie genau treiben, wissen wir nicht. Einige von ihnen haben in der letzten Zeit mehrere Morde an Soldaten des königlichen Hofes begangen. Gegen sie wurde bereits die Todesstrafe verhängt. Doch wir konnten sie bislang nicht fassen. Seitdem Caesian aufgetaucht ist, haben sie sich nicht mehr blicken lassen. Vermutlich ist es ihnen doch zu gefährlich geworden, sich in die Nähe der Stadt zu wagen. Warum sie jetzt allerdings ihn angreifen, ist mir ein Rätsel. Man müsste meinen, Men-nefers Fall dürfte ihnen gerade recht kommen.“ Seto ließ seinen Blick in die Wüste hinaus schweifen. Seine Miene war todernst. „Macht Euch keine Sorgen, mein Pharao. Sobald Caesian besiegt ist, werden wir uns um diese Bastarde kümmern. Ein jeder von ihnen wird mit der Schlinge um den Hals sein gerechtes Urteil erfahren.“ Yugi wandte sich zu Marik um. Der Ägypter hatte das Kinn in nachdenklicher Pose auf die Hand gestützt und murmelte immer wieder den Begriff 'Schattentänzer' vor sich hin. „Weißt du etwa mehr darüber?“, hakte der Kleinere schließlich nach. Doch der Angesprochene schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht viel. Die Bezeichnung habe ich schon einmal gehört, und ich glaube mich zu erinnern, dass diese Gruppe als okkulter Zirkel verschrien ist. Aber mehr fällt mir beim besten Willen nicht ein.“ „Okkult? Inwiefern?“, kam es nun von Joey. Die Antwort erhielt er von Seto. „Gerüchten zufolge sollen sie sehr religiös sein- was sie auch überhaupt erst zu Aussätzigen macht. Denn sie beten nicht irgendwelche Gottheiten an. Als ihr oberster Gott gilt Seth, Herrscher der Wüste und des Chaos.“ „Kein Gott also, den man anbeten und darum bitten sollte, seiner Bestimmung nach zu kommen...“, fügte Ryou hinzu. „Also irgendwie klingt das beunruhigend“, warf Tea ein. „Erst dieser Caesian und jetzt auch noch Schattentänzer...“ In dieser Nacht schlief Atemu kaum. Die meiste Zeit lag er wach und starrte an die Decke seines Gemachs hinauf. Sie hatten entschieden, Caesian erst dann anzugreifen, wenn er den ersten Schritt machte. Doch wann würde das sein? Vielleicht schon morgen? Er seufzte. Im Endeffekt konnte er nur warten. Ein Umstand, der ihm alles andere als genehm war. Aber welche Wahl blieb ihm? Er würde die Krieger Ägyptens nicht unnötig in eine Schlacht schicken und ihre Leben auf's Spiel setzen. Noch immer plagte ihn die Hoffnung, dass Caesian vielleicht einfach abziehen würde. Doch sie schwand von Minute zu Minute. Gewiss war sein Name bekannt. Und ja, er würde auch den einen oder anderen Feind Ägyptens zurück schrecken lassen. Dabei ging es ihm aber nicht um den Ruhm, der damit verbunden war. Sondern vielmehr darum, dass es unnötige Tode verhindern würde. Nutzlose Konflikte, die nicht sein mussten. Es pochte leise an der Türe. Er antwortete, kurz darauf trat Mana ein. „Ich habe schon geahnt, dass Ihr noch nicht schlaft. Da dachte ich, ich sehe noch einmal nach Euch“, erklärte sie ihr Erscheinen auch sogleich. Atemu erwiderte ihr scheues Lächeln und setzte sich auf. „Seto hat mir von dem Vorfall im Lager erzählt“, fuhr die junge Magierin auch sogleich fort. „Wenn sich jetzt auch noch die Schattentänzer in diesen Krieg einmischen... die Katastrophe wäre perfekt.“ „Was weißt du über sie?“, fragte der Pharao schließlich. „Nicht viel mehr als Seto. Was hat er Euch denn erzählt?“ Atemu berichtete ihr von den Aussagen des Hohepriesters. Schließlich nickte sein Gegenüber. „Mehr vermag auch ich nicht zu berichten. Es ist schwer, etwas über sie in Erfahrung zu bringen. Sie meiden das Volk und werden wiederum von der Gesellschaft ausgeschlossen. Die meisten- mich eingeschlossen- verstehen einfach nicht, weshalb sie diese Götter anrufen. Gewiss, auch wir opfern Gottheiten wie Seth oder Sachmet, doch wir flehen sie nicht an, ihres Amtes zu walten. Ich meine, wer würde schon wollen, dass der Herrscher des Chaos seine Macht demonstriert?“ „Irgendeinen Grund muss es geben, weshalb sie so gegen uns sind“, erwiderte Atemu. „Ich kann nicht glauben, dass dies ausschließlich von ihrer anderen Ansicht und der Tatsache, dass sie gemieden werden, herrührt. Vor allem frage ich mich eines. Wenn es wirklich so wäre, dass sie alleine aus diesem Grund Menschen töten, warum handelt es sich dabei nur um Soldaten Ägyptens? Sie greifen nur eine bestimmte Gruppe an. Kann es sein, dass man sie verfolgt hat?“ Mana schüttelte den Kopf. „Nein. Zwar waren die Schattentänzer vielen Leuten ein Dorn im Auge, aber man hat ihnen nie ein Leid zugefügt. Sie verehren böse Gottheiten, die Verdammnis über dieses Land bringen können, wenn man sie erzürnt. Man hatte Bedenken, dass Seth wütend sein könnte, würde man seine Jünger angreifen. Außerdem geschahen diese Morde erst vor Kurzem, davor war der Clan lediglich ein Haufen von Aussätzigen, die im Verborgenen gelebt und sich selten gezeigt haben. Ab und an haben sie Karawanen überfallen oder mal ein Dorf geplündert, ansonsten haben sie sich völlig vom Rest Ägyptens abgeschottet. Beinahe so, als wollten sie jeden Kontakt vermeiden.“ Atemu nickte. „Gut, aber irgendeinen Grund muss es geben. Wenn sie Soldaten angreifen, die Ägypten unterstehen... könnte es sein, dass sie gegen irgendetwas rebellieren wollen? Irgendeinen Zorn gegen uns hegen? Anders kann ich mir das nicht erklären. Einen Grund muss es geben. Irgendwelche Beweggründe müssen sie dazu bringen, derartig zu handeln. Woher wissen wir überhaupt, dass diese Morde von ihnen begangen wurden?“ „Das Zeichen der Sachmet war neben den Toten auf den Boden gemalt worden. Mit Blut. Und da diese Göttin eben eine ist, die bei ihnen am höchsten verehrt wird, glauben wir, dass sie etwas damit zu tun haben könnten. Aber absolut sicher können wir uns natürlich nicht sein- auch wenn Seto das anders sieht. Für ihn sind die Schattentänzer die Wurzel des Übels.“ Plötzlich schnippte Mana mit den Fingern. „Mir kommt da eine Idee!“ Auf Atemus fragenden Blick hin fuhr sie fort. „Ich denke ich weiß, wer uns darauf eine Antwort geben könnte, weshalb der Clan für die Morde verantwortlich sein könnte. Und derjenige sitzt praktischer Weise nicht weit weg im Kerker.“ Der Pharao zog eine Augenbraue nach oben. „Du denkst, Bakura könnte uns weiterhelfen?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Einen Versuch ist es wert, oder? Vielleicht hatte er irgendwann einmal Kontakt zu anderen Menschen, die ähnlich dachten wie er- die der Meinung waren oder sind, Ägypten wäre ohne die Herrschaft seiner Pharaonen besser dran. Ihr wisst doch: Egal wie gutmütig und fähig ein König ist, es wird immer welche geben, die man nicht zufrieden stellen kann. Vielleicht gibt es tatsächlich Schattentänzer, die nicht einfach nur ihre Götter anbeten, sondern ihren Glauben verbreiten wollen und deshalb zornig auf Euch sind. Wenn er schon einmal so jemanden getroffen hat, kann er uns eventuell mehr berichten. Selbst, wenn er im Endeffekt alleine gearbeitet hat- man tauscht sich doch immer mit anderen aus, die ähnlich denken, oder?“ „Gut“, befand Atemu schließlich. „Finden wir es heraus.“ Zur selben Zeit schlichen zahlreiche Wachen auf den Mauern Men-nefers umher. Sie alle trugen ihre Speere hoch erhoben, beobachteten jeden Fleck der Wüste, die sich unterhalb der Stadt dahin zog. Lediglich einer von ihnen hatte inne gehalten und lehnte an dem kalten Stein, der die Stadt schützen sollte. Er hatte sich auf die Lanze gestützt. Sein Kopf hing schlaff herunter. Seit Tagen schon hatte er nicht mehr geschlafen. Seine Frau beschwerte sich bereits, dass sie ihn kaum noch zu Gesicht bekommen würde- und das in Zeiten wie diesen. Er verstand, was sie damit sagen wollte. Sie hätte sich ihn an ihrer Seite gewünscht. Auch ihm ging es nicht anders. Auch er fürchtete sich vor all den Dingen, die da noch kommen mochten. Er hatte schon unzählige Kameraden sterben sehen. Vielleicht war er der Nächste? „Darf ich fragen, was Ihr da tut?“, riss ihn plötzlich eine schneidende Stimme aus den Gedanken. Augenblicklich schreckte der Wächter hoch. Sein Gesicht wurde bleich wie Kreide, seine Augen weiteten sich. „Pha... Meister Seto! Bitte verzeiht, ich... das war dumm von mir. Es wird nicht wieder vorkommen, das schwöre ich Euch!“ Die kalten, blauen Augen des Hohepriesters schienen den Mann regelrecht zu durchbohren. Er wartete absichtlich einen Moment, um das Bangen des Kriegers noch weiter zu schüren, ehe er antwortete. „Geht zurück auf Euren Posten. Sollte ich noch einmal sehen, wie Ihr während Eures Dienstes die Aufmerksamkeit vernachlässigt, werdet Ihr beim nächsten Gefecht an vorderster Front stehen, verstanden?“ Der Mann nickte erschrocken, eilte dann jedoch sofort davon. Seto blieb alleine zurück... und biss sich schon nach kurzer Zeit auf die Unterlippe. Hätte er nicht befürchten müssen, beobachtet zu werden, er hätte mit der Faust gegen die Stadtmauer geschlagen. Seine Hände zitterten. Er hätte sich selbst ohrfeigen können. Was sollte das? Warum drohte er diesem einfachen Mann, der nach Tagen des Wacheschiebens völlig erschöpft war, so etwas an? Wieso hatte er sich nicht beherrschen können? Diese Aussage, diese... Drohung, jemanden in der nächsten Schlacht in die vorderste Reihe zu stellen, implizierte doch, dass er noch immer Bedenken hatte, die Stadt retten zu können. Er nahm den Menschen mit derlei Worten einen Teil ihrer Hoffnung. Eine Hoffnung, die es vielleicht gar nicht mehr gab? Er stützte sich auf der Mauer ab und blickte in die Unendlichkeit der Wüste hinaus. Wenn dem wirklich so war, wenn Men-nefer nicht mehr gerettet werden konnte... dann war all das ganz alleine seine Schuld. Er hatte als Herrscher Ägyptens versagt, den Feind viel zu weit vorrücken lassen. Und letztendlich seinen eigenen Cousin aus dem Totenschlaf reißen müssen. Er biss sich erneut auf die Unterlippe und schmeckte Blut im Mund. Hatte er wirklich geglaubt, Atemu jemals ebenbürtig werden zu können? Er lachte heißer auf, als er sich daran erinnerte, wie Bakura damals in den Palast eingedrungen war und alle Hüter der Milleniumsgegenstände zugleich zum Kampf aufgefordert hatte. Danach hatte er Mahad Vorwürfe gemacht, weil dieser für die Sicherheit der königlichen Bauten zuständig gewesen war. Immerzu war Seto sich sicher gewesen, es besser machen zu können, als alle anderen. Und nun? Nun stand er hier, mit dem Wissen, dass er versagt hatte. Unwillkürlich wanderten seine Gedanken weiter. Zu einem Menschen, den er längst hatte vergessen wollen, und der doch in Form seiner Ka-Bestie immer präsent war. Kisara. Niemals hatte er sie aus seinem Denken verbannen wollen, weil er eine Abneigung gegen sie verspürte. Nein. Ganz im Gegenteil. Es tat einfach viel zu sehr weh, sich an sie zu erinnern. An ihre strahlenden Augen, die ihm fortwährend versichert hatten, dass sie an ihn glauben würde, egal, was geschah. Ihr Haar, das sich sanft im Wind wiegte. Ihre weiße Haut, die so aus der Masse hervor stach und sie doch nur noch hübscher machte. Warum nur war nicht auch sie zurück gekehrt? Hatte das Schicksal ihr keinen neuen Platz in dieser Welt zugedacht? Er ballte die Hände zu Fäusten. „Wenn du mich jetzt sehen könntest... würdest du dann noch immer an mich glauben, Kisara?“, flüsterte er in die Nacht hinaus. Der Morgen war noch fern, als sich der Pharao und Mana hinab in die Kerker begaben. Der Grabräuber hatte das Angebot, sich in der Stadt bewegen zu können, abgelehnt. „Was glaubst du, weshalb er das getan hat?“, meinte die Magierin schließlich. Sie waren inzwischen vom formellen 'Euch' und 'Ihr' abgewichen. Atemu zog eine Augenbraue nach oben. „Wovon sprichst du?“ „Davon, dass er lieber in diesen verrotteten Gemäuern bleibt, als draußen herum zu laufen. Warum hast du Seto eigentlich dazu veranlasst, Marlic und ihm dieses Angebot zu machen? Irgendwie verstehe ich das nicht ganz.“ Ihr Blick war kritisch. Der junge König zuckte mit den Schultern. „Du scheinst, was das angeht, skeptisch zu sein.“ „Nicht skeptisch... nun, doch, vielleicht ein bisschen. Aber ich würde es eher verwundert nennen.“ „Weißt du, Mana... ich glaube nicht, dass ein Mensch durch und durch böse sein kann. Viele Leute, die mir einst feindlich gegenüberstanden, sind letztendlich schon meine Freunde geworden. Es hilft nichts, jemandem nur immer wieder seine Fehler aufzuzeigen und ihn auf ewig zu verurteilen. Ein jeder ist in der Lage, sich zu ändern. Doch dazu muss man ihm erst einmal die Chance geben.“ „Und du glaubst wirklich, Bakura hat so eine verdient?“, hakte seine Freundin nach. Atemu blieb stehen. „Denkst du, Anubis hätte ihn zurück geschickt, wenn er nicht auch davon ausgehen würde? Die Götter wissen, in welch misslicher Lage sich unsere Heimat befindet. Ich glaube nicht, dass er uns eine weitere Bürde auferlegen würde. Also muss es einen anderen Grund geben, weshalb er ausgerechnet Bakura und Marlic in die Welt der Lebenden gesandt hat.“ Mana senkte betrübt den Blick. „Mir wäre es lieber, wäre es Mahad oder einer der anderen gewesen...“, meinte sie mit trauriger Stimme. Kurz darauf spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Als sie aufsah, blickte sie in das lächelnde Gesicht ihres Kindheitsfreundes. „Das kann ich verstehen.“ Sie gingen weitere Stufen hinab. Die Magierin rieb sich die frei liegenden Oberarme. Sie fröstelte. „Mir ist schleierhaft, wie man freiwillig hier unten bleiben kann...“, murmelte sie, als sie die ersten Wachen passierten. „Mana? Wie geht es Seto eigentlich wirklich?“ Für einen Moment sah die Magierin verwundert drein, dann begriff sie, worauf Atemu hinaus wollte. „Das kann ich nicht sagen. Niemand kann das, denke ich... Er spricht nicht gerne über die Dinge, in die sein Vater verstrickt gewesen ist. Und auch Kisaras Tod scheint nicht spurlos an ihm vorüber gegangen zu sein.“ Nur zu verständlich. Atemu konnte sich noch gut an damals erinnern. Sie hatten mit angesehen, wie aus Akunadin ein Priester der Finsternis geworden war. Kurz darauf hatte sich heraus gestellt, dass der Onkel und ehemalige Schützer des Pharao zudem der Vater von Seto war. Er hatte gar Kisara rücksichtslos getötet, als sie sich ihm in den Weg gestellt hatte. Alles nur, um seine Pläne zu verwirklichen. Letztendlich hatte sich das eigene Blut jedoch gegen Akunadin gewandt. Seto selbst hatte seinen Vater erstochen. Schließlich erreichten sie die Zelle, in der Bakura untergebracht worden war. Die Wachen auf dem Gang erkundigten sich lediglich kurz, was ihren Herrscher zu so später Stunde hinab in die Gemäuer des Palastes führte. Dann wichen sie von der Tür zurück und entfernten sich ein Stück. Atemu wechselte noch einen letzten Blick mit Mana, auf deren Gesicht Schatten und das Licht der Fackeln um die Vorherrschaft kämpften. Dann klopfte er. Wie zu erwarten war, kam keine Antwort. Er versuchte es erneut, doch abermals wurde nicht reagiert. Schließlich drückte er die Klinke einfach herunter. In der Kammer herrschte völlige Dunkelheit. Lediglich durch die winzige Öffnung, die als Fenster diente, flutete ein wenig Mondlicht herein. Ihre Augen brauchten einen Moment, ehe sie sich an die Schatten gewöhnt hatten. Noch während sie eintraten, hörten sie das Rascheln von Stoff. Dann drang eine Stimme an ihre Ohren, die kaum mehr als ein bitteres Zischen war. „Was willst du?“ Aus der Dunkelheit schälte sich schließlich eine Gestalt. Atemu konnte nicht leugnen, dass er für einen kurzen Moment zusammen zuckte, als sein Gegenüber in den Schein des Mondes trat. Seine Züge waren hart wie eh und je. In den fliederfarbenen Augen lag ein Funkeln, das von Abscheu zeugte. Er hatte sich zu voller Größe aufgerichtet. Alles war ihm recht, doch er würde nicht zulassen, dass der Pharao ihn jemals am Boden sah. Das wusste Atemu. Auch wenn sein Körper etwas ganz anderes sprach. Er wirkte erschöpft. „Ich möchte dich etwas fragen“, erwiderte Atemu schließlich. Ein abwertendes Schnaufen war zu hören. „Und wieso sollte ich dir irgendwelche Antworten geben?“ „Weil er der Pharao von Ägypten ist!“, fauchte Mana dazwischen. Doch auch das schien den Grabräuber nicht im Geringsten zu kümmern. „Hat mich dieser Umstand jemals interessiert?“, giftete er zurück, ehe er sich abwandte und zu dem Fenster hinüber ging. Die nächtliche Brise umspielte seine Haare. Atemu entschied, dass es nichts bringen würde, ihn freundlich zu bitten. „Hast du jemals etwas von den Schattentänzern gehört?“, fragte er deshalb frei heraus. „Sehe ich so aus? Jetzt lasst mich endlich in Ruhe.“ „Soll das heißen, du weißt nichts über sie?“ Bakura schlug mit der Faust auf den Sims des Fensters. „Was bitte sollte ich mit einem Haufen von abergläubischen Spinnern zu tun haben? Und jetzt zieh endlich Leine.“ Die letzten drei Worte hatte er besonders betont. Seine Augen funkelten gefährlich. Wieder schaltete sich Mana ein. „Mich würde da mal etwas ganz anderes interessieren, wenn unser großer 'König der Diebe' uns darüber nichts zu erzählen weiß.“ Sie trat einen Schritt nach vorne und ballte die Hände zu Fäusten. „Was treibst du hier eigentlich? Hast du überhaupt eine Ahnung, wie großzügig es von Atemu war, dich nicht auf ewig hier einzusperren, nach allem, was du getan hast?“ Bakura hatte den Blick wieder nach draußen gewandt. Doch nun begann ein Muskel an seiner Schläfe gefährlich zu zucken. „Na los, sag schon! Ist das hier wieder irgendein Spielchen von dir? Hm? Oder traust du dich nach deiner grandiosen Niederlage einfach nicht mehr, dein Gesicht in der Öffentlichkeit zu zeigen?“ „Mana, das reicht!“ Doch Atemus Einwand kam zu spät. Sie hatte den Bogen bereits überspannt. Wie vom Blitz getroffen fuhr Bakura herum. „Verdammte Scheiße nochmal, verpiss' dich endlich, du kleines Miststück! Ich brauche eure Almosen nicht, kapiert? Lieber verrotte ich in diesem Kerker, als auch nur ein Angebot von unserem wunderbaren König anzunehmen!“ Sein Blick traf den des Pharao. Unendliche Wut, nein, brennender Hass, loderte darin. „Was glotzt du so?“ „Ich glotze nicht, Bakura. Ich empfinde lediglich Mitleid mit dir.“ Mit diesen Worten machte er auf dem Absatz kehrt und zog Mana mit sich aus der Kammer hinaus. Die Tür fiel krachend hinter ihnen ins Schloss. Zurück blieben Dunkelheit und Stille, die eine einzelne Seele umhüllten wie ein endloses Meer, aus dem es kein Entrinnen gab. Wie erstarrt, stand Bakura da und rührte sich keinen Zentimeter. Mitleid? Er taumelte nach hinten, bis er die Wand im Rücken spürte, dann sank er daran zu Boden. War es nicht genug, dass Anubis ihn zurück in diese verdammte Welt geschickt hatte? An den Ort, wo er zu Grunde gegangen war? Wo er all die Hoffnungen, die Toten seines Dorfes zu rächen, verloren hatte? Er presste die Nägel in die Handflächen, dass es schmerzte. Hatte er nicht irgendwann genug gelitten? Reichte die Qual nicht längst? Womit hatte er das verdient? Womit hatte er verdient, dass sein Erzfeind nicht einmal mehr Hass auf ihn verspürte? Wieso bekam er stattdessen diese erniedrigende Empfindung entgegen gebracht? Warum ausgerechnet Mitleid? Er schickte einen stillen Fluch in die Nacht hinaus. Einen Fluch, der ganz alleine Anubis galt. Er hatte nie an die Gnade der Götter geglaubt. Doch spätestens jetzt war er sich sicher, dass sie ihren Blick stets von ihm abgewandt hatten. Kapitel 9: Wege des Schicksals ------------------------------ Wege des Schicksals „Ich verstehe ja deine Wut. Aber das wird sie auch nicht mehr zurückbringen, Mana!“ Atemu und die Magierin standen noch immer auf der Treppe, die in die Kerker hinab führte. Tränen glitzerten in den Augenwinkeln der jungen Frau. „Es ist ungerecht. So verdammt ungerecht! Dieser hochnäsige Bastard wagt selbst in Gefangenschaft noch, dich zu beleidigen! Warum nur haben die Götter ausgerechnet ihn zurück gesandt? Warum nicht einen der anderen...“ Mana konnte ein Schluchzen nicht mehr unterdrücken. Die Frage nach dem 'Warum' nagte zunehmend an ihr. Was hatten Mahad, Isis, Shimon, Shadar, Karim verbrochen, dass man an ihrer Stelle einen irren Grabräuber zurück in die Welt der Lebenden schickte? Das konnte doch nicht sein! Der Kerl, der es vorzog in seinem Kerker zu verrotten, hatte sich kein Stück verändert. Wenn er die Möglichkeit hätte, die Ereignisse der Schlacht gegen Zorc zu wiederholen, er würde es tun, ohne mit der Wimper zu zucken. Die Wächter der Milleniumsgegenstände hingegen hatten sich für Ägypten aufgeopfert. Sie hatten ihr Leben in den Dienst eines ganzen Volkes gestellt. Es war einfach nicht gerecht... Sie hatte die Arme um die Brust geschlungen, schluchzte bitter. Atemu wagte nicht, die Entscheidung der Götter anzuzweifeln, doch er konnte sie verstehen. Er trat zu ihr hin und nahm sie in den Arm. Sofort legte Mana den Kopf an seine Schulter. „Was geschehen ist, ist geschehen. Daran können wir nun nichts mehr ändern. Wir können lediglich die Zukunft beeinflussen“, flüsterte er. Sie schluchzte. Wie schon so oft wurde ihm bewusst, dass auch die Zeit nicht alle Wunden heilen konnte. Manche Verluste waren zu schwer, schmerzten zu sehr, als dass man sie je wirklich verkraften konnte. Früher hatte er sich oft gefragt, warum ihm seine Feinde- Bakura beispielsweise- Dinge vorhielten, die eine halbe Ewigkeit zurück lagen. Inzwischen wusste er, dass es alles andere als einfach war, zu vergessen... „Lass uns noch ein wenig in die Gärten gehen“, schlug er schließlich vor. „Mir ist jedenfalls nicht mehr nach schlafen.“ Mana wischte sich die Tränen von den Wangen und stimmte mit einem Nicken zu. Kurz darauf schlenderten sie bereits die Wege entlang, die von üppigem Grün gesäumt waren. Der Wasserversorgung Men-nefers hatte der Krieg, dank der Nähe zum Nil, bislang nichts anhaben können. Die Magierin hatte sich bei Atemu eingehakt und sah die meiste Zeit, noch immer betrübt, zu Boden. Schließlich ließen sie sich auf einer steinernen Bank nieder. Noch eine ganze Weile schwiegen sie gemeinsam, ehe Mana den Blick zum Himmel hob und die Stille unterbrach. „Hier saß ich schon oft“, sagte sie. „Und habe die Götter gefragt, warum ausgerechnet sie von uns gehen mussten. Sie haben nicht nur ihr Leben in den Dienst des Landes gestellt- sie alle waren auch gläubig. Nur allzu oft haben sie den Göttern Ehre erwiesen. Ich verstehe es einfach nicht. Seto erzählte mir nach seiner Rückkehr aus Anubis' Reich, dass der, der die Herzen der Menschen wiegt, nicht mehr für uns tun könne, als dich zu uns zu schicken. Er hätte nicht Kraft, das Schicksal noch mehr zu beeinflussen. Aber wenn nicht einmal die Götter die Möglichkeit haben- wer dann?“ „Vielleicht ist das Schicksal etwas, das über allem steht“, überlegte Atemu, während er ihrem Blick folgte. „Eine Macht, die sogar noch größer ist, als die der Götter unseres Landes. Immerhin soll das Schicksal so kraftvoll sein, dass es unser Leben bereits vorher bestimmt, sobald wir geboren werden.“ Plötzlich musste Mana lächeln. Doch es war keine fröhliche Miene. „Wenn dem so ist, wäre es doch toll, wenn wir darüber auch gleich Bescheid wüssten. Ich meine, wenn es so einem Kerl wie Bakura vorher bestimmt gewesen wäre, gegen dich zu verlieren, dann hätte er all das doch gar nicht erst getan, oder? Dann wären vielleicht auch die anderen noch bei uns... außer es wäre tatsächlich ihr Schicksal gewesen, so bald von uns zu gehen“, fügte sie mit bitterem Unterton hinzu. Atemu musterte sie eindringlich. „Nein, ich denke nicht, dass Bakura seinen Plan verworfen hätte, hätte er gewusst, wie er enden würde“, meinte er schließlich. Die Frage, warum er so dachte, ließ nicht lange auf sich warten. „Ganz einfach. Würde dir jemand erzählen, es sei Men-nefers Schicksal, zu fallen, würdest du das Reich kampflos aufgeben? Ich jedenfalls nicht. Denselben Wagemut werden einige Menschen immer in sich tragen, ob sie nun wissen, was geschehen wird, oder nicht. Einige, und zu diesen gehöre ich, werden selbst dann noch kämpfen, wenn es vollkommen aussichtslos ist. Nur so habe ich schon die ein oder andere Schlacht gewonnen.“ Mana schien sich seine Worte eine Weile durch den Kopf gehen zu lassen. Schließlich nickte sie stumm. „Wahrscheinlich hast du recht. Außerdem ist es vielleicht manchmal ganz gut, nicht zu wissen, was geschehen wird. Wenn ich bereits lange Zeit zuvor gewusst hätte, dass Mahad an diesem Tag nicht mehr bei uns sein würde... ich wäre verrückt geworden, hätte ich auch nur im Geringsten darüber nachgedacht.“ Sie wandte sich um und legte den Kopf an Atemus Schulter. „Danke.“ „Wofür?“ „Dafür, dass du für mich da bist. Immerhin bist du der Pharao von Ägypten. Du hättest bestimmt Besseres zu tun, als dich mit den Problemen einer einfachen Hofmagierin herum zu schlagen. Schlafen beispielsweise.“ „Nichts könnte wichtiger sein, als die Probleme meiner Freunde.“ Sie schwiegen noch eine Weile. „Sag, Mana, was ist eigentlich aus den Milleniumsgegenständen geworden?“, fragte Atemu schließlich in die Stille hinein. „Sie liegen gut verwahrt in den Schatzkammern des Palastes. Seit die Finsternis besiegt ist, sind sie ohne Macht. Sie haben nur noch einen symbolischen Charakter. Zu Zeremonien oder anderen großen Anlässen werden sie ab und an dem Volk gezeigt. Sie stehen für den Sieg über Zorc.“ Inzwischen begann der Glanz der Sterne zu verblassen. Erste Sonnenstrahlen schoben sich an den Himmel und spendeten der Welt ihr Licht. Das Firmament lag in einem blassen Rosa über ihnen. Es war ein schöner Anblick- auch wenn er ihnen zugleich verdeutlichte, dass sie eine Nacht ohne jedes Fünkchen Schlaf hinter sich hatten. „Vielleicht sollten wir uns doch noch ein wenig ausruhen“, schlug Atemu schließlich vor. Die junge Magierin stimmte zu. Doch gerade, als sich die beiden erheben wollten, hielten sie inne. Irgendwo waren Stimmen laut geworden. Waren das Bürger, die sich unweit des Palastes stritten? Doch diese Überlegung wurde hinfällig, als sie sehen konnten, wie ein Trupp Soldaten durch eine Halle des Palastes eilte, die an den Garten grenzte. Was geht hier vor sich...?, schoss es Atemu noch durch den Kopf, dann vernahm er Schritte hinter sich. Er fuhr herum. Es war Seto. „Mein Pharao! Endlich habe ich Euch gefunden! Ich muss Euch bitten mir umgehend zu folgen.“ „Was ist geschehen?“, erkundigte sich der Herrscher des Landes sofort. Irgendetwas musste passiert sein. Und er hatte bereits einen leisen Verdacht, worum es sich dabei handeln könnte. „Caesian zieht seine Truppen zusammen. Es sieht aus, als würde er uns erneut angreifen.“ Sofort war Mana auf den Beinen. „Das wird das letzte Mal sein, dass er sich so etwas traut!“ „Würdet Ihr bitte nach meinen Freunden sehen und sie auffordern, den Palast auf keinen Fall zu verlassen?“, meinte Atemu sogleich an die Magierin gewandt. Sie nickte. „Ich werde Euch begleiten, Cousin.“ Sie trennten sich. Während Mana in das Königshaus eilte, hetzte der Pharao dem Hohepriester hinterher. Bald erreichten sie eine Treppe, die auf die Stadtmauer hinauf führte. Von hier aus hatten sie einen uneingeschränkten Blick über das ganze Land. Tatsächlich zogen sich Scharen von Soldaten am Horizont zusammen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie vollzählig waren und sich Men-nefer nähern würden. „Wie ist unsere Lage?“, erkundigte sich Atemu. „Die Soldaten sammeln sich bereits an den Stadttoren. Das Volk wurde aufgefordert, sich ins Innere Men-nefers zurückzuziehen. Die Streitwagen werden herbei geschafft. Wir werden vor den Toren Aufstellung beziehen. Wir müssen sie davon abhalten, überhaupt erst an unsere Stadtmauer zu gelangen. Denn wenn sie dies schaffen, ist der Nachteil auf unserer Seite.“ Atemu nickte. „Die Menschen, deren Heim außerhalb der Umgrenzungsmauer liegt, wurden in Sicherheit gebracht?“ Eine bestätigende Geste von Seiten Setos. „Gut. Ich möchte, dass die Krieger zwar Aufstellung beziehen, sich jedoch vorerst zurückhalten. Den Anfang wird einer der ägyptischen Götter machen. Caesian wird sehen, was es heißt, mein Volk und meine Familie, sowie meine Freunde zu bedrohen.“ Die Augen des Hohepriesters weiteten sich. „Bei allem Respekt, aber glaubt Ihr, dazu in der Lage zu sein? Die Macht der Milleniumsgegenstände ist verwirkt.“ Atemu legte die Stirn in Falten, nickte jedoch entschlossen. „Wenn ich wahrlich der Auserwählte bin, der die göttlichen Monster zu beschwören vermag, dann werde ich sie auch ohne die Hilfe der Artefakte rufen können“, erwiderte er ernst. Zugleich war sein Herz jedoch bang. Denn wenn dem nicht so sein sollte, dann stand das Schicksal des Reiches auf Messers Schneide. Es ist seltsam... Nachdenklich ließ sich Yugi an der Kante des großen Bettes nieder, das in mitten der Gemächer stand, die man ihm zugewiesen hatte. Auch er hatte kaum geschlafen. Zu aufwühlend waren all die Ereignisse gewesen. Abermals musterte er das ägyptische Gewand, das man ihm gegeben hatte. Seine eigene Kleidung war nach dem Sandsturm vollkommen ruiniert gewesen. Schließlich schweifte sein Blick durch die großen Fenster hinaus zum Himmel. Jedes Mal, wenn ich glaube, mein Leben hätte so etwas wie eine Ordnung, dann verpufft sie wieder. Es war kein böser Gedanke. Nein, vielmehr war er verwundert. Immer, wenn Yugi glaubte, die Welt endlich zu verstehen, dann gab sie ein neues Geheimnis preis, das ihn rätseln ließ. Auch diesmal war es wieder so. Er hätte nicht gedacht, dass es nach dem Sieg über Zorc noch irgendetwas geben könnte, dass Men-nefer in Gefahr zu bringen vermochte. Oder, dass er noch einmal in ein Abenteuer verwickelt werden könnte. Geschweige denn in eines, das in einer Zeit stattfand, die nicht die seine war. Doch er hatte sich wohl getäuscht. Da war ein Mann- Caesian. Der Herrscher eines benachbarten Reiches, der gewiss eine beachtliche Zahl an Truppen besaß, wie Yugi inzwischen gehört hatte, aber normalerweise keine Bedrohung für Ägypten darstellen sollte. Mit Unruhe im Herzen dachte er an die Berichte Setos, die von unheimlichen Kräften erzählten. Explosionen, die wie aus dem Nichts das Schlachtfeld erschütterten, Soldaten durch die Luft schleuderten und nur Chaos und Zerstörung zurück ließen. Etwas stimmte mit diesem Mann nicht, da waren sie sich alle einig. Nur was war es? Zorc war zerstört und somit auch die Macht, die diese Kreatur umgeben hatte. Das konnte es also schon einmal nicht sein. Somit schieden auch die Milleniumsartefakte aus, die zum selben Zeitpunkt von mächtigen Gegenständen zu goldenen Staubfängern geworden waren. Es musste etwas anderes sein. Für einen Moment dachte er gar an das Siegel von Orichalcos, bis ihm bewusst wurde, dass diese vernichtenden Kräfte zu dieser Zeit nicht von Bedeutung gewesen waren. Sie waren nur zweimal zum Einsatz gekommen: Im alten Atlantis und in der Zeit, aus der Yugi und seine Freunde stammten. Außerdem passten die Erzählungen von Caesians Angriffen nicht in das Schema. Keine leeren Körper, die die Seele ausgehaucht hatten und im scheinbaren Koma dahin vegetierten. Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken. Er antwortete und sogleich flog die Tür auf. Tea stand im Rahmen. Auch sie war in landesübliche Kleidung gehüllt. „Yugi, komm schnell!“ „Was ist passiert?“, erkundigte sich der Kleinere erschrocken, während er aufsprang. „Ich habe es gerade von ein paar Wachen gehört- Caesian greift die Stadt an!“ Sie rannten durch die Flure des Palastes. Deutlich waren bereits jetzt die Schreie von Menschen aus der Stadt zu hören, die ihrer Angst Ausdruck verliehen. Die anderen drei- Joey, Ryou und Marik- stießen kurz darauf zu ihnen. Die meisten Soldaten, die an ihnen vorüber eilten, schienen sie für ganz gewöhnliche Bedienstete zu halten, keiner nahm sie wirklich war- was wohl an ihren Gewändern liegen musste. Immer wieder stoppte die Gruppe, wenn sich zwei Gänge kreuzten. Der Palast war unglaublich riesig. Sich hier zu verlaufen war mehr als einfach. Beinahe ein Kinderspiel. Meist entschieden sie aus dem Bauch heraus, welchen Weg sie nehmen sollten. „Verdammt, wie kommen wir hier raus?“, schimpfte Joey und raufte sich die Haare, als er einen vorüber eilenden Soldaten erspähte. „He, du! Kannst du uns sagen, wie... Hey! Ich rede mit dir!“ Der Mann war einfach an ihnen vorbei gehastet, was den Blonden beinahe endgültig auf die Palme brachte. Marik versuchte, ihn zu beschwichtigen. „Sie haben bestimmt besseres zu tun, als uns den Weg zu zeigen.“ „Aber wir müssen zu Atemu! Wenn Caesian wirklich angreift, dann müssen wir ihm helfen“, warf Yugi ein. Er stutzte, als er hörte, wie jemand seinen Namen rief. Als er sich nach allen Seiten umsah, entdeckte er Mana. „He, weißt du zufällig, wo der Pharao ist?“, erkundigte sich Joey auch sogleich. „Wir wollen zusehen, wie er diesem Caesian in den Hintern tritt! Und ihm helfen, wenn es nötig sein sollte.“ Zustimmung ertönte von allen Seiten, während die junge Frau nähert trat. Sie schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, aber Atemu hat mich gebeten, euch auszurichten, dass er wünscht, ihr möget im Palast bleiben. Es ist zu eurer eigenen Sicherheit“, erwiderte die Magierin. „Er macht sich immer Sorgen“, sagte Yugi. „Aber das wird wirklich nicht nötig sein. Wir sind ihm sogar im Kampf gegen Zorc beigestanden.“ Doch Mana schüttelte abermals- und diesmal energischer- den Kopf. „Auch, wenn ihr seine Freunde seid: Atemu ist noch immer der Pharao von Ägypten. Was er anordnet, ist Gesetz.“ „Nun komm schon. Sei nicht so! Wir werden uns auch ganz brav zurückhalten, wenn er das alleine hinbekommt. Wir machen ihm schon nicht den Ruhm streitig“, meinte Joey zuversichtlich. Die Magierin musterte ihn kritisch. „Du scheinst den Ernst der Lage noch nicht ganz verstanden zu haben.“ „Wie meinst du das?“, fragte Tea besorgt. „Atemu mag ein mächtiger Pharao sein. Immerhin unterstehen ihm die drei ägyptischen Göttermonster“, erklärte Mana. „Aber Caesian ist nicht zu unterschätzen. Er hat unser Land in eine Situation gebracht, die Ihresgleichen sucht. Wir wissen nichts über diesen Mann. Seine Truppen haben die unseren zurückgeschlagen, als stellten sie nicht die geringste Bedrohung für ihn dar. Wir haben keine Ahnung, was er diesmal für uns bereit hält- immerhin dürfte ihm bekannt sein, dass Atemu zurück ist. Solche Nachrichten verbreiten sich rasch. Und er greift uns dennoch an. Des Weiteren ist ungewiss, ob unser König erneut in der Lage sein wird, die göttlichen Kreaturen zu beschwören, denn die Macht der Milleniumsgegenstände ist nicht mehr. Atemu mag zurück sein, das bedeutet jedoch nicht, dass sich unsere Probleme damit in Luft auflösen. Er ist noch immer angeschlagen, da er erst vor kurzem heim gekehrt ist. Versteht mich nicht falsch, auch ich glaube an ihn. Aber wir dürfen nun einmal nicht außer Acht lassen, dass diese Schlacht auch böse enden kann.“ „Dann werden wir ihm helfen“, meinte Yugi entschlossen. „Und wie wollt ihr das anstellen?“, erwiderte die junge Magierin. „Das soll nicht unhöflich klingen, aber ihr würdet in der Schlacht wahrscheinlich nur im Weg sein. Atemu wird sich voll und ganz auf den Gegner konzentrieren müssen.“ „Aber es muss doch eine Möglichkeit geben, wie wir ihm zur Seite stehen können“, warf Marik schließlich ein. „Wir können doch nicht einfach nur rumsitzen und zuschauen.“ Mana schien einen Moment zu überlegen. Dann kam ihr eine Idee. Sie wägte das Für und Wider ab, dann nickte sie. „Es gäbe da tatsächlich etwas, das ihr für uns tun könntet...“ Das Bersten von Keramik hallte durch die Gänge. Langsam sank sie an der felsigen Wand zu Boden. Sie hatte die Finger in die Haare gekrallt und die Augen zusammen gekniffen. Ein wütendes Knurren drang aus ihrer Kehle- ein Laut wie der eines Raubtieres, dem seine Beute entkommen war. Immer wieder zuckten die Bilder der vergangenen Nacht durch ihre Gedanken. Auch das Aufgehen der Sonne hatte die Schmach nicht vertreiben können. Sie hatte keinen Moment geschlafen. Zu sehr brodelte das Gefühl, versagt zu haben, in ihr. Dieses höhnische Grinsen auf dem Gesicht dieses Bastards... Mit einem Satz war Risha auf den Beinen. Sie packte eine Vase und schleuderte sie einmal quer durch den Raum. Ein schrilles Klirren hallte von den Felswänden wider. So gewahrte sie nicht die Schritte, die sich näherten. Erst, als sich die Person räusperte, fuhr sie herum und unterbrach für einen Moment ihre bitteren Flüche. Es war Riell. Das Bild, das er vor sich sah, überraschte ihn keineswegs. Er kannte seine Schwester- und ihren Jähzorn. Unbändige Wut loderte in ihren fliederfarbenen Augen, die ihn kurz abschätzend musterten. Noch immer klebte das Blut des Schattentänzers, der direkt vor ihnen aufgeschlagen war und seine Lebenssäfte in alle Richtungen verteilt hatte, in ihrem Haar. Doch das schien sie nicht im Geringsten zu kümmern. Sie hatte den Blick wieder von ihm abgewandt, fixierte die Scherben. „Du solltest dich lieber ausruhen. Das hilft doch nichts“, murmelte Riell und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Auch er hatte kaum geschlafen. Zudem konnte er sich die Antwort, die nun folgen würde, bereits denken. Und es kam tatsächlich, was er sich vorgestellt hatte. „Oh doch!“, wurde er von Risha angefahren. „Es tut nämlich verdammt gut!“ Sie wirbelte herum und schlug die Hände über dem Kopf zusammen, krallte die Finger wieder in das hüftlange, sandblonde Haar, von dem ihr einige Strähnen wirr ins Gesicht hingen. „Dieser Abschaum! Diese gottlose Missgeburt! Ich werde ihm seine Gedärme heraus reißen und ihn damit erdrosseln! Er wird schon noch sehen, was es bedeutet, sich mit mir, ranghohem Mitglied der Schattentänzer, anzulegen!“ Sie ließ die Hände, zu Fäusten geballt, nach unten sausen. Für einen Moment musterte sie die Hälfte der Vase, die noch nicht in tausende Scherben zersprungen war. Dann versetzte sie dem Stück einen Tritt, dass es gegen die nächste Wand flog und dort in noch mehr Einzelteile zerfiel. Riell sah dem Ganzen kopfschüttelnd zu. Seine Schwester konnte so wahnsinnig aufbraußend sein, wenn etwas nicht so lief, wie sie es sich gerade vorstellte. Sie hatte wohl das meiste Temperament im gesamten Clan. Ja, er konnte durchaus nachvollziehen, wie sie sich fühlte. Doch dem ganzen auf diese Weise Ausdruck zu verleihen, war in Riells Augen absolut sinnlos. Er seufzte. Wütende, fliederfarbene Augen durchbohrten ihn auf diesen Laut hin. „Die Vase kann doch nichts dafür...“ „Wär's keine Vase geworden!“, war die patzige Antwort. Offenbar waren Risha die Scherben noch immer nicht klein genug. Ein Stück weigerte sich beharrlich zu zerspringen. Mit einem Aufschrei zog sie einen der Dolche und schleuderte ihn auf die Überreste des Gefäßes. Erneut schallte das Klirren durch die Gänge. Doch diesmal blieb es nicht unbeantwortet. „Risha! Das reicht!“ Sofort fuhr die junge Frau herum. Ein Zischen entkam ihrer Kehle, als ein Mann die Höhle betrat. Langer, schwarzer Stoff wallte von seinen Schultern herab. Graues Haar fiel auf seinen Rücken. Braune Augen fixierten sie. Ein Seufzen drang aus dem Mund, der von einem Bart umgeben war. „Denkst du, dieses Verhalten ändert irgendetwas an der Lage? Nein, ganz gewiss tut es das nicht. Anstatt dich so aufzuregen, wäre es klüger, darüber nachzudenken, wie wir beim nächsten Mal vorgehen sollten. Deine Wut noch zu nähren wird uns dabei nicht behilflich sein. Sie verschleiert eher den Verstand.“ Risha biss sich auf die Unterlippe. Sie dachte darüber ganz anders. Wut, Hass... das waren die Dinge, die sie schon zu oft am Leben erhalten hatten. Sie hatte schon in jungen Jahren eines gelernt: Es war wesentlich einfacher und effektiver zu hassen, als zu lieben. Doch sie würde es nicht wagen, zu widersprechen. Nicht ihm gegenüber. Denn dieser Mann war nicht irgendjemand. „Nun hört mir zu“, fuhr der auch schon in weniger strengem Tonfall fort. „Die Situation hat sich verschlimmert.“ „Inwiefern?“, hakte Riell sofort mit hochgezogener Augenbraue nach. „Ich dachte, das wäre kaum noch möglich.“ „So kann man sich täuschen, mein Sohn. Wie ihr wisst, hat Caesian Männer ausgesandt, um nach den anderen Artefakten zu suchen. Ich habe während eurer Abwesenheit einige der unseren losgeschickt, um die Relikte zu bergen, ehe sie ihm in die Hände fallen können. Zwei von ihnen waren erfolgreich... doch der Dritte ist noch immer nicht zurück gekehrt.“ Sofort schnellte Rishas Kopf herum. „Soll das etwa heißen...?“ „Wir werden sofort aufbrechen, und nach ihm suchen!“, sagte Riell. Doch sein Vater gebot ihm Einhalt. „Das wird nichts mehr nutzen. Er ist gewiss tot.“ Betretenes Schweigen folgte. Die Frau unter den drei Schattentänzern hatte die Hände zu Fäusten geballt. Die Herrschsucht Caesians kannte offenbar keine Grenzen. Wenn sie ihn nicht längst hätte töten wollen, spätestens jetzt wäre es der Fall gewesen. Es war bereits wahnsinnig, ein Artefakt zu benutzen. Aber dass er nun noch ein weiteres Relikt in seine Gewalt bringen konnte... Sie schüttelte den Kopf. Dieser Mann musste den Verstand verloren haben. Er schien nicht einmal ansatzweise zu verstehen, welches Risiko er damit einging. Schön und gut, sollte er Men-nefer dem Erdboden gleich machen. Dieser Umstand war ihr egal- solange er nicht durch die Gegenstände der Götter herbei geführt wurde. Zudem hatte dieser Mann gestohlen. Die Artefakte befanden sich seit Generationen in Besitz des Clans. Noch etwas, das in Rishas Augen keineswegs ungesühnt bleiben durfte. „Wie ich bereits sagte, habe ich die anderen Relikte holen lassen“, fuhr der Mann schließlich fort. „In ihren Verstecken waren sie nicht mehr sicher. Jemand muss sie beschützen. Als Oberhaupt des Clans ist es meine Pflicht, für ihre Sicherheit zu sorgen. Und ich möchte, dass ihr mir bei dieser Aufgabe helft. Ich wünsche, dass ihr die Gegenstände tragt.“ Überraschte Blicke von Seiten Riells folgten. „Vater, seid Ihr Euch dieser Worte bewusst? Die Relikte sind nicht dazu bestimmt, von Menschen geführt zu werden. Ihre Macht ist zu groß. Auch, wenn wir keine bösen Absichten hegen, nicht daran denken, die Artefakte zu nutzen, so ist diese Aufgabe dennoch riskant.“ Der ältere Mann nickte. „Ich weiß. Doch es ist unsere einzige Möglichkeit. Wir können die Gegenstände nicht irgendwo zurück lassen. Die Gefahr, dass er sie findet und sie sich unter den Nagel reißt, ist zu groß.“ Er schlug den Stoff des Bündels, das er bei sich trug, beiseite. Die Geschwister konnten einen Laut des Erstaunens nicht unterdrücken. Vor ihnen lagen tatsächlich zwei der mächtigsten Relikte, die es auf dieser Welt gab. Das Licht der Fackeln spiegelte sich in dem perfekt verarbeiteten Gold. Eine Aura, die beinahe greifbar war, ging von ihnen aus. „Dies ist für dich, mein Sohn.“ Ehrfürchtig ergriff Besagter die metallene Schreibfeder. Beinahe so, als habe er Angst, er könne sie zerbrechen, wog er das Relikt in der Hand. Jede Einzelheit, die auch ein gewöhnliches Schreibwerkzeug an sich gehabt hätte, war zu erkennen. Sie war unglaublich schön. „Die Feder des Thot...“, flüsterte er. Der ältere Mann nickte. „Sehr wohl. Und dies möchte ich dir anvertrauen, Risha.“ Sie umfasste den Knauf des goldenen Messers. Dafür, dass es komplett aus solch edlem Metall gefertigt worden war, lag es erstaunlich gut in der Hand. Zweifellos war dies nicht nur einfach ein Gegenstand, sondern auch eine Waffe. Sie musterte sie scharfe Klinge. Als sie diese über ihren Finger gleiten ließ, war sofort eine dünne Blutspur zu sehen. Der Dolch des Anubis. „Das ist... atemberaubend“, meinte sie schließlich. „Ich weiß, welche Bürde ich euch damit auferlege. Glaubt mir, es wäre mir lieber, es nicht tun zu müssen, doch es gibt keinen anderen Weg. Beschützt diese Gegenstände, egal was es kosten mag- zur Not mit eurem Leben, auch wenn mich dieser Gedanke schaudern lässt. Doch mir bleibt keine Wahl. Ihr seid die einzigen, denen ich diese Relikte guten Gewissens anvertrauen kann. Ich selbst werde ebenfalls eines von ihnen hüten- die Saat des Chnum. Zeigt sie niemandem, sondern haltet sie versteckt. Und hütet euch, ihre Macht zu nutzen. Ein jeder Versuch, dies zu tun, könnte der letzte sein. Für uns alle.“ Risha und ihre Bruder verbeugten sich. „Wir danken Euch für euer Vertrauen, Vater. Doch... welches Artefakt konnte Caesian erbeuten?“ Das Oberhaupt der Schattentänzer zögerte. Schließlich seufzte er. „Nephthys Tränen sind ihm zum Opfer gefallen. Und er ist im Begriff, sie gegen Men-nefer einzusetzen.“ Die Augen seiner Kinder weiteten sich vor Entsetzen. ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~* So, das war nun noch ein kleiner, spontaner Sonntagabend-Upload. Die nächsten beiden Wochen kann es sein, dass es hier nicht voran gehen wird, da ich in dieser Zeit sehr beschäftigt bin. Danach beeile ich mich aber mit dem nächsten Kapitel. Des Weiteren möchte ich mich an dieser Stelle einmal für die ganzen Kommentare bedanken. Und auch ein Danke an Kianael, die sich fleißig vorab durch meine Texte kämpft. Sechmet Kapitel 10: Kampf um Men-nefer ------------------------------ So, das bin ich wieder. Leider war die Pause ein wenig länger, als gedacht. Aber ich bin einfach nicht dazu gekommen, etwas hoch zu laden. Zudem bin ich recht selbst kritisch, was diese FF anbelangt. Dieses Kapitel habe ich ungelogen über zehn Mal auf Fehler durchgelesen, ehe ich mir dachte, dass es so passen müsste. Aber gut, nun genug des Redens. Ich hoffe, es haben sich weder Rechtschreib-, noch Grammatik-, noch Logikfehler eingeschlichen. Doch nun wünsche ich viel Spaß bei "Kampf um Men-nefer"! Kampf um Men-nefer Unter ihm erstreckte sich der Wüstensand, auf dem nun die Soldaten Ägyptens standen. Von der Stadtmauer aus hatte er die Aufstellung im Blick. An vorderster Front standen Speerträger. Hinter ihnen reihten sich jene, die mit Äxten und Kolben bewaffnet waren. Einige von ihnen führten auch ein Chepesch, ein traditionelles Schwert, dessen Klinge gekrümmt war. An den Flanken der Formation hatten die Streitwagen Stellung bezogen. Die letzte Reihe bildeten die Bogenschützen. Einige von ihnen waren auch auf den Mauern Men-nefers positioniert. Atemus Herz schlug ihm fast bis zum Hals. Die Armeen waren etwa von gleicher Truppenstärke. Und dennoch war er beunruhigt. Was immer das Geheimnis seines Feindes war, er musste sich davor in Acht nehmen. Er versuchte, sich zu konzentrieren. Jeden Moment würde es soweit sein. Die Schlacht würde beginnen. Er hatte die Anweisung gegeben, dass sich die Krieger Ägyptens vorerst zurückhalten sollten. Vielleicht würde die Kraft der Göttermonster ausreichen, um diesem Drama ein für alle Mal ein Ende zu setzen, sodass niemand aus seinem Volk mehr den Tod finden musste. Er fragte sich, ob es wohl möglich war, Hirakith erneut zu beschwören. Eine innere Stimme ließ ihn jedoch daran zweifeln. Dies war kein Kampf, indem sich Licht und Finsternis gegenüber standen- lediglich im übertragenen Sinne war dies der Fall. Außerdem konnte er von Glück sprechen, wenn es ihm auch nur gelang, ein einziges göttliches Monster in die Schlacht zu führen. „Wir schlagen ihn“, murmelte Seto. „Macht Euch keine Sorgen, mein Pharao. Am Endes dieses Tages wird Ägypten wieder frei sein.“ Deine Worte in den Ohren der Götter, Cousin..., schoss es Atemu durch den Kopf. Dann wurde er aus den Gedanken gerissen. Es war ein Lachen, das ihn dazu brachte, sich umzudrehen. Hinter ihm stand niemand anderes als Marlic. „Was willst du?“, fragte er betont ruhig. Auch wenn er gerade angespannt war, er musste sich zusammen reißen. Denn eine Diskussion mit seinem Gegenüber würde ihn jetzt nur noch mehr unter Stress setzen. „Na was wohl? Ich schaue zu. Oder denkst du, ich lasse mir die Show entgehen?“, war die Antwort, die aus einem Mund kam, der zu einem breiten Grinsen verzogen war. „Ja, genau, bleib einfach da stehen“, meinte der Hohepriester sarkastisch. „Vielleicht haben wir Glück und du wirst von einem Pfeil durchbohrt.“ „Aber aber, Seto! Was habe ich Euch denn getan, dass Ihr so gegen mich seid?“ „Du nervst!“ Weiter kamen sie in ihrem Streit nicht. Weitere Personen rannten die Treppe empor, die auf die Mauer führte. Mana eilte dem Pharao entgegen, gefolgt von Yugi und dem Rest der Gruppe. Marik warf seinem Ebenbild im Vorübergehen einen bösen Blick zu. „Was hat das zu bedeuten?“, meinte Atemu verblüfft und musterte seine Freunde. „Mana?“, fügte Seto in strengem Tonfall hinzu. „Sie kann nichts dafür“, schaltete sich Joey ein. „Wir haben uns geweigert, einfach nur tatenlos herumzusitzen und zu zu schauen. Wir wollen dir helfen, Alter! So, wie wir es immer getan haben!“ „Hört zu, das ist wahnsinnig lieb von euch, aber...“, wollte der Pharao ansetzen, doch Yugi unterbrach ihn. „Keine Widerrede! Solltest du unsere Hilfe nicht brauchen, werden wir uns zurückhalten. Aber für den Fall der Fälle bleiben wir hier. Dann können wir dich unterstützen.“ „Aber wie...“ Da fiel Atemu das goldene Gestell auf, das an den Armen seiner Freunde befestigt war. „Was ist das?“ „Mana! Was soll das? Du kannst doch nicht irgendwelchen Leuten einen Diadiankh aushändigen!“, schnauzte Seto. „Sie haben keine Ahnung, wie man damit umgeht!“ „Mach dir keine Sorgen“, erwiderte die Magierin. „Ich habe es ihnen erklärt. Sie werden damit zurecht kommen.“ Dann wandte sie sich an den Pharao. „Dies ist eine Erfindung Eures Cousins. Ein sogenannter Diadiankh. Mit ihm können Ka-Bestien aufgerufen werden, die zuvor in Steintafeln versiegelt wurden. Was leider noch immer ab und an nötig ist- manche Träger dieser Wesen benutzen ihre Zwillingsseelen auch in Zeiten des Friedens, um damit Schaden anzurichten. Deshalb hielten wir es für besser, einigen davon eine andere Bestimmung zukommen zu lassen. So können sie Menschen dienen, die nicht Herr eines Kas sind.“ Marlic hatte sich inzwischen auf die Mauer gesetzt. Es sah beinahe aus, als würde er es sich bequem machen. Er grinste unbeirrt in sich hinein, während er den 'Kindergarten' musterte, der sich seiner Sache nur allzu sicher war. Dieser Kampf schien wahrlich amüsant zu werden. „Wunderbar. Dann kann's ja losgehen. Fehlt nur noch das Popcorn.“ Mana sah ihn irritiert an. „Was ist Popcorn?“ „Nicht wichtig“, versicherte Atemu schnell und winkte ab. „Erkläre ich dir ein anderes Mal.“ Er wandten seinen Blick wieder hinab auf das Feld vor Men-nefers Toren. Die feindliche Armee war inzwischen zum Stehen gekommen, hatte gegenüber den Kriegern Ägyptens Stellung bezogen. Die bedrohliche Aura, die wie eine Wolke über dem Wüstensand hing, ließ ihn kaum Atem finden. Das Herz schlug zunehmend schwerer in seiner Brust. „Jetzt können sie jeden Moment angreifen“, meinte Seto und schlug seinen Umhang zurück. „Aber diesmal werden sie auf Granit beißen.“ Mana blickte sich noch einmal nach den anderen um. „Ihr wisst alle noch, was ich euch über die Kreaturen gesagt habe, die ihr beschwören könnt?“ Einstimmiges Nicken folgte. In der Ferne konnten sie einen Mann erblicken, der hoch zu Ross auf einer Düne stand. Er war umgeben von einigen Kriegern und Männern, die nicht aussahen, als würden sie sich in die Schlacht stürzen. „Das ist Caesian“, murmelte Seto. „Wie immer hält er sich selbst aus der Schlacht heraus. Er wird wieder dieses Etwas vorschicken, von dem wir noch immer nicht wissen, was es ist.“ „So ein Feigling!“, kommentiere Joey. „Wenn er Men-nefer haben will, dann soll er selber kommen und es sich holen!“ Der Hohepriester musterte den Blonden mit hochgezogener Augenbraue. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich dir einmal beipflichten müsste.“ Der Angesprochene gab ein breites Grinsen zurück. „Und ich hätte nicht gedacht, dass man mit dir fast so gut diskutieren kann, wie mit dem Seto aus unserer Zeit. Aber auch nur fast.“ Dann wandten beide den Blick wieder auf das Feld. Einer der Männer, die neben Caesian Aufstellung bezogen hatten, sprang auf ein Pferd und ritt an den Soldaten vorüber. Erst, als er sich zwischen den beiden Armeen wiederfand, zügelte er das Reittier. Seine kräftige Stimme schallte über die Kopfe der ägyptischen Kämpfer hinweg und drang bis zur Mauer hinauf. „Pharao! Ihr habt bis zu diesem Punkt tapfer gekämpft und eine Stadt verteidigt, wie es wahrlich nur die Ägypter vermögen. Doch nun ist es vorbei. Ab heute wird Men-nefer, und somit das ganze Land, dem großen Herrscher Caesian gehören! Ihr habt die Möglichkeit, euch freiwillig zu ergeben, oder in den Tod zu gehen. Welche Wahl trefft ihr?“ „Niemals werden wir aufgeben“, flüsterte Seto. Er warf einen Seitenblick auf Atemu, der dies durch ein Nicken bestätigte. „Ich werde meine Heimat und das zu Hause meines Volkes nicht kampflos in eure Hände legen! Zieht von dannen, kehrt zurück in euer Reich! Noch habt ihr die Chance umzukehren. Denn ich werde nicht zögern, die Macht, die mir zu eigen ist, gegen euch zu richten, solltet ihr weiterhin das Leben all dieser Menschen bedrohen!“ Der Mann warf einen prüfenden Blick zu seinem Gebieter, der kaum merklich den Kopf schüttelte. Dann wandte er sich wieder an die Ägypter. „So wird es euer Schicksal sein, zu sterben.“ Er riss sein Pferd herum und galoppierte wieder hinter die Reihen von Kriegern zurück. „Schicksal...“, murmelte Mana. „Das einzige Schicksal, das sich heute erfüllen wird, ist die Niederlage von diesem Kerl.“ „Richtig“, stimmte Marik zu. „Das wird er auch gleich sehen.“ Irgendwo in den feindlichen Reihen ertönte ein Horn. Man konnte regelrecht fühlen, wie sich die Männer auf dem Feld anspannten. Der Feind ließ die Speere der ersten Reihe nach vorne richten. Atemu schluckte schwer. Nun war es also tatsächlich so weit. Alle Hoffnungen, diesen Krieg ohne ein Blutvergießen zu beenden, lösten sich mit einem Mal in Luft auf. Ihm blieb keine andere Wahl mehr. Der Kampf war unausweichlich. Dutzende Fragen, die er die letzten Tage hatte verdrängen können, waren auf einmal vollkommen präsent. Wie viele Feinde würde er töten müssen, um seine Heimat vor einem Wahnsinnigen schützen zu können? Wie viele Frauen Ägyptens würden in den nächsten Tagen ihre Söhne, Brüder und Ehemänner zu Grabe tragen müssen? Würde die Wunde, die dieser Mann auf der anderen Seite des Schlachtfeldes seinem Land zugefügt hatte, jemals heilen können? Oder würde eine Narbe zurück bleiben, die nie vergessen ließ? Die entscheidendste dieser Fragen brachte seinen Magen dazu, sich zusammen zu ziehen. Würden sie siegen? Oder würde am Ende des Tages dieser Tyrann auf Atemus Thron sitzen, sein Volk knechten und die Kultur, sowie die Religion, mit Füßen treten? Er schüttelte den Kopf. Nein. Soweit konnte, durfte es nicht kommen. Niemand würde ungestraft die Menschen bedrohen, die ihre Hoffnung in ihn setzten- und schon gar nicht seine Freunde. Wenn es sein musste, dann würde das Blut dieses Kerls am Abend den Sand Ägyptens tränken. Der Ruf eines Feldherren ertönte. Die Luft schien zu vibrieren. Dann stürmten die ersten Soldaten Caesians nach vorne. Ihnen folgte wenige Augenblicke später die verbliebene Masse. „Genug ist genug!“, rief Atemu. „Bereite dem Ganzen ein Ende! Ich rufe dich, geflügelter Drache des Ra! Antworte auf meinen Hilfeschrei, Gottheit der Sonne! Höre mich an und rette mit der Macht, die du mir leihst, dieses Land vor einem Herrscher, der seinen Titel nicht verdient!“ Er reckte die Faust in die Höhe. Für einen bangen Moment schien nichts zu geschehen. Doch dann spürte der König Ägyptens eine altbekannte Kraft durch seine Glieder strömen. Ein Gefühl der Wärme. Eine Berührung in seinem Geist, die stärker, intensiver war, als jede körperliche. Es war, als läge die Hand eines Gottes selbst auf seiner Schulter, als flüstere eine Stimme, dass er nichts zu befürchten habe. Ein Impuls ließ ihn die Augen schließen. Für einen Moment flammte ein Bild vor ihm auf. Ein gigantischer Obelisk, der sich aus dem Wüstensand erhob. Ein Falke, der zu Fuß des gewaltiges Bauwerks mit den Schwingen schlug und vom Glanz der Sonne selbst umhüllt war. Doch die Erscheinung verblasste ebenso rasch, wie sie gekommen war. Verwundert öffnete Atemu seine Augen- und traute ihnen kaum. Gleißendes Licht durchflutete die feindlichen Reihen. Es war, als habe sich das Strahlen der Sonne verdoppelt. Geblendet hielten einige der heran nahenden Kämpfer inne und schlugen die Arme vor das Gesicht. Pferde scheuten und warfen ihre Reiter zu Boden. Seine Gebete waren erhört worden. Es gelang tatsächlich. Eine glühende Kugel senkte sich vom Firmament herab, erschien wie aus dem Nichts. Langsam begannen die einzelnen Segmente, sich zu lösen. Schließlich peitschten Flügel die heiße Wüstenluft. Klauen glänzten gefährlich. Der goldene Panzer der Kreatur erschien undurchdringlich. Ein Schrei drang aus der mächtigen Kehle, entwich durch den Schnabel, über dem rot leuchtende Augen saßen. Das Monster der ägyptischen Götter war erschienen. Ra hatte ihm seine Hilfe gewährt, ihm ein weiteres Mal einen Teil seiner Macht geliehen. Atemu sandte ein Stoßgebet zum Himmel. Sollte das Schicksal seines Landes vor wenigen Tagen noch besiegelt gewesen sein, so war dies nun endgültig vorbei. Jubel wurde unter den Kriegern vom Nil laut, schallte durch die ewigen Reihen von Kämpfern. Sie reckten siegessicher ihre Waffen in die Höhe. Selbst Seto konnte sich einen erleichterten Laut nicht verkneifen. Mana entwich ein Schrei der Freude. „Es hat geklappt! Es hat tatsächlich geklappt! Ich wusste es! Ihr seid der Auserwählte, Euer Majestät, ob mit oder ohne Milleniumspuzzle!“ „Ich hätte nicht gedacht, dass ich ihn nochmal sehen würde...“, meinte Marik indes andächtig. „Er ist noch furchteinflößender als damals.“ „Hey Pharao!“, beschwerte sich die andere Hälfte des jungen Mannes. „Warum ausgerechnet Ra? Hättest du nicht Slifer oder Obelisk nehmen können?“ Ein kurzes Grinsen huschte über Atemus Lippen. „Um dich zu ärgern natürlich“, sagte er mehr zu sich selbst, als zu sonst jemandem. Dann wurde er wieder ernst. Die anfängliche Euphorie zügelte er. Ja, die Kreatur war seinem Ruf gefolgt. Ebenso sah es danach aus, als wäre Ägypten am Ende dieses Tages wieder ein Land, das frei von Krieg war. Doch noch war die Schlacht nicht geschlagen. Der Drache des Ra senkte sich herab und landete zwischen den beiden Armeen. Sofort wichen die Krieger des Feindes ein Stück zurück. Einige von ihnen verließ der Mut. Sie suchten panisch das Weite. Atemu beugte sich über die Mauer. Er füllte seine Lungen mit Luft und brüllte, so laut er konnte. „Ich warne dich ein letztes Mal, Caesian! Kehre um, solange du noch kannst!“ Seine Stimme hallte noch einige Male von den Mauern Men-nefers wider. Auf den Lippen des Feindes spielte jedoch nur ein amüsiertes Grinsen. Leise kicherte der fremde Herrscher in sich hinein. Seine Augen blitzten lüstern auf. „Das hättest du wohl gerne. Am Ende dieses Tages werde ich auf deinem Thron sitzen, Junge“, flüsterte er. „Dich mache ich fertig...“ Einen Moment lang geschah gar nichts. Nach einigen weiteren Augenblicken schlich sich ein Grinsen auf das Gesicht des ägyptischen Hohepriesters, dessen Blick auf dem Feind ruhte. Zog Caesian etwa in Betracht, zu kapitulieren? Es wäre zumindest das einzig vernünftige, wie Seto fand. Die Götter standen auf der Seite des Landes vom Nil. Sie hatten ihr Geschöpft hernieder geschickt, um diesen Bastard in Grund und Boden zu stampfen. Er konnte nicht mehr gewinnen. Nicht gegen dieses göttliche Wesen... Dann plötzlich ein ohrenbetäubender Knall. Der geflügelte Drache des Ra taumelte ein Stück zurück und stieß einen gellenden Schrei aus. Rauch stieg von seinem Körper auf. Atemu griff sich an die Brust. Ein Stöhnen entkam ihm, das Gesicht war vor Schmerz verzerrt. Die Attacke war wie aus dem Nichts gekommen, sodass Seto für einen Augenaufschlag zu verdutzt war, um zu reagieren. Dann sprang er jedoch vor. „Es ist die Kreatur! Männer! Zum Angriff!“ Die Soldaten preschten los, an dem Geschöpf ihres Königs vorbei. Nur kurz darauf prallten die Armeen aufeinander. Waffen trafen gegen andere, flogen zurück und schlugen erneut zu. Pferde überrannten menschliche Körper. Bogenschützen schossen Pfeile in die Menge. Die Streitwagen der Ägypter rissen durch die Klingen, die an den Rädern befestigt waren, haufenweise Feinde von den Füßen und verletzten sie. Seto und Mana beschworen eilig ihre Ka-Bestien. Der weiße Drache stieß ein wütendes Brüllen aus, als er sich auf Schwingen, hell wie Schnee, in den Himmel erhob. Kaum, da er erschienen war, schleuderte er einen leuchtenden Blitz in die feindlichen Reihen. Auch Darla zögerte nicht lange. Eine Salve von magischen Kugeln regnete auf Caesians Soldaten hinunter. Yugi wollte ebenfalls eingreifen, doch Atemu hielt ihn zurück. „Noch nicht! Die Schlacht hat soeben erst begonnen!“ Pfeile surrten durch die Luft, ehe sie mit widerlichen Lauten in die Körper von Menschen schlugen. Kolben und Äxte zertrümmerten Knochen, Klingen durchtrennten Haut, Fleisch und Muskeln. Überall auf dem Schlachtfeld erklangen Schreie. Laute der Wut, der Angst, des Todes. Bald bedeckte Blut den Boden wie ein Teppich aus rotem Samt. „Weißer Drache! Lichtblitz!“ Die mächtige Kreatur stieß einen Schrei aus, dann zuckte der brennende Strahl über das Feld und traf abermals die feindlichen Reihen. Mit einem Knall flogen Körper durch die Luft, hauchten ihr Leben aus. Rubinroter Saft versickerte im Sand, während Rauch zum Himmel aufstieg. Es krachte erneut. Mit einem Aufschrei griff sich Seto an den Kopf. Irgendetwas hatte seine Bestie am Schädel getroffen. Bald darauf spürte er, wie sich etwas warmes, flüssiges unter seinen Fingern ausbreitete und seine Haut benetzte. Ein Blick auf seine Hand bestätigte seinen Verdacht: Er blutete. Er sah zu seiner Kreatur, nur um festzustellen, dass es dieser nicht anders erging. Mühsam rappelte sich der Drache auf, nur um im nächsten Moment mehrere Krieger, die mit Speeren auf ihn hatten losgehen wollen, mit dem Schweif hinfort zu schleudern. „Dieser Bastard!“, fluchte Seto. „Wir sollten versuchen, Caesian direkt anzugreifen. Ohne ihn sind seine Truppen völlig orientierungslos und wissen nicht, was sie tun sollen.“ „Das hat beim letzten Mal auch nicht funktioniert“, erwiderte Mana, deren Ka-Bestie mehreren Pfeilen auswich, ehe sie einen Angriff auf den Gegner startete. „Diesmal ist die Macht der Götter auf unserer Seite!“, rief Atemu. „Geflügelter Drache des Ra! Befreie uns von diesem Mann und beschütze Ägypten!“ Flammen, gleißend wie das Licht der Sonne, schossen aus dem Maul des göttlichen Wesens. Sie schlugen eine Schneise in die Reihen von Kämpfern, loderten Caesian entgegen. Während einige der Umstehenden panisch das Weite suchten, blieb der Herrscher jedoch ungerührt stehen. Sein Grinsen war noch breiter. Er riss das Zepter in die Höhe, das er mit sich führte. Das wird euch nichts nützen! Kurz bevor die Attacke den Feind treffen konnte, erschien für den Bruchteil einer Sekunde eine schwarze Gestalt auf dem Feld. Der Angriff des geflügelten Drachen wurde von einer unsichtbaren Mauer zurückgeworfen, dann verschwand das Wesen so schnell, dass sie es nicht hatten erkennen können. Ras Bestie schwang sich in die Luft, um dem Schlag entgehen zu können, der auf sie zurück geworfen wurde. Ein lauter Knall, dann wurden abermals Menschen durch die Luft geschleudert. Sand wirbelte auf und hing in einer Wolke über dem Schlachtfeld. Der Geruch von verbranntem Fleisch und Blut war allgegenwärtig. „Darla! Kannst du den Feind irgendwie ausfindig machen?“ Mana zweifelte zwar daran, dass es gelingen würde. Doch einen Versuch war es wert. Wie die letzten Male auch, da sie am Ende erfolglos geblieben waren... aber vielleicht konnte es diesmal klappen. Dieses fremdartige Biest, das sich einfach nicht zeigen wollte, konnte sich nicht ewig verstecken- und es musste eine Schwachstelle haben. Darla kehrte auf die Stadtmauer zurück und konzentrierte sich. Seto hatte inzwischen aufgegeben, seine Kreatur auf die feindlichen Krieger zu hetzen. Immer wieder waren die Lichtblitze abgelenkt oder zurück geschleudert worden. Das gegnerische Etwas schützte diesmal also nicht nur den König selbst, sondern auch dessen Truppe. „Wir müssen näher an ihn heran“, murmelte der Hohepriester. „Das sehe ich genau so. Ra!“, brüllte Atemu. „Zeig uns deine wahre Macht! Bereite diesem Kampf ein Ende!“ Der geflügelte Drache ließ einen Schrei vernehmen, dann schoss er in den Himmel hinauf, während sein Körper in Flammen aufging. Seine Konturen verschwammen, wurden verschluckt vom Feuer. Erneut blendete der grelle Schein die Kämpfenden. Jetzt hatte die Kreatur die Gestalt eines gewaltigen, lodernden Phönix. Immer wieder glitt ein Schwall der Hitze über die Menschen hinweg, wenn die flammenden Schwingen schlugen. Der glühende Schweif peitschte durch die Luft. Zwei gleißend helle Augen fixierten das Schlachtfeld. „Mana, hatte deine Zwillingsseele Erfolg?“, erkundigte sich der junge Pharao noch rasch bei seiner Kindheitsfreundin. Diese schüttelte den Kopf. „Nein. Immer, wenn sie dieses Ding beinahe erfassen kann, verschwindet es wieder.“ „In Ordnung. Wenn das so ist, werden wir uns eben zuerst um Caesian selbst kümmern. Gib Darla die Anweisung, unsere Soldaten zu schützen. Sie dürfen bei Ras Angriff keinen Schaden erleiden.“ Die Ka-Bestie schwang sich auf Geheiß Manas von der Mauer herab und schwebte dem Schlachtfeld entgegen. Tea und ihre Freunde erkannten an der Spitze ihres Zepters dasselbe grüne Leuchten, das sie auch schon gesehen hatten, als die schwarze Magierin sie aus dem Sandsturm geführt hatte. Atemu wandte sich zu ihnen um. „Geht am Fuß der Mauer in Deckung, dort seid ihr am sichersten!“ Doch auch diesmal biss er mit seiner Fürsorglichkeit auf Stein. „Wir bleiben hier!“, war die schlichte Antwort, die ihm aus fünf Mündern entgegen geschleudert wurde. „Gilt im übrigen auch für mich“, fügte Marlic hinzu und hob eine Hand. „Ich will die Show sehen!“ „Als ob sich irgendjemand für deinen Verbleib interessiert hätte...“, knurrte Marik zurück, die Worte gingen jedoch im allgemeinen Lärm unter. Dann verschaffte sich Atemu, dem es für einen Moment die Sprache verschlagen hatte, wieder Gehör. „In Ordnung, aber dann duckt euch wenigstens, ich bitte euch.“ Erst als alle in Deckung gegangen waren, wandte er sich wieder dem Schlachtfeld zu, über dem der geflügelte Drache des Ra schwebte wie eine zweite Sonne. Ein Stern, der am Verglühen und im Begriff war, jeden Augenblick auf die Erde hernieder zu stürzen. „Diese Attacke wird Caesian ein für alle Mal niederstrecken“, murmelte Atemu. Für einen Moment schloss er die Augen, dann riss er die geballte Faust in die Höhe. „Geflügelter Drache des Ra! Vernichte den Feind!“ Das lodernde Geschöpf schraubte sich noch ein wenig weiter in den Himmel hinauf, dann schoss es plötzlich der Erde entgegen. Genau auf die Stelle zu, an der Caesian stand. Auf dessen Gesicht spielte für einen Moment Panik, die jedoch bald wieder wich, als er sich der Gegenstände erinnerte, die er mit sich führte. Der geflügelte Drache des Ra ist nur eine Bestie der Götter. Ich hingegen halte die Macht der Götter selbst in Händen... Seine Berater und Leibwachen stoben auseinander, versuchten ihren Führer ebenfalls zur Flucht zu bewegen. Doch dieser dachte nicht einmal daran. Viel mehr reckte er das Zepter empor und begann, wie im Wahn zu lachen. „Ihr Narren! Dieses mickrige Geschöpf kann uns kein Leid zufügen! Es ist zu schwach!“, schallte seine Stimme über das Schlachtfeld hinweg. Marlic schüttelte indes den Kopf. „So ein Idiot. Niemand legt sich ungestraft mit dem geflügelten Drachen des Ra an.“ Er blickte zum Firmament, wo die lodernde Gestalt nieder schoss. „Das wird gleich ziemlich schmutzig. Aber was soll's? Ich mag Blut“, fügte er mit einem gehässigen Grinsen hinzu. Indes tauchten die Flammen, die den Körper von Atemus Kreatur umhüllten, das Schlachtfeld in immer grelleres Licht. Die Hitze wurde stärker, je näher das Geschöpf Caesian kam. Dieser blickte ihm gebannt entgegen, weiterhin den freudigen Ausdruck auf dem Gesicht. „Glaubt der etwa, er könne einem so mächtigen Monster mit diesem Zahnstocher zu Leibe rücken?“, meinte Joey spöttisch, der sich gemeinsam mit den anderen hinter die Mauer gekauert hatte. Dann war es soweit. Der geflügelte Drache des Ra erreichte den Boden. Mit einem lauten Knall ging das Feld in Flammen unter. Die Bestie begrub Caesian unter sich. Glühendes Feuer schoss in alle Richtungen, versprühte Funken und schmolz den Sand. Gleißendes Licht blendete die Krieger. Lediglich die Truppen Ägyptens blieben dank Darla von der Rache des göttlichen Geschöpfs verschont. Wer nicht dazu zählte, versank in einem Meer aus Hitze und starb eines qualvollen Todes. Schreie gellten über das Feld und vermischten sich mit dem allgegenwärtigen Zischen der Flammen. Böen von unerträglicher Wärme wogten über die Menschen hinweg. Der geflügelte Drache stieg schließlich aus dem Glühen auf- wie ein Phönix aus der Asche. Sein triumphierendes Brüllen schallte über das Land. Atemus Blick war völlig gebannt. Der Phönix. Das sagenumwobene Wesen, dass immer nur starb, um erneut geboren zu werden. Dieses Bild gerade jetzt vor sich zu haben, konnte kein Zufall sein. Nein. Es musste bedeuten, dass sich auch Ägypten in eben diesem Augenblick wieder aus der Asche erhoben hatte. Für einen Moment waren alle wie versteinert. Dann schlug Seto mit der Faust auf die Mauer vor sich. „Ihr habt es geschafft! Caesian ist besiegt!“, rief er. Yugi und seine Freunde waren sofort an Atemus Seite. Unbändige Freude herrschte unter ihnen. Die befürchtete Katastrophe war ausgeblieben. Der Feind war im läuternden Feuer untergegangen. Doch nicht nur er alleine. Auch all die Krieger, die ihm Untertan gewesen waren, lagen verschmort im Wüstensand. Die Soldaten Ägyptens jubelten und stießen ihre Waffen in den Himmel. Ihre Heimat war wieder frei. Bald wurden lobende Rufe auf ihren Herrscher laut, der das Land ein weiteres Mal vor dem Untergang bewahrt hatte. Mana fiel ihm um den Hals. Es war vorbei, die Gefahr gebannt. „Man, du hättest uns ruhig ein paar übrig lassen können, damit wir eine Chance haben, diese Babies auszuprobieren!“, meinte Joey fröhlich, während er seinen Diadiankh empor reckte. „Also ich bin froh, dass das nicht nötig war“, antwortete Ryou erleichtert. „Allerdings“, stimmte Tea zu. „So ein Mist. Das gab nicht einmal annähernd so viel Blut, wie ich gehofft hatte“, beschwerte sich Marlic indes und erntete dafür einen abschätzenden Blick von Seto... Plötzlich griff sich Atemu mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht an die Brust. Ein Schwall von Blut schoss aus seinem Mund. Krämpfe quälten seinen Körper. Nur mit Mühe blieb er auf den Beinen, während die besorgten Stimmen seiner Freunde an sein Ohr drangen. Ein Schrei zeriss den freudigen Chor der Soldaten. Der geflügelte Drache des Ra wurde wie eine Feder durch die Luft geschleudert, umgeben von tausenden, wirbelnden Sandkörnern. Dann ein lauter Knall, als er aufschlug. Sofort wandten alle wieder den Blick auf das Schlachtfeld- und erstarrten. Dort, wo eigentlich Caesians Leichnam verbrennen sollte, waren die Flammen zurück gewichen. An ihrer Stelle flogen unzählige Körner in einem gewaltigen Sturm durch die Luft, in dessen Mitte der feindliche Herrscher stand. Er war vollkommen unversehrt, reckte das Zepter mit irrem Gelächter über den Kopf. „Das ist unmöglich!“, keuchte Seto. „Er müsste tot sein!“ Dann ein erneutes Kreischen. Geschockt sah der Hohepriester nach unten auf das Schlachtfeld. Einer der ägyptischen Krieger lag von Blut überströmt im Sand. Über ihm kauerte ein feindlicher Soldat- doch dies war nicht einfach ein Mensch. Die Haut hing in Fetzen vom Fleisch herunter, das leuchtend rot im Sonnenlicht glänzte. Lebenssaft sickerte an dem zerstörten Körper herunter und bildete eine Pfütze. Gesplitterte Knochen stachen durch das Gewebe. Dieser Mann konnte unmöglich noch am Leben sein! Der Angriff des geflügelten Drachen hätte ihn und all die anderen Soldaten Caesians in den Tod stürzen müssen. Immer mehr vermeintlich Gefallene richteten sich unter stöhnenden Lauten auf, die dem Hohepriester einen Schauer über den Rücken jagten. Atemu war inzwischen neben ihm, die Augen vor Schreck geweitet, eine Hand noch immer an die Brust gepresst, während ein blutiges Rinnsal an seinem Kinn hinunter lief. „Was... was geschieht mit diesen Menschen?“, stammelte er. Die lebenden Toten hatten begonnen, die ägyptischen Kämpfer zu attackieren. Immer wieder war der Schrei von Männern zu hören, die nicht glauben konnten, was sich da vor ihren Augen abspielte. Entsetzen stand auf ihren Gesichtern geschrieben. In Panik rannten einige in Richtung Men-nefers. Derweil schallte weiterhin Caesians irres Lachen über das Land. „Ich habe es euch doch gesagt! Ihr könnt nicht gewinnen! Ihr werdet alle sterben!“ Er hielt einen Moment inne, ehe er sich mit fanatischem Grinsen an die Truppen wandte. „Los, Männer! Nehmt ihnen alles, was ihnen heilig ist! Am Abend soll Men-nefer unser sein!“ Triumphierendes Gebrüll ertönte auf dem Schlachtfeld. Wieder trafen Waffen aufeinander, Soldaten fielen und lagen in ihrem eigenen Blut. Das Klirren von Metall, das gegeneinander prallte, war allgegenwärtig. Ebenso wie die Schreie der Menschen. Das Grauen der Reiter und Wagenlenker übertrug sich auf die Pferde, deren Nüstern vom Gestank brennenden Fleisches erfüllt waren. Immer mehr bäumten sich auf, trampelten in Panik auf Verletzten und Toten herum, ehe sie das Weite suchten. Pharao, Hofmagierin und Hohepriester riefen ihren Ka-Bestien Befehle zu. Sämtliche Attacken, die auf Caesian gerichtet waren, prallten an derselben unsichtbaren Mauer ab, wie zuvor. Die Angriffe auf die Armee des Feindes waren ebenso sinnlos. Zwar wurden die Männer haufenweise von den Füßen gerissen und herum geschleudert, doch egal wie schwer sie verletzt waren, sie standen immer wieder auf. Nun erschien die Situation vollkommen aussichtslos. Wo zuvor einen bangen Moment lang unbändige Freude geherrscht hatte, saß nun tief greifende Angst- alleine schon ob des Anblicks, der sich ihnen auf dem Schlachtfeld bot. Selbst Marlic hatte angewidert das Gesicht verzogen. Doch noch etwas ließ den Ägyptern das Blut in den Adern gefrieren. Dieser Mann war der Rache einer göttlichen Bestie entgangen, eines Geschöpfs, das die Götter selbst geschaffen hatten- er hatte etwas vollbracht, das absolut unmöglich war. Oder hatten die Götter am Ende doch ihr Antlitz von den Menschen abgewandt...? „Wie ist das nur möglich?“, fragte Atemu zum wiederholten Male. „Wie können diese Männer noch aufrecht gehen, geschweige denn kämpfen? Sie müssten tot sein!“ „Was auch immer dahinter steckt, hat gewiss mit Caesians Kreatur zu tun. Wo nur verbirgt sich dieses Biest?“, erwiderte Seto. Die Antwort sollte schneller kommen, als ihm lieb war. Plötzlich wurde die Stadtmauer Men-nefers erschüttert. Im letzten Moment konnte Ryou noch Mariks rettende Hand ergreifen, ansonsten wäre er in die Tiefe gestürzt und zwischen den Häusern der Stadt aufgeschlagen. „Was war das?“, rief er panisch. Aufgewirbelter Staub behinderte die Sicht. Sie konnten kaum die eigene Hand vor Augen erkennen, als die Wolke aus Dunst über sie hinweg fegte. „Das haben wir gleich!“, erklang irgendwo Joeys Stimme. Sekunden später durchzuckte er ein Blitz den Schleier aus Staub, dann kam Wind auf, der den umher schwebenden Schutt davon wehte. Die mächtigen Schwingen des schwarzen Rotaugendrachen schlugen hinter ihnen. Die schwarzen Schuppen glänzten düster im Licht der ägyptischen Sonne. Die roten Augen funkelten angriffslustig. Joey hatte also als erster Gebrauch von seinem Diadiankh gemacht. Nun wurde auch das ganze Ausmaß der Erschütterung sichtbar. Panische Rufe der Soldaten wurden laut. Ein gewaltiges Loch klaffte in der Mauer, die Men-nefer umgab. Einige tote Schützen, die auf ihr positioniert gewesen waren, lagen zwischen den Trümmern. „Bei allen Göttern Ägyptens...“ Weiter kam Seto nicht. Einen Moment später wurde er von den Füßen gerissen, als er vom Pharao zu Boden gestoßen wurde. Der Pfeil, der sein Herz hätte durchbohren sollen, blieb zitternd in der Wand neben Marlic stecken. Vollkommen perplex rappelte sich der Hohepriester auf und starrte seinen Cousin an. „Alles in Ordnung?“, fragte dieser mit besorgtem Blick. „Ja... dank Euch. Ihr habt mir das Leben gerettet“, stotterte der Angesprochene. Ein kurzes Lächeln Atemus, dann war er wieder auf den Beinen. Auch Marlic war inzwischen aufgesprungen. „Jetzt reicht es! Niemand schießt ungestraft mit Pfeilen auf mich!“, donnerte das Abbild Mariks, wobei er ausließ, dass der Schuss nicht ihm gegolten hatte. „Los, Des Gardius! Zeig diesen Witzfiguren, dass sich niemand, aber auch absolut niemand, mit mir anlegen sollte!“ Ein Lichtstrahl flammte kurz hinter ihm auf, dann erschien die Ka-Bestie. Ein maskiertes Gesicht, das vollkommen ausdruckslos erschien, überflog für einen kurzen Moment die gegnerischen Reihen. Klauen, scharf wie Messer, krallten sich in die Mauer und zogen sich an ihr hinauf, ehe die Kreatur mit einem gewaltigen Satz auf das Schlachtfeld hinunter sprang. Die kräftigen Beine, dick wie Baumstämme, fingen den Aufprall erfolgreich ab. Dann stürmte das Wesen nach vorne. Die ersten Krieger Caesian wurden von den Pranken aufgeschlitzt und herum gestoßen. Hier und da wurden Gliedmaßen vom Rest des Körpers abgetrennt. Indes hatten Atemu und Seto alle Hände voll damit zu tun, die feindlichen Krieger am Eindringen in die Stadt zu hindern. Sie versuchten, über das klaffende Loch in der Mauer hinein zu gelangen- und einige waren auch erfolgreich. Sie verschwanden zwischen den Häusern. Mana hatte Darla währenddessen erneut Anweisung gegeben, nach Caesian Kreatur zu suchen- vergeblich. „Pharao!“, rief Yugi, während er auf den Herrscher zu stürmte. „Du musst dich um Caesian kümmern! Wir übernehmen das hier“, meinte er mit einem Nicken in Richtung der zerstörten Mauer. Der Angesprochene musterte ihn kurz. „Nein, das...“ „Keine Widerrede! Das Schicksal Ägyptens hängt von Caesians Niederlage ab! Du solltest dich um ihn kümmern! Wir werden aufpassen, dass niemand in die Stadt kommt und uns derer annehmen, die sich bereits darin herum treiben.“ Sie tauschten einen Blick, bei dem Yugis Augen verrieten, dass er nicht nachgeben würde. Atemu war sofort klar, dass er gar nicht zu widersprechen brauchte. Für den jungen Mann aus dem 21. Jahrhundert war er nicht der Pharao Ägyptens, sondern jemand, der mit ihm auf einer Stufe stand. Er war keiner seiner Untergebenen, dem er hätte Befehle erteilen können- zur Not würde Yugi auch ohne sein Einverständnis handeln, wie er glaubte, dass es richtig war. Außerdem hatte er recht. Caesian musste um jeden Preis besiegt werden. Sie konnten jede Unterstützung gebrauchen, die sie bekommen konnten. Er benötigte irgendjemanden, der ihm den Rücken frei hielt. Da drang plötzlich Setos Stimme an sein Ohr. „Mein König! Es scheint, als wäre dieser Kerl doch zu etwas nützlich!“ Der Herrscher folgte dem Blick de Hohepriesters, der schon beinahe anerkennend den breit grinsenden Marlic musterte. „Was meint Ihr?“, erkundigte er sich. „Seht“, war die knappe Antwort. Er richtete die Augen auf das Schlachtfeld hinab. Tatsächlich! Marlic hatte eine Möglichkeit gefunden, die vermeintlich lebenden Toten auszuschalten. Anscheinend bewirkte das Abtrennen des Schädels den endgültigen Niedergang der feindlichen Soldaten. Er biss sich auf die Unterlippe. Wenigstens etwas. Dann wandte er sich an Yugi, der die Szenerie ebenfalls beobachtet hatte. „Gut. Immerhin wisst ihr jetzt, wie ihr euch gegen sie wehren könnt. Aber seid vorsichtig!“ Mit einem Zwinkern lief der Kleinere zurück zu seinen Freuden und eilte mit ihnen die Treppe an der Mauer hinab. Unten angekommen beschworen nun auch die Anderen Kreaturen mit Hilfe des Diadiankh. Vor Tea erschien ein hübsches Wesen, gekleidet in ein rotes Gewandt und bewaffnet mit einem Stab. Langes, hellblondes Haar wallte auf ihren Rücken hinab. Ein Reif saß auf der Stirn. Gemeinsam mit dem schwarzen Rotaugendrachen griff die Bestie zuerst an. Flammen schossen aus dem hölzernen Zepter der Feuerprinzessin, vereinigten sich mit der Glut des geschuppten Ungeheuers und warfen einige feindliche Soldaten durch die Luft. Der Magier des schwarzen Chaos, gerufen von Yugi, gesellte sich kurz darauf zu ihnen und brachte mit einem magischen Energieball einige Gegner zu Fall. „Müssen wir ihnen wirklich die Köpfe abschlagen?“, erkundigte sich Ryou mit zitternder Stimme. „Wenn sie so aussehen wie der da, dann bestimmt“, erwiderte Marik mit einem Fingerzeig auf einen Mann, der noch aufrecht gehen konnte, obgleich ihm der Unterkiefer fehlte. Seine Bestie schnellte sofort nach vorne. Blutige Spritzer besudelten das blaue Fell der Kreatur, als sie den lebenden Toten endgültig zur Strecke brachte. Ein triumphierendes Brüllen entwich der Kehle, die Klauen am Ende der kräftigen Arme waren zu Fäusten geballt. Der rote Schmuck, der am Hals der schakalköpfigen Bestie saß, erzitterte unter dem angsteinflößenden Laut. Dann fuhr das Ungeheuer herum. Seine glühenden, gelben Augen erblickten einen Mann, der zwischen den Häuserreihen verschwand. Sofort setzte es ihm nach. Das lange Nackenfell bauschte sich im ewigen Wind Ägyptens. „Los Ryou! Wir kümmern uns um die Soldaten, die es in die Stadt geschafft haben“, meinte Marik schließlich. „Die Anderen halten hier die Stellung.“ Ryou entwich ein Seufzen. Im war nicht wohl bei dem Gedanken, den Befehl zu geben, der einen Menschen den Kopf kostete. Aber wenn es die einzige Möglichkeit war... Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass diese... Wesen eigentlich mehr Zombies waren, als Menschen. In dem ein oder anderen Videospiel, das er ausprobiert hatte, hatte er keine Probleme damit gehabt, sie zu beseitigen- vielmehr hatte er es gerne getan, da ihm diese Gegner immer einen wahnsinnigen Schrecken eingejagt hatten. Nur war das hier weder ein Spiel, noch ein Film, noch ein schlechter Albtraum. Vielmehr war es bitterste Realität. Schließlich folgte er resignierend Marik, der bereits voraus gestürmt war. ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~* Nachwort zu "Kampf um Men-nefer" An dieser Stelle hoffe ich zunächst einmal, dass dieses Kapitel gefallen hat. Zudem ist es bisher das längste in der gesamten FF... gut oder schlecht? Würde mich was das angeht über Feedback freuen. So, nun noch etwas zum Inhalt, das sicherlich geklärt werden sollte. 1.) Der Diadiankh: Ich habe mich entschieden, diesen Teil des Animes aufzugreifen. Mir war zwar von vorne herein klar, dass Yugi und Co. auch so etwas wie Ka-Bestien haben sollten (sie wehrhaft zu machen, indem ich sie mit Schwertern bewaffne, fand ich irgendwie doof...), allerdings fand ich es an den Haaren herbei gezogen, ihnen einfach so welche zu geben, frei nach dem Motto: "Boha, ich hab ein Ka? Hab ich die ganzen 20 Jahre gar nicht gemerkt!" Daher habe ich hier den Inhalt vom Anime aufgegriffen und mit dem des Manga gemischt. Im Manga kommt der Diadiankh nämlich nicht vor. So habe ich die Idee aus der Animeserie genommen und so eingebaut, dass eben Seto die Dinger erfunden hat. Ich hoffe, es kam einigermaßen logisch rüber. (Immerhin hat der Seto des 21. Jahrhunderts auch die Dueldisk erfunden. ._.) 2.) Die Ka-Bestien: Was das anging habe ich mich wirklich schwer getan. Bei Seto und Mana, sowie Atemu, war die Entscheidung einfach. Auch bei Bakura ist klar, dass er eben Diabound hat. Aber die anderen...? Joey bekam natürlich sein Rotauge. Bei Tea wurde es schon schwerer. Aber da hatte ich noch von einem Game Boy-Spiel in Erinnerung, dass sie in einem Deck die Feuerprinzessin hatte. Deshalb dieses Monster. Bei Yugi habe ich hingegen länger nachdenken müssen. Den Magier des schwarzen Chaos habe ich genommen, weil ich der Meinung war, er passt einfach. Alles andere kam mir irgendwie zu banal vor. Da das Monster hier aber bislang kaum ein Auftreten hatte, bin ich hier für bessere Vorschläge offen. ._. Was nicht heißt, dass ich den ersten Vorschlag gleich nehme. Marik und Ryou... da habe ich das Internet nach Monstern durchforstet, da die Decks der beiden ja eigentlich kaum in Erscheinung traten, vor allem, was Kreaturen anging. Außerdem hatten ja meist die Yamis die Kontrolle bei Duellen. Von daher war das eine "Gefällt mir und dürfte ganz gut passen"-Entscheidung. Bilder folgen im übrigen noch. Marlic, also Marik dunkle Seite, hat Des Gardius erhalten, weil dieses Monster mal in einem Duell auftauchte und für mich noch am eindrucksvollsten war. Den geflügelten Drachen des Ra konnte ich ihm ja schlecht wiedergeben, der untersteht im alten Ägypten ja der Kontrolle des Pharaos. 3.) Der Drache des Ra: Ja, Atemu kann die Götter auch ohne Milleniumspuzzle beschwören. Für mich war es einfach nicht logisch, dass er ohne nicht mehr dazu in der Lage wäre, da er im Manga meiner Erinnerung nach als "der Auserwählte" oder so ähnlich betitel wird. Und wenn so etwas der Fall ist, dann dürfte das ja von der Person und nicht von einem goldenen Artefakt abhängen. So sehe ich es zumindest. So, das war es nun mit dem Gequatsche. Ich hoffe, wer auch immer das liest, ist beim nächsten Kapitel wieder dabei! Danke übrigens an 3sakuraharuno3, die bisher zu wirklich jedem Kapitel einen Kommentar hinterlassen hat! Es grüßt, Sechmet Kapitel 11: Aus der Asche ------------------------- So, zunächst möchte ich mich an dieser Stelle bei dafür bedanken, dass ich so ein wahnsinnig tolles Feedback zum letzten Kapitel bekommen habe. Natürlich würde ich diese Geschichte auch schreiben, wenn sie niemanden interessiert, einfach, weil ich selbst Spaß dran habe. So tolle Rückmeldungen machen es allerdings noch schöner und spornen einen gewiss auch an. Deshalb bereits heute das nächste Kapitel. In der nächsten Zeit wird es mit Uploads jedoch ein weniger kniffliger, da ich ab nächster Woche wieder regelmäßig beschäftigt sein werde und außerdem noch andere Projekte am Laufen habe, die auf Fertigstellung warten und gegenüber dieser FF leider Vorrang haben. Ich werde mich dennoch bemühen, spätestens alle 2 Wochen ein neues Kapitel hochzuladen. Doch nun viel Spaß mit "Aus der Asche". Aus der Asche Sie hasteten durch die Straßen, immer Mariks beschworener Kreatur hinterher. „Soweit kann der Kerl doch gar nicht gekommen sein!“, stöhnte der Ägypter, als der Verfolgte noch immer nicht in Sicht kam. „Was ist das eigentlich für ein Wesen?“, meinte Ryou mit Nicken in Richtung des Monster, das vor ihnen durch Men-nefer preschte. „Auf den Karten in unserer Zeit heißt es 'Ende des Anubis'. Keine Ahnung, wie Pegasus auf den Namen kam... Für mich sieht es gerade eher so aus, als bedeute es das Ende für seine Feinde, nicht für sich selbst.“ Er musterte den Weißhaarigen einen Moment lang skeptisch. „Warum beschwörst du nicht auch deine Kreatur? Vielleicht kann sie uns bei der Suche nach den Eindringlingen helfen.“ Ryou hielt einen Moment lang inne. „Ich weiß nicht so recht...“ „Nun komm schon! Mana wird dir schon keine Zwillingsseele zugewiesen haben, die nicht zu kontrollieren ist.“ „Darum geht es nicht...“ Ryou war noch immer nicht wohl bei dem Gedanken, ein Monster auf irgendwelche Leute zu hetzen. Denn irgendwo bedeutet das für ihn, dass er töten musste... „Nun komm schon! Ich könnte ja verstehen, wenn du Bedenken hättest, einem Menschen Leid zufügen zu müssen. Aber diese Kerle sind ja eigentlich schon tot. Aus einem mir unerfindlichen Grund scheinen sie das nur nicht akzeptieren zu wollen“, bohrte Marik weiter nach. Schließlich resignierte der Begleiter des Ägypters. Als das 'Ende von Anubis' an einer Weggabelung stoppte und sich suchend umsah, schloss er die Augen und versuchte, sich zu konzentrieren. Dann murmelte er leise die Worte, die ihm die Hofmagierin mit auf den Weg gegeben hatte. Der Diadiankh begann zu leuchten, dann erschien ein winziges Bild des Wesens, das sich jeden Moment materialisieren würde, auf einer der drei Flächen, die allesamt aussahen wie Federn. Anschließend flammte kurz ein Blitz hinter Ryou auf und die Bestie kam zum Vorschein. Silberne Haut, die metallisch und dick anmutete, schimmerte im Sonnenlicht. Scharfe Pranken scharten über den Boden. Blaues Feuer loderte aus den Fußgelenken, der Brust, Stirn und zwei silbernen Zacken, die aus den Schultern ragten. Letztere erinnerten an gewaltige, brennende Flügel. Der Schädel des Monstrums war umgeben von einem spitzen Kamm. Wunderschöne, blaue Augen musterten die Umgebung neugierig. Die Nüstern des Ungeheuers hoben und senkten sich, als es Witterung aufnahm. „Was ist denn das?“, meinte Marik verdutzt. „Wirklich imposant. Aber ich habe so ein Wesen noch nie gesehen- nicht einmal auf einer Duelmonsters-Karte.“ Ryou wirkte nicht weniger beeindruckt. „Ich auch nicht. Vielleicht sollten wir uns Namen überlegen. 'Ende des Anubis' ist auch nicht gerade eine einfache Bezeichnung. Schon gar nicht, wenn man Befehle geben will...“ Er trat einen vorsichtigen Schritt an sein beschworenes Biest heran. „Ähm... du da?“ Sofort schnellte der Kopf des Wesens herum. Seine faszinierenden Augen glitten über den Weißhaarigen, dann schritt es auf ihn zu. Erschrocken stolperte er ein Stück rückwärts, ein nervöser Laut entkam ihm. Doch zu spät. Im nächsten Moment leckte das Ungeheuer bereits mit seiner rauen, glitschigen Zunge Ryous Gesicht ab. Angeekelt griff der Junge nach den mächtigen Kiefern und schob sie von sich weg. „Ähm... lass das bitte, okay? Ich fände es wirklich auch schön wenn wir... Freunde werden könnten? Ja, genau, Freunde! Aber deswegen musst du mich wirklich nicht abschlecken. Ich habe heute schon geduscht, vielen Dank.“ Die Kreatur musterte ihn weiterhin neugierig. Schließlich senkte sie den Kopf und schob ihn immer wieder in Ryous Richtung. Einen Moment dauerte es, dann begriff der junge Mann. Zögerlich legte er eine Hand auf die Schnauze des Monsters und streichelte sie. Ein Schnurren drang aus der mächtigen Kehle. „Wow... du bist ja eigentlich... ganz lieb, wenn ich es recht bedenke...“, meinte der Weißhaarige. „Wie wäre es, wenn ich dich Shiruba nenne? Das macht es gleich viel einfacher.“ „Shiruba?“, wiederholte Marik skeptisch und stemmte die Hände in die Hüften. „Ja. Shiruba heißt im Japanischen 'Silber'. Und wenn man einmal seine Haut betrachtet...“, erwiderte Ryou, während er über diese strich. Es war ein Wunder, dass das Wesen die Berührung überhaupt wahrnehmen konnte. Der Ägypter legte indes den Kopf schief und betrachtete nachdenklich das 'Ende des Anubis'. Schließlich zuckte er mit den Schultern. „Sieht so aus, als wäre ich nicht so kreativ wie du... Ich bleibe einfach bei 'Anubis'...“, meinte er, da zerriss ein Schrei die Szenerie. Sofort setzte sich Mariks Kreatur in Bewegung. „Los, ihm nach!“, rief der Ägypter noch, dann jagten sie ihr hinterher, dicht gefolgt vom frisch getauften Shiruba. „Argh...“ Marlic griff sich mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht an den Arm, während seine Ka-Bestie gegen die Stadtmauer geschleudert wurde. Blut sickerte zwischen seinen Fingern hervor. Yugi, Joey und auch Tea war es gelungen, das Eindringen weiterer Feinde in die Stadt größtenteils zu verhindern. Doch inzwischen strömten die gegnerischen Krieger in Scharen auf das Loch zu und Atemu, Seto und Mana, sowie das besagte Ebenbild Mariks, hatten alle Hände voll damit zu tun, sie von diesem fernzuhalten. Des Gardius war gerade eben damit beschäftigt, sich mühsam aufzurichten, als mehrere Soldaten mit Speeren auf die Bestie zu stürmten. Marlic schickte ein Stoßgebet zu den Göttern, sie möge noch rechtzeitig auf die Beine kommen, unfähig, auch nur einen Laut über die Lippen zu bringen. Noch immer durchwogte der Schmerz seinen Körper und ließ ihn an dem seines Kas teilhaben. Der erste der heran nahenden Männer war im Begriff, seine Lanze zu schleudern, da versanken sie alle in grellem Licht, das ihre Knochen zerriss. Ungläubig blickte Marlic zum Pharao, dessen geflügelter Drache soeben eingegriffen hatte. „Womit hab' ich denn diese Ehre verdient?“, meinte er zynisch. „Momentan stehst du auf unserer Seite“, erwiderte Atemu zwischen zwei Befehlen. „Warum auch immer...“ Ein Grinsen spielte auf den Lippen des Grabwächters. „Ich stehe eben nicht so auf Zombies...“, meinte er, ehe seine Kreatur wieder drei Krieger enthauptete. „Das ist Bakuras Metier, nicht meines.“ Der weiße Drache stieß vom Himmel herab und krachte mehr neben dem Loch in der Mauer auf den Boden, als dass er landete. Sofort schloss sich das Maul mit den scharfen Zähnen um drei Feinde, biss zu und warf sie anschließend brüllend in den Wüstensand. „Es hört einfach nicht auf“, murmelte Seto. „Sobald wir zwei von ihnen vernichtet haben, kommen bereits fünf weitere nach.“ Tatsächlich schien der Strom an lebenden Toten nicht abzureißen. „Nur nicht aufgeben!“, rief Atemu. „Wir dürfen Men-nefer nicht ihm überlassen! Wenn wir hier verlieren, dann ist ganz Ägypten dem Untergang geweiht!“ Sein Blick fixierte Caesian, der noch immer vollkommen ungerührt auf der fernen Düne stand. Das Wesen, das ihm Untertan war, hatte sich seit seinem letzten Angriff nicht mehr gezeigt. Was hatte dieser Mann bloß vor? Immer wieder hörte er Schreie, die von einem lauten Knall unterbrochen wurden. Gelegentlich schallten auch Laute über die Stadt hinweg, die sich nicht im Geringsten menschlich anhörten. Was ging da draußen bloß vor sich? Hatte es mit der Armee zu tun, von der Marlic erzählt hatte? Eigentlich hatte ihn das nicht interessiert. Doch allmählich wurde er neugierig. Er stemmte sich vom Boden hoch. Als er aus dem winzigen Loch blickte, das als Fenster diente, konnte er Rauch erkennen, der über der Stadt hing. Das musste mit diesem Caesian zu tun haben... Plötzlich hörte er aufgeregte Rufe vor der Tür. Es waren die Soldaten, die den Kerker bewachten. Dann ein seltsames Gurgeln... Die Türe flog auf und krachte gegen die steinerne Wand. Augenblicklich fuhr Bakura herum- und traute seinen Augen kaum. Vor ihm stand ein Mann, bewaffnet mit einer Axt. Doch das war nicht das Ungewöhnliche an ihm. Vielmehr war es das unnatürliche Grinsen, das ihm entgegen schlug und das daher rührte, dass dem Kerl die Lippen fehlten. Auch der Rest des Gesichts war vollkommen versengt. Ein Schauer schoss dem Grabräuber den Rücken hinab. Wie zum Teufel konnte sich der Mann überhaupt noch auf den Beinen halten? Der fremde Krieger trat mit wackeligen Schritten in den Raum. Sofort wich Bakura ein Stück zurück, die Fäuste erhoben. Als der Soldat fast bei ihm war und die Axt nach oben riss, schnellte er nach vorne. Er packte den Arm und drückte ihn nach unten, während er dem Krieger einen Schlag in den Rücken versetzte. Benommen taumelte der an die nächste Wand, gegen die er mit dem Kopf voran schlug. Stöhnend sank er zu Boden. „Wo bin ich hier eigentlich gelandet? In einem schlechten Horrorsstreifen? Erst der Pharao und jetzt das!“, meinte Bakura mehr zu sich selbst, als zu sonst jemandem. Dann verließ er eilig den Raum, stolperte dabei über die Leichen der Wachen- ein Anblick, der ihn lediglich kurz verdutzt drein schauen ließ. Er hatte in seinem Jahrtausende langen Leben schon genug Tote gesehen. Er überlegte sich keinen bestimmten Weg, folgte einfach seinem Instinkt, der ihm sagte, dass er das Weite suchen musste. Er hastete die Treppe, die zum Kerker führte, hinauf, und gelangte schließlich in einen Vorhof des Palastes von Men-nefer. Sofort blieb er wie angewurzelt stehen. Auf der weiten Fläche rannten noch andere dieser halb toten Kreaturen herum. Immer wieder warfen sie ihre Speere und Äxte gegen das riesige Tor, das in den Palast führte. Männer, die dem Herrscher Ägyptens unterstanden, schossen immer wieder mit Pfeilen auf sie. Erfolglos. Als die Angreifer jedoch Bakura entdeckten, hielten sie zunächst für einen Moment inne. Dann griffen sie zu ihren Waffen und stürmten in seine Richtung. Als eine Lanze direkt neben ihm in den Bogen schlug, war Bakuras Geduld am Ende. „So, das reicht!“ Ein kurzer, greller Blitz, dann türmte sich hinter dem Grabräuber die mächtige Ka-Bestie auf. Ein schlangenartiger Unterleib peitschte über den sandigen Grund, während sich der muskulöse Oberkörper in den Himmel erhob. Schwarze Haut überzog das Ungetüm, ab und an unterbrochen von grauen Streifen. Spitze Zähne glänzten im Maul des Geschöpfs. „Diabound...“, zischte Bakura zufrieden, schon schoss das Ungeheuer herum und schleuderte die feindlichen Soldaten mit einem Schlag seines Schweifs in den Sand. Doch das schien die Männer noch nicht großartig zu beeindrucken. Schon bald waren sie wieder auf den Beinen. Diabound stieß ein wütendes Fauchen aus und baute sich schützend vor seiner Zwillingseele auf. Dabei lauerte die Gefahr nicht unbedingt vor dem Grabräuber... Er hatte vollkommen den lebenden Toten vergessen, der ihn im Kerker überfallen hatte. Gerade, als seine Kreatur erneut nach vorne schoss, sah er plötzlich den Schatten vor sich auf dem Boden. Es war nicht nur sein eigener. Im letzten Moment fuhr er herum und packte die Faust, die das Beil umklammert hielt. Wieder blickte er in die grinsende Fratze, die zu keinem anderen Ausdruck fähig war. Er ergriff den Arm fester, warf den verfallenden Körper nach vorne, dass er in den Staub fiel. Anschließend sah er sich gehetzt nach Diabound um, der einem Krieger mit seiner Pranke den Bauch aufgeschlitzt hatte. Doch der Kerl lebte immer noch. Ungläubig schüttelte Bakura den Kopf. So etwas kannte er allerhöchsten aus den Decks, die er 3000 Jahre in der Zukunft gespielt hatte! Und aus den Filmen, die sich die Leute dieser Zeit gerne ansahen... Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Plötzlich erschütterte etwas den Boden. Es fühlte sich fast an, als näherten sich hunderte Pferde mit ungeheurer Geschwindigkeit. Doch was plötzlich in den Vorhof des Palastes herein preschte, hatte er nicht erwartet. Eine Kreatur mit blauem Fell und dem Kopf eines Schakals. Ohne Umschweife stürmte das Biest auf die halb toten Soldaten zu. Der Schädel von einem flog in hohem Bogen durch die Luft. Der Körper blieb daraufhin reglos am Boden liegen. So konnte man diese... ja, was waren das eigentlich? Zombies? Egal, es gab einen Weg, sie zu erledigen. „Diabound! Enthaupte sie! Nun mach schon!“, fügte er auf den kurzen, verdutzten Blick der Ka-Bestie hinzu. Dann schritt das Monster mit den ledernen Schwingen zur Tat. Ein wütendes Brüllen entkam der kräftigen Kehle, dann wirbelten die scharfen Klauen durch die Luft. Blut spritzte. Erleichterte Rufe der ägyptischen Soldaten vom Palast wurden laut. Doch Bakura interessierte das herzlich wenig. Vielmehr lag sein Augenmerk auf den beiden Personen und dem Ungeheuer, die ebenfalls den Vorhof betreten hatten. Wie erstarrt, blickte er in die Richtung. Okay, jetzt war es amtlich. Entweder er hatte den Verstand verloren, oder Anubis trieb irgendein böses Spiel mit ihm. Zuerst der Pharao. Anschließend Zombies. Und jetzt der ehemalige Wirt Marlics, ebenso wie sein eigener. Das war doch unmöglich! Wie kamen die beiden hierher? Sie gehörten nicht in diese Zeit! Er konnte sehen, wie Ryou ihn zunächst ungläubig anstarrte, ehe er einige Schritte zurück taumelte. Er hörte erst damit auf, als Marik ihn am Arm packte. „Nun... so sieht man sich also wieder“, meinte der junge Ägypter schließlich, der Bakura trotz seines veränderten Aussehens wieder erkannte. „Welch Freude“, erwiderte der Grabräuber zynisch. „Aber vielleicht könnt ihr mir wenigstens sagen, was hier los ist.“ „Wir wissen es selbst nicht genau“, antwortete Marik mit einem Blick auf die Toten. „Caesian hat die Stadt angegriffen. Kurz darauf sind seine gefallenen Soldaten wieder aufgestanden und einige davon konnten in die Stadt eindringen.“ Bakura fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht. Also doch Zombies. Großartig. Anscheinend wurde es Zeit, dass er von hier verschwand- egal wohin, Hauptsache raus aus dieser Stadt, die anscheinend der Wahnsinn gepackt hatte. „Los, Diabound, wir gehen“, rief er der Ka-Bestie zu und schritt zum Tor des Vorhofes. „Moment mal! Du kannst doch jetzt nicht einfach abhauen!“, maulte Marik und stellte sich dem Grabräuber in den Weg. „Ach nein? Dann zeig mir doch mal, wie du mich davon abhalten willst“, zischte dieser. Sogleich wurde ein Knurren laut. Die beschworene Bestie Mariks hatte hinter ihm Aufstellung bezogen. Bakura zog eine Augenbraue nach oben, ehe er das goldene Metall am Arm seines Gegenübers gewahrte. Die Palastwachen waren also doch nicht nur elende Tratschtanten. Anscheinend steckte ab und an auch Wahrheit in ihren Worten. „Wie niedlich, du hast ein Hündchen bekommen. Ich würde dir ja nur zu gerne zeigen, wie schwächlich dieses Wesen ist, aber dafür habe ich gerade keinen Nerv“, erwiderte Bakura, ehe seine Stimme deutlich leiser, sein Blick bedrohlicher wurde. „Geh mir aus dem Weg!“ „Und wenn nicht?“, konterte Marik. „Komm schon, lass ihn gehen“, meinte Ryou mit zittriger Stimme. Sein ganzes Gemüt unterstand auch ohne eine Auseinandersetzung der beiden genügend Druck. Es reichte schon, dass er dem Grabräuber gegenüber stehen musste. Er wollte wirklich nicht mit ansehen, wie sie sich an die Gurgel gingen. Zumal er die Befürchtung hegte, dass Bakura deutlich stärker war. „Marik, bitte!“ Die beiden tauschten einen Blick. Dann trat der junge Ägypter einen Schritt beiseite. „Richtige Entscheidung“, murmelte der Grabräuber, ehe er, gefolgt von Diabound, den Vorhof verließ. Noch eine Weile sahen sie ihm hinterher. „Weißt du noch, was ich dir gesagt habe, als du vom Palast weggelaufen bist?“, meinte Marik schließlich, ohne Ryou anzusehen. Der Weißhaarige neben ihm schluckte. „Es war niemals die Rede davon, sich mit ihm zu kloppen...“ Atemu fuhr augenblicklich herum, als der Boden unter ihren Füßen abermals erschüttert wurde. Was...? Der Gedanke erübrigte sich, als er Rauch im hinteren Teil der Stadt aufsteigen sah. Der Erschütterung nach zu urteilen, war die dortige Mauer getroffen worden. Seine Bestie!, schoss es ihm sofort durch den Kopf. „Dieser Bastard hat uns zappeln lassen!“, brüllte Seto neben ihm. „Er hat uns in dem Glauben gelassen, unser größtes Problem läge direkt vor uns!“ Mana eilte indes an ihm vorbei zur Treppe. „Ich kümmere mich darum! Ihr haltet hier die Stellung!“, rief sie über die Schulter, ehe sie die Stufen hinab huschte und unten angekommen Tea bat, sie zu begleiten. Dann waren die beiden Frauen verschwunden. Währenddessen hatten sich schon einige feindliche Soldaten vom ersten Schwachpunkt der Stadt entfernt. Es bestand kein Zweifel, dass sie auf dem Weg waren, das nächste Loch in den Mauern Men-nefers aufzusuchen. Seto und sein Cousin hatten erwägt, ihre Ka-Bestien hinterher zu schicken, um sie davon abzuhalten, doch auch, wenn nun weniger gegnerische Soldaten hier versuchten, in die Stadt hinein zu kommen, so waren es doch noch immer mehr als genug. Plötzlich zuckte ein Blitz durch die Luft. Nur Sekunden später wurde der geflügelte Drache des Ra von einer gleißenden Kugel getroffen, die aus dem Nichts zu kommen schien. Atemu sank auf die Knie. Er spürte, wie seine Lebensenergie sank. Es würde nicht mehr lange dauern, dann würde die Situation sowohl für ihn, als auch für seine Kreatur gefährlich werden. Erst jetzt bemerkte er, wie geschwächt er noch immer war. Ein Seitenblick auf Marlic verriet ihm, dass es diesem nicht anders ging. Seine maskierte Bestie hatte bislang kaum Treffer einstecken müssen, dennoch stand ihm der Schweiß auf der Stirn. Sie waren noch nicht lange genug in dieser Welt, hatten ihre Kräfte nicht ausreichend regenerieren können. Seto zuckte vom Schmerz erfüllt zusammen, und krallte sich an der Mauer fest, als sein weißer Drache am Schädel von einem ähnlichen Angriff wie die Bestie des Pharao getroffen wurde. Ein Schwall von Blut schoss aus der Wunde an seiner Schläfe, lief in einer dicken, roten Linie sein Gesicht hinab. Auch Yugi und Joey, deren beschworene Ungeheuer ebenfalls von der Lebensenergie ihres Meisters zehrten, kamen zunehmend außer Puste- die beiden jungen Männer und ihre Geschöpfe hatten zwar bisher nur einige Kratzer abbekommen, doch das ungewohnte Klima, sowie die gesamte Situation an sich, setzen den Jugendlichen zu. Und dieses Empfinden übertrug sich eben auch auf ihre Bestien. Lange halten wir dem nicht mehr stand... Bei den Göttern! Das darf nicht das Ende sein! Staub regnete auf ihn herab. Sofort schlug sich Bakura die Arme vor das Gesicht, um seine Augen zu schützen. Eigentlich hatte er die Mauer soeben erklimmen und verschwinden wollen. Doch nun war sie nicht mehr da. Winzige Steine rieselten auf ihn herunter, während Diabound ihn vor den größeren Brocken bewahrte. Ihm blieb keine Zeit, sich zu fragen, was hier soeben geschehen war. Die ersten Rufe von Soldaten oberhalb der Umgrenzung wurden laut, ehe plötzlich einige mit erstickten Schreien zum Schweigen gebracht wurden. Einer fiel zwischen die Häuserreihen, schlug mit einem dumpfen Laut auf dem Boden auf. Ein Pfeil steckte in seiner Brust. Nur einen Augenaufschlag später hörte er erneut Stimmen. Diesmal jedoch nicht die von Ägyptern. Es waren die der feindlichen Krieger, die dem Loch in der Mauer entgegen strömten. Er wollte gerade durch dieses entfliehen, da kroch bereits der erste lebende Tote von der anderen Seite in die Stadt. Sofort taumelte der Grabräuber zurück. Noch so eine verunstaltete Kreatur. Diabound baute sich drohend hinter ihm auf. Doch selbst der Anblick der Bestie schien den wandelnden Leichnam nicht zu interessieren. Er riss seine Lanze nach oben und stürmte nach vorne, gefolgt von weiteren bewaffneten Männern, die eigentlich tot im Staub liegen sollten. Diabounds Schweif, dessen Ende den Kopf einer Schlange hatte, schoss nach vorne und packte eine der Gestalten. Zugleich sauste eine mit Klauen bewehrte Hand nieder. Doch das Biest konnte sich nicht aller Angreifer auf einmal entledigen. Bakura sprang zur Seite, schnappte sich das Schwert des ägyptischen Soldaten, den ein Pfeil getötet hatte, und wirbelte herum, um im letzten Moment eine Axt abzuwehren. Er konnte nicht leugnen, dass ihm der Anblick dieser untoten Halbaffen einen Schauer über den Rücken jagte. Er hatte in seinem Leben, oder mehr seiner Existenz, die gut 3000 Jahre umfasst hatte, einiges gesehen. Aber etwas Vergleichbares war ihm nie untergekommen- außer in besagten Filmen aus dem 21. Jahrhundert. Er schaffte es, seinem Gegner den bewaffneten Arm abzuschlagen, doch das schien den nicht weiter zu stören. Nun ging er mit der verbliebenen Faust auf den Grabräuber los. Plötzlich züngelten Flammen durch die Häuserreihen. Im nächsten Moment wurde Bakuras Gegenüber von den Füßen gerissen und gegen eine Wand geschleudert. Das Feuer verzehrte sein Fleisch. Abartige Laute drangen aus der Kehle des fremden Kriegers. Der Grabräuber wich sofort einige Schritte zurück und sah sich gehetzt um. Diabound konnte das nicht gewesen sein. Aber... wer war es dann? Als er sich umwandte, schaffte er es im letzten Moment, sich zu ducken. Ein Schatten war plötzlich aus dem Staub, der noch immer zwischen den Häuserreihen hing, aufgetaucht und über ihn hinweg gesprungen. Knurrende Laute stiegen aus der mächtigen Brust empor, als es sich den feindlichen Männern gegenüber stellte. Diabound schnellte sofort herum, doch Bakura hielt ihn zurück. Etwas sagte ihm, dass sich diese Bestie nicht gegen ihn wenden würde. Warum auch? Immerhin hatte sie ihm soeben geholfen. Er betrachtete sie genauer. Drei Schweife, lang und schlank, zuckten durch die Luft. Der Bau der Kreatur war mehr als muskulös. Lodernde Flammen bedeckten den vorderen Teil des Körpers, zügelten von den drei Schädeln herunter, die angriffslustig knurrten. Die kräftigen Pranken scharrten noch einmal über den Boden, dann preschte das Ungeheuer vor und vernichtete vier Krieger auf einmal. Bakura war wie erstarrt. Das war unmöglich. Dieses Monster konnte nicht hier sein. Es konnte nicht existieren! Es war tot. Ebenso wie seine Zwillingsseele tot war! Ka-Bestien existierten in ihrer Art nur ein einziges Mal. Hatte er doch den Verstand verloren? Ungläubig schüttelte er den Kopf, als ihn eine Stimme aus den Gedanken riss, deren Klang ihm zunächst völlig fremd war. „Unglaublich...“, meinte sie mit verwirrtem Unterton. Er wirbelte herum. Dort, nur einige Meter hinter ihm, schälte sich eine Gestalt aus dem allgegenwärtigen Staub. Mit langsamen Schritten kam sie auf ihn zu, die fliederfarbenen Augen vor Erstaunen geweitet. „Es scheint fast so, als habe der große König der Diebe wieder einmal einen Weg gefunden, seinem Schicksal zu entgehen...“, murmelte der junge Mann, ehe sich ein Lächeln über seine Lippen zog, während er den Kopf schüttelte. Er trug einen langen, braunen Umhang mit kurzen Ärmeln, darunter lediglich einen schwarzen Schurz. Ein weißes Tuch war mehrfach um den Hals geschlungen. Das schlohweiße Haar mit den schwarzen Spitzen hatte er zu einem kurzen, buschigen Zopf zusammen gebunden. Dennoch hingen ihm einige Strähnen ins Antlitz. Nun war es an Bakura, den Kopf zu schütteln. „Das kann nicht sein...“, stotterte er. „Du bist... tot!“ Plötzlich schoss sein Gegenüber nach vorne, während er ein langes Messer zog. Instinktiv zuckte der Grabräuber zusammen. Doch diese Bewegung galt nicht ihm. Im letzten Moment bewahrte der Mann ihn vor dem tödlichen Schlag eines Soldaten. „Das trifft wohl eher auf dich zu, wenn du nicht besser aufpasst“, kommentierte er. „Shadara! Halte uns diese Kreaturen vom Leib!“ Der Zerberus preschte abermals los, stürzte sich in das Getümmel aus Feinden hinein. „Zum Reden bleibt später noch Zeit. Jetzt sollten wir erst einmal schauen, dass wir uns dieser Männer entledigen.“ Nur kurz darauf eilte auch der junge Mann den feindlichen Soldaten entgegen. Noch immer stand Bakura wie angewurzelt da, unfähig, irgendetwas über die Lippen zu bringen. Das konnte nicht sein. Er war tot. Seit so vielen Jahren. Dieser Mann durfte nicht hier sein. Was sollte das? Warum tat Anubis ihm das an? Warum zeigte er ihm Dinge, die so niemals sein konnten? Irgendwo in seinem Bewusstsein spürte er eine vorsichtige Berührung seiner Ka-Bestie. Doch er drängt sie zurück. Sein Kopf dröhnte, für einen Moment verschwamm das Bild vor seinen Augen. Worte, die nur er selbst hören konnte, kamen unablässig über seine Lippen. Das hier konnte, durfte nicht die Realität sein... Tief in seine Ungläubigkeit versunken, gewahrte er nicht Marik und Ryou, die inzwischen hinzu gekommen waren. Auch ihre Kreaturen stürzten sich in das Getümmel und hielten weitere Krieger davon ab, in die Stadt einzudringen. „Wer ist denn der Typ da? Jemand vom Palast?“, meinte Marik verdutzt, als er den Grabräuber erreichte. Als er keine Antwort erhielt, musterte er ihn. „Ist alles in Ordnung...?“ Weiter kam der junge Ägypter nicht. Eilige Schritte näherten sich ihnen. Plötzlich tauchten Mana und Tea aus dem Staub auf, der sich allmählich zu legen begann. „Ryou, Marik! Was ist passiert?“, keuchte die Hofmagierin, als sie sie erreichte. „Und was machst du hier?“, fügte sie halb außer Atem, halb verdutzt hinzu, als sie Bakura erblickte. Marik überging ihre zweite Frage. „Die Mauer. Sie haben auch hier ein Loch hinein geschlagen. Aber wir haben sie im Griff. Dank ihm...“, erwiderte er mit einem Nicken in Richtung des Fremden, der an der Seite seiner Ka-Bestie den Feind immer weiter zurück drängte. „Wer ist das?“ „Keine Ahnung. Ist auch egal. Wir können jede Unterstützung benötigen“, antwortete Mana knapp, ehe sie auch Darla an die Front schickte. „Tea? Du kannst dich erst einmal zurück halten.“ Die Braunhaarige nickte und trat ein paar Schritte zurück. Sie war nicht feige, doch auch nicht scharf darauf, ein Biest auszuschicken, um irgendwelchen halb toten Wesen die Schädel abzutrennen. Umso erstaunter sah sie den anderen zu. Mana war so eine friedliebende und freundliche Person... doch gerade mutete sie eher an wie ein Feldherr. Immer wieder feuerte sie ihre Ka-Bestie an, mischte sich gelegentlich auch selbst mit dem einen oder anderen Zauber ein. Da kam der Magierin eine Idee. „Bakura! He!“ Der Grabräuber fuhr herum und sah sie vollkommen perplex an. Sie hatte es geschafft, ihn zumindest halbwegs aus seiner Starre zu holen- auch wenn sie sich Aufmerksamkeit hatte verschaffen müssen, indem sie wild mit den Händen vor seinen Gesicht herum fuchtelte. „Mir ist soeben etwas eingefallen! Dazu brauche ich aber Diabound!“ „Was... willst du mit meinem Monster?“, meinte der Grabräuber verdutzt, während er immer wieder verstohlene Blicke in Richtung des jungen Mannes warf, der an vorderster Front kämpfte. „Einige der Felsbrocken sind noch groß genug, um dieses Loch zu stopfen!“ Manas Antwort wurde jäh unterbrochen. Das Heulen eines Horns schallte von der anderen Seite der Stadt herüber. Vielleicht war das Caesian. Wenn ja, dann bließ er nicht zum Rückzug. Sie mussten sich beeilen. „Diabound ist stark genug, um die Steine zu bewegen! Worauf wartest du noch? Mach' schon! Darla und die anderen halten euch den Rücken frei!“ Für einen Moment regte sich wieder so etwas wie Trotz in Bakura. Er funkelte die Magierin wütend an. „Und warum sollte ich...?“ „Bakura!“, kam es im Chor von Ryou, Marik, Mana- und dem Fremden. Resignierend schüttelte der Grabräuber den Kopf, ehe er herum fuhr. „Du hast es gehört, Diabound! Schluss mit Spielen! Mach dem Ganzen ein Ende!“ Die mächtige Kreatur schoss hernieder und packte einen großen Felsbrocken mit beiden Händen. Unter den schützenden Angriffen der anderen Ka-Bestien glitt er zu dem klaffenden Loch hinüber. Gerade, als ein erneuter Schwall von Kämpfern nachrücken wollte, ließ er den Stein fallen. Ein gutes Dutzend Feinde wurde unter diesem zerquetscht. Zugleich umfasste sein schlangenartiger Schweif bereits den nächsten Brocken und schleuderte ihn mit einem genauen Wurf auf den anderen. Schließlich folgte noch ein dritter, dann war die Mauer zumindest soweit wieder gestopft, dass niemand ohne Weiteres würde in die Stadt eindringen können. Der Fremde, von dem sich noch immer alle Beteiligten fragten, woher er so plötzlich kam, erledigte an der Seite seines Zerberus noch die letzten Krieger, die herüber gekommen waren. Dann atmeten alle erleichtert auf. Marik und Ryou gaben sich ein High-Five, als Letzterer im nächsten Moment beinahe von seinem beschworenen Ungeheuer umgerannt wurde. An den großen, silbernen Tatzen klebte Blut. Mana wischte sich indes den Schweiß von der Stirn. Ein Problem weniger. Doch der Klang des Horns hatte nichts Gutes verhießen. Sie mussten rasch zur anderen Seite der Stadt. Da drang eine Stimme an ihr Ohr. „Manchmal sieht man wahrlich die Wüste vor lauter Sand nicht.“ Es war der Fremde. Sein Zerberus saß direkt neben ihm und leckte sich die verklebten Klauen, während er seinen langen Dolch an der Kleidung eines toten Soldaten abwischte. Er grinste, als er Mana ansah. „Auf Eure Idee hätten wir auch früher kommen können. Doch besser spät als nie.“ Aha..., schoss es der jungen Hofmagierin wenig geschmeichelt durch den Kopf. „Wenn das ein Kompliment sein sollte, danke dafür. Aber wer seid Ihr überhaupt? Ihr steht hier einem hochrangigen Mitglied vom Hof des Pharao gegenüber“, erwiderte sich mit vor der Brust verschränkten Armen. „Gebt Euch zu erkennen“, forderte sie ihn schließlich auf und reckte erhaben das Haupt in die Höhe. Das Grinsen des Fremden wurde noch breiter. „Nun... wenn ich mich vorstellen darf? Mein Name ist Keiro. Streuner, Halunke und Ehrenmann. Außerdem der Bruder Bakuras, König der Diebe“, erwiderte er, als sei es das Normalste von der Welt und deutete eine Verbeugung an. Dabei glitt sein Blick in Richtung des besagten Grabräubers, der ihn abermals ungläubig anstarrte. Die Umstehenden waren nicht weniger verblüfft. Joey klappte die Kinnlade herunter, seine Augen huschten zwischen den beiden Ägyptern hin und her. „Sein... sein Bruder?“, brachte Ryou hervor, während seine Augen den selben Weg beschritten, wie die des Blonden. „Aber du sagtest doch, deine Familie sei seit Kul Elna tot“, warf Mana wenig einfühlsam, jedoch ebenso überrascht ein. „Ja...“, erwiderte Bakura kaum hörbar. „Das dachte ich auch...“ Erneut unterbrach sie der Klang eines Horns. ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~* Nachwort zu "Aus der Asche" Tja, da ist er nun, der gute Keiro. Auf dieses Kapitel habe ich mich schon lange gefreut. Nun kann ich mir aber auch vorstellen, dass man sich bestimmt fragen wird, warum ausgerechnet unser Lieblings-Grabräuber Verwandtschaft bekommen musste. Und noch dazu in Form eines OC. Die Gründe für diese Entscheidung sind recht einfach. Zum einen wollte ich Bakura quasi einen Lichtblick geben, der ihn aus dem Tief heraus holt, das er nach seiner Wiedergeburt hat. Auf diese Weise ging es meiner Meinung nach am Besten- immerhin hat der Gute ja eigentlich sonst nichts, worauf er sich freuen konnte, vielleicht abgesehen von einem friedlichen Leben (und das geht ja mal gar nicht, wo bleibt da die Spannung? Außerdem passt es nicht zu ihm!). Immerhin hat er keine Möglichkeit mehr, sich mit Hilfe der Milleniumsgegenstände zu rächen. Die Chance ist weg und kommt nicht mehr wieder. Und welche Ziele hat ein Mensch dann noch, wenn er nur für seine Rache lebte, diese jetzt aber niemals eintreten wird? Erst einmal gar nichts- was ich mit Keiro ändern wollte. Des Weiteren hatte ich dann überlegt, ob ich ihm irgendeine Verbindung zu Ryou angedeihen lassen soll, aber das habe ich verworfen, weil die beiden schlichtweg aus zwei völlig verschiedenen Zeiten kommen. Außerdem sind die zwei durch ihre Wirt-Parasit-Beziehung meiner Meinung nach bereits zur genüge bedient. Und- nur um irgendwelchen Vorurteilen vorzubeugen- Keiro wird nach meinem Plan weder mit einem Originalchara gepairt, noch unbesiegbar und wahnsinnig toll sein. Ich bin ebenso wenig begeistert von Gary Stues/Mary Sues wie die meisten hier, das hat sich also erledigt. Natürlich kann es mir im Eifer des Gefechts einmal passieren, dass ich hier abdrifte- dann bitte darauf hinweisen, danke! Trotz aller Bedenken, die ich habe, was ihn betrifft, hoffe ich doch, dass er ins Herz geschlossen werden kann. Das nächste Kapitel der FF folgt voraussichtlich nächste Woche. Dann wird endlich ein wenig Licht ins Dunkel gebracht, was Caesian scheinbar unerschöpfliche Macht angeht, wofür Keiro ebenfalls von Nöten war. Ich hoffe man liest sich im nächsten Kapitel von "Die Seele der Zeit!" Sechmet PS: Wer sich schon immer einmal fragte, woher ich die Einfälle zu dieser Geschichte hatte... einfach "Within Temptation- Shot in the Dark" auf Youtube eingeben und genießen. ;) Kapitel 12: Unerwartete Hilfe ----------------------------- Tjaja, kaum hat das Studentenleben begonnen, schwindet die Freizeit. Das nächste Kapitel ist dennoch fertig geworden. Viel Spaß damit und herzlichen Dank an 3sakuraharuno3 und Aton für die lieben Kommentare zum vorherigen Part. ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ Unerwartete Hilfe Atemu war gerade wieder auf die Beine gekommen, da sackte er erneut in sich zusammen. Mit einem erschütternden Schrei fiel der geflügelte Drache des Ra unter den Angriffen des gegnerischen Wesens vom Himmel herab. Sand wirbelte auch und hüllte ihn ein, als er auf dem Boden aufschlug. Nur Augenblicke später folgte ihm die Bestie Setos. Dieser hielt sich den Bauch, während seine Züge von dem Schmerz zeugten, der durch seinen Körper zuckte. Noch immer hatte sich das feindliche Wesen nicht gezeigt, dafür hatte es allerdings begonnen, eine regelrechte Salve an glühenden Kugeln auszusenden, die ihr Ziel selten verfehlten. Auch Marlics Ka-Bestie wurde schließlich von den Füßen gerissen und Meter weit durch die Luft geschleudert. Er stöhnte, als er sich an den Oberkörper griff. Auch bei Yugi und Joey sah es nicht besser aus. Sie hatten große Mühe, der Masse nachrückender Kämpfer Herr zu werden. Der Schweiß lief ihnen von der Stirn und auch sie spürten das Leid der Kreaturen, wenn diesen Schaden zugefügt wurde. Atemus Blick verschwamm. Er fühlte, dass der geflügelte Drache kaum noch fähig war, sich abermals zu erheben. Immer wieder wogte der Schmerz durch seinen Körper. Es durfte nicht sein... sie durften nicht verlieren! Das Schicksal des gesamten Königreichs hing davon ab. Und mit ihm das Leben tausender unschuldiger Menschen! Mühsam versuchte er, sich an der Mauer hochzuziehen. Immer wieder gaben seine Beine nach. Er konnte sich in Anbetracht seiner Lebenskraft kaum noch erlauben, den geflügelten Drachen auf dem Schlachtfeld zu lassen. Aber es konnte doch nicht vorbei sein... Da drang plötzlich der Ruf eines Horns an sein Ohr. Das musste Caesian sein. Er blies zum Finale. Mit letzten Leibeskräften stemmte sich Atemu auf die Beine, suchte Halt am Stein, der Men-nefer hätte schützen sollen. Was er dann sah, ließ ihn vor Verwunderung keuchen. „Das... Cousin!“ Caesian, der, abgesehen von seinen unbewaffneten Beratern und zwei Soldaten, alleine in Mitten der Wüste stand, war herum gefahren. Am Horizont waren wie aus dem Nichts dutzende, wenn nicht gar hunderte schwarz gekleideter Gestalten erschienen. Sie waren offenbar nicht zu Fuß, ansonsten hätten sie sich nicht mit solcher Geschwindigkeit genähert. Und sie waren nicht alleine- an ihrer Seite, vor ihnen, über ihren Köpfen, begleiteten sie unzählige Ka-Bestien verschiedenster Art. „Die Schattentänzer...“, keuchte der Hohepriester. „Auch das noch... das hat uns gerade noch gefehlt.“ Sein weißer Drache stemmte sich unter Verwendung seiner letzten Kräfte auf die Beine. Aus dem Maul der Bestie tropfte stetig Blut. Auch an Setos Kinn lief ein Rinnsal herab. Energisch wischte er es weg. „Ich werde Men-nefer nicht an einen irren Feldherren und eine Bande von streunenden Hunden übergeben!“ „Vielleicht solltet Ihr nicht allzu voreilig sein!“, rief Atemu. „Seht!“ Tatsächlich. Was der Hohepriester am Horizont erblicken konnte, ließ ihn ungläubig die Augen aufreißen. Einige der Krieger hatten sich aus der schwarzen Masse heraus gelöst und hielten nun direkt auf Caesian zu, dicht gefolgt von ihren Monstern. Augenblicklich ging eine Salve von weißen Kugeln krachend auf sie nieder und riss den einen oder anderen vom Pferd. Zwei Ka-Bestien brachen auf der Stelle tot zusammen, als ihre Zwillingsseelen das Leben aushauchten und sich in grauen Rauch auflösten. Einem weiteren Duo jedoch gelang es, den Angriffen zu entgehen. Sie preschten vor und stürzten sich auf die beiden Soldaten, die an Caesians Seite verblieben waren. Inzwischen hatten einige feindliche Kämpfer ihr Vorhaben, in die Stadt einzudringen, verworfen, um ihrem Herren zu Hilfe zu eilen. Sie wurden jedoch von den übrigen Schattentänzern abgefangen, noch ehe sie in seine Nähe kamen. Schwerter zuckten durch die Luft, Pfeile flogen. Einige Mitglieder der dunklen Horde lösten sich aus dem Konflikt, stürmten unter der Führung von zwei anderen Men-nefer entgegen. Mehrere Ka-Bestien folgten und fielen unter wütenden Lauten über jene her, die noch immer das Loch in den Mauern belagerten. Ein paar von Caesians halb toten Männern versuchten, aus der Situation noch das Beste zu machen, indem sie sich wenigstens einer der zwei mächtigsten Kreaturen auf dem Feld entledigten. Gemeinsam gingen sie auf den geflügelten Drachen des Ra los, der noch immer im Staub lag. Seto wollte seinem verwundeten Monster den Befehl geben, einzugreifen, da war es bereits vorbei. Kurz zuckte ein flammender Strahl vom Himmel herab, dann ein Knall. Sie feindlichen Krieger gingen brüllend in Flammen auf, in einem Feuer, das alles verzehrte. Sekunden später entstieg dem Qualm ein Pferd mit leuchtend roten Schwingen und brennender Mähne. Caesian beobachtete das Geschehen mit vor Schreck geweiteten Augen. Er war so kurz davor gewesen. So wahnsinnig kurz! An diesem Tag hätte Men-nefer ihm gehören sollen! Er biss sich die Unterlippe vor Wut beinahe blutig. Offenbar hatte er die beiden Halunken, die neulich in sein Lager eingedrungen waren, unterschätzt. Es handelte sich anscheinend nicht um eine kleine Gruppe Krimineller, die an dem Gold der Artefakte interessiert waren. Nein, da steckte mehr dahinter. Vielleicht besaßen sie ja tatsächlich Wissen um die Macht der Relikte... In all dem Durcheinander fiel niemandem auf, wie seine Bestie im Schatten seines Pferdes erschien. Ein langer, dunkelbrauner Mantel verhüllte den gesamten Körper. „Wir müssen uns zurück ziehen. Dafür werden diese Missgeburten büßen.“ Augenblicklich verschwand das Wesen wieder. Nur einen Augenaufschlag später suchten sämtliche Truppen, die ihm unterstanden, ihr Heil in der Flucht. Doch dies schien den Schattentänzern nicht zu genügen. Sie nahmen die Verfolgung auf. Resignierend riss Caesian sein Pferd herum. „Das werdet ihr bereuen. Beim nächsten Mal wird es anders sein. Darauf könnt ihr Gift nehmen!“, knurrte er, ehe auch er sich rasch vom Schlachtfeld entfernte. Hinter ihm erklang ein weiteres Mal der Ruf eines Horns. Atemu konnte es nicht glauben. Sie hatten es geschafft! Caesian floh, ebenso wie der Rest seiner Truppen, die noch bis zum Horizont von den Schattentänzern verfolgt wurden. Schließlich lösten sich die Kontrahenten voneinander. Während der feindliche Feldherr mit seinen Kriegern gen Norden entkam, verschwanden die dunklen Gestalten der geheimen Verbindung im Westen. Erleichtert sackte der Pharao auf die Knie. Es war vorbei. Die Schlacht war endlich vorüber. Er schloss erschöpft die Augen. Egal, was Seto auch dazu sagen mochte, dass sie es nicht aus eigener Kraft geschafft hatten- für ihn zählte nur, dass sein Volk in Sicherheit war. Er sah auf, als sich hastige Schritte näherten. Es war Yugi, der ihm besorgt eine Hand auf die Schulter legte. „Ist alles in Ordnung?“ „Ja... jetzt ist wieder alles in Ordnung, Partner“, erwiderte der Pharao mit einem schwachen Lächeln. Erleichtert rief er den geflügelten Drachen des Ra vom Schlachtfeld zurück. Sofort entspannte sich sein gesamter Körper. Er musste seine Kräfte nicht mehr aufteilen. Ebenfalls entkräftet ließ sich der Kleinere von ihnen an der Mauer herab sinken. Dankbar lehnte er den Kopf an den kühlen Stein. „Was ist mit Joey?“, erkundigte sich Atemu. „Ihm geht es gut, keine Sorge. Sein Rotauge sucht gerade einige Trümmer zusammen, um das Loch zu schließen“, erwiderte sein Gegenüber. Sie sahen sich um, als sich noch jemand keuchend an die Mauer lehnte. Es war Marlic, dem ein blutiges Rinnsal über das Gesicht lief. „Du bist ja verletzt!“, rief Yugi sogleich aus und wollte sich in einem Anflug von Hilfsbereitschaft erheben, der ihn die Vergangenheit wohl völlig vergessen ließ. Doch der andere winkte unbeeindruckt ab und fuhr sich einmal mit der Hand über das Antlitz. „Halb so wild. Ist nur ein Kratzer. Viel schlimmer sind die Kopfschmerzen“, erwiderte Marlic, während er sich die Schläfe massierte. „Ich weiß echt nicht, was der Kerl für ein Problem hat! Immer auf den Schädel von meinem armen Des Gardius! Dafür werde ich den Typ ausweiden, das verspreche ich hoch und heilig, bei Ra!“ Er schloss für einen Moment die Augen, öffnete sie dann aber gleich wieder und ließ seinen Blick umher schweifen. Plötzlich hielt er inne und beugte sich nach vorne, um besser hinab in die Stadt blicken zu können. Ein Grinsen stahl sich auf seine Lippen. „Hey, was machst du denn hier, Bakura? Ist es dir im Kerker auf Dauer doch zu ungemütlich geworden?“ „Wahnsinnig witzig, ich lach mich schlapp!“, keifte es sofort von unten zurück. Auch Atemu und Yugi lehnten sich rasch nach vorne. Tatsächlich, es war der Grabräuber. Was sie dabei jedoch mehr verwunderte, war der Umstand, dass er gemeinsam mit Tea, Marik, Mana und Ryou erschienen war. Außerdem war ein Mann bei ihnen, den sie nicht kannten. „Atemu, ist alles in Ordnung?“, rief die Hofmagierin sofort, als sie ihn erblickte. „Was ist passiert? Wir haben nur ein Horn gehört.“ „Keine Sorge, wir haben es geschafft“, erwiderte der Pharao matt, aber freundlich. „Wenn auch mit außergewöhnlicher Hilfe.“ „Was soll das heißen?“, hakte Mana nach. „Die Schattentänzer. Ich weiß nicht warum, aber sie tauchten plötzlich auf und haben uns geholfen.“ Keiros Kopf schoss augenblicklich empor und fixierte Atemu einen Moment. Dann stürmte er die Treppe an der Mauer hinauf und fiel beinahe über die Umgrenzung, als er schlitternd zum Stehen kam. „Was soll das? Hat dir irgendwer erlaubt, hier rauf zu kommen?“, meckerte Seto sofort, der angesichts seines Zustands mehr als ungehalten war. Doch Keiro ließ sich davon gar nicht irritieren. Sein Blick glitt einen Moment suchend über das Schlachtfeld, dann begann er breit zu grinsen. „Bei allen Göttern. Dass ich das noch erleben darf“, murmelte er. Sie alle waren vollkommen erschöpft. Doch zugleich ließen sie die Ereignisse des Tages keinen Schlaf finden. Als die Sonne Abschied von der Welt nahm, um dem Mond Platz zu machen, fanden sie sich alle in einem der großen Säle des Palastes ein. Gierig schlangen sie das Essen herunter, das die Diener gebracht hatten. Der einzige, der dies nicht tat und stattdessen eine grimmige Miene zog, war Seto. „Dein Name ist also Keiro. Und du bist sein Bruder“, meinte er mit einem Nicken in Bakuras Richtung. Sofort wurden alle hellhörig. „Das ist richtig. Genau genommen sind wir Zwillinge“, erwiderte der junge Mann, der tatsächlich eine erstaunliche Ähnlichkeit mit dem Grabräuber hatte. Ryou schluckte. Es gab also zwei von der Sorte? Herrjemine... „Wenn das richtig ist, dann lag unser großer König der Diebe wohl vollkommen falsch“, fuhr der Hohepriester fort. Bakura hatte inzwischen wieder aus seiner Starre heraus gefunden. Augenblicklich funkelte er den Cousin des Pharao böse an. „Was soll das heißen?“ „Nun, hast du nicht damals behauptet, man habe deine gesamte Familie ausgelöscht? Dem ist wohl nicht so, wie mir scheint.“ „Erstens...“, zischte der Grabräuber. „...ging ich tatsächlich davon aus. Zweitens sind auch so genügend Menschen ums Leben gekommen.“ „Ach komm, hör schon auf!“, erwiderte Seto. „Jetzt versuch' hier nicht uns weiß zu machen, du hättest das alles aus reiner Nächstenliebe getan!“ „Genau, lass das!“, mischte sich Marlic ein. „Denn wenn es so wäre, geriete mein Bild, das ich von dir habe, deutlich ins Wanken.“ Bakura wollte gerade zu einer geschmalzenen Antwort ansetzen, als Atemu dazwischen ging. „Schluss damit! Was geschehen ist, ist geschehen. Daran können wir nichts mehr ändern, ganz gleich welche Beweggründe alle Beteiligten damals getrieben haben! Was zählt ist die Gegenwart. Und die sieht alles andere als rosig aus.“ Er machte eine kurze Pause, um sicher zu gehen, dass keiner der Anwesend weiter keifen würde. „Gut. Also, Keiro. Ich hätte da einige Fragen an dich.“ Der Angesprochene nickte. „Nur zu, Euer Hoheit. Sofern ich fähig bin, sie zu beantworten, werde ich das gerne tun.“ Bakura, der soeben einen Schluck Wasser getrunken hatte, spuckte diesen augenblicklich zurück in seinen Becher. „Wie bitte?“ Er erntete einen verdutzten Blick seines Bruders. „Irgendwelche Einwände?“ „Ja, die habe ich allerdings! Du sitzt hier dem Mann gegenüber, dessen Vater und Onkel für den Angriff auf Kul Elna verantwortlich waren! Und dann redest du ihn noch mit 'Euer Hoheit' an und verhältst dich wie der übliche, unterwürfige Pöbel?“ Atemu sagte dazu nichts. Er hatte früher oder später mit Vorwürfen dieser Art gerechnet. Nun lag sein prüfender Blick auf Keiro. Der seufzte. „Ihr seid euch wirklich so ähnlich...“, murmelte er. „Was?“, hakte Bakura sofort nach. „Ich sagte, dass ich das anders sehe, als du. Aber dies ist etwas, das wir bei einer anderen Gelegenheit besprechen sollten. Nur zu, Pharao. Stellt Eure fragen.“ Atemu nickte. „Gut. Als ich die Schattentänzer erwähnte, bist du direkt die Mauer hoch gestürmt. Was hatte das zu bedeuten?“ „Nun, ich gehörte einst diesem Clan an. Da mir dadurch ihre Einstellung bezüglich der Krone vertraut ist, hat mich ihr Eingreifen in diese Schlacht überrascht.“ Sofort beugte sich Seto nach vorne. „Du warst ein Mitglied der Schattentänzer?“ „So ist es“, bestätigte Keiro. „Ich war es. Nach dem Angriff auf Kul Elna griffen sie mich auf und halfen mir, bis meine Wunden verheilt waren. Ich blieb noch eine ganze Weile bei ihnen, doch ich teilte ihren strengen Glauben nicht. Ebenso wenig hatte ich Interesse daran, in der Kunst der schwarzen Magie unterwiesen zu werden. Wie ihr wohl wisst, sind die Schattentänzer eine Gruppe Aussätziger, da sie insbesondere Gottheiten wie Seth und Sachmet verehren. Götter, die für das Böse, Dunkle stehen. Eines Tages kehrte ich ihnen den Rücken- aber nicht ohne eines ihrer absoluten Heiligtümer mit mir zu nehmen. Seitdem bin ich in ihren Kreisen... nun, man könnte sagen, nicht mehr gerne gesehen“, schloss der Weißhaarige mit einem schelmischen Grinsen. „Nicht gerade die feine englische Art, die Leute zu beklauen, die einem geholfen haben“, warf Joey ein. Doch Keiro winkte ab. „Liegt eben in der Familie“, meinte er mit Seitenblick auf Bakura. „Aber Spaß beiseite. Warum erzähle ich euch überhaupt von meinem kleinen Diebesgut? Weil ich glaube, dass es etwas mit diesem Caesian zu tun hat.“ Atemu zog die Augenbrauen nach oben. „Inwiefern?“ Keiro griff an seinen Hals und löste das Tuch, das darum geschlungen war. Unter dem hellen Stoff kam ein goldenes Amulett aus reinstem Edelmetall zum Vorschein. In der Mitte befand sich ein Skarabäus, der von zwei Flügeln eingehüllt wurde. Er löste die Kette und breitete sie auf dem Tisch aus. „Und in welcher Verbindung soll dieses- zweifellos prachtvolle- Schmuckstück zu Caesian stehen?“, erkundigte sich Seto. Doch Keiro hob den Zeigefinger. „Urteilt nicht voreilig, Hohepriester. Das ist nicht nur gewöhnlicher Schmuck. Aber dafür muss ich etwas weiter ausholen.“ Er lehnte sich zurück, die Augen fest auf das Amulett gerichtet. „Eine Legende besagt, dass den Göttern vor langer Zeit noch mehr Macht zu eigen war, als es heute der Fall ist. Zugleich waren sie jedoch keine Kreaturen ohne Seele und Gefühle. Nur allzu oft verleiteten diese sie dazu, ihre Kräfte zu missbrauchen. So beschlossen die Stärksten unter ihnen eines Tages zum Schutz der Welt ihre Macht zu verringern. Sie sperrten einen Teil davon- neben allen Gefühlsregungen, die diese Welt kennt- in zehn Artefakte ein und versteckten diese in ganz Ägypten, auf dass sie niemals gefunden werden sollten. Doch leider war dem nicht so. Ihre Ruhe wurde gestört. Eines dieser Relikte der Götter, meine Freunde, liegt direkt vor euch.“ Auf der Stelle beugten sich alle nach vorne, um einen genaueren Blick auf das Amulett erhaschen zu können. Lediglich Seto verharrte auf seinem Stuhl. „Wie du bereits sagtest, handelt es sich dabei um eine Legende. Die ägyptischen Herrscher haben das ganze Land nach diesen Gegenständen durchkämmt und nichts dergleichen gefunden.“ „Und daraus schließt du direkt, dass sie nicht existieren können? Man, du hast echt mehr Gemeinsamkeiten mit Seto Kaiba, als ich dachte!“, kommentierte Joey, woraufhin er einen bösen Blick erntete. „Lass dem Hohepriester ruhig seine Zweifel, mein Lieber“, mischte sich Keiro ein. „Umso mehr Spaß wird es machen, sie ihm zu nehmen. Mal im Ernst: Habt ihr euch noch gar nicht gefragt, woher Caesian die Kraft nimmt, Ägypten derartig zu zusetzen?“ „Natürlich haben wir das“, antwortete Atemu. „Aber worauf willst du hinaus?“ „Ich hatte vor einigen Tagen die Gelegenheit, mit einem alten Freund von mir zu sprechen- seines Zeichens ein Schattentänzer, aber er war mir noch einen Gefallen schuldig. Dieser berichtete, dass der Clan davon überzeugt ist, Caesian habe es geschafft, eines der Relikte in seine Gewalt zu bringen. Es soll sich dabei um das Zepter des Seth handeln.“ „Und wozu ist dieses Artefakt in der Lage?“, hakte der Pharao nach. „Nun, Seth ist laut den Überlieferungen der Gott der Wüste. Soweit mir bekannt ist, kann das Zepter Sandstürme herauf beschwören, eine Fata Morgana erzeugen...“ „Das ist es!“, unterbrach ihn Yugi nach kurzem Zögern. „Eine Fata Morgana! Atemu, du hast doch erzählt, dass von Weit und Breit keine Soldaten für Caesian nachgerückt sind, richtig?“ „Ich glaube, ich weiß, worauf du hinaus willst“, schloss sich Ryou unter den fragenden Blicken der anderen an. „Bedenkt doch einmal! Wenn er eine Luftspiegelung erzeugt hat, um seine Krieger zu verbergen, dann sind diese nicht einfach aus dem Nichts aufgetaucht! Eure Späher hatten lediglich keine Möglichkeit, sie kommen zu sehen.“ „Eine Luft... was?“, meinte Mana und kratzte sich am Kopf. „Eine Fata Morgana“, antwortete Yugi. „Caesian hat seine Truppen im Schutz einer Fata Morgana nachrücken lassen.“ „Das klingt total abgedreht“, warf Joey ein. „Aber zugleich auch logisch“, fügte Tea hinzu. „Gut, damit wäre also schon mal ein Teil der Zweifel des werten Hohepriesters ausgeräumt“, meldete sich Keiro wieder zu Wort. „Nun zur anderen Hälfe. Euer Gnaden- wo glaubt ihr kamen die ganzen Leichen her, die plötzlich aufstanden und erneut begonnen haben, Men-nefer anzugreifen?“ Sein Blick durchbohrte Seto regelrecht, als er sah, dass er gewonnen hatte. Der Braunhaarige musste sich geschlagen geben. Da war es tatsächlich nicht mit rechten Dingen zugegangen. Schließlich fuhr Keiro mit schelmischem Grinsen fort. „Wie gesagt: Die Schattentänzer gingen zu dem Zeitpunkt, da ich meinen alten Bekannten ausgehorcht habe, davon aus, Caesian sei im Besitz eines Artefakts. Ich glaube, dass sich das inzwischen geändert hat. Diese lebenden Toten waren ein allzu deutliches Anzeichen dafür.“ „Um welches Relikt handelt es sich deiner Meinung nach dabei?“, fragte Atemu. „Die Tränen der Nephthys. Nephthys ist eine Göttin, die für die Trauer um die Toten steht. Folglich...“ „...könnte ihr Artefakt die Macht besitzen, gefallenen Soldaten wieder Leben einzuhauchen“, vervollständigte Marik den Satz. „Denkst du, er wird noch weitere davon suchen?“ „Ich gehe davon aus“, meinte Keiro, während er mit den Schultern zuckte. „So machtsüchtig wie er ist... Zudem wird dieses Streben noch von dem Zepter Seths genährt werden. Diese Gottheit ist den Legenden nach eine, die stets auf Macht aus war. Wenn es stimmt, dass die größten Kräfte dieser Welt ihre Gefühle in die Relikte verbannten, dann versiegelte Seth gewiss diesen Teil von sich, der ihn und das Land immer wieder in Schwierigkeiten brachte.“ „Hast du irgendeine Ahnung, wo sich die anderen Gegenstände befinden? Du sagtest, es gäbe insgesamt zehn davon. Eines liegt direkt vor uns. Zwei hat Caesian. Was ist mit den anderen?“, fragte Yugi aufgeregt. „Vier befinden sich im Besitz der Schattentänzer. Oder besser befanden... Da dieser großartige Möchtegernherrscher die Tränen der Nephthys in die Hände bekommen konnte, sind es jetzt noch drei“, fuhr Keiro fort. „Soweit mir bekannt ist, handelt es sich dabei um die Feder des Thot, Anubis' Dolch und die Saat des Chnum.“ „Das macht unter dem Strich noch vier Relikte...“, warf Marik ein. „...welche bis heute als verschwunden gelten“, vervollständigte diesmal der Weißhaarige den Satz. Er wandte überrascht den Kopf um, als sich Seto plötzlich erhob. „Gut. Wenn die Schattentänzer drei von diesen Gegenständen haben, dann wirst du uns als nächstes verraten, wo wir diese Bastarde finden können.“ „Damit ihr sie in euren Besitz bringen und selbst gebrauchen könnt? Niemals.“ „Wie war das noch, du willst dem Pharao all seine Fragen beantworten?“, mischte sich Bakura mit hämischem Unterton ein. „Diese nicht. Außerdem kam sie von einem Hohepriester.“ Keiro wandte sich wieder an Atemu. „Glaubt mir, mein Pharao. Es hätte keinen Sinn, diese Relikte an sich zu reißen und gegen den Feind einzusetzen. Zudem glaube ich, dass sie bei den Schattentänzern bestens aufgehoben sind, auch, wenn sie eines an Caesian verloren haben.“ „Und weshalb?“, erkundigte sich der junge König. „Diese Relikte bergen die Macht und die Gefühle der Götter selbst. Empfindungen die stärker sind, als die eines jeden Menschen. Sie sind nicht dazu bestimmt, von Sterblichen geführt zu werden. Ein jeder, der es dennoch tut, gefährdet die Existenz der gesamten Welt, wie wir sie kennen. Caesian hat das Gleichgewicht mit Sicherheit bereits erheblich gestört. Jeder weitere Einsatz der Artefakte könnte der letzte sein. Die Schattentänzer hingegen haben es sich zur Aufgabe gemacht, sie vor jeglichem Missbrauch zu bewahren. Und selbst, wenn sie eines davon an den Feind verloren haben, so gelang es ihnen doch, drei zu schützen. Womit wir den ersten Grund hätten, weshalb ich Euch nicht verraten werde, wo sich der Clan aufhält. Ihr seid der König dieses Landes, mein Pharao, und ich bin Euch treu ergeben. Zugleich seid Ihr jedoch auch ein Fremder für mich. Niemand gibt mir die Garantie, dass ihr die Relikte wahrlich unberührt lassen werdet. Der andere liegt ebenfalls auf der Hand. Men-nefer steht kurz vor dem Fall. Caesian hat wahrscheinlich nicht einmal den Hauch einer Ahnung, was die Schattentänzer sind und weiß deshalb auch nicht, wo sie sich befinden. Somit sind die Gegenstände derzeit in Sicherheit. Und Punkt Nummer drei ist schlichtweg ein Schwur, den ich einst gab, und der besagte, dass ich den Clan niemals verraten würde, gleich, was geschieht. Ja, ich mag ein Dieb sein“, meinte Keiro mit Nicken in Richtung des Amuletts. „Aber ich bin auch ein Mann von Ehre.“ „Das ist unerhört!“, polterte Seto bereits los, als sein Cousin ihn mit einer Geste zum Schweigen brachte. „Ich verstehe deine Bedenken nur zu gut. Vor allem in Anbetracht dessen, was euch vor etlichen Jahren zugestoßen ist.“ Bakura kommentierte diese Stelle mit einem abfälligen Schnauben. „Doch sei versichert, dass ich nicht daran denke, die Relikte zu missbrauchen- nicht nach allem, was du erzählt hast. Um dir dies zu beweisen, möchte ich dich bitten, weiterhin auf dieses Amulett zu achten.“ „Mein König! Mit Verlaub, dieser Mann ist verwandt mit...“, warf der Hohepriester ein, doch Atemu gebot ihm abermals Einhalt. „Gerade Ihr solltet wissen, dass die Verwandtschaft nicht immer aussagekräftig genug ist.“ Als Seto die Worte im Hals stecken geblieben waren, neigte Keiro dankbar das Haupt. Er griff nach dem Schmuckstück und legte es wieder um seinen Hals, ehe er es erneut unter dem Tuch verbarg. „Nur eine Frage noch. Anschließend sollten wir alle etwas ruhen, solange wir dazu die Möglichkeit haben- das wird nicht Caesians letzter Überfall gewesen sein. Außerdem habt ihr euch gewiss noch viel zu erzählen. Man findet nicht jeden Tag einen tot geglaubten Bruder wieder“, meinte Atemu. „Was für eine Artefakt ist das?“, fragte er schließlich. Erneut erschien das Grinsen eines wahren Schelms auf Keiros Zügen. „Bastets Amulett. Das Relikt der Göttin der Liebe.“ ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ Keiros explains it all. Eigentlich wäre auch das ein passender Titel gewesen, aber irgendwie klingt er dann doch zu ironisch. Jetzt ist die Katze jedenfalls aus dem Sack. Im nächsten Kapitel wird Caesian mal etwas genauer in Erscheinung treten, immerhin war der gute Herr ja bislang nur das Übel am Rande der Geschichte. Ich erbitte mir allerdings etwas Zeit- das Lernpensum, das ich derzeit stemmen muss, ist wirklich heftig... Würde mich über Kommentare freuen- as always. ;) Es grüßt, Sechmet Kapitel 13: Nächtliche Gespräche -------------------------------- Nächtliche Gespräche Leise fiel die Tür hinter ihnen ins Schloss. Eine kleine Öllampe, die Keiro entzündete, spendete Licht. Das Zimmer war wirklich geräumig und gemütlich- in jedem Fall gemütlicher als der Kerker, das musste selbst Bakura zugeben. Er beobachtete den anderen dabei, wie er zu einem kleinen Tisch ging und ihnen Wein eingoss, den die Diener des Pharao bereit gestellt hatten. Für einen Moment fragte er sich, ob die Flüssigkeit vergiftet sein könnte, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Er konnte den Herrscher Ägyptens auf den Tod nicht ausstehen, aber paranoid brauchte er deshalb nicht werden. Anschließend stellte er sich die Frage, ob er es mit seinem Gewissen vereinbaren konnte, irgendetwas aus dem Königshaus anzunehmen. Er beantwortete sie mit 'ja'. Nach den Ereignissen des Tages konnte Alkohol wahrlich nicht schaden. Als er schließlich einen Becher in Händen hielt, ließ Keiro den seinen sogleich dagegen klirren. „Ich würde sagen, darauf müssen wir trinken!“, meinte er freudig. Bakura erwiderte nur ein kurzes Nicken, ehe er einen Schluck nahm. Immer noch musterte er sein Gegenüber argwöhnisch. Es war schon beinahe zu real, um tatsächlich wahr zu sein. Er hatte ihn siebzehn Jahre lang für tot gehalten. Nun stand er vor ihm. „Du scheinst mindestens doppelt so erstaunt über unser Wiedersehen zu sein, wie ich es bin“, kommentierte Keiro schließlich. „Kein Wunder.“ „Wie meinst du das?“ „Na ja... dein Name war nicht gerade unbekannt. 'Der König der Diebe'. Du hast einigen Leuten wahnsinnige Angst gemacht, weißt du das? Natürlich habe auch ich irgendwann von dir gehört. Da war mir klar, dass mein Bruder gar nicht tot sein kann. Darum hat es mich nicht so überrascht, dich wiederzusehen, wie es wohl der Fall gewesen wäre, hätte ich deinen Namen siebzehn Jahre lang nicht vernommen.“ Keiro ließ sich auf das Bett sinken. „Ich habe auch nach dir gesucht. Aber du warst mir immer einen Schritt voraus. Zudem hast du dich darauf verstanden, deine Spuren zu verwischen. Aber warum denke ich eigentlich noch daran? Jetzt haben wir uns ja endlich gefunden. Und ich bin wahnsinnig froh darüber.“ Bakura trank abermals von dem Wein. Was sollte er darauf jetzt erwidern? 'Ja, ich auch'? Die ganze Situation entzog sich ihm. Es gelang ihm nicht, sie mit seiner Persönlichkeit zu vereinbaren. Das hier war... zu emotional. Nein, nicht unbedingt emotional. Auch er hatte Emotionen. Aber wohl ganz anderes als derjenige, der da vor ihm saß. Was war ihm nach Kul Elna noch geblieben? Zunächst Angst und Verzweiflung, die sich schließlich in Hass und Abscheu gewandelt hatten. Das einzige, was ihn noch hatte erfreuen können, war das Leid anderer. Siebzehn Jahre lang. So etwas konnte nicht von jetzt auf gleich beiseite geschoben und abgehakt werden- selbst, wenn er gewollt hätte. „Keine Sorge, ich erwarte nicht, dass du mir um den Hals fällst“, fuhr Keiro fort, als sein Bruder nicht antwortete. „Du könntest mir stattdessen erzählen, wie es dir ergangen ist.“ „Lange Geschichte“, war die knappe Antwort. Ein Kichern war die Folge. „Das, mein Lieber, konnte ich mir schon fast denken.“ Bakura nahm den letzten Schluck, ehe er den Becher erneut füllte. Als er die Karaffe seinem Bruder hin hielt, lehnte der ab. „Ich bin heute nicht sonderlich zum plaudern aufgelegt“, meinte der Grabräuber schließlich. „Wäre besser, wenn du den Anfang machen würdest.“ Keiro schmunzelte. „Na gut. Einer muss ja immerhin beginnen. Willst du dich nicht setzen?“ Ein Kopfschütteln. „Danke, ich stehe lieber.“ „Wie du meinst. Gut, wo fange ich am besten an? Nach dem Überfall auf Kul Elna bin ich irgendwann in der Wüste zu mir gekommen. Ich konnte mich weder erinnern, wie ich dorthin kam, noch, wie lange ich bereits im Sand lag. Blut, das mir aus einer Wunde am Kopf in die Augen gelaufen war, verschleierte meinen Blick. Dass einzige, was mir sofort klar wurde, war, dass ich nicht mehr würde zurück gehen können. Und, dass ich von nun an auf mich allein gestellt sein würde. Ich fühlte mich wie in Trance, ich war zu absolut keiner Gefühlsregung fähig. Ich konnte nicht weinen, nicht schreien, nicht fluchen... Ziellos irrte ich durch einen Teil der Wüste, der keinerlei Schutz vor der sengenden Hitze bot. Die Strahlen der Sonne stachen auf meine Haut und verbrannten sie, während mein Mund immer trockener wurde. Dann tauchten am Horizont plötzlich zwei Gestalten auf, die sich in wahnsinnigem Tempo näherten. Einen Moment überlegte ich, ob ich rennen sollte. Doch weder hatte ich die Kraft, noch den Willen dazu. Für mich gab es nur zwei Möglichkeiten. Entweder, diese Leute würden einfach an mir vorüber reiten und mich meinem Schicksal überlassen, oder es waren Banditen, die mich töten würden. Aber keines von beiden sollte eintreten. Stattdessen zügelten sie ihre Pferde. Es waren ein Mann und eine Frau. Letztere sah mich besorgt an, während sie mich Dinge fragte, die ich nicht verstand. Ich war zu erschöpft. Kurz darauf habe ich das Bewusstsein verloren. Wenig später kam ich wieder zu mir- und befand mich direkt im Versteck der Schattentänzer. Sie hatten meine Wunden mit heilenden Salben bestrichen, gaben mir Essen und Wasser. Sie boten mir an, bei ihnen zu bleiben. Zunächst war ich erleichtert, doch ich musste bald feststellen, dass das Leben als Mitglied des Clans nicht das war, was ich mir erhofft hatte. Allerdings war mir auch bewusst, dass ich in meinem Alter alleine kaum überleben konnte. Einige Jahre zogen ins Land, dann kehrte ich ihnen den Rücken. Seitdem führte mich mein Weg in die entlegensten Winkel dieser Welt. Ich habe viel gesehen und die Entscheidung, die Schattentänzer zu verlassen, niemals bereut. Als ich die Gerüchte hörte, dass Men-nefer in Schwierigkeiten stecke, habe ich mich hier her begeben. Und auch diese Entscheidung war die richtige, wie mir scheint“, schloss Keiro seinen Bericht mit einem Lächeln in Richtung des Grabräubers. Dessen Mundwinkel zuckten kurz, erwiderten es jedoch nicht halb so aufrichtig. „Auch als ich damals vernahm, dass du dein Unwesen treiben würdest, war ich hier“, erinnerte sich Keiro schließlich. „Wie gesagt, gefunden habe ich dich nicht. Aber ich war in der Gegend, als ich von der Niederlage Zorcs erfuhr. Da dachte ich eigentlich, ich hätte dich endgültig verloren. Aber es scheint, als seist du deinem Schicksal ein weiteres Mal entronnen.“ „Wie gesagt“, meinte Bakura, während er mit den Schultern zuckte. „Mir ist heute nicht danach, von all dem zu erzählen.“ „Nur allzu verständlich“, meinte sein Gegenüber, während seine Stimme einen seltsamen Unterton annahm. Der Grabräuber musterte ihn argwöhnisch. „Wie meinst du das?“, hakte er nach. „Nun, du hast Ägypten damals ganz schöne Schwierigkeiten bereitet.“ „Was auch Sinn und Zweck der Sache war.“ „Und es nicht besser macht.“ Sie sahen sich fest in die Augen. Bakuras Blick hatte etwas Bedrohliches angenommen. „Raus mit der Sprache. Was soll das heißen?“, zischte er schließlich. Keiro seufzte. „Ich war hauptsächlich in der Gegend, um nach dir zu suchen. Aber es gab noch einen anderen Grund. Ich hatte vor, dich von all dem abzubringen. Durch die Lehren der Schattentänzer waren mir auch die Sagen um die Milleniumsgegenstände vertraut, ebenso die Kunst der schwarzen Magie. Nachdem ich hörte, dass du den Palast überfallen hättest, und auch all die anderen Gerüchte vernahm, konnte ich mir denken, worauf du aus warst- oder habe es zumindest befürchtet.“ Bakura durchbohrte ihn weiterhin mit Blicken, erwiderte jedoch nichts. So fuhr er fort. „Weißt du, ich frage mich bis heute, was das sollte. Was hast du dir dabei gedacht?“ „Verdammt viel“, kam die patzige Antwort. „Diese Menschen, die immerzu in Saus und Braus lebten, sollten spüren, was es bedeutet, alles zu verlieren.“ „Das ist doch Unsinn!“ „Unsinn?“, wiederholte der Grabräuber, während seine Stimme merklich lauter wurde. „Ja, Unsinn. Verstehst du nicht? Selbst, wenn du Men-nefer dem Erdboden gleich gemacht hättest, es hätte niemandem geholfen, sondern nur neues Leid hervor gebracht. All die Leute aus unserem Dorf sind tot, Bakura! Auch das hätte sie nicht zurück gebracht.“ Geräuschvoll stellte Bakura den Becher auf dem Tisch ab. „Damit magst du recht behalten. Aber willst du allen Ernstes behaupten, dass sie nicht verdient haben, gerächt zu werden? Solch eine Tat kann nicht ungesühnt bleiben!“ „Es stellt sich hier nicht die Frage, ob sie es verdient haben!“, erwiderte Keiro. „Was im Raum steht ist alleine die Tatsache, dass all dies vollkommen sinnlos war! Sie sind nicht mehr. Und nichts kann sie zurückbringen. Auch die größte und brutalste Rache nicht.“ „Und selbst, wenn es ihnen nicht geholfen hat, so wenigstens mir“, zischte Bakura. Sein Bruder schüttelte den Kopf und dämpfte seine Stimme, versuchte, einen ruhigen Ton anzuschlagen. „Was hast du damit erreicht? Hm? Genau, nichts. Das einzige, was du vielleicht gewonnen hast, ist, dass der Herrscher Ägyptens ein einziges Mal in seinem Leben beinahe vor jemandem im Staub lag. Zugegeben, auch ich hätte mir eines Tages eine Entschuldigung für diese Tragödie gewünscht, die niemals kam. Aber wie auch? Du hast dich mit dem Falschen angelegt, siehst du das denn nicht? Der, der für all das verantwortlich ist, ist ebenso tot, wie die Menschen aus Kul Elna! Der Überfall geschah zu Zeiten Aknamkanons! Atemu mag zwar sein Sohn sein, aber das bedeutet doch noch lange nicht, dass er für die Taten seines Vaters einstehen muss.“ „Und ob es das tut!“, fauchte der Grabräuber. „Es ist eine Schuld des Blutes, die auf ihm lastet! Und selbst, wenn er auf den Knien vor mir herum gekrochen wäre und sich noch so oft bei mir entschuldigt hätte, ich hätte ihm nicht vergeben! Das, was passiert ist, ist nicht zu entschuldigen!“ Bakura war nur zu gut bewusst, dass es nicht Aknamkanon gewesen war, der die Milleniumsgegenstände erschaffen hatte. Es war Akunadin gewesen. Aber das spielte für ihn keine Rolle. Der Vater Setos war immerhin der Onkel des amtierenden Pharao gewesen und somit ebenfalls mit ihm verwandt. Außerdem war er überzeugt davon, dass Atemus Vater durchaus Kenntnis von der Herkunft der Objekte gehabt hatte. Für einen Moment herrschte bitteres Schweigen, ehe Keiro seufzte. „Das Wort 'Vergebung' ist dir fremd, oder?“ „Die Welt ist ungerecht. Nur so kommt man durch“, erwiderte der Grabräuber kühl. „Es ist wahrlich schade, dass du so denkst. Weißt du, anfangs suchte auch ich einen Schuldigen für das, was geschehen ist. Doch spätestens, als Aknamkanon starb, hörte ich damit auf. Das, was geschehen ist, ist schrecklich. Daran besteht kein Zweifel. Aber was bringt es, sich ewig nur in Trauer und Hass zu wälzen? Nur neues Leid entsteht dadurch. Und man quält sich selbst damit.“ Er erhob sich von dem Bett und legte seinen Mantel ab. „Es ist spät geworden. Ich denke, wir sollten uns ausruhen. Vielleicht war es keine gute Idee, diese Dinge heute zu besprechen. Dennoch hoffe ich, dass du eines Tages verstehen wirst, was ich meine.“ Bakura musterte ihn noch einen Moment, dann machte er auf dem Absatz kehrt und begab sich in Richtung der Tür. Als er die Klinke herunter drückte, hielt in Keiro noch einmal zurück. „Bruder? Ich freue mich, dich wieder gefunden zu haben.“ Kurz verweilte der Grabräuber. Dann nickte er und verließ den Raum. „Eine Frage bleibt aber immer noch“, meinte Tea. Sie war gemeinsam mit Atemu auf den Weg zu ihrem Zimmer. Die anderen hatten sich bereits verabschiedet. „Wie konnten wir in diese Zeit gelangen? Denkst du, das könnte auch etwas mit diesen Artefakten zu tun haben?“ „Das musst du Keiro fragen. Vielleicht weiß er etwas darüber“, erwiderte der Pharao. „Wir können wirklich von Glück sprechen, dass er aufgetaucht ist und ein wenig Licht ins Dunkel gebracht hat. Ansonsten wüssten wir noch immer nicht, womit wir es zu tun haben.“ Für einen Moment herrschte Schweigen, dann fuhr Tea fort. „Es ist schon seltsam, oder? Da ging Bakura die ganze Zeit davon aus, der einzige Überlebende zu sein, und dann taucht sein Bruder plötzlich auf.“ Atemu nickte zustimmend. „Ja, das muss ein komisches Gefühl sein. Aber ich denke nicht, dass es etwas geändert hätte, wäre Keiro eher aufgetaucht. Immerhin sind bei dem Überfall auf Kul Elna immer noch viel zu viele Leben ausgelöscht worden.“ Tea musterte ihn. „Es scheint beinahe so, als machst du dir Vorwürfe“, sagte sie schließlich. Besorgnis schwang in ihrer Stimme mit, während sie ihn betrachtete. Der Pharao blieb stehen und schüttelte den Kopf. „Nicht direkt. Als der Angriff stattfand, war ich noch ein Kind. Aber vielleicht hätte ich mich doch einfach an Stelle meines Vaters und Onkels entschuldigen sollen. Das hätte unter Umständen vieles verhindert. Im Endeffekt ist es doch wie mit den Politikern aus eurer Zeit. Wenn der Angehörige einer Partei Schaden anrichtet, fällt das auf alle zurück und sie müssen für das Vergehen eines Einzelnen einstehen. So könnte man es auch in diesem Fall sehen. Während dem Kampf gegen Zorc dachte ich noch anders. Doch je mehr ich es mir durch den Kopf gehen lasse, desto klarer wird mir, warum Bakura so einen unsäglichen Hass gegen mich in sich trägt. Was nicht bedeutet, dass ich seine Taten toleriere“, fügte er auf den kritischen Blick des Mädchens hinzu. Sie schien einen Moment zu überlegen. „Es muss schrecklich sein, seiner Familie und allen, die man kennt, beim Sterben zu zu sehen. Aber es entschuldigt nicht, was er getan hat. Und ändert nichts daran, dass es nicht deine Schuld war.“ Atemu lächelte. „Nicht meine eigene. Aber die meiner Verwandtschaft.“ Schweigend gingen sie weiter, bis sie Teas Zimmer erreichten. „Dann schlaf gut“, meinte der Pharao. „Die Ruhe wird uns allen gut tun. Und vielen Dank noch einmal für alles, was ihr heute für uns getan habt.“ „Das war doch selbstverständlich! Hey, wir sind Freunde, schon vergessen? Und Freunde halten immer zusammen, egal wie misslich die Lage auch ist!“ „Ich danke dir“, meinte Atemu noch. Dann huschte er den Gang hinunter. Er wollte noch einmal mit Seto sprechen, ehe er zu Bett ging, um zu erfahren, ob sich außerhalb der Mauern Men-nefers noch etwas getan hatte. Er hat wirklich ein Herz aus Gold..., schoss es Tea durch den Kopf, als sie ihr Zimmer aufsuchte. Der Schein einiger Öllampen erhellte flackernd die Wände. Seufzend ließ sie sich auf der Bettkante nieder und sah hinaus zum Nachthimmel. Es war traurig, dass es derartige Themen waren, die die Gespräche mit dem Pharao bestimmten. Nur zu oft hatte sie sich ausgemalt, wie es wäre, wenn sie sich- wider aller Gesetze von Raum und Zeit- noch einmal sehen würden. Diese Gedanken waren ganz anders gewesen. Positiv, nicht geprägt von Furcht und Trübsal. Sie ließ sich zurück fallen, hinein in die weichen Kissen. Es war traurig, so verdammt traurig. Hätten sie sich nicht unter anderen Umständen wieder begegnen können? Nach einer Weile suchte sie der Schlaf heim. Übersät mit Verletzungen sank der Mann zu Boden. Gefährlich nah neben seinem Kopf stampfte ein Fuß auf. Die Geste verdeutlichte die Wut des Herrscher, der sich drohend über dem Mann aufgebaut hatte. „Was hast du mir verschwiegen?“, zischte Caesian bitter, als er den Mann am Kragen packte und hoch zog. Der Körper hing schlaff wie eine Puppe zwischen den Fingern des Feldherrn- ausgezehrt, abgemagert. „Ich... habe euch alles gesagt, was ich wusste...“ „Das war anscheinend nicht genug! Ansonsten wären wir nicht von ein paar Banditen zurück geschlagen worden!“, brüllte Caesian und stieß den Mann in den Staub. „Ich glaube, du vergisst, wem deine Frau und deine Kinder gehören, was? Männer! Bringt mir eine seiner Töchter!“ „Nein! Bitte nicht!“, wimmerte die bemitleidenswerte Seele, die kraftlos am Boden kauerte. „Ich habe euch wirklich alles gesagt! Ich weiß nicht mehr über die Macht der Relikte! Ich schwöre es...“ Seine Stimme versagte, als er das Schluchzen seines jüngeren Kindes vernahm, dass einer der Krieger an den Haaren hinter sich her zerrte. Sofort ging Caesian ihm entgegen und packte die Gefangene. „Papa...“, schluchzte das Mädchen, während Tränen der Angst ihre Wangen hinab liefen. Caesian zückte ein Messer und hielt es ihr an die Kehle. „Ein letztes Mal: Was hast du mir verschwiegen? Und wo sind die anderen drei Relikte? Die von dir genannten Verstecke waren leer!“ Der Mann zitterte am ganzen Leib, als er antwortete. „Ich schwöre bei den Göttern Ägyptens, dass ich es nicht weiß! Das letzte Mal, als ich dort war, lagen sie noch dort versteckt!“ „Genau. Behütet von diesen ominösen Schattentänzern, zu denen du uns ebenfalls nichts erzählen kannst und die der Grund waren, warum du das Gold nicht selbst an dich gebracht hast“, spottete der Herrscher. „Schon seltsam, findest du nicht? Du hast von diesen Menschen kein Sterbenswörtchen erwähnt... bis sie auf dem Schlachtfeld vor Men-nefer auftauchten.“ „Ich wusste doch nicht, dass sie sich in einen Krieg einmischen würden! Wahrscheinlich haben sie die Gegenstände genommen! Ich schwöre, sie waren dort!“ „Schön...“, flüsterte der tyrannische Herrscher und entfernte das Messer ein Stück von der Kehle seiner Geisel. „Dann will ich dir noch eine Möglichkeit geben, deinen Fehler wieder gut zu machen. Wo finden wir diese Bastarde?“ Der Mann wimmerte und senkte das Haupt. Seine Finger grub er in den Staub, als er von einem Schluchzen geschüttelt wurde. Seine Stimme war gebrochen, als er schließlich Worte hervor würgte. „Ich... ich...“ „Ja?“, hakte der Feldherr ungeduldig nach. Plötzlich begann der Mann in Verzweiflung zu schreien. „Ich weiß es nicht! Bei den Göttern Ägyptens, ich habe keine Ahnung, wo sie sich befinden! Niemand weiß das! Das ist keine Lüge, da könnt ihr jeden Ägypter fragen! Keiner kennt ihr Versteck! Ich sage die Wahrheit, bei den Göttern, so glaubt mir doch!“ Caesian zog eine Augenbraue hoch. Keine andere Reaktion folgte- außer, dass sich der Griff um die Klinge in seiner Hand verstärkte. „Dann wird dir die Wahrheit diesmal leider kein Glück bringen...“, flüsterte er. Dann schnitt er dem Kind die Kehle durch. „Nein!“ Das Brüllen des verzweifelten Vaters schallte durch das Lager, als er sich an den toten Körper seines eigen Fleisches und Blutes klammerte. Doch niemand nahm Rücksicht auf ihn. Zwei Soldaten packten ihn an den Armen und schleiften ihn davon. „Sperrt ihn weg! Überleg' dir bis zum Morgengrauen, ob du wirklich nichts zu erzählen weißt. Wenn dem dann noch immer so ist, werde ich dir wohl erneut auf die Sprünge helfen müssen“, schrie Caesian ihm noch hinterher. Dann wandte er sich um und verschwand in seinem Zelt, vor dessen Wänden aus Stoff das Drama stattgefunden hatte. Seufzend ließ er sich auf einen der Stühle fallen und nahm einen großen Schluck Wein aus einem Kelch. Er stöhnte genervt, als jemand die Plane beiseite zog, die als Eingang diente. „Euer Majestät?“, fragte der dickliche Berater vorsichtig. Er versuchte, das Zittern in seiner Stimme zu unterdrücken. „Was, ähm... sollen wir mit dem Kind machen?“ Caesian schlug mit der Faust auf den Tisch. „Wir sind hier in Ägypten, oder?“, fauchte er. Sein Gegenüber nickte hektisch. „Na also! Ägypten hat den Nil! Und der Nil hat Krokodile! Wird’s bald?“ Der Mann verschwand sofort. Der Feldherr konnte hören, wie er ein paar Soldaten die Anweisung gab, den Leichnam zum Fluss zu schaffen. Als ob es so schwer wäre, selbst auf diesen Gedanken zu kommen! Er war wirklich von unfähigen Trotteln umgeben. Wenn dieses Reich erst sein war, würde er sich auch seiner dämlichen Berater entledigen. Aber bis dahin würde er sie noch behalten- nur, um sie im Notfall als Kanonenfutter für die Ka-Bestien der Ägypter zu missbrauchen. Er knallte den Kelch abermals auf den Tisch, als er vernahm, wie der Stoff des großen Zeltes erneut beiseite gezogen wurde. „Habe ich mich nicht klar und deutlich...!“ Er stockte, als er herum gefahren war. Das letzte Wort blieb ihm im Hals stecken. Vor ihm stand keiner seiner Untergebenen. Sondern jemand, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Langes, graues Haar fiel auf seinen Rücken, ein Bart umgab die Lippen. Braune Augen musterten ihn eindringlich. „Wer seid ihr? Und wie konntet ihr hier her kommen?“ Der Fremde lächelte und deutete gar eine leichte Verbeugung an. „Mein Name, Euer Hoheit, ist Resham. Ich bin der Führer der Schattentänzer, Vater der beiden jungen Seelen, die letzte Nacht versuchten, euch das Zepter zu entreißen, und Befehlshaber über jene Truppen, die Euch am heutigen Tag in die Flucht schlugen.“ Caesian riss die Augen auf. Im ersten Moment wollte er sein Schwert ziehen und es diesem Mann tief in die Brust rammen. Doch er unterdrückte den Reflex. Er war nicht dumm. Es musste einen Grund geben, weshalb sein Gegenüber wie selbstverständlich vor ihn trat und ihm all das erzählte, obgleich es ihn den Kopf kosten konnte- und wenn es nur so war, dass dieser Mensch sterben wollte. „Ihr seid ziemlich mutig, alter Mann. Für das, was Eure Kinder und Ihr getan habt, könnte ich Euch auf der Stelle enthaupten lassen.“ Die Miene Reshams blieb reglos, als er antwortete. „Aber damit wäre für Euch auch nichts gewonnen. Im Gegenteil, es würde wohl nur noch mehr Blut vergossen werden- und das vollkommen sinnlos.“ Er nickte nach draußen. „Das wäre wirklich nicht nötig gewesen. Kinder sind die unschuldigsten Geschöpfe in diesem Krieg. Was können sie für die Unwissenheit oder gar die Feigheit ihres Vaters?“ „Behaltet Eure Moral für Euch. Sagt mir lieber, was Ihr hier zu suchen habt“, erwiderte Caesian ungerührt, als er seinen Kelch mit Wein auffüllte. „Wie Ihr wollt. Mein Anliegen ist einfach...“ „...Ihr wollt die Gegenstände?“, vervollständigte der Feldherr. Kurz trat Schweigen zwischen sie. Dann räusperte sich Resham. „Nicht direkt. Niemand auf dieser Welt sollte diese Relikte begehren. Vielmehr war mein Anliegen, Euch die Antworten zu geben, die Euch der Gefangene nicht geben kann. Denn tatsächlich scheint ihm eine wichtige Eigenschaft der Artefakte nicht geläufig zu sein.“ Caesian wirbelte herum und musterte sein Gegenüber von Kopf bis Fuß eindringlich. Sofort kamen ihm die Worte des jungen Mannes in den Sinn, den er gemeinsam mit seiner Schwester hatte entkommen lassen. Ihm war inzwischen klar, dass dies keine einfachen Kriminellen gewesen waren, die es nur auf das Gold abgesehen hatten. Aber das steckte noch mehr dahinter. Er versuchte, eine möglichst freundliche Miene aufzusetzen. „So setzt Euch. Resham war Euer Name, richtig?“ Der ältere Mann nickte und nahm auf dem angebotenen Stuhl platz. „Danke. Meine Knochen sind auch nicht mehr die jüngsten. Ich möchte Euch aber gar nicht lange mit meinem Geschwätz aufhalten, Euer Hoheit“, erwiderte er höflich. „Doch ehe ich erzähle, muss ich etwas klarstellen.“ „Nur zu“, forderte Caesian ihn auf und unterdrückte dabei seine Ungeduld mühsam. „Ich möchte Euch als Gegenleistung für das, was ich Euch zu erzählen habe, um freies Geleit bitten. So nutze ich Euch mehr, als in der Position eines Gefangenen- denn Schmerzen können mich nicht dazu bringen, zu reden. Dafür habe ich schon zu viele in meinem Leben erdulden müssen. Es ist also auch in Eurem Interesse. Zudem werdet ihr die Rache meiner Kinder fürchten müssen, sollte mir etwas zustoßen. Und glaubte mir, auch wenn Ihr sie schon einmal zurück schlagen konntet, sie sind unglaublich stark und nicht zu unterschätzen. Zudem steht der gesamte Clan hinter ihnen.“ Caesian nickte. „Nach diesem Gespräch sollt Ihr gehen können, wo immer Ihr hin wollt. Wer mir gute Dienste erweist, hat nichts zu befürchten. Und dass Eure Nachkommen eine gewisse Stärke in sich tragen, ist mir nicht entgangen. Vielmehr habe ich jedoch den Hass in Erinnerung, der in den Augen Eurer Tochter leuchtete.“ „Das ist eine andere Geschichte. Wie ich bereits sagte, bin ich aufgrund der Relikte hier. Zunächst möchte ich Euch versichern, dass der Mann, dessen Kind Ihr getötet habt, die Wahrheit sagte. Was die Macht der Gegenstände anbelangte, hat er Euch tatsächlich alles gesagt, was es zu wissen gibt. Doch er scheint kein Wissen über ihre Schattenseiten zu haben.“ „Wovon sprecht Ihr?“, hakte Caesian ungeduldig nach. „Wie Ihr bereits erfahren haben dürftet, tragen diese Artefakte Kräfte der Götter Ägyptens in sich, die einst versiegelt wurden, da selbst die Gottheiten manchmal nicht in der Lage waren, sie zu kontrollieren, oder sie im Eifer des Gefechts missbrauchten, was sie später zu tiefst bereuten. Jedenfalls mögen diese Relikte mächtig sein, ohne Zweifel. Doch sie bergen auch eine Gefahr für die gesamte Menschheit. Kein Sterblicher ist in der Lage, sie ausreichend zu kontrollieren. Mal um Mal, da sie von einem Menschen gebraucht werden, gefährdet dieser die Existenz der gesamten Welt. Das soll kein Vorwurf sein, Euer Hoheit- lediglich eine Tatsache. Leute, die den Göttern huldigen, vernehmen bereits jetzt eine empfindliche Störung des Gleichgewichts, das dieses Universum in seinen Bahnen hält. Ich gehöre dazu. Noch mögen die Erschütterungen nicht stark gewesen sein, schädlich sind sie aber dennoch. Was ich Euch versuche zu sagen, ist, dass Ihr mit dem Schicksal der gesamten uns bekannten Welt und allem, was darüber hinaus existiert, spielt, Euer Majestät.“ Caesian zog eine Augenbraue nach oben, dann grinste er. „Ihr glaubt wirklich an das, was ich da redet, oder?“ „Ich kann mir vorstellen, dass es in Euren Ohren unglaublich klingen mag. Doch ich appelliere an Eure Vernunft und Euren Verstand. In diesem Krieg kann es, solange die Artefakte im Spiel sind, keine Sieger geben, sondern nur Verlierer. Versteht mich nicht falsch. Auch die Schattentänzer würden eine Schwächung oder den Niedergang des Pharaonenhauses nicht ungern sehen. Immerhin leben wir im Verborgenen, seitdem man uns dazu zwang, indem man uns mit unvorstellbarer Intoleranz gegenüber trat. Aber nicht auf diese Weise. Es ist zu riskant.“ Caesian musterte den Mann eindringlich. Was er da erzählte, klang beunruhigend, aber zugleich auch vollkommen irreal. Doch schließlich nickte er. „Ich verstehe Eure Bedenken. Das, was Ihr erzählt, klingt wahrlich furchteinflößend und war mir bislang nicht bekannt.“ „Es freut mich, dass Ihr versteht. Aber etwas anderes habe ich von einem gebildeten Mann auch nicht erwartet“, erwiderte Resham. „Ihr scheint sehr vertraut mit dieser Legende und den Relikten zu sein. Kann es sein, dass Ihr selbst im Besitz eines Gegenstandes seit?“, fragte der Feldherr. Sofort wurde die Miene seines Gegenübers ernster. „Wie kommt Ihr drauf?“ „Nun, der Gefangene erzählte, er wisse von vier Fundorten der Artefakte. Einen konnten wir aufspüren, von den anderen dreien berichtete er, sie würden von den Schattentänzern geschützt werden. Und Ihr seid das Oberhaupt dieses Clans...“ Resham schüttelte den Kopf. „Davon ist mir nichts bekannt. Glaubt mir. Wenn es so wäre, wüsste ich davon. Wie ich bereits sagte, sind diese Objekte nicht dafür gedacht, in menschliche Hände zu gelangen. Wir mögen um sie wissen, doch gerade deshalb hüten wir uns, sie zu berühren oder gar zu gebrauchen.“ Caesian zuckte die Schultern. „Das überrascht mich nicht. Man sollte eben nicht viel auf das abergläubische Geschwätz von Bauern geben.“ „Wahrscheinlich“, erwiderte der alte Mann, während er sich erhob. „Ich bin froh, dass Ihr Euch einsichtig zeigt. Das erspart uns eine Menge.“ Der Herrscher zog eine Augenbraue nach oben. „Wie darf ich das verstehen?“ „Interpretiert meine folgenden Worte nicht falsch. Sie sollen keine Drohung sein. Lediglich eine Warnung.“ Er hielt einen Moment inne, ehe er fortfuhr. „Ihr wisst nun, welchen Schaden die Relikte anrichten können. Deshalb wäre es im Interesse meines Clans, die Artefakte an sich zu nehmen, um ihnen wieder das Vergessen zu Teil werden zu lassen, das uns alle als einziges zu schützen vermag. Wir würden Euch natürlich eine Gegenleistung bieten- unsere Hilfe im Kampf gegen Men-nefer.“ „Ihr verlangt viel“, warf Caesian ein. „Wer versichert mir, dass all Eure Worte nicht nur eine Lüge waren, um mich herein zu legen?“ „Euer Verstand wird es Euch beglaubigen. Verzeiht, wenn ich unser Zusammentreffen an dieser Stelle beende, doch ich möchte nicht, dass sich meine Kinder Sorgen machen und am Ende Euer Lager stürmen.“ „Gewiss, das wäre auch nicht in meinem Interesse“, versicherte Caesian, ehe er den Älteren nach draußen begleitete. „Ich werde morgen zur selben Zeit zurückkehren. Bis dahin habt Ihr die Möglichkeit, Euch zu überlegen, ob Ihr mir glauben wollt. Doch ich versichere Euch nochmals, dass kein einziges Wort, das ober meine Lippen kam, gelogen war. Gemeinsam könnten wir die Herrschaft der Pharaonen beenden. Auch ohne die Hilfe der Relikte.“ Caesian nickte und neigte das Haupt. „Ich werde darüber nachdenken. Es war mir eine Ehre, Euch kennen lernen zu dürfen.“ „Die Freude ist ganz auf meiner Seite. Gehabt Euch wohl.“ Mit diesen Worten wandte sich Resham um und verschwand nur Augenblicke später im Dunkel der Nacht. Zwei besorgte Soldaten eilten herbei. „Majestät! Ist alles in Ordnung? Wer war dieser Mann? Wir haben ihn gar nicht kommen sehen.“ „Das wundert mich bei eurer Intelligenz kein bisschen. Aber wenn ihr schon einmal da seid, hätte ich da eine Aufgabe für euch...“, erwiderte Caesian mit einem gehässigen Grinsen. „Ja, mein Gebieter?“ „Verfolgt den Alten. Er wird uns direkt in das Versteck der Schattentänzer führen. Und enttäuscht mich nicht!“ Mit diesen Worten und einem triumphierenden Gesichtsausdruck verschwand der Herrscher wieder in seinem Zelt. Glaubt er, ich sei bescheuert? Diese Relikte sollen das Gefüge der Welt bedrohen? Pah! Das einzige, dass durch sie Schaden nehmen wird, sind Ägypten und nun auf der Clan dieses Trottels. Denkt er wahrlich, mir wäre die Aura entgangen, die ihn umgab? Von wegen, die Schattentänzer wären nicht in Besitz anderer Artefakte. Aber gut, wenn sie das so vehement behaupten wollen, kann ich dem Ganzen gerne einen Funken Wahrheit verleihen... Kapitel 14: Entdeckt -------------------- Und wieder ich. Wieder mit einem herzlichen Dankeschön an für ihren lieben Kommentar zur Geschichte. Auch deine Anmerkungen und deine Kritik hilft mir immer sehr. Danke.^^ Aber nun weiter im Text. Wem das letzte Kapitel nicht genügend Action bot, dürfte hier eher auf seine Kosten kommen. Viel Spaß! ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ Entdeckt „Es wäre denkbar...“ Ratlos stützte Keiro den Kopf auf die Hände. Er, Tea und Atemu waren die einzigen, die bislang den Weg aus dem Bett gefunden hatten. Die junge Frau hatte ihre Frage, die sie gestern noch an den Pharao gerichtet hatte, gleich beim Frühstück angesprochen. „Und ihr kommt wirklich aus einer Zeit, die 3000 Jahre in der Zukunft liegt?“, erkundigte sich ihr Gegenüber erneut. Ein Nicken war die Antwort. „Faszinierend... Aber ich fürchte, was das angeht, bin ich überfragt. Was die höheren Lehren der Schattentänzer anbelangt... ich muss zugeben, sie haben mich damals nicht interessiert. In gewisser Weise waren sie mir zu philosophisch.“ Atemu runzelte die Stirn. „Philosophisch?“, wiederholte er. „Allerdings“, erwiderte Keiro. „Die schwarze Magie und deren Lehren, die einige im Clan ausüben und studieren, umfasst Dinge, von denen ich nichts verstehe. Sie sind mir zu tiefgründig. Daher bezeichne ich es gerne so.“ „Eigentlich könntest du uns noch ein wenig mehr über sie erzählten“, überlegte Atemu. „Versteh mich bitte nicht falsch. Ich möchte keine Informationen, die ich gegen sie verwenden könnte. Aber du sagtest bereits, dass sie nicht gut auf 'die Krone' zu sprechen seien. Von daher hätte ich gerne ein bisschen mehr Einblick. Um vielleicht zu verstehen, weshalb sie sich missverstanden fühlen. Außerdem wüsste ich gerne, was es mit den dunklen Magiekünsten der Schattentänzer auf sich hat.“ Keiro lehnte sich zurück. „Eine Eurer Fragen ist rasch beantwortet, Majestät. Weshalb sie nicht gut über Euch denken? Das ägyptische Volk und seine Regenten standen dem Clan stets mit Abneigung gegenüber- aufgrund ihrer Religion und ihrer Lehren. Sowohl das Anbeten von dunklen Gottheiten, als auch das Nutzen schwarzer Magie sind keine Tugenden und nicht gerne gesehen. Der Pöbel fürchtet sich, seine Herrscher reagieren darauf und zwingen eine Gruppierung, sich in den Untergrund zu begeben. Da kann es vorkommen, dass man sich... missverstanden fühlt.“ Der Pharao nickte. „Gut. Doch inwiefern ist diese finstere Zauberkunst zu verstehen? Wie wenden sie sie an? Besteht dadurch eine Gefahr für uns?“ Sein Gegenüber grinste. „Ihr wägt wirklich alle Eventualitäten ab. Sorgt Euch nicht. Die Schattentänzer nutzen ihre Magie nur, um sich selbst zu schützen- und ihre Ka-Bestien.“ „Ka-Bestien? Wenn du das so betonst, muss das einen Grund haben“, schlussfolgerte Atemu. „Gewiss. Denn schwarze Zauberkünste in Verbindung mit diesen Wesen... ungeahnte Mächte können damit freigesetzt werden- zugleich ist die Zauberkunst sowohl für den Anwender, als auch dessen Gegner, besonders gefährlich. Doch wie ich bereits sagte, Ihr braucht Euch keine Sorgen zu machen. Sie würden diese Fähigkeiten eben so wenig gegen Men-nefer anwenden, wie das Geheimnis um die Relikte der Götter. Wenn sie es tun, dann nur, wenn es absolut notwendig ist. Und bislang scheinen sie es nicht für unumgänglich erachtet zu haben, sie gegen Euch einzusetzen- wieso sollten sie ihre Meinung also plötzlich ändern?“ Er machte eine Pause. „Hätte ich gewusst, dass dieses philosophische Zeug einmal von Nöten sein würde! Auf jeden Fall verdeutlicht Eure Anwesenheit, werte Tea, aber, welchen Einfluss die Artefakte bereits auf unsere Welt genommen haben- wenn sie wirklich der Grund für euer Erscheinen in unserem Zeitalter sein sollten.“ Seto betrat in diesem Moment ebenfalls den Raum. „Gibt es irgendetwas Neues?“, erkundigte sich Atemu sogleich. Der Hohepriester schüttelte den Kopf. „Nein. Alles ruhig. Vielleicht leckt Caesian seine Wunden. Das würde uns ein wenig Zeit verschaffen.“ Er richtete seinen Blick auf Keiro. „Und es gibt wirklich keine Möglichkeit, das Artefakt gegen ihn zu nutzen?“ „Na ja, sagen wir es so...“, meinte der Angesprochene Schulter zuckend. „Wenn Ihr an einer globalen Katastrophe interessiert seid...“ „Ach, vergiss es...“, zischte Seto noch, dann verließ er den Raum wieder. Tea sah ihm verwundert nach. „Er ist ziemlich angespannt, oder?“ „Sind wir das nicht alle?“, erwiderte Atemu seufzend. „Wenn ich das richtig sehe, müssen wir entweder darauf hoffen, dass dieser Wahnsinnige zur Vernunft kommt, oder einen Weg finden, ihm die Artefakte abzunehmen.“ „Sagtet ihr nicht, die Schattentänzer hätten vor kurzem Caesians Lager überfallen?“, erkundigte sich Keiro. „Ja, weshalb?“ „Dann haben sie das gewiss versucht. Aber wie mir scheint, waren sie nicht erfolgreich. Ansonsten wäre dieses ganze Theater längst vorbei. Dieser Mann ist anscheinend wirklich gefährlicher, als jeder dachte.“ „Dieser Bastard! Ich bring ihn um...“ Alle wandten den Blick zur Tür, durch die soeben ein ziemlich schlecht gelaunter Marlic eintrat. Stöhnend ließ er sich auf einen Stuhl sinken. „Diese verdammten Kopfschmerzen verzeihe ich dem Mistkerl nie!“ Atemu zog amüsiert eine Augenbraue nach oben und schmunzelte. „Was hast du denn? Hast du nicht irgendwann einmal groß daher geredet, nichts könne dir schaden? Und nun reichen ein paar Kopfschmerzen aus, um...“ „Ach, Schnauze!“, motzte der andere sogleich zurück. „Du müsstest das nur mal eine Stunde lang ertragen! Dann wüsstest du, wovon ich spreche. Das ist schlimmer, als jemandem bei lebendigem Leibe die Eingeweide heraus zu reißen!“ Keiro musterte Marlic argwöhnisch. „Mein Bruder hat wirklich komische Freunde...“ „Er ist nicht mein Freund!“ Abermals blickten alle zum Eingang des Raumes. Nun kam auch noch Bakura hinzu, der ebenfalls ohne Umschweife Platz nahm. „Du bist ganz schön verbohrt, weißt du das?“, ergriff Marlic das Wort. „Die Sache mit Battle City ist inzwischen Ewigkeiten her.“ „Genau dasselbe wollte ich ihm gestern verdeutlichen. Aber wie du bereits sagtest, er ist unheimlich nachtragend“, erwiderte Keiro seufzend. „Schrecklich oder?“ „Wem sagst du das?“ „Könntet ihr vielleicht mal aufhören, euch gegen mich zu verschwören, immerhin bist du mein Bruder, du Verräter“, giftete Bakura seinen Nebenmann an, ehe er fort fuhr. „Außerdem wäre es wahnsinnig nett, wenn ihr nicht über mich lästern würdet, wenn ich direkt daneben sitze!“ „Och, wieso? Verletzt das etwa deine Gefühle?“, höhnte Marlic. „Nein, aber es zwingt mich irgendwann dazu, euch das verdammte Maul zu stopfen!“, fauchte der Grabräuber, während er sich über den Tisch beugte. „Aber sie haben doch recht“, warf Joey ein, der gerade ebenfalls hinzu kam und das Gespräch wohl bis auf den Flur hatte mit verfolgen können. „Und dich hat keiner gefragt, nur damit das mal klar ist!“, motzte Bakura sogleich. Atemu und Tea wechselten einen Blick, ehe sich der Pharao seufzend über das Gesicht fuhr. Immer wieder das Gleiche mit denen... Wenn sie den verbleibenden Tag über nicht stritten, suchten alle nach einer Lösung, die Men-nefer retten konnte. Doch es wollte ihnen nichts einfallen, das auch nur annähernd umsetzbar war, ohne die Stadt erneut in Gefahr zu bringen und abermals Menschenleben zu opfern. „Ich weiß nicht, was ihr habt! In Caesians Lager marschieren, alles kurz und klein hauen, diesen Kerl eingeschlossen, und schon hat sich das Thema erledigt“, stöhnte Bakura genervt, als wieder einmal eine Idee verworfen wurde. „Natürlich. Und du allen voran, nicht wahr? Falls es dir entgangen sein sollte: Alle Angriffe auf diesen Mann blieben bislang erfolglos und kosteten dutzende Soldaten das Leben!“, kommentierte Marik. „Ich habe mich bei diesem Plan nicht impliziert. Aber Opfer muss man eben bringen. Und solange das nur ein paar Typen aus dem Fußvolk sind- wen kümmert's?“ „Mich“, warf Atemu ein. „Außerdem zählst du genau betrachtet auch zum 'Fußvolk', mein Guter“, fügte Joey provokant hinzu. Die Aussage verfehlte ihre Wirkung nicht. „Du sprichst hier mit dem König der...“ „... Diebe, ja ja, wir wissen es!“, ging der Pharao dazwischen. „Zurück zum Thema. Der Einfall ist zu riskant. Andere Vorschläge?“ „Wir überfallen sie bei Nacht, heimlich, still und leise, und schneiden ihnen die Kehlen durch?“, überlegte Marlic. „Und dann bemerkt uns irgendjemand. Außerdem wäre mir persönlich eine Lösung lieb, die nicht allzu viel Blut beinhaltet“, erwiderte seine andere Hälfte. Marlic schnaubte. „Du bist langweilig“, sagte er und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. „Vielleicht wird es erforderlich sein, so brutal vorzugehen“, meinte Keiro. „Da führt kein Weg dran vorbei. Vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass lebende Tote unter diesen Männern sind, von denen wir nicht wissen, welche Auswirkungen die Verwandlung auf sie hatte.“ „Das ist doch zum verrückt werden!“, stöhnte Joey genervt und raufte sich die Haare. „Ich meine, wir können doch nicht immer nur drauf warten, dass der Kerl angreift, und ihn dann zurück schlagen! So hört das nie auf!“ „Ich hab's!“, schrie Mana so plötzlich, dass alle Anwesenden kurz zusammen zuckten. Der Pharao musterte sie neugierig. „Du hast eine Idee?“ Triumphierend deutete die Hofmagierin auf das dicke Buch, das aufgeschlagen vor ihr auf dem Tisch lag. Eifrig nickte sie. „Ich habe endlich den Spruch gefunden, nach dem ich gesucht habe. Passt auf. Es gäbe eine Möglichkeit, eine Krankheit über die feindliche Armee herein brechen zu lassen.“ „Meinst du nicht, das macht es nur noch schlimmer?“, überlegte Ryou. „Wenn einige daran sterben, dann hat Caesian noch mehr Zombies für seine Schlachten. Und die sind dann nicht so leicht los zu werden- immerhin muss man sie ja enthaupten. Pfeile oder so etwas wären dann total wirkungslos.“ „Das mag sein“, erwiderte Mana. „Aber bis die Krankheit sie dahin gerafft hat, sind sie so gut wie nicht einsatzfähig. Außerdem könnte Caesian, wollte er seine Truppen durch noch mehr Untote verstärken, seine Männer auch einfach töten lassen. Ich frage mich sowie so schon die ganze Zeit, wieso er noch nicht darauf gekommen ist- nicht, dass ich mir das wünschen würde. Außerdem hätten wir durch den Spruch vielleicht die Chance, dass es ihn selbst erwischt.“ „Aber wenn er die Tränen der Nephthys sein eigen nennt, dann könnte er selbst letztendlich auch zu einem... wie sagtet ihr? Zombie werden“, mischte sich Keiro ein. „Was uns noch immer einen Vorteil bringt. Ich habe dich doch neulich gefragt, ob diese seltsamen Kugeln, die unseren Monstern so zugesetzt haben, ebenfalls von den Relikten herrühren könnten. Und da sagtest du, dass das nicht möglich sei. Ebenso bist du der Ansicht, dass die Artefakte nicht in der Lage sind, irgendwelche Kreaturen herauf zu beschwören.“ „Soweit richtig“, stimmte Keiro zu. „Worauf willst du hinaus?“ „Es erhärtet sich allmählich der Verdacht, dass es sich bei dem unbekannten Wesen, das uns ständig in den Schlachten angreift, um eine Ka-Bestie handelt.“ Mana wechselte einen Blick mit Atemu, der zustimmend nickte. „Jedenfalls hätten wir, würde Caesian zu einem lebenden Toten werden, einen entscheidenden Vorteil. Wenn ein Mensch stirbt, so stirbt auch seine Zwillingsseele. Das heißt, wir hätten es dann zwar mit einem untoten Feldherren zu tun, das Biest wären wir allerdings mit ein wenig Glück los. Außer, die Macht des Gegenstandes bezieht sich auch auf Ka-Bestien.“ Keiro biss sich auf die Unterlippe. „Tut mir leid, aber ich fürchte, darauf kann ich dir keine Antwort geben. Die Schattentänzer beziehen ihr Wissen nur aus alten Aufzeichnungen, und ich habe sie nicht alle studiert. Sie haben die Relikte nie selbst verwendet, wie bereits gesagt...“ Seto, der ebenfalls am Tisch saß, schnaubte verächtlich. „Anfangs habe ich ja geglaubt, dass du Licht ins Dunkel bringen könntest. Aber je mehr Fragen man dir stellt, desto weniger davon kannst du beantworten.“ „Ich tue was ich kann“, zischte Keiro zurück, dessen unfreundlicher Gesichtsausdruck dabei für einen Moment an seinen Bruder erinnerte. „Und das wissen wir zu schätzen. Wir sind dir sehr dankbar“, versuchte Atemu die Lage zu entspannen. „Aber sag, gäbe es eine Möglichkeit, mit einem Schattentänzer zu sprechen? Du hast bereits angedeutet, dass sie derzeit auf derselben Seite stehen würden, wie wir.“ Doch Keiro schüttelte den Kopf. „Sie mögen dieselbe Sache vertreten, aber sie ziehen nicht unter demselben Banner. Versteht Ihr, was ich meine, Euer Hoheit?“ „Gewiss. Gut, ich fasse noch einmal zusammen. Wir können derzeit nichts tun, außer auf Manas Zauberspruch und seine Wirkung zu vertrauen.“ Die Hofmagierin ballte triumphierend die Faust, während Atemu fort fuhr. „In der Zeit sollten wir allerdings nicht tatenlos herum sitzen. Vier Artefakte sind bislang noch nicht geborgen worden. Dass Caesian die Tränen der Nephthys in die Finger bekommen hat, zeigt, dass er nach ihnen suchen wird. Wir müssen ihm zuvor kommen. Stellt sich nur die Frage, wo diese Relikte zu finden sein könnten...“ Als sich die Nacht zum wiederholten Male in rot gleißendem Licht hernieder senkte, grübelten sie noch immer. „Ich traue diesem Kerl nicht.“ Risha saß mit verschränkten Armen auf dem kalten Steinboden. Direkt ihrem Vater gegenüber, sowie an der Seite Riells. „Ich ebenso wenig. Ihr hättet uns davon erzählen müssen, Vater. Was, wenn Euch etwas zugestoßen wäre? Niemand hätte gewusst, wo Ihr seid!“ „Es ist doch alles gut gegangen“, erwiderte der ältere Mann lächelnd. „Doch wer sagt Euch, dass es diesmal ebenso sein wird?“, hakte Risha nach. „Was, wenn er sich dagegen entschieden hat und nicht einmal daran denkt, uns die Relikte auszuhändigen? Und Euch nicht mehr gehen lässt?“ „Dann werden wir wohl doch auf gewaltsamem Weg versuchen müssen, sie an uns zu bringen. Auch wenn ich das gerne umgehen würde“, erwiderte Resham betrübt. „Doch ich denke, dass er verstanden hat, was der Umgang mit den Artefakten bedeutet.“ Riell schüttelte wenig überzeugt den Kopf. „Ihr glaubt wirklich immer nur an das Gute im Menschen, Vater.“ Der ältere Mann lächelte. „Und bislang hat es mich noch nie in Schwierigkeiten gebracht. Ganz im Gegenteil. Ich habe dadurch zum Beispiel eine Tochter gewonnen, die ich so niemals gehabt hätte, und zudem einen Sohn, der genau so groß geworden ist, wie ich es mir immer gewünscht habe. Wie lange ist es nun schon her?“, meinte er an Risha gewandt. Ihre Mundwinkel verzogen sich kurz zu so etwas wie einer freundlichen Miene. „Siebzehn Jahre. Seitdem bin ich Mitglied des Clans.“ Resham nickte. „So lange Zeit... Es ist immer wieder verwunderlich, wie schnell sie vorbei ziehen konnte.“ Er erhob sich. „Nun, ich werde allmählich los müssen. Caesian dürfte mich bereits erwarten.“ „Und Ihr habt diesem Barbaren wahrlich zugesichert, wir würden an seiner Seite ziehen, sollte er uns die Relikte überlassen?“, erkundigte sich seine Tochter. Der Unterton in ihrer Stimme war nicht klar zu deuten. „So ist es. Irgendetwas sagt mir, dass du davon nicht begeistert bist“, erwiderte ihr Vater. Sie schwieg eine Weile, ehe sie antwortete. „Zum einen bin ich überrascht über Euren Sinneswandel. Sagtet Ihr nicht noch vor kurzem, es sei nun einmal unser Schicksal, uns zu verstecken, um das tun zu können, das wir für richtig erachten? Und selbst, wenn Ihr von vorne herein der Ansicht gewesen wärt, die Pharaonen sollten fallen, so wäre ich nicht angetan von diesem Vorschlag einer Allianz mit Caesian.“ Der ältere Mann musterte sie prüfend. „Sagtest du nicht, du wärst froh, wenn Men-nefer untergehen würde, solange es nicht durch die Artefakte geschieht?“ In Rishas Augen blitzte es kurz auf. „So meinte ich das nicht. Ja, es sollte nicht durch die Gegenstände passieren. Aber auch nicht durch ihn. Sondern ausschließlich durch uns. Aber vielleicht war Euer Einlenken ja auch nur ein Schritt in die richtige Richtung?“ Ihre Blicke schienen ihn zu durchbohren, als er seufzte. „Glaubst du, ein alter Mann sei nicht zu Lügen fähig?“ Für einen Moment herrschte absolute Stille. Dann fuhr er fort. „Es wird keinen Kriegszug gegen Men-nefer von Seiten der Schattentänzer geben. Weder an der Seite Caesians, noch ohne ihn. Irgendetwas musste ich ihm als Gegenleistung anbieten- und wenn es nur schöne Worte waren.“ Er wandte sich zum Gehen, als ihn die Stimme seiner Tochter noch einmal zurück hielt. „Wir können uns doch nicht auf ewig verstecken...“ „Es ist nicht das, was dich erzürnt und glauben lässt, die Stadt müsse untergehen. Das weißt du. Aber lass uns das besprechen, wenn ich zurück bin.“ „Sollen wir Euch nicht doch lieber begleiten?“, fragte Riell, überging den Wortwechsel gekonnt. Doch der ältere Mann schüttelte energisch den Kopf. „Nein. Ich denke, das würde ihn nur verunsichern. Ihr werdet sehen, es wird alles gut gehen. Am Ende dieses Abends werden die Relikte in Sicherheit sein.“ Doch dazu sollte es niemals kommen. Plötzlich erschütterte etwas die Höhle. Im letzten Moment fanden sie Halt an den felsigen Wänden, von denen Sand rieselte. Kleine Brocken prasselten auf den Boden. Irgendwo in der Ferne wurden Schreie laut. Nur einen Augenblick später bebte der Grund erneut. „Was war das?“, rief Risha über das Grollen hinweg, das von den mächtigen Felsen zurück geworfen wurde, sie zu erfüllen schien. Ein Anflug von Panik schwang in ihrer Stimme mit. Im selben Moment stürmte ein Mann in den Saal, der von der Erde geschaffen worden war. „Majestät! Sie haben uns gefunden!“ „Wer?“, schrie Resham, während er herum fuhr. „Caesian! Seine Männer haben uns entdeckt!“ Rishas Augen weiteten sich, dann stürzte sie aus dem Raum und an dem Mann vorbei. Sofort zog sie ihre beiden Dolche. Sie hetzte die verborgenen Gänge entlang, die vom Fackelschein erhellt wurden. Flamme um Flamme flog an ihr vorüber. Sie war angespannt, lauschte auf jedes noch so kleine Geräusch. Schreie. Immer wieder ein Knallen. Schließlich eine Erschütterung, die sie ins Taumeln brachte, doch es gelang ihr, sich schnell zu fangen. Ungerührt rannte sie weiter. Bald erreichte sie die größte der Höhlen. Dutzende Menschen kamen ihr schreiend entgegen, Angst stand auf ihren Gesichtern geschrieben. Kinder wurden von ihrem Müttern panisch empor gerissen, ehe sie flohen. Die Älteren des Clans versuchten trotz ihrer geplagten Knochen zu entkommen. Bereits jetzt klebte Blut an den Wänden, einige Schattentänzer lagen tot auf kaltem Stein. Überall schwirrten Caesians Soldaten umher, mordeten wahllos. Der Anblick verschlug ihr für einen Augenblick den Atem, dann zwang sie sich zur Konzentration. Sie durfte ihre Gefühle nicht hochkochen lassen- zumindest nicht die Furcht. Denn der Hass, der bereits ihre Eingeweide zerfrass, ließ sich nicht bändigen. Sie fand schnell aus ihrer Starre heraus und schlug einem Krieger, der sein Schwert gegen sie erheben wollte, den Dolch ins Gesicht. Er brach stöhnend zusammen. Schlitternd kam Riell neben ihr zum Stehen, als er sie erreichte. „Bei den Göttern...“, flüsterte er. „Wie haben sie uns gefunden?“ „Das ist egal! Wir müssen sie vertreiben! Dafür wird er bluten...“, knurrte Risha und wollte sich schon in den Kampf stürzen, doch ihr Bruder hielt sie zurück. „Vergiss es! Das wäre sinnlos! Wir müssen den unseren irgendwie zur Flucht verhelfen und dann selbst sehen, dass wir weg kommen.“ „Was?“, erwiderte sie entsetzt. „Selbst, wenn wir sie besiegen könnten, sie wüssten, wo wir zu finden sind. Und wenn Caesian bei ihnen ist, hat er bestimmt auch dieses Wesen an seiner Seite, das uns im Lager angegriffen hat. Es hätte keinen Sinn!“ Risha wollte widersprechen, doch er brachte sie zum Schweigen. „Verdammt, jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um zu diskutieren! Das einzige, was wir jetzt tun können, ist, so viele Leben wie möglich zu retten!“ Riell zog sein Schwert und stach es einem Mann in die Brust, der auf ihn losgehen wollte. „Wir halten hier die Stellung, bis alle draußen sind, dann suchen wir das Weite!“ Risha biss sich auf die Unterlippe. Dieser Vorschlag gefiel ihr ganz und gar nicht, war aber wohl die einzige Chance, die sie im Augenblick hatten. Sie sprang vor und schlug zwei Soldaten, die eigentlich längst ihr Leben ausgehaucht hatten, die Schädel ab. So bewahrte sie eine Mutter und ihr Kleinkind vor dem sicheren Tod. „Los, raus hier!“, fauchte sie, als die Frau sie aus glasigen Augen und vollkommen erstarrt, ansah. Immer wieder war sie gezwungen, feindlichen Kriegern die Knochen zu brechen, oder ihnen gar Schlimmeres zu zu fügen. Ein Problem hatte sie damit allerdings nicht. In diesem Augenblick loderte unbändige Wut in ihr, die die Angst völlig erstickte. Dieser Feldherr musste sterben! Dafür, dass er die Relikte missbrauchte. Dafür, dass er es wagte, ihr zu Hause anzugreifen, und ihre Familie in Schrecken zu versetzen. Dafür, dass er sie gedemütigt hatte... Sie sprang auf einen Absatz in den Felsen hinauf, um dem Schlag eines Soldaten zu entgehen. Kaum oben angekommen, wirbelte sie herum und trat dem Mann mitten ins Gesicht. Er taumelte ein paar Schritte rückwärts, stolperte und ging zu Boden. Sie folgte ihm und stach dem im Staub liegenden Mann die Klinge in die Brust. Anschließend richtete sie sich in einer fließenden Bewegung auf und drehte sich einmal um die eigene Achse. Zwei lebende Tote verloren ihr Haupt. Riells Stimme drang an ihre Ohren. „Sie sind alle draußen! Lass uns abhauen!“ Risha sprang über tote Körper hinweg und erreichte ihren Bruder. Ehe sie allerdings gemeinsam mit ihm in die Dunkelheit der Gänge eintauchte, rief sie ihre Ka-Bestie. „Cheron! Gib mir einen Moment, dann sorg' dafür, dass uns so schnell niemand folgt.“ Sie fuhr auf dem Absatz herum und hastete davon. Der Pegasus wartete einen Augenblick, dann erhob er sich brüllend in die Luft. Gerade, als ein neuer Schwall Soldaten den Saal aus Felsen stürmte, entfachte er seine Kräfte. Der Raum versank in lodernden Flammen. Schreie der Krieger wurden laut, vermischten sich mit dem Zischen und Fauchen des Feuers, als sie brennende Walze sie überrollte. Dann folgte der Pegasus seiner Zwillingsseele. Risha hatte die Hitze noch bis weit in den dunklen Gang spüren können. Das würde ihnen zumindest ein wenig Zeit verschaffen, auch wenn es die feindlichen Truppen nicht unschädlichen machen würde. Irgendwo hinter sich vernahm sie Cherons klappernde Hufe. Der Gang war zu schmal, als dass er hätte fliegen können. Vor ihr hetzte Riell dahin. Immer wieder bogen sie ab, fanden ihren Weg durch die verzweigten Tunnel alleine durch ihre Intuition. Schließlich erschien Licht am Ende eines verborgenen Pfades. Zugleich wichen die Felswände zurück. „Sieh' nach, ob uns draußen irgendjemand auflauert!“, rief Risha, dann schoss ihr Ka an ihr vorüber. Doch gerade, als es ins Freie preschen wollte, wurde die Höhle erneute erschüttert. Irgendein Angriff war direkt neben dem Ausgang eingeschlagen. Steine lösten sich, fielen krachend direkt davor und versperrten den Weg. Augenblicklich sprangen die Geschwister zurück, ebenso Cheron. „Überlass' das mir!“, rief Riell, dann wurde die Dunkelheit kurz von einem gleißenden Blitz verdrängt. Er hatte nun ebenfalls seine Zwillingsseele gerufen, die sich hinter ihm aufbäumte. Goldene und silberne Schuppen bedeckten den gewaltigen Körper. Ein langer Schweif zuckte unruhig hin und her. Der Hals, der von spitzen Zacken geschützt wurde, mündete in einem großen Schädel, dessen orange Augen bedrohlich funkelten. Der Kieferknochen verlief spitz nach vorne, sodass die Kreatur problemlos jemanden hätte aufspießen können. Auch ragten riesige Dornen aus den Knien der kräftigen Beine. Zwei lederne Flügel hatten Mühe, im Gang Platz zu finden. Dunst stieg aus den Nüstern des Drachens auf. „Anwaar! Ich brauche deine Hilfe. Wir müssen hier raus, schnell!“ In der Ferne konnten sie Schritte hören, die sich ihnen näherten. Die große Echse zögerte nicht lange. Sie schob sich an Riell und seiner Schwester vorüber und stieß mit dem mächtigen Schädel gegen die Wand aus Felsen. Dann nahmen sie auch die Pranken zur Hilfe, schob die Brocken beiseite. Schließlich tat sich ein Loch in dem Wall auf. Die Ka-Bestie kroch hindurch, als es groß genug war, verschwand im Mondlicht. Die Geschwister zögerten nicht, folgten ihm auf der Stelle. Zunächst waren sie jedoch wie erstarrt. Ungläubig rissen sie die Augen auf. Vor ihnen erstreckten sich die Felsen, unter denen ihre Heimat gelegen hatte. Zu den Füßen der Formation lag die Wüste Ägyptens, auf deren sandigem Grund ihr Clan verzweifelt versuchte, sich gegen die Soldaten Caesian durchzusetzen. Nur allzu viele hatten schon den Tod gefunden. „Das reicht! Wenn er nicht schon längst zu weit gegangen ist, dann hat er es jetzt übertrieben!“, brüllte Risha außer sich vor Wut. „Cheron! Töte sie alle!“ „Und du hilfst ihm dabei, Anwaar!“, stimmte Riell zu. Während die gewaltige Echse vorschoss und ihre messerscharfen Klauen benutzte, um drei Krieger auf einmal um's Leben zu bringen, erhob sich der Pegasus mit einem Viehren in die Luft. Der gesamte Körper des mystischen Pferdes ging in Flammen auf, die in einem Strudel um ihn herum wirbelten. Als Cheron all seine Kräfte gebündelt hatte, sauste er nieder und ließ ein gutes Dutzend Feinde augenblicklich in alles verzehrendem Feuer verschwinden. „Es sind zu viele von uns unter ihnen. Ich kann meine Magie nicht anwenden...“, knurrte die junge Frau, doch ihr Bruder unterbrach sie. „Vergiss die Zauberei! Wo ist Vater?“ Gehetzt huschten Riells Augen über das Schlachtfeld, stetig auf der Suche nach etwas, das ihm bekannt vorkam. Seine Schwester sah sich ebenfalls um. Nur wurde sie, im Vergleich zu ihrem Bruder, fündig. „Dort!“, rief sie. „Sie bringen ihn weg!“ Tatsächlich waren gleich drei Soldaten damit beschäftigt, den offenbar verwundeten alten Mann davon zu zerren, der sich trotz seiner Verletzung wehrte. „Verdammt, warum beschwört er Simorgh nicht?“, brüllte Riell verzweifelt, während er und Risha los stürmten. „Wer weiß, was sie ihm angetan haben!“, erwiderte sie gehetzt. Immer wieder stellten sich ihnen Kämpfer in den Weg, die sie davon abhalten wollten, Resham zu folgen. Als einer sie behindern wollte, zerflog sein Körper plötzlich in mehrere Fetzen. Anwaar hatte sich seiner angenommen. Irgendwo hinter ihnen ertönte ein Knall, als Cheron abermals vom Firmament hernieder stach. Risha konnte den Blutdurst ihrer Ka-Bestie deutlich spüren. Es war selten, dass der Pegasus mit den roten Schwingen die Geduld verlor, doch wenn es einmal so weit war, dann sollte sich ihm besser niemand mehr in den Weg stellen. Die Geschwister schlossen immer weiter zu ihrem Vater auf. Nur noch wenige Augenblicke, dann würden sie ihn erreichen. Zu gerne hätte Riell seinen Drachen einfach auf die Männer gehetzt, die das Oberhaupt der Schattentänzer davon schleiften, doch er wagte es nicht. Der Angriff konnte auch sein eigen Fleisch und Blut verletzen. „Gleich haben wir...!“ Risha blieben die Worte im Hals stecken, als sie in den Sand fiel. Ihr Rücken fühlte sich an, als habe jemand ein Messer hinein gerammt. In der Ferne konnte sie Cherons Wehklagen vernehmen. Hektisch versuchte sie, auf die Beine zu kommen, doch je mehr sie sich bewegte, desto heftiger wurde der Schmerz. Sie war kaum in der Lage, sich aufzurichten. Bunte Punkte tanzten vor ihren Augen. Energisch schüttelte sie den Kopf, in der Hoffnung, sie vertreiben zu können. Schlitternd blieb Riell stehen und eilte zu ihr zurück, als auch er sich am Boden wiederfand. Brüllend hielt er sich eine Hand vor das linke Auge, das sich anfühlte, als habe man es heraus gerissen. Blut lief seine Wange hinunter. Risha suchte die Verbindung zum Geist Cherons. Zunächst hielt sie eine Mauer aus Pein davon ab, ihn zu berühren, aber schließlich gelang es doch. Was war das? Was ist passiert? Es ist dieses Wesen... Angst durchzuckte ihren Körper wie ein Blitz. Mühsam stand sie auf, wandte sich um, kämpfte zugleich die Empfindung nieder. Überall auf dem Schlachtfeld regneten gleißende Kugeln herab, deren Farbe nicht in Worte zu fassen war. Schattentänzer flogen durch die Luft, verloren Körperteile und starben eines grausamen Todes. Auch die eigenen Truppen schonte Caesians Kreatur nicht. Aus all dem Durcheinander schälte sich schließlich der Pegasus, der sich ihr mit langsamen, schmerzerfüllten Bewegungen näherte. Es war sinnlos. Cheron war bereits jetzt zu schwer verletzt, als dass sie ihn erneut in den Kampf schicken konnte. Riells Auge war zwar nicht schwer verwundet, doch seine und die Sicht seines Kas waren behindert. Die Haut um das Auge herum war aufgerissen. Zudem war seine Zwillingsseele unübersehbar, ein viel zu gutes Ziel. Sie blickte sich nach Resham um, den die feindlichen Kämpfer inzwischen weiter fort gezerrt hatten. Sie wusste, dass das, was sie nun tun würde, in seinem Sinn war- wenigstens einmal. Sie musste die anderen retten. Ihre Ka-Bestie verschwand, vereinigte sich wieder mit ihrer Seele. Als ein bewaffneter Reiter vorüber huschte, zog sie einen der Dolche. „Was hast du vor?“, fragte Riell, der mühsam auf die Beine gekommen war. „Bring die anderen in Sicherheit!“, rief sie noch über die Schultern, dann stürmte Risha los. Die Schmerzen versuchte sie zu ignorieren. Sie folgte dem Reiter, der in der Menge kaum schneller voran kam, als es zu Fuß der Fall gewesen wäre. Mit einem Satz sprang sie hinter ihm auf das Reittier und schnitt ihm die Kehle durch. Anschließend stieß sie den leblosen Körper vom Pferd. So schnell es ging, versuchte sie, einen Weg aus dem Getümmel zu finden. Immer wieder war sie gezwungen, sich in Auseinandersetzungen mit feindlichen Soldaten verwickeln zu lassen. Doch schließlich gelang es ihr und sie ließ auch die letzten Kämpfenden hinter sich, indem sie das Tier eine Düne hinauf trieb. Oben angekommen sah sie sich um- und entdeckte, was, oder besser wen, sie gesucht hatte. Dort, am anderen Ende der sandigen Erhebung, stand Caesian mit breitem, gehässigen Grinsen im hässlichen Gesicht. Risha presste die Fingernägel ins Fleisch. Dieser Bastard... Sie riss den Dolch des Anubis aus seiner Halterung und hob ihn hoch über den Kopf. „He, Missgeburt!“, schrie sie, so laut sie konnte. Sofort fuhr der Feldherr herum und sah zunächst sie, dann das Relikt aus verwunderten Augen an. Schließlich wich der Ausdruck auf seinem Antlitz wieder dieser gemeinen, hinterhältigen Fratze, die es schon zuvor geziert hatte. Doch die junge Frau beeindruckte das nicht im Geringsten. „Hier ist, was du suchst! Komm und hol es dir, wenn du dich traust!“ Mit diesen Worten gab sie dem Pferd die Sporen und preschte in die Wüste hinaus. Caesian wirbelte herum. „Da ist das Artefakt! Ihr hinterher, los!“, brüllte er seinen Kriegern zu. Sofort gaben die die Kämpfe auf, die sie soeben noch gefochten hatten, und hetzten Risha hinterher, einige zu Fuß, andere hoch zu Ross. Nur Caesian und seine Berater schlossen sich nicht der Jagd an, sondern trieben ihre Reittiere in Richtung des Lagers zurück. Sie hatten gefunden, wonach sie gesucht hatten. Ein Relikt. Augenblicklich verstummte das allgegenwärtige Krachen, das die gleißenden, geheimnisvollen Kugeln verursacht hatten, wenn sie ihr Ziel trafen. Zurück blieben ein Feld voller verwundeter und toter Schattentänzer, fremder Krieger, sowie ein Bruder, der seiner Schwester ungläubig hinterher starrte. ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ Wie immer hoffe ich natürlich, dass es gefallen hat. Und, dass ich die ganzen Hintergedanken der handelnden Personen rüber bringen konnte. Manchmal ist es wirklich schwer, verständlich zu machen, warum ein Charakter das tut, was er eben gerade tut. Ebenso entschuldige ich mich, wenn manche Charaktere im einen Kapitel da sind und im darauffolgenden eher unter den Tisch fallen- aber es ist nicht einfach, so viele Personen unter einen Hut zu bringen. Dennoch bemühe ich mich, das irgendwie zu tun. Im nächsten Kapitel wird es darum gehen, wie die Schattentänzer mit der neuen Situation umgehen (wenn auch nicht ausschließlich darum, es wird wieder verschiedene Perspektiven geben!). Und ich glaube, die Art und Weise, wie das geschieht, könnte eventuell überraschen. ;) Bis dahin! Sechmet Kapitel 15: Demütigung ---------------------- Wie angewurzelt stand er auf einer der zahlreichen Dünen und blickte zum Horizont. Die Sonne schob sich an den Himmel, nachdem es schon gewesen war, als wolle sie nie mehr die Nacht verdrängen. Er musste kräftig schlucken, um den Kloß in seinem Hals zu vertreiben. Es war demütigend. Doch letztendlich ihre einzige Hoffnung. Riell hatte nach dem Verschwinden von Vater und Schwester vorerst das Kommando über die Schattentänzer übernommen. Viele von ihnen hatten den Kampf nicht überlebt. Die, die es geschafft hatten, waren beinahe alle verletzt und völlig entkräftet. In die Höhlen hatte keiner von ihnen mehr zurückkehren wollen, nun, da ihr Versteck entdeckt worden war. Sie alle fürchteten ein erneutes Erscheinen Caesians. Nein, in ihrem Unterschlupf waren sie nicht mehr sicher. Doch auch draußen in der Wüste fühlten sie sich nicht besser. Viel mehr verglich Riell diesen Umstand mit einer Schlange, die nur eine allzu leichte Beute für den hungrigen Falken war. So hatte er schweren Herzens eine Entscheidung getroffen, die allgemein nicht auf viel Gegenliebe gestoßen war. Doch er hatte keine andere Wahl. Die ganze Nacht hatte er kein Auge zu getan, das Für und Wider bedacht. Sein Vater war entführt worden, mit ihm die Saat des Chnum. Risha hatte Caesian auf ihre Fährte gelockt, um dem Rest des Clans die Flucht zu ermöglichen. Und mit ihr war der Dolch des Anubis verschwunden. Bei beiden Menschen stellte sich die Frage, ob sie eigentlich noch am Leben waren. Er schluckte bei dem Gedanken. Nein, der Feind hatte es geschafft, sie auf's Äußerste zu schwächen. Es gab keine andere Möglichkeit. Zu dem Gefühl des Verlusts würde sich in Riells Herz bald noch das der Demütigung einschleichen. Er griff sich an den Oberarm, krallte die Finger in die Haut und versuchte, das Zittern zu unterdrücken, das seinen Körper seit dem Angriff schüttelte. Er schloss für einen Moment die Augen und atmete bewusst ein und aus. Dann richtete er den Blick wieder gen Osten, wo die Sonne in einem glühend roten Feuerball aufging. Ohne es selbst zu merken, schüttelte er den Kopf. Der Schein des Himmelskörpers, der die Wüste in flammendes Licht tauchte, gab ihm an diesem Morgen keinen Frieden. Viel mehr ließ ihn dieses Bild erschaudern, erinnerte ihn an das Blut, das in der vergangenen Nacht geflossen war. Seufzend wandte er den Blick ab. „Was ist, mein Herr? Ich dachte, Ihr hättet diese Entscheidung wohl überlegt.“ Er sah sich um. Hinter ihm war Kipino erschienen. Der Mann, dem sowohl er, als auch seine Schwester, einiges zu verdanken hatten. Seit ihrer Kindheit war dieser Schattentänzer ihr persönlicher Vertrauter, Freund und vor allem Beschützer. Riell lächelte flüchtig. „Das habe ich auch. Aber es liegt dennoch ein schwerer Weg vor mir. Doch unserem Clan zuliebe, werde ich ihn gehen. Auch, wenn er vielleicht Gefahren bergen mag.“ „Eine Entscheidung ganz im Sinne Eures Vaters.“ „Ich danke dir. Ich hoffe, dass es wirklich in seinem Sinne ist... aber welche Wahl bleibt uns sonst? In der Wüste sind wir leichte Beute für Caesian. Er darf das Relikt des Thot nicht bekommen. Es ist schlimm genug, dass er die Saat des Chnum erbeuten konnte.“ „Und den Dolch des Anubis“, fügte Kipino resignierend hinzu. „Sei dir da nicht so sicher, mein Freund. Es ist Risha, die er verfolgt“, erwiderte Riell. Dabei klang er allerdings, als zweifle er selbst an seinen Worten. Und wenn er tief in sich hinein horchte, musste er sich eingestehen, dass er sich tatsächlich keineswegs sicher war, ob sie noch lebte. „Auch sie ist nur ein Mensch“, gab der Untergebene leise zu bedenken. „Auch sie ist nicht unsterblich.“ Ihre Blicke trafen sich kurz, ehe Reshams Sohn abermals zum Horizont blickte. „Daran will ich gar nicht denken...“ „Majestät“, fuhr Kipino fort. „Ich will Euch nicht die Hoffnung nehmen. Sie ist, was uns jetzt noch am Leben hält. Aber Ihr dürft nicht in ihr versinken. Wir alle sollten hoffen, doch zugleich sollten wir auch realistisch bleiben. Versteht Ihr, was ich meine, Euer Hoheit?“ Riell schien sich die Worte einen Moment lang durch den Kopf gehen zu lassen. Dann nickte er. „Ja. Ich glaube, ich weiß, wovon du sprichst, mein Freund.“ Er griff nach der Kapuze seines Umhangs und zog sie über das Haupt. Anschließend wandte er sich um und sah seinem Gegenüber an diesem Morgen zum ersten Mal richtig in die Augen. „Ich werde jetzt gehen. Die Nächte in der Wüste sind kalt. Die unseren leiden schon genug. Sie sollen nicht auch noch frieren.“ Er wollte gehen, doch Kipino hielt ihn noch einmal zurück. „Seid Ihr sicher, dass Ihr alleine gehen wollt? Verzeiht diese Anmaßung, doch ich denke noch immer, dass es besser wäre, wenn ich Euch begleiten würde.“ Reshams Sohn musterte den Schattentänzer mit einem freundlichen Lächeln und legte ihm schließlich eine Hand auf die Schulter. „Sorge und Anmaßung sind zwei verschiedene Dinge. Wem, wenn nicht dir, stünde es zu, derlei Einwände vorzubringen? Du hast schon viel für mich getan, Kipino. Und für meine Schwester. Doch ich bleibe dabei. Ich werde alleine gehen.“ „Es ist gefährlich.“ „Gewiss. Ich bin ein Schattentänzer. Einer der Letzten, die Men-nefer betreten sollten. Und dennoch- meine Entscheidung steht fest. Sollte mir etwas zustoßen, werdet ihr auf euch zu achten wissen.“ Sein Untergebener erwiderte das Lächeln, ehe er niederkniete. „Passt auf Euch auf, mein König.“ „Das werde ich.“ Mit diesem Versprechen kehrte Riell ihm den Rücken. Doch dann hielt er kurz inne. „Und noch etwas. Sollten mir der Pöbel und der Pharao nicht das Herz aus der Brust schneiden, wirst du aufhören, mich mit Adelstiteln anzusprechen und mich bei meinem Namen nennen. Verstanden? Das ist ein Befehl.“ Dann schritt er mit bangem Herzen Men-nefer entgegen und ließ einen verdutzten, aber schmunzelnden Kipino zurück. „Unsere Späher berichten von ersten Erkrankungen in Caesians Lager.“ Noch am selben Abend hatte Mana ihre Magie auf die feindlichen Reihen los gelassen. Offenbar mit Erfolg. Denn nun, da die Sonne aufgegangen und einige Stunden ins Land gezogen waren, hatten die Späher bereits erste Beobachtungen machen können, die darauf schließen ließen, dass es dem einen oder anderen Feind alles andere als gut ging. Erbrechen, Übelkeit, Magenschmerzen und Kopfweh sollten laut Mana die fremden Kämpfer plagen. „Voll ins schwarze! Super Arbeit!“, triumphierte Joey und lobte die junge Hofmagierin. „Bald wird Caesian nicht mehr wissen, wo oben und unten ist!“ „Ihr müsst ja verzweifelt sein, wenn ihr euch an so einen Strohhalm klammert. Es ist noch nicht einmal gesagt, dass es ihn überhaupt erwischt hat!“, grummelte Bakura, der die Freude des Blonden nicht im Geringsten nachvollziehen konnte. Gut, hatten die Soldaten eben Probleme mit ihrer Verdauung, deshalb würden sie aber nicht gleich abziehen. „So etwas nennt man Hoffnung“, murmelte Ryou, biss sich jedoch im nächsten Moment beinahe auf die Zunge, als ihn der Grabräuber ansah. „Ich bezeichne es als dämlich. Man sollte erkennen, wenn eine Lage aussichtslos ist“, zischte er. „Darin bist du natürlich der Experte“, konterte Mana. „So etwas ausgerechnet von jemandem, dessen eigener Plan komplett nach hinten losgegangen ist“, fügte sie kopfschüttelnd hinzu. Sofort fuhr Bakuras Haupt in ihre Richtung herum. „Er wäre nicht schief gelaufen, wäre mir nicht dieses golden glitzernde Göttervieh dazwischen gekommen!“ „Schweig auf der Stelle! Oder ich lasse dich wegen Gotteslästerung in den Kerker werfen!“, schaltete sich nun auch Seto ein, dem die Betitelung für Horakthi nicht passte. „Immerhin hast du es einer Gottheit zu verdanken, dass du überhaupt hier sitzen und nutzloses Zeug daher reden kannst.“ „Ganz ruhig!“, versuchte Keiro seinen Bruder zu beschwichtigen, als der sich gefährlich anspannte. „Genau“, pflichtete Atemu bei. „Das gilt für alle. Streit bringt uns auch nicht weiter. Im Gegenteil, er macht uns nur verwundbar und führt am Ende zu nichts. Ebenso wenig sollten wir uns zu früh freuen. Das war wirklich sehr gute Arbeit, Mana“, fuhr er an die Magierin gewandt fort. „Aber dennoch ist die Gefahr nicht gebannt.“ Er atmete tief durch. Auch an ihm nagte die Anspannung, die kontinuierlich über Men-nefer und dem Palast hing. Es fiel sogar dem Pharao immer schwerer, die Nerven zu behalten. Vor allem angesichts der Tatsache, dass sich zwei Personen unter ihnen befanden, die keine Gelegenheit ausließen, um irgendwie zu sticheln. Er warf einen unauffälligen Blick zu Marlic, der sich diesmal aus der Diskussion heraus gehalten hatte. Er betrachtete desinteressiert seine Fingernägel. Es war seltsam, dass er bislang keine Versuche unternommen hatte, Atemu in irgendeiner Weise zu schaden. Natürlich konnte er sich geändert haben, doch irgendetwas ließ den Pharao zweifeln, dass Marlic es zeigen würde, wäre dem so. Dafür war er zu stolz- ebenso wie Bakura. Und trotzdem wollte der Herrscher Ägyptens eine Antwort auf diese Frage. Bei dem Grabräuber vermutete er, dass Keiro der Grund war, warum er sich noch nicht aus dem Staub gemacht oder gegen sie gestellt hatte. Doch was hielt Marlic dazu an? „Nimm es mir nicht übel“, meinte er daher, als sich ihre Blicke trafen. „Aber es wundert mich ein wenig, dass du bislang auf unserer Seite stehst. Was bringt dich dazu?“ Der Angesprochene zog eine Augenbraue nach oben und sah ihn aufmerksam aus den violetten Augen an. Atemu erwartete, dass er jeden Moment grinsen würde, doch diese Reaktion blieb aus. Vielmehr lehnte sich sein Gegenüber zurück und verschränkte die Arme. Seine Miene war zwar nicht ernst, aber auch keinesfalls belustigt. „Na hör mal! Ich werde mir doch nicht von einem daher gelaufenen Möchtegernherrscher meine Privilegien nehmen lassen. Und wenn das bedeutet, dass ich rein zufällig mit euch auf einer Seite stehe, kann ich daran auch nichts ändern.“ Nun war es an dem Pharao, eine Augenbraue in die Höhe zu ziehen. „Was meinst du damit?“ Marlic lehnte sich nach vorne und sah schon beinahe wütend aus. Offenbar schien ihm die Nachfrage nicht zu schmecken. „Ganz einfach. Wenn es hier jemandem zusteht, dich dem Erdboden gleich zu machen, dann bin ich das! Ich alleine, verstanden? Und dieser Kerl glaubt allen Ernstes, er könne mir das wegnehmen? Vergiss es! Das lasse ich nicht zu.“ „Moment mal, was...?“ Bakura war aufgesprungen, doch hatte seine Worte nicht zu Ende führen können. Keiro war ebenso auf die Beine gekommen und hatte ihm eine Hand auf den Mund gepresst. „So, das reicht jetzt, Bruderherz. Wir machen jetzt einen entspannenden Spaziergang im Garten des Palastes, was hältst du davon? Oder willst du lieber ein wenig schlafen? Irgendwie bist du seitdem wir uns wiedergesehen haben so gereizt!“, meinte er ehrlich besorgt. Der Grabräuber schlug daraufhin die Hand weg, die auf seinen Lippen gelegen hatte und sah aus, als versuche er, sein Gegenüber mit Blicken zu töten. „Ich bin kein kleines Kind, kapiert?“, fauchte er auch sogleich. Keiro sah ihn verwundert an. „Dafür benimmst du dich wie eines.“ Sein Blick wanderte zu Ryou. „Sag mal, ihr zwei kennt euch doch schon länger, oder? Da hab ich doch irgendetwas mitbekommen?“ Der Weißhaarige sah vollkommen perplex zwischen den Zwillingen hin und her. „Ähm... man könnte es so ausdrücken, wenn man wollte...“ „Ah, gut“, befand Keiro und deutete auf den Grabräuber. „Ist der schon länger so?“ Da Ryou sich hütete, darauf zu antworten, weil er befürchtete, eine Retourkutsche von Bakura zu erhalten, übernahm Marik diese Aufgabe. Ungerührt winkte er ab. „Mach dir keine Sorgen, der ist schon so, seit wir ihn kennen.“ „Hey, sag mal, Kleiner?“, mischte sich nun auch Marlic wieder ein. „Hattest du in der Schule mal dieses komische Fach, das sich vermeintlich mit der Seele des Menschen auseinander setzt?“ „Kann es sein, dass du von Psychologie sprichst?“, seufzte sein Ebenbild. „Genau das. Also, hattest du das, Ryou?“ Der Angesprochene nickte. Irgendwie fühlte er sich gerade gar nicht wohl. Es lag zu viel Aufmerksamkeit auf ihm. „Pass auf!“, meinte Marlic, stand auf, ging zu dem Weißhaarigen hin und legte ihm einen Arm um die Schulter. „Ich habe da eine Theorie. Der gute Bakura ist immer so wahnsinnig aggressiv und frustriert“, fuhr er mit gehässigem Grinsen fort. „Was glaubst du, könnte das an einem Kindheitstrauma liegen?“ Der Körper des Grabräubers spannte sich an. Er ballte die Hände zu Fäusten. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. „Woher weißt du davon?“ „Ach, die Palastwachen scheinen in den letzten Tagen kaum andere Themen als Caesian und den König der Diebe zu kennen. Ich meine, es steht nicht jeden Tag jemand vor der Tür, der eigentlich tot sein sollte. Daher scheint dein Auftauchen für einige Furore zu sorgen. Da bekommt man so einiges mit. Aber zurück zu meiner Frage. Wie war das so, seiner ganzen Familie beim Sterben zu zusehen? Hm? Ich meine, das muss doch ein noch intensiveres Gefühl sein, als dem Tod eines Fremden beizuwohnen, nicht wahr?“ Inzwischen bebte Bakura am ganzen Körper. Er presste die Fingernägel in die Handflächen, dass es schmerzte. Noch ein Wort und... „Marlic! Meinst du nicht, dass du definitiv übertreibst?“, mischte sich Atemu ein, der das nahende Unheil erkannte. „Ich brauche keine Hilfe von dir, Pharao“, zischte der Grabräuber, der unablässig die feixende Fratze der anderen Milleniumsseele fixierte. „Was ist denn, Bakura?“, fuhr diese auch schon fort. „Bist du etwa so verbittert, weil du dein ganzes Leben lang so alleine warst? Mir kommen die Tränen. Weißt du, irgendwie beißt sich diese Geschichte mit deinem Image. Ich meine, guck doch mal... Du predigst, du seist die Finsternis, wolltest die ganze Welt vernichten, machst einen auf vollkommen gefühlskalt und dann tust du das alles wegen eben den Trieben, die du zu leugnen versuchst. Du widersprichst dir, findest du nicht? Also ich würde dir ja raten, diese Gefühlssache sein zu lassen. Familie zu haben ist doch sowie so vollkommen nutzlos und behindert einen nur... Du solltest froh sein, dass du sie alle los bist. Na ja, fast alle.“ Bakura schien zu explodieren. Sein Bruder hatte noch versucht, ihn an der Schulter zu packen, es jedoch nicht geschafft. Mit einem Schrei stürzte er sich auf Marlic und schlug diesem sofort mit der Rechten ins Gesicht. Der Grabwächter ging zu Boden, seine Miene veränderte sich aber keineswegs. Vielmehr wurde das Grinsen noch breiter, während er sich das Blut vom Kinn wischte. Der Grabräuber kniete inzwischen direkt über ihm und hatte ihn am Kragen gepackt. Seine Augen sprühten vor Wut. „Du widerliche Missgeburt! Ich bring dich um!“, schrie er, und wollte erneut zuschlagen, doch Keiro und Joey gingen gemeinsam dazwischen, ergriffen seine Arme und zerrten ihn hoch. „Sag mal spinnst du? Du kannst doch nicht einfach...“, wollte sein Bruder sagen, doch er wurde unterbrochen. „Ich könnte ihm noch viel mehr antun, wenn du mich lassen würdest!“, brüllte Bakura, der sich nicht ohne Gegenwehr von Marlic weg zerren ließ. Der am Boden liegende Ägypter hatte inzwischen begonnen, herzhaft zu lachen. Offenbar war er der Einzige, den diese Situation amüsierte. Zugleich machte er den Grabräuber damit nur noch wütender. „Hey Mann, jetzt beruhig dich doch!“, versuchte nun Joey sein Glück. „Der Pisser ist es doch nicht wert. Er ist eben ein Arschloch, daran wird sich auch nichts ändern, wenn du ihn zusammen schlägst!“ „Ich will ihn nicht zusammen schlagen, ich will ihn verdammt nochmal töten!“, fauchte Bakura zurück und versuchte weiterhin sich loszureißen. Der Grabwächter hatte indes noch immer nicht aufgehört zu lachen. „Wer hätte gedacht, dass du dich so leicht auf die Palme bringen lässt? Regelrecht erbärmlich!“ „Es ist genug! Los, raus hier!“, ging endlich Atemu dazwischen, der das Geschehen bislang völlig perplex beobachtet hatte. Jetzt war auch seine Geduld einmal am Ende. Er hatte kein gutes Verhältnis zu Bakura, ganz im Gegenteil, aber damit war die andere Hälfte Mariks eindeutig zu weit gegangen. Sein Handeln widersprach komplett der Moral, die dem jungen Herrscher zu eigen war. Ein erstaunter Blick streifte ihn. „Also bitte, Euer Majestät...“, wollte Marlic ansetzen, doch der Pharao ließ ihn gar nicht groß zu Wort kommen. „Ich kann auch die Wachen rufen, wenn dir das lieber ist!“, donnerte er. „Ist ja gut. Immerhin hatte ich meinen Spaß bereits.“ Noch immer grinsend erhob sich Marlic schließlich doch noch. Den Blick nicht von dem Grabräuber wendend ging er betont langsam auf die Tür zu. Selbst ein „Wird's bald?“ von Atemu brachte ihn nicht dazu, sich schneller zu bewegen. Letztendlich verschwand er aber doch noch. Augenblicklich riss sich Bakura los. Noch immer zitterte er vor Wut. „Alles in Ordnung?“, fragte Keiro. Sofort wirbelte der Grabräuber herum. „Ob alles in Ordnung ist?“, brüllte er. Nichts war 'in Ordnung'. Überhaupt nichts. Nicht nur, dass dieser Abschaum in Dingen herum gestochert hatte, die ihn nichts angingen und tatsächlich der einzige Schwachpunkt Bakuras waren. Er war auch noch vor versammelter Mannschaft von Mariks Reinkarnation vorgeführt, gedemütigt worden. Etwas, das er mehr hasste, als viele andere Dinge auf der Welt. Noch immer brodelte die Wut in seinem Inneren. Zugleich spürte er etwas, das er schon lange nicht mehr empfunden hatte. Einen Kloß in seinem Hals. Er war kurz davor, endgültig die Kontrolle über sich zu verlieren. Er wirbelte herum und rauschte an Keiro vorbei, der ihm bis zur Tür folgte, es dann jedoch sein ließ. Er rannte den Gang hinab. Er wollte einfach nur eines sein- Alleine. „Es tut mir Leid, dass Ihr das mit ansehen musstest, mein König“, meinte Keiro wenig später, als sich alle wieder beruhigt und Platz genommen hatten. Ausgenommen der beiden Streithähne natürlich. Doch Atemu schüttelte nur den Kopf. „Es war nicht deine Schuld. Und auch nicht die deines Bruders.“ Yugi stimmte zu. „Keiner von uns hat ein... nun, gutes Verhältnis zu ihm. Aber das ging eindeutig zu weit. Niemand sollte so behandelt werden.“ Keiro nickte seufzend. „Ja, ich weiß. Und dennoch... wisst Ihr, als Bakura mir seine Missgunst, die er Euch gegenüber hegt, verdeutlicht hat, dachte ich zunächst, er wäre einfach nur verbohrt. Aber jetzt sehe ich, dass unsere Vergangenheit wohl mehr an ihm nagt, als ich vermutete...“ Ryou schluckte. Er konnte sich noch gut an die Zeit erinnern, da der Grabräuber seinen Körper missbraucht hatte. Er hatte häufig die Gefühle dieser anderen Seele spüren können, als wären es seine eigenen. Zumeist waren es Dinge wie Hass, Zorn, Abscheu, Verachtung, Misstrauen gewesen. Aber auch andere, die er nicht hatte deuten können. Inzwischen hatte er jedoch den Eindruck, zu wissen, worum es sich dabei gehandelt hatte... Vielleicht war Bakura doch nicht so wahnsinnig gefühlskalt, wie er immer geglaubt hatte. Irgendwie überraschte ihn dieser Gedanke nicht. Im Grunde ging er davon aus, dass jeder Mensch irgendwo einen wunden Punkt hatte. Und trotzdem wollten diese beiden Dinge- seine Erinnerung an die Zeit, da er besessen gewesen war, und die jetzige Erkenntnis- nicht zusammen passen. Ryou erhob sich plötzlich. Seit drei Tagen hatte er nun kontinuierlich Menschen um sich, außer, wenn er schlief- was seit ihrer Ankunft nicht oft gewesen war. Zudem machten ihn die Gedanken, die ihm soeben gekommen waren, unsicher. Sie schwirrten durcheinander, er konnte sie nicht ordnen. Ein klares Zeichen, dass er eine Auszeit brauchte. „Entschuldigt mich bitte für eine Weile. Aber ich brauche ein bisschen Ruhe, die letzten Tage ist so viel passiert.“ Ein Nicken, dass Verständnis verdeutlichte, folgte von Yugi, dann verließ Ryou den Raum ebenfalls. Seit dem gestrigen Abend war Risha nun schon auf der Flucht. Das Pferd hatte sie längst zurück gelassen. Das Tier war schon bald nach Sonnenaufgang aufgrund der stetig steigenden Temperaturen völlig entkräftet gewesen. So hatte sie sich zunächst versichert, einen möglichst großen Abstand zu ihren Verfolgern zu haben, anschließend war sie zu Fuß weiter gegangen. Inzwischen war ihr Mund trocken. Der säuerliche Geschmack ließ sich nicht ignorieren. Ihre Kehle brannte, schrie nach Wasser, während ihre Muskeln sie daran erinnerten, dass sie Ruhe brauchten. Ihre nackten Füße schmerzten ob des heißen Sandes, der sich unter ihren Sohlen erstreckte. Sie konnte jetzt nicht rasten. Wenn sie jetzt stehen blieb oder sich hinsetzte, würde sie nicht mehr weiter kommen, das war ihr bewusst. Die Hitze trieb ihr den Schweiß auf die Haut. Und dennoch fühlte sie sich lange nicht so erschöpft, wie es schon ab und an der Fall gewesen war. Einmal hatte sie fast drei Tage in der Wüste überlebt, war ziellos umher geirrt. Dagegen war das hier ein Zuckerschlecken. Schließlich stieg der Weg an. Mühevoll quälte sie sich hinauf. Dann endete er abrupt. Anscheinend war sie auf eine steinerne Klippe gekommen, die der Sand verbarg. Sie sah in die Tiefe... und atmete erleichtert auf. Etwa fünf Meter ging es zu ihrem Füßen abwärts. Dort unten standen einige Dattelpalmen, die den Lauf des Nils säumten. Wie hatte sie nur derart die Orientierung verlieren können, dass ihr nicht klar gewesen war, dass die rettenden Fluten bald auftauchen mussten? Das machte die Sache gleich einfacher. Sie hatte zwar keinen Schlauch dabei, doch würde sie ihren Durst jetzt stillen, wäre sie in der Lage, ihren Verfolgern noch länger zu entgehen und sie vielleicht gänzlich abzuschütteln. Dann hieß es, die Schattentänzer zu finden. Es war offensichtlich, dass sie nicht in die Höhlen zurückkehren würden. Der ewige Wind der Wüste umspielte ihre Haare, als sie die Fäuste ballte. Caesian würde dafür bezahlen. Dafür, dass er ihr Volk derartig erschüttert hatte. Dafür, dass er ihren Ziehvater entführt hatte. Dafür, dass er sie erneut gedemütigt hatte. Plötzlich schreckte sie aus ihren Gedanken hoch. Dieses Geräusch... Sie wirbelte herum und erblickte die Reiter, die sich in wahnsinnigem Tempo näherten, Waffen hoch erhoben. Sofort zückte sie ihre Dolche, ließ das Artefakt jedoch an ihrem Gürtel. Sie hatten sie gefunden. Zwar war der Feldherr nicht bei ihnen, doch auch sie reichten schon aus, um ihr in ihrer derzeitigen Lage zu zu setzen. Sie erwägte, Cheron zu rufen, doch verwarf den Gedanken wieder. Dafür würde sie ihre Energie aufteilen müssen. Etwas, das sie sich gerade, im Angesicht eines Kampfes, nicht leisten konnte. Nicht mit der Entkräftung ihres Körpers, die sich nicht leugnen ließ. Die Reiter schienen den Abgrund früher zu gewahren, als es bei ihr der Fall gewesen war. Sie zügelten ihre Pferde am Kamm der Erhebung und stiegen ab. Drohend näherten sie sich. „Hallo Kleines...“, zischte einer von ihnen, der das Kommando zu haben schien. Sie zog eine Augenbraue nach oben, versuchte, möglichst unbeeindruckt zu wirken. Es war wichtig, dem Gegner niemals Schwäche zu zeigen, selbst, wenn sie sich kaum verbergen ließ. „Du hast da etwas, das unser Gebieter gerne haben möchte...“ „Dann holt es euch!“ Nach spielen war ihr soeben nicht zumute. Sie wollte diese Geschichte hinter sich bringen. „Ganz wie du willst...“ Sofort stürmten zwei Krieger vor. Risha wich den Hieben ihrer Waffen aus, fuhr herum und schlug einem den Knauf ihres Dolchs mitten ins Gesicht. Blut spritzte aus seiner Nase, als er zu Boden ging. Die Attacke des anderen parierte sie zunächst, bis sich ihr eine Gelegenheit bot, ihm die Klinge in den Leib zu stoßen. Auch er sackte zusammen. Anschließend rannte der Kommandant selbst auf sie zu. Immer wieder krachte Metall auf Metall. Zwar gelang es ihr, beinahe jeden Hieb abzufangen, doch schaffte es ihr Gegenüber, sie immer weiter zurück zu drängen- in Richtung des Abgrundes. Immer wieder warf sie einen prüfenden Blick nach hinten. Was ihr schließlich zum Verhängnis wurde... Abermals sah sie in Richtung der Fluten, die sich durch die Wüste wanden, da traf sie plötzlich ein Faustschlag im Gesicht. Benommen taumelte sie einige Schritte zurück, dann spürte sie eine Kante unter ihren Füßen. Einen Augenblick später befand sie sich in freiem Fall, ehe ihr Körper von Wasser verschluckt wurde. Sterne tanzten vor ihren Augen, als sie in den reißenden Fluten versank und davon gespült wurde. Für einen Moment sah sie einen grellen, goldenen Schimmer- wohl die Sonne Ägyptens, die selbst das Dunkel der Wogen durchdrang. Wasser flutete in ihre Lungen. Dann wurde es schwarz um sie herum. Atemu hatte sie nach draußen in die Gärten geführt. Ihm war die Decke regelrecht auf den Kopf gefallen, er hatte einfach an die frische Luft kommen müssen. Auch seine Freunde aus dem 21. Jahrhundert hatten diesen Vorschlag begrüßt. Ein großer Teil der Spannung fiel sogleich von ihnen allen ab, als sie so durch das Grün in Richtung des blühenden Flammenbaumes schlenderten, der ihnen Schutz vor der sengenden Sonne bieten sollte. Vor allem Marik und Tea bestaunten die fein säuberlichen Anlagen, die der Erholung dienen sollten. Hier schien das, was draußen vor den Toren lauerte, so ewig weit entfernt. Beinahe idyllisch... Joey ließ sich seufzend am Stamm des Baumes nieder und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Genüsslich schloss er die Augen. „So stelle ich mir das Leben im alten Ägypten und seinen Palästen vor...“ Atemu sank grinsend neben ihm nieder. „Wenn es nur wirklich so einfach wäre...“ „Wo ist eigentlich Keiro?“, erkundigte sich Yugi und sah sich suchend um. „Er wollte mal nach Bakura sehen. Nicht, dass er gerade Amok läuft“, antwortete der Pharao. „Was ich ihm durchaus zutrauen würde...“ „Ich will ja nicht unhöflich sein oder wirken, als würde ich nicht verstehen, was dich momentan alles belastet, Alter“, entgegnete der Blonde. „Aber wäre es vielleicht möglich, das ganze Thema mal eine halbe Stunde sein zu lassen? Sowohl Caesian, als auch diese beiden Knallköpfe und die Schattentänzer? Mein Schädel fühlt sich an, als würde er bald platzen. Nur eine halbe Stunde, mehr verlange ich gar nicht. Ich denke, das würde uns allen gut tun.“ Tea schmunzelte. Wäre Tristan bei ihnen, er hätte sich einen Kommentar auf Joeys Aussage hin nicht nehmen lassen. Irgendein Spruch wäre ihm bestimmt eingefallen, wenn sein bester Freund meinte, sein Kopf würde bald zerspringen. Vielleicht: 'Ist es denn so anstrengend, mal dein Hirn zu benutzen?'. Ja, mit Sicherheit etwas in der Art. Anfangs hatte sie geglaubt, es sei kein gutes Omen, dass sie nicht alle gemeinsam in diese Zeit gekommen waren. Inzwischen war sie froh darüber. Eine Person weniger, um die sie sich Sorgen machen brauchte. Obwohl, konnte man das wirklich so sagen? Denn wenn Caesian uneinsichtig blieb und die Relikte weiterhin missbrauchte, dann würde die Welt hier enden. Und dann gäbe es auch keine Zukunft... Tea schüttelte energisch den Kopf. Nein, Joey hatte recht. Sie sollten wirklich einmal an etwas anderes denken, als dauernd nur die Probleme durchzukauen, die sich vor ihnen erstreckten, wie ein Feld aus Dornenbüschen. Auch Atemu stimmte dem zu. „Du hast recht. Eine kurze Auszeit muss auch hin und wieder sein. Wir kamen bislang kaum dazu, uns wirklich über euer Leben und die Veränderungen darin zu unterhalten. Nun erzählt. Wie ist die Schule zum Beispiel?“ „Öde und langweilig“, erwiderte Joey. „Vor allem so Kram wie Englisch. Wir müssen Shakespear lesen!“ „Also ich mag ihn“, meinte Marik. „Er hatte wirklich einen unglaublichen Stil.“ „Du magst ja auch alles, was die Lehrer uns beibringen. Außerdem kannst du da gar nicht mitreden, du besuchst eine richtige Schule erst, seitdem die Sache mit Battle City vorbei ist“, winkte der Blonde ab. „Und hast dir damit echt einiges erspart.“ „Ich denke, genau das ist der Unterschied“, lächelte Yugi. „Marik ist vorher nur von Privatlehrern unterrichtet worden und das auch nicht nur in gewöhnlichen Fächern, wie wir sie kennen. Du wirst es eher als Privileg denn als Qual betrachten, oder?“, fragte er an den jungen Ägypter gewandt. Der grinste verlegen zurück. „Ja, ein bisschen schon. Ich bin einfach froh, jetzt ein normales Leben führen zu können, so wie alle anderen auch. Und wenn das heißt, dass ich in die Schule gehen und einen Abschluss machen muss, dann tue ich das mit Vergnügen. Es ist für mich einfach mehr ein 'dürfen' als ein 'müssen'.“ „Das freut mich wirklich. Es ist schön zu sehen, dass du nun mit deinem Leben zufrieden bist“, meinte Atemu. „Was ich zum Großteil Euch zu verdanken habe, Pharao.“ „Du darfst mich ebenso duzen, wie es die anderen auch tun. Immerhin bist du einer von uns“, korrigierte der Herrscher Ägyptens freundlich. „Und sonst? Was hat sich noch verändert? Wie geht es deinem Großvater, Yugi?“ „Bestens, danke der Nachfrage. Der Laden läuft prima und bis auf ein paar Hexenschüsse ab und an ist er noch immer fit“, entgegnete der Angesprochene. Atemu nickte. „Gut zu hören. Sobald ihr wieder in eurer Zeit seid, grüß ihn bitte von mir. Ebenso Tristan, Duke und die anderen. Und wie ist es bei dir Tea? Was macht das Tanzen?“ „Ich gebe mein Bestes! Derzeit tanze ich fast noch mehr, als sonst. Es ist ja nicht mehr lange hin, dann schreiben wir unsere Abschlussprüfungen. Für mich ist es ein unersetzbarer Ausgleich zu dem ganzen Stress, den das mit sich bringt. Zugleich birgt dieses Hobby wieder seine ganz eigenen Hürden. Ich will versuchen, nach der Schule einen Termin für ein Vortanzen am Broadway zu bekommen. Vielleicht nehmen sie mich ja!“ Atemu musste lächeln. Schon damals- oder nun eher in der Zukunft- hatte sie oft davon geschwärmt, diese Chance einmal ergreifen zu wollen. „Ich wünsche dir jedenfalls viel Glück dafür.“ Er sah auf, als er Schritte hörte. Es war Keiro, der sich ihnen näherte. „Und, erfolgreich gewesen?“, fragte Joey. Doch der Angesprochene schüttelte den Kopf. „Nein, ich kann ihn nicht finden.“ „Dürfte ein gutes Zeichen sein“, kommentierte Marik, woraufhin er sich verdutzte Blicke zuzog. „Was denn? Würde es irgendwo qualmen oder krachen, wüssten wir zwar, wo sich Bakura rumtreibt, aber das hätte zugleich nichts Gutes zu bedeuten.“ „Wohl wahr“, seufzte Keiro und ließ sich bei der Gruppe nieder. „Im übrigen hoffe ich, euch nicht zu stören. Sollte das der Fall sein, so sagt es einfach.“ „Nein, nein“, versicherte Yugi. „Das tust du nicht. Wir haben uns gerade nur eine kleine Auszeit gegönnt. Atemu wollte wissen, wie es um unser Leben im 21. Jahrhundert bestellt ist.“ Sofort schnellte der Kopf des Weißhaarigen herum. „Wenn es für euch in Ordnung ist, würde ich auch gerne ein wenig davon hören! Zumal ihr noch gar nicht erzählt habt, wie es dazu kommt, dass ihr den Pharao kennt- ihr scheint sehr vertraut, dafür, dass ihr erst vor einigen Tagen hier gelandet seid. Vielleicht hättet ihr ja Lust, mich ein wenig zu erleuchten?“ ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ So, da ist es endlich, das neue Kapitel. An sich ging es hier wohl eher weniger spannend zu, dafür finde ich, dass ich es ganz gut hinbekommen habe, diesmal allen Charakteren gerecht zu werden. Am meisten habe ich mich an der Stelle aufgerieben, bei der es zur Auseinandersetzung von Marlic und Bakura kommt. Ich hoffe, ich habe beide halbwegs getroffen. Für mich ist es einfach ein wenig unrealistisch, dass die beiden sich verstehen könnten- immerhin ist einer sturer als der andere. Wobei ich jedoch immer fand, dass Bakura zumindest noch gewisse Grenzen kannte, während das bei Mariks dunkler Hälfte zu fehlen schien. Aber das ist nur meine Meinung, manch einer mag das anders sehen. So, nun genug geschmarrt. Wie immer ein Danke an 3sakuraharuno3 für den Kommentar zum letzten Kapitel. Grüße, Sechmet Kapitel 16: Abkommen -------------------- Ziellos schlenderte Ryou durch die Hallen des Palastes. Die Ruhe, das Alleinsein taten gut. Er mochte seine Freunde und war froh, endlich Menschen gefunden zu haben, auf die er sich verlassen konnte. Das änderte jedoch nichts daran, dass er selbst sehr ruhig und ab und an gerne für sich war. Vor allem dann, wenn Stress an ihm nagte. Und das tat solcher reichlich, seitdem sie hier gelandet waren. Er hatte das Leben ohne all die Abenteuer, Zwickmühlen und Ereignisse zugegebener Maßen genossen. Jetzt war all das wieder weg. Dennoch würde er Atemu und den anderen zur Seite stehen, keine Frage- aber ab und an musste er sich eben etwas zurück ziehen, um unter dem Druck standhalten zu können. Er seufzte, blickte dann mit seinen braunen Augen zum Himmel, an dem die glühende Sonne Ägyptens stand. Langsam sog er die warme Luft ein, die immer zu vom Wüstenwind getrieben wurde. Nur zu gerne wäre er einmal in friedlichen Zeiten in dieses Jahrhundert gekommen. Das Land- zumindest das, was er bisher davon gesehen hatte- war wirklich prachtvoll. Um nicht zu sagen wunderschön. Er ging weiter den Weg entlang, der zu seiner linken von mächtigem, behauenen Stein flankiert wurde, während er sich zu seiner rechten hin dem Freien öffnete. Er konnte in den Hof sehen, der darunter lag. Ein Brunnen stand in der Mitte. Er wusste nicht warum, doch ihm kamen die Geschichten der Bibel in den Sinn. Die Berichte von den zehn Plagen, die Ägypten einst heimgesucht haben sollten und nach deren Funken Wahrheit zahlreiche Archäologen in ihrer Zeit suchten. Mit einem Mal erschien ihm das lächerlich. Insektenschwärme, Krankheiten hatte es in der Geschichte nur allzu oft gegeben. Aber was war mit verrückt gewordenen Herrschern, die sich die Kräfte von Göttern aneigneten, die sie nicht kontrollieren konnten? Das war wohl ein Sonderfall. Er blickte auf, als er eine Gestalt gewahrte, die sich ein gutes Stück weiter, beinahe am Ende des offenen Gangs, befand. Sie hockte auf dem breiten, steinernen Geländer, das die Passanten des Flures davor bewahrte, bei einem Missgeschick in den Hof hinab zu stürzen. Mit dem Rücken hatte sie sich an eine große Säule gelehnt. Der Blick war stur ins Leere gerichtet. Ryou lief ein Schauer den Rücken hinab. Bakura. Da war der Palast so riesig und er verirrte sich ausgerechnet dorthin, wo sich auch sein ehemaliger Parasit befand. Er zögerte. Sollte er vielleicht einfach umkehren? Noch schien der andere ihn nicht bemerkt zu haben. Dann kamen ihm jedoch schlagartig die Worte Mariks in den Sinn. Eine Gelegenheit, mit der Sache abzuschließen... Er schluckte. Wahrscheinlich hatte der junge Ägypter recht. Es half absolut nichts, immer nur vor seinen Problemen davon zu laufen. Ryou würde sich ihnen stellen müssen, wollte er nicht, dass er all diese Erinnerungen auf ewig mit sich herum trug und sich von ihnen quälen ließ. Er atmete einmal tief durch, dann setzte er seinen Weg fort. Augen zu und durch..., schoss es ihm durch den Kopf, während er einen Fuß vor den anderen setzte. Seine Schritte waren deutlich zu hören. Es war nur noch eine Frage von Sekunden, bis Bakura merken würde, dass jemand auf ihn zu kam. Und tatsächlich. Als Ryou nur noch ein Stück von ihm entfernt war, fuhr der Kopf des Grabräubers herum. Für einen Moment musterten die fliederfarbenen Augen den Jungen, dann wandten sie sich wieder ab. Wie angewurzelt blieb der Jüngere von ihnen stehen. Kein blöder Kommentar? Kein genervtes 'Was willst du hier'? Kein feixendes Grinsen? Kein Versuch, ihn einzuschüchtern? Er war ehrlich überrascht. Ebenso von dem Blick, der ihm soeben zugeworfen worden war. Ja, da war diese eiskalte Fassade gewesen, die unnahbare Maske. Aber er hatte unter dieser Oberfläche ganz deutlich die Wut brodeln sehen können. Und noch etwas anderes. Beinahe so, als habe es Marlic tatsächlich geschafft, den Grabräuber zu... verletzen? Ryou schüttelte energisch den Kopf. Du magst gut erzogen sein, aber denk nur einmal daran, was dir dieser Kerl alles angetan hat! Einfach weiter gehen und gar nichts sagen. Das ist das einzig Logische! Er ging auch wirklich weiter, blieb jedoch erneut stehen, als er auf einer Höhe mit Bakura war. Noch immer verwundert musterte er das Gesicht des Älteren. Dieser stöhnte nach einem Moment genervt. „Was gibt’s da zu glotzen?“, meinte er, ohne den Blick vom Himmel zu nehmen. Dabei fuhr er sich mit einer Hand durch die Haare. Im ersten Moment glaubte Ryou, bei seinen Worten zusammen zucken zu müssen, doch die Reaktion blieb aus. Denn etwas in der Stimme des Grabräubers fehlte. Die übliche Schärfe... Er wirkte erschöpft, ausgelaugt. „Sag mal, hast du nichts besseres zu tun, als hier 'rum zu stehen und mich an zu starren?“ Als Ryou abermals keine Antwort gab, sah Bakura ihn schließlich doch noch an. „Ist was?“, fauchte er, doch auch diesmal wollte ihm der richtige Tonfall nicht gelingen, was dem Jüngeren keineswegs entging. Unruhig tapste er von einem Bein auf's andere. „Ähm nein, eigentlich...“, zögerte er zunächst, ehe der deutlich leiser fortfuhr. „Marlic war ganz schön gemein, oder?“ Warum zur Hölle sagte er denn das jetzt? Müsste er seinem Gegenüber nicht eigentlich noch viel mehr an den Hals wünschen, als ein paar unschöne Worte? Die Pest zum Beispiel? Doch irgendwie war das einfach nicht Ryous Art... Er konnte einem Menschen nichts Böses wünschen. Auch bei dem Grabräuber wollte das nicht klappen, obgleich dieser ihn mehr als einmal verletzt hatte. Sowohl körperlich, als auch psychisch. Lag es daran, dass er vor einiger Zeit erfahren hatte, was ihm in seiner Kindheit zugestoßen war? Hatte sich wohl so etwas wie Verständnis in seine Gedankenwelt geschlichen? Ein Schnauben war schließlich eine Antwort auf seine Aussage hin. Bakura musterte ihn noch einen Moment argwöhnisch, ehe er dann den Blick abwandte. „Er ging mir lediglich auf die Nerven, das ist alles.“ Ryou hob vorsichtig den Kopf. „Dafür siehst du aber ziemlich... traurig aus...“ Abermals hätte er sich am liebsten die Zunge abgebissen, als das Haupt des Grabräubers herum schnellte. Die Augen funkelten gefährlich. „Als ob du eine Ahnung hättest!“, meinte er verächtlich. Jetzt war es sowie so schon zu spät. Er hatte sich bereits aus dem Fenster gelehnt, nun gab es kein zurück mehr. „Na ja... immerhin warst du ja lange Zeit in meinem Körper“, begann er, ehe er schneller fortfuhr. „Ich kann dich wirklich verstehen. So etwas macht man nicht! Auch wenn man Marlic heißt! Und selbst, wenn du nicht gerade nett zu mir warst, finde ich, dass das total fies war.“ Bakura sah einen Moment perplex drein, dann erhob er sich plötzlich. Mit langsamen, drohenden Schritten ging er auf den Kleineren zu, der augenblicklich zurück wich, bis er mit dem Rücken zur Wand stand. Der Grabräuber schaute ihn mit einem undefinierbaren Blick an und legte ihm schließlich einen Finger auf die Brust. Der Nagel bohrte sich in den Stoff und die darunter liegende Haut. „Du-hast-nicht-die-geringste-Ahnung!“, zischte Bakura stockend. Der Kleinere fühlte sich zunehmend unwohl in seiner Rolle. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Sofort war die Angst wieder da, die schon so oft sein Herz zerfressen hatte. Doch diesmal würde er sie nicht die Oberhand gewinnen lassen! Irgendwann in seinem Leben musste er sich durchsetzen. Wenn nicht heute, wann dann? Außerdem, was hatte er zu befürchten? Mana hatte doch gesagt, dass er inzwischen, abgesehen von Diabound, ein ganz normaler Mensch war. Nicht viel anders als er. So nahm Ryou all seinen Mut zusammen und antwortete. „Das ist nicht wahr! Ich weiß sehr wohl, was es heißt, einen Menschen zu verlieren! Oder hast du das etwa vergessen?“ Für einen Moment sah Bakura tatsächlich erstaunt aus. Er hatte nicht im Entferntesten mit irgendeiner Erwiderung des Weißhaarigen gerechnet. Und schon gar nicht mit einer solchen. Plötzlich wurde ihm wieder bewusst, weshalb es so einfach gewesen war, damals die Kontrolle über Ryou zu bekommen. Weil der Junge innerlich geschwächt war... durch den Tod seiner Mutter und seiner jüngeren Schwester. Sowie die ständige Abwesenheit seines Vaters, der sich nach dem tragischen Unfall nur noch mehr in seine Ausgrabungen vertieft hatte. Der Grabräuber ließ den Finger sinken und trat einen Schritt zurück. Wie gebannt starrten sie einander an. Hektisch suchte der Dieb nach irgendetwas, das er Ryou entgegensetzen konnte. Doch er wurde nicht fündig. Er musste sich innerlich eingestehen, dass er hier wohl dem einzigen Mitglied des Kindergartens gegenüber stand, das tatsächlich einen ähnlichen Verlust erlitten hatte. Sein Kopf schmerzte. Die Aufregung, die unbändige Wut und die Demütigung, sowie diese Diskussion, bündelten sich zu einem stetigen Pochen in seiner Schläfe. Erschöpft rieb er sich mit der Hand über das Gesicht. „Lass mich einfach in Ruhe, ja?“, meinte er matt und wandte sich wieder ab. „Das kann ich nicht... Auch wenn ich dich dadurch an Dinge erinnere, die du vergessen willst...“, flüsterte Ryou, dem schlagartig klar geworden war, warum er direkt auf dieses Gespräch zugesteuert war. Ein skeptischer Blick Bakuras folgte. „Warum? Willst du dich etwa rächen?“ Doch der Weißhaarige schüttelte den Kopf. „Das ist es nicht.“ „Was willst du dann?“ Ein kurzes, kaum sichtbares Lächeln schlich über die Lippen des Jüngeren. „Ich will verstehen, warum du mir all das angetan hast.“ So schnell er konnte, hetzte Seto die Wege des Palastes entlang. Die Nachricht, die man ihm überbracht hatte, konnte nur ein schlechter Scherz sein. Wieso sollte ausgerechnet einer von ihnen freiwillig nach Men-nefer kommen und sich auch noch von vorne herein zu erkennen geben? Das ergab keinen Sinn. Nicht im Geringsten. Schließlich näherte er sich den Toren des Palastes. Ein hochrangiger Soldat und Wächter erwartete ihn bereits. „Mein Gebieter“, meinte der Mann und neigte das Haupt. „Gut, dass Ihr so rasch kommen konntet, Herr.“ Sein Blick glitt hinüber zu dem großen Tor, das das Königshaus vom Rest der Stadt trennte. Unter dessen hohem Bogen stand eine Gestalt, die der Hohepriester aus dieser Entfernung nicht zu erkennen vermochte. Misstrauisch kniff er die Augen zusammen. „Und er ist tatsächlich ein Schattentänzer?“ „Zumindest behauptet er das. Aber er sei nicht irgendeiner. Er gibt an, der zweite in der Rangordnung zu sein. Des Weiteren sagte er, er habe wichtige Informationen, die uns nützlich sein könnten. Und er möchte seine königliche Hoheit sprechen.“ Seto schnaubte verächtlich und musterte für einen Moment den Hauptmann, ehe sein Blick zu dem Clanmitglied zurück schweifte. Er traute ihm keineswegs. Doch Keiro hatte bereits angegeben, dass er nicht mit allen Lehren der Schattentänzer vertraut sei. Für einen Moment prüfte der Hohepriester die Mauer. Das Tor, das ihren Lauf unterbrach, war geschlossen. „Wie kommt er hier rein?“ „Er ist einfach herüber geklettert. Fragt mich nicht, wie er das geschafft hat, aber er muss wahnsinnig flink sein.“ Aus welchem Grund dieser Kerl auch hier her gekommen war, er würde sicher nützlich sein... „Behaltet ihn gut im Auge. Ich werde mit seiner Majestät sprechen.“ Mit diesen Worten rauschte Seto davon. Was auch immer der Fremde im Schilde führte, ob er nun in friedlicher Absicht gekommen war oder nicht, er würde gewiss von Nutzen sein. Denn wenn er nicht freiwillig reden wollte, so würden sie ihn noch immer zum Sprechen bringen können. Sein Weg führte ihn in den Garten des Palastes. Atemu und diese jungen Leute aus der Zukunft hatten sich entschieden, dort weiter zu überlegen. Er konnte sich noch zu gut an eine Frage von diesem Joey erinnern, vor ein paar Tagen war das gewesen. Ob Kokosnüsse an den Palmen wachsen würden. Ein kurzes Grinsen spielte auf Setos Lippen. Jedes kleine Kind wusste doch, dass diese Gewächse in Ägypten ausschließlich Datteln trugen! Zwar gab es die eine oder andere Kokospalme, das war schon richtig, doch diese hatten bislang niemals Früchte gehabt. Unwillkürlich schüttelte er den Kopf. Er sollte endlich aufhören, über derartig sinnlose Dinge nachzudenken! Es herrschte Krieg! Und ein Schattentänzer stand nicht vor, sondern hinter den Toren des Palastes, auch, wenn er sich bislang friedlich verhalten und lediglich darum gebeten hatte, den Pharao sprechen zu dürfen- was alleine schon Anmaßung genug war. Schließlich wichen die Mauern zurück und gaben den Blick auf den wunderschönen Garten frei, den sie einrahmten. Doch der Hohepriester hatte im Moment kein Auge für die hübschen Gewächse, die sich zu den Seiten der fein säuberlich angelegten Wege erstreckten. Vielmehr steuerte auf die kleine Gruppe zu, die sich unter einem Flammenbaum niedergelassen hatte, der zur Zeit in voller Blüte stand. Als Atemu seinen Cousin erblickte, sah er überrascht aus. „Was ist?“, fragte er sogleich. Offenbar hatte Setos Miene verraten, dass etwas geschehen war. „Mein Pharao, ein Schattentänzer ist über die Mauern in den Palast eingedrungen.“ Augenblicklich sprang der amtierende Herrscher auf. „Wo ist er?“ Doch der Hohepriester hob beschwichtigend die Hände. „Sorgt Euch nicht, mein König. Er kam lediglich über die Umgrenzung und meinte, er wolle Euch sprechen. Er verhält sich bislang vollkommen friedlich.“ Joey hob verwundert eine Augenbraue. „Also wenn du mich fragst, hört sich das nach einer verdammt plumpen Falle an, oder?“ „Ganz deiner Meinung“, stimmte Mana zu. „Lasst ihn am besten fesseln und führt ihn anschließend erst zu Atemu, alles andere wäre viel zu gefährlich.“ „Moment“, schaltete sich nun auch Keiro ein, der ebenfalls anwesend war. „Hat dieser Mann einen Namen genannt?“ Seto schüttelte das Haupt. „Das nicht, doch er meinte, er sei zweiter in der Rangordnung des Clans.“ Man konnte sofort erkennen, dass Bakuras Bruder blasser wurde. Unbewusst biss er sich auf die Unterlippe. Auch das noch! Ausgerechnet dieser... Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Erst ein wahnsinniger Feldherr, der die Relikte aus ihrem Schlaf riss... und nun der Kerl. Er schluckte. Wenn er nicht aufpasste, würde ihn der Besucher schneller in Schwierigkeiten bringen können, als ihm lieb war. „Das ist Riell. Reshams Sohn“, erwiderte er schließlich. „Er wird eines Tages die Führung über die Schattentänzer übernehmen, wenn sein Vater nicht mehr ist.“ „Können wir ihm vertrauen?“, fragte Atemu. Keiro schien einen Moment zu überlegen. „Das könnt Ihr heraus finden, indem Ihr ihn bei den Göttern geloben lasst, dass er nicht gedenkt, Euch zu hintergehen. Er würde niemals ein Wort brechen, das vor den Gottheiten selbst gegeben wurde.“ „Und auf wen sollen wir ihn schwören lassen?“, spottete Seto. „Auf Seth persönlich? Wie vertrauenswürdig.“ Bakuras Bruder überging den Einwurf. „Allerdings würde ich Euch bitten, mich zuvor entfernen zu dürfen, Euer Hoheit“, fuhr er an Atemu gewandt fort. Misstrauisch runzelte der Hohepriester die Stirn. „Warum?“, hakte er in eiskaltem Tonfall nach. „Ganz einfach“, zischte Keiro und machte seinem Zwilling dabei große Konkurrenz. „Ich habe damals das Relikt an mich genommen, erinnert Ihr Euch? Ich glaube kaum, dass Riell sonderlich erfreut wäre, mich hier zu sehen.“ Atemu stimmte zu. „Ja, das wäre wohl besser. Also gut. Seto, bringt diesen Mann zu mir. Ich erwarte Euch im Thronsaal. Du hast die Erlaubnis, dich zurück ziehen zu dürfen, Keiro.“ Sofort sprang Bakuras Verwandter auf, verneigte sich flüchtig und eilte dann davon. Auch der Hohepriester entfernte sich. „Lasst uns gehen“, meinte der Pharao an seine Freunde gewandt. „Mal sehen, was dieser Mann uns zu erzählen hat.“ Riell wurde den Gang hinab gestoßen. Wie einen Gefangenen führte man ihn Richtung Thronsaal. Ein bitteres Lächeln lag auf seinen Zügen. Die Fesseln, die man an seinen Handgelenken angebracht hatte, schnitten in die Haut. So tief waren sie also durch Caesians Angriff gesunken. Dass er, jemand, der lediglich anderen Göttern diente, als die meisten Ägypter, vorgeführt wurde, wie ein Verbrecher. Wäre all dies nicht für den Clan, er hätte wohl rebelliert, seine Ansichten und seinen Unmut darüber, dass man diese mit Füßen trat, wohl mit dem eigenen Leben verteidigt. Doch sie brauchten Hilfe. Das hatte er einsehen müssen. Resham war verschwunden. Die Schattentänzer somit ohne ein richtiges Oberhaupt. Er hatte die Befehlsgewalt lediglich aus der Not heraus übernommen. Auch Risha war nicht zu finden, obgleich sich bereits einige Mitglieder des Clans auf die Suche begeben hatten. Erfolglos. Somit hing nun alles von ihm ab. Und er hatte sich entschieden. Würde er nicht vor den Pharao treten und ihn um Beistand bitten, sie wären verloren. Nun war er hier, und somit gab es zwei Möglichkeiten. Entweder, man würde ihnen helfen, und sie wären zumindest vorerst in Sicherheit, oder man lehnte ihren Gesuch ab und sie waren verloren. Und dennoch schmerzte es ihn, sich derartig auf die Knie zwingen zu lassen. Innerlich blutete er. Auch nach außen hin würde er dies nur schwer verbergen können, wenn es ihm überhaupt gelang. Wieder schoben sich die Bilder von vorhin in seinen Kopf. Das spöttische Gesicht dieses Hohepriesters, als man ihn bei Seth hatte schwören lassen, dass er nicht gedachte, dem Herrscher Ägyptens ein Leid zu zu fügen. Was dachte dieser Mann eigentlich? Welche Vorurteile kursierten in seinen Gedanken? Welche davon würde man ihm gleich entgegen schleudern? Sie erreichten den Thronsaal. Die großen Flügeltüren, die in die Halle führten, wurden geöffnet. Man stieß ihn weiter voran. Schließlich sah er ihn. Den Pharao Ägyptens. Es war also tatsächlich wahr. Atemu war zurück gekehrt, um seinem Volk in schlimmster Stunde beizustehen. Trotz all der Verluste, die sie erlitten hatten, saß ihr König weiterhin stolz auf seinem Thron. Man konnte ihm ansehen, dass er noch immer geehrt war, dieses Land regieren zu dürfen, auch, wenn sie sich nur mit Mühe und Not hatten verteidigen können. Der Griff der Wachen, die ihn flankierten, verstärkte sich um seine Schultern. Man wollte ihn auf die Knie zwingen, doch er hielt dagegen. So weit würde er erst gehen, wenn es keinen anderen Weg mehr gab. Zu seiner Überraschung ließen die beiden Soldaten plötzlich von ihm ab. Als er aufblickte, sah er, dass der Herrscher sie davon schickte. Er zwang ihn nicht, sich in den Staub zu werfen. Verwundert starrte er sein Gegenüber an. Warum? „Ich grüße Euch, Fremder“, sprach Atemu dann. „Wie mir zugetragen wurde, seid ihr ein hochrangiges Mitglied der sogenannten Schattentänzer. Ebenso ist mir bekannt, dass Ihr dem Königshaus nicht wohlwollend gestellt seid. Was führt Euch dann zu uns? Und wie ist Euer Name?“ Riell konnte den Blick des Hohepriesters auf sich spüren, der neben dem Thron Aufstellung bezogen hatte. Dieser Mann hatte ihn nicht so würdevoll angesprochen, als er erneut zum Palasttor gekommen war. Viel mehr hatte er sich in der Gegenwart des Geistlichen gefühlt wie minderwertiger Abschaum, der eigentlich keiner größeren Aufmerksamkeit bedurfte. Er verstand es nicht. War dieser Kerl nicht auch ein Kind der Götter? Freilich, er diente anderen, als Riell es tat... Aber dieses Unverständnis war er ja gewohnt. „Mein Name ist Riell“, erwiderte er schließlich. „Und es ist richtig, dass mein Clan durch all die Missgunst, die wir in der Vergangenheit vom königlichen Hof erfahren haben, nicht gerade gut auf Euch zu sprechen ist. Aber manchmal verlangt das Schicksal von uns, ungewöhnliche Wege zu gehen.“ „Wovon sprecht Ihr?“ „Ich spreche davon, dass die Schattentänzer Opfer von Caesians Sucht nach Macht geworden sind. Vergangene Nacht gelang es diesem Bastard unser Versteck zu enttarnen und viele der Unseren zu töten und zu verletzen.“ Seto unterdrückte ein Schmunzeln, woraufhin er einen mahnenden Blick von seinem Cousin zugeworfen bekam. „Was ist geschehen?“, erkundigte sich Atemu anschließend. „Jede Kleinigkeit könnte wichtig sein. Ihr braucht auch nichts auszulassen. Wir wissen, worum es in diesem Kampf geht. Und, was Ihr zu beschützen versucht.“ Riell sah einen Moment verwundert drein, ehe er nickte. „Das bedeutet, Ihr wisst von den Relikten der Götter. Das macht die Sache einfacher. Vergangene Nacht wurden wir von Caesians Truppen angegriffen. Seitdem ist für uns nichts mehr, wie es einmal war. Er verschleppte unser Oberhaupt, meinen eigenen Vater, und trieb meine Schwester in die Wüste hinaus. Niemand hat beide seitdem gesehen. Nur allzu viele sind ihm im Schein des Mondes zum Opfer gefallen. Sie waren völlig ohne Orientierung, verängstigt, weshalb ich beschloss, früher als gewollt in die Fußstapfen meines ehrwürdigen Vaters zu treten.“ „Das heißt, die Schattentänzer unterstehen derzeit Eurem Kommando?“, erkundigte sich der Pharao. „So ist es. Deshalb bin es auch ich, der vor Euch tritt, um in dieser Stunde um Eure Hilfe zu bitten.“ Die Worte kamen schwer über Riells Lippen. Doch schließlich schaffte er es. Die Demütigung, die er allerdings in diesem Moment empfand, war immens. Bange Sekunden verstrichen. „Was ist Euer Gesuch?“, schallte Atemus Stimme schließlich erneut durch den Raum. Den bohrenden Blick seines Cousins ignorierte er. Nach allem, was der junge König über diesen Clan gehört hatte, hätte er mit einem Barbaren gerechnet, nicht mit einem Mann, der kaum älter sein konnte, als er selbst. Er spürte, wie sein Gegenüber merklich durchatmete. „Ich bitte Euch im Namen all dieser Menschen, die vielleicht andere Götter anbeten mögen, als Ihr es tut, deshalb aber noch nie jemandem auch nur ein Leid zugefügt haben, die verängstigt in den Dünen ausharren und hoffen, den nächsten Tag zu überleben- bitte, helft uns!“ Für einen Moment wurde es erneut still in der Halle, ehe Riell fortfuhr. „Bitte, gewährt uns Zuflucht in Men-nefer, oder ich kann für das Überleben dieser Menschen nicht mehr garantieren. Ich schwöre, bei den Göttern die mir heilig sind, dass wir nichts im Schilde führen. Unsere beiden Parteien mögen sich nicht wohlwollend gegenüber stehen, doch sie streben das gleiche Ziel an- Caesian aus diesem Land zu vertreiben! Wir werden Euch im Gegenzug unterstützen, wo immer wir können. Mit unseren Waffen und dem Wissen über die Relikte der Götter. Sollten wir nach dem Ende dieser grausamen Kämpfe nicht mehr erwünscht sein, so werden wir Men-nefer den Rücken kehren. Doch vielleicht ist dies auch die Chance, die sich mein Vater schon immer so sehnlich herbei gewünscht hat. Eine Möglichkeit für Euch, unseren Clan besser zu verstehen... Ich flehe Euch an, Majestät, im Namen der Schattentänzer!“ Atemu musterte ihn eindringlich. Dieser Mann hatte, ehe man ihn herbrachte, tatsächlich bei einem Gott geschworen, keine bösen Absichten zu hegen und die Wahrheit zu sagen. Doch konnte man jemandem vertrauen, der verschlagenen und hinterlistigen Göttern huldigte? Irgendwie stand der Glaube Riells in krassem Gegensatz zu der Aufrichtigkeit, die er soeben an den Tag legte. Es schien tatsächlich, als könne man ihm getrost glauben, ohne ein Risiko einzugehen. Zugleich bedachte der Pharao auch die strategischen Vorteile. Sie würden Unterstützung bekommen- sowohl von der Truppenstärke her, als auch, was das Wissen um die Relikte anging. „Wie sprach man Euren Vater innerhalb der Schattentänzer an?“, fragte er nach einer Weile der Überlegungen. Riell blinzelte erstaunt. „Abgesehen von meiner Schwester und mir, nannte man ihn 'Majestät'.“ Im nächsten Moment biss er sich auf die Unterlippe. Hoffentlich hatte er den König damit nicht gekränkt... „Nun denn. Wachen! Nehmt ihm die Fesseln ab.“ Nun war es an den Soldaten, ungläubig drein zu blicken. Sie taten jedoch sogleich wie gehießen. Überrascht rieb sich Riell die wunden Handgelenke. „Was hat das zu bedeuten?“, fragte er tonlos. „Das, Euer Majestät“, erwiderte Atemu mit einem freundlichen Lächeln. „Bedeutet, dass wir ein Abkommen haben.“ ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ So, es hat länger gedauert, als ich selbst dachte, aber hier ist nun das nächste Kapitel. Nun sind die Schattentänzer also richtig in das Geschehen eingebunden. Ich fand die Vorstellung von Anfangen an spannend, viele gegensetzliche Parteien auf die gleiche Seite zu stellen und es macht wirklich Spaß, die nun folgenden Kapitel, die sich bereits in einer Rohfassung auf meinem PC befinden, auszuarbeiten und zu schreiben. Eigentlich hatte ich geglaubt, dass ich an diesem Punkt der Geschichte bereits die Hälfte abgehandelt hätte, aber wenn ich mir das Exposé so ansehe, wird mich diese FF wohl doch noch eine ganze Weile begleiten. Ich hoffe, das freut nicht nur mich, sondern auch den einen oder anderen Leser. ;) Mir ist bewusst, dass dieses Kapitel nicht die Masse an Spannung enthält, die in einigen anderen vorkommt. Ich hoffe, das langweilt niemanden, ich zumindest habe mir an diesem Abschnitt die Finger wund getippt, weil ich ihn unbedingt zu Papier bringen wollte. Er ist einfach ein gewisser Wendepunkt in der Geschichte und solche finde ich als Schreiberling immer recht schwierig zu gestalten, denn sie müssen auf der einen Seite zwar schon spannend sein, der Leser muss sie aber auch verstehen und nachvollziehen können. Ich denke, das ist mir hier ganz gut gelungen. So, nun genug des Geredes. Ein Dank noch an 3sakuraharuno3 für den üblichen Kommentar zum letzten Kapitel, auf den ich mich jedes Mal so freue. =) Selbiger geht auch an Aton, leider finde ich den Kommentar nicht mehr, aber er war definitiv da und ich habe ihn gelesen. Bis zum nächsten Mal! Sechmet Kapitel 17: Fährte ------------------ Es geht weiter, immer weiter... Hier also nun das letzte Kapitel, ehe meine Winterferien vorbei sind und die Uni wieder ihren Lauf nimmt. Was ich damit sagen möchte: Mit Uploads könnte es ab nächster Woche wieder deutlich kniffliger werden, aber ich bemühe mich natürlich, euch nicht zu lange warten zu lassen. ;) Ehe hier nun das Kapitel "Fährte" beginnt, geht ein großes Dankeschön an 3sakuraharuno3 und Aton, die das letzte wieder kommentiert haben. Ihr freut euch wie ein Schnitzel, wenn ein neues Kapitel online geht, und ich freue mich wie ein solches, wenn ich eure Kommentare lese! Danke dafür! Ebenso ein Dank an AmaterasuNyx, die auch auf die FF aufmerksam wurde und mir gleich einen Kommentar geschrieben hat. Nun genug des Geplänkels, los geht es mit "Fährte". Fährte „Durch die Entführung meines Vaters besitzt er nun auch die Saat des Chnum. Und sollte er meine Schwester erwischt haben... so ist ihm auch der Dolch des Anubis in die Hände gefallen. Die Feder des Thot trage ich bei mir.“ Betretenes Schweigen folgte. Seto seufzte genervt. „Und da sag nochmal einer, die Relikte wären bei euch gut aufgehoben. Wenn ich richtig gezählt habe, bedeutet das, was Ihr soeben sagtet, dass ihr drei von vier Gegenständen an diesen Wahnsinnigen verloren habt!“ Riells Kopf schnellte herum. „Wir haben wirklich alles getan, um sie zu schützen. Und alles, damit Caesian dieses Land verlässt!“ Atemu räusperte sich. „Jetzt ist nicht der Moment für Vorwürfe. Was geschehen ist, ist geschehen. Wir können die Zeit nicht zurück drehen. Deshalb sollten wir lieber überlegen, wo die anderen Artefakte sein könnten, ehe dieser Mann auch noch sie in die Hände bekommt.“ Sein Blick ruhte auf dem Schattentänzer, erwartete eine Antwort. Doch der schüttelte das Haupt. „Wüssten wir, wo sie sich befinden, ich würde es Euch sagen, Hoheit. Doch ich habe, was das betrifft, keine Ahnung. Wir selbst rätseln seit Generationen, wo die Relikte verborgen sein könnten.“ „Lasst uns doch noch einmal nachdenken“, schlug Marik schließlich vor. „Es fehlen Ras Sonnenscheibe, das Ankh des Horus, Sachmets Speer und der Reif der Göttin Isis.“ „Und das Amulett Bastets“, fügte Riell säuerlich hinzu. „Nun... nicht ganz...“, warf Atemu ein. Er seufzte. „Da Ihr jetzt auf unserer Seite steht, wird es nötig sein, mit offenen Karten zu spielen.“ Der König konnte seinem Gegenüber regelrecht ansehen, wie er sich anspannte. Sein Blick war wachsam- und neugierig. „Was wollt Ihr damit sagen, Euer Majestät?“ „Wir erhielten vor einigen Tagen unerwartete Hilfe von einem Mann namens Keiro. Sagt Euch dieser Name etwas?“ Die Augen des Schattentänzers verengten sich zu Schlitzen. Die Hand, die zuvor flach auf dem Tisch gelegen hatte, ballte sich zur Faust. „Allerdings...“ „Verzeiht seine Abwesenheit, doch er hielt es nicht für angebracht, Euch direkt unter die Augen zu treten. Des Weiteren möchte ich Euch bitten, von dem Konflikt abzusehen, der zwischen Euch herrscht. Er hegt keine bösen Absichten, im Gegenteil. Ehe Ihr aufgetaucht seid, war er der Einzige, der uns helfen konnte, herauszufinden, woher Caesian seine Macht nimmt. Von ihm haben wir all das Wissen, das nicht von Euch stammt“, fuhr Atemu fort. „Nun, da wir gemeinsam kämpfen, werdet ihr euch früher oder später begegnen. Ich würde mir wünschen, dass dieses Zusammentreffen ohne Konsequenzen bleibt. Was nach diesem Krieg mit dem Relikt geschieht, das er an sich nahm, kann anschließend geklärt werden.“ Riell schluckte seine aufkeimende Wut hinunter. Das war einfacher gesagt als getan. Noch zu gut hatte er Keiro in Erinnerung. Den Kerl, der so viel von ihnen bekommen und anschließend alles mit Füßen getreten hatte. Nach dem Angriff auf sein Dorf hatten sich die Schattentänzer seiner angenommen, ihm geholfen, gesund zu werden. Sie hatten ihm ein Heim gegeben, in gewissem Maße eine Familie... dann hatte er erst begonnen, sämtliche Ansichten des Clans in Frage zu stellen, ehe er plötzlich einfach verschwunden war. Doch nicht nur das, dieser Bastard hatte auch noch das Relikt, ein Heiligtum der Schattentänzer, mit sich genommen! Und darüber sollte Riell einfach hinweg sehen? War sich der Pharao eigentlich bewusst, was er da verlangte? Er schloss für einen Moment die Augen und konzentrierte sich auf die Schwärze seiner Lider. Dabei atmete er bewusst ein und aus. Vielleicht hatte der Herrscher Ägyptens recht. Es war wohl wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, um über Dinge zu streiten, die so weit zurück lagen. Zumal er fürchtete, eine Widerrede könne sein Gegenüber erzürnen. Als Atemu soeben von Keiro gesprochen hatte, war Riell nicht entgangen, dass er, was diesen Tunichtgut anging, wohl eine gewisse Sympathie für den Scharlatan hegte. „Ihr habt Recht, Pharao“, erwiderte er daher. „Das Wichtigste ist, dass sich das Artefakt in Sicherheit befindet.“ Insgeheim schwor er sich jedoch, sich Keiros anzunehmen, sobald der feindliche Feldherr in die Flucht geschlagen war. Dann würde er sich nicht mehr zurück halten. Dann würde dieser Bastard bekommen, was er verdient hatte... Sie wurden unterbrochen, als zwei Personen den Raum betraten. „Da seid ihr ja endlich!“, meinte Joey auch sogleich. „Wo habt ihr gesteckt?“ „Wie gesagt, ich habe ein wenig Ruhe gebraucht“, erklärte Ryou, dem Bakura in das Zimmer folgte, ehe sein Blick zu dem fremden Mann am Tisch glitt. „Ähm... hallo“, fügte er darauf hin hinzu. „Wenn ich euch bekannt machen darf“, sagte Yugi. „Das ist Riell, das derzeitige Oberhaupt der Schattentänzer. Keine Sorge“, fuhr er auf den erstaunten Blick seines Freundes hin fort. „Der Clan wird uns von nun an im Kampf gegen Caesian unterstützen. Riell? Das sind Ryou und Bakura.“ „Bakura? Der König der Diebe?“, erkundigte sich der Neuankömmling und musterte sein Gegenüber eindringlich. „In der Tat“, erwiderte der Grabräuber und ließ sich auf einem Stuhl nieder. „Irgendwelche Einwände, Schattentänzer?“ Riell schüttelte rasch den Kopf. „Nein, nein. Ich bin nur überrascht... Man munkelte, Ihr wärt nicht mehr. Man sollte Gerüchten einfach keinen Glauben schenken. Für mich seht Ihr jedenfalls sehr... lebendig aus.“ „Das bin ich, allerdings“, erwiderte Bakura gelangweilt und gähnte. „Also, worum geht es gerade?“ Der Schattentänzer konnte den Blick noch immer nicht von dem Grabräuber wenden. Erst, als man sich erkundigte, ob alles in Ordnung sei, erwachte er aus seiner Starre. „Gewiss“, beteuerte Riell rasch. „Ich bin nur überrascht. Es scheint tatsächlich keine Partei in ganz Ägypten zu geben, die Caesian wohlwollend gegenüber steht.“ „Wundert Euch das?“, meinte Seto. „Nicht im Geringsten“, entgegnete der Schattentänzer. „Leute? Ich hätte da eine Idee, was die Suche nach den Gegenständen angeht“, meldete sich Yugi zu Wort. „Die Götter stehen doch für verschiedene Dinge? Eigenschaften, Elemente, das alles? Vielleicht könnte das ein Hinweis auf den Verbleib der Relikte sein.“ „Darüber haben wir auch schon nachgedacht“, bestätigte Riell. „Leider erfolglos.“ „Was nicht heißt, dass die Artefakte nicht zu finden sind“, mischte sich Tea ein. „Nur weil jemand noch nicht auf die Lösung des Rätsels gekommen ist, muss das nicht heißen, dass es keine gibt. Wofür steht beispielsweise Ra?“ „Ra ist der Gott der Sonne“, erwiderte Seto. „Gottheit der Sonne...“, murmelte Marik. „In Ägypten gibt es keinen Fleck, an dem sie nicht scheint. Sie bringt Furchtbarkeit mit sich ... das könnte sich auf die Gegend um den Nil herum beziehen.“ „Ein ganz schön großes Gebiet“, meinte Ryou. „Wartet!“, rief Mana plötzlich. „Wir suchen doch auch nach dem Stirnreif der Isis, nicht?“ „Blitzmerker“, kommentierte Bakura, doch der Einwurf wurde ignoriert. „Seto! Könnt Ihr Euch noch an die Bauerarbeiten vor einigen Jahren erinnern?“ Der Hohepriester zog eine Augenbraue nach oben. „Du sprichst von den Arbeiten am Tempel?“ „Ganz genau! Mein Pharao, vor einigen Jahren sollte in den Nilsümpfen ein Heiligtum zu Isis Ehren errichtet werden. Den Standort wählte man, weil sie in den Sümpfen Horus gebar.“ „Sollte gebaut werden?“, erkundigte sich Joey. „Das heißt, er ist nicht fertig gestellt worden?“ „Nein“, bestätigte die Hofmagierin. „Es kam immer wieder zu Unfällen. Schließlich glaubte man, ein Fluch würde über den Sümpfen liegen. Die Arbeiten wurden eingestellt. Seitdem steht dort eine unfertige Ruine.“ „Vielleicht hat Isis dort nicht nur Horus zur Welt gebracht“, überlegte Yugi. „Vielleicht hat sie dort auch etwas zurück gelassen. Etwas, das nicht gefunden werden sollte.“ „Einen Versuch ist es wert“, entschied Atemu. „Im Schutz der Nacht werden wir aufbrechen.“ „Geht die Straße entlang bis zum Palast! Im Vorhof des Gebäudes werden wir Unterschlupf finden!“ Immer wieder schallte Kipinos Stimme über die kleine Karawane hinweg, damit auch jeder die Anweisungen verstand. Zu erleichtert war er gewesen, als sein Herr am späten Nachmittag zu ihnen zurückgekehrt war und mitteilte, seine Verhandlungen seien erfolgreich gewesen. Sofort hatten sie sich auf den Weg nach Men-nefer gemacht. Auch, wenn das Misstrauen noch nicht aus den Herzen der Schattentänzer gewichen war, so waren sie doch alle froh, nicht noch eine Nacht in der Wüste ausharren zu müssen. Ohne Nahrung und in bitterer Kälte. Kipino folgte der Karawane schließlich in Richtung des Palastes. Ihm entgingen dabei die misstrauischen Blicke der Stadtbewohner nicht. Im Vorhof angekommen, sah er sogleich die großen Zelte, die man für den Clan aufgestellt hatte. Für gewöhnlich wurden diese auf Feldzügen als Unterkünfte für die Soldaten verwendet, doch da es derzeit die Ägypter waren, die belagert wurden, wurden sie nicht gebraucht. Während die Schattentänzer erschöpft und erleichtert begannen, die Schlafplätze unter sich aufzuteilen, eilte Kipino zu ihrem amtierenden Oberhaupt hinüber, das er soeben am anderen Ende des Hofes im Schatten entdeckt hatte. Dort saß der Sohn Reshams am Boden, lehnte an einer Wand. „Euer Hoh... ich meine, Riell!“, korrigierte er sich schnell, als ihn ein mahnender Blick seines Gegenübers streifte, dem ein Lächeln folgte. „Setz dich“, wurde er aufgefordert. Als er sich niedergelassen hatte, fuhr Riell fort. „Sind sie alle vollzählig?“ Ein Nicken bejahte die Frage. „Das sind sie. Und sie alle sind erleichtert. Dank Euch... ich meine, dank dir haben sie neuen Mut gefasst.“ „Ich habe nur meine Pflicht getan. Aber vielleicht kann ich ihnen bald noch ein wenig mehr Hoffnung schenken“, erwiderte Riell. Ein skeptischer Blick Kipinos ließ nicht lange auf sich warten. Der Sohn Reshams senkte die Stimme, ehe er eine Antwort gab. „Der Pharao wusste bereits von der Existenz der Relikte, ehe ich auftauchte. Denn eines von ihnen ist im wahrsten Sinne des Wortes wie von selbst zu ihm gekommen.“ „Aber woher kann er davon wissen? Das ägyptische Königshaus hat die Gegenstände doch schon vor langer Zeit als Legende abgetan. Und was meinst du mit...?“ Als sich ihre Blicke trafen, verstummte Kipino augenblicklich. Für einen Moment starrten sie sich an. Dann weiteten sich die Augen des niederen Schattentänzers. „Er...?“ „So ist es. Offenbar hat Seth meine Gebete nicht erhört. Ansonsten wäre er nicht mehr am Leben. Aber nun wissen wir wenigstens, wo sich das Amulett der Bastet befindet. Nämlich direkt hier, im Palast Men-nefers. Wie es scheint, dient der gute Keiro nun dem Pharao. Von ihm hatte der amtierende Herrscher all das Wissen um die Relikte, das nicht von uns stammt.“ „Aber weshalb hilft er ihm? War es nicht das Königshaus, das einst sein Dorf zerstörte?“, rätselte Kipino. „Ich habe die Denkweise dieses Kerls noch nie verstanden. Im Endeffekt ist es auch völlig egal. Er mag ein Bastard sein, doch ich bin eigentlich froh, dass er wieder aufgetaucht ist. Das gibt uns eine Möglichkeit, das zurück zu bekommen, was uns gehört. Sobald dieser Krieg vorüber und die anderen Artefakte in Sicherheit sind, werden wir uns seiner annehmen. Diesmal wird er uns nicht entkommen.“ Mit diesen Worten erhob sich Riell und strich sein Gewand glatt. „Könntest du dich darum kümmern, dass alle genug zu essen bekommen? Ich habe da noch etwas zu erledigen.“ „Gewiss, ich werde dafür Sorge tragen“, erwiderte Kipino. „Musst du noch einmal mit dem Pharao sprechen?“ „Nein. Der ist mit der Planung für die Suche nach Isis Reif beschäftigt. Ich habe da noch ein persönliches Anliegen, das nach Klärung verlangt...“ Grummelnd schritt Keiro durch die Flure des Palastes. Sein Plan war vollkommen nach hinten los gegangen. Er hatte geglaubt, dass Riell vielleicht nur mit dem Pharao würde sprechen, ihn eventuell um Hilfe bitten wollen. Aber dass er direkt darum bat, den Clan in den Schutz Men-nefers aufzunehmen? Gewiss, er kannte den jungen Mann und wusste, dass er einen großen Brocken Nachsicht und Bescheidenheit von seinem Vater geerbt hatte. Doch damit hatte Keiro nicht gerechnet. Er wusste, wie der Schattentänzer über das Königshaus dachte und hatte deshalb nicht einmal zu träumen gewagt, dass er eine derartige Bitte an den Pharao richten könnte. Er blieb stehen und fuhr sich nervös durch die Haare. Er musste Ruhe bewahren. Soweit er informiert war, waren lediglich Riell, Kipino und einige Clanmitglieder von niedrigem Rang in die Stadt gekommen. Resham und seine Tochter galten seit dem Angriff auf die Schattentänzer als verschwunden. Vielleicht waren sie gar nicht mehr am Leben. Eigentlich konnte er, trotz dieses Rückschlags, von Glück sprechen. Es hätte noch schlimmer kommen können. Wäre Risha ebenfalls hier aufgetaucht... die Katastrophe wäre perfekt gewesen. Im Gegensatz zu ihrem Stiefbruder war sie wahnsinnig temperamentvoll. Hätte sie erfahren, dass sich Keiro in Men-nefer befand, sie hätte ihn ohne Umschweife gesucht und ihm höchstwahrscheinlich die Kehle durchgeschnitten. Dass er das Relikt einst gestohlen hatte, würde sie ihm nie verzeihen, das wusste er. Keiro seufzte. Aber es war nicht nur das... Für einen Moment schloss er die Augen. Selbst wenn sie nicht hier war, musste er vorsichtig sein. Auch Riell wäre in der Lage, das, was er in so kurzer Zeit zurück gewonnen hatte, mit einem Schlag zu zerstören. Es bedurfte dafür nur einiger Worte. Aber so weit würde er es nicht kommen lassen. Er sah auf, als er Schritte hörte. Sogleich spielte ein Lächeln auf seinen Lippen. Es war Bakura, der sich ihm näherte. „Ich habe dich gesucht“, sagte der Grabräuber, als er ihn erreichte. „Wo hast du gesteckt?“ „Ich war in meinen Gemächern. Wie du ja bereits wissen dürftest...“ „Ja, die Schattentänzer“, unterbrach Bakura seinen Bruder. „Das Vergnügen hatte ich bereits.“ Keiro musterte ihn aufmerksam. „Inwiefern?“ Sein Gegenüber zuckte mit den Schultern. „Bin dabei gewesen, als sich dieser Riell mit unserem großen König unterhalten hat. Komischer Kerl.“ Der Blick des Anderen ruhte weiterhin auf ihm. „Was meinst du damit?“ „Keine Ahnung“, erwiderte der Grabräuber und lehnte sich gegen die Wand. „Ich brauche nicht immer einen Grund, um jemanden nicht zu mögen. Manchmal sagt mir das einfach meine Intuition.“ Er schwieg einen Augenblick, ehe er fortfuhr. „Außerdem weiß ich, wie sie zu dir stehen. Denkst du, sie sind wirklich aus einer Notlage heraus nach Men-nefer gekommen? Oder könnte es etwas mit dir zu tun haben?“ Keiro ließ sich die Worte durch den Kopf gehen, schüttelte diesen jedoch kurz darauf. „Das glaube ich nicht. Woher hätten sie wissen sollen, dass ich hier bin? Des Weiteren kenne ich sie. Sie würden sich niemals solch eine Blöße geben, nur um an mich heran zu kommen. Nein, wäre es ihnen um mich gegangen, hätten sie andere Mittel und Wege gefunden.“ Bakuras Blick wurde noch eine Spur ernster. „Sollten sie Ärger machen, dann...“ „Ganz ruhig“, lachte Keiro und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Mach dir um mich keine Sorgen. Ich bin schon groß, weißt du?“, fügte er zwinkernd hinzu. „Was du nicht sagst“, erwiderte Bakura feixend, dann seufzte er. „Entschuldige mich bitte, aber irgendwie fühle ich mich noch nicht ganz fit. Ich denke, ich sollte noch ein wenig pennen.“ „Pennen?“, erkundigte sich sein Bruder, dem das Wort nicht geläufig war. „Schlafen. Ich meine schlafen“, korrigierte sich der Grabräuber rasch, dann hob er noch die Hand zum Gruß und entfernte sich. Zurück ließ er einen Keiro, der noch immer verdutzt drein sah. Schließlich nahm seine Miene jedoch wieder den sorgenvollen Ausdruck an, der sie auch schon vor dem Erscheinen Bakuras geziert hatte. Mit gesenktem Blick ging auch er seinen Weg weiter. Nach kurzer Zeit musste er allerdings schmunzeln. 'Pennen'. Interessante Worte waren das, die sein Bruder da benutzte. Woher hatte er die wohl? Keiro waren sie jedenfalls nicht geläufig. Er schritt unter einem Durchgang hindurch und betrat somit einen Hof des Palastes. Für einen Moment genoss er den Wind, der mit seinen Haaren spielte, dann wandte er den Blick gen Himmel. Hätte er Bakura nicht unter anderen Umständen wiedersehen können? In einer Zeit, da es keinen Krieg und keine Schattentänzer in ihrem Leben gab? Er schreckte aus seinen Gedanken, als er ein Geräusch hörte. Gehetzt sah er sich um, entdeckte jedoch nichts. Dann ging alles schnell. Jemand packte ihn am Gewand, dann fand er sich an die nächste Mauer gepresst wieder. Als er den ersten Schock überwunden hatte, verfinsterte sich seine Miene schlagartig. „Riell...“ „So sieht man sich wieder, was, Keiro?“, antwortete sein Gegenüber mit drohender Stimme, seine Augen funkelten angriffslustig. „Ja, in der Tat. Welch wundervoller Augenblick“, erwiderte er sarkastisch. „Was glaubst du, wird der Pharao sagen, wenn er erfährt, dass du versuchtest, mir das Relikt zu nehmen, hm? Immerhin wurde ich von ihm höchst persönlich gebeten, darauf Acht zu geben. Ich glaube kaum, dass er euch dann noch Asyl gewähren wird.“ „Keine Sorge“, zischte Riell. „Die Geschichte mit dem Artefakt hat Zeit bis nach dem Krieg. Mir geht es um etwas ganz anderes- das weißt du genau so gut, wie ich es tue.“ „Ich habe keine Ahnung wovon du sprichst“, gab Keiro zurück. „Ach nein? Ist das so, ja?“ Kaum, dass der Schattentänzer die Worte gesprochen hatte, packte er sein Gegenüber fester am Kragen, wirbelte mit ihm herum und stieß ihn gegen die nächste Säule, die die Mauern zierte. „Versuch nicht, mich zum Narren zu halten! Du kannst von Glück sprechen, dass es nur ich bin, der mit ansehen muss, was für Spielchen zu treibst. Sie würde sich nicht so zügeln, wie ich es gerade tue. Und glaub mir, diesmal würde ich nicht versuchen, sie zu beschwichtigen.“ Keiros Augen weiteten sich. Es war ihm nicht entgangen... er hatte es mitbekommen. Er schluckte. Aber vielleicht gab es doch noch eine Chance... „Wovon sprichst du?“, fragte er schließlich. Am Blick seines Gegenüber erkannte er jedoch gleich, dass das nicht helfen würde. „Ich habe euch beobachtet. Hältst du mich für auf den Kopf gefallen? Sein Name. Die Ähnlichkeit mit dir. Euer Gespräch. Das alles kann kein Zufall sein.“ Er stockte, als Keiro gluckste. Diese Reaktion machte ihn nur noch wütender. „Seit wann weißt du, dass er am Leben ist?“, schrie er. „Das geht dich nichts an“, zischte der Weißhaarige. „Es geht mich sehr wohl etwas an!“, brüllte Riell zurück. „Denkst du wirklich, ich setze meinen Bruder freiwillig dem Einfluss von einem Haufen geisteskranker Gottesanbeter aus? Er hat die Ereignisse von damals nicht verarbeitet und da soll ich ihn in die Arme einer Sekte treiben? Nur über meine verdammte Leiche!“ Der Griff des Schattentänzers wurde noch fester. „Pass auf, wie du über uns sprichst“, flüsterte er drohend. „Ich rede über euch, wie es mir passt! Ich habe gesehen, was ihr aus einem Menschen macht! Das war wirklich ganz tolle Arbeit, Riell. Immerhin zählt Risha inzwischen zu den Wahnsinnigsten unter euch.“ Eine Faust traf Keiro im Gesicht. Stöhnend ging er zu Boden, versuchte aber gleich wieder, sich aufzurichten. Der Schattentänzer stand mit bebendem Körper über ihm. „Sprich nie wieder so über meine Schwester! Und hör mir jetzt genau zu. Du weißt ebenso gut wie ich, dass sie nicht tot ist. Sie wird uns finden und nach Men-nefer kommen. Noch hast du Zeit. Das ist deine letzte Chance. Der einzige Grund, warum ich nicht die Karten auf den Tisch lege, ist, dass ich keine Familie zerstören will. Nein, das brauche ich gar nicht tun. Du bist auf dem besten Weg, das selbst zu bewerkstelligen. Aber noch kannst du umkehren. Und ich würde dir raten, das schleunigst zu tun. Ansonsten bin ich dein geringstes Problem. Wenn sie heraus findet, dass du geschwiegen hast, wird sie dich töten.“ Mit diesen Worten machte Riell auf dem Absatz kehrt und verschwand in Richtung des Lagers, das für den Clan errichtet worden war. In diesem Moment fasste Keiro einen Entschluss. Die Nacht senkte sich über Ägypten wie ein Tuch von schwarzem Samt. Die kleine Gruppe hatte sich an einem Tor der Stadt versammelt, das von Caesians Lager aus nicht einzusehen war. „Passt ja auf euch auf!“, mahnte Marik, während er Joey dabei zusah, wie dieser versuchte, auf den Rücken eines Pferdes zu steigen. „Keine Sorge. Wir werden vor Anbruch des Tages wieder zurück sein. Es ist nicht weit“, erwiderte Mana, die das Treiben des Blonden ebenfalls skeptisch beobachtete. Sie saß, ebenso wie alle anderen, bereits auf ihrem Reittier. Der Trupp, der nach dem Reif der Göttin Isis suchen sollte, bestand aus Atemu, Yugi, Tea, Joey und der Hofmagierin, während Ryou und Marik, ebenso wie Seto, zurückblieben, um die Stadt zu beschützen, sollte etwas passieren. „Soll ich Euch nicht doch lieber begleiten, mein König?“, erkundigte sich der Hohepriester abermals. Der Pharao schüttelte den Kopf. „Nein. Ich brauche während meiner Abwesenheit jemanden, der das Geschehen in Men-nefer lenkt. Einen Stellvertreter. Und da es Euch in den letzten beiden Jahren gelungen ist, die Stadt hervorragend zu leiten, seid Ihr der Einzige, dem ich diese Aufgabe guten Gewissens übertragen kann. Außerdem muss jemand ein Auge auf Bakura und Marlic haben, nicht dass sich die beiden wieder an die Gurgel gehen.“ Er sah sich nach seinen Freunden um. „Mir scheint, als seien wir bereit. Lasst uns aufbrechen.“ Das Tor wurde geöffnet. Eilig ritten sie in die Nacht hinaus, bis das Grün des Nilufers sie vor Blicken schützte. Die Vegetation zu beiden Seiten des Flußes war üppig und des Nachts noch undurchdringlicher. Sie konnten ihren Weg zumeist nur erahnen. Auch Manas Zauberstab, der ihnen ein wenig Licht spendete, konnte die Schatten nicht gänzlich zurück treiben. Zumal sie sich nicht leisten konnten, aufzufallen. Immer wieder blickte sich Atemu nach seinen Freunden um. Eigentlich hatten er und die Hofmagierin alleine gehen wollen, doch wie schon so oft hatten sie sich nicht davon abbringen lassen, ihnen zu helfen. Er musste lächeln. Auf diese Menschen konnte er sich wahrlich verlassen. Er hörte, wie eines der Pferde seine Schritte beschleunigte. Als er sich umsah, hatte Tea zu ihm aufgeschlossen. „Was gibt es?“, erkundigte sich Atemu. „Ach, nichts Wichtiges...“, erwiderte die junge Frau und wandte den Blick zum Nil. „Weißt du, ich finde es nur so schade. Dieses Land ist wunderschön. Es sollte nicht vom Krieg erschüttert werden.“ „Das ist wahr“, gab der Pharao betrübt zurück. „Es ist traurig, dass ich nie die Gelegenheit hatte, euch meine Heimat in voller Blüte zu zeigen. Auch diesmal scheint daraus nichts zu werden.“ „Ach was!“, meinte Tea zuversichtlich. „Wenn das alles vorbei ist, müssen wir doch eh erst einmal sehen, wie wir wieder in unsere Zeit zurück kommen. Und bis dahin haben wir bestimmt genügend Möglichkeiten, uns dein Reich in friedlichen Zeiten anzusehen.“ Atemu lächelte. „Das wäre schön, ja. Aber du brauchst nicht zu verbergen, dass du dich sorgst.“ Die junge Frau blinzelte. „Was meinst du?“ „Ich weiß, dass ihr euch ebenso über unser Wiedersehen freut, wie ich es tue. Aber mir ist vollkommen klar, dass ihr euch Gedanken darüber macht, wie ihr ins 21. Jahrhundert zurück kommt. Ihr könnt ja nicht auf ewig hier bleiben. Ihr müsst irgendwann wieder an euren Platz in dieser Welt heimkehren.“ Tea senkte den Blick. „Ja, so ist es. Ich meine, ich freue mich wirklich wahnsinnig, dass wir uns wiedergesehen haben, aber irgendwann...“ Sie verstummte, als ihr Atemu eine Hand auf den Unterarm legte. „Du brauchst dich nicht zu erklären. Manche Dinge versteht man besser ohne Worte. Ich weiß genau, was du meinst.“ Das Mädchen erwiderte das aufmunternde Lächeln, das er aufgesetzt hatte, da drang Manas Stimme an ihre Ohren, die kaum mehr als ein Flüstern war. „Wir sind da.“ Sie zügelten die Pferde und stiegen von ihren Rücken. Der Grund unter ihren Füßen war weich. „Wie konnte man auf solchem Boden versuchen, einen Tempel zu errichten?“, wunderte sich Yugi. „Wir haben ihn trocken gelegt. Doch nachdem das Vorhaben aufgegeben wurde, kümmerte sich natürlich auch darum niemand mehr“, gab die Hofmagierin zur Antwort. Sie ließ ihr Zepter noch ein wenig stärker glühen und forderte die Gruppe auf, ihr zu folgen. Unsicher setzten sie einen Fuß vor den anderen. Immer wieder lagen behauene Steinbrocken im Weg, die die Arbeiter zurück gelassen hatten, nachdem man den Bau abgebrochen hatte. Eine unheimliche Atmosphäre lag über diesem Ort, die noch verstärkt wurde, als sich schließlich die Ruinen, die einst ein Heiligtum hätten werden sollen, aus der Nacht schälten. Die Wände waren – wenn überhaupt – nur bis zur Hälfte hochgezogen worden. Viele Steine hatten sich aus der Fassade gelöst und lagen nun zu ihren Füßen. Pflanzen überwucherten die Reste. Der Wind blies unablässig, brach sich in den Winkeln und Löchern der Mauern und verursachte gespenstische Laute. Tea lief ein eiskalter Schauer den Rücken hinab. „Irgendwie gruselig, findet ihr nicht?“ „Ach was!“, meinte Joey. „Also mir macht das nichts aus!“ In eben diesem Moment trat er auf etwas und blieb abrupt stehen. Auch Mana hatte das Knacken unter seinen Füßen gehört. Mit ihrem Zepter erleuchtete sie den Boden- und sprang Atemu beinahe an den Hals, als der Blonde einen erschütternden Schrei ausstieß und sich fluchtartig hinter Tea versteckte. Auch Yugi zuckte zusammen. „We... we... wem gehört der?“, rief Joey panisch und deutete zitternd auf den Knochen, der unter seinem Gewicht gebrochen war. Die Hofmagierin beugte sich hinab und betrachtete das Fundstück genauer. „Einem Kamel, wie es aussieht“, meinte sie schließlich und warf dem Blonden einen bösen Blick zu. „Erschreck mich nie wieder so wegen einem verdammten Kamelknochen, hast du gehört?“, fauchte sie, stand auf und marschierte weiter. Die anderen seufzten, außer Joey natürlich, der sich zu verteidigen versuchte, und folgten ihr. Einen Moment zögerten sie noch, dann betraten sie die Überreste des Tempels. Pfützen hatten sich zwischen den Mauern gesammelt, die kein Dach trugen. Das Rauschen des Nils hallte von den Wänden wider. Hier wirkte das Säuseln des Windes gleich noch gruseliger. Suchend sahen sie sich um. „So weit, so gut. Jetzt müssen wir nur noch etwas Glück haben...“, murmelte Mana. „Wie meinst du das?“, erkundigte sich Atemu. „Nun, wenn der Nil manchmal über die Ufer tritt, dann überschwemmt er auch diese Ruinen. Wir müssen hoffen, dass die Flut das Artefakt nicht mit sich genommen hat.“ Sie kniete nieder, legte den Stab beiseite und begann, mit den Händen in der feuchten Erde zu wühlen. Auf den erstaunten Blick der anderen hin, verdrehte sie die Augen. „Was ist, wollt ihr nur da herum stehen und mir zuschauen? Wenn das Relikt irgendwo hier ist, dann ist es bestimmt im Boden verborgen.“ Endlich folgte auch der Rest ihrem Beispiel und begann, zu graben. „Wie tief kann das Teil eigentlich liegen?“, fragte Joey, dessen Hände bald dunkel vom Schmutz waren. „Die Legende ist schon sehr alt, demnach könnte es sich ziemlich weit unten befinden“, erwiderte Mana. „Aber es ist unsere einzige Möglichkeit. Wenn wir hier mit Arbeitern und Werkzeugen aufmarschieren, wird es Caesian nicht verborgen bleiben.“ Auch Tea schaufelte fleißig Erde beiseite. Zum Glück hatte dieser Tempel nicht allzu groß werden sollen. Die Wände maßen etwa fünf Meter in der Breite und sieben in der Länge. Das schränkte ihr Suchgebiet deutlich ein. Und dennoch war ungewiss, ob sie dem Relikt tatsächlich auf der Spur waren. „Ich hab da ne' Idee“, meinte Joey nach einer Weile. „Yugi, hilfst du mir mal?“ Der Blonde führte den Kleineren zu einer Nische hinüber, in der er etwas erspäht hatte. Ein altes Leinentuch, das schon unzählige Löcher aufwies, dafür jedoch sehr groß war. „Perfekt! Da können wir die Erde drauf werfen und sie anschließend hier raus schaffen. So können wir uns Stück um Stück vor arbeiten.“ Der Vorschlag fand allgemeine Zustimmung. Von nun an schafften sie den losen Untergrund auf das Tuch, ehe sie ihn mit vereinten Kräften nach draußen schleppten und dort abluden. „Sag mal...“, meinte Tea an Mana gewandt, während sie abermals niederkniete, um weiter zu buddeln. „Hast du vorhin nicht gesagt, man hielt diesen Ort für verflucht, weil während der Bauarbeiten so viele Unfälle passierten? Wenn das mit dem Relikt zusammen hängt, könnte es doch sein, dass es sich auch gegen uns wendet, oder?“ Die Antwort erhielt sie nicht von der Hofmagierin, sondern von Atemu. „Das denke ich nicht. Die Götter wissen, wie es um das Schicksal Ägyptens bestellt ist. Und sie werden wissen, dass wir versuchen, zu helfen.“ „Schon komisch...“, sagte Joey. „Wisst ihr, wir haben schon so viele seltsame Dinge erlebt. Aber ich hätte nie gedacht, dass ich einmal mit euch allen in einer vergammelten Ruine sitze und den Erdboden mit meinen blanken Händen umgrabe. Eigenartig, was manche Situationen für Maßnahmen erfordern.“ „Das stimmt allerdings“, nickte Yugi. „Ich spüre meine Finger schon gar nicht mehr.“ „Das spielt jetzt keine Rolle“, warf Tea ein und sah den Kleinsten in der Gruppe ernst an. „Wir müssen das Artefakt finden.“ Der Junge mit der stachligen Frisur war derselben Meinung. „Ja, du hast natürlich recht.“ „Ich fürchte, daraus wird nichts...“ Die eiskalte Stimme ließ sie alle zusammen fahren. Sekunden später waren sie auf den Beinen und blickten in Richtung der Öffnung, durch die sie in die Ruine gekommen waren. Sofort wichen sie einige Schritte zurück, während sie zueinander aufschlossen. Ihnen gegenüber stand niemand anderes als Caesian, umgeben von zahlreichen Kriegern. „Wie schön, dass ihr schon einen Teil der Arbeit für mich erledigt habt. Aber an dieser Stelle übernehme ich“, sagte der feindliche Herrscher und trat etwas weiter in das unfertige Heiligtum hinein. „Was schaut ihr denn so grimmig?“ Joey klappte seinen Diadiankh aus. „Nur über unsere Leichen, Alter!“ „Wie hast du uns gefunden?“, schnauzte Mana den Feind indes an. „Nun, man könnte sagen, ich habe meine Augen und Ohren überall. In Form von überaus verlässlichen Spähern versteht sich“, erwiderte Caesian grinsend. „Endlich stehen wir uns einmal persönlich gegenüber, Pharao. Allerdings bin ich von Eurer Erscheinung etwas enttäuscht. Ein König, übersät mit Schmutz... obwohl, eigentlich passt es ja zu Euch! Auch diese Arbeit. Immerhin werdet Ihr künftig vor mir im Staub knien“, fuhr er höhnisch fort. Atemu warf seinen Umhang zurück. „Mein Aussehen wird dein kleinstes Problem sein, wenn ich mit dir fertig bin!“, fauchte er. Im selben Moment durchzuckte ein greller Schein die Nacht. Die Freunde wurden von den Füßen gerissen und in verschiedene Ecken der Ruine geschleudert. Der Angriff war direkt in ihrer Mitte eingeschlagen. Caesians Lachen drang an ihre Ohren. „Ich würde ja wirklich gerne ein wenig mit euch spielen. Aber dafür bleibt später noch Zeit. Wisst ihr, ich habe da zunächst ein Land zu erobern!“ Er reckte das Zepter in die Höhe. Sofort frischte der Wind auf. Böen peitschten über die am Boden Liegenden hinweg. Sand und Erde wurden aufgewirbelt, die Palmen wiegten sich im Sturm. Wellen trieben über den nahen Nil. All das vermischte sich mit dem irren Gelächter des feindlichen Feldherrn. „Ich bin euch ehrlich dankbar, dass ihr mich zu einem Relikt geführt habt. Doch nun ist es vorbei!“ Immer mehr Sandkörner wurden in die Höhe gerissen, verschmolzen zu einer undurchdringlichen Mauer, die die Freunde einhüllte. Sie suchten an allem Halt, was sie finden konnten. Ritzen im Stein, Brocken auf dem Boden. Doch es half nichts. Irgendwann riss der Wind sie mit sich empor. ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ Ich hoffe, von der Länge her sind diesmal alle auf ihre Kosten gekommen. Ebenso denke ich, dass das Kapitel doch recht spannend war. ;) Und ja, ihr dürft Caesian hassen. Natürlich dürft ihr ihn auch lieben, von meiner Seite bestehen da keine Einwände, aber ich hoffe, er kommt wie ein schön gemeines Ar***loch rüber, denn so will ich ihn darstellen. *g* Ebenso dürfte ja nun klar sein, dass sich nicht nur Riell und Keiro kennen. Nein, wir haben hier ein Trio, Risha mischt da auch noch mit. An dieser Stelle aber direkt nochmal ein Hinweis: Ich habe NICHT vor, meine eigenen Charaktere mit irgendwelchen aus der Originalserie zu verkuppeln, ins Bett steigen zu lassen oder ähnliches! Danke für die Aufmerksamkeit. ;) [Nein, ich passe meine FF damit nicht den Wünschen der Mexx-Leser an (und verbiege mich damit), eine Lovestory solcher Art würde mir nur nicht ins Konzept passen. Hätte ich Lust, sowas zu schreibe, ich würde es tun. XP] Wir lesen uns im nächsten Kapitel! Sechmet Kapitel 18: Rettung ------------------- Rettung Langsam öffnete er die Augen. Sofort schloss er die Lider wieder. Die grelle Sonne blendete ihn. Er war nass vom Schweiß, der seinen Körper in Strömen hinunter floss. Sein Kopf schmerzte, ebenso seine Muskeln. Vorsichtig stemmte er sich hoch. Orientierungslos sah er sich um. Wo zum Teufel war er? Er kam endgültig auf die Beine, als er wenige Meter entfernt eine reglose Gestalt im Sand entdeckte. Hastig eilte er zu dem Mädchen hinüber. Er rüttelte sie an der Schulter. „Tea! Tea, wach auf!“ Die Braunhaarige schob stöhnend die Augen auf. „Joey? Was ist passiert?“ „Ich hab keine Ahnung...“ Der Blonde versuchte, sich zu erinnern. Nur langsam kehrten die Eindrücke wieder. Ihm blieb beinahe die Spucke weg. „Ach du Scheiße! Caesian!“, rief er aus und sprang auf. „Wir waren in dieser Ruine des Tempels und haben nach dem Relikt gesucht, dann ist der Typ plötzlich aufgetaucht!“ Auch Tea rappelte sich auf. „Ja, du hast Recht! Aber wie kommen wir hier her?“ „Na, er hat doch dieses Zepter benutzt.“ „Stimmt. Da war dieser Sturm... Er muss uns mit sich gerissen haben.“ Angst spiegelte sich in ihren blauen Augen, als sie sich umsah. Sie befanden sich in Mitten von Sand, dessen ewiges Tuch lediglich von einigen Felsen in der Nähe unterbrochen wurde. Die Sonne stand hoch am Himmel, sodass ihr ungeübtes Auge nicht sagen konnte, wie spät es wohl war. „Wo sind eigentlich die anderen?“ „Sie müssen von uns getrennt worden sein“, überlegte Joey. „Hoffentlich ist bei ihnen alles in Ordnung“, meinte Tea und der bange Ton in ihrer Stimme war dabei nicht zu überhören. „Mach dir keine Sorgen“, versuchte der Blonde sie zu beruhigen. „Ihnen wird nicht viel mehr passiert sein, als uns. Das einzige, was ich für möglich halte, ist, dass dieser Caesian es wohl geschafft hat, sich ein weiteres Artefakt unter den Nagel zu reißen... Insofern es wirklich in dem Tempel war“, fügte er säuerlich hinzu. „Aber jetzt müssen wir erst mal sehen, wie wir zurück nach Men-nefer kommen.“ Joey setzte sich in Bewegung, marschierte auf die Felsformation zu, die sich aus dem Sand erhob. „Vielleicht kann ich von dort oben aus etwas erkennen.“ „Sei aber bitte vorsichtig!“, mahnte Tea, als sie ihrem Freund dabei zusah, wie er sogleich am Stein hinauf kletterte, kaum, dass sie dessen Fuß erreicht hatten. Immer wieder rutschte er ab, wenn die feinen Sandkörner, die den Untergrund bedeckten, nachgaben. Letztendlich schaffte er es aber doch, die Klippe zu erklimmen. Eine kräftige Brise zerrte an seiner Kleidung und dem Haar. Seine braunen Augen wanderten prüfend umher. Hier und da wurde die Sicht behindert, da der Wind den Sand in Schwaden vor sich her trieb. Doch dann entdeckte er am Horizont einen schmalen, dunklen Streifen. Vielleicht war das der Nil? Einen Versuch wäre es wert. Immerhin war sein Mund trocken und sein Kopf schmerzte. Sie befanden sich hier in der größten Wüste der ganzen Welt, es wäre wohl schlau, sich zunächst zum Wasser vor zu kämpfen und anschließend dessen Lauf bis nach Men-nefer zu folgen. Immerhin lag die Stadt am Fluss. Er prägte sich einige Punkte ein, um die Orientierung zwischen all dem Sand nicht zu verlieren. Er atmete erleichtert auf. Bevor er einmal hier gewesen war, hatte er geglaubt, Wüsten seien Orte, die vollkommen flach waren und über Kilometer hinweg gleich aussahen. Auf einige Gegenden mochte das wohl auch zutreffen, aber zumeist hatte auch eine Wüste ihr ganz besonderes Antlitz. Er sah sich nach seiner Freundin um, wollte ihr zurufen, was er entdeckt hatte, da stockte er plötzlich. Hatte da soeben etwas geglitzert? „He, Tea! Sieht du das auch?“, schrie er und deutete in die entsprechend Richtung. Das Mädchen sah sich für einen Moment um, dann schüttelte sie den Kopf. „Wovon sprichst du?“, fragte sie. „Na das! Dieses Funkeln! Geh mal ein paar Schritte nach rechts... nein, nicht da lang, das andere rechts!“ Die Braunhaarige warf ihm einen argwöhnischen Blick zu, tat dann jedoch, wie ihr gehießen. „Und jetzt ein Stück nach hinten. Ja, genau da müsste es sein!“ Tea betrachtete den Boden eingehend, konnte auf den ersten Blick jedoch nichts erkennen, bis sie plötzlich etwas Spitzes in ihre Fußsohle stechen spürte. Hastig zog sie das Bein zurück. Was war das gewesen? Sie kniete sich nieder und tastete vorsichtig den Grund ab, bis sie erneut ein Pieksen spürte. Behutsam schob sie die Sandkörner beiseite. Was sie dann erblickte, verschlug ihr regelrecht den Atem. Ungläubig hielt sie es in die Höhe. „Joey! Joey, das musst du dir ansehen!“ Der Blonde rutschte mehr von der Felsformation herunter, als dass er kletterte. Unten angekommen war er mit wenigen Sätzen bei Tea. Diese hielt ihm sofort unter die Nase, was sie gefunden hatte. Es war ein wunderschöner, glänzender Stirnreif, gefertigt aus purem Gold, dessen Oberfläche das Licht der Sonne reflektierte. Er war außen aufwendig verziert, die Innenseite besetzt mit zahlreichen Hieroglyphen. „Mich tritt ein Pferd!“, stöhnte Joey. „Das ist doch nicht etwa eines von diesen Relikten, oder?“ „Es wäre möglich!“, rief Tea erfreut und musterte das Fundstück eindringlich. „Ganz sicher bin ich mir natürlich nicht, aber es könnte doch gut sein. Da war es am Ende Caesians Plan, uns das Artefakt wegzunehmen, und dann hat er uns geholfen, es zu finden!“ „Krass... Wir sollten zusehen, dass wir es so schnell wie möglich nach Men-nefer bringen! Wenn das Ding wirklich von den Göttern geschaffen wurde, müssen wir es Atemu geben.“ Gemeinsam machten sie sich schließlich auf den Weg, dem Horizont entgegen, wo Joey den Nil vermutete. Entkräftet stemmte sie sich hoch. Noch immer umspielte das Wasser des Nils ihre Beine. Rasch entfernte sie sich vom Ufer und sank in einiger Entfernung am Stamm einer Palme zu Boden. Ihr Herz raste alleine aufgrund dieser minimalen Anstrengung. Wie lange sie hier wohl ohnmächtig gelegen hatte? Sie konnte von Glück reden, dass sie kein Krokodil gefunden und zu seiner Mahlzeit erklärt hatte.Was war eigentlich passiert? Ah ja, die Krieger Caesians. Der Sturz in den Nil. Mit hektischen Bewegungen griff sie sofort nach dem Dolch und beruhigte sich erst wieder, als ihre Finger das Gold ertasteten. Erleichtert atmete sie auf. Sie mochte mit ihren Kräften beinahe am Ende sein, doch das Artefakt war in Sicherheit. Außerdem würde sich ihre Spur durch die reißenden Fluten verloren haben. Müde ließ sie ihren Blick umher wandern und entdeckte einige Datteln, die neben ihr auf dem sandigen Boden lagen. Mit einer schlappen Bewegung angelte sie sich zwei der Früchte und rieb sie notdürftig mit den Händen ab, ehe sie hinein biss. Das Obst war bereits trocken, doch sie hatte schon früh lernen müssen, dass in der Not alles genießbar war. Der Geschmack, die Konsistenz, das Aussehen, das alles war völlig egal, solange es nur nicht giftig oder verdorben war. Nachdem sie das karge Mahl beendet hatte, lehnte sie sich gegen den Baumstamm. Die Müdigkeit presste ihre Lider hinunter. Ohnmacht war eben doch nicht zu vergleichen mit Schlaf. Ihr ganzer Körper schrie nach Ruhe, die sie ihm im Moment nicht geben konnte. Sie war hier völlig schutzlos. Sie durfte sich nicht einmal darauf einlassen, die Augen auch nur für wenige Sekunden zu schließen. Denn ihr war bewusst, dass sie dann weg dösen würde. Sie griff sich an die Brust, versuchte ihr schnell pochendes Herz alleine durch beruhigende Gedanken zur Ruhe zu zwingen, doch es wollte nicht gelingen. Ihr Kopf fühlte sich an, als wolle er zerspringen. Obgleich sie ein gutes Stück im Nil getrieben sein musste, war ihr Mund trocken. Sie konnte eigentlich von Glück reden, dass sie nicht ertrunken war. Plötzlich richtete sie sich ruckartig auf. Ihr ganzer Körper spannte sich an. Schritte. Automatisch griff sie nach den Dolchen- nur um festzustellen, dass jene beiden, die sie im Angesicht der Soldaten Caesians gezückt hatte, verschwunden waren. Den Göttern sei Dank trug sie immer insgesamt vier mit sich herum- quasi ein Paar als Ersatz. In Gefechten blieb nicht immer Zeit, die Klinge wieder auf dem Fleisch des Feindes zu ziehen, manchmal musste sie die Waffen auch werfen. Sie griff also nach den verbliebenen Dolchen und duckte sich im Grün des Nilufers. Es waren keine Reiter, dafür waren die Geräusche zu leise. Aufmerksam musterte sie die Umgebung, bis sie zwei Personen entdeckte, die – offenbar erleichtert – auf den Fluss zu eilten. Ein junger Mann mit blondem Haar, in Begleitung eines Mädchens. Zunächst dachte Risha an einfache Leute, doch ihre Kleidung, obgleich in schlechtem Zustand, sprach andere Bände. Übliche, ägyptische Gewänder, allerdings mit Stickereien besetzt, dafür aber verdreckt. Zudem Goldschmuck. Aber was taten sie hier, vollkommen alleine, in der Wüste? Sie knieten am Nil nieder, schöpften mit den Händen Wasser und tranken es gierig. Nach einer Weile ließen sie sich im Grün nieder, schienen sich auszuruhen. Offenbar ging von ihnen keine Gefahr aus. Risha atmete erleichtert aus – nur um im nächsten Moment erschrocken nach Luft zu schnappen. Das Mädchen... was sie da in Händen hielt... konnte es sein? Das war doch nicht möglich! Das war kein gewöhnlicher Reif, das hätte jeder Narr auf Anhieb erkannt. Nein. Das, was sie bei sich trug, war nichts anderes, als ein Relikt der Götter! Ohne es selbst zu merken, schüttelte sie den Kopf, zwang sich zur Ruhe. Dies waren keine Leute Caesians, ganz eindeutig. Aber wie kamen sie dann an das Artefakt? Und hatten sie eine Ahnung, worum es sich dabei eigentlich handelte? Sie entschied, dass dieser Punkt egal war. Sie hielten etwas in den Händen, nach dem die Schattentänzer schon seit Generationen suchten. Endlich war das verloren geglaubte Relikt aufgetaucht. Und Risha würde es sich nicht nehmen lassen... Im Augenblick hatte sie keine Nerven mehr. Ihre Geduld, ihre Kraft waren am Ende. Sie machte sich gar nicht die Mühe, sich an die beiden heran zu schleichen. Offensichtlich waren sie nicht bewaffnet. Sie umklammerte die Dolche fester, dann trat sie aus ihrem Versteck heraus und ging direkt auf die Personen zu. Als diese sie gewahrten, sahen sie überrascht auf. Risha entging nicht, dass das Mädchen hastig den Gegenstand unter ihrer Kleidung verbarg. Der junge Mann hingegen sprang auf die Beine. „Und ich dachte schon, in dieser Einöde gäbe es niemanden! Hallo, kannst du uns vielleicht helfen? Wir... äh... haben uns verlaufen und finden nicht mehr zurück nach Men-nefer. Weißt du, wo wir lang müssen?“, plapperte er auch sogleich los, während sie immer näher kam. Men-nefer? Interessant. „Ich mache euch einen Vorschlag“, entgegnete Risha zischend. „Ich sage euch, wohin ihr gehen müsst, und ihr gebt mir dafür das nette Stück Gold, das ihr bei euch tragt.“ Um ihre Worte noch zu unterstrichen, bewegte sie einen der Dolche in der Hand, sodass er im Sonnenlicht aufblitzte. Eigentlich gar nicht ihre Art, aber sie war zu schwach, um sich auf lange Spielchen einzulassen. Sie würde sich das Relikt krallen und verschwinden. Sie konnte an der Haltung ihres Gegenübers sofort erkennen, dass sie mit ihrer Annahme, sie seien unbewaffnet, richtig gelegen hatte. Er trat einen Schritt zurück. „Ähm... meinst du nicht, dass sei etwas viel verlangt für eine einfache Antwort?“ Risha legte den Kopf leicht schief. „Nicht im Geringsten.“ „Öh... unter diesen Umständen finden wir den Weg auch alleine, denke ich. Komm, Tea...“ Auch das Mädchen kam auf die Beine. „Also, ähm, dann danke für das Angebot und einen schönen Tag noch...“ Sie wandten sich ab und machten Anstalten zu verschwinden. Aber so einfach sollte es nicht werden. Zwar brannten Rishas Muskeln, als sie ausholte, doch sie durfte den Gegenstand auf keinen Fall aus den Augen verlieren. Die Klinge surrte durch die Luft, dann schlug sie nur wenige Fuß vor den beiden Fremden mit der Spitze voran in den Boden. Abrupt blieben die beiden stehen und fuhren herum. Die Schattentänzerin hatte den Moment der Ablenkung genutzt und zu ihnen aufgeschlossen. Nun hielt sie dem Blonden die verbleibende Waffe direkt an die Kehle. „Ich habe mich wohl undeutlich ausgedrückt...“, knurrte sie. „Dies ist ein Angebot, das ihr nicht ablehnen könnt.“ Zunächst waren ihre Opfer zu überrascht, der junge Mann fand seine Beherrschung jedoch schnell wieder. „He, ganz ruhig. Hör zu, das Ding ist wahnsinnig gefährlich, das könnte echt böse ausgehen. Das ist nicht irgendein Schmuck, vielleicht hast du schon davon gehört...“ Plötzlich zuckte Joeys Gegenüber zurück. Er brauchte einen Moment, um zu realisieren, was geschehen war. Dann klappte ihm ungläubig der Mund auf. Tea hatte den Augenblick genutzt, indem sich die Fremde vollkommen auf ihn konzentriert hatte und den Dolch ergriffen, der im Boden steckte. Anschließend war sie damit drohend nach vorne gesprungen, sodass ihre Angreiferin reflexartig zurück geschossen war. Dem Blonden war sofort klar, dass das Mädchen niemals daran gedacht hatte, ihr weh zu tun. Doch alleine die Drohgebärde hatte schon funktioniert. Mit beiden Händen umklammerte Tea die Waffe und richtete sie nach vorne. Für eine Weile rührte sich keiner von ihnen, dann spielte plötzlich ein amüsiertes Grinsen auf Rishas Lippen. Sie war offenbar geschwächter, als sie dachte. Sie hatten diesen Zug nicht kommen sehen. Aber wenn schon... die Haltung ihres Gegenübers sprach Bände. Offenbar hatte das junge Ding noch nie einen Dolch gehalten. Zugleich fiel ihr noch etwas auf. Das Mädchen trug ein eigenartiges, goldenes Gestellt am Arm. Was das wohl war? Im Endeffekt auch egal, sie hatte keine Zeit. „Ach komm schon, Kleines“, meinte Risha schließlich. „Du willst doch nicht wirklich versuchen, dich mit mir zu messen.“ Sie setzte sich in Bewegung, trat auf Tea zu, die an der Seite von Joey sofort zurück wich. „Wenn es sein muss, dann werde ich es tun“, erwiderte die Braunhaarige, wobei keinem der Anwesenden das Zittern in ihrer Stimme entging. Ein Lachen war die Antwort. „Sieht so aus, als hättest du Lust zu sterben!“ Mit diesen Worten sprang Risha nach vorne und schlug Tea den Dolch aus der Hand. Im selben Zug stieß sie das Mädchen in den Sand. Nur einen Augenaufschlag später war sie über ihr und presste ihr die Klinge an den Hals. „Rück das verdammte Relikt raus, Abschaum!“, fauchte die Schattentänzerin. „Das ist deine letzte Chance. Ansonsten bist du tot!“ „Das trifft wohl eher auf dich zu!“ Rishas Kopf schnellte empor. Keine Sekunde später machte sie einen Satz nach hinten, hinweg von dem fremden Mädchen, und entging somit dem schlanken, pechschwarzen Schweif, der sie beinahe in den Nil befördert hätte. Vor ihr bäumte sich ein gigantischer, dunkler Drache mit glühenden, roten Augen auf. Ihr Blick wanderte zu dem blonden Mann, dem das Vieh offenbar gehorchte. Auch er trug solch ein goldenes Gestellt am Arm, nur war es bei ihm aufgeklappt. Was war das nur für ein Ding? „Du willst also unbedingt spielen, ja?“, keifte Risha schließlich. „Das kannst du haben!“ Flammende Schwingen peitschten die Luft, als Cheron erschien. Der Pegasus mit dem schimmernden, weißen Fell stach empor, dann griff er an. Seine Flügel leuchteten kurz auf, dann schossen zwei brennende Sicheln dem schwarzen Rotaugendrachen entgegen. Dieser konterte mit einem Feuerball, woraufhin die Angriffe aufeinander prallten und sich gegenseitig aufhoben. „Hör zu!“, versuchte es Joey erneut. „Ich habe keine Ahnung, auf wessen Seite du stehst, aber diese Relikte sind wirklich sehr gefährlich. Wenn man sie falsch einsetzt, dann...“ „Erzähl du mir nichts von der Macht eines göttlichen Relikts, Made!“, fauchte Risha. „Rückt den Reif einfach raus und ich lasse euch am Leben, alles klar? Ansonsten wird euch mein Ka in Grund und Boden stampfen. Das schwöre ich bei Sachmet!“ Teas Augen weiteten sich, als es hinter ihrer Stirn zu arbeiten begann. Stop. Wo hatte sie diesen Namen einer Gottheit schon einmal gehört? Es war gewiss nicht im Geschichtsunterricht gewesen. Sie überlegte fieberhaft, als es ihr schlagartig wieder einfiel. Natürlich. Die Göttin des Krieges. Eine der höchsten Heiligen der Schattentänzer! „Du... du bist ein Schattentänzer, habe ich recht?“, sprach sie den Gedanken schließlich aus. Sie erntete einen verdutzten Blick von Joey, dem schleierhaft war, wie sie darauf kam. Ihr Gegenüber wirkte kurzzeitig ebenso überrascht, dann grinste sie jedoch erneut. „Allerdings. Und soll ich dir was verraten, Püppchen? Ich bin nicht irgendwer. Ich bin zweite in der Rangordnung unseres Clans. Was ich damit sagen will, ist, dass ihr keine Chance gegen mich habt!“ Nun war es der Blonde, bei dem es Klick machte. Sie war also Nummer zwei bei den Schattentänzern? Da kannten sie doch noch jemanden, der das von sich behauptete: Riell. Und dieser hatte erzählt, dass seine Schwester seit dem Angriff auf das Versteck des Clans verschwunden sei... „Moment mal. Du bist Reshams Tochter?“ „Wie ich sehe, eilt mir mein Ruf voraus...“, grinste Risha, was für ihr Gegenüber Antwort genug war. „Aber hey! Dann können wir uns diesen ganzen Kram hier sparen!“, rief Joey aus. „Was soll das heißen?“, erwiderte sie, während ihre Miene augenblicklich wachsam wurde. „Weil wir auf derselben Seite stehen!“, mischte sich Tea wieder ein. „Wir kennen deinen Bruder.“ „Aber natürlich!“, antwortete Risha zynisch. „Und Horus habt ihr wahrscheinlich auch schon getroffen, was?“ „Das ist kein Scherz!“, warf der Blonde ein. „Sie sagt die Wahrheit. Wir haben Riell kennen gelernt. Und zwar als er mit dem Rest eures Clans in Men-nefer Schutz suchte. Er hält sich noch immer dort auf und macht sich wahnsinnige Sorgen um dich!“ „Unsinn! Niemals würde einer von uns freiwillig einen Fuß in diese verdammte Stadt setzen!“, fauchte die Schattentänzerin zurück. „Es ist aber so!“, kam es nun wieder von Tea. „Er sah keinen anderen Weg mehr, da kam er nach Men-nefer! Wir können es dir beweisen. Bring uns dort hin und du wirst sehen, dass wir die Wahrheit sagen!“ „Schweig auf der Stelle, du...“ Weiter kam Risha nicht. Ihr ganzer Körper spannte sich an. Sie gab Cheron einen stillen Befehl, die Stellung zu halten, dann wirbelte sie auf dem Absatz herum und kämpfte sich ein gutes Stück durch das Gebüsch, das den Nil flankierte. Als sie freie Sicht auf die Wüste hatte, stockte ihr der Atem. Reiter. Ein gutes Dutzend. Und sie näherten sich in rasendem Tempo. Caesians Männer. „Scheiße...“ Augenblicklich kreisten Rishas Gedanken auf Hochtouren. Sie kannte Riell. Immerhin war er ihr Bruder. Sie wusste, dass er ganz ähnlich dachte, wie sein Vater. Wenn es ihrem Feind tatsächlich gelungen war, die Schattentänzer in eine äußerst missliche Lage zu bringen, dann war nicht ausgeschlossen, dass er sich dem Pharao anschließen würde. Immerhin standen sie, was dies betraf, auf derselben Seite. Binnen Sekunden fällte sie eine Entscheidung, wenn auch eine, die ihr alles andere als genehm war. „Verdammte Scheiße!“, fluchte sie noch einmal, dann eilte sie zu ihrer Zwillingsseele zurück. Kaum, da sie sie erreicht hatte, erteilte sie auch schon – wie sie es eben gewohnt war – den ersten Befehl. „Cheron! Versuch, uns diese Bastarde so lange wie möglich vom Leib zu halten. Ich weiß nicht, ob sie eigentlich schon tot sein sollten, also sei vorsichtig. Und solltest du Caesian entdecken, tritt sofort die Flucht an, hast du verstanden?“ Ein kurzes Nicken, dann erhob sich der Pegasus in den Himmel und verschwand hinter den Kronen der Palmen. Risha biss sich auf die Unterlippe. Normal war sie niemand, der davon lief. Doch ihr blieb keine Wahl – nicht mit diesen beiden Kletten am Bein, die ein Artefakt in Händen hielten. Außerdem musste sie sich eingestehen, dass sie noch zu geschwächt war, um sich in einen Kampf zu stürzen. „Und ihr beide passt jetzt ganz genau auf“, fuhr sie schließlich an die beiden Fremden aus Men-nefer gewandt fort. „Ich bringe euch in die Stadt. Doch sollte sich bei unserer Ankunft heraus stellen, dass ihr mich belogen habt, so werdet ihr sterben. Alles klar? Außerdem werdet ihr mir für die Dauer unserer kleinen Reise das Relikt übergegeben.“ „Das kannst du knicken, Alter!“, reagierte Joey sofort. „Das Ding bleibt wo es ist, und zwar bei uns.“ Ein lautes Krachen schallte über sie hinweg, eine Erschütterung folgte auf den Fuß. Doch Risha schien das nicht sonderlich zu stören. „Hör zu, du Großkotz! Ich kann euch auch einfach eurem Schicksal überlassen. Da sind Soldaten Caesians im Anmarsch, falls ihr es noch nicht gemerkt habt!“ „Als ob wir dich bräuchten! Ich habe Rotauge, das genügt vollkommen“, entgegnete der Blonde siegessicher. „Aber natürlich. Dieses Wesen ist nicht viel gefährlicher als jede gewöhnliche Eidechse in der Wüste! Außerdem frage ich mich eines: Wenn wir wirklich auf der gleichen Seite stehen, wie ihr behauptet, warum vertraut ihr mir das gute Stück dann nicht einfach an, hm? Oder ist das alles etwa doch nur eine dreiste Lüge?“ „Natürlich nicht!“, erwiderte Tea sogleich. „Na also, wo ist dann das Problem?“ Rishas Blick schweifte zu dem grünen Saum, der den Nil umgab. Hinter dem dichten Wuchs startete Cheron gerade einen erneuten Angriff. Die Empfindung, die er ihr hatte zukommen lassen, war eindeutig. Sie mussten hier weg. Jedoch nicht, ohne dass sie das Relikt in Händen hielt. Es war viel zu wertvoll, um von Unwürdigen besudelt zu werden – und wenn sie dafür ihr Leben auf's Spiel setzen musste. Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als das braunhaarige Mädchen erneut sprach. „Gut, hier, nimm es. Aber dann lass uns verschwinden, in Ordnung? Du hast recht. Wir stehen wirklich auf derselben Seite, also macht es nichts, wenn du es nimmst.“ Risha konnte deutlich den ungläubigen Blick im Gesicht vom Teas Begleiter sehen, und ebenso, dass dieser widersprechen wollte – was dem Blonden durch eine Hand verwehrt wurde, die sich prompt auf seinen Mund legte. Die Schattentänzerin zögerte, wechselte einen langen Blick mit ihrem Gegenüber, das sie aus fest entschlossenen, blauen Augen ansah. Dann schnappte sie sich den Gegenstand. Ohne stehen zu bleiben, hastete sie direkt weiter. „Hier lang!“, rief sie noch über die Schulter, dann endlich setzten sich auch Joey und Tea in Bewegung. „Hey, jetzt mal im Ernst!“, drang die Stimme des Blonden an ihr Ohr, während sie auch das Heiligtum der Göttin Isis an ihrem Gürtel befestigte. „Das sind doch nur ein paar Krieger, vielleicht auch Untote, aber mit denen werden unsere Bestien doch locker fertig!“ „Urteile nicht zu voreilig. Oder kannst du mit Sicherheit sagen, dass sich Caesian nicht in der Nähe aufhält?“, erwiderte Risha kalt und brachte ihn damit zum Verstummen. Teas Augen hingegen weiteten sich entsetzt. „Du meinst, er könnte hier sein?“ „Möglich ist alles, Püppchen.“ Zweige schlugen ihnen immer wieder ins Gesicht, als sie durch das dicht bewachsene Nilufer eilten. Hin und wieder gab der Untergrund auf heimtückische Weise unter ihren Füßen nach, sodass sie beinahe das Gleichgewicht verloren. Risha nahm Kontakt zu ihrem Ka auf – nur um festzustellen, dass sich der Pegasus bereits aller Angreifer entledigt hatte und sich auf dem Weg zu ihnen befand. Sie wurde misstrauisch. Selbst Caesian mit seiner selbstverliebten und arroganten Art musste doch inzwischen gemerkt haben, dass sie kein einfacher Gegner war. Wenn er hinter dem Dolch her war, warum schickte er dann lediglich so ein jämmerliches Aufgebot? Irgendetwas sagte ihr, dass es noch nicht vorbei war – was sich auch nur einen Augenaufschlag später als wahr entpuppen sollte. Sie hatten gerade begonnen, ihre Schritte zu verlangsamen, da brachen plötzlich mehrere Krieger aus dem Grün des Nils hervor. Risha gelang es in letzter Sekunde, dem Schwerthieb eines Feindes zu entgehen und ihn dann mit einem Hieb ihres verbliebenen Dolchs zu entwaffnen, indem sie ihm die Klinge in den Arm rammte. Auch Joey und Tea wurden überfallen. Der Blonde erwies sich allerdings als sehr geschickt. Er wich zurück, um nicht von einer Lanzenspitze durchbohrt zu werden, machte einen Ausfall Schritt an der Waffe vorbei und schmetterte dem Kerl seine Faust ins Gesicht. Der ging bewusstlos zu Boden. Seine Freundin duckte sich gerade noch rechtzeitig unter einer Axt hinweg, ehe sie den Fehlschlag des Kriegers nutzte, um vor zu stürmen und ihm mit aller Kraft, die sich aufbringen konnte, den Ellenbogen in den Magen zu stoßen- mit Erfolg. Die unerwartete Gegenwehr verschaffte ihr genug Zeit, um ihren Diadiankh zu aktivieren und die Feuerprinzessin zu beschwören, die ihr Untertan war. Zur selben Zeit erreichte auch Cheron die Gruppe und stürzte sich mit einem wütenden Viehren auf die feindlichen Soldaten. Bald tauchten die beiden Kreaturen, die die Flammen zu beherrschen vermochten, ihre Widersacher in glühendes Flackern. Einige von ihnen ergriffen daraufhin panisch die Flucht, der Rest blieb reglos am Boden liegen. „Cheron!“, brüllte Risha über das Zischen des Feuers hinweg. „Erledige sie!“ Der Pegasus tat, wie ihm gehießen. Er erhob sich in die Luft und verschwand. Nur kurz darauf war ein fauchendes Krachen zu hören. Sie wusste sofort, dass er die bereits toten Krieger damit nicht endgültig ausgeschaltet hatte – aber sie waren zumindest für einige Zeit außer Gefecht gesetzt. Sogleich rief sie die Ka-Bestie zurück. Erschöpft lehnte sie sich gegen den Stamm eines Flammenbaumes. In diesem Moment spürte sie ganz deutlich, wie erschöpft sie eigentlich war – ein Umstand, der ihr alles andere als behagte. Sie schloss die Augen, atmete tief durch, dann stieß sie sich von der Pflanze ab, die ihr Halt gegeben hatte. Skeptisch schweifte ihr Blick über das verbrannte Feld, das die Kreaturen hinterlassen hatten. Offenbar waren die Wesen dieser Leute doch nicht so ärmlich, wie sie gedacht hatte. „Alles okay?“, riss sie schließlich die Stimme des Blonden aus den Gedanken. Risha musterte ihn argwöhnisch und legte den Kopf leicht schief. „O... was?“ „Er wollte damit fragen, ob alles in Ordnung ist. Du siehst nicht gut aus“, erklärte Tea rasch. Die Schattentänzerin versuchte, betont lässig abzuwinken. „Mir geht’s bestens“, erwiderte sie mit einem Ton, der nicht annähernd so überzeugend klang, wie sie es sich gewünscht hätte. Doch anscheinend reichte es, um bei ihren beiden Begleitern keine erneuten Fragen aufzuwerfen. „Mein Name ist übrigens Tea. Und das ist Joey“, meinte das Mädchen nach einer Weile. „Und wie heißt du?“ „Risha“, war die knappe Antwort. „Und nun genug der Höflichkeiten. Wir müssen von hier verschwinden.“ ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ An dieser Stelle wieder ein herzliches Danke an 3sakuraharuno3, die wieder so lieb das letzte Kapitel kommentiert hat. :) Das war erst einmal der letzte Upload, bis meine Prüfungen vorbei sind (was Mitte Februar der Fall sein dürfte...). See ya then! Kapitel 19: Rückkehr -------------------- Endlich geht es weiter! Nachdem meine Prüfungen endlich vorüber sind und ich wieder zum Schreiben komme, hier das nächste Kapitel. Danke wieder einmal an 3sakuraharuno3 für ihren Kommentar. Ich hoffe, alle Unklarheiten sind inzwischen beseitigt. ;) Was ich an dieser Stelle noch loswerden will: Ich orientiere mich hier vor allem am Manga zur Originalserie. Deshalb kennt Risha den Diadiankh auch nicht. In dieser Geschichte ist der Diadiankh eine Erfindung des Königshofs, damit auch Menschen ohne Ka-Seele eine Bestie kontrollieren können. Diese wird dann zwar kein richtiger Partner, da sie nicht mit einem verschmolzen ist, aber sie kann beschworen werden. So viel dazu. Nun wünsche ich viel Spaß mit dem neuen Kapitel von "Seele der Zeit"! Rückkehr Die Sonne senkte sich in gleißendem Rot dem Horizont entgegen und läutete den Beginn der Nacht ein. Das Leben in Men-nefer pulsierte nun erst recht – die Mittagshitze machte es manchmal geradezu unmöglich, sich im Freien aufzuhalten. Umso angenehmer war es, am Abend vor die Tür zu gehen. Der Krieg und die Spuren, die er hinterließ, waren zwar allgegenwärtig, doch das tat dem Andrang in den Schenken der Stadt keinen Abbruch. Insofern diese noch Bier hatten, versteht sich. Einige hatten aufgrund des fehlenden Nachschubs an Gütern bereits schließen müssen, oder waren darauf umgestiegen, Tee anzubieten. Der Handel war seit Caesians Erscheinen vollständig zum Erliegen gekommen. Die Menschen konnten froh sein, dass die Vorratskammern Men-nefers ausreichend mit Lebensmitteln gefüllt waren, um eine Belagerung längere Zeit auszusitzen. Und dennoch patrouillierten Wachen unablässig durch die Straßen. Das Volk vom Nil war ein friedliches, doch niemand verschloss die Augen vor dem, was der Krieg aus einer Seele machen konnte. Dass die Kriminalitätsrate in solchen Zeiten stieg, war regelrecht normal. Doch nicht nur in Men-nefer, sondern auch im dazu gehörigen Palast kam kaum jemand zur Ruhe. Unruhig schritt Atemu auf dem breiten Balkon entlang, der vor seinen Gemächern lag. Seine Hand war verbunden, er hatte sie sich bei ihrer Begegnung mit Caesian gestaucht. Auch Mana war da, saß allerdings auf der gemauerten Brüstung. Sie hatte außer ein paar blauen Flecken keine größeren Blessuren davon getragen. Es war erst wenige Stunden her, da sie einige Soldaten unter der Führung Setos irgendwo in der Wüste aufgegriffen hatten. Seitdem fehlte von Tea und Joey jede Spur. „Das bringt doch nichts...“, murmelte Mana nach einer Weile. „Und wenn du noch so oft hin und her gehst, davon finden wir sie auch nicht.“ Atemu blieb abrupt stehen und richtete seinen Blick in die Ferne. „Du hast recht. Ich sollte dort draußen sein und sie suchen...“ „Nicht doch. Wir alle sind noch viel zu erschöpft. Es wäre Wahnsinn, sich ihnen in deiner derzeitigen Verfassung anzuschließen. Ganz abgesehen davon, dass du der Pharao von Ägypten bist“, entgegnete die Magierin. „Und dennoch bin ich nur ein Mensch. Du weißt, dass ich diesen Unterschied noch nie gemocht habe. Was macht mich besser als sie? Außerdem sind Tea und Joey meine Freunde!“, erwiderte Atemu und stützte sich mit einer Hand an dem steinernen Geländer ab. „Gewiss sind sie das. Gerade deswegen würden sie wollen, dass du hier bleibst.“ Mana erhob sich. „Sobald ich morgen wieder bei Kräften bin, werde ich gemeinsam mit Darla versuchen, sie zu finden. Bis dahin solltest auch du versuchen, dich auszuruhen. Wir alle haben sowie so schon viel zu wenig Schlaf. Irgendwann wird der Punkt erreicht sein, da uns dies zum Verhängnis wird. Deshalb müssen wir darauf achten, dass es gar nicht erst so weit kommt. Glaube mir, Seto und die Soldaten Ägyptens tun ihr Möglichstes, um sie zu finden. Riell hat sogar einige Schattentänzer ausgesandt. Mach dir keine Sorgen“, sagte sie, während sie ihm eine Hand auf den Arm legte. „Wir werden sie finden.“ Mit diesen Worten entfernte sie sich und verließ schließlich die Gemächer des Pharao. Ihm war bewusst, dass sie einen bestimmten Teil der Ereignisse absichtlich ausgelassen hatte. Nämlich den, dass es Caesian womöglich gelungen war ein weiteres Artefakt in die Finger zu bekommen. Er ballte die Hände zu Fäusten und bereute diese Tat in dem Moment, da sich der Schmerz am Ende seines Arms bemerkbar machte. Vorsichtig massierte er die verkrampften Muskeln. Das alles hätte niemals passieren dürfen. Selbst, wenn es dem Feind nicht gelungen war, das Relikt an sich zu reißen. Und wenn Tea, sowie Joey, unversehrt gefunden wurden – er war schon längst viel zu weit gegangen. In diesem Moment spürte Atemu etwas in sich, das er schon lange nicht mehr empfunden hatte. Hass. Caesians würde bezahlen. Und wenn es das Letzte war, was der Pharao tun würde... Kaum, da es begonnen hatte zu dämmern, hatten sie ihr Versteck verlassen und sich auf den Weg gemacht. Sie hatten zunächst versucht, am Tag voran zu kommen. Doch Risha hatte bald einsehen müssen, dass diese beiden Menschen mit ihrer blassen Haut das Klima nicht gewohnt waren – geschweige denn Märsche durch die Wüste im prallen Sonnenschein. Zudem hatten sie in der Ferne immer wieder berittene Truppen Caesians ausfindig machen können. So hatten sie beschlossen, im Schutz der Dunkelheit weiter zu ziehen. Nun kamen sie gut voran. Joey und Tea hatten bald erkannt, dass die Schattentänzerin alles andere als gesprächig war. Der Einzige, mit dem sie ab und an einige Worte wechselte, war der Pegasus mit den roten Schwingen, der seit Einbruch der Nacht immerzu neben ihr dahin trabte. Begründet hatte sie dieses Handeln nicht, doch Tea vermutete, dass der Grund in den schärferen Sinnen der Ka-Bestie zu finden war. Durch diese war sie frühzeitig in der Lage, eventuelle Feinde ausfindig zu machen. Wenn Risha recht behielt, dann würden sie noch heute Men-nefer erreichen. Tea atmete bei diesem Gedanken beruhigt durch. Sie kannte Atemu und wusste, dass er sich grässliche Sorgen um sie machen würde. Sie wollte ihn sobald wie möglich von diesen Gefühlen erlösen. Ihr Blick schweifte abermals zu der Schattentänzerin, die einige Schritte vor ihnen ging. Noch immer war sich Tea nicht ganz sicher, ob sie ihr wirklich trauen konnten. Sie gehörte zweifellos zu dem Clan, doch sie war vollkommen anders als ihr Bruder. Irgendwie... ja, regelrecht Angst einflößend. Das Mädchen stockte jedoch nur einen Augenblick später, als sie dabei waren, eine Düne hinauf zu laufen. Cheron zog den rechten Huf hinterher. Er trat zwar noch damit auf, doch sah diese Bewegung irgendwie verrenkt aus. Als ihr Blick zu Risha glitt, konnte sie dasselbe auch bei ihr erkennen. „Was ist denn mit deinem Bein?“, sprach sie die Frage schließlich aus. Tatsächlich blieb die Schattentänzerin stehen und drehte sich zu ihr um, doch kam eine andere Antwort, als erwartet. „Mein Fuß wird dein geringste Problem sein, wenn sich herausstellen sollte, dass ihr mich belogen habt.“ „Wann raffst du es denn endlich?“, entgegnete Joey schon beinahe verzweifelt und raufte sich die Haare. „Wir lügen nicht, okay? Wie kann man eigentlich so verdammt misstrauisch sein?“ „Das geht ohne Probleme, glaub mir“, meinte Risha noch, dann setzte sie ihren Weg fort. „Komische Leute sind das. Die machen sich tatsächlich Sorgen um Fremde und verwenden eine höchst eigentümliche Sprache“, sagte sie dabei an Cheron gewandt. „Was ist denn so falsch daran, sich um jemanden zu sorgen?“, kam es daraufhin prompt von Tea, die mit wenigen Schritten zu der Schattentänzerin aufschloss. „Man macht sich damit nur verwundbar“, war die patzige Antwort. „Gibt es etwa niemanden, um den du dich sorgen würdest? Deinen Bruder oder deinen Vater zum Beispiel?“, fuhr das braunhaarige Mädchen ungerührt fort. Dadurch rannte sie beinahe gegen Risha, die abrupt stehen blieb und sich mit erhobenem Zeigefinger nach ihr umwandte. „Es mag ein paar auserwählte Personen geben, die mir am Herzen liegen – und für die ich über Leichen gehen würde. Aber ich versuche die Zahl dieser Leute möglichst gering zu halten. Den Grund habe ich dir bereits genannt.“ Sie fuhr ebenso plötzlich herum und ging weiter, wie sie inne gehalten hatte. Tea verweilte noch einen Augenblick völlig perplex, ehe sie den Kopf schüttelte und es aufgab. Als sich Joey zu ihr gesellte, konnte sie ihn murmeln hören. „Auserwählte Personen … wie gnädig … “ Schweigend liefen sie weiter durch die Wüste. Es schien, als wolle der Sand nie ein Ende nehmen. Es war inzwischen empfindlich kalt geworden, hinzu kam der immer währende Wind. Doch es sollte sich herausstellen, dass Risha ihr Wort hielt. Tatsächlich sollten sie noch in derselben Nacht zurück nach Men-nefer gelangen. Nachdem sie eine weitere Düne hinauf gestiefelt waren, erschienen plötzlich Lichter am Horizont. Sofort stürmten Tea und Joey erleichtert vor. „Der Wahnsinn! Vielen Dank, Alter!“, meinte der Blonde an die Schattentänzerin gewandt und reckte den Daumen in die Höhe. Was er dafür jedoch bekam, war eine hoch gezogene Augenbraue. „Alter … ?“, meinte Risha mit drohendem Unterton in der Stimme. Tea schlug sich ob dieses erneuten Missverständnisses die Hand vor die Stirn. Irgendwann würde Joey doch wohl begreifen, dass hier andere Sprachkenntnisse von Nöten waren. Seufzend sah sie ihm dabei zu, wie er abwehren mit den Händen herum fuchtelte. „Nein, nein! So meine ich das nicht! Da, wo ich her komme, bedeutet das so viel wie … äh, alter Freund!“ „Ich wüsste nicht, dass wir Freunde wären“, war die nüchterne Antwort. „Ist ja auch egal“, mischte sich Tea schließlich ein und lächelte. „Wichtig ist, dass wir wieder in Men-nefer sind.“ Sie packte ihren Freund am Arm und zog ihn mit sich, als sie der Stadt, die sich am Horizont erstreckte, entgegen stürmte. Gleich würde Atemu sich nicht mehr sorgen müssen! Er würde sehen, dass ihnen nichts passiert war. Und sie würden eines der Relikte mit sich bringen, sodass ihm wohl noch ein weiterer Stein vom Herzen fiel. Aber … apropos Relikt. Sie verlangsamte ihre Schritte und drehte sich nach der Düne um, auf der ihre Führerin wie angewurzelt und mit verschränkten Armen stand. „Hey, nun komm schon! Jetzt hast du die Gelegenheit, dich davon zu überzeugen, dass wir die Wahrheit sagen!“, rief Tea ihr fröhlich zu. Doch als Antwort bekam sie lediglich ein kaltes Lächeln. „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich so dumm bin.“ „Was soll das nun wieder heißen?“, erwiderte Joey, der inzwischen sichtlich genervt war. „Ich renne doch nicht blind in eine mögliche Falle hinein. Wenn es wirklich wahr ist, und euer Pharao gemeinsame Sache mit meinem Clan macht, dann schickt mir einen Schattentänzer, damit er mir dies bestätigt. Ich warte hier“, meinte Risha nur und sank zu Boden, wo sie sich gegen eines von Cherons kräftigen Beinen lehnte. „Das ist doch viel zu gefährlich! Falls du es vergessen hast, du hast ein Relikt! Was, wenn irgendwelche Soldaten Caesians … “, begann der Blonde, wurde jedoch unterbrochen. „Ich weiß mich meiner Haut zu wehren. Und nun geht. Egal, ob ihr die Wahrheit sagt oder nicht, ihr verschwendet meine Zeit.“ „Als ob die so kostbar wäre! Eingebildete Kuh!“, fauchte Joey, sodass Tea ihn am Oberarm packte und mit sich zog. Sie hatten keine andere Wahl. Wenn in dieser Diskussion etwas sicher war, dann war es der Dickschädel der Schattentänzerin. Jeglicher Versuch, sie vom Warten in der Wüste abzubringen, würde scheitern. Aber das kannte sie ja bereits von ihrem blonden Freund und Tristan … „Ach ja, ehe ich es vergesse!“, schallte plötzlich die Stimme Rishas hinter ihnen her. „Sagt, dass 'Sam' kommen soll, um mich zu holen. Jeder wird wissen, warum.“ Tea hielt inne und sah sich noch einmal nach ihr um. „Und … ähm … ich meine … “ Sie versuchte, die richtigen Worte zu finden, gab es jedoch schließlich auf. Für das, was sie fragen wollte, gab es keinen weniger schmerzlichen Ausdruck. „Was ist, wenn diese 'Sam' nicht mehr lebt?“ Ein bitteres Lächeln erschien auf Rishas Gesicht. „Wenn irgendjemand dieses Massaker überlebt hat, dann sie.“ Schweigend saßen sie alle beim Abendessen. Allerdings verfehlte dieses Beisammensein seinen Zweck, denn die Speisen blieben größtenteils unangetastet. Wenn einer von ihnen doch einmal zugriff, dann kaute er anschließend ohne jeden Genuss darauf herum – außer Marlic, der genüsslich schmatzte. Yugi hatte den Kopf auf die Hände gestützt und starrte vor sich hin. Atemu tat in etwa dasselbe, während Keiro neugierig seine Fingernägel musterte und Marik sich eine Haarsträhne immer wieder auf's Neue um den Finger wickelte. Ryou schnippte ein Stück Brot hin und her. Riell und Seto tauschten einen kurzen Blick. Auch, wenn der Schattentänzer sein Gegenüber nicht leiden konnte, aber in dieser Hinsicht waren sie sich anscheinend einig. Das alles brachte doch nichts. Ja, zwei ihrer Freunde wurden vermisst und Caesian war es eventuell gar gelungen, ein weiteres Artefakt zu erbeuten. Aber den Kopf in den Sand zu stecken war in diesem Fall eindeutig die falsche Methode! Er hatte ja noch gehofft, dass dies ausbleiben würde, als alle wahnsinnig interessiert an Keiros blauem Auge gewesen waren, aber offenbar vergebens … Wenigstens hatte dieser Bastard die Klappe gehalten und gemeint, er habe in einer Schenke eine kleine Auseinandersetzung gehabt. Unwillkürlich schweiften seine Gedanken zu Risha. Wo sie wohl war? Und ob sie überhaupt noch lebte … ? Er schloss die Augen und versuchte, sich auf ihre Lage zu konzentrieren. Er durfte nicht auch noch anfangen, Trübsal zu blasen. Riell wurde aus seinen Gedanken gerissen, als etwas auf den Tisch knallte – genauer gesagt die geballte Faust des Hohepriesters. „Das kann doch nicht euer Ernst sein!“, sagte er mit bestimmtem Ton in die Runde, ehe er sich an Atemu wandte. „Euer Hoheit, ich kann mir vorstellen, wie Ihr Euch fühlen müsst, aber dieses … Verhalten bringt uns nicht weiter. Wir müssen überlegen, wo die anderen Relikte sein könnten oder zumindest darüber nachdenken, wie wir uns beim nächsten Mal gegen Caesian verteidigen wollen. Unsere Truppen sind stark geschwächt, die Stadt ebenso. Ich bitte Euch!“ „Verzeiht den ungefragten Einwurf, doch ich stimme ihm zu. So kommen wir nicht weiter. Die Angst um Eure Freunde mag Euch umklammert halten, Pharao, doch es wird alles getan, um sie zu finden. Mehr können wir im Augenblick nicht machen. Das Einzige, was in unserer Macht steht, ist zu überlegen, wo sich weitere Gegenstände befinden könnten“, fügte Riell hinzu. Atemu entwich ein tiefes Seufzen, dann fuhr er sich mit einer Hand über das Gesicht und rieb sich die Augen. „Ihr habt ja recht... Also, tragen wir noch einmal zusammen, was wir bislang durchgegangen sind“, sagte er matt. Er sah kurz auf, als Bakura den Raum betrat. Der Grabräuber hatte sich soeben setzen wollen, als er inne hielt und seinen Bruder skeptisch musterte. „Was ist denn mit dir passiert?“ Sein misstrauischer Blick wanderte zu dem Schattentänzer am Tisch. Keiro winkte jedoch rasch ab. „Nur eine kleine Meinungsverschiedenheit mit einem Betrunkenen in der Stadt.“ „Aber … “, wollte Bakura entgegnen, da fiel ihm sein Gegenüber ins Wort. „Komm mit, ich erkläre es dir auf dem Weg zu meinem Zimmer. Ich wollte mir sowie so gerade wärmere Kleidung holen. Mir ist etwas kalt. Und es ist keine Geschichte, die so ruhmreich wäre, dass jeder sie hören müsste … “, fügte er schief lächelnd hinzu. Der Grabräuber sah noch immer argwöhnisch drein, nickte jedoch. Gemeinsam verließen sie den Saal, während die anderen ihre Überlegungen wieder aufnahmen. Sie liefen die von Fackeln erleuchteten Gänge des Palastes entlang. Als sie sich drei Flure von dem Raum entfernt hatten, in dem Atemu und seine Freunde am diskutieren waren, warf Bakura einen prüfenden Blick zurück, ehe er seinen Bruder plötzlich am Arm packte und in eine dunkle Ecke zog. Seine Augen durchbohrten Keiro regelrecht. „Also, was ist los? Du hast dieses Gemäuer seit deiner Ankunft nicht verlassen, wie kann es da sein, dass du … ?“ Er verstummte, als sich eine Hand auf seinen Mund legte. Die Stimme seines Bruder war kaum mehr als ein Flüstern. „Still. Nicht hier.“ Der Grabräuber wurde am Handgelenk gepackt und davon gezogen. Erst, als sich die Türe zu Keiros Zimmer hinter ihnen geschlossen hatte, wurde er los gelassen. „Ja, du hast recht“, begann Bakuras Zwilling auch gleich. „Es war kein Betrunkener. Sondern ein Schattentänzer. Genauer gesagt Riell. Nein!“, mahnte er, als er den Gesichtsausdruck des Grabräubers gewahrte. „Nicht. Es ist unnötig. Ich werde sowie so nicht mehr lange bleiben.“ Ein großes Augenpaar sah ihn ungläubig an. „Was soll das heißen?“ „Das heißt, dass ich Men-nefer noch heute Nacht verlasse“, erwiderte Keiro. „Der Pharao hat mich darum gebeten, ebenso wie er mich bat, diese Sache für mich zu behalten. Und ich habe zugestimmt. Die Relikte sind hier nicht in Sicherheit. Caesian weiß nicht, dass ich eines davon habe. Ich werde außer Landes gehen und warten, bis dieser Spuk vorüber ist. Niemand weiß von diesem Plan, das macht ihn so sicher.“ Das Schweigen, das zwischen sie trat, war regelrecht greifbar. Bakuras Züge spiegelten deutlich wider, was sich in seinem Kopf abspielte. Er schüttelte ungläubig das Haupt. „Der Pharao hält etwas vor seinen Freunden geheim? Du haust einfach ab, obwohl wir uns gerade erst wiedergetroffen haben? Das kann nicht … “ „...mein Ernst sein? Doch, das ist es. Aber keine Sorge, ich habe dich gewiss nicht aus dem Saal gebeten, um dir nur das zu sagen.“ „Lass mich raten“, meinte der Grabräuber zischend. „Ich soll hier bleiben, ja?“ „Ganz im Gegenteil“, erwiderte Keiro mit dem ihm eigenen, schelmischen Grinsen. „Ich möchte, dass du mich begleitest.“ Der Ausdruck, den Bakuras Gesicht in diesem Moment annahm, war nicht zu beschreiben. All das Misstrauen, dass sich soeben aufgebaut hatte, verpuffte binnen eines Augenaufschlags. Zugleich schalt er sich für die Gedanken, die soeben durch sein Hirn gerauscht waren. War er wirklich so dumm gewesen? Hatte er seinem eigenen Bruder tatsächlich gerade zugetraut, einfach so zu verschwinden? Er blinzelte. Wenn er nicht ihm vertrauen konnte, wem dann? Und vielleicht hatte der Pharao ja endlich erkannt, dass es manchmal besser war, nicht alles weiter zu erzählen? Gleich wie sehr man seinen 'Freunden' traute? „Bist du einverstanden?“, kam schließlich die Frage, so leise, als befürchte Keiro, er könnte ablehnen. Doch Bakura nickte auf der Stelle. „Gut. Du bist doch der König der Diebe, nicht wahr? Dann besorgt uns mal ein wenig Gold aus dem Palast, Euer Hoheit. Wir werden es für die Reise benötigen. Ich glaube nicht, dass der Pharao etwas dagegen hat. Ich gehe indes in den Saal zurück, damit keiner von den anderen Verdacht schöpft. Wir treffen uns in deinem Zimmer.“ Mit diesen Worten wirbelte er auf dem Absatz herum und verließ den Raum. Der Grabräuber blieb noch einen Moment wie angewurzelt stehen, fand dann jedoch wieder zu sich und begann, sich in der Kammer nach allem möglich umzusehen, was transportabel und wertvoll war. Eiligen Schrittes hastete Keiro die Flure entlang, zurück zu dem Raum, in dem die anderen versammelt waren. Ein Lächeln lag auf seinen Zügen. Alles verlief genau so, wie er es geplant hatte. Bakura hatte ihm geglaubt. Er dachte tatsächlich, Atemu wüsste als einziger Bescheid, weshalb er ihm die Nachricht seiner Abreise nicht vor den anderen hatte überbringen können. Auch die Reaktion des Grabräubers war genau die gewesen, auf die er gehofft hatte. Bis zuletzt hatte er gefürchtet, er würde das Land nicht verlassen wollen. Doch nun war alles gut. Noch vor Sonnenaufgang würden sie Men-nefer, und somit Riell und seinem Clan, den Rücken gekehrt haben. Dennoch bedauerte er, dass er gezwungen war, seinen Bruder anzulügen. Aber er hatte keine Wahl. Das derzeitige Oberhaupt der Schattentänzer würde früher oder später reden, das hatte er bei ihrem Zusammentreffen nur allzu deutlich gemacht. Das konnte er nicht riskieren. Gewiss hätte er Riell beseitigen können, doch zwei Dinge hatten ihn davon abgehalten. Zum einen wäre der Clan ohne ihn wieder vollkommen orientierungslos, wodurch ein Verbündeter im Kampf gegen Caesian wegfiel – etwas, das absolut inakzeptabel und höchst gefährlich gewesen wäre. Zum anderen war es schlichtweg nicht Keiros Art, jemanden umzubringen. Wenn ihm schon keine Götter heilig waren, so war es doch das Leben selbst. Es gab nur einen einzigen Menschen auf dieser Welt, dem er mit gutem Gewissen eine Klinge in den Leib gestoßen hätte. Aber so wie es aussah, hatte sich dieses Problem von selbst erledigt. Risha war noch immer verschwunden. Sie mochte zäh sein, doch je länger sie fort blieb, desto größer wurde die Wahrscheinlichkeit, dass sie tot war. Er hielt einen Moment inne. Bilder erschienen vor seinem inneren Auge. Welche, die lange Zeit zurück lagen. Unterbewusst ballte er die Hand zur Faust. Ihm war klar, dass es nicht ihre Schuld war, so geworden zu sein. Sie war das, wozu man sie gemacht hatte – wozu ihre Vergangenheit und der Clan sie gemacht hatten. Aber auch, wenn es so war, war sie inzwischen alt genug, um selbst zu denken. Doch sie blieb auf dem Pfad, den man ihr einst geebnet hatte. Daran würde sich auch nichts ändern. Sie würde ihre Art beibehalten und er würde sie dafür hassen, so, wie es schon seit vielen Jahren war. Dafür, dass sie so verblendet war... Doch das alles spielte keine Rolle mehr. Mit einem energischen Schütteln des Hauptes verscheuchte er die Gedanken. Er und Bakura würden bald verschwunden, weit hin fort von diesen Menschen sein. Gerade wollte er seinen Weg weitergehen, da ließen ihn Schritte, die sich rasch näherten, herum fahren. Im ersten Moment traute er seinen Augen nicht, doch schließlich sah er ein, dass sie ihm keinen Streich spielten. Es waren tatsächlich Tea und Joey, die, begleitet von zwei Wachen, daher kamen. „Hey Keiro, altes Haus, alles fit?“, meinte der Blonde auch gleich, als sie sich gegenüber standen. „Falls du soeben gefragt haben solltest, wie es mir geht, so lautet die Antwort 'gut'. Außerdem denke ich, dass diese Frage eher euch gebühren sollte! Wo kommt ihr auf einmal her? Bei allem Respekt, aber wie konntet ihr so schnell zurück nach Men-nefer finden? Seid ihr etwa doch nicht so weit abgetrieben worden, wie wir dachten? Wo wart ihr?“, sprudelte es aus Keiro heraus, der sichtlich verdutzt war. Zugleich begann es, hinter seiner Stirn zu arbeiten. Eigentlich hätte der Zeitpunkt ihrer Rückkehr nicht passender sein können. Ihr Erscheinen würde für einigen Trubel sorgen, der ihm und seinem Bruder zum Vorteil gereichen konnte... „Weißt du, wo Atemu ist?“, riss ihn schließlich die Frage Teas aus den Gedanken. Er nickte sogleich. „Ja, folgt mir. Ich bringe euch hin. Ich wollte mich sowie so gerade entschuldigen. Ich bin seit einigen Tagen so wahnsinnig müde.“ Der Sand rann langsam durch ihre Finger. Immer und immer wieder. Sie konnte ein Gähnen nur mit Mühe unterdrücken, während sie sich mit der anderen Hand den schmerzenden Knöchel massierte. „Und du bist ganz sicher, dass es die Präsenz unserer Ka-Bestien ist, die du wahrnimmst?“, erkundigte sich Risha bei ihrer Zwillingsseele. „Absolut“, erwiderte Cheron. „Das bedeutet, ganz gleich, ob sich der Clan mit dem Pharao verbündet hat oder nicht, ich werde auf jeden Fall in diese Stadt rein müssen“, schlussfolgerte die Schattentänzerin. „Warum habe ich nur den Verdacht, dass es dir sogar lieber wäre, wenn die unseren Gefangene wären?“, meinte der Pegasus mit schief gelegtem Kopf. Ein Seufzen war zunächst die einzige Antwort. „Weil es nicht so verdammt erniedrigend wäre...“ Risha stockte, als sie in der Ferne einen Schatten erkennen konnte, der ihnen entgegen kam. Sie kniff die Augen zusammen. „Ist sie es?“ „In der Tat.“ Tatsächlich kam nur kurz darauf ein Mädchen vor ihnen zum Stehen. Ihr Atem ging keuchend. Dennoch lag ein erfreutes Lächeln auf ihrem Gesicht, die grauen Augen leuchteten regelrecht. Das lange, rote Haar hing ihr wirr in die Stirn. Sie war ein gutes Stück kleiner, als die blonde Schattentänzerin, was wohl daher rührte, dass sie auch um einiges jünger war. Denn das Mädchen war gerade einmal dreizehn geworden. „Ihr … Ihr seid es wirklich, Herrin … “ Risha wollte gerade zu der patzigen Erwiderung ansetzen, ob sie denn etwas anderes erwartet hätte, da blieben ihr die Worte im Hals stecken. Sam hatte die Arme um ihren Bauch geschlungen und drückte sie fest an sich. „Den Göttern sei Dank! Ich bin ja so froh...“ Das Opfer ihrer Umklammerung rang nach Luft, während es versuchte, die Kleine so von sich zu schieben, dass es nicht vollkommen abweisend wirkte. „Ich freue mich ja auch, dich zu sehen … Aber dafür ist später noch Zeit! Was ist mit meinem Bruder? Ist es tatsächlich wahr, dass er sich mit dem Pharao zusammen geschlossen hat?“ Endlich wich Sam von ihr. Sofort veränderte sich ihre Miene. Sie wurde ernst. „Ja, so ist es. Diese Antwort genügt Euch hoffentlich für's Erste, Herrin, bis Ihr mit Eurem Bruder sprechen könnt. Denn da ist etwas anderes, das Euch wichtiger sein wird.“ Sofort spannte sich Rishas Körper an. „Worum geht es?“, zischte sie. Die kleine Schattentänzerin schien für einen Moment zu überlegen, wie sie es formulieren sollte. Dann gab sie es auf und sprach einfach aus, was ihr auf der Zunge lag. „Es geht um Keiro. Er ist ebenfalls in Men-nefer.“ Es dauerte einen Moment, bis Rishas Kopf diese Information korrekt verarbeitet hatte, dann verdunkelten sich ihre Züge schlagartig. „Wie bitte?“, donnerte sie. „Diese Missgeburt hat es tatsächlich gewagt, hier her zurück zu kommen?“ Sofort dachte sie an den Diebstahl des Reliktes. Das wirst du bereuen, das schwöre ich, bei Sachmet!, schoss es ihr durch den Kopf. „Bring mich sofort zu meinem Bruder! Diesem Kerl werden wir die Eingeweide aus dem Leib reißen!“ Risha stapfte bereits los, Sam eilte ihr sogleich hinterher. „Ja, lasst uns gehen. Ich kann Euch alles Weitere auch auf dem Weg berichten.“ Sofort blieb Reshams Tochter stehen und musterte ihr Gegenüber eindringlich. „Was ist da noch?“ Sie fielen einander um den Hals. „Ich wusste, dass ihr es schaffen würdet!“, meinte Yugi fröhlich, als er Joey drückte. „Aber natürlich! Hast du irgendetwas anderes erwartet, Alter?“, meinte der Blonde zwinkernd. Auch Atemu war sichtlich erleichtert und strahlte über das ganze Gesicht. „Den Göttern sei Dank.“ „Aber feiern können wir später!“, sagte Tea. „Wir haben da einiges, was wir euch erzählen müssen! Caesian ist es nämlich trotz seinem Überfall nicht gelungen, ein weiteres Relikt an sich zu bringen.“ Sofort wurde es still im Raum. Alle Augenpaare lagen auf den beiden Ankömmlingen. „Was soll das heißen?“, unterbrach Seto als Erster die Stille. „Das soll heißen, dass es ebenfalls vom Sturm davon geweht wurde. Und wir haben es dann gefunden!“, erwiderte Joey triumphierend und reckte die Faust in die Höhe. „Wirklich? Das ist ja großartig!“, rief Yugi prompt aus. „Und wo ist es?“ „Das ist der nächste Punkt!“, fuhr Tea aufgeregt fort. „Es dürfte jeden Moment hier sein.“ Sie wandte sich zu Riell um. Kipino war in der Zwischenzeit ebenfalls dazu gekommen. „Wir haben unerwartete Hilfe bekommen. Du wirst es nicht glauben: Wir haben deine Schwester gefunden!“ Sofort entglitten dem Oberhaupt der Schattentänzer sämtliche Gesichtszüge. „Was? Ist das wahr?“ „Ja, allerdings. Sie dürfte auch bald auftauchen. Die werte Dame ist nämlich sehr misstrauisch“, erklärte Joey. „Sie glaubt uns nämlich nicht ganz. Sie meinte, sie würde erst einen Fuß nach Men-nefer setzen, wenn ihr eine gewisse Sam bestätigt hat, dass du tatsächlich gemeinsame Sache mit dem Pharao machst. Wir haben schon einen Soldaten gebeten, in euer Lager zu gehen und diese Sam los zu schicken.“ „Bei den Göttern“, seufzte Riell erleichtert und legte den Kopf in den Nacken. „Ja, das klingt ganz nach ihr. Ich entschuldige mich direkt für all die Dinge, die sie euch in ihrem Misstrauen wahrscheinlich an den Kopf geworfen hat. Ich danke euch. Ihr habt mir meine Schwester zurück gebracht.“ Nur eine Person im Raum schien die allgemeine Freude, die beinahe greifbar war, nicht zu teilen. Keiros Magen hatte sich bei Teas Worten einmal um die eigene Achse gedreht. Das durfte nicht wahr sein! Er war so kurz davor gewesen, diese leidige Geschichte endlich hinter sich zu lassen. Wenn er jetzt noch davon kommen wollte, musste er schnell sein. Er zwang eine möglichst fröhliche Miene auf sein Gesicht und räusperte sich. „Auch ich freue mich, dass ihr wieder da seid, Joey und Tea. Doch nun muss ich bitten, mich zu entschuldigen, mein König. Mir ist nicht wohl.“ Er wartete nicht die Antwort des Pharaos ab und machte auf dem Absatz kehrt, was ihm verwunderte Blicke einbrachte. Niemand stellte jedoch eine Frage – außer Riell, der Keiro einen Moment lang schon beinahe amüsiert musterte. „Kann es sein, dass dir nicht wohl ist, weil sie zurück ist?“ Erneut wurde es mit einem Mal still im Raum. Der Ton des Schattentänzers, der schneidender war, als jemals zuvor, hatte dafür gesorgt. Selbst Keiro hielt inne, wandte sich aber nicht um. „Das ist es nicht. Trotzdem hast du recht, ich bin nicht scharf darauf, dieser Verrückten heute noch über den Weg zu laufen.“ Er wollte weitergehen, möglichst unauffällig, doch die Stimme Riells hielt ihn erneut zurück. „An deiner Stelle würde ich endlich mit diesem Spielchen aufhören. Es ist vorbei. Siehst du das nicht? Du kannst das Gebilde aus Lügen, das du geschaffen hast, nicht mehr aufrecht erhalten. An deiner Stelle würde ich meinen Bruder rufen, um endlich mit offenen Karten zu spielen. Noch hast du Zeit. Aber dir bleibt nicht mehr viel. Sie kann jeden Augenblick hier sein.“ „Was hat das zu bedeuten?“, mischte sich Seto ein, doch er wurde schlichtweg ignoriert, als Keiro herum fuhr und den Schattentänzer ansah, als wünsche er ihm die Pest an den Hals. „Das geht dich gar nichts an! Ich habe dir schon einmal gesagt, dass er mit dieser Missgeburt, die du Schwester nennst, nichts zu tun haben will!“ „Hat er das gesagt?“, erkundigte sich Riell. „Oh ja, allerdings“, knurrte der Bruder des Grabräubers. „Wenn das so ist...“, fuhr Reshams Sohn fort. „Kipino? Wärst du so freundlich und rufst Bakura herbei? Sollte er dies tatsächlich gesagt haben, so wird er wohl kein Problem damit haben, es zu wiederholen. Und wenn er wirklich so denkt, dann werde ich dich auch in Ruhe lassen. Denn dann ist es auch für sie besser, wenn wir die Sache einfach unter den Tisch fallen lassen.“ Kipino tat, wie ihm gehießen, und huschte an Keiro vorbei aus dem Raum. Der blieb noch einen Moment am ganzen Leib bebend stehen, dann fuhr er plötzlich herum und hetzte der Tür entgegen. „Nichts dergleichen wird er tun! Nur über meine Leiche!“ „Das lässt sich einfacher bewerkstelligen, als du glaubst … “, ließ ihn eine eiskalte Stimme plötzlich erstarren. Kapitel 20: Offenbarung ----------------------- „Wenn das so ist...“, fuhr Reshams Sohn fort. „Kipino? Wärst du so freundlich und rufst Bakura herbei? Sollte er dies tatsächlich gesagt haben, so wird er wohl kein Problem damit haben, es zu wiederholen. Und wenn er wirklich so denkt, dann werde ich dich auch in Ruhe lassen. Denn dann ist es auch für sie besser, wenn wir die Sache einfach unter den Tisch fallen lassen.“ Kipino tat, wie ihm gehießen, und huschte an Keiro vorbei aus dem Raum. Der blieb noch einen Moment am ganzen Leib bebend stehen, dann fuhr er plötzlich herum und hetzte der Tür entgegen. „Nichts dergleichen wird er tun! Nur über meine Leiche!“ „Das lässt sich einfacher bewerkstelligen, als du glaubst … “ Aus Kapitel 19 – Rückkehr Schlitternd kam Keiro wenige Schritte vor dem Ausgang zum Stehen. Die eiskalte Stimme jagte ihm einen Schauer über den Rücken – ebenso wie der Anblick der Person, die im Türrahmen erschienen war. Der Stoff des schwarzen Kapuzenumhangs bedeckte zwar das Haupt, doch einige blonde Strähnen fielen trotzdem über ihre Schultern. Ihre fliederfarbenen Augen spiegelten die Gefühle wieder, die unter der Oberfläche kochten. Ihre Haltung verriet, dass sie ihr Gegenüber auf keinen Fall vorbei lassen würde. „Was guckst du denn so? Gefällt dir etwa nicht, was du siehst? Ah, ich vergaß! Du wünscht dir ja schon seit langem vergeblich, dass ich sterbe. Tut mir leid, aber ich muss dich auch diesmal enttäuschen.“ Riell entging der Unterton keineswegs, mit dem seine Schwester sprach. Jedes falsche Worte konnte sie zum explodieren bringen. Weder schrie sie Keiro an, noch bebte sie vor Wut. Im Gegenteil: Sie schien vollkommen ruhig – zu ruhig. Ein Zustand, in dem sie höchst gefährlich war. „Sam hat mir erzählt, was in dieser Stadt vor sich geht“, fuhr Risha fort, während sie sich ihrem Gegenüber mit langsamen, drohenden Schritten näherte. „Mir war schon immer klar, dass du von Sinnen bist. Aber dass du so weit gehst … Das hätte nicht einmal ich dir zugetraut.“ Mit einem Mal wurde Keiro aus seiner Starre gerissen. Sein Körper schien zu vibrieren. „Ich? Von Sinnen? Die Einzige, die nicht mehr bei Verstand ist, bist wohl du! Sieh dich nur einmal an! Ein Göttern heuchelndes Miststück, das bist du!“ Einen Moment herrschte eisige Stille, dann begann Risha plötzlich zu kichern. Erst leise, dann immer lauter. „Du bezeichnest dein eigen Fleisch und Blut auf diese Weise?“ „Du bist nicht mein 'eigen Fleisch und Blut'!“, schrie Keiro auf der Stelle. „Aber, aber … “, entgegnete die Schattentänzerin völlig ungerührt. „Wie sprichst du denn mit deiner Cousine?“ Die Worte schienen sich wie ein Tuch über den Raum zu hängen. Niemand wagte etwas zu sagen. Alle Augenpaare waren auf die beiden gerichtet, die offenbar kurz davor standen, sich an die Gurgel zu gehen. Joey war der Erste, der seine Sprachfähigkeit wieder erlangte. „Ihr … ihr seid verwandt? Cousin … und Cousine?“ „Allerdings“, erwiderte Riell. „Auch wenn der gute Keiro es nach wie vor zu leugnen versucht. Aber damit ist jetzt Schluss.“ „Aber warum … “, wollte Yugi zu einer Frage ansetzen, doch er wurde jäh unterbrochen. „Nichts ist vorbei!“, brüllte der Besagte daraufhin. „Ich werde gemeinsam mit Bakura verschwinden! Dieses verdorbene Biest wird nie wieder eine Rolle in unserem Leben spielen! Und hör auf, mir dafür die Schuld in die Schuhe zu schieben! Dass sie so geworden ist, ist alleine dein Verdienst, Riell!“ „Du gehst nirgendwo hin“, zischte Risha. „Nicht, ehe ich dir dein verfluchtes Herz auf der Brust gerissen habe.“ „Zumindest beim ersten Teil stimme ich zu“, bestätigte Joey und ballte die Faust. „Hey, Mann, dein Bruder ist alt genug, um selber zu entscheiden, mit wem er abhängt und mit wem nicht.“ „Du hast überhaupt keine Ahnung!“, fuhr ihn Keiro prompt an und deutete auf Risha. „Du kennst sie nicht im Geringsten! Ich weiß, was Bakura alles getan hat und kann mir deshalb denken, was er noch tun wird, wenn er sie trifft! Sie wird seinen Verstand vergiften! Sie ist genau so gegen das ägyptische Königshaus, wie er! Wenn sie sich sehen, wird sie den Hass, der langsam in ihm abstirbt, erneut aufkeimen lassen! Sie wird ihm eine Bestätigung für seine finstersten Gelüste sein! Das kann ich nicht zulassen! Sie wird ihn wieder zu der Person machen, die vor zwei Jahren versucht hat, die Milleniumsgegenstände gegen alles zu richten, was wir Leben nennen! Sie wird ihn in diesen verdammten Clan hinein ziehen, ihm eine Gehirnwäsche verpassen! So, wie sie es mit allen tun, die sich ihnen anschließen! Aber nicht mit ihm!“ „Bakura und ich mögen uns nicht gut gesonnen sein“, mischte sich Atemu ein. „Aber ich glaube beim besten Willen nicht, dass er ein Mensch ist, dem man so leicht Flausen in den Kopf setzen kann!“ „Ihr habt keine Ahnung!“, wiederholte Keiro. „Wir werden verschwinden, ohne dass … “ „Dafür ist es jetzt zu spät“, entgegnete Riell kalt. „Ich habe dir die Möglichkeit bis zuletzt gelassen, Keiro. Die Möglichkeit, alles selbst ins Reine zu bringen. Doch du hast sie nicht genutzt“, fügte er auf den ungläubigen Blick seines Gegenübers hinzu. „Ich verstehe“, murmelte Yugi. „Wenn Risha die Cousine von Keiro ist, dann ist sie damit auch die von Bakura.“ „Wie lange weißt du schon, dass er lebt?“, zischte die Schattentänzerin und hielt damit die aufkeimende Stille davon ab, Wurzeln zu schlagen. „Du hättest es mir sagen müssen. Du hast genau gewusst, dass du nichts zu befürchten hast, wenn du mit derartigen Neuigkeiten zu mir kommst!“ „Aber natürlich!“ Keiro brach in beinahe irres Gelächter aus. „Ich und dich besuchen, ohne etwas befürchten zu müssen! Damit du mir das Relikt abnehmen kannst?“ „Du weißt, dass ich so nicht bin! Relikt hin oder her, hier geht es um die Familie, verdammt!“ Nun war es Risha, die zu schreien angefangen hatte. In ihr tobte alles und sie musste den hartnäckigen Kloß hinunter kämpfen, der sich plötzlich in ihrer Kehle bildete. Hass und Enttäuschung wechselten sich stetig hinter der Fassade ab, um deren Aufrechterhaltung sie rang. „Ich habe ebenso unter den Ereignissen von damals und den ganzen Verlusten gelitten, wie du! Wie, bei den Göttern, konntest du mir so etwas antun?“ „Wie ich dir so etwas antun konnte?“, lachte Keiro beinahe hysterisch. „Das konnte ich, um zu verhindern, dass du ihm Schaden zufügen würdest! Er ist mein Bruder, glaubst du wirklich, ich ziehe meine Cousine ihm vor? Aber was sage ich hier noch 'Cousine'? Ich glaube kaum, dass minderwertiger Abschaum eine solche Bezeichnung verdient!“ „Ich... ich schwöre dir... dafür... dafür bringe ich dich um!“ Mit einem Satz war Riell bei seiner Schwester und packte sie an den Armen. Gerade rechtzeitig, um sie davon abzuhalten, sich auf Keiro zu stürzen. „Beruhig dich! Er ist es nicht wert! Lass ihn! Das hat doch keinen Sinn! Am Ende handelst du damit genau so, wie er es sich erhofft. Du gibst ihm damit nur etwas in die Hand, das er gegen dich verwenden kann.“ „Alter, jetzt komm mal runter!“, kam es nun wieder von Joey, der nicht glaubte, was er da miterlebte. Seine kleine Schwester war für ihn das wichtigste auf der Welt. Umso weniger konnte er nachvollziehen, wie sich zwei Menschen, die der selben Familie angehörten, dermaßen an die Gurgel gehen konnten. Das war nicht normal! Familien sollten zusammenhalten, das hatte er im Lauf seines Lebens gelernt. „Krieg' dich wieder ein! Das ist deine Cousine, man!“ Risha schloss für einen Moment die Augen und atmete mehrmals tief durch. Riell hatte recht, so verdammt recht. Dennoch kostete es sie enorme Kraft, ihre Wut zu bändigen. Das einzige, wonach es sie in diesem Augenblick dürstete, war Blut. Das Blut Keiros. Aber sie war sich bewusst, was das bedeuten würde. Würde sie ihm etwas antun, ganz gleich, was vorgefallen war – Bakura würde sie hassen. Erst, als ihre Anspannung nachließ, entließ sie ihr Bruder aus seinem eisernen Griff. Zum selben Zeitpunkt trat Atemu vor und ging zu Keiro. „Meinst du nicht, es wäre angebracht, zu gehen?“ Der verdutzte Blick seines Gegenübers sprach Bände. „Bei aller Ehre, Euer Hoheit, aber ich bin nicht derjenige, der...“ Doch Seto, der sich neben dem Pharao aufbaute, gebot ihm, zu schweigen. „Du hast genug geredet. Mir ist egal, was zwischen euch vorgeht. Was für mich zählt, ist, dass du versucht hast, uns zu hintergehen.“ Keiros Augen verengten sich zu Schlitzen. „Wovon sprecht Ihr?“ „Wohl davon, dass du mich und das Relikt unter einem Vorwand außer Landes schaffen wolltest...“ Er wirbelte herum. Plötzlich spiegelte sich so etwas wie Furcht in seinem Blick. Denn im Türrahmen stand niemand anders, als sein Bruder. Und sein Gesicht sah alles anderes als begeistert aus. „Wie … wie lange stehst du da schon … ?“ „Lange genug um alles mitbekommen zu haben … “, zischte Bakura. „Sag mir bitte, dass das ein schlechter Scherz ist.“ Risha wagte zunächst nicht, sich umzudrehen. Die Stimme kam ihr so wahnsinnig fremd vor. Sie hatte absolut nichts mehr mit der des sechsjährigen Jungen gemein, den sie vor siebzehn Sommern zum letzten Mal gesehen hatte. Wie in Zeitlupe, als habe sie Angst, enttäuscht zu werden, wandte sie sich um. Dann sah sie ihm seit so langer Zeit wieder ins Gesicht. Er war es. Daran bestand kein Zweifel – trotz der Narbe, die unter seinem Auge prangte. Die Maske auf ihren Zügen saß perfekt, verriet nichts. Doch unter der Oberfläche überschlugen sich die Gefühle, tanzten wild durcheinander und brachten ihr Herz zum Rasen. Völlig gebannt, schrack sie zusammen, als Keiro wieder zu sprechen begann. „Es war nur zu deinem Besten“, sagte er ruhig. „Vertrau mir, Bruder. Ich habe noch lange nach Kul Elna zu ihr Kontakt gehabt und mit angesehen, was aus ihr geworden ist. Wir sollten gehen, das wäre für alle … “ „Halt die Fresse!“, brüllte der Grabräuber. „Ich glaube kein einziges Wort mehr, das über deine Lippen kommt! Ich fand es gleich seltsam, als du so darauf gepocht hast, ist solle dem Pharao keine Schuld geben! Jetzt weiß ich, warum. Warum du so dringend wissen wolltest, wie ich heute über dieses Thema denke! Warum du daraufhin versuchen wolltest, mich von hier fort zu locken! Weil sie genau so denkt!“ „Lass es mich erklären! Sie ist...“ „Es ist mir scheißegal, was sie ist! Du hast mich belogen. Du bist mir in den Rücken gefallen...“ „Bakura, bitte...“ „Scher dich raus!“, schrie der König der Diebe. „Geh mir aus den Augen! Sofort!“ Keiros Blick wanderte noch einen Moment unschlüssig zwischen seinem Bruder und der Schattentänzerin hin und her. Dann setzte er sich schwerfällig, mit ungläubigem Ausdruck auf dem Gesicht, in Bewegung. Ehe er in den Gang hinaus trat, blieb er noch einmal stehen. „Herzlichen Glückwunsch, Risha. Du hast es geschafft“, murmelte er. „Diese Ehre gebührt nicht mir“, erwiderte sie kalt. „Das hast du ganz alleine vollbracht.“ Keiro ballte die Hände zu Fäusten, wusste jedoch, dass es sinnlos war. Ohne ein weiteres Wort verließ er den Raum. Als seine Schritte verklungen waren, bewegte sich auch seine Cousine wieder. Sie wirbelte auf dem Absatz herum und machte Anstalten, ebenfalls zu verschwinden. Ihr Kopf dröhnte und sie konnte das Zittern, das ihren Leib schüttelte, kaum noch unterbinden. Dennoch hielt sie kurz inne, ehe sie ging. „Wir reden später … “, flüsterte sie an die einzige Blutsverwandtschaft gewandt, die noch zugegen war. Dann verschwand sie und ließ das Trümmerfeld hinter sich, das sich an diesem Abend erneut vor ihr aufgetan hatte. Noch immer hielt die Nacht das Land in ihrer Gewalt. Die Sternen funkelten hell am Firmament. Doch heute ließ sie ihnen keine Beachtung zukommen. Risha hatte sich in das Zelt zurück gezogen, das man für sie aufgestellt hatte. Seit Stunden saß sie nun schon auf der Kante ihrer Schlafstätte und drehte den Reif der Göttin Isis in den Händen. Wie schnell es gehen konnte. Im einen Moment wurde ihre Gefühlswelt noch beeindruckt vom Triumph, ein weiteres Relikt gefunden zu haben – und im nächsten Augenblick war an derselben Stelle nur noch gähnende Leere, in deren Untiefen ein Schmerz pulsierte, den sie krampfhaft zu leugnen versuchte. Doch irgendwann musste die Einsicht kommen, dass es Keiro ernsthaft geschafft hatte, sie zu treffen. Sie hatte ihm einiges zugetraut. Doch dass er so weit gehen würde, hatte sie nie vermutet... Ebenso wenig, wie sie geglaubt hatte, Bakura jemals wieder zu sehen. Sie seufzte, versuchte abermals den Kampf gegen den Kloß in ihrem Hals zu gewinnen. Diese Empfindung gefiel ihr ganz und gar nicht. Wie lange hatte sie schon nicht mehr geweint? Es war Jahre her. Und nun stand sie kurz davor, es doch zu tun. Aber war das nicht normal? Man erfuhr nicht alle Tage, dass ein tot geglaubter Verwandter plötzlich quicklebendig war. Doch warum war ihr dann nach Weinen zumute? Sollte sie sich nicht freuen? Nicht angesichts dessen, was sich soeben im Palast abgespielt hatte … Immer wieder hatte sie sich vorgestellt, wie es sein würde, eines Tages dem Pharao gegenüber zu stehen. Dem Mann, der ihre Verwandtschaft ausgelöscht hatte. Nun war es ganz anders gekommen. Sie hatte ihm nicht einmal einen Funken ihrer Aufmerksamkeit zukommen lassen. Sie ließ das Relikt zu Boden fallen und legte den Kopf auf die Knie, krallte die Hände ins Haar. Ihr Kopf dröhnte, ihr Körper zitterte. Wie eine schwarze Flut rollten die Erinnerungen über sie herein. Feuer. Blut. Tod. Der Gestank von Verwesung. Sie hatte es überlebt, weil sie davon gelaufen war. Ängstlich und feige. Da war zwar dieser Soldat gewesen, der mit dem Schwert nach ihr geschlagen hatte, doch er hatte nur ihren Fuß erwischt. Blutend hatte sie sich in die Wüste geschleppt, bis sie das Bewusstsein verloren hatte. Sie mochte damals vier Jahre alt gewesen sein und dennoch schalt sie sich für ihr Verhalten. Seitdem hatte sie sich geschworen, nie wieder so feige zu sein. Wieder wanderte ihr Denken zu der Szene, die sich im Saal des Palastes abgespielt hatte. Sie vermochte kaum, einen klaren Gedanken zu fassen. Das alles war zu irreal. Zu frisch. Immer wieder spielten sich die Bilder vor ihrem inneren Auge ab, doch sie war nicht fähig, sie zu begreifen. Sie fuhr hoch, als jemand das Tuch beiseite schlug, das den Zelteingang verdeckte. Es war Riell. Er maß sie mit einem müden Lächeln. „Darf ich?“ Ein stummes Nicken folgte, woraufhin er eintrat und neben ihr Platz nahm. Er musterte sie eingehend. „Wie geht es dir?“ Sie ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. Ihn brauchte sie nicht zu belügen. Sie mochten nicht verwandt sein, was das Blut anging, doch er war ein Bruder für sie. „Mein Kopf dröhnt. Meine Hände zittern und mir ist kalt. Das sagt alles, oder?“ „Was ist mit deinem Knöchel?“, fragte Riell, dem die Schwellung nicht entgangen war. Aber seine Schwester winkte ab. „Nur verstaucht. Ist in ein paar Tagen wieder gut.“ Der Schattentänzer lächelte. „Du solltest versuchen, zu schlafen. Auch, wenn das abgedroschen klingen mag. Du wirst sehen, es wird dir leichter fallen, als du denkst. Morgen sieht die Welt schon wieder anders aus. Hey!“, meinte er und legte ihr eine Hand auf die Schulter, als er ihren unveränderten Blick sah. „Bakura ist wieder da! Ich kann deine Wut verstehen, aber du solltest dich zumindest ein bisschen freuen, meinst du nicht auch?“ Sie seufzte. „Das mag sein. Aber wer weiß... es ist viel Zeit vergangen. Ich habe keine Ahnung mehr, wer er ist. Verstehst du, was ich meine?“ Riell nickte verständnisvoll. „Lass es einfach auf dich zukommen – nachdem du geschlafen hast. Ich passe solange darauf auf.“ Er erhob sich und ergriff den Reif der Isis, sowie den Dolch des Anubis, der daneben lag. Dann ging er hinaus. „Und denk daran: Ganz gleich, was ist, ich bin da.“ Raschelnd glitt das Tuch am Eingang des Zeltes beiseite, dann war er verschwunden. Risha seufzte noch einmal, dann ließ sie sich geräuschvoll in die Kissen fallen. Konnte die Welt auch einmal nicht kompliziert sein? Die ersten sanften Sonnenstrahlen weckten Atemu. Noch ein wenig verschlafen richtete er sich auf. Für eine Weile saß er einfach nur da und lauschte den Geräuschen der Stadt, die allmählich zu erwachen begann. Sie waren regelrecht beruhigend. Denn nichts deutete darauf hin, dass sich Caesian erneut gerührt hatte. Was nicht bedeutete, dass sich das nicht von jetzt auf gleich ändern konnte. Und eben dieser Umstand war es, der den Pharao quälte und ihn jeglicher Ruhe beraubte. Denn dieser Mann war da draußen und er war fest entschlossen. Das hatte er bei ihrem letzten Zusammentreffen nur allzu deutlich gemacht. Atemu hatte sich bald danach gefragt, warum er und die anderen mit dem Schrecken davon gekommen waren. Ihnen allen waren noch die Anstrengungen der Schlacht um Men-nefer in den Gliedern gesessen. Zudem war Caesian nicht nur im Besitz einiger Relikte, er gebrauchte sie auch. Warum hatte er es nicht gleich an Ort und Stelle zu einem Ende gebracht? Seto war es schließlich gewesen, der eine Vermutung geäußert hatte. Der Feind wollte keinen klammheimlichen Sieg. Er wollte den Pharao nicht nachts in einer einsamen Ruine stürzen. Nein, dieser Mann wollte eine Bühne und Zuschauer – und diese fand er in Men-nefer und dessen Bewohnern. Es sollte ein Triumph sein, eine gigantische Inszenierung, die Caesians Macht untermauerte. Er konnte nicht leugnen, dass diese Erkenntnis erschreckend war. Denn sie bedeutete, dass der Feind vielleicht noch nicht annähernd gezeigt hatte, wozu er fähig war. Aber es waren nicht nur die Probleme außerhalb der Stadtmauern, die ihn plagten. Auch im Palast brannte es an allen Ecken und Enden. Da waren zunächst Joey, Tea, Yugi, Ryou und Marik, die ihm zwar tapfer wie eh und je zur Seite standen, denen er jedoch die Sorgen ansah. Natürlich fragten sie sich, wann sie wieder in ihre Zeit zurück kommen würden – oder ob das überhaupt möglich war. Dann gab es Seto, der zwar zu verbergen suchte, welche Vorwürfe er sich auch jetzt noch für die derzeitige Situation machte, dem es jedoch immer seltener gelang, diese wirklich zu verstecken. Sowohl seinen Freunden, als auch seinem Cousin, hätte er diese quälenden Gedanken nur zu gerne genommen. Doch er wusste, dass er dazu nicht in der Lage war. Zudem endeten die Probleme damit noch nicht. Es gab des Weiteren Marlic, von dem seit dem Streit mit Bakura nichts mehr zu sehen gewesen war. Wo er auch schon beim nächsten Thema war: Der Grabräuber, sein Bruder und deren Cousine. Im Endeffekt war dies eine Familienangelegenheit, die ihn nichts anging, hätte er sich nicht so bodenlos in Keiro getäuscht. Dieser Mann schien das genaue Gegenteil vom König der Diebe zu sein – obgleich sie doch Zwillinge waren. Nun hatte sich herausgestellt, dass dem ganz und gar nicht so war. Offenbar gab es in dieser Familie niemanden, der davor zurück schreckte, über Leichen zu gehen. Nur jeder auf seine Weise. Bakura hatte den Pharao beseitigen wollen, Keiro hatte deutlich gemacht, dass er bereitwillig Risha aus dem Weg zu räumen würde und diese wiederum machte keinen Hehl daraus, dass sie einen ihrer beiden Cousins am liebsten noch gestern getötet hätte. Aber wie auch immer – was zählte war, dass er Keiro völlig falsch eingeschätzt hatte. Er musste künftig vorsichtiger sein. Denn jemand, der sein eigen Fleisch und Blut hasste, war in anderen Lebensbereichen vielleicht erst recht skrupellos. Der letzte sorgenvolle Punkt auf der Liste waren Riell und die Schattentänzer. Sie standen nun auf derselben Seite, doch ihm entging nicht, dass die Mitglieder des Clans mehr als misstrauisch waren, was ihn betraf. Hinzu kam, dass viele von ihnen immer noch schwer verletzt waren und nicht annähernd so schnell auf die Beine kamen, wie er es sich gewünscht hätte. Seufzend stand er auf. Vielleicht konnte er zumindest, was das anging, etwas ändern. Er hatte ohnehin mit Riell reden wollen, da sich gestern keine Gelegenheit mehr geboten hatte, den Reif der Isis anzusprechen. „Auch endlich aufgewacht?“, grinste Riell seiner Schwester entgegen, als diese irgendwann doch noch aus den Federn gekrochen kam. Sie unterdrückte ein herzhaftes Gähnen und strich sich die wirren Haare aus dem Gesicht. „Sieht ganz so aus, nicht?“, erwiderte sie und ließ sich neben ihm im Schatten einer Mauer nieder. Gerade wollte ihr Bruder sie fragen, wie sie geschlafen hatte, da wurde sein Ansatz im Keim erstickt – von einem aufgeregten Quiecken, gefolgt von schnellen Schritten. Es war Sam, die fröhlich auf sie zugewuselt kam. „Prinzessin! Äh... ich meine... Euer Majestät“, korrigierte sie sich auf Rishas strengen Blick hin schnell. „Schön, dass Ihr wach seid! Ich hole Euch Wasser zum Waschen!“ Ohne eine Antwort abzuwarten verschwand sie ebenso schnell wieder, wie sie gekommen war. Riell sah ihr schmunzelnd nach, ehe er sich an seine Schwester wandte. „Warum bist du manchmal so pingelig mit ihr? Kipino nennt dich auch 'Prinzessin'.“ „Ich hasse diesen Titel...“, seufzte Risha und legte den Kopf auf die Knie. „Sie ist noch jung genug, um ihr das auszutreiben. Bei Kipino hingegen sind Hopfen und Malz verloren.“ „Ganz egal, was du sagst“, erwiderte Riell und kniff sie in die Seite. „Für mich wirst du immer die kleine Prinzessin bleiben.“ Seine Schwester maß ihn daraufhin mit hochgezogener Augenbraue. „Danke, aber es geht mir gut. Wirklich.“ Auf seinen verdutzten Blick hin fügte sie hinzu: „Ja, ich bin noch immer nicht begeistert von der Situation. Aber ich habe mich noch nie unterkriegen lassen. Das wird auch nun nicht der Fall sein. Du brauchst dich nicht um mich zu sorgen. Mit Keiro werde ich schon fertig.“ Riell wollte antworten, doch wieder kam ihm Sam zuvor. Das Mädchen hatte eine große Schüssel mit Wasser geholt und eilte ihnen entgegen. Risha nutzte die Gelegenheit, um das Gespräch – und somit das Thema – zu beenden. Sie dankte dem rothaarigen Nervenbündel, das ihr sogar anbot, ihr wie in echten Königshäusern beim Ankleiden zu helfen, lehnte freundlich aber bestimmt ab und verschwand in ihrem Zelt. Riells fröhliche Miene schwand auf der Stelle. Er legte die Stirn in Falten und ließ die Augen stur auf den Zelteingang gerichtet, in dem Risha soeben verschwunden war. Diese Art passte nicht zu ihr. Normalerweise sollte sie von früh bis spät toben und fluchen, eventuell auch arme, unschuldige Vasen kaputt schlagen … aber nicht diese Gleichgültigkeit. Das bedeutete nichts Gutes. Denn es zeigte, dass es Keiro gelungen war, seine Cousine nicht nur an der Oberfläche zu kratzen, sondern ihr tatsächlich Schaden zu zu fügen. Immerhin reagierte sie derzeit so, wie sie es immer tat, wenn sie etwas nicht wahr haben wollte. Sie blockte das Thema ab, sprach ungern darüber. Fast, als befürchte sie, dann der Wahrheit ins Auge zu blicken. Um Keiros Willen konnte Riell dennoch nur hoffen, dass diese Phase noch lange anhielt. Denn irgendwann würde sich Risha der Realität stellen müssen. Und dann wollte er nicht in der Haut ihres Cousins stecken … Er saß auf der steinernen Brüstung des Balkons, der vor seinem Zimmer verlief. Er hatte alles versucht. Schreien. Fluchen. Trinken. Schlafen. Nichts hatte die unbändige Wut in seinem Inneren beruhigen können. Ausgerechnet Keiro … er war der letzte Mensch, dem er solch eine Tat zugetraut hätte. Und trotzdem war eingetreten, was er für unmöglich gehalten hatte. Warum hatte er ihm nicht gesagt, dass da noch jemand war, der überlebt hatte? Und dann auch noch seine Cousine! Hatte Keiro nicht gerafft, dass die Narben, die Bakura in dieser einen Nacht in Kul Elna davon getragen hatte, sich niemals schließen würden? Dass dieser Schmerz, wenn die Bilder vor seinem inneren Auge aufflammten, immer wieder kehren würde? Warum, warum zum Teufel hatte ihm sein eigener Bruder etwas vorenthalten, das vermochte, diese tief sitzende Pein zumindest ein wenig zu lindern? Je länger er darüber nachdachte, desto mehr musste er sich eingestehen, dass es jedoch etwas anderes war, das ihn bei Weitem mehr traf. Keiro hatte ihn belogen. Der einzige Mensch, bei dem er sich trotz der Mauer, die er über all die Jahrtausende um seine Gefühlswelt errichtet hatte, sicher gewesen war, ihm vertrauen zu können. Für einen Moment zuckte der trotzige Gedanke durch seinen Kopf, dass Marlic mit der Behauptung, man sei ohne Familie besser dran, recht gehabt haben könnte. Dann würde er sich jetzt nicht so wahnsinnig erniedrigt und hintergangen fühlen. Zudem war er behandelt worden wie ein kleines, unmündiges Kind, das nicht fähig war, selbst zu entscheiden- etwas, das er schon immer abgrundtief gehasst hatte. Er schreckte aus seinen Gedanken hoch, als es an der Tür klopfte. Er erwog, zu antworten, entschied sich jedoch, zu schweigen. Wer auch immer ihm auf die Nerven gehen wollte, er würde sicher gleich wieder verschwinden. Doch es kam anders. Nachdem Bakura auch alle weiteren Laute ignoriert hatte, wurde die Tür einfach geöffnet. In diesem Moment bestätigte sich, was er befürchtet hatte. Er brauchte nicht hinzusehen, um zu wissen, dass es Keiro war, der den Raum betreten hatte. Seine langsamen, beinahe ängstlichen Schritte, die immer wieder inne hielten, waren Sprache genug. Der Grabräuber konnte ein Schnaufen nicht unterdrücken. Er wagte es also tatsächlich, ihm noch einmal unter die Augen zu treten? In einer fließenden Bewegung glitt er von der steinernen Brüstung herunter und baute sich zu voller Größe auf. „Was willst du?“ Keiro wich instinktiv ein Stück zurück. Seine Augen senkten sich kurz zu Boden, ehe er versuchte, dem stechenden Blick seines Bruders stand zu halten. „Bitte, Bakura. Lass es mich erklären...“ „Erklären?“, donnerte sein Gegenüber. „Es gibt nichts zu erklären!“ Dann rauschte der Grabräuber an ihm vorüber, der Tür entgegen. „Ich weiß, dass ich dich damit verletzt habe! Und es tut mir leid!“ Wie angewurzelt blieb der König der Diebe stehen, seine Hand verweilte ein Stück über dem Türknauf. Langsam – es kam Keiro wie eine quälende Ewigkeit vor – drehte er sich um. Doch sein Bruder fand in seinen Augen nicht das worauf er gehofft hatte. Da war keine Spur von Milde. Nein, viel mehr war es neben der vorherigen Härte nun auch Spott, der darin glänzte. „Du glaubst also, du hättest mich verletzt?“, meinte Bakura und schüttelte dabei den Kopf. „Oh nein. Du hast mich verraten, das ist alles.“ „Und es tut mir unendlich leid!“, rief Keiro verzweifelt und ging auf ihn zu. „Ich hätte das nicht tun dürfen. Aber es war doch nur zu deinem Besten!“ „Woher will jemand, den ich zuletzt vor siebzehn Jahren sah, wissen, was für mich das Beste ist?“, war die kalte Antwort. Und sie verfehlte ihr Ziel kein bisschen. Bakura konnte seinem Bruder nur allzu deutlich ansehen, wie seine Gesichtszüge entglitten. Er schluckte merklich, rang um seine Fassung und fand sie schneller wieder, als gedacht. „Vielleicht hast du damit gar nicht so unrecht“, überlegte Keiro schließlich laut. „Und trotzdem tat ich das nur, um dich zu schützen. Geh meinetwegen und sprich mit Risha. Mach dir dein eigenes Bild von ihr. Aber du wirst keine Freude daran haben. Sie ist nicht mehr der Mensch, der sie einmal war … “ Bakura kam mit zwei schnellen Schritten auf ihn zu, sodass er nun direkt vor ihm stand. Seine Stimme war kaum mehr, als ein bitteres Zischen. „Hör endlich auf mit dieser Leier. Ich habe es satt! Bist du wirklich so blind, dass du es nicht siehst? Keiner von uns ist seit dieser Nacht noch derselbe. Auch du nicht, Keiro … “ Mit diesen Worten wirbelte er herum und verließ den Raum. Mit einem lauten Knall fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ Somit wären wir also bei Kapitel 21 angekommen und die Katze ist endlich aus dem Sack. Ich habe mich so lange darauf gefreut, Risha und Keiro endlich aufeinander prallen zu lassen. Jetzt ist es geschehen und es wird allmählich klar, dass der Gute nicht unbedingt die freundliche und aufrichtige Seele ist, die er anfangs abgibt. Außerdem hat Risha jetzt einen Platz in der kleinen, fiktiven Welt. An dieser Stelle nochmal: Nein, es wird kein Pairing zwischen gewohnten und von mir erfundenen Charakteren geben. Nur, falls irgendjemand nach der Lektüre dieses Kapitels darüber nachdenkt ... Ich weiß, dass die Seriencharaktere in diesem Kapitel ein wenig zu kurz kommen. Aber manchmal stecke auch ich in dem Schlamassel, das sicher jeder FF-Schreiber kennt. Über die Charaktere aus der Serie hat der Leser ja meist schon ein gewisses Vorwissen, bei den erfundenen Charakteren des Autors eben nicht, weshalb man als Autor immer wieder erklären muss. Beim nächsten Mal wieder mehr von unseren eigentlichen Helden, versprochen. So, ich verabschiede mich nun aber erst einmal in den Urlaub. Gruß, Sechmet Kapitel 21: Gesichtet --------------------- Gesichtet Nachdem sie sich den Dreck der vergangenen Tage endlich hatte abwaschen können, fühlte sich Risha gleich wohler. Sie war gewiss nicht so verwöhnt wie diese ganzen reichen Weiber, die in den großen Städten lebten, aber auch sie war reinlich. Frisch gesäubert, verließ sie ihr Zelt und ließ sich wieder neben Riell nieder, der inzwischen mit einigen anderen dabei war, Waffen zu putzen und deren Klingen zu schärfen. Risha nutzte die Gelegenheit und befreite auch ihren letzten Dolch vom Schmutz – der hauptsächlich aus Blut bestand. Nach einer Weile erhob sich Sam, die ebenfalls in der Runde saß. „Ich bringe die sauberen Waffen schon einmal in Euer Zelt, Herr“, meinte sie an Riell gewandt, der dankbar nickte, ehe er sich wieder dem Schwert auf seinem Schoß widmete. Sofort wuselte die Kleine davon. Nur um im nächsten Moment ihre kostbare Fracht unter lautem Poltern zu Boden fallen zu lassen. Die beiden amtierenden Oberhäupter des Clans sahen nicht einmal auf, sondern seufzten nur schwer. „Wie oft denn noch, Sam?“, sagte Risha resignierend. „Wenn du mal ein bisschen langsamer machen würdest … “ Doch die Schattentänzerin wurde unterbrochen. Eine Verhaltensweise, die ganz und gar untypisch für Sam war. „Was will der denn hier?“, rief sie aus und die Überraschung in ihrer Stimme ließ Riell und seine Schwester doch noch die Köpfe heben. Sie folgten dem Blick der Rothaarigen. Schlagartig verfinsterte sich Rishas Miene zu einer abwertenden Grimasse. Sie sah beinahe so aus, als habe sie soeben in ein Stück verdorbenes Fleisch gebissen. Ihr Bruder hingegen kam rasch auf die Beine, ging zu der Kleinen hinüber und legte ihr eine Hand auf das Haupt. „Na ja, ich würde mal behaupten, das hier ist sein Palast, oder? Da kann er hingehen, wo er will.“ Denn es war niemand anderes als Atemu, der über den großen Vorhof direkt auf sie zu schritt. Er hob die Hand zu Gruß, als er Riell erreichte. „Guten Morgen, Euer Hoheit. Ich hoffe, Ihr hattet eine angenehme Nacht?“, erkundigte sich der Schattentänzer auch gleich, als sie sich schließlich gegenüberstanden. Seine Finger lagen noch immer auf dem roten Haar des jungen Clanmitgliedes, beinahe so, als glaube er, sie dadurch unter Kontrolle zu haben. „Wie man es nimmt, danke der Nachfrage“, erwiderte Atemu freundlich, ehe sein Blick zu Sam wanderte. „Und wer bist du?“ „Ich bin Samira“, sagte die Kleine. „Also für dich bin ich Samira. Leute, die ich mag, dürfen mich Sam nennen.“ „Zügelst du wohl dein Mundwerk?“, meinte Riell erschrocken und packte sie an der Schulter. „Nein, nein, ist schon gut“, wollte der Pharao ihn gerade beschwichtigen, da plapperte die Rothaarige auch schon munter weiter. „Sag mal, wie ist das eigentlich so, ein Bastard zu sein?“, sagte sie und machte dabei ein Gesicht, dass das eines Neugeborenen in Sachen Unschuld weit abhängte. Nun erschien so etwas wie Panik auf dem Gesicht des Älteren. „Wie bitte … ?“ „Was denn?“, erwiderte Sam beleidigt. „Risha sagt das auch immer. Und bei der macht Ihr keinen Aufstand.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und stapfte wütenden davon. Alle Versuche, sie davon abzuhalten, scheiterten kläglich. „Sam! Sam, komm auf der Stelle zurück! Du entschuldigst dich sofort!“ Schließlich wandte er sich resignierend an Atemu. „Es tut mir unendlich leid, Euer Hoheit. Bitte verzeiht diesen Vorfall. Ich werde ein ernstes Wörtchen mit ihr sprechen müssen … “ Doch der Pharao winkte ab. „Sie ist noch ein Kind. Sie wird gar nicht wissen, was dieser Begriff bedeutet.“ Riell seufzte. „Sie mag jung sein, doch sie ist älter, als die Zeit einem glauben machen will. Und das Schlimmste an ihrem ungezügelten Mundwerk ist, dass sie sich der Tragweite ihrer Aussagen zumeist mehr als bewusst ist. Ich hoffe sie wird irgendwann lernen, sich zu beherrschen. Doch sagt, was führt Euch zu so früher Stunde zu uns?“ „Ich komme wegen dem Reif der Isis. Joey und Tea haben mir berichtet, dass er sich noch im Besitz Eurer Schwester befindet. Ich wollte ihn lediglich kurz in Augenschein nehmen, nachdem die Umstände gestern ein wenig … widrig waren“, erklärte seine Majestät schließlich. „Ah, das trifft sich hervorragend. Ihr habt recht, ich hatte sie Euch gar nicht vorgestellt.“ Er wandte sich nach der Schattentänzerin um, die die ganze Zeit schon zu ihnen herüber sah. Und das mit sehr skeptischem Gesichtsausdruck. „Risha! Komm mal bitte! Es geht um das Relikt.“ Ihre fliedernen Augen fixierten ihn kurz, dann stand sie tatsächlich auf. Was sie dann jedoch tat, widersprach den Hoffnungen Riells. Sie nahm den Reif der Isis und warf ihn ihrem Bruder zu. Dann bückte sie sich erneut, schnappte sich den Dolch des Anubis und verschwand mit einem letzten, abwertenden Blick in ihrem Zelt. Und das, ohne auch nur ein Wort verloren zu haben. Völlig perplex starrte Riell auf die Stelle, wo sie soeben verschwunden war. Ihm war bereits dieses kleine Plappermaul namens Sam unangenehm gewesen, doch diese absolute Missgunst, die seine eigene Schwester dem Herrscher der zwei Länder zuteil werden ließ, ließ ihn beinahe verzweifeln. Nun erst recht beschämt, drehte er sich zu Atemu um, der nicht minder verblüfft drein sah. „Nun … “, begann Riell. „Sie ist manchmal etwas schwierig … “ „Macht Euch keine Gedanken“, beschwichtigte ihn der Pharao. „Eigentlich trifft sich das ganz gut. Diese Reaktionen waren ein weiteres Thema, über das ich mit Euch sprechen wollte. Vielleicht gibt es ja irgendeine Möglichkeit, das Vertrauen Eures Clans zu gewinnen.“ „Mich freut, dass Ihr so denkt. Doch ich befürchte, dass das in etwa so schwierig zu bewerkstelligen sein wird, wie ein Sieg über Caesian. Von den Opfern, die auf dem Weg dahin gebracht werden müssten, ganz abgesehen. Lasst uns ein anderes Mal darüber sprechen. Derzeit ist alles in Ordnung. Sie wissen, dass ich Euch vertraue und werden auch meinen Befehlen folgen. Das ist alles was zählt, den Rest kann man diskutieren, wenn die Gefahr gebannt ist“, entgegnete Riell. „Sie mögen auf Euch hören. Doch lauschen sie nicht auch den Worten Eurer Schwester?“, erkundigte sich Atemu. „Ja, Risha mag Euch gegenüber … abgeneigt sein, um es mild zu formulieren. Aber sie ist kein Narr. Sie weiß, dass wir auf derselben Seite kämpfen müssen, um Caesian in die Knie zu zwingen. Sorgt Euch nicht um sie. Nun kommt, ich begleite Euch wieder hinein. Hier draußen ist es ein wenig warm zum plaudern.“ Gemeinsam gingen sie zurück in Richtung des Palastes – nicht wissend, dass sie beobachtet wurden. Und zwar von einer feixenden Sam, die sich im Schutz der schattigen Säulengänge verkrochen hatte. Für wie doof hielt dieser König sie eigentlich? Als ob sie nicht wusste, was es mit dem Wort 'Bastard' auf sich hatte! Und wie gut sie darüber informiert war … Sie hatte es ja nicht ohne Grund gebraucht. Jetzt hatte sich dieser Atemu hoffentlich gleich hinter die Ohren geschrieben, dass sie auf Rishas Seite war! Und absolut niemand würde diese Einstellung ändern können. Seitdem die Blonde sie vor einigen Jahren beschützt hatte, nachdem sie von ihren Eltern ausgesetzt und bald darauf von Banditen angegriffen worden war, galt ihr Sams gesamte Loyalität. Sie würde ihr auf jeden Pfad folgen, ganz gleich, wohin er sie führte. Selbst, wenn er sie in den Tod geleiten würde … Schritte rissen sie aus ihren Gedanken. Als sie sich umsah, entdeckte sie am anderen Ende des Säulenganges einen jungen Mann mit weißem Haar und rotem Mantel. Er trug eine Narbe unter dem linken Auge – was auch das einzige war, das ihn, abgesehen von den kürzeren Haaren, von seinem Bruder unterschied. Es gab keinen Zweifel. Das musste also Bakura sein. Aufgeregt hüpfte die Rothaarige von einem Bein auf's andere. Er war also mit ihrer Herrin verwandt? Dann musste er bestimmt voll toll sein. Denn eigentlich war Rishas ganze Familie – abgesehen von Keiro natürlich! – total klasse, wie Sam fand. Kurzer Hand entschied sie, ihn zu begrüßen. Flinken Schrittes eilte sie ihm entgegen. „Hey, du da? Ja, genau du, dich meine ich!“, rief sie schon von Weitem, sodass der Grabräuber, der eigentlich gerade noch seinen wütenden Gedanken nach gehangen war, hoch schreckte. Verdutzt musterte er das kleine Energiebündel, das schlitternd vor ihm zum Stehen kam und ihn aus großen Augen ansah. „Boha, du hast ja sogar dieselben Augen wie die Herrin Risha!“, platzte es schließlich aus ihr heraus, was Bakura eine Augenbraue hochziehen ließ. „Ja... Wirklich der Wahnsinn, man könnte meinen, wir wären miteinander verwandt!“, entgegnete er mit Sarkasmus in der Stimme und wollte schon an der Rothaarigen vorbei gehen, da packte diese ihn am Arm. „Dann bist du also wirklich Bakura? Klasse! Ich wollte dich schon immer mal kennen lernen! Ich bin Samira, aber Freunde dürfen mich Sam nennen. Und da Risha sowas wie meine beste Freundin ist, darfst du das auch!“ Der König der Diebe schaffte es schließlich, ihr seine Hand zu entziehen – doch nur, um sie im nächsten Moment wieder im Klammergriff des Mädchens vorzufinden, das fröhlich weiter plapperte. „Guck mal, da wohnen wir zur Zeit! Aber das ist nur vorüber gehend, wenn Caesian weg ist, dann gehen wir wieder heim, da ist unser Lager noch viel, viel größer! Risha ist auch dort, ich bring dich zu ihr, komm!“ Sie zog und zerrte, doch Bakura, dem der Geduldsfaden allmählich riss, befreite sich von ihrem Griff und blieb wie angewurzelt stehen. „Danke für die Info, aber da hätte ich auch selber drauf kommen können! Ich brauche kein Kind, das mir den Weg zeigt, ich finde mich alleine zurecht.“ Er wollte endgültig an ihr vorbei stapfen, da veränderte sich Sams Miene schlagartig. Die kindliche Freude wich, an ihre Stelle trat ein Ausdruck von Wut. „Kind? Kind? Ich?“, brüllte sie, sodass der Grabräuber wie vom Blitz getroffen stehen blieb. „Ich bin kein Kind, kapiert? Ich bin ein Schattentänzer und einer der gefährlichsten noch dazu, du Großkotz!“ „Aber natürlich“, entgegnete Bakura gelassen. „Und Schweine können fliegen … “ „Die vielleicht nicht“, motzte Sam weiter und ballte die Hände zu Fäusten. „Aber du kannst gerne fliegen lernen, wenn du willst!“ Eine strenge Stimme unterbrach sie plötzlich in ihrem Redefluss. „Samira! Habe ich nicht gesagt, du solltest es unterlassen, andauernd irgendwelche Leute zu belästigen?“ Augenblicklich fuhr die Rothaarige herum und sah sich ihrer Herrin, wie sie es ausdrückte, gegenüber. Die Kleine schluckte, als sie merkte, dass die Strenge nicht nur in Rishas Stimme, sondern auch in ihrem Blick lag. Zudem zuckte eine Ader an ihrer Schläfe gefährlich. „Majestät, ich … wollte Euch nicht stören … “ „Ach, nein? Und ich dachte, das wäre deine Absicht gewesen, so, wie du herum geschrien hast. Man hat dich über den halben Hof gehört“, entgegnete die Blonde kühl. Als die Jüngere etwas entgegnen wollte, gebot sie ihr, zu schweigen. „Sag, wolltest du nicht noch einige Waffen in Riells Zelt bringen, die du vorhin hast fallen lassen?“ Für einen Moment wurde Sam blass, dann nickte sie schnell und verschwand eiligen Schrittes, sodass der Sand des Vorhofes hinter ihr aufwirbelte. Zurück blieben ein Grabräuber und eine Schattentänzerin, eingebettet in tiefes Schweifen. Ein jeder von ihnen mied den Blick des anderen. Risha war schließlich die Erste, der die Stille auf den Leim ging. „Ich muss mich entschuldigen, das Gör ist manchmal etwas vorlaut“, sagte sie, während sie Sam dabei zusah, wie sie die Schwerter und Dolche aufsammelte. „Also ob du dich dafür zu entschuldigen bräuchtest“, erwiderte Bakura. „Die Kleine ging mir auf den Nerv, nicht du.“ „Und dennoch liegt ihr Handeln in meiner Verantwortung. Sie ist ein Mitglied des Clans, der derzeit mir und Riell untersteht. Zudem ist sie noch ein Kind. Was auch immer sie tut, ich werde es ausbaden dürfen, bis sie alt genug ist. Nun … wenigstens hört sie manchmal, wenn ich ihr etwas sage“, seufzte Risha und fuhr sich durch die Haare. „Um ihr Ego brauchst du dir jedenfalls keine Sorgen zu machen. Das reicht von hier bis nach Timbuktu“, entgegnete der Grabräuber, der ebenfalls dabei zusah, wie Sam versuchte, möglichst viele Waffen auf ihren Armen zu platzieren. „Teilweise zurecht“, erwiderte Risha. Sie hatte zwar keinen blassen Schimmer, wo Timbuktu liegen sollte, aber da sie es nicht kannte, schloss sie, dass es weit entfernt sein musste. „Für ihr Alter birgt sie ein unglaublich starkes Ka. Aber gut, ich glaube nicht, dass Sam unser Thema sein sollte“, fuhr sie fort und sah ihr Gegenüber nun zum ersten Mal richtig an. Bakura konnte nicht leugnen, dass er sich in diesem Moment regelrecht durchbohrt fühlte. „Wahrscheinlich … “, meinte er darum nur und verschränkte die Arme vor der Brust. Eine Geste, die Risha bestätigte, was sie schon die ganze Zeit über vermutet hatte. Und die sie auch irgendwie beruhigte. „Keine Sorge. Weder werde ich dir jetzt um den Hals fallen, noch werde ich laut herum schreien, wie toll das ist, dich wieder zu haben. Das ist anscheinend nicht in deinem Interesse … und im übrigen auch nicht in meinem. Dafür bin ich mittlerweile zu abgestumpft.“ Der Grabräuber maß sie mit einem verwunderten Blick, was Risha nicht entging. „Was ist?“, meinte sie. „Wo ist das Problem, das Kind beim Namen zu nennen?“ Sie hatte ja recht. Eigentlich war es ganz simpel. Kul Elna hatte ihn nicht mehr an all die positiven Gefühle glauben lassen, die er als kleiner Junge noch besessen hatte. Er hatte sie fein säuberlich abgeschirmt und weg geschlossen, um sie nie wieder empfinden zu müssen. Denn alles, was sie am Ende hervor brachten, war doch nur wieder Leid, wenn man sie verlor. Auch, wenn sie sich am Anfang vielleicht gut anfühlen mochten. Zudem boten sie einem Feind stets eine Angriffsfläche. Dennoch war es ihm Keiro gegenüber einfach nicht gelungen, diesen Umstand in klare Worte zu fassen, zu bezeichnen. Was Risha hingegen leicht von der Hand zu gehen schien. Sie sagte, wie es war und nahm ihm damit eine Last von den Schultern. Zugleich verdutzte ihn ihre Reaktion. Ganz unrecht schien sein Bruder nämlich nicht gehabt zu haben. Die eiserne, fast kalte Miene, die noch immer auf dem Gesicht der Schattentänzerin saß, wie eine Maske, wollte nicht zu seinen Erinnerungen passen. War sie nicht ein recht fröhliches, kleines Mädchen gewesen? Aber gut, es war viel Zeit vergangen. Zu viel Zeit. „Im übrigen … “, fuhr Risha schließlich fort. „Werden wir wohl nicht drum herum kommen, ein weiteres Thema anzusprechen.“ Bakura nickte. Er konnte sich denken, was sie meinte. „Keiro“, sagte er. „So ist es“, bestätigte seine Cousine. „Dir dürfte nicht entgangen sein, dass er mir sehr abneigend gegenüber steht. Was das betrifft, frag ihn selbst, wo die Probleme liegen. Das Einzige, das ich mit ihm habe, ist das gestohlene Relikt. Und die Tatsache, dass er mich offenbar am liebsten umbringen würde. Ich glaube nicht, dass ich mir nach deiner Reaktion gestern Sorgen zu machen brauche, und dennoch würde ich dich bitten, dir dein eigenes Bild von mir zu machen und ihm nicht blind zu glauben. Einige seiner Ansichten, gerade die, die den Clan betreffen, sind schlichtweg falsch. Ebenso wie die Aussage, ich hätte ihn töten wollen, als er Bastets Amulett an sich nahm. Genau so wenig bin ich das Monster, das er in mir zu sehen glaubt. Aber das hängt wohl vom Blickwinkel des Betrachters ab.“ Den Grabräuber überraschten die Worte ein wenig. Zum ersten Mal, seit sie sich wieder über den Weg gelaufen waren, erahnte er so etwas wie Gefühle bei seinem Gegenüber. Er reagierte mit einem amüsierten Schnaufen. „Ich bin niemand, der irgendwem blind Glauben schenkt. Ganz gleich, ob verwandt oder nicht. Und nachdem er dieses Lügengebilde aufgezogen hat, erst recht nicht mehr. Ich kann es nicht leiden, wenn man mich wie ein Kind behandelt.“ „Verständlich“, entgegnete Risha. „Vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass wir längst keine Kinder mehr sind.“ Bakura wollte gerade etwas erwidern, da zerrissen aufgeregte Rufe die Stille. Zunächst waren sie undeutlich, doch bald erkannte Risha, dass sie ihr galten. Als sie sich umsah, entdeckte sie schließlich Riell, der den Säulengang entlang hetzte. „Komm … Komm mit, schnell!“, japste er. „Wieso? Was ist passiert?“, erkundigte sie sich sofort. „Caesians Lager … Die Späher des Pharao haben unseren Vater gesehen!“ Er wurde durch die brennende Hitze gestoßen. Das Blut, das aus der Platzwunde an seinem Kopf gelaufen war und nun als harte, getrocknete Schicht sein Gesicht bedeckte, stank erbärmlich in der Wärme. Er konnte nicht leugnen, dass seine Knochen schmerzten, dass ihm wirklich alles wehtat. Dennoch zwang er sich zu einem möglichst aufrechten Gang in den Fesseln, die man ihm angelegt hatte. Er würde nicht klein bei geben, ganz gleich, was Caesian ihm noch an Schmerzen zufügen mochte. Es war schon schlimm genug, dass es ihm gelungen war, die Saat des Chnum an sich zu reißen. Resham hatte resignierend einsehen müssen, dass seine Kinder in dieser Angelegenheit weiser gewesen waren, als er. Er hätte Caesian niemals aufsuchen dürfen. Durch diese Tat hatte er ihm den gesamten Clan zum Fraß vorgeworfen. Wie viele wohl gestorben waren? Der Gedanke versetzte ihm einen Stich. Es war seine Schuld und er würde es nie wieder gut machen können. Vor einem Zelt hörten die Soldaten auf, ihn vor sich her zu schubsen. Einer von ihnen verschwand hinter den Planen, während der andere ihn an der Schulter festhielt. Er konnte hören, wie im Inneren Worte gewechselt wurden. Dann ein Befehl und man stieß Resham in das Zelt hinein. Er wurde zu Boden gedrückt, dann verließen die Krieger die provisorische Behausung. Sie waren allein. Er, der Führer der Schattentänzer und Caesian, der Mann, von dem er gefangen gehalten wurde. Der Herrscher des fernen Landes lächelte. Doch war es kein Ausdruck der Freude. Vielmehr zeugte seine Miene von Wut. „Meine Untergebenen sagen, du hast weder gegessen, noch getrunken, alter Mann. Sag, was ist es, das du begehrst? Den Tod? Diesen kannst du auch auf andere Weise erfahren.“ Resham musste schmunzeln. „Das werdet Ihr nicht tun. Ihr wisst, dass ich wertvoll für Euch bin, was die Relikte anbelangt.“ Caesian spannte sich an, dann war er mit wenigen Schritten bei dem Oberhaupt des Clans und packte ihn am Kragen. „Glaub ja nicht, dass du nicht zu ersetzen wärst. Immerhin hast du da noch zwei Kinder, die mir ebenfalls preisgeben können, was du weißt.“ „Dafür müsstet Ihr sie erst einmal finden. Was Euch offenbar noch nicht gelungen ist. Ansonsten hätte ich es gewiss mitbekommen“, entgegnete Resham ruhig. „Es mag sein, dass ich es noch nicht geschafft habe. Aber fern ist das Ziel nicht mehr, alter Narr. Meine Untergebenen brachten mir interessante Informationen, die Men-nefer betreffen. Anscheinend soll sich deine Brut in der Stadt eingenistet haben. Was heißt, dass mir klar ist, wo ich dein eigen Fleisch und Blut zu finden vermag. Denn dort, wo dein Clan ist, sind deine Nachkommen nicht fern. Zumindest einer davon, was mit deiner Tochter ist … Nun, ich denke, wir können davon ausgehen, dass sie tot ist. Niemand überlebt so lange in der Wüste.“ Caesian wusste genau, dass seine Männer dieses Biest noch vor Kurzem gesehen hatten und das am Nilufer. Unfähig, wie sie waren, hatten sie es natürlich nicht geschafft, das Miststück gefangen zu nehmen. Aber vielleicht ließ der Gedanke, eines seiner Kinder könne tot sein, die Mauern des alten Mannes ja in sich zusammen fallen. Der Feldherr erhob sich ruckartig und schritt im Zelt auf und ab. „Du hast also zwei Möglichkeiten. Entweder du verrätst mir, was du weißt, oder ich werde es deinem Sohn unter Qualen entlocken.“ „Ihr unterschätzt sie. Beiden leben und Ihr werdet ihnen Schmerzen zufügen können, wie es Euch beliebt. Und dennoch werden sie nichts verraten. Des Weiteren bedeutet der Umstand, dass sie sich wohl in Men-nefer aufhalten, dass sie nun gemeinsam mit dem Pharao gegen Euch ziehen werden. Ihr seht Euch einer Macht gegenüber, Caesian. Einer Macht, die vereint nicht so leicht zu besiegen sein wird, wie getrennt.“ Der feindliche König schoss herum und hockte sich drohend vor Resham. „Du glaubst gar nicht, wozu ich fähig bin! Selbst wenn du die Schnauze hältst und mir nichts über die anderen Relikte verrätst, so genügt schon das Zepter des Seth, um Men-nefer dem Erdboden gleich zu machen!“ „Wenn dem wirklich so ist“, entgegnete Resham ruhig, „weshalb habt Ihr es dann nicht längst getan?“ Caesians Augen sprühten vor Wut, während er die Zähne aufeinander biss. Dann begann er schief zu grinsen. „Du hast ein sehr vorlautes Mundwerk, alter Mann. Aber ich werde dich schon noch Schweigen lehren – zumindest was das betrifft. Wachen!“ Sofort erschienen zwei Soldaten im Zelt. „Euer Majestät?“ Der Feldherr erhob sich, ließ den eiskalten Blick jedoch weiterhin auf Resham ruhen. „Es wird Zeit, härtere Maßnahmen zu ergreifen.“ „Und Ihr denkt, es ist wirklich Euer Vater?“, erkundigte sich Atemu noch einmal. „Mit Sicherheit. Die Beschreibung ist zutreffend“, bestätigte Riell. „Dann werdet Ihr all meine Unterstützung bekommen, um ihn aus der Gefangenschaft Caesians zu befreien“, versprach Atemu gleich. Doch auf diese Aussage hin folgte ein Einwurf Setos. „Mein König, das ist unmöglich. Wir können nicht wegen eines einzigen Mannes dieses Lager stürmen und dem Feind unsere Truppen auf dem Silbertablett servieren.“ „Und selbst, wenn es nur ein verdammter Straßenköter wäre und mir stünde der Sinn danach, ihn zu befreien, dann würde es so geschehen, kapiert?“, ging Risha dazwischen. „Willst du dir etwa ernsthaft anmaßen, deine Entscheidung stünde höher als die seiner Majestät?“, fauchte Mana sofort. „Beruhigt euch!“, schaltete sich Atemu ein, „Das soll in Euren Ohren nicht herzlos klingen, Riell. Aber Seto, wir dürfen hierbei nicht vergessen, dass uns Reshams Befreiung auch strategische Vorteilen bringen würde. Er hat ein noch größeres Wissen um die Relikte, als seine Kinder.“ „Der Nutzen und das Risiko können einander aber nicht aufwiegen. Nach dem, was uns bekannt ist, weiß auch er nicht, wo die anderen Artefakte zu finden sind“, widersprach der Hohepriester, „Wenn wir die Tore öffnen und unsere Truppen aussenden, dann verlieren wir im schlimmsten Fall Men-nefer. Ihr wisst, was das bedeuten würde.“ „Auch wenn es mir schwer fällt, dies zu sagen. Aber er hat Recht. Außerdem ist dies eine Angelegenheit, die alleine den Clan betrifft“, gab auch Riell Zähne knirschend zu. „Ach ja? Ich dachte, es bestünde ein Abkommen“, warf Risha ein. „Richtig. Eines von dem ich eigentlich dachte, dass es nicht in deinem Sinn ist“, keifte Mana. „Mag sein. Aber selbst wenn, so kann ich immer noch die Vorteile ausnutzen und alles, was meinem Denken widerspricht, sein lassen“, erwiderte die Schattentänzerin schnippisch. „Aber gut, Ende der Diskussion. Wenn ihr zu feige seid, euch Caesian zu stellen, dann machen wir es eben alleine.“ Dafür erntete sie einen skeptischen Blick Bakuras. „Du glaubst nicht ernsthaft, dass euer Clan, von dem über die Hälfte verletzt ist, auch nur annähernd eine Bedrohung für diesen Irren darstellen würde, oder?“ „Aber irgendetwas müssen wir doch tun!“ Atemu folgte indes dem Gespräch schon gar nicht mehr richtig. Er war in seine Gedanken versunken. Er würde Riell und Risha nur zu gerne helfen, was ihren Vater anbelangte. Doch Seto hatte vollkommen recht. Zwar wäre Resham bestimmt nützlich, was die Relikte anging, auch wenn er ihren Fundort nicht kannte. Aber die Gefahr, die sie auf sich nahmen, wenn sie Truppen ausschickten, war schlichtweg zu groß. Ein Umstand, der ihm Kopfschmerzen bereitete. Er konnte diesen Mann doch nicht einfach seinem Schicksal überlassen. Doch Seto behielt nun einmal recht … „Ich fürchte, ich muss meinem Cousin zustimmen“, sagte er schließlich, „So leid es mir tut, aber ich vermag nicht, meine Soldaten einer solchen Gefahr auszusetzen. Aber vielleicht gibt es eine andere Möglichkeit, wie wir Euch behilflich sein können.“ „Da hätte ich auch direkt eine Idee!“ Alle Anwesenden fuhren herum – nur um ein kleines Energiebündel namens Sam zu entdecken, das gemeinsam mit Kipino in den Saal stürmte. „Und was hat es damit auf sich?“, fragte Risha, wobei ihr Ton verriet, dass das wenig ernst gemeint war. „Ich würde gerne wissen, ob es irgendwelche Tunnel oder so etwas gibt, durch die man unbemerkt aus der Stadt heraus kommen kann“, plapperte die Rothaarige weiter, was ihr verwunderte Blicke einbrachte. „Aber natürlich, weil wir dir solche Informationen auch einfach preisgeben würden“, erwiderte Seto sarkastisch. „Damit ihr sie dann nach dem Krieg gegen uns einsetzen könnt, ja?“ Samira begann nicht wie erwartet, sich zu beschweren. Stattdessen grinste sie schelmisch. „Ich liege also richtig mit meiner Annahme, dass es so etwas gibt?“ „Das hat niemand gesagt“, entgegnete der Hohepriester. „Und dennoch existieren sie, oder nicht?“, konterte die Kleine sofort wieder. „Seto? Sind da tatsächlich Tunnel oder sonstige Zugänge, durch die man unbemerkt die Stadt betreten oder verlassen könnte?“, mischte sich nun auch Atemu ein. „Nein, mein König“, antwortete Mana an seiner Stelle, „Zumindest nicht mehr. Euer Vater hielt es während des großen Krieges, in dem auch die Milleniumsgegenstände erschaffen wurden, für besser, sie versiegeln zu lassen.“ „Dacht ich's mir doch!“, triumphierte Sam. „Gibt es irgendeine Möglichkeit, die Tunnel wieder öffnen zu lassen?“ „Du bist wohl des Wahnsinns!“, schimpfte Seto, „Dadurch gäben wir Caesian noch eine Gelegenheit mehr, uns zu besiegen!“ „Aber er weiß doch gar nichts davon! Und so könnten wir Meister Resham retten, ohne durch eines der Stadttore hinaus spazieren zu müssen!“, gab die Rothaarige zu bedenken. „Sam“, sagte Riell. „Selbst wenn wir Caesian überraschend angreifen, wäre dieses ganze Unterfangen noch immer zu gefährlich. So leid es mir tut, aber … “ „Verzeiht diesen Widerspruch, Majestät, aber Ihr denkt in ganz falsche Richtungen“, murmelte die Kleine vorsichtig, ehe sie schnell hinzufügte: „Wir müssen ihn doch nicht angreifen! Es reicht doch, wenn sich meinetwegen zwei von uns in sein Lager schleichen und den Meister befreien!“ „Und du allen voran, was?“, meinte Bakura ironisch. „So sieht der Plan aus.“ Natürlich waren auch Atemus Freunde anwesend. Und einer davon, der soeben einen Schluck Wasser hatte trinken wollen, spuckte eben jene Flüssigkeit prompt zurück in seinen Becher. „Bitte?“, rief Marik aus, der seinen Ohren nicht traute. Auch die anderen sahen verwundert, beinahe ungläubig drein. „Sagt mal, seid ihr euch sicher, dass euer Clan nicht eher eine anonyme Selbsthilfegruppe für Menschen mit extrem übersteigertem Selbstwertgefühl ist?“, kommentierte Joey. „Dein 'Plan' grenzt an Wahnsinn!“ „Von wegen!“, motzte Sam. „Er ist wohl durchdacht!“ „Ebenso wie die Skorpionzucht, die du vor zwei Sommern in unserem Lager betrieben hast?“, kam es von Riell, „Vergiss es! Du bleibst, wo du bist.“ „Aber Kipino würde mich doch sicher begleiten! Und die Skorpione waren doch voll süß!“ Das rothaarige Energiebündel schien nicht aufgeben zu wollen. „Na, das ändert die ganze Sache ja grundlegend!“, meldete sich Seto höhnisch zu Wort. „Wie wäre es, wenn du dich einfach in dein Zelt schleichst und diese Angelegenheit von Erwachsenen klären lässt? Nur mal so nebenbei, wir stecken in einem Krieg! Und in einem solchen haben Kinder nichts zu sagen.“ „So verbohrt, wie ihr alle seid, würde ich das gerne machen! Aber ich will nicht zusehen müssen, wie Meister Resham von diesem Scheusal erniedrigt und gequält wird, während Riell und Risha darunter leiden! Er ist unser Oberhaupt, es ist meine Pflicht, mein Leben für das seine auf's Spiel zu setzen!“, protestierte Sam weiter. „Püppchen“, meldete sich nun wieder Risha zu Wort, „Du betrachtest das von einer ganz falschen Seite aus.“ „Ich glaube ich weiß, worauf sie hinaus will“, mischte sich auch Atemu wieder ein. „Dein Mut ehrt dich, Samira, aber es ist genau umgekehrt. Ein Herrscher sollte sein Leben für das seines Volkes geben und nicht anders herum.“ „Aber … Aber wir können ihn doch nicht einfach sterben lassen!“ Die Rothaarige hatte begonnen zu schreien, wandte nun den Hilfe suchenden Blick in Richtung Risha. Tränen standen in ihren Augen. „Majestät!“ Doch die Schattentänzerin schüttelte nur den Kopf. „Mir fallen diese Worte schwerer, als du dir vorstellen kannst. Aber wir dürfen uns nicht von unseren Gefühlen leiten lassen. Wir müssen taktisch denken. Und aus dieser Sicht wäre ein Eindringen in Caesians Lager der dümmste Schritt, den wir machen könnten. Es tut mir leid, dir das so hart sagen zu müssen. Aber Resham ist des Todes, Sam.“ „Er ist Euer Vater!“ Samira sah sich noch einmal im Raum um, ließ die Augen auf jedem Gesicht für einige Sekunden ruhen. Dann erkannte sie, dass sie auch weiterhin auf Granit beißen würde. „Wie könnt ihr alle nur so verdammt feige sein!“, schrie sie, ehe sie herumfuhr und aus dem Saal stürmte. „Ich … ich nehme mich ihrer an“, murmelte Kipino noch, dann eilte er ihr nach. ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ Hallihallo! Da bin ich also wieder. Es hat länger gedauert, aber das hatte ich ja angekündigt, stand doch mein Urlaub ins Haus. Nachdem einige vorherige Kapitel ja nicht vor Spannung strotzten, will ich diese allmählich wieder pushen. Jetzt ist raus, wer Risha und Keiro eigentlich sind, nun erfahren die Schattentänzer auch noch, dass ihr Oberhaupt tatsächlich am Leben ist. So viel kann ich außerdem verraten: Es wird nicht mehr lange dauern, dann knallt es mal wieder richtig in Men-nefer. ;) So, noch eines: In dem Gespräch zwischen Risha und Bakura konnte ich mir die Stelle mit Timbuktu einfach nicht verkneifen. Ich liebe dieses Spiel mit den Charakteren aus dem alten Ägypten und denen aus unserer Zeit (oder eben den Geistern, die das 21. Jahrhundert kennen). Wie kommt eigentlich mein kleines, rothaariges Energiebündel, genannte Samira, an? Ich bitte um Verzeihung dafür, dass sie Atemu einen "Bastard" schimpfte, aber man muss hier bedenken, dass sie mit dem Pharaonenhaus nichts Gutes verbindet, lebt ihr Clan doch deswegen im Untergrund. Nun aber genug der Worte. Bis zum nächsten Mal! Danke wieder einmal an 3sakuraharuno3, die so lieb und ausführlich kommentiert hat! Sechmet Kapitel 22: Yugis Plan ---------------------- Yugis Plan „Es ist dir nicht leicht gefallen, oder?“ Die Worte rissen Atemu aus seinen Gedanken. Fragend sah er zu Yugi, der neben ihm ging. Sie hatten sich entschlossen, einen Spaziergang in den Gärten zu machen. Die Ruhe tat dem amtierenden Pharao gut. Hier war alles so ruhig. Die Vögel sangen ihre Lieder, während der Wind durch die Kronen der Palmen strich. Hier schien es beinahe, als sei der Krieg nicht existent. „Was meinst du, Partner?“, fragte Atemu schließlich. „Na ja, die Entscheidung, Resham nicht zu befreien.“ Der Pharao hielt inne und richtete den Blick gen Himmel. Er überlegte einen Moment, ehe er antwortete. Was in ihm vorging, war schwer zu beschreiben. „Es war nicht annähernd so schlimm, als hätte ich eine solche Entscheidung im Bezug auf dich oder einen der anderen treffen müssen. Aber nein, es ist nie leicht, jemanden zum Tode zu verurteilen.“ Zu gerne hätte er geholfen. Zu gerne wäre er in Caesians Lager marschiert und hätte Riells Vater aus seinen Klauen befreit. Doch es ging hier nicht darum, was er wollte. Er musste an das Wohl ganz Ägyptens denken. Und er wusste, dass sie derzeit nicht auf ihn verzichten konnten. Die Gefahr, dass ihm oder seinen Truppen etwas zustieß, dass sie nicht zurückkehrten … Sie war einfach zu groß. Wäre es nur um ihn alleine gegangen, er hätte keinen Augenblick gezögert. Doch so hatte er keine andere Wahl. Zu viele Menschen legten den letzten Funken Hoffnung, der ihnen noch zu eigen war, in seine Hände. „Aber gäbe es denn wirklich keine Möglichkeit, ihn zu befreien?“, fragte Yugi. „Wir haben alles durchdacht, mein Freund. Samiras Plan könnte zwar gelingen, aber ihr die Erlaubnis dazu zu erteilen, liegt nicht in meiner Macht. Ich könnte zwar die Tunnel öffnen lassen, doch sie gehen zu lassen, das müssen Riell und seine Schwester entscheiden. Und beide haben ihren Standpunkt zu diesem Thema mehr als deutlich gemacht“, erklärte Atemu. „Ich muss mit ihnen, nicht gegen sie arbeiten. Würde ich die Gänge freigeben, so würde ich mir anmaßen, über eine der Ihren zu entscheiden. Und da sich der Clan so darstellt, als unterstünden sie nicht meinem Wort, sondern dem ihrer eigenen Oberhäupter, könnte es zu Konflikten kommen, würde ich mich in dieser Angelegenheit einmischen. Zum einen möchte ich die Schattentänzer gerne auf meiner Seite wissen, weil ich glaube, dass sich die Beziehungen zu ihnen langfristig bessern könnten, zum anderen können wir in diesem Krieg nicht auf ihre Unterstützung verzichten. Wir können jede gebrauchen, die wird nur kriegen können.“ „Denkst du, seine Kinder könnten eventuell vorhaben, Resham selbst herauszuholen?“, überlegte der Kleinere. „Immerhin ist er ihr Vater.“ „Ich glaube nicht, dass sie selbst in Caesians Lager gehen werden. Ihnen ist bewusst, dass die Last der Schattentänzer jetzt auf ihren Schultern liegt. Momentan können sie diese Aufgabe nur zu zweit bewältigen. Sie sind nicht entbehrlich und das wissen sie. Selbst wenn sie wollten, in ihrer Stellung wäre es extrem … unklug und unprofessionell sich einer solchen Gefahr auszusetzen. Im schlimmsten Fall bricht hinter ihnen die ganze Gruppe in sich zusammen“, überlegte Atemu. „Ein Problem, mit dem ich mich auch nur allzu oft konfrontiert sehe … Wenn es nach mir ginge, würde ich mich selbst anbieten, was diese Rettungsaktion betrifft. Aber das ist ausgeschlossen. Das Letzte, was Ägypten jetzt noch gebrauchen kann, ist ein toter Pharao mitten im Krieg. Gewiss, Seto wäre da. Doch eine Umstellung in solchen Zeiten … Wir haben bei der letzten Schlacht gegen Caesian gesehen, was dadurch entsteht. Ich war noch viel zu erschöpft, mir noch nicht klar über die Situation. Ansonsten hätte ich es nicht so weit kommen lassen, das kannst du mir glauben.“ Yugi verstand, was er ihm damit sagen wollte. Es stand viel zu viel auf dem Spiel, als dass der Pharao einfach so handeln konnte, wie er gerade wollte. Er musste taktisch überlegen, durfte sich nicht von seinem Herzen leiten lassen – eine Aufgabe, die alles andere als leicht war. „Wie kommt es eigentlich, dass du von den Tunneln nichts wusstest?“, fragte der Kleinere schließlich. „Nun, dadurch dass sie bereits zu Zeiten meines Vaters verschlossen wurden, wurden sie wohl nicht mehr als relevant betrachtet, weswegen mich niemand über sie in Kenntnis setzte.“ „Ist dir jetzt klar, wo sie liegen?“ „Ja. Seto meinte, sie befänden sich in den Kellergewölben des Palastes. In den Räumen, in denen auch die Vorräte an Kerzenöl und andere Dinge eingelagert sind“, erwiderte Atemu. „Und es ist absolut sicher, dass niemand außer den Angehörigen des Königshauses von ihnen weiß?“ „Ja. Weshalb?“ Seine Majestät drehte sich überrascht um, als er bemerkte, dass Yugi stehen geblieben war. Der Jüngere lächelte in freundlich, aber auf gewisse Weise auch entschuldigend an. „Was hast du, Partner?“ „Sagen wir es so: Ich werde tun, was du momentan nicht tun kannst“, meinte der junge Mann, ehe er sich umdrehte und nach dem Palast zurück eilte. „Yugi! Was hast du vor?“, schallte ihm die Stimme des Pharao nach. Doch der Jugendliche aus dem 21. Jahrhundert wandte sich nicht mehr zu ihm um. Das Sonnenlicht fiel gedämpft durch die Planen des Zeltes. Die Wärme war drückend und stand regelrecht in der improvisierten Behausung. Sie war jedoch nicht so stark, dass sie vermocht hätte, ihre Tränen zu trocknen. „Nun beruhig dich doch endlich, Sam“, hörte sie Kipino sagen. „Ihre Majestät hat eine Entscheidung getroffen und diese müssen wir akzeptieren.“ „Wenn es so wäre, dann würde ich ja gar nichts sagen!“, erwiderte die Kleine. „Aber du hast es doch auch gesehen, oder nicht? Risha wollte ebenso wenig wie Riell diese Entscheidung treffen. Sie haben es lediglich getan, weil sie es müssen!“ „Das ist nun einmal ihre Pflicht. Sie sind derzeit die Führer des Clans. Sie können nicht einfach so ihrem eigenen Willen folgen. Sie müssen an das Wohl von allen denken. Und was das angeht, haben sie richtig entschieden. Sie haben genau das getan, was auch ihr Vater getan hätte. Meister Reshams Leben könnte gerettet werden, ja. Aber zu welchem Preis?“, erklärte Kipino. „Ihr seht alle immer so schwarz! Wer sagt denn, dass es auf keinen Fall gelingen wird? Wir könnten doch auch Erfolg haben“, protestierte Sam weiter – und fuhr ruckartig herum, als eine Stimme draußen vor dem Zelt erklang. „Das sehe ich ebenso.“ Mit diesem Worten betrat Yugi den provisorischen Unterschlupf. Die beiden Schattentänzer musterten ihn überrascht. Sam fand als erstes aus ihrem Erstaunen heraus. „Was willst du hier? Deine Worte sind zwar schön zu hören, aber sie helfen uns auch nicht weiter“, seufzte sie und ließ sich auf ihre Schlafstätte fallen. „Vielleicht ja doch“, entgegnete Yugi. „Immerhin habe ich herausfinden können, wo die geheimen Tunnel liegen, die aus der Stadt führen.“ Augenblicklich setzte sich die Kleine auf. Ihre grauen Augen blitzten neugierig. „Was … ?“, fragte sie verdutzt. „Ja, wirklich. Ich weiß es“, bestätigte der Besucher. „Wenn ihr möchtest, bringe ich euch dorthin.“ Es brauchte nicht mehr Worte, um die Rothaarige zu überzeugen. Sie sprang wie von der Tarantel gestochen auf und ballte die zierliche Hände zu Fäusten. „Dann nichts wie los!“ Doch da schaltete sich Kipino ein, der bislang schweigend daneben gestanden hatte. „Bei allem Respekt und all der freundlich gemeinten Unterstützung, die uns der junge Mann zukommen lassen will: Aber dir ist hoffentlich bewusst, dass wir das nicht machen können! Wir haben eindeutige Anweisungen bekommen, diesen Plan zu unterlassen! Es steht uns nicht zu, uns über die Befehle von Riell und Risha zu erheben. Loyalität und Gehorsam sind die obersten Prioritäten in unserem Clan. Wenn wir sie verletzten … du weißt, wie sie darauf reagieren! Sie mögen nicht nur unsere Führer, sondern auch unsere Freunde sein. Doch in ihrer Position können und werden sie nicht zögern, uns für unser Verhalten, das ihren Anordnung widerspricht, zu bestrafen!“ „Das sagst du nur, weil du Angst hast!“, entgegnete Sam auf der Stelle. „Dir ist doch ebenso gut bewusst, dass sich beide wahrscheinlich geradezu wünschen, dass wir uns ihren Anweisungen widersetzen! Es geht hier um ihren Vater, Kipino! Und selbst wenn sie uns wirklich eine Strafe auferlegen, so nehme ich diese gerne auf mich, wenn nur Meister Resham befreit werden kann.“ Sie streifte die Kapuze ihres Umhangs über und wandte sich zum Gehen. „Wir sollten keine Zeit verschwenden. Ich werde mit ihm gehen, egal was du sagst. Du kannst mich nicht aufhalten, wenn ich etwas wirklich will. Lediglich in einem Punkt kannst du eine Entscheidung treffen. Entweder du kommst mit oder du bleibst hier.“ Sie machte eine kurze Pause, dann wandte sie sich halb zu dem anderen Schattentänzer um und grinste dabei fies. „Wobei ich bezweifle, dass du ein kleines Mädchen ganz alleine in Caesian Lager gehen lassen wirst, oder? Komm mit, wir gehen!“ Mit diesen Worten packte sie den überraschten Yugi am Arm und zog ihn aus dem Zelt hinaus. Verdattert blieb Kipino stehen und rief immer wieder Sams Namen. Doch wie erwartet machte das Mädchen keine Anstalten, zurück zu kommen. Schließlich seufzte er resignierend – und folgte den beiden über den glühend heißen Vorhof des Palastes. Die kühlen Schatten der Kellergewölbe umgaben sie. Die niedrigen Temperaturen waren regelrecht erfrischend nach der Hitze des Mittags. Sie stiegen eine Treppe bis zu ihrem Ende hinunter, dann wandten sie sich nach rechts. Yugi wusste, wohin sie gehen mussten. Er hatte einem Wachtposten, der am Zugang eingesetzt worden war, die Lüge aufgetischt, sie müssten ein wenig Lampenöl für das Lager der Schattentänzer besorgen. So hatten sie auch gleich erfahren, wo sich der Raum befand, in dem die geheimen Tunnel verborgen waren. „Nur damit das klar ist“, meldete sich Samira zu Wort. „Wenn du uns irgendwie hinter's Licht führen solltest, lege ich dich um.“ Yugi blickte peinlich berührt drein. „Aber … wieso sollte ich denn so etwas tun? Ich meine, wir sind doch auf derselben Seite! Und ich kann nur zu gut verstehen, dass ihr nicht tatenlos zusehen wollt, wie euer Oberhaupt von Caesian gefangen gehalten wird.“ „Du bist ein Freund vom Pharao. Dir traue ich alles zu – vor allem, da du uns schon hinter seinem Rücken hier her führst. Mit Loyalität ist es bei dir wohl nicht weit her“, kritisierte die Rothaarige. „Das siehst du falsch“, erwiderte Yugi lächelnd. „Er weiß sehr wohl, was ich tue.“ Ein synchrones „Hä?“ kam aus den Mündern beider Schattentänzer. „Nun, ich habe ihn zwar nicht um Erlaubnis gefragt, sondern ihm mehr oder weniger gesagt, was ich vorhabe – aber da er mich nicht aufgehalten hat, nehme ich das als ein Zeichen der Zustimmung“, erklärte der junge Mann. „Wie dem auch sei“, fuhr Sam trotzig fort. „Wenn du nicht spurst, bist du tot.“ Sie beschleunigte ihre Schritte und ging voraus. Kipino war ihr Verhalten sichtlich unangenehm. „Ich muss mich entschuldigen. Manchmal ist sie etwas … “ „ … schwierig, kann ich mir vorstellen. Aber sie macht sich eben Sorgen“, beschwichtigte Yugi gleich. Wenn er sich das Mädchen so ansah und dazu noch ihr Verhalten betrachtete, fühlte er sich gar ein wenig an seine erste Begegnung mit Rebecca erinnert. Damals hätte er nicht einmal zu träumen gewagt, dass sie jemals befreundet sein könnten. Er musste schmunzeln. Es dauerte nicht lange, dann fanden sie die Lagerräume. Im Inneren war es stockdunkel, sie mussten zwei Fackeln aus ihren Halterungen im Flur nehmen, um sehen zu können. Hier stapelten sich zahlreiche Fässer, wohl alle gefüllt mit Lampenöl. Sie sahen sich genaustens um. Yugi fand schließlich, wonach sie gesucht hatten. Die Umrisse eines Torbogens. „Das muss es sein!“, rief er und eilte in Begleitung der anderen beiden zu der Stelle. Mit vereinten Kräften räumten sie die Fässer beiseite, um die Stelle erreichen zu können. Erst nach einer Weile lag die nackte Wand vor ihnen. „Sie haben sie also zugemauert“, erkannte Kipino. „Wie wollen wir da durch kommen?“ „Alles was erschaffen wird, kann auch zerstört werden“, philosophierte Sam und sah sich eingehend um. „Aber hier kann ich mein Ka nicht rufen. Zu wenig Platz.“ „Die Kraft von meinem wird nicht reichen, um uns da durch zu bringen“, fügte der andere Schattentänzer hinzu. „Nun, dann wird diese Aufgabe wohl meine sein“, sagte Yugi zuversichtlich. Er öffnete den Diadiankh und beschwor die Kreatur, die damit in diese Welt übertreten konnte. Der Magier des schwarzen Chaos erschien. Das lange, glänzende Haar fiel ihm über die Schultern, während eine dunkle Krone auf seinem Kopf prangte. Er hielt ein Zepter in Händen. Der Körper war in eine Panzerung gehüllt. „Wärst du so freundlich und machst uns den Weg frei?“, erkundigte sich Yugi sogleich. Die Bestie nickte auf der Stelle. „Gewiss“, war die knappe Antwort, dann hob die Kreatur ihren Stab. Der grüne Stein, der in das magentafarbene Metall der Spitze eingelassen war, begann zu glühen. Schließlich griff das gleiche Licht auch auf die Steinmauer über. Dann dauerte es keine paar Sekunden mehr, ehe sich die einzelnen Blöcke zu lösen begannen. Einer nach dem anderen stob aus der Wand hervor, polterte zu Boden. Stück für Stück verschwand das Hindernis, bis nichts mehr davon übrig war. „Was … was ist das für ein Ding?“, erklang Samiras Stimme. Sie erntete einen verdutzten Blick von Kipino. „Nun, es scheint mir eine Ka-Bestie zu sein.“ „Das meine ich nicht!“, stöhnte die Kleine genervt. „Ich meine das da!“, fuhr sie fort und deutete auf den Diadiankh. Nun verstand auf der andere Schattentänzer. „Das meinst du! Ja, richtig. Was ist das? Hast du … hast du damit dieses Wesen gerufen?“ „Ja“, bestätigte Yugi und kratzte sich am Hinterkopf. „Mana hat es uns gegeben. Also mir und den anderen, die nicht aus dieser Zeit kommen, damit wir uns auch zur Wehr setzen können. Da wo ich herkomme, lernt man nämlich nicht so einfach wie hier, mit Waffen umzugehen.“ „Keine Dolche, Schwerter und Bögen?“, meinte Sam und legte den Kopf schief. „Nein. Zumindest kämpfen wir nicht damit. Bei uns machen wir das nur … na ja, zum Spaß. Aber wir wollen uns dabei nicht verletzen, es ist eher eine Art Sport. Versteht ihr, was ich meine?“, versuchte sich der junge Mann weiter an einer Erklärung. „Ehrlich gesagt ist diese Vorstellung recht … seltsam“, äußerte sich Kipino nach einigen Augenblicken des Nachdenkens. „Allerdings“, stimmte die Rothaarige zu. „Wie dem auch sei“, lenkte Yugi das Thema schließlich wieder ab. „Danke, dass du uns den Weg frei gemacht hast, Chaosmagier! Wärst du so gut und leuchtest uns den Weg durch die Tunnel?“ Eine bestätigende Geste des dunklen Geschöpfes, dann machte es sich auch schon daran, im Schatten des Ganges zu verschwinden. Auch Yugi setzte sich in Bewegung, als ihn Sams Stimme jedoch wieder innehalten ließ. „Hast du etwa vor uns zu begleiten?“ Der Angesprochene sah sie verwundert an. „Aber sicher doch.“ „Weshalb? Du hast mit den Angelegenheiten unseres Clans doch gar nichts zu tun“, sagte auch Kipino. „Ich möchte euch trotzdem helfen, Resham zu befreien. Und ein bisschen Hilfe schadet doch nie, oder?“, entgegnete Yugi und lächelte dabei freundlich. „Wie du meinst“, seufzte Sam. „Aber beschwer dich ja nicht, wenn dir etwas zustoßen sollte.“ Mit diesen Worten stapfte sie an ihm vorbei und folgte dem Magier des schwarzen Chaos in die Dunkelheit der Tunnel. Hier und da mussten sie immer wieder über Geröll hinweg steigen, das sich mit der Zeit aus den Wänden der Gänge gelöst hatte. Sie waren schon eine ganze Weile unterwegs, hatten inzwischen jegliche Orientierung verloren. Wo genau sie sich unter Men-nefer befanden, war ihnen schleierhaft. Doch das war auch nicht wichtig, solange sie nur irgendwann aus den Tunneln heraus fanden. „Wie lange dauert das denn noch? Wenn das so weiter geht, ist Meister Resham tot, ehe wir auch nur in die Nähe von Caesians Lager kommen!“, sagte Samira inzwischen zum wiederholten Mal. „Ganz ruhig“, beschwichtigte Kipino. „Wenn wir einfach so durch die Dunkelheit hetzen, geschieht uns am Ende noch etwas und dann können wir ihm ganz bestimmt nicht mehr helfen. Der Chaosmagier spendet uns zwar mit seinem Zepter Licht, aber das reicht nicht aus, um alles zu erhellen.“ „Schick doch mal dein Ka voraus“, schlug die Kleine daraufhin vor. „Firell kann vor uns weg fliegen und dir sicherlich mitteilen, wie weit es noch ist. Er sieht doch gut in der Finsternis.“ „Firell?“, fragte Yugi. „Was ist das denn für ein Wesen?“ Kipino wechselte noch einmal einen Blick mit der kleinen Schattentänzerin, dann seufzte er ergeben. Ein Licht glomm auf, dann erschien ein erstaunlich zierliches Geschöpf an seiner Seite. Flügel flatterten aufgeregt, während sich der Schnabel des Vogels zu einem Krächzen öffnete. Das ganze Aussehen der Bestie erinnerte an das einer Krähe – lediglich das Gefieder war nicht gänzlich schwarz, sondern hatte einen leichten Violettton. „Flieg bitte voraus, Firell. Sieh, ob du den Ausgang findest. Wenn dem so sein sollte, lass es mich wissen.“ „Wird gemacht“, bestätigte das Federtier mit krächzender Stimme, dann zog es einen Kreis in der Luft und verschwand im Dunkeln. „Yata-Garasu“, murmelte Yugi, während er der Kreatur hinterher schaute. „Was hast du gesagt?“, erkundigte sich Samira daraufhin auch prompt. „Ach nichts“, erwiderte der junge Mann. „Ich kenne die Ka-Bestie lediglich. Bei uns heißt sie allerdings Yata-Garasu.“ „Aber das kann doch gar nicht sein. Ka-Bestien sind einzigartig, du kannst Firell noch nie gesehen haben“, protestierte die Rothaarige. „In meiner Zeit gibt es die meisten dieser Wesen mehr als einmal. Aber ich glaube, das erkläre ich euch ein anderes mal, es ist sehr kompliziert.“ „Scheint so, als sei die ganze Welt, aus der du und deine Freunde kommen, recht kompliziert“, entgegnete Kipino. „Ka-Bestien, die es mehr als einmal gibt, Waffen, mit denen nicht gekämpft wird … Verzeih diese Bemerkung, aber das alles klingt sehr skurril.“ Yugi musste sich ein schiefes Grinsen verkneifen. Er fand seine Welt skurril? Dann sollte der Schattentänzer mal fragen, was Yugi von all den Dingen hielt, die er an der Seite des Pharao erlebt hatte! Plötzlich hielt das besagte Clanmitglied jedoch inne. „Firell hat den Ausgang gefunden. Es ist nicht mehr weit“, erklärte er daraufhin. „Na endlich!“, strahlte Samira und beschleunigte gleich ihre Schritte – was sie auch sofort wieder bleiben ließ, als sie bemerkte, dass es ihr der Chaosmagier nicht gleich tat und sie stattdessen mit einem mahnenden Blick strafte. „Darf ich fragen, woher du das weißt? Ich meine, kannst du etwa auch mit deiner Bestie kommunizieren, wenn sie gar nicht da ist?“, warf Yugi indes an Kipino gewandt ein. „Eine mentale Verbindung“, erklärte der. „Bei einigen Trägern und ihren Zwillingsseelen ist die Beziehung stark genug, um sich auch ohne Worte und über einige Distanz zu verständigen. Risha und Riell zählen ebenso zu diesen Personen, wie ich und Meister Resham. Ich schätze, auch bei eurem Pharao und der Hofmagierin wird das der Fall sein. Wahrscheinlich haben sie es nur nie erwähnt, weil eine solche Gedankenunterhaltung für uns vollkommen normal ist. Wie das aber genau ist, ist sehr schwierig zu erklären, wenn es für jemanden zur Gewohnheit geworden ist. Zumindest ich vermag es nicht näher zu beschreiben. Jedenfalls tritt eine solche Bindung erst in Kraft, wenn man ein bestimmtes Alter erreicht und sich viel mit seinem Monster beschäftigt hat.“ „Tut das denn nicht jeder?“, fragte Yugi. „Nein“, erwiderte Samira. „Zwar ist die Toleranz gegenüber Ka-Bestien gewachsen, seitdem die Milleniumsgegenstände erschaffen wurden und immer mehr von diesen Wesen den Weg in unsere Welt gefunden haben. Das bedeutet aber noch nicht, dass diese Einstellung schon bei allen Menschen angekommen ist. Du würdest es mir nicht glauben, wenn ich dir erzählen würde, wie viele Leute diesen Geschöpfen noch mit Abneigung, gar mit Hass gegenüber treten.“ Alle drei zuckten mit einem Mal zusammen, als sie plötzlich ein Geräusch hinter sich vernahmen. Es war ähnlich einem Scharren, direkt danach erklang ein lautes Poltern. Dann ein unterdrücktes Fluchen. „Da ist jemand“, flüsterte Kipino. Yugi stimmte ihm mit einem Nicken zu. „Hallo? Wer ist da?“, rief er schließlich in die Finsternis hinein, die sich hinter ihnen auftat. Doch er bekam keine Antwort. „Chaosmagier? Sieh bitte nach, was da los ist“, fügte er schließlich leiser hinzu. Das schwarze Wesen tat, wie ihm gehießen. Es entfernte sich langsam von dem Trio, leuchtete seinen Weg mit dem Stab aus. Immer weiter ging es den Weg zurück, den sie gekommen waren, bis das Licht an seinem Zepter nur noch als kleiner Punkt zu sehen war. Dann zuckte das Glimmen mit einem Mal durch die Luft, sofort gefolgt von einem Aufschrei. Dann vernahm Yugi Schritte, du zu ihnen zurück kamen. Wie erwartet, war es der Chaosmagier, doch er zog noch jemanden am Ohr hinter sich her. Der Gebieter der Bestie staunte nicht schlecht, als er erkannte, um wen es sich dabei handelte. Denn es war niemand anderes als Marik. „Aber was … ? Chaosmagier, lass ihn los!“, stammelte Yugi, ehe er zu dem jungen Ägypter eilte. „Ist alles in Ordnung? Was tust du überhaupt hier? Wie kommst du hier her?“ „Egal, welche Beweggründe ich habe, muss mir diese Kreatur gleich eine Kopfnuss verpassen?“, beschwerte sich der Neuankömmling zunächst und rieb sich den schmerzenden Hinterkopf. „Ich habe beobachtet, wie du mit diesen beiden in die Kellergewölbe hinunter gestiegen bist und bin euch sicherheitshalber gefolgt. Irgendwie saht ihr verdächtig aus. Ganz so, als hätten dich diese beiden zu irgendetwas gezwungen. Da dachte ich, ich beobachte erst einmal und greife ein, wenn sich mein Verdacht bestätigen sollte.“ Yugi lächelte entschuldigend. „Verzeih bitte, aber es konnte ja niemand ahnen, dass du es bist, der uns hinterher schleicht. Ich kann dir aber versichern, dass alles in Ordnung ist. Ich habe ihnen aus freien Stücken gezeigt, wie sie in diese Tunnel kommen.“ „Eben!“, meldete sich nun auch Samira zu Wort. „Wer sagt denn, dass wir ihn zu irgendetwas zwingen? Hast du irgendwelche Gründe für deine Anschuldigungen?“ „Ja, meinen Instinkt. Aber lassen wir das. Wo in Ras Namen sind wir hier überhaupt?“, erwiderte Marik schnippisch. „Seto hat doch von den Tunnel erzählt, die aus der Stadt hinaus führen. Sie waren verschlossen, aber diesen hier haben wir wieder geöffnet. Wir wollen das Oberhaupter der Schattentänzer, Resham, befreien“, erklärte Yugi. „Jetzt, wo du schon einmal da bist, könntest du uns eigentlich helfen – nur wenn du möchtest, versteht sich.“ „Ihr habt allen Ernstes vor, in Caesian Lager einzudringen?“, wiederholte der junge Ägypter. „Verzeih die Frage, aber seid ihr euch dessen wirklich sicher? Ihr habt doch gehört, was sowohl Atemu, als auch die Kinder von diesem Gefangenen dazu sagten. Soweit ich das verstanden habe, gleicht dieses Unterfangen einem Himmelfahrtskommando!“ „Das habe ich auch gesagt, aber hier hört ja sowie so keiner auf mich“, seufzte Kipino, woraufhin er sofort einen bösen Blick von Samira erntete. „Ihr habt ja alle beide bloß Schiss!“, beschwerte sie sich. „Wenn ihr Angst habt, dann kehrt um und verkriecht euch im Palast. Ich gehe jedenfalls weiter.“ Gesagt, getan. Mit diesen Worten machte die Rothaarige auf dem Absatz kehrt und tauchte in die vor ihnen liegende Finsternis ein. Der andere Schattentänzer sah einen Moment verdutzt drein, dann hetzte er ihr hinterher. „Sam! So warte doch!“ Marik und Yugi wechselten einen Blick. „Rotzlöffel“, meinte der junge Ägypter schließlich, dann setzten auch sie sich in Bewegung. Unruhig flackerte Caesians Lager durch den Hitzeschleier, der über der Wüste lag. Die Gruppe, die inzwischen zu einem Quartett heran gewachsen war, beobachtete die Zeltstadt von einer Düne aus. „So, da wären wir. Und nun?“, sprach Kipino als erster die Frage aus, die wohl alle interessierte. „Soll das heißen, ihr habt euch noch nicht mal einen Plan überlegt?“, erkundigte sich Marik sichtlich verdutzt. „Nicht so recht“, gab Yugi Zähne knirschend zu. „Was brauchen wir dafür auch einen Plan? Kipino und ich marschieren da rein und befreien Meister Resham“, begann Samira zu erklären. „Und was ist mit den beiden?“, meinte der andere Schattentänzer. „Der mit der komischen Frisur und dem Namen, den ich mir nicht merken kann, begleitet uns. Ich gebe es nur ungern zu, aber ich bin nicht stark genug, um alleine mit dir den Meister zu stützen, sollte das nötig sein. Und wenn der andere schon mal hier ist … “, ein böses Grinsen stahl sich auf die Lippen des Mädchens, „ … kann er ja unter Beweis stellen, dass er nicht feige ist. Sollten wir irgendwie in Schwierigkeiten geraten, könnte er ja die Soldaten ablenken, damit wir fliehen können.“ Mariks Miene verfinsterte sich schlagartig. „Ach ja? Ich soll also den Köder spielen, falls bei deinem genialen Plan irgendetwas schief läuft?“ „So sieht's aus“, entgegnete die Kleine mit zuckersüßem Lächeln. „Du hast doch auch so ein Ding am Arm, wie der Stachelkopf! Also dürfte das kein großes Problem sein, oder?“ Der junge Ägypter biss sich auf die Unterlippe. Ja, durch den Diadiankh konnte er eine Ka-Bestie beschwören, das war schon richtig. Und die feindlichen Soldaten wären für Anubis wohl auch das geringste Problem. Aber der rothaarige Frechdachs vergaß da etwas … „Gegen die Kreatur von Caesian und die Relikte, die er hat, kommen auch unsere Monster mit vereinten Kräften nicht an“, schaltete sich Yugi ein und sprach damit die Bedenken seines Freundes aus. „Wenn wir Marik als Reserve hier lassen, dann kann er uns höchstens ein paar Minuten verschaffen, ehe wir verschwinden müssen. Denn sobald man Caesian auf den Plan ruft, können wir einpacken. Wir müssen weg sein, ehe er auftaucht. Und wenn wir entdeckt werden, können wir auch nicht den Tunnel benutzen, denn dann würden wir den Feind direkt nach Men-nefer hinein führen. Das heißt, wir sollten unser Möglichstes tun, uns nicht erwischen zu lassen.“ „So sieht natürlich der optimale Plan aus. Aber immer nur davon zu reden, bringt uns auch nicht weiter. Ich würde sagen, wir packen es an!“, entgegnete Samira. Das Trio, das den Stoßtrupp bildete, musterte noch einmal eingehend die nähere Umgebung, dann verließen sie den Schutz der Düne. Marik blieb nichts anderes übrig, als ihnen noch ein „Viel Erfolg!“ zu zu murmeln, dann hasteten sie auch schon in Richtung des Gebüschs davon, welches das Nilufer säumte. Kaum hatten sie die ersten Palmen erreicht, suchten sie Deckung im dichten Grün. Langsam, Meter für Meter, tasteten sich die drei vor. Dabei waren sie darauf bedacht, so wenige Geräusche wie möglich von sich zu geben. Immer wieder hielten sie inne, um sich zu vergewissern, dass keine Soldaten in unmittelbarer Nähe waren. Einmal duckten sie sich in letzter Sekunde, als ein Reiter direkt an dem Dickicht vorbei preschte. Vorsichtig schlichen sie weiter durch das Getümmel aus Zweigen und Blättern, näher und näher an die Zelte heran, bis es schließlich nur noch wenige Fuß bis zu den ersten Reihen der provisorischen Behausungen waren. „Jetzt müssen wir schnell sein“, murmelte Yugi. „Das wird uns nichts nützen, wenn die da drüben nicht verschwinden“, erwiderte Samira und deutete auf fünf Soldaten, die sich nicht weit entfernt im Schatten niedergelassen hatten. Zwei davon würden sie ohne Zweifel bemerken, wenn sie ihr Versteck verließen. „Warte, das haben wir gleich“, flüsterte Kipino, dann erschien plötzlich Firell neben ihm. „Wenn du flink bist, halten sie dich für eine ganz normale Krähe. Ärgere sie ein bisschen und lenke sie ab. Nicht lange, wir brauchen nur Zeit, damit wir unbemerkt zwischen den Zelten verschwinden können. Dann positionierst du dich auf einem Baum und behältst das Lager im Auge. Wenn sich uns irgendjemand nähert, gibst du Bescheid, in Ordnung? Ebenso, wenn du vor uns herausfinden solltest, in welchem Zelt Resham gefangen gehalten wird.“ Die Ka-Bestie nickte zur Bestätigung, dann erhob sie sich in die Luft. Das Trio im Dickicht beobachtete, wie sie auf dem ewigen Wind der Wüste dahin glitt, direkt auf die Soldaten zu, die laut lachten und scherzten. Dann stach sie plötzlich herab und krallte sich im Haar eines Mannes fest, während sie aufgeregt mit den Schwingen schlug. Ihr Opfer war genau einer von jenen beiden, die in die Richtung des Rettungskommandos geblickt hatten. Nun waren der Kerl und sein Nebenmann damit beschäftigt, das vermeintlich gewöhnliche Federvieh zu verscheuchen, wobei sie ausgiebig fluchten. „Das ist unsere Chance!“, zischte Samira, dann verließ sich auch schon ihr Versteck und hetzte den Zeltreihen entgegen. Die anderen beiden taten es ihr gleich. Tatsächlich gelang das Unterfangen. Kaum waren sie in den Schutz der Planen eingetaucht, ließ Firell von dem feindlichen Krieger ab und erhob sich mit einem Krächzen in die Luft. Die Soldaten schimpften ihm noch eine ganze Weile hinterher. „Das wäre geschafft“, murmelte Yugi. „Lasst uns nach Resham suchen!“ Zu dritt schlichen sie durch das Lager, spähten immer wieder durch Löcher und Ritzen in das Innere der Zelte hinein, hoben hier und da auch vorsichtig den Stoff an, um besser sehen zu können. Dass sie niemand wahrnahm, verdankten sie vor allem der Hofmagierin Mana. Ihr Zauber wirkte offenbar noch immer, denn ein großer Teil der Soldaten sah alles andere als gesund aus. Viele schleppten sich mehr herum, als dass sie liefen. Immer wieder hetzten einige zum Nil hinunter, ehe seltsame Geräusche folgten. Sie übergaben sich wohl. Der andere Teil war noch schlimmer dran. Unzählige Männer hatten sich im wenigen Schatten der Siedlung niedergelassen und lagen einfach nur da, wirkten wie tot. Von Caesian war weit und breit nichts zu sehen. Was nicht heißen musste, dass er nicht hier war. Vermutlich hielt er sich einfach nur in seinem Zelt auf. Sie glaubten bereits, sie würden Resham nie finden, die hielt Yugi an einer der provisorischen Behausungen inne. Ein eigenartiger, beinahe abstoßender Geruch kroch unter dem Stoff hervor. Wo kam dieser nur her? Was hatte er zu bedeuten? Auf Zehenspitzen näherte er sich dem Zelt und schob behutsam ein Loch in der Plane auseinander. Er erstarrte. „Sam!“, zischte er. „Ich glaube, ich habe euer Oberhaupt gefunden!“ ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~* Und wieder ein Update, diesmal zwischen Tür und Angel, denn ich verabschiede mich erst einmal bis nächste Woche. Ich hoffe, das Kapitel gefällt. Vor allem da Yugi mal ein wenig mehr in den Blickpunkt rückt. ;) Ansonsten sei noch so viel gesagt: Ich werde die fehlenden Steckbriefe noch ergänzen, wenn ich wieder zurück bin. Alle bisher online gestellten bleiben jedoch, wie sie sind. Wenn ich bestimmte Sachen von vorne herein in den Stecki schreiben würde, wär's ja für eventuell noch kommende Leser langweilig, wenn einiges schon aufgedeckt wäre. ;) Grüßle, Sechmet Kapitel 23: Was er nicht tun kann --------------------------------- Was er nicht tun kann „Wie bitte?“, donnerte Setos Stimme durch den Thronsaal. „Was soll das heißen, ihr könnte zwei eurer Leute nicht finden?“ „Das habe ich doch soeben gesagt“, motzte Risha zurück. „Weder Samira, noch Kipino sind auffindbar! Was ist daran so schwer zu verstehen? Also, raus mit der Sprache, was habt ihr mit ihnen gemacht?“ „Nichts haben wir getan, weshalb sollten wir auch?“, keifte Mana nun mit. „Glaub mir, wir haben Wichtigeres zu tun, als uns in Kriegszeiten um ein paar Straßenköter zu kümmern! Allerdings finde ich es interessant, dass die ach so tolle Anführerin des Clans offenbar keine Kontrolle über ihre eigenen Untergebenen zu haben scheint.“ „Straßenköter?“, fauchte die Schattentänzerin. „Ich zeige dir gleich wer hier … !“ Riell packte sie gerade noch rechtzeitig am Oberarm, um sie davon abzuhalten, sich auf die Hofmagierin zu stürzen. „Es ist doch gar nicht gesagt, dass Sam und Kipino etwas zugestoßen ist“, sagte er. „Du kennst doch den kleinen Wirbelwind. Wahrscheinlich hat sie wieder irgendetwas angestellt und der gute Kipino ist ihr jetzt auf den Fersen.“ „Was ist denn hier los?“ Die Anwesenden wandten sich um, als Atemu, Joey, Tea und Ryou mit verdutzten Blicken den Saal betraten. „Es ist nichts, Euer Majestät“, sagte Seto. „Diese Personen hier äußern lediglich wieder Anschuldigungen gegenüber dem Königshaus, die allesamt haltlos sind.“ „Von wegen haltlos!“, protestierte Risha wie auf Kommando. „Zwei unserer Schattentänzer sind spurlos verschwunden, das ist alles andere als 'haltlos'!“ „Was soll das heißen?“, fragte Atemu sofort. Auch seine Freunde, die bei ihm waren, spitzten die Ohren. „Das bedeutet, dass wir Samira und Kipino nicht finden können“, erklärte Riell ruhig. „Was aber kein Grund zur Besorgnis ist. Der kleine Rotschopf ist ein sehr aufgewecktes Kind. Kipino pflegt schon immer, auf sie aufzupassen. Wahrscheinlich hat sie ihn dazu verdonnert, irgendwo mit ihr spielen zu gehen.“ „Sie mag ab und an noch recht kindlich sein, aber auch sie hat in Kriegszeiten anderes im Kopf, als herum zu toben!“, entgegnete Risha. „Das hat sie doch heute Morgen bewiesen, als … “ Die Schattentänzerin stockte. Nein. Das durfte doch nicht wahr sein! „Verdammt!“, fluchte sie. „Natürlich! Heute Morgen war sie doch noch vollkommen außer sich, als wir ihr verboten haben, in Caesians Lager zu marschieren und Vater zu befreien.“ „Du willst doch nicht sagen, dass sie und Kipino … “, wollte Tea ansetzen, da wurde sie von Atemu unterbrochen. „Wo ist Yugi? Habt ihr ihn gesehen?“ „Nein. Seit heute Morgen nicht mehr“, erwiderte Joey. Auch Ryou nickte. „Bei den Göttern. Er wird doch nicht … “, überlegte Atemu laut, als Risha plötzlich vorsprang. „Los, rede! Was hat er getan?“ „Die Frage ist wohl eher, was ich getan habe“, murmelte der Pharao. „Als wir spazieren gingen, da fragte er mich nach dem Zugang zu den Tunneln, die Seto angesprochen hatte. Ich habe ihm gesagt, was ich weiß. Ich war natürlich verwundert, als er sich kurz darauf verabschiedete, aber ich habe doch nicht damit gerechnet, dass es etwas mit den Zugängen zu tun haben könnte. Ich dachte, ihm wäre vielleicht ein anderer Einfall gekommen, aber doch nicht … “ „Glaubst du etwa, er wollte den beiden Schattentänzern helfen und hat sich mit ihnen auf den Weg zu den geheimen Gängen gemacht?“, hakte Mana nach. „Wir müssen ihnen sofort hinterher!“, rief Risha. „Sie haben keine Ahnung, in welche Gefahr sie sich begeben!“ „Dafür wird es bereits zu spät sein“, warf Atemu Zähne knirschend ein. „Es ist schon eine ganze Weile her, dass sich Yugi verabschiedet hat. Wenn er und die anderen beiden direkt danach los gezogen sind, holen wir sie nicht mehr ein.“ „Es fehlt noch jemand“, meldete sich plötzlich Ryou zu Wort. „Auch Marik habe ich seit dem Frühstück nicht mehr gesehen.“ Alle Blicke richteten sich sofort auf ihn. Mana schlug sich ungläubig die Hand vor die Stirn. „Das darf doch nicht wahr sein! Hört zu, ihr bleibt hier. Ich werde in den Keller hinab steigen und sehen, ob sie tatsächlich einen der Tunnel geöffnet haben. Wenn ja folge ich diesem. Wenn ich sie finde, bringe ich sie zurück.“ „Ich komme mit!“, sagten Atemu und Risha synchron. „Das wäre viel zu riskant. Wenn die Gänge noch in Takt sind, und eine ganze Gruppe steigt aus der Tiefe empor, dann könnte Caesian auf uns aufmerksam werden. Wenn er das nicht schon geworden ist“, widersprach die Hofmagierin. „Ich fürchte, sie hat recht“, pflichtete Riell bei. „Taktisch gesehen, wäre es alles andere als klug, eine größere Gruppe nach draußen zu entsenden. Und wir müssen taktisch bleiben, egal, was das bedeuten mag.“ „Dann ist es also beschlossen“, sagte Seto. „Du verfolgst sie Mana und siehst zu, dass du sie wieder zurück bringst. Und dann werden wir allen Beteiligten mal erklären, dass ein Krieg kein verdammtes Spiel ist, in dem jeder tun und lassen kann, was er will!“ „Wirklich? Ist er es tatsächlich?“ Augenblicklich schloss Samira zu Yugi auf. Er musterte sie mit einem besorgten Blick, doch sie beachtete diesen nicht weiter. Sie schob den jungen Mann zur Seite, um selbst in das Zelt schauen zu können. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Ja, das ist er. Das ist Meister Resham!“ Sie öffnete das Loch ein wenig mehr, sodass sie inspizieren konnte, ob sich ein Soldat bei dem Gefangenen befand. Doch da war keiner. Mit flinken Fingern löste sie die Schnüre, die die Planen an ihrem Platz hielten, und schlüpfte unter dem Stoff hindurch. Innen schlug ihr ein bestialischer Gestank entgegen. Für einem Moment stockte sie, musste husten und würgen. Was war das nur? Was roch da so erbärmlich? Ihr Blick glitt durch den improvisierten Raum. Überall standen hölzerne Käfige herum. Doch nur in einem kauerte eine Gestalt. Resham. Mit schnellen Schritten war sie bei ihm, kniete neben dem Gitter nieder – und erstarrte. Mit einem Mal wurde ihr klar, weswegen Yugi sie so angesehen hatte. Das war ihr Oberhaupt, kein Zweifel. Doch erinnerte sie die ausgemerkelte, blasse Gestalt nicht im Geringsten an ihren Meister. Die Haut war noch faltiger geworden. Überall an seinem Körper klebte Blut, er war mit blauen Flecken übersät, die unter der zerrissenen Kleidung hervor lugten. Sie bemerkte mit Schrecken, dass der Gestank, der sie an Verwesung erinnerte, von ihm ausging. Dann blieb ihr Blick an seiner rechten Hand hängen. Grauen stieg in ihr auf. Sie konnte einen Schrei nur mit Mühe unterdrücken. Sie zwang sich dazu, lediglich ein leises Keuchen von sich zu geben, indem sie sich die Hände vor dem Mund schlug. Drei seiner Finger fehlten. Sie hatte schon viele schlimme Dinge in ihrem Leben gesehen – aber nicht an Menschen, die ihr so viel bedeuteten. Sie löste sich von dem schrecklichen Anblick. Lebte er überhaupt noch? Sie fixierte seine Brust. Ja! Ja, er atmete! Zwar schwach, aber er atmete! Kipino, der ihr inzwischen gefolgt war, hatte neben ihr Aufstellung bezogen. Auch er hatte eine Hand vor den Mund gelegt – beim ihm war es jedoch eine Geste der absoluten Ungläubigkeit. „Meister … “, flüstere Samira. „Meister, bitte, wacht auf! Ich bin es, Sam. Kipino ist auch hier. Wir sind gekommen, um Euch zu befreien!“ Doch der alte Mann reagierte nicht. Yugi hatte sich inzwischen zum Zelteingang geschlichen, spähte durch den schmalen Spalt des Stoffs nach draußen und überprüfte, ob irgendjemand kam. Da waren Wachmänner, doch so schenkten dem Zelt, das sie verbarg, keine Beachtung. Er konnte nur hoffen, dass das auch so blieb, bis sie verschwunden waren – was keine leichte Aufgabe werden würde. Er hatte damit gerechnet, dass das Oberhaupt verletzt sein würde, jedoch nicht in diesem Ausmaß. „Meister Resham … Bitte, wir sind hier! Hört Ihr mich?“ Samira senkte den Kopf, als sie plötzlich merkte, wie Tränen in ihre Augen stiegen. Sie kniff die Lider zusammen, wollte den Kloß im Hals hinunter schlucken. Aber sie fühlte sich viel zu machtlos dafür. Er musste einfach wieder zu sich kommen! Sie durften nicht zu spät sein! Er musste leben. Für den Clan. Für seine Kinder. Für den Kampf gegen Caesian. Wenn jeder starb, aber nicht er! Ohne ihn stürzten sie alle zurück in die Finsternis, aus der er sie einst errettet hatte. Unweigerlich glitten Samiras Gedanken zu dem Tag, da Risha sie aufgegriffen und zu dem Clan gebracht hatte. Resham hatte ihr da ein neues zu Hause, eine Hoffnung gegeben, wo sie schon geglaubt hatte, es gäbe nichts mehr außer Dunkelheit. Gewiss würde eines Tages seine Zeit kommen, da ihn die Mächte, die diese Welt geschaffen hatten, zu sich riefen – aber bei den Göttern, doch nicht jetzt! Sie zuckte zusammen, als sie plötzlich eine Berührung an ihrer Wange spürte. Sie riss die Augen auf – und starrte direkt in die braunen Iriden des Oberhauptes. Ein Lächelnd lag auf den blassen Lippen. „Ein so fröhliches Mädchen wie du sollte nicht weinen, Sam“, flüsterte er. Die Kleine gab vor Erleichterung ein kurzes, kaum hörbares Lachen von sich, ehe sie energisch die Tränen fortwischte. Sie zwang ihre Stimme zur Ruhe. „Den Göttern sei Dank! Meister, wir sind gekommen, um Euch zu befreien.“ „Ihr seid töricht. Euer junges Leben für einen alten Kauz auf's Spiel zu setzen“, murmelte er lächelnd. „Herr! Wir hätten doch nicht einfach tatenlos zusehen können“, meldete sich nun auch Kipino leise zu Wort. Resham lachte kaum hörbar. „Ich hatte bis zuletzt gehofft, es würde nicht eintreten. Aber tief in meinem Herzen wusste ich, dass irgendjemand kommen würde. Nur wer, da war ich mir nicht ganz sicher. Wie geht es den anderen? Sind sie in Sicherheit? Sind sie wirklich in Men-nefer? Was ist mit Riell und Risha?“ „Es geht ihnen gut. Spart eure Kräfte“, sagte Samira. „Ihr seid schwach. Lasst uns nur machen, wir holen Euch hier heraus!“, fügte sie hinzu und ballte die zierlichen Hände zu Fäusten. „Wer ist der junge Mann?“, erklang Reshams Stimme dennoch erneut. Die beiden Schattentänzer folgten seinem Blick, ehe Kipino Antwort gab. „Man könnte sagen, er ist ein Freund von uns. Er hat uns einen geheimen Weg gezeigt, durch den wir zu Euch gelangen konnten.“ Die Rothaarige machte sich derweil daran, die Seile aufzutrennen, mit denen der Käfig verriegelt war. Als sie es nicht schaffte, zückte sie ihren Dolch. Schließlich lösten sich die Schnüre, die Tür ging auf. „Du und Stachelkopf stützt den Meister. Ich gehe voraus und passe auf, dass uns niemand sieht“, sagte das Mädchen schließlich an ihre Mitstreiter gewandt. „Ich fürchte, so einfach wird es nicht. Wir drei sind dauernd in Bewegung geblieben, darum hat man uns nicht gesehen. Aber Resham ist schwer verletzt“, entgegnete Yugi. „Das erschwert die Sache. Ich fürchte, wir werden uns auf einen Kampf gefasst machen müssen.“ „Und wenn schon!“, fauchte Samira. „Wir gehen ganz bestimmt nicht ohne ihn.“ „Der junge Mann hat aber recht“, flüsterte das alte Oberhaupt. „Ihr begebt euch nur in Gefahr. Verschwindet wieder, solange euch noch niemand gesehen hat.“ „So war das nicht gemeint. Es war lediglich ein Hinweis, dass wir uns auf eine Konfrontation mit dem Feind einstellen sollten. Wir werden keineswegs ohne Euch gehen“, meinte Yugis plötzlich, während er sich zu Resham umwandte. „Es wäre nicht das erste Mal, dass ich mein Leben auf's Spiel setze. Und trotzdem mache ich es immer wieder gerne, solange ich nur jemandem damit helfen kann. Euren Schattentänzern mag folgendes nicht zustehen, aber mir schon eher: Keine Widerworte mehr, wir holen Euch hier heraus, Majestät!“ Die Blicke des Jungen aus dem 21. Jahrhundert und die alten Mannes trafen sich. Für eine ganze Weile sagte keiner ein Wort. Schließlich seufzte das Clanoberhaupt. „Ich sehe schon. In meinem Zustand vermag ich nicht, mich gegen einen solch starken Willen aufzulehnen. Wie ist dein Name, mein Junge?“ „Ich bin Yugi. Freut mich Euch kennenzulernen!“, erwiderte der junge Mann freundlich. „Nun denn, Yugi, Samira und Kipino … So tut, was ihr für richtig haltet.“ Diese Aussage brachte Samira sogleich auf die Beine. „Dann machen wir es so: Ihr beide nehmt euch seiner an. Ich lasse Kiarna auf das Lager los. Sobald reger Trubel herrscht, könnt ihr fliehen, in Ordnung?“ „Das ist viel zu gefährlich!“, protestierte Kipino. „Hast du vielleicht eine bessere Idee?“, fauchte die Kleine. „Wenn du dir das wirklich zutraust, dann machen wir es so. Du scheinst mir eine starke Seele zu haben, also kann dein Ka auch nicht ohne sein“, meinte Yugi. „Aber bedenke, dass Kipino recht hat. Vor allem wenn Caesian auftaucht, wird es brenzlig werden.“ „Mach dir um mich mal keine Sorgen, ich bin ein großes Mädchen! Also, wir sehen uns in den Tunneln!“, sagte Sam noch, dann schlüpfte sie unter der Zeltplane hindurch ins Freie. Yugi und Kipino machten sich indes daran, Resham auf die Beine zu helfen. Das Unterfangen war schwerer, als gedacht. Der alte Mann musste seit Tagen in diesem Käfig vor sich hin vegetieren. Offenbar ohne Essen und Wasser bekommen zu haben. Schließlich warteten sie. Marik beobachtete aufmerksam das Lager. Wo blieben die drei nur so lange? Ihnen würde doch wohl nichts zugestoßen sein? Unruhig kaute er auf dem Fingernagel seines Daumens herum. Sie hatten doch selbst gesagt, dass sie sich beeilen mussten. War ihnen wohl doch irgendetwas dazwischen gekommen? Schon nach kurzer Zeit begann der junge Ägypter, sich dem Wahnsinn nahe zu fühlen. Jede Sekunde zog sich dahin wie eine Ewigkeit. Er fuhr augenblicklich herum, als er ein Geräusch hinter sich vernahm. Doch sehen konnte er nichts. Wurde er etwa schon paranoid? Nein, wurde er nicht. Das musste er nur einen Moment später feststellen, als ihn ein Schlag auf den Kopf traf, der zweite an diesem Tag. Er presste die Hände auf die Stelle, die schmerzhaft pochte, während er sich nach seinem Angreifer umsah – und erstarrte. Denn vor ihm stand jemand, den er beim besten Willen nicht hier erwartet hätte. Und diese Person sah alles andere als begeistert aus, ihn hier anzutreffen. „Seid ihr eigentlich von allen guten Geistern verlassen?“, zischte Mana. „Das könnte ich dich auch fragen!“, erwiderte Marik prompt. „Was, im Namen der Götter, gibt dir das Recht, mir eine überzuziehen?“ „Da erkundigst du dich noch?“, fauchte die Hofmagierin. „Ihr seid ohne ausdrückliche Erlaubnis Atemus in die Keller hinabgestiegen und habt euch aus der Stadt geschlichen, noch dazu bis zum Lager Caesians! Habt ihr eigentlich eine Ahnung, in welche Gefahr ihr euch und die ganze Stadt bringt?“ „Die anderen dürften gleich wieder zurück sein und dann hauen wir auch ab. Also reg dich nicht auf. Niemand hat uns gesehen und das wird auch so … “ Wie als wolle das Schicksal Mariks Worte Lügen strafen, erklang plötzlich ein ohrenbetäubender Knall. „Das ist unser Zeichen! Los!“ Yugi und Kipino machten sich daran, den Verletzten so schnell wie möglich aus dem Zelt zu bugsieren. Dabei musste vor allem der Kleinere feststellen, dass 'Trubel' wohl eine nette Umschreibung für das war, was Samira angerichtet hatte. Eine gewaltige Bestie türmte sich über dem Lager auf. Ein goldener Panzer blitzte in der Sonne. Der Unterleib ähnelte dem eines Vogels, während der Torso an den eines Menschen erinnerte. Der Schädel glich beinahe dem des geflügelten Drachen des Ra – mit den Unterschied, dass Flammen aus dem Hinterkopf hervor loderten. Ebenso verhielt es sich mit den riesigen Schwingen und dem langen Schweif, der wütend über den Boden peitschte. Überall brannten Zelte und Caesians Soldaten schrien. Yugi versuchte dem keine Beachtung zu schenken, sondern konzentrierte sich darauf, nicht zu stolpern und Resham so gut es ging zu stützen. So registrierte er zunächst auch nicht, wie sich Samira wieder zu ihnen gesellte. Dabei rief sie ihrer Ka-Bestie dennoch weiterhin über die Schulter Befehle zu. Endlich erreichten sie das Grün des Nilufers und tauchten darin unter, hetzten unablässig weiter. Yugi und Kipino hatten schon bald die Düne erreicht, an der Marik auf sie warten sollte, da ließ sie ein schriller Aufschrei inne halten. Als sie sich umwandten, entdeckten sie Samira, die einige Meter weiter zu Boden gegangen war. „Sam! Sam, bist du verletzt?“, brüllte der Schattentänzer, während sich die Kleine mühsam aufrappelte. „Es ist seine Kreatur … Sie hat Kiarna angegriffen. Lauft weiter! Bringt den Meister in Sicherheit! Ihr sollt ihn in Sicherheit bringen, habe ich gesagt!“, setzte sie noch einmal hinzu, damit sich die beiden endlich wieder in Bewegung setzen. Die Rothaarige sah sich nach ihrer Ka-Bestie um. Diese war nach der Attacke zwar wieder auf die Beine gekommen und brüllte wütend, aber ihre Trägerin bezweifelte, dass der nächste Schlag lange auf sich warten lassen würde. Sie konnte die Kreatur nicht zurück rufen. Nicht ehe die anderen in den Schutz der Tunnel eingetaucht waren! Ansonsten riskierten sie, den geheimen Weg preiszugeben. Doch sie hatte gemerkt, wie sehr diese einzige Attacke alleine ihr schon zugesetzt hatte. Sie war sich sicher, dass die nächste nicht minder heftig werden würde. „Sam!“ Sie fuhr herum, als sie die Stimme hörte, die ihr zwar bekannt vorkam, die sie aber auf die Schnelle keinem Gesicht zuordnen konnte. Umso erstaunter war sie, als sie die Hofmagierin des Pharao erblickte, die auf sie zugeeilt kam. „Wo ist diese Bestie? Hast du sie gesehen?“ „Nein … “, setzte die junge Schattentänzerin an, da zuckte sie unter dem Schmerz zusammen, den sie mit ihrer Zwillingsseele teilte. Caesians Monster hatte erneut angegriffen. Eine der glühenden Kugeln, die das Monster immer aussandte, hatte Kiarna mitten in die Brust getroffen. Der Phönix taumelte, während es seine Pein heraus schrie und den Kopf hin und her warf. Manas Augen weiteten sich. Offenbar betrachtete der fremde Feldherr das Wesen, das sein Lager attackierte, nicht als ernst zu nehmenden Gegner. Denn zum ersten Mal, seit dieser Mann in Ägypten eingefallen war, zeigte sich das Geschöpf Caesians ganz offen. Eine schwarze Kutte verhüllte die ganze Gestalt, lediglich Hände mit grauer Haut und schwarzen Fingernägeln lugten unter dem Stoff hervor. Das war also die Kreatur, die ihren Truppen riesigen Schaden zugefügt hatte? Ein weiteres Mal in ihrem Leben erkannte Mana, dass man nichts und niemanden nach seinem Äußeren beurteilen sollte. Denn so unscheinbar sie auch wirkte, diese Bestie war in der Lage, den Tod vieler Männer mit nur einer Attacke herbei zu führen. „Kannst du dein Ka noch einen Moment auf dem Feld lassen?“, fragte die Hofmagierin, während sie sich zu dem Mädchen hinkniete und gleichzeitig ihre eigene Bestie erscheinen ließ. Lediglich ein verkrampftes Nicken war die Antwort. „Darla! Wir wissen wo es ist! Leg einen magischen Wall um das Lager und um sein Ka, damit wir entkommen können! Los, beeile dich!“ Die schwarze Magierin reagierte sofort. Sie fokussierte das feindliche Geschöpf, dann wirkte sie einen Zauber. Langsam, nach und nach, zog sich eine kaum sichtbare Mauer um die Siedlung, die Caesian errichtet hatte. Niemand nahm davon Notiz, alle Augen waren auf Samiras Phönix gerichtet, der sich abermals aufgebäumt hatte. „Schneller … “, murmelte Mana, die den nächsten Schlag der Kreatur des Feldherrn bereits kommen sah. Tatsächlich bündelte das Wesen bereits erneut Energie zwischen seinen verkrümmten Händen. Samiras Monster sandte ihm flammende Angriffe entgegen, doch sie stoben einfach an ihm vorbei – beinahe so, als schütze irgendetwas die Bestie. „Darla! Mach schon!“, brüllte die Hofmagierin. Wenn dieses Biest noch einmal zum Zug kam, dann konnte sie für nichts garantieren. Die Rothaarige sah zwar nicht aus, als sei sie schon am Ende ihrer Kräfte angelangt, doch nur allzu oft trügte in derlei Situationen der Schein. Jede Attacke, die man einstecken musste, konnte die letzte sein. Doch Darla gelang es nicht, den magischen Wall schneller empor zu ziehen. Sie gab ihr Möglichstes, konnte den Spruch jedoch nicht beschleunigen. Er brauchte einfach seine Zeit. „Zieh dein Ka zurück“, sagte Mana, doch Samira schüttelte sofort den Kopf. „Nein. Er wird wissen, wer ihn angegriffen hat und will uns dann sicher verfolgen. Wir brauchen diesen Zauber, den dein Monster wirkt, ansonsten riskieren wir, ihn in die Stadt zu führen! Ohne sie können wir nicht gefahrlos fliehen!“ Die Hofmagierin packte sie an den Schultern, brachte sie dazu, ihr in die Augen zu sehen. „Wenn er noch einmal zuschlägt, dann … “ „Dann mag ich vielleicht sterben, ja!“, schrie die Rothaarige mit verkrampften Gesichtszügen, „Aber wenn es das ist, was ich für Meister Resham und den Sieg in diesem Krieg tun muss, dann tue ich es gerne!“ Beide wandten den Blick zu Caesians Monster, das die glühende Kugel in seinen Händen beinahe fertig geformt hatte. Beiden war klar, dass dieser Schlag die voran gegangenen noch übertrumpfen würde. Mana biss die Zähne zusammen. Wenn diese Attacke ihr Ziel traf, dann würde Samira im besten Fall bewusstlos werden. Allerdings glaubte sie nicht, dass es dabei bleiben würde … Donnernde Schritte rissen sie aus ihren Gedanken. Als sich die Hofmagierin umsah, konnte sie sich im letzten Moment ducken, ehe Anubis über sie hinweg sprang. Schnell wie der Wind preschte das Monster dem Lager entgegen, ehe es zu einem gewaltigen Satz ansetze und sich auf Caesians Ka stürzte. Der Feind löste sich augenblicklich in Luft auf und verschwand, um Mariks Biest zu entgehen. Im selben Moment schloss sich der magische Wall, den Darla beschworen hatte. „Rückzug!“, schrie Mana sofort. Samira rief ihr Geschöpf zurück. Zugleich verschwand auch Anubis. Die Hofmagierin packte die kleine Schattentänzerin bei der Hand und rannte so schnell sie konnte eine der nahe gelegenen Dünen hinauf. Hinter ihnen prallten Lichtkugeln gegen die Schutzmauer Darlas. „Schnell! Hierher!“, brüllte Marik über das Getöse hinweg und lotste sie so zu den verborgenen Tunneln. Als sie in die Tiefe hinab stiegen, umhüllte sie tiefste Finsternis. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis die erdrückende Wände zurück wichen. Dann fanden sie sich endlich in den Kellern des Palastes wieder. „Wir haben es geschafft“, keuchte Kipino. „Wir sind in Sicherheit.“ „Noch nicht ganz“, warf Mana ein. „Sorgt dafür, dass Resham versorgt wird. Außerdem solltet ihr Atemu darüber informieren, dass wir zurück sind. Ich habe noch zu tun.“ „Was hast du vor?“, erkundigte sich Marik sofort. „Ich werde den Tunnel verschließen, indem ich einen Teil davon einstürzen lasse. Nicht, dass man uns doch gefolgt ist. Es wird eine Weile dauern, ich kann meinen Plan schlecht hier direkt unter dem Palast durchführen, ohne das Gebäude oder Teile der Stadt zu gefährden“, erklärte die Hofmagierin, dann war sie auch schon wieder verschwunden. „Ich gehe vor und sage Riell und Risha Bescheid!“, rief Samira noch, dann hastete sie eilig aus dem Raum. „Ich folge ihr und setzte Atemu in Kenntnis, damit er einen Heiler schickt. Ihr wartet am besten hier“, sagte Yugi an den verbliebenen Schattentänzer und Marik gewandt. „Tu das. Aber bitte manch schnell. Er scheint kaum noch bei Bewusstsein zu sein!“, erwiderte Kipino mit einem ernsten Blick auf den alten Mann. Seine Stimme verriet, welche Angst ihn umklammert halten musste. Yugi stürmte ebenfalls auf dem Raum, rannte durch die dunklen Kellergewölbe und die Treppen hinauf, bis ihm gleißendes Sonnenlicht entgegen strömte. Er wandte sich oben angekommen nach links, hastete Gänge hinunter. Immer wieder bog er ab, es war, als wolle der Weg nicht enden. An einer Gabelung wurde er plötzlich gestoppt – von Samira, die direkt in ihn hinein lief. Beide kamen aber schnell wieder auf die Beine und setzten ihren Weg nun gemeinsam fort. „Wolltest du nicht nach seinen Kindern suchen?“, erkundigte sich Yugi ohne inne zu halten. „Man hat mir gesagt, dass sie sich beim Pharao aufhalten. Sie sollen im kleineren der Empfangssäle sein“, keuchte die Rothaarige. Noch immer nagten die Angriffe, die Caesian auf ihre Ka-Bestie abgegeben hatte, an ihren Kräften. Sie wurde immer langsamer, bis sie schließlich stehen blieb und die Hände auf die Knie stützte. „Hol du sie! Ich … ich kann nicht mehr!“, rief sie Yugi zu, der daraufhin seinen Weg fortsetzte. Noch mehrere Male musste er abbiegen, dann endlich kamen die Flügeltüren des zuvor besagten Saales in Sicht. Der junge Mann aus dem 21. Jahrhundert beschleunigte seine Schritte ein letztes Mal, dann stieß er ohne Vorwarnung die hölzernen Türen auf. Sofort richteten sich alle Blicke der im Raum befindlichen Personen auf ihn. „Partner!“, hörte er auch schon die besorgte Stimme Atemus, der prompt auf ihn zugestürmt kam. „Ist alles in Ordnung?“ „Alter, bist du okay? Ist etwas passiert?“, schloss sich gleich Joey an. „Wir … wir haben Resham befreit. Er … er ist mit Marik … und Kipino im … Keller“, brachte Yugi keuchend hervor. „Uns ist nichts pa... passiert, keine Sorge“, fügte er dann noch rasch hinzu. Kaum waren die Worte über seine Lippen gekommen, sprangen Riell und Risha vor und stürmten aus dem Raum. „Was ist mit Mana?“, fragte indes Atemu, während er seinen Freund an den Schultern fasste. „Auch sie ist … in Ordnung. Sie verschließt die Tunnel. Ist … ist ein Arzt hier? Resham ist verletzt“, erwiderte der Kleinere. „Wir werden sofort einen zu ihm schicken“, entgegnete der Pharao. „Seto? Kümmert Euch darum, schnell!“ Man sah dem Hohepriester an, dass ihm diese Entscheidung alles andere als lieb war, doch er gehorchte. „Ich werde ebenfalls nach Resham sehen“, erklärte seine Majestät weiter. „Du bleibst hier und ruhst dich aus.“ Mit diesen Worten verschwand auch Atemu. Seinen Platz neben Yugi nahmen sofort Tea, Joey und Ryou ein, die den Kleineren besorgt musterten. „Und mit dir ist wirklich alles in Ordnung?“, erkundigte sich der Weißhaarige auch gleich. „Ja, mir ist nichts passiert. Lediglich Samira hat ein paar Schläge einstecken müssen, als sie ihr Ka herbei rief, aber dem Rest von uns ist überhaupt nichts geschehen und auch ihr geht es gut.“ „Ein Glück“, antwortete Tea. „Weißt du eigentlich, was wir uns für Sorgen gemacht haben? Was hast du dir eigentlich dabei gedacht? Es ging zwar um Reshams Leben aber … “ Sie stutzte, als ein Lächeln auf Yugis Gesicht erschien. „Was ist?“, fragte sie deshalb. „Ich habe lediglich das getan, was Atemu nicht tun konnte“, entgegnete der junge Mann. Sie rauschte die Gänge entlang. Unterwegs hatte sie sich knapp den Weg zu den Kellern von Samira beschreiben lassen, über die sie beinahe gestolpert wäre. Risha konnte es nicht glauben. Die Kleine, Kipino und die Freunde des Pharao hatten es tatsächlich geschafft, ihren Vater zu befreien. Sie warf einen kurzen Seitenblick zu Riell. Sie würde ihm den Vortritt lassen, sobald sie bei Resham angelangt waren. Denn wenn sie es genau betrachtete – was sie in den Augen ihres Bruders viel zu häufig tat – dann war er der einzige Blutsverwandte des Clanoberhauptes. Der Meister war ein Elternersatz für Risha, ohne Zweifel, doch in ihren Adern floss nicht das gleiche Blut, weswegen sie sich oft in Dingen zurücknahm, die leibliche Kinder von ihren Eltern als selbstverständlich erwarteten. Gewiss, sowohl Riell also auch Resham hatten ihr oft genug gesagt, dass sie eine Schwester, beziehungsweise eine Tochter für sie war. Doch irgendetwas hinderte sie nach wie vor daran, sich vollkommen als solche zu fühlen. Ja, sie sprach beide an, als seien sie wirklich verwandt. Ebenso ging sie mit ihnen um. Doch an den Stellen, wo ein Vater seine beiden Kinder gleichberechtigt behandeln würde, trat sie immer einen Schritt zurück, um Riell nichts streitig zu machen. Es hatte ihn schon einiges an Überredungskunst gekostet, bis er Risha so weit gehabt hatte, dass sie sich vorübergehend die Clanführung mit ihm teilte – denn in ihren Augen gebührte diese Ehre alleine ihm. Sie verscheuchte die komplizierten Gedankengänge, als sie endlich die Treppen ins Kellergewölbe erreichten. „Kipino!“, brüllte Riell, als sie am Fuß der Stufen angekommen waren, damit sie sich orientieren konnten. Die Antwort folgte prompt. „Riell! Hier sind wir! Hier!“, hallte die Stimme Kipinos durch die Gänge, immer wieder, damit die beiden Schattentänzer ihr folgen konnten. Sofort setzten sich diese wieder in Bewegung, bis sie endlich schlitternd vor der Kammer zum Stehen kamen, in der sich das niedere Clanmitglied und ihr Oberhaupt befanden. Riell nickte Marik nur knapp zu, der sie am Eingang erwartete, dann stürmte er gleich vor und kniete sich neben seinem Elternteil nieder. „Vater? Vater, hört Ihr mich? Vater!“ Zunächst rührte er sich gar nicht. Erst, als sein Sohn seine Hand zwischen die eigenen Finger nahm, zuckten seine Augenlider. Einen Spalt breit öffneten sie sich. „Riell … Sie haben es geschafft … Sie haben mich befreit.“ Tränen traten in die Augenwinkel Riells. „Bei den Göttern … Das haben sie tatsächlich … Wie geht es Euch? Habt Ihr Schmerzen?“ Der alte Mann lächelte leicht. „Auch nicht mehr, als die üblichen, die mit dem Alter kommen … Und es sieht aus, als sei meine Hand nicht mehr zu gebrauchen … “ Erst jetzt fiel seinem Sohn auf, was er meinte. Er zuckte für einen Moment zusammen, als er die Stümpfe gewahrte. „Sie haben ihm die Finger abgeschnitten“, flüsterte seine Schwester ungläubig, aber gefasst, während sie langsam näher trat. „Ist das Risha?“, murmelte Resham. „Ist sie auch hier?“ „Das bin ich, Vater“, antwortete die Schattentänzerin und kniete sich nieder. Sie strich ihm einige der grauen Haare aus der Stirn. „Seid unbesorgt, hier seid Ihr in Sicherheit.“ Der alte Mann ließ den Blick an der Decke entlang wandern. „Der Palast des Pharao, wie? Dass ich das noch erleben darf … “ Er starrte ins Licht. Wie lange schon wusste er nicht. Für ihn hatte Zeit nie eine Bedeutung gehabt. Ihm gehörte die Ewigkeit – bis jetzt. Er hatte den Pharao zurück in die Welt der Lebenden geschickt, weil sein Cousin geglaubt hatte, er könne abwenden, was längst entschieden schien. Auch Anubis hatte daran geglaubt. Doch mit jedem Tag, der verging, zweifelte der Gott mehr und mehr. Seine Kraft schwand weiterhin. Es war nicht sein Relikt, das missbraucht wurde. Doch er und all die anderen waren eins. Ihre Kraft war eins. Und auch ihr Leid war dasselbe. Er seufzte. Denn trotz der Rückschläge, die Ägypten hatte erleiden müssen, schien da Hoffnung zu sein. Das bewies das zierliche Licht vor ihm. „Sollte es tatsächlich dieser Junge sein? Sollte er die Feder sein, die die Waagschale des Schicksals zum Guten zu wenden vermag?“ „Vielleicht ist dem wirklich so.“ Anubis wandte sich nicht um. Er hatte ihre Präsenz längst wahrgenommen. Er konnte fühlen, wie sie sich hinter ihm aus den Schatten der Zwischenwelt lösten. Ra, der stolze Sonnengott, das vogelartige Haupt trotz all der Schmerzen, die sie jüngst erlitten hatten, stolz erhoben. Ihm folgte Seth, auf sein Zepter gestützt, den Kopf vor Pein geneigt. „Wir können nur hoffen. Hoffen, dass sich das, was wir riskiert haben, lohnte“, sprach der Gott des Chaos. „Sag, Ra. Was war es, dass dich glauben ließ, dass uns der Junge helfen könnte?“, ergriff wieder Anubis das Wort, während er sich zu den anderen umwandte. Der Sonnengott erwiderte: „Ich habe es gespürt. Ich fühlte, dass nicht allein der Pharao diese Bürde auf seinen Schultern tragen konnte. Da war noch jemand. Jemand von Bedeutung.“ „Aber weshalb dann diese anderen Männer und die Frau? Was haben sie damit zu tun?“, gab der mit dem Schakalkopf zu bedenken. „Ein Unfall“, meinte Seth. „Seitdem Caesian die Relikte in seine Finger bekommen hat, schwächt er uns. Zudem hatte dein Zauber, der Atemu in die Welt der Lebenden zurück brachte, das Gefüge dieser Welt erzittern lassen, das Schicksal herausgefordert, über das auch wir uns nicht erheben sollten. Unter diesen Umständen schlug die Beschwörung fehl.“ Er machte eine Pause und seufzte. „Derlei Worte aus meinem Munde. Meinem, dem des Gottes Seth, der den Menschen gemeinsam mit Ra Tag und Nacht und so die Zeit bringt! Und all dies durch die Hand eines einzelnen Menschen.“ „Das Erscheinen dieser Anderen war kein Zufall“, antwortete Ra. „Du weißt, dass alles in dieser Welt einen Sinn hat. So auch das Eintreffen der drei Männer und der Frau. Wir haben den Jungen herbei gerufen und uns so über das Gefüge erhoben, ja. Doch sie waren nicht vorhergesehen, nicht geplant. Es waren nicht unsere Kräfte, die sie herbei brachten. Was genau dahinter steckt, hat uns das Schicksal lediglich noch nicht offenbart.“ „Was es damit auf sich hat, wird sich zeigen“, sagte nun wieder Anubis. „Feststeht jedoch, dass der Junge, mit dem sich der Pharao einst einen Körper teilte, um die Welt vor Schrecken zu bewahren, eine Rolle in diesem Krieg spielt.“ Er wandte sich nach dem Schein um, den er zuvor betrachtet hatte. „Das Licht dieses Mannes hätte längst erloschen sein sollen. Doch der Junge bescherte Resham ein anderes Schicksal. Er hat ihn vor dem Tod bewahrt.“ „So ist es. Das Menschenkind hat vollbracht, wozu sonst kein Sterblicher in der Lage ist.“ Die drei Götter wandten sich um, als ein vierter von ihnen erschien. Die Gestalt einer Löwin schälte sich aus den Schatten. Majestätisch, wie es einem Raubtier angeboren war, schritt Sachmet heran und blieb vor dem Lebenslicht stehen, das Resham gehörte. „Ein weiterer Beweis dafür, wie zerstört das Gefüge der Welt bereits ist, die wir geschaffen haben. Für uns bedeutet es gewöhnlich Gefahr, in den Lauf der Dinge einzugreifen, doch wir sind dennoch dazu in der Lage. Aber ein Mensch … Pah! Sie konnten lediglich davon träumen, überhaupt etwas zu verändern, wenn es ihnen nicht vorher bestimmt war. Aber vielleicht könnte ihnen die Erschütterung der komplexen Gefüge, die das Schicksal schaffen, zum Vorteil gereichen. Vielleicht könnte sie uns zum Vorteil gereichen.“ Sie schwieg für einen Moment und betrachtete eingehend das Lebenslicht. „Wir werden sehen, wozu ihr fähig seid. Ihr – Yugi und seine Freunde.“ ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ Einen schönen guten Abend, trotz Urlaub und Uni habe ich es tatsächlich geschafft, meine 2-Wochen-Spanne in Hinsicht auf die Uploads halbwegs einzuhalten. So, da wären wir also bei Kapitel 24. Für Kapitel 25 habe ich mir etwas Besonderes überlegt. 3sakuraharuno3 wird sich eventuell schon denken können, was da kommen mag. Bitte noch nix verraten, ja? ^^ Aber so viel sei schon einmal gesagt: Das Kapitel wird ein wenig lockerer werden, als dieses, das ja doch wieder recht ernst gehalten war. So, nun aber erst mal zu diesem hier: Insgesamt bin ich nicht 100%ig zufrieden. Irgendetwas stimmt nicht, ich weiß nur nicht, was. Ich hoffe natürlich, ihr seht das anders, aber wenn euch etwas ins Auge sticht, das nicht passt, sagt's ruhig. Das Ende finde ich allerdings recht gelungen. Ich wollte den Göttern mal wieder eine Bühne geben, die ja doch eine große Rolle in der Geschichte spielen. Hier tauchte außerdem mal meine Lieblingsgöttin auf. Wer das ist, dürfte nicht schwer zu erraten sein, oder? ;) Auch, wenn mir das Ende persönlich gefällt, so hoffe ich dennoch, dass halbwegs nachvollziehbar ist, worüber sich die Götter unterhalten. Ich habe es mit Absicht etwas zwielichtig gemacht, denn ich kann mir einfach gut vorstellen, dass Götter in Rätseln sprechen, bzw. ihre Aussagen kryptisch verpacken.^^ So, das war's aber auch erst einmal von mir. Danke erneut an 3sakuraharuno3 für ihren tollen und hilfreichen Kommentar zum letzten Kapitel! Sechmet Kapitel 24: Unter Ka-Bestien ---------------------------- Unter Ka-Bestien Shiruba betrachtete den Mond. Er war wirklich wunderschön. Ihn anzusehen, war eine der Lieblingsbeschäftigungen des Ungetüms. So furchteinflößend das Monster auch wirken mochte, eigentlich war es doch 'ein ganz Lieber', wie Ryou immer sagte. Die Bestie mochte es, wenn seine Zwillingsseele so über sie sprach. Dann fühlte sie sich geschätzt. Der junge Mann aus einer anderen Zeit hatte keine Angst vor ihm. Ganz anders als die Soldaten des Pharao. Jedes Mal, wenn sie Shiruba sahen, verneigten sie sich augenblicklich und gingen dann weiter – jedoch deutlich zügiger, als zuvor. Dem silbernen Ungeheuer entging nicht, dass sie sich fürchteten. Dabei wollte er ihnen doch gar nichts tun! Seufzend wandte er seinen Blick vom Mond ab und ließ ihn über den Innenhof des Palastes gleiten. Heute schien ein besonderer Abend zu sein. All die Ka-Bestien, die er kennen gelernt hatte, seitdem er Ryous Partner geworden war, waren da. Es war gängige Praxis, dass die Träger der Monster ihre Zwillingsseelen des Öfteren alleine umher ziehen ließen. Auf diese Weise gewannen beide Parteien für kurze Zeit einen gewissen Abstand zueinander. Natürlich waren Träger und Bestie auch dann noch miteinander verbunden, aber ab und an tat ein wenig Freiraum für sich einfach gut – so, wie es eben bei jedem Lebewesen war. Shiruba erhob sich gähnend und sprang von der Palastmauer herunter, auf der er die ganze Zeit gesessen hatte. Es waren wirklich alle da: Die Monster des Königshauses, die Partner der jungen Leute aus dem 21. Jahrhundert und die Ungetüme der Schattentänzer. Sie saßen in einer großen Gruppe zusammen – was das silberne Ungeheuer zugegebener Maßen überraschte. Denn nicht alle waren sich gut gesonnen, soviel wusste er. Lediglich die göttlichen Kreaturen des Pharao waren nicht da. Kein Wunder – sie rief niemand, wenn es nicht zwingend nötig war. Allein ihre Beschwörung kostete enorme Kraft. Ganz zu schweigen von den Anstrengungen, die ihr Träger aushalten musste, solange sie in dieser Sphäre präsent waren. Shiruba trottete zu den anderen hinüber und ließ sich schließlich bei der Gruppe nieder. Kaum hatte er Platz genommen, kratzte er sich erst einmal ausgiebig mit dem Hinterlauf am Ohr. „Ein schöner Abend, nicht?“, warf er danach in die Runde. „Ja, allerdings!“, stimmte die Feuerprinzessin zu. Sie saß neben ihm am Boden und hatte das Zepter in ihren Schoß gelegt. „Wirklich angenehm. Und nicht so kalt wie die letzten Nächte, wenn ihr mich fragt.“ „Bin ich eigentlich der Einzige, der findet, dass es viel zu ruhig ist?“, gab Diabound zu bedenken. „Sind wir mal ehrlich. Heute Nachmittag ist ein Gefangener aus Caesians Lager entkommen und der Kerl rührt bislang keinen Finger. Er weiß doch dank des Kampfes mit Sicherheit, wer Resham befreit hat. Selbst wenn sich Kiarna nicht gezeigt hätte, wäre er doch sicher nicht so dumm und könnte sich denken, dass wir es waren! Mir kommt das Spanisch vor!“ „Was ist 'Spanisch'?“, krächzte Firell, der gerade von Kiarnas Schulter herunter geflattert kam und Anstalten machte, sich auf Cherons Kopf niederzulassen. Doch das Pferd schnaubte drohend und warf den Kopf zurück, sodass das geflügelte Wesen stattdessen auf dem Boden landete. „Eine Sprache“, erklärte Rotauge. „Man spricht sie in Spanien.“ „Und warum kommt dir das 'Sprache' vor?“, erkundigte sich Firell nun wieder direkt an Diabound gewandt. „Irgendwie ergibt deine Aussage keinen Sinn.“ „Das ist eine Redewendung“, warf nun Anubis ein. „Man sagt das, wenn man etwas seltsam findet.“ „Und warum sagt ihr dann nicht einfach, dass es euch eigenartig vorkommt?“, fragte nun Kiarna. „Ihr habt dieselbe, komische Ausdrucksweise wie eure Zwillingsseelen!“ „Noch ein Wort gegen meinen Partner und ich hacke dir den Kopf ab, Brathühnchen!“, motzte Des Gardius prompt und baute sich drohend vor dem Phönix auf – oder versuchte es zumindest. Denn man musste hierbei berücksichtigen, dass das Monster Marlics deutlich kleiner war, als das von Samira. „Andere Länder, andere Sitten. Belassen wir es einfach dabei, ehe das hier noch in einen Streit ausartet. Ich persönlich ziehe ja vor, jeden Augenblick der Ruhe zu genießen, den wir haben und uns gönnen können“, versuchte Cheron zu beschwichtigen. „Du hast die Weisheit auch mit Löffeln gefressen, oder?“, stichelte Des Gardius weiter, doch der Pegasus ging nicht darauf ein. Es war zu offensichtlich, dass diese Kreatur nur auf eines aus war: Streiten oder zumindest provozieren – Feuer legen, wo immer es eben ging. Dafür sprangen zwei andere Bestien in der Runde umso besser auf die Worte von Marlics Ungetüm an. Anwaar und der weiße Drache reckten zugleich drohend ihre Hälse nach unten, um auf Augenhöhe mit Des Gardius sein zu können. „Wenn ich du wäre, würde ich meine Zunge zügeln, Kleiner“, knurrte Setos Ungeheuer. „Ein Happs und es ist Schluss mit deinen ach so Angst einflößenden Drohungen!“, fügte er hinzu, indem er den Kiefer erst auf- und dann wieder zuschnappen ließ. „Allerdings. Wie er bereits betonte, du hast nicht die passende Größe, um dich mit uns anzulegen, Winzling!“, stimmte das geschuppte Wesen Riells zu. „Jetzt beruhigt euch doch bitte“, rief der Chaosmagier zur Ruhe und rieb sich die Schläfen. „Wir haben wahrlich größere Probleme, als eure Streitereien.“ „Danke. Wenigstens einer, der das genau so sieht“, ergriff nun wieder Diabound das Wort. „Wie ich bereits sagte, ich finde es seltsam, dass Caesian sich bislang nicht gerührt hat.“ „Ich auch“, stimmte Darla zu. „Es passt nicht zu ihm. Seit so langer Zeit hält er uns hier in Schach. Er weiß, dass er momentan die Kontrolle über die Situation hat. Wir kämpfen nur, wenn er uns herausfordert, greifen ihn nie an, wenn er nicht den ersten Schritt macht. Aber in dem Augenblick, da wir ihm Resham entrissen haben, hat er einen Funken seiner Macht in Frage gestellt bekommen. Die einzig logische Konsequenz daraus wäre doch, uns sofort und auf der Stelle in unsere Schranken zu weisen, oder nicht?“ „Du willst bei einem Wahnsinnigen wirklich von Logik sprechen?“, kommentierte Cheron und fing sich damit einen bösen Blick der Magierin ein, der ihn jedoch nicht zu stören schien. „Nicht streiten“, sagte Shiruba daraufhin bestimmt und hielt seine große Tatze so zwischen die beiden anderen Ka-Bestien, dass sie sich nicht mehr sehen konnten. „Aber sie hat schon irgendwie recht. Caesian ist doch bestimmt stinkesauer über den Verlust, oder nicht? Resham ist immerhin eine wertvolle Quelle, wenn es um Wissen geht, das mit den Artefakten zu tun hat.“ „Freuen wir uns bloß nicht zu früh“, gab Rotauge zu bedenken. „Noch ist nicht aller Tage Abend. Wer weiß, was dieser Kranke gerade in diesem Moment ausheckt.“ „Wir sollten einfach jetzt sofort in sein Lager marschieren und ihm den Kopf abschlagen!“ Alle Augen richteten sich auf Des Gardius, der die Aussage getätigt hatte. „Was?“, reagierte das Biest auch prompt. „Ihr seid doch alle nur zu feige!“ „Pass auf, was du sagst, Kotzbrocken!“, fauchte der weiße Drache zur Antwort. „Das nimmst du auf der Stelle zurück, du zu groß geratene Eidechse!“, polterte Marlics Zwillingsseele und spreizte die Finger mit den langen Klauen. „Das solltest du wirklich“, pflichtete Anwaar bei und sah Setos Kreatur mahnend an. „Erbrochenes ist verglichen mit diesem Wesen noch ein Kunstwerk! Sieh es dir doch nur einmal an!“ Die beiden Drachen brachen in Gelächter aus, während Des Gardius drohend und mit den Krallen fuchtelnd vor ihnen herum sprang. Böse Worte folgten, die von noch böseren quittiert wurden. Die anderen Ka-Bestien sahen dem Ganzen eine Weile lang zu, ehe sie entschieden, die Drei streiten zu lassen und sich wieder anderen Themen zu zu wenden. Vielleicht kam ohne die Teilnahme ihrer drei aggressivsten Kollegen endlich ein vernünftiges und nicht andauernd unterbrochenes Gespräch zustande. „Warum können sich nicht einfach alle vertragen?“, seufzte Shiruba. „Dann hätten wir keinen Streit, keinen Krieg … “ „Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, aber das hier ist die Realität“, kommentierte Cheron. Er hielt von derlei Wunschdenken überhaupt nichts. „Der Friede wächst nun einmal nicht auf Bäumen.“ „Das kann er ja auch gar nicht! Immerhin ist er keine Frucht!“, erklärte Firell, stolz, dem Pegasus etwas beibringen zu können. Der ließ daraufhin nur seufzend den Kopf hängen. „Ähm, ich glaube, das war eine Metapher“, versuchte die Feuerprinzessin klarzustellen. „Was ist eine Mesafter?“, kam die gekrächzte Frage zurück. „Das bedeutet, dass man eine Aussage im übertragenen Sinne sehen muss. Cheron will damit sagen, dass der Frieden nicht von selbst kommt, sondern, dass man dafür kämpfen muss. Man kann ihn sich nicht einfach nehmen, man muss dafür arbeiten“, erklärte Teas Bestie ihrem Gegenüber. „Und warum sagt er dann nicht einfach, dass er das so meint?“, hakte Firell weiter nach. „Wahrscheinlich, weil er nicht daran gedacht hat, dass du in solchen Angelegenheiten recht beschränkt bist“, entgegnete Kiarna mit gebleckten Zähnen, was wohl ein Grinsen darstellen sollte. „Was heißt das nun schon wieder? Was heißt 'beschränkt'?“, beschwerte sich die Krähe auch prompt. „Siehst du, sag' ich doch!“, freute sich der Phönix. „Ist der immer so?“, erkundigte sich der Chaosmagier derweil im Flüsterton bei Cheron und deutete auf Firell. „Allerdings … “, sagte der Pegasus resignierend. Das Ka von Yugi betrachtete den schnatternden Vogel noch einen Moment, dann fuhr es fort: „Mein aufrichtiges Beileid.“ „Keine Sorge, man gewöhnt sich an alles“, erwiderte das geflügelte Pferd. „Tja, Diabound, ich fürchte, deine normale und anständige Unterhaltung wirst du abschreiben können“, meldete sich schließlich Anubis zu Wort. „Ja, sieht fast so aus … “, gab die angesprochene Zwillingsseele Zähne knirschend zu. „Dann sollten wir die Zeit trotzdem sinnvoll nutzen. Vielleicht, indem wir uns alle ein bisschen besser kennen lernen!“, schlug Shiruba vor. „Und wie machen wir das?“, fragte Bakuras Monster. Dank seines Trägers war es nicht sonderlich gut im schließen von Freundschaften. „Wir erzählen uns einfach ein bisschen übereinander und stellen uns Fragen! So, wie man das eben macht. Ich kann anfangen, wenn ihr wollt“, erklärte Ryous Kreatur. Sie schien richtig aufgeregt zu sein. „Also, was war euer schönstes Erlebnis in eurem ganzen Leben? Anubis fängt an!“ Die große, hundeähnliche Bestie schien zu überlegen. „Das war definitiv, als ich endlich wieder aus dem Seelenstein geholt wurde, nachdem man mich meinem eigentlichen Partner abgenommen hat.“ „Hey, bei mir ist es genau dasselbe! Es war so toll, wieder raus zu kommen! Und dann habe ich noch so einen netten Menschen getroffen, wie Ryou!“, stimmte Shiruba freudig zu. „Weswegen hat man euch eigentlich euren Trägern weggenommen?“, erkundigte sich Diabound. „Sie haben mit unserer Hilfe Schaden anrichten wollen“, erklärte Anubis. „Genau. Aber jetzt ist ja alles in Ordnung! Ich hoffe, ich muss mich nie mehr von Ryou trennen. Unsere ehemaligen Träger haben in uns nur Werkzeuge gesehen. Wir selbst haben ihnen nichts bedeutet. Von daher war es wirklich gut, ihnen entzogen zu werden“, pflichtete Shiruba bei. „Und was war dein schönstes Erlebnis, Diabound?“ Das Wesen schien eingehend zu überlegen. In dem Leben, das er mit Bakura teilte, hatte es bisher nicht viel Schönes gegeben. Aber dann kam ihm doch eine Idee. Ja, das war wohl wirklich eine tolle Sache gewesen! „Das war, als der König der Diebe und ich gemeinsam diesen Hofmagier in der Grabkammer Aknamkanons umgebracht haben! Das war wirklich ein besonderer Tag!“ Betretenes Schweigen trat ein, das lediglich vom Glucksen Cherons durchbrochen wurde. Er schien wirklich der Einzige zu sein, der Diabound da verstehen konnte – wenn man einmal die anderen Ka-Bestien der Schattentänzer abzog. Doch die schenkten der Unterhaltung keine Aufmerksamkeit mehr. Des Gardius stritt sich nach wie vor mit dem weißen Drachen und Anwaar und Kiarna veräppelte noch immer Firell. „Ein besonderer Tag? Bist du von allen guten Geistern verlassen? Ihr habt Mahad getötet und du nennst das einen 'besonderen Tag'?“, durchbrach Darla plötzlich die Stille. Sie schrie, kreischte schon beinahe. „Reg dich ab, Püppchen“, entgegnete Bakuras Monster. „Das ist doch schon so lange her!“ „Ich heiße Darla, du Sohn eines räudigen Schakals! Und dass es schon einige Zeit zurück liegt, gibt dir noch lange nicht das Recht, derartig über einen der größten Magier zu sprechen, die Ägypten je hervor gebracht hat!“ „So groß kann er doch gar nicht gewesen sein, wenn er sich hat umbringen lassen“, kommentierte Cheron und fing sich dafür einen bitterbösen Blick des schwarzen Magiermädchens ein. Sie entschied sich jedoch dagegen, sich auch gleich noch mit dem Pegasus anzulegen. Zuerst würde sie dieser zu groß geratenen Kobra den Kopf waschen und dann würde sie diesem Huftier die Flügel stutzen. „Mir scheint es fast, als rühmst du dich noch mit dem, was du und dein ach so toller Träger angerichtet haben!“, brüllte Darla wieder an Diabound gewandt. „Ist dir eigentlich klar, wie viel ihr zerstört habt? Wie viel Leid ihr angerichtet habt?“ „Oh ja … Allerdings … “, erwiderte Bakuras Bestie langsam und musste bei den Erinnerungen grinsen. Dies war der Moment, der das schwarze Magiermädchen beinahe um den Verstand brachte. Ihre Hände krampften sich um ihren Stab, während sie versuchte, die Wut in ihrem Inneren zu bändigen. „Das war kein verdammtes Spiel, bei den Göttern nochmal!“, fauchte sie. „Bitte, hört auf zu Streiten, das bringt doch nichts“, versuchte Shiruba leise zu vermitteln. Doch er wurde ignoriert. Denn plötzlich wurde auch Diabound wieder ernst. „Glaubst du etwa, für uns war das alles nur ein Spaß? Die Verluste, die wir haben hinnehmen müssen? Die ständige Angst, gefunden, gefangen zu werden und ebenso zu enden, wie der ganze, gottverlassene Rest Kul Elnas?“ „Anscheinend tut sie das“, stimmte Cheron zu. „Aber so ist die Welt nun einmal. Jeder denkt nur an sich und betrachtet nur seine Seite der Medaille.“ „Aber wenn man das schon erkannt hat, wäre es dann nicht logisch, genau das ändern zu wollen?“, warf der Chaosmagier ruhig ein. „Eben“, pflichtete Shiruba bei. „Es ist so, aber es sollte nicht so sein. Die Menschen und Ka-Bestien sollten einander respektieren und in Frieden miteinander leben.“ „Das wäre gewiss der optimale Zustand, mein Guter“, erwiderte Cheron. „Aber er ist fern jeglicher Realität. So etwas kann und wird es niemals geben. Deswegen ist es das Schlauste, sich dem anzupassen, um nicht unterzugehen.“ „Nur weil es Leute wie euch gibt“, sagte Darla und deutete dabei mit einer Hand auf den Pegasus und mit einer auf Diabound, „kann dieser optimale Zustand nicht erreicht werden!“ „Solche Worte aus deinem Mund, ja?“, fauchte Bakuras Kreatur. „Du und deine Trägerin dienen dem Königshaus, das dutzenden Menschen das Leben nahm, um selbst überleben zu können! Also hör auf hier den Moralapostel zu spielen.“ „Nur damit du es weißt: Damals war Mana gerade erst geboren! Sie trifft mit Sicherheit keine Schuld!“, keifte Darla prompt zurück. „Das tut es sehr wohl, wenn sie in Schutz nimmt, was damals veranlasst wurde!“, konterte Diabound augenblicklich. „Es hat niemand gesagt, dass damals keine Fehler passiert sind. Wir wissen, was vorgefallen ist und wie schrecklich das gewesen sein muss. Aber niemand ist fehlerfrei! Wir haben daraus gelernt und uns weiterentwickelt!“, verteidigte das schwarze Magiermädchen weiterhin ihren Standpunkt. „Manche Dinge können aber nicht entschuldigt werden“, kommentierte Cheron an dieser Stelle. Wieder trat eiserne Stille zwischen sie. Darla wechselte einen Blick mit den beiden anderen Ka-Bestien und schien zu überlegen, ob sie sich einfach auf sie stürzen sollte. Diese beiden waren mindestens genau so verbohrt wie ihre Träger, so viel stand fest! „Du kannst es einfach nicht lassen, was Cheron? Du musst immer das letzte Wort haben und dabei auf besonders poetisch tun, nicht?“ Die Worte zerschnitten das Schweigen wie eine glühende Klinge. Die drei Streithähne fuhren herum – nur um sich Shadara, dem dreiköpfigen Zerberus, gegenüber zu sehen. Der Pegasus, der bislang entspannte da gelegen und es sich gemütlich gemacht hatte, kam prompt auf die Beine und scharrte drohend mit dem Vorderhuf. „Was willst du hier?“ „Was denn?“, entgegnete der mittlere Kopf Shadaras mit süffisantem Grinsen. „Wir dürfen uns ebenso frei im Palast bewegen, wie ihr alle auch.“ Cheron ließ ein abfälliges Schnauben hören. „Sprichst du immer noch von dir in der Mehrzahl? Ich dachte eigentlich, dass sich das geben würde, wenn du älter wirst.“ „Nun ja … Er hat drei Schädel von denen jeder eigenständig denkt. Genau genommen sind es also schon drei Bestien, nur in einem Körper. So sehe ich das zumindest“, versuchte sich Diabound an einer Erklärung. Shiruba und der Chaosmagier betrachteten derweil den Zerberus. Sie waren erstaunt, denn so ein Ka war ihnen zugegebener Maßen noch nie untergekommen. Aber warum wunderten sie sich eigentlich noch, nachdem sie schon so manches andere Monster kennen gelernt hatten? Des Gardius war offenbar mordsüchtig, Firell leicht auf den Kopf gefallen und Shadara hatten eben … nun, eine gespaltene Persönlichkeit? „Wenigstens bin ich nicht zu einem großkotzigen Besserwisser mutiert!“, knurrte der rechte Kopf von Keiros Kreatur. „Dergleichen nennt man Intelligenz. Aber dass dieser Begriff in deinem Wortschatz nicht vorkommt, überrascht mich nicht“, entgegnete Cheron kühl. „Deine 'Intelligenz' bringt dir rein gar nichts, wenn ich dir das Genick breche, du geflügeltes Kamel!“, fauchte nun der mittlere Schädel. „Können wir uns nicht einfach alle vertragen?“, murmelte der linke ängstlich. „Nein!“, herrschten ihn die beiden anderen augenblicklich an. „Ich würde ja auf ihn hören. Er scheint mir der Einzige von euch zu sein, der so etwas wie Verstand besitzt“, kommentierte Cheron das Schauspiel abfällig. „Denn niemand, der so dumm war, sich mit mir anzulegen, hat es bislang überlebt.“ „Schnauze, du … “, wollte der mittlere Kopf sagen, doch das geflügelte Pferd unterbrach ihn. „Anatomisch betrachtet … “ „Dann halt eben dein verdammtes Maul!“ Mit diesen Worten stürzte sich Shadara auf den Pegasus – oder versuchte es zumindest, denn dieser erhob sich mit einem kräftigen Sprung in die Luft. Der Zerberus landete im Staub, hatte jedoch keine Zeit, um zu verschnaufen. Im letzten Moment hechtete er zur Seite, als Cheron hernieder gesaust kam, die Hufe zum Schlag bereit. Doch auch sein Angriff ging ins Leere. Shadara hatte allerdings nicht darauf geachtet, wohin er sich rettete. So schlitterte er einige Meter weiter gegen Kiarnas Bein. Der Phönix gab einen erschrockenen Aufschrei von sich und fuhr herum. Seine Augen weiteten sich, als er die andere Ka-Bestie entdeckte. „Was tust du denn hier, du miese kleine Ratte?“, fauchte das Monster. „Entschuldigt bitte die Störung, Gnädigste, wir wollten nicht … “, setzte der linke Kopf zu einer Erklärung an, wurde jedoch abermals von den anderen beiden unterbrochen. „Hörst du wohl auf, dich bei diesem zu groß geratenen Huhn zu entschuldigen?“, fauchten sie synchron. „Wen nennst du hier ein 'zu groß geratenes Huhn?“, donnerte Kiarna und hob eines ihrer mächtigen Vogelbeine. Wieder rettete ein Hechtsprung die dreiköpfige Kreatur, doch nun war auch noch Anwaar auf sie aufmerksam geworden. „Dass du dich überhaupt noch traust, hinter diesen Mauern zu wandeln!“, knurrte der Drache und näherte sich dem Zerberus drohend. Der machte sich zum Kampf bereit, als er ein Gewicht auf seinem mittleren Schädel spürte – Firell hatte sich darauf nieder gelassen. „Gehst du wohl von mir runter?“ „Also ich würde ja laufen“, krächzte das gefiederte Monster. „Ich bin aber nicht so feige wie du!“, motzte Shadara zurück. „Du nennst es feige, ich nenne es … intelligent!“ Firell erhob sich gerade noch rechtzeitig in die Luft, um den Klauen der anderen Ka-Bestie zu entkommen. Das letzte Wort hatte das Fass, das die Geduld des Zerberus beherbergte, zum Überlaufen gebracht. Umso mehr amüsierte sich Kipinos Ungeheuer über die vergeblichen Versuche des anderen, ihn zu erreichen. „Schon scheiße, wenn alle fliegen können, nur man selbst nicht, was?“, kommentierte Anwaar diesen Anblick schmunzelnd. „Ich brauche nicht zu fliegen, um dir die Augen auszukratzen!“, brüllte Shadara, dann preschte er über den sandigen Boden des Palasthofes. Schließlich sprang er, die Klauen und Fänge bereit, sich in das Fleisch des Drachen zu bohren. Doch dieser wich im letzten Moment zur Seite, sodass die Attacke einen anderen traf. Die Augen des Zerberus weiteten sich noch erschrocken, als er realisierte, wem er da gerade in den Schwanz biss. Denn es war niemand anderes als der weiße Drache. Der stieß ein erschrockenes Fauchen aus, als er den Schmerz wahrnahm. Augenblicklich zuckte der Kopf herum und fixierte das andere Ka, das vor lauter Schock noch immer seine Krallen in die Schuppen des echsenartigen Wesens gegraben hatte. „Was erlaubst du dir, du Straßenköter?“, donnerte die schneeweiße Kreatur, ehe sie den Schweif erst nahe zu sich heran zog und ihn dann plötzlich nach vorne schnellen ließ. Die Fliehkraft riss Shadara förmlich vom Schwanz des Drachen herunter. Er flog mehrere Meter durch den Innenhof des Palastes, bis er in einem Stapel Fässer landete, die die Männer des Pharao noch nicht verräumt hatten. Die Soldaten, die in der Nähe standen, eilten schnell davon, als sich die Behältnisse lösten und kreuz und quer über den Platz kullerten. Cheron, der sich gerade aufgrund von Shadaras Verwechslung beinahe tot lachte, gewahrte eines der Fässer erst, als es zu spät war. Er versuchte zwar noch, sich in die Luft zu erheben, schaffte es jedoch nicht ganz, sodass er genau auf dem rollenden Behältnis aufkam. Verzweifelt versuchte er darauf zu balancieren und seine vier Beine zugleich so zu koordinieren, dass er nicht herunterfiel. Dies gelang auch halbwegs – bis er plötzlich samt dem Fass gegen eine der Palastmauern krachte, woraufhin dieses zersprang und seinen gesamten Inhalt über das helle Fell des Pegasus ergoss. Der blieb einen Moment benommen liegen, ehe ihm der Duft der Flüssigkeit in die Nase stieg. Angewidert rümpfte er die Nüstern, setzte sich auf und sah an sich hinab, nur um festzustellen, dass er über und über mit Wein besudelt war. Dass nur Sekunden später Firell vor ihm landete und ihn schallend auslachte, machte die Situation nicht besser. Derweil kullerten noch zahlreiche weitere Fässer durch den Innenhof. Bald entdeckte der Chaosmagier eines, das gerade dabei war, sich ein Ziel zu suchen. „Rotauge, pass auf!“, rief er noch, doch es war bereits zu spät. Der Drache drehte sich zwar noch um, doch das Unvermeidliche konnte nicht mehr verhindert werden. Das dicke, hölzerne Gefäß krachte mit voller Wucht gegen die Beine der schwarzen Riesenechse, woraufhin diese erst ins Taumeln geriet, ehe auch sie mit einem erschrockenen Aufschrei zu Boden ging. Ihr Schwanz zuckte durch die Luft und zerschmetterte das nun hinter ihr befindliche Fass – und das direkt vor Darla und dem Chaosmagier. Beide fanden sich binnen Sekunden in einem Regen aus Wein wieder, der sie von oben bis unten durchnässte. Zuerst sagte keiner von beiden etwas, dann stieß das schwarze Magiermädchen einen einzigen, langen Wutschrei aus. Doch niemand schenkte dem Beachtung. Shiruba und Anubis flüchteten vor einem anderen Behälter, der sie kontinuierlich verfolgte. Des Gardius schien das ganze Szenario überaus zu gefallen, denn er hatte sich ein Fass geschnappt, es mit seinen Klauen geöffnet und versuchte nun, Firell, den er hatte schnappen können, darin zu ertränken. Anwaar unternahm derweil den Versuch, ein weiteres zu stoppen, zertrat es jedoch aufgrund seiner groben Motorik und begutachtete nun seinen Fuß, der in der dunkelroten Flüssigkeit getränkt war. Kiarna hingegen schien sich an dem penetranten Weingeruch, der die Luft schwängerte, überhaupt nicht zu stören. Im Gegenteil. Sie hatte sich einer der Pfützen, die den Boden bedeckten, genähert und schnüffelte interessiert an der Flüssigkeit, ehe sie den ersten Schluck nahm. Offenbar schien es ihr zu munden, denn gleich darauf trank sie gierig weiter. Diabound fragte sie noch, ob sie das für eine gute Idee hielt, da wurde er plötzlich zum Opfer von Des Gardius Langeweile. Dem war nämlich Firell entkommen, so hatte er sich kurzer Hand das Fass geschnappt, das den Tod des Vogels hatte herbei führen sollen, und es mit einem kräftigen Sprung direkt über Bakuras Ka entleert. Das Wesen mit dem Schweif einer Kobra ließ sich das natürlich nicht gefallen und stürzte sich prompt auf Marlics Kreatur. Die ganze Situation eskalierte aber erst richtig, als sich auch die Feuerprinzession von einem Weinbehälter bedroht sah. Panisch zückte sie ihr Zepter und schoss einen großen Feuerball auf das hölzerne Gefäß – ein Fehler, wie sie nur Sekunden später feststellen musste. Funken und brennende Holzsplitter stoben und flogen in alle Richtungen. Das schwarze Magiermädchen, das gerade dabei war, seine vor Wein triefenden Kleidung zu begutachten, schrie erschrocken auf, als ihr Rock plötzlich in Flammen stand. Hysterisch begann sie auf die Flammen einzuschlagen. Auch Anubis, der gerade vorbei lief, bekam ein wenig Glut ab und gab panisch Fersengeld, als mit einem Mal sein Schwanz zu brennen begann. Shiruba nahm die Verfolgung auf, um ihm zu helfen. Auch einige Federn Firells hatte es erwischt. Er krächzte und schlug voller Angst mit den Flügeln, bis ihn Cheron mit dem Maul am Kragen packte und in eine Pfütze aus Wein tauchte, um das Feuer zu löschen. Shadara hatte sich eigentlich in dem ganzen Tumult heimlich aus dem Staub machen wollen. Doch diesen Plan ruinierte er selbst, indem er sich noch einmal umdrehte, um das Treiben im Innenhof ein letztes Mal zu betrachten. Als dann auch noch Anubis schreiend an ihm vorüber preschte, gefolgt von Shiruba, der ihm die ganze Zeit hinter brüllte, er solle doch einfach stehen bleiben, war es aus mit seiner Beherrschung. Er brach in schallendes Gelächter aus. So realisierte er zunächst nicht, dass er plötzlich der Einzige war, der noch Geräusche von sich gab. Erst, als ihm allmählich die Puste ausging, beruhigte er sich wieder – und sah sich plötzlich all den anderen Ka-Bestien gegenüber, die nicht halb so amüsiert aussahen, wie er es war. „Ähm … Entschuldigung?“, sagten die drei Köpfe vorsichtig. Doch das schien den anderen nicht zu reichen. Sie stießen im Einklang ihre typischen Schlachtrufe aus, offenbar bereit, sich auf den Zerberus zu stürzen – als sie plötzlich alle erstarrten. „Was zum Geier ist hier los?“, donnerte eine wütende Stimme quer über den Innenhof des Palastes. Der weiße Drache erkannte sie sofort, denn es war niemand anderes als Seto, der da mit hochrotem Kopf und allem Anschein nach stocksauer auf sie zu marschiert kam. Doch er war nicht alleine. Im folgten die restlichen Ka-Bestienbesitzer auf den Fuß. Auch deren Gesichter sprachen Bände. „Ach du meine Güte, was ist denn hier geschehen?“, machte auch Ryou seiner Verwunderung Luft und sah sich erstaunt um. Überall bedeckten rote Pfützen den Boden. Alleine der penetrante Alkoholgeruch verriet, dass es sich dabei nicht um Blut handelte. „Darla, wie siehst du denn aus?“, quietschte Mana schon beinahe, als sie ihre Zwillingsseele entdeckte. Die schämte sich deutlich für ihr Aussehen und den Duft, den sie verströmte. „Verdammter Mist, du stinkst zum Himmel, Cheron!“, tadelte auch Risha ihr Monster, das versuchte, sein über und über mit Wein durchtränktes Fell auszuschütteln. Dennoch wollte der rötliche Hauch nicht von den Haaren weichen und färbte sie weiterhin. „Was ist hier geschehen?“, fragte nun auch Atemu, der sich direkt an alle anwesenden Kreaturen wandte. „Na ja, zuerst haben wir uns unterhalten, dann haben sich alle gestritten und dann … “, versuchte sich der Chaosmagier an einer Erklärung, hielt jedoch inne, als er zum springenden Punkt kam. Es war nicht seine Art, jemanden anzuschwärzen. Diese Aufgabe erledigte dafür Anwaar mit großer Freude: „Dann hat Shadara den weißen Drachen in den Schwanz gebissen, woraufhin dieser ihn in die Weinfässer geschleudert hat und das Schicksal seinen Lauf nahm.“ Natürlich ließ er dabei aus, dass sie sich alle, was die Behälter anging, dezent ungeschickt verhalten hatten. „Des Gardius wollte mich ertränken!“, krächzte Firell in die Erklärung hinein und entging dann im letzten Moment den Klauen der besagten Bestie. „Hältst du wohl den Schnabel, Federvieh?“ „Wenn hier einer die Klappe hält, dann wohl du! Ansonsten drehe ich dir dafür, dass du mir ein ganzes Weinfass übergekippt hast, doch noch den Hals um!“, fauchte Diabound sofort und baute sich drohend vor Marlics Monster auf. „Ähm, Samira?“, wandte sich Riell derweil an die jüngere Schattentänzerin. „Ist alles in Ordnung?“ „Isch weisch auch nisch … Irwie isch mir plötzlisch so schwindlisch …“, hickste die Kleine. „Hihi … das isch voooll lustisch, gell?“, versuchte sich daraufhin Kiarna zu artikulieren. Bakura wurde sogleich hellhörig. Verdutzt musterte er den großen Phönix. „Moment mal … Du hast doch nicht etwa den Wein gesoffen?“ „Dosch! Schmeckt voooll lecka!“, freute sich das angesprochene Wesen. „Ich glaub's nicht“, seufzte der Grabräuber und schlug sich eine Hand vor die Stirn. „'Ne stockvolle Ka-Bestie!“ „Du bist betrunken?“, schaltete sich nun auch Risha ein. „Sag mal, spinnst du? Wir befinden uns mitten in Kriegszeiten, da kannst du dir doch nicht einfach die Kante geben!“ Schwankend beugte sich der Phönix herunter, sodass er mit der Schattentänzerin auf Augenhöhe war. „War ja keine Abschicht. Aber scholltet Ihr auch mal machen! Dasch macht voooll locka!“ Immer noch taumelnd richtete sich die Kreatur wieder auf und ließ den Blick ziellos umher schweifen – bis sie doch noch etwas fand, das ihrer Aufmerksamkeit würdig war. Dabei handelte es sich um ein zwar angeschlagenes, aber noch zur Hälfte gefülltes Weinfass. „Boha, schau mal Risha! Da isch noch was! Beeil disch, sonscht lasch isch dir nischt übrisch!“ „Nein, du bleibst wo du … “, wollte sich nun auch Riell einmischen, doch er sah ein, dass er mit seiner Körpergröße nicht gegen die geballte Masse Phönix ankam, die in diesem Augenblick an ihm vorüber stürmte und kurz darauf gierig den Schnabel in den Alkohol tauchte. „Mein Kopfsch …“, lallte Samira, während sie die Hände an die Schläfen presste. Atemu wollte gerade wieder das Wort ergreifen, da preschten plötzlich Shiruba und Anubis an der Gruppe vorbei. Letzterer noch immer brüllend, da sein Schwanz weiterhin brannte. Mariks Augen weiteten sich erschrocken. „Hey, bleib stehen! Anubis! Anubis!“, rief er dem Monster hinterher, ehe auch er die Verfolgung aufnahm. „Jetzt ist Schluss hier!“, donnerte Seto plötzlich. „Habt ihr eigentlich eine Ahnung, was ihr angerichtet habt? Dieser Wein gehörte mit zu den letzten Vorräten, die wir davon noch hatten! Und ihr habt nichts besseres zu tun, als ihn im wahrsten Sinne des Wortes in den Sand zu setzen?“ „Genau genommen, hängt der größte Teil davon in unserem Fell oder befindet sich in Kiarnas Bauch“, korrigierte Cheron. „Zügle deine Zunge, auf der Stelle!“, herrschte der Hohepriester das Biest an. „Pass auf, wie du mit meinem Ka sprichst, verstanden?“, zischte Risha. „Ich rede mit ihm, wie es mir passt! Was, im Namen aller Götter, die mir heilig sind, habt ihr euch dabei gedacht?“, wetterte Seto ungerührt weiter. „Der hat angefangen!“, fauchte Anwaar und deutete in Richtung Shadara. „Natürlich, jetzt war es wieder meine Zwillingsseele, na klar!“, maulte Keiro augenblicklich. „Nun … ähm … genau genommen“, wollte der linke Kopf des Zerberus zu einer Erklärung ansetzen, wurde jedoch, wie so oft, von den anderen beiden unterbrochen. „Wirst du wohl still sein?“ Doch der Bruder Bakuras hatte bereits verstanden, was ihm sein Monster hatte sagen wollen. „Shadara? Hat Anwaar etwa recht?“ Während der linke Schädel erleichtert wirkte, senkten die anderen beiden betreten den Blick. Der Zerberus scharrte dabei mit einer Pfote am Boden herum. „Nun … ähm … Wir wollten eigentlich diese zu groß geratene Wüstennatter angreifen, haben aber den Weißen erwischt und … “ Keiro stöhnte genervt. „Das darf doch nicht wahr sein! Shadara!“ „Tut uns ja leid … “, nuschelte die dreiköpfige Kreatur. „Das bringt den Wein auch nicht zurück!“, erwiderte Seto noch immer wütend. „Dir ist hoffentlich klar, dass du spätestens nach diesem Krieg dafür aufzukommen hast, oder?“, fuhr er an den Bruder des Grabräubers gewandt fort. „Beruhigt Euch“, sagte Atemu lächelnd. „Wenn diese Kämpfe vorüber sind, werden wir wieder so viel Wein haben, dass dieser vergossene hier gar nicht mehr ins Gewicht fallen wird.“ Der Hohepriester verkniff sich, etwas darauf zu erwidern. „Wie dem auch sei“, meinte er schließlich. „Seht zu, dass ihr diese Bestie dort davon abhaltet, sich restlos zu betrinken und dann sollten wir schlafen gehen. Komm, mein Weißer.“ Der Drache verschwand auf diesen Geheiß hin ohne ein weiteres Wort und kehrte in Setos Seele zurück. Daraufhin machte das Mitglied des Hofes auf dem Absatz kehrt und verschwand. „Euer Majestät? Wie sieht es mit der Wasserversorgung aus?“, erkundigte sich Riell derweil. „Keine Sorge, unsere Brunnen sind gut gespeißt“, entgegnete Atemu. „Dann wird es Euch doch sicher nichts ausmachen, wenn wir unsere Ka-Bestien erst einmal ein wenig baden?“, fragte Kipino, der angewidert die Nase rümpfte, als Firell auf seiner Schulter landete. „Keineswegs“, winkte der amtierende Herrscher schmunzelnd ab. „Das ist wahrscheinlich für uns alle das Beste.“ „Dann komm mal du Stinker. Riell? Kümmerst du dich um dieses versoffene Biest?“, meinte Risha erst an Cheron, dann an ihren Bruder gewandt, ehe sie auf Kiarna deutete. „Ja, mach ich“, bestätigte der Angesprochene. „Ich bringe derweil Samira in ihr Zelt. Sie sieht wirklich nicht gut aus … “, sagte Tea, ehe sie die kleinere Rothaarige bei den Schultern nahm und vorsichtig über den Innenhof führte. „Wo sind eigentlich Shiruba, Anubis und Marik abgeblieben?“, erkundigte sich Ryou und sah sich suchend um. „Wer weiß. Lass uns einfach schlafen gehen, Alter. Die finden den Weg ins Bett schon selber“, meinte Joey und setzte sich in Bewegung. Der Weißhaarige nickte. „Ja, hast wahrscheinlich recht.“ Damit machten sich auch er und der Rest der Bestienträger, deren Monster nicht nach vergorenen Trauben rochen, auf den Rückweg in den Palast. Die, die mit ihren Partnern weniger Glück gehabt hatten, schlugen einen anderen Weg ein: In Richtung des Brunnens, der den Königshof mit Wasser speißte. ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ So, da wären wir. Das ist tatsächlich schon Kapitel 25 der FF, wenn man den Prolog einmal abzieht. Anfangs hätte ich nicht gedacht, dass das Ende der Geschichte zu diesem Zeitpunkt noch nicht in Sicht ist. Aber so ist das eben: Das Ende einer Geschichte kann man nicht vorhersehen, weil sie sich noch während ihres Entstehungsprozesses entwickelt. Ich hoffe sehr, dass euch dieses etwas lustigere Kapitel gefällt. Beim nächsten Mal wenden wir uns dann wieder ernsteren Themen zu. Unter anderem wird Atemu, König Ägyptens, auf Resham, Oberhaupt der Schattentänzer, treffen. Mein besonderer Dank gilt an dieser Stelle 3sakuraharuno3, die bisher jedes, aber auch wirklich jedes Kapitel kommentiert und mir so ein tolles Feedback gegeben hat! Du bist echt spitze. Aber auch allen anderen Kommentarschreibern gilt mein Dank. Sechmet Kapitel 25: Von Vergebung ------------------------- Zunächst einmal möchte ich mich für die Verzögerung beim Upload entschuldigen, ich war reichlich beschäftigt. Ansonsten wünsche ich einfach viel Spaß mit dem nächsten Kapitel! Von Vergebung „Ich danke Euch, Pharao. Soweit ich das beurteilen kann, haben Eure Ärzte wunderbare Arbeit an meinem Vater geleistet“, schallte Riells Stimme durch den Raum. Atemu, der am gegenüberliegenden Ende des Tisches saß, nickte. „Nichts zu danken, mein Freund. Ich bin froh, dass es ihm bereits besser geht.“ „Es ist schade, dass man, was seine Finger betrifft, nichts mehr machen konnte“, sprach Ryou den beiden Schattentänzern, die zugegen waren, sein Bedauern in dieser Angelegenheit aus. „Was hätte man da noch großartig machen sollen?“, entgegnete Risha höhnisch. „Wenn wir sie gehabt hätten, hätten wir sie dann wieder annähen sollen oder was?“ Bakura, der neben ihr saß, verkniff sich den Einwurf, dass das in der Zukunft durchaus möglich sein würde. Zum einen hätte sie ihm ja sowie so nicht geglaubt, zum anderen hätte diese Aussage die Frage aufgeworfen, was ihn da so sicher machte. Und bisher hatte er weder Keiro noch sonst jemandem, der die Umstände nicht eh schon kannte, erzählt, dass er durchaus über die Zeiten Bescheid wusste, die eines Tages noch kommen würden. „Ähm … was ich noch sagen wollte“, räusperte sich schließlich Yugi, „Mir ist durchaus bewusst, dass ich Samira und Kipino durch mein Handeln dazu verleitet habe, sich Euren Befehlen zu widersetzen“, sagte er zu den beiden Schattentänzern. „Ich kann nicht behaupten, dass das nicht meine Absicht war. Das wäre eine Lüge. Denn mir war ja klar, dass zumindest Sam mir folgen würde, wenn ich ihr sage, wo die Tunnel liegen. Und ich bin auch froh, dass wir es geschafft haben, Resham zu befreien. Dennoch tut es mir leid, dass ich mich damit indirekt Euren Anordnungen widersetzt habe.“ „Das ist sehr nett von dir“, meinte Riell lächelnd. „Aber es gibt nichts zu entschuldigen. Wenn du nicht so tapfer gewesen wärst, dann wäre unser Vater vielleicht schon tot. Vergessen wir einfach, dass ein paar Regeln gebrochen wurden und betrachten die schönen Seiten deines Handelns. Zumindest ich sehe keinen Grund, dir in irgendeiner Weise böse zu sein.“ „Was ihn betrifft haben wir auch nicht das Recht zu urteilen. Dieses obliegt alleine dem großen König“, äußerte sich Risha, wobei die letzten beiden Worte vor Hohn trieften. „Was allerdings Sam und Kipino angeht, sieht die Sache anders aus. Sie mögen Vater gerettet haben, das bedeutet aber auch, dass sie sich unseren direkten Anweisungen widersetzt haben. Da wir zu diesem Zeitpunkt die Oberhäupter des Clans waren und auch sonst in der Rangordnung über ihnen stehen, werden sie die Konsequenzen für ihre Tat tragen müssen.“ „Haltet Ihr das nicht für ein wenig unangebracht?“, fragte Atemu und runzelte die Stirn. „Keineswegs“, antwortete die Schattentänzerin. „Folgsamkeit ist eine der obersten Prioritäten, will man eine Gesellschaft beständig halten. Was die Obrigkeit sagt, wird getan. Nur so herrscht Ordnung. Samiras und Kipinos Handeln mag ehrenvoll gewesen sein und auch ich bin ihnen dankbar. Aber noch etwas ist nötig, um eine Struktur aufrecht zu erhalten: Konsequentes Handeln. Wenn wir die beiden ungestraft lassen, so wird der Rest des Clans den Eindruck bekommen, wir würden Freiheiten gewähren, die es nicht gibt. Im schlimmsten Fall verlieren wir unser Gesicht vor ihnen. Unsere Autorität. Wir dürfen uns, was das angeht, nicht von unserer Gefühlswelt leiten lassen. Wir müssen uns an die Regeln halten“, schloss sie ihre Erklärung, indem sie einen mahnenden Blick zu Riell warf. Dieser seufzte nur. „An sich eine Schlussfolgerung, die stimmig ist“, kommentierte Seto derweil, ehe er sich an Atemu wandte. „Was nicht heißen soll, dass ich Euch dasselbe im Bezug auf Eure beiden Freunde anrate, die ebenfalls an der Tat beteiligt waren, mein König. Immerhin sind sie genau betrachtet keine Angehörigen des ägyptischen Volkes und unterstehen damit nicht unserem Urteil.“ Marik wollte schon widersprechen, biss sich dann aber auf die Zunge. Nicht, dass es falsch ankam, wenn er erwähnte, dass er eigentlich sehr wohl Ägypter war. „Nun“, ergriff wieder Atemu das Wort. „Gewiss mögen Eure Ausführungen, Risha, durchaus schlüssig sein und sie entbehren keinesfalls der Wahrheit. Ausnahmen zu gewähren ist in einer Position wie der Euren ein heikles Thema. Doch Ihr vergesst eines.“ Die Miene der Schattentänzerin verfinsterte sich. „Das da wäre?“ „Güte.“ „Ach herrje“, seufzte Bakura. „Jetzt geht das wieder los. Fehlt nur noch, dass Gardner eine Freundschaftsrede hält.“ Keiro, der ebenfalls zugegen war, lag zwar eine Erwiderung auf der Zunge, doch er schluckte sie herunter. In Anbetracht der Kluft, die sich durch den Streitpunkt 'Cousine' zwischen ihm und seinem Bruder aufgetan hatte, war es mit Sicherheit keine gute Idee, ihm in irgendeiner Form zu widersprechen. „Lass ihn ruhig reden“, sagte Risha indes an den Grabräuber gewandt. „Mal sehen, was er da zu berichten hat. Ihr müsst wissen, mein König, ich bin nicht sonderlich bewandt, was Güte und dergleichen anbelangt“, fuhr sie in einem Ton fort, der vor Ironie nur so strotzte – irgendwie schien die Fähigkeit zu dieser provokanten Ausdrucksweise in der Familie zu liegen. Doch Atemu überging dies gekonnt. „Eine eiserne Faust mag mit starkem Willen sicherlich regieren können. Doch dieses System kann nicht auf ewig funktionieren. Man macht sich die, die allgemein Untertanen genannt werden, nach und nach zu Feinden. Wenn nicht dies, so regiert man ein Volk, das lediglich aus Angst gehorcht. Wäre es aber nicht viel wichtiger und schöner, würden diese Menschen einem aus freien Stücken, aus freiem Willen folgen? Es wäre doch angenehmer, wüsste man die Loyalität dieser Leute auf seiner Seite, oder nicht? Und das, da bin ich überzeugt, erreicht man allein durch Verständnis und Güte.“ Die Reaktion Rishas überraschte ihn. Ein breites, unheilvolles Grinsen machte sich auf ihren Lippen breit. „Wenn das so ist, Pharao … “, sagte sie mit einer Stimme, die ihr Gegenüber nicht einordnen konnte, „ … wie kommt es dann, dass sich eine derartige Tragödie wie Kul Elna ereignen konnte, wenn die Herrschaft der ägyptischen Könige alleine auf Gnade fußt?“ Augenblicklich wurde es still im Raum. Lediglich einer ließ sich vom drückenden Schweigen nicht mundtot machen: Seto. „Es steht dir nicht zu, über unsere Könige und ihre Entscheidungen zu urteilen!“, donnerte der Hohepriester. „Ach nein?“, fauchte Risha. „Wenn nicht mir oder Bakura, wem dann?“ „Ich will nicht anzweifeln, dass das eine heftige Sache war, die damals passiert ist. Aber warum lässt du Keiro bei deiner Aufzählung außen vor?“, mischte sich Joey ein. „Vielleicht weil er das beste Beispiel dafür ist, dass man es irgendwann auch wieder gut sein lassen kann?“ „Halt du dich da raus!“, fuhr ihn die Schattentänzerin an. „Dich geht das einen feuchten Dreck an! Was ist, Pharao? Beantwortet Ihr mir meine Frage? Oder habt Ihr etwa nur von Güte gesprochen weil Ihr hofftet, mich so dazu bewegen zu können, Euch zu vergeben? Sollte das Euer Vorhaben gewesen sein, so müsst Ihr es leider als gescheitert betrachten. Wie dem auch sei – ich sehe nach Vater.“ Sie erhob sich ruckartig und wandte sich zum Gehen. Doch Atemus folgende Worte ließen sie noch einmal inne halten. „Das habe ich nicht beabsichtigt. Denn ich habe längst begriffen, dass es nicht so einfach wäre, Euch oder Euren Cousin um Verzeihung zu bitten.“ Risha musste lächeln. „Habt ihr es einmal mit Abdanken versucht? Ohne Euren Thron an ein Familienmitglied zu übergeben, versteht sich.“ Dann verschwand sie endgültig. Riell stand inzwischen kurz davor, sich die Unterlippe blutig zu beißen. Sobald die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, suchte er nach geeigneten Worten. „Ich bitte um Verzeihung … sie … “ „Wie wäre es, wenn du dich hier nicht andauernd entschuldigen, sondern dafür sorgen würdest, dass dieses Weib unter Kontrolle bleibt?“, herrschte ihn Seto sofort an. „Pass auf, was du sagst! Dir steht es sicherlich nicht zu, derartig über meine Verwandtschaft zu reden“, keifte Bakura. „Besonders dann nicht, wenn sie die Wahrheit sagt.“ „Du weißt eben so gut wie ich, dass sie nicht … “, begann Seto zu brüllen, brach jedoch mitten im Satz ab. Die fliederfarbenen Augen des Grabräubers durchbohrten ihn. „Nun komm, sprich es schon aus. Komm ins Reine mit der Lüge, die du schon dein ganzes Leben mit dir herum schleppst. Keine Sorge, es wird sich nicht viel ändern. Die Sünde, die ihr begangen habt, bleibt dennoch in der Familie.“ Seto hatte die Hände zu Fäusten geballt, presste die Kiefer zusammen, dass es schmerzte. Doch kein Wort kam über seine Lippen. Ein kurzes Lächeln, in dem Ryou für einen Moment gar Bedauern zu erkennen glaubte, huschte über Bakuras Lippen. „Wie ich es mir dachte. Zu feige“, murmelte der Grabräuber, dann verließ auch er den Raum. „Ist es wahr, was Riell mir erzählt hat?“ „Was meinst Ihr, Vater?“ „Er berichtete mir von einem Vorfall in der vergangenen Nacht. Einer Sache, die wohl vor allem eure Ka-Bestien betraf.“ Risha musste lächeln. „Ich war leider nicht dabei, aber Cheron hat mir das Meiste erzählt. Im Nachhinein hätte ich diese Schlamm- … oder eher Weinschlacht wahrlich gerne gesehen. Abgesehen davon, dass es Ewigkeiten dauerte, ehe ich das Fell meines Zwillings vom Gestank befreit hatte.“ Auch Reshams Mundwinkel zogen sich nach oben. „Stimmt es auch, dass Kiarna ihre Vorliebe für den Saft der Trauben entdeckt hat?“ „Allerdings. Samira ist heute noch kein einziges Mal aus ihrem Bett gekrochen. Sie meint, dies sei der Kater ihres Lebens. Damit könnte sie sogar recht haben. Sie hat schon fast einen halben Eimer Wasser geleert und dennoch ist sie durstig, als sei sie Ewigkeiten durch die Wüste gewandert.“ „Das kann ich mir vorstellen. Aber Riell hat mir da noch etwas berichtet“, fuhr der Ältere schließlich fort. Die Schattentänzerin hatte bereits eine Ahnung, worauf ihr Vater hinaus wollte. „Das da wäre?“ „Er sagte, du hättest deine Familie wiedergefunden.“ Risha sah kurz zu Boden, ehe sie ans Fenster trat und den Blick nach draußen wandte. Sie betrachtete die Sonne, wie sie in ihrer nachmittäglichen Position am Himmel stand. „Zumindest einen Teil davon. Doch ob er meine Familie ist … ich weiß es noch nicht. Wir haben uns siebzehn Sommer nicht gesehen. Wir sind Fremde füreinander.“ Resham schmunzelte. „Es gab eine Zeit, da hast du ein wenig zu viel Misstrauen in dein Herz gelassen, mein Kind. Mein Kind … nur, um das festzuhalten: Auch, wenn du dein eigentliches Fleisch und Blut wieder hast, wirst du dennoch meine Tochter bleiben. Es sei denn, du wünscht es nicht mehr.“ „Welche Gründe hätte ich, so zu denken? Ihr habt mehr für mich getan, als sonst jemand auf dieser Welt“, entgegnete die Schattentänzerin. Der alte Mann lächelte. „Was ist eigentlich mit Keiro? Ich hörte, er sei ebenfalls in Men-nefer.“ „Macht Euch um diesen Tunichtgut keine Sorgen. Sobald dieser Krieg vorüber ist, wird das Relikt wieder unser sein.“ „Das ist es nicht, Risha.“ Sie wandte sich leicht um, musterte ihren Vater mit einem neugierigen Blick. „Was dann?“ „Eigentlich zielte meine Frage eher darauf ab, zu erfahren, wie es um eure Bindung steht. Doch deine Aussage war mir bereits Antwort genug.“ Die junge Frau musste glucksen. „Welche Bindung?“ „Denkst du nicht, es wäre langsam an der Zeit, zu vergeben? Nun, da ihr alle wieder beisammen seid … Es wird der Tag kommen, da bereust du dein Verhalten Risha. Höre auf die Worte eines alten Mannes, der diese Erfahrung bereits selbst machen musste.“ Seine Tochter sah weiter in die Ferne. „Das ist viel verlangt von jemandem, dem Vergebung nie zu Teil wurde.“ Nach einer Weile des Schweigens drehte sie sich um. „Ich denke, Ihr solltet noch ein wenig ruhen. Ich werde später noch einmal vorbei kommen.“ Sie verließ das Zimmer. Nachdem die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, lehnte sie sich an die kühle Wand daneben. Sie blickte zu Boden. „Vergebung … “, seufzte sie. „Wenn es so einfach wäre … “ Wie sollte das gehen? Das war nicht irgendein kindischer Streich gewesen, den Keiro ihr gespielt hatte. Er hatte ihr vorenthalten, dass ihr Cousin, den sie für tot gehalten hatte, am Leben war! Wie um alles in der Welt sollte man so etwas verzeihen können? Das war doch unmöglich! Zudem war dies nicht der erste Fehltritt des Anderen. Sie erinnerte sich noch zu gut an seine letzten Worte, ehe sie ihn für lange Zeit nicht mehr gesehen hatte. Dass er sie eines Tages noch töten würde … Bis heute wusste sie nicht sicher, ob diese Aussage seiner Wut entsprungen oder ernst gemeint war. Doch im Endeffekt war es gleich. Man bedrohte seine Verwandtschaft nicht. Punkt. Diese beiden Dinge würde sie ihm niemals verzeihen, eher ließ sie sich von einer Karawane niedertrampeln. Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als sie Schritte hörte. Ihr Kopf schnellte herum, nur um dem Pharao selbst in die Augen zu blicken. Sie spürte, wie sich ein Drang in ihr breit machte. Einer, der beinahe unwiderstehlich war. Er stand ihr gegenüber, auf einem verlassenen Gang. Keine Wachen, niemand sonst, außer ihm und ihr. Es wäre einfach. Den Dolch zücken und zustechen. Oder ihm die Klinge in den Leib werfen. Es war zu verlockend. Nein, sie musste sich zusammen reißen. In diesem Krieg würden die Schattentänzer ihn noch brauchen, so ungern sie das auch zugab. Aber innerlich schwor sie sich, danach jede Gelegenheit zu nutzen, die sich ihr bot. Und sie würde seinen Tod weder schnell noch schmerzlos von Statten gehen lassen. Sie stieß sich von der Wand ab und setzte sich in Bewegung. Als sie auf einer Höhe mit ihm war, blieb sie stehen. „Du willst zu meinem Vater?“ Atemu sah sie freundlich an. Alleine das verursachte bei Risha schon Brechreiz. Er wusste doch, wie sie über ihn dachte, warum guckte er sie dann noch so verdammt nett an? Der Kerl war ein Paradoxon! „Ich wollte zu ihm, ja. Ich möchte wissen, wie es ihm geht.“ „Dein geheucheltes Mitleid kannst du dir sparen. Aber geh nur, er kann für sich selbst sprechen. Er wird dich schon vor die Tür setzen, wenn er keine Lust hat, sich dein Gerede anzuhören.“ Damit fuhr sie herum und verschwand. Der Pharao blieb alleine auf dem Gang zurück. Er seufzte. Egal was er tat, er prallte bei dieser Schattentänzerin ausschließlich gegen verschlossene Türen. Verschlossene Türen, bei denen er fast annahm, dass sie sich auch in eintausend Jahren nicht öffnen würden. Der einzige Grund, warum er dennoch immer wieder versuchte, einen Weg zu finden, war, dass er hoffte, den Clan und Ägypten eines Tages versöhnen zu können. Feindlich gesinnte Parteien innerhalb des Reiches führten auf Dauer immer zu Konflikten. Aber der amtierende Pharao war auch ein König, der versuchen wollte, alle Bürger seines Landes nach Möglichkeit und Gewissen zu verstehen und gleichzustellen. Er schob den Gedanken beiseite, atmete ein letztes Mal tief durch und klopfte dann bei Resham an. Er wurde sogleich herein gebeten. Erst, als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, sah er dem Oberhaupt der Schattentänzer in die Augen. Dieser schien zunächst überrascht, setzte dann aber ein freundliches Lächeln auf. „Pharao Atemu. Dass ich das noch erleben darf“, sagte er und versuchte, sich aufzusetzen. „Nicht doch, bleibt liegen“, meinte der König daraufhin. Doch sein Gegenüber winkte ab. „Es geht schon. Normalerweise fallen die Menschen vor Euch auf die Knie. Ich versuche eben, ein wenig aufrechter zu sitzen.“ Der Herrscher Ägyptens sah ihn erstaunt an. Was hatte er da gerade gesagt? Irgendwie passte diese Aussage nicht in das Bild, das er sich von Resham gemacht hatte. Er kannte seine beiden Kinder – ein Unterschied wie Tag und Nacht, doch beide machten keinen Hehl daraus, dass sie sich von seinem Königreich missverstanden fühlten. Riell war auch nur zu ihm gekommen, weil ihm kein anderer Weg mehr geblieben war. Aber dieser Mann wäre sogar bereit, vor ihm zu knien, wenn er dazu in der Lage wäre? „Wie Ihr wünscht“, sagte er schließlich. „Ihr seid also Resham. Das Oberhaupt der Schattentänzer?“ „So ist es. Es freut mich, dass wir uns endlich begegnen, König des Nils“, erwiderte der Ältere. „Ich bin Euch zu großem Dank verpflichtet. Eure Heiler haben wundervolle Arbeit geleistet. Ich fühle mich schon viel besser. Auch habe ich für Speiß und Trank zu danken. Ihr müsst wissen, dass man unseres Gleichen nicht oft mit so viel Freundlichkeit gegenüber tritt. Wohl aufgrund der Götter, die wir verehren.“ „Von mir habt Ihr keine Vorurteile zu erwarten. Ich denke, dass ein großer Teil des Zwists, der zwischen unseren Völkern herrscht, auf Missverständnissen beruht“, erklärte Atemu. Der alte Mann seufzte. „Beginnen nicht viel zu viele Konflikte auf der Welt damit? Und die, an deren Anfang nicht das Missverständnis steht, fußen auf Missgunst und unendlichem Egoismus. Versteht dies nicht als Angriff auf Euch, Majestät. Es ist nur, wie es ist.“ „Und damit habt ihr recht“, stimmte der Pharao zu, während er sich auf einen Stuhl am Bett setzte. „Ich möchte Euch zunächst versichern, dass Ihr und Euer Clan innerhalb dieser Mauern nichts zu befürchten habt. Eure Kinder waren mir in diesem Krieg bereits eine große Hilfe. Vor allem Euer Sohn. Ägypten ist den Schattentänzern zu Dank verpflichtet.“ „Ich bin überrascht, derlei Worte zu hören. Doch machen sie mich auch glücklich. Ihr scheint anders zu denken, als Euer Volk es tut.“ „Ich habe mir bereits vorgenommen, darauf zurück zu kommen, sobald dieser Krieg vorüber ist. Doch dafür bräuchte ich genauere Einblicke in Euren Clan, Resham. Besonders Riell erzählte mir bereits viel, doch noch ist nicht alles klar. Mir wurde berichtet, es seien Götter wie Seth und Sachmet, die ihr anbetet. Dürfte ich fragen, inwiefern dies der Fall ist?“ Der Ältere schmunzelte. „Ihr seid der König. Ihr könnt fragen, was immer Euch beliebt. Wir verehren diese Götter, das ist richtig. Dafür, dass sie an der Schöpfung dieser Welt beteiligt waren. Wir beten sie nicht an, um den Weltuntergang herbei zu führen, wie uns nachgesagt wird. Das versichere ich Euch, Majestät. Eben so wenig hüten wir die Relikte, um sie gegen diese Sphäre zu nutzen. Wir wollen sie vor Missbrauch schützen. Oder wollten es zumindest.“ Atemu nickte. „Das passt mit dem zusammen, was Eure Kinder berichteten. Es ist also tatsächlich so, wie mir scheint. Ich sehe keinen Grund, weswegen Ihr mich anlügen solltet.“ „Und bei meinen Kindern seht ihr einen?“ „Nein. Gewiss nicht, so war das nicht gemeint … “ „Ich verstehe Euch, Pharao. Es ist nicht mein Sohn, an dessen Worten ihr zweifelt. Auch sind es bei Risha nicht die Worte, die Euch stutzig machen. Sondern ihr Verhalten, das sich mit ganzen Herzen gegen Euch richtet.“ Atemu fühlte sich ertappt. Er schob dieses Gefühl jedoch rasch beiseite. „Ihr habt recht. Eure Nachkommen sind wie Sonne und Mond. Auch Riell war mir gegenüber zu Beginn misstrauisch, doch er legte diese Ansicht bereits nach kurzem ab. Zumindest habe ich diesen Eindruck. Doch bei Ihr kann ich tun, was mir beliebt, es will mir nicht gelingen, sie von meinen Absichten zu überzeugen.“ „Das zu bewerkstelligen wäre ein Kunststück, das auf dieser Welt einzigartig wäre. Misstrauen ist ihr zweiter Vorname“, entgegnete Resham und musste dabei schmunzeln. „Der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm“, seufzte Atemu und dachte an Bakura. Dieser war ebenfalls eine harte Nuss. Wobei es sich bei dem Grabräuber noch anders verhielt, als bei seiner Cousine. Bei ihm hatte er auch nicht den rechten Wunsch, sich mit ihm zu versöhnen. Dafür hatte er zu viel Schanden angerichtet. Er hatte Mahad getötet. Ebenso Karim, Isis, Shimon, Shadar … Er hatte Dinge getan, die der Pharao ihm nie würde verzeihen können. Ja, er konnte nachvollziehen, welches Trauma Bakura erlitten haben musste. Aber nichts, absolut gar nichts, rechtfertigte seine Taten! Und dennoch fragte sich Atemu manchmal, ob er den Tod seiner Freunde und all das Leid hätte verhindern können, wenn er sich nur einmal entschuldigt hätte … Er schob den Gedanken beiseite. Dafür kam ihm ein anderer in den Sinn. „Dürfte ich Euch eine Frage stellen, Resham? Auch, wenn sie persönlicher Natur ist?“ „Nur zu“, nickte der Alte. „Sollte ich glauben, ihr dringt in zu persönliche Gefilde vor, bleibt mir immer noch die Möglichkeit, die Antwort zu verweigern.“ „Gewiss. Ich habe es gerade schon angesprochen. Eure Kinder verhalten sich gegenüber einander so, wie Geschwister es tun sollten. Und dennoch sind sie vollkommen verschieden.“ Atemu machte eine Pause und warf einen Blick aus dem Fenster, ehe er sich wieder an das Oberhaupt wandte. „Risha ist nicht Eure leibliche Tochter, habe ich recht?“ Resham schwieg zunächst und starrte auf seine verletzte Hand. Schließlich musste er lächeln. „Eure Beobachtungsgabe ist bemerkenswert, junger Pharao. Sagt, war es sehr offensichtlich? Denn ich denke nicht, dass das der Fall ist.“ Atemu schüttelte den Kopf. „Wenn man sie so sieht, kommt man nicht darauf. Doch wenn man ihnen zuhört, kann man es zwischen den Zeilen lesen. Es ist immer nur die Rede davon, dass Risha mit Bakura und Keiro verwandt wäre. Riell wird dabei nie erwähnt. Auch erschien mir Keiro eher unglücklich über Eure Rettung, was noch nichts heißen muss – er und Risha sind sich ja auch nicht grün. Aber bei Bakura herrschte im Bezug auf Euch absolute Gleichgültigkeit. Daher meine Vermutung, dass Riell Euer leibliches Kind sein muss und nicht seine Schwester.“ Das Oberhaupt der Schattentänzer nickte gedankenverloren. „Ja, Ihr habt recht. Die junge Frau, die eines Tages gemeinsam mit meinem Sohn meinen Platz einnehmen wird, ist nicht mein eigen Fleisch und Blut. Und dennoch liebe ich sie so, als wäre sie es.“ Der Pharao überlegte einen Augenblick. Er wusste nicht, ob ihm die Antwort auf die Frage, die ihm auf der Zunge lag, gefallen würde. Er entschied sich schließlich trotzdem dafür, sie zu stellen. „Wie kam es dazu, dass Risha Eure Tochter wurde?“ Resham sah ihn einen Moment lang unsicher an, dann senkte er den Blick und seufzte. „Kul Elna. Wir fanden sie einen Tag danach in der Wüste. Wir nahmen sie bei uns auf und taten alles, um ihr den Schmerz zu nehmen. Schließlich stand für mich fest, dass Riell eines Tages nicht alleine meine Nachfolge antreten würde.“ „Aber sie war nicht die Einzige, die den Weg zu Euch fand“, warf Atemu ein. „Nein“, bestätigte der alte Mann. „Doch Euch dürfte bekannt sein, wie Keiro über uns denkt. In Anbetracht unseres Verhältnisses steht es mir nicht zu, irgendetwas über seine Vergangenheit zu erzählen.“ „Das verstehe ich“, entgegnete der Pharao. „Und ich finde es sehr wohl überlegt und aufrichtig von Euch, so zu denken.“ Resham nickte. „Ich wusste, Ihr würdet das verstehen.“ Atemu schwieg einen Moment. Da gab es noch eine letzte Sache, die er dringend klären musste. „Versteht das, was ich Euch nun frage, nicht als Angriff oder Beleidigung, doch ich muss es ansprechen.“ Er wartete, bis der alte Mann seine Zustimmung geäußert hatte, dann fuhr er fort: „Seto, mein Cousin und der Hohepriester dieses Hofes, berichtete mir bei meiner Rückkehr von Morden, die sich kurz vor Beginn dieses Krieges zugetragen haben. Seiner Meinung nach sind die Schattentänzer dafür verantwortlich.“ Resham wirkte überrascht. „Ich versichere Euch, Majestät, dass ich von nichts dergleichen weiß. Gewiss beobachte ich nicht jedes einzelne Mitglied unseres Clans auf Schritt und Tritt. Doch ich würde meine Hand für sie ins Feuer legen – für jeden einzelnen! Von ihnen hat, das schwöre ich, niemand diese Morde begangen.“ „Das erleichtert mich. Lasst uns nun noch über etwas anderes sprechen. Gibt es irgendetwas, das ich noch für Euren Clan zu tun vermag?“, fragte Atemu daraufhin. Doch der Ältere winkte ab. „Herrscher des Nils, Ihr habt bereits mehr als genug für uns getan. Mehr als meine Schattentänzer jemals erwartet hätten.“ „Ich muss gestehen, dass ich bis zu diesem Krieg noch nie von einer solchen Gruppierung gehört habe. Ihr müsst wissen, dass die Umstände meiner Regenschaft sehr … turbulent waren. Nachdem ich zuerst Euren Sohn und nun Euch kennen gelernt habe, stellt sich mir eine Frage: Wie konnte es dazu kommen, dass Euer Clan derartig verhasst in meinem Volk ist?“ Resham schien zu überlegen. So, als wolle er seine Worte weise wählen. „Versteht diese Aussage nicht falsch, doch das frage ich mich ebenfalls. Ich selbst habe einst eine Ausbildung zum Priester in einem Tempel erfahren. Das war vor vielen Sommern, als ich noch jung war. Immer stand ich dabei vor einem Rätsel, dessen Lösung sich mir auch nach Vollendung meiner Unterweisung nicht offenbarte. Weswegen wurden Götter der Sonne, der Fruchtbarkeit, der Liebe verehrt und jene, die für das Chaos und den Krieg stehen, nicht? Ihr mögt Euch fragen, ob ich noch klar zu denken vermag, wenn Ihr diese Worte hört, doch ich meine es ernst. Ich sage damit nicht, dass wir diese Gottheiten anrufen sollen, ihres Amtes zu walten. Doch verdienen nicht auch sie Verehrung?“ Er richtete den Blick zum Fenster hinaus. „Seht Euch diese wunderschöne Welt an. Dieses schönste aller Länder, das die Götter einst schufen und auf dessen Boden wir heute wandeln. Die gewaltigsten Mächte dieser Erde existieren nicht ohne Grund, Pharao. Jeder Einzelne von ihnen ist wichtig. Sie sind eins. Fehlt auch nur einer, kann diese Sphäre nicht weiter existieren. Auch der Krieg und das Chaos sind Facetten dieser Welt und gehören ebenso dazu wie Liebe und Freundschaft und alle die anderen Dinge, für die die Götter stehen. Wir sollten diese Gottheiten nicht nur fürchten und besänftigen, wir sollten sie ebenso verehren, wie alle anderen auch. Zu dieser Schlussfolgerung kam ich einst. Doch als ich sie publik machte und nach und nach Menschen fand, die ebenso daran glaubten, wie ich es tat, stießen wir auf Gegenwehr. Man nahm uns übel, was wir sagten und dachten. Die Missgunst, die wir ernteten, war so stark, dass wir uns gezwungen sahen, zu verschwinden. Dies war die Geburtsstunde der Schattentänzer.“ Atemu war dem Blick des alten Mannes gefolgt. Er betrachtete Men-nefer, ebenso die Ufer des Nils und die ewigen Weiten der Wüste, die sich bis an den Horizont erstreckte. Er verstand, was ihm Resham sagen wollte. Er klagte niemanden dafür an, dass sie gezwungen gewesen waren, im Untergrund zu leben. Er wollte lediglich erklären. Und der König Ägyptens hatte diese Erklärung verstanden. „Sobald dieser Krieg vorüber ist, möchte ich, dass wir uns gemeinsam an einen Tisch setzen, Resham. Und dann möchte ich erneut mit Euch sprechen. Darüber, wie Euer Clan endlich der Finsternis des Verborgenen entsteigen und sich offen und aufrichtig dem Tageslicht zeigen kann, ohne etwas befürchten zu müssen.“ Er konnte die Verwunderung, aber auch die Freude in den Augen des Alten sehen, als er ihn anlächelte. „Dafür, Pharao, wäre ich Euch so dankbar, dass ich nicht vermag, es in Worte zu fassen.“ „Das freut mich. Doch nun muss ich mich entschuldigen. Es gibt da noch ein paar andere Dinge, derer ich mich annehmen muss.“ Der Hohepriester des Königshauses stand auf einem der zahlreichen Balkone, die den Palast umschlossen. Er blickte hinaus in die Ferne, die Wüste, über der die Mittagssonne erhaben thronte. Seine Gedanken tanzten durcheinander. Bakura wusste es. Er wusste, wer wirklich für den Vorfall in Kul Elna verantwortlich war. Dass all dieses Leid ohne die Zustimmung oder das Wissen Aknamkanons verursacht worden war. Und dennoch hasste er die gesamte Königsfamilie. Er sah darin eine Schuld des Blutes. Weil der damalige Pharao niemals etwas unternommen hatte, um seinen eigenen Bruder zu bestrafen und weil er die Milleniumsgegenstände trotz der Leben, die dafür genommen worden waren, benutzt hatte. Der Bruder des Königs. Atemus Onkel. Sein Vater. Der Mann, der nicht nur dutzende Dorfbewohner an einem Abend in den Tod gestürzt, sondern ihm auch die Frau genommen hatte, die er bis heute liebte. „Ist alles in Ordnung?“ Seto fuhr wie von der Tarantel gestochen herum. Er sah in die violetten Augen seines Cousins. „Gewiss“, antwortete er langsam. „Verzeih, wenn ich dir das nicht glaube“, entgegnete Atemu. Der Hohepriester seufzte und wandte sich ab. Er sah müde aus, zugleich merkte man ihm deutlich an, dass er bedrückt war. Auch, wenn er das natürlich zu verbergen versuchte. „Es tut mir leid, Euer Majestät“, sagte er schließlich. „Andauernd müsst Ihr Euch die Vorwürfe dieses streunenden Köters gefallen lassen, der sich 'König der Diebe' nennt. Dabei … dabei waren es weder Euer Vater, noch Ihr, die den Überfall auf Kul Elna zu verantworten hatten.“ „Das ist nicht der Punkt, Seto.“ Der Angesprochene drehte sich wieder um, blickte abermals in das Gesicht seines Gegenübers. „Was ist es dann, Euer Hoheit?“ Atemu kam näher, bis er schließlich neben seinem Cousin stand. „Es mag stimmen, dass mein Vater nie den Befehl oder die Einwilligung gab, das Dorf anzugreifen. Ebenso wenig mag ich etwas damit zu tun haben, der ich noch ein kleines Kind war. Und dennoch ist es eine Schuld des Blutes. Mein Vater sühnte nicht, was Aknadin angerichtet hat. Er duldete es. Er bat niemals um Verzeihung für das, was geschehen war. Ebenso wenig tat ich es, nachdem er verstorben war. Im Gegenteil. Wir schwiegen tot, was geschehen war und nutzten gar noch die Gegenstände, an denen das Blut Unschuldiger klebte. Mir ist bewusst, dass so einiges nicht geschehen wäre, hätte ich mich einfach entschuldigt. Ich hätte damit vielleicht Dinge verhindern können, die uns großen Kummer und Sorgen bereiteten. Doch nun ist es dafür zu spät. Weder würden zwei von drei Überlebenden meine Entschuldigung annehmen, noch könnte ich sie Bakura gegenüber jetzt noch äußern, nachdem ich gesehen habe, wir er meine Freunde und Vertrauten tötete.“ Seto biss sich auf die Unterlippe. „Gleich wie Ihr es dreht und wendet, mein Pharao. Am Ende war es immer noch mein Vater … “ „ … und mein Onkel“, unterbrach der Herrscher Ägyptens seinen Hohepriester, während er lächelte. „Wenn du unbedingt diese Schuld auf deinen Schultern tragen willst, so ehrt dich das. Doch alleine stemmen kannst du sie nicht. Wenn überhaupt, dann lastet sie auf unser beider Schultern, Cousin. Das ist ein Befehl.“ Seto sah verwirrt drein, musste jedoch ebenfalls leicht lächeln. „Wie Ihr wünscht, Euer Majestät.“ Resham döste vor sich hin. Ganz in Schlaf versinken, konnte er nicht. Seine Sinne waren zu wachsam, vergaßen nicht, dass eine Armee vor den Toren dieser Stadt lauerte. Er öffnete die Augen und hob seine Hand, betrachtete den dicken Verband, der darum gewickelt war. Er seufzte. Er war nicht mehr der Jüngste. Es würde dauern, bis er sich an die Umstellung gewöhnt hatte. Daumen, Zeige- und Mittelfinger zu verlieren, war nicht einfach. Und dennoch hatte Caesian trotz der Schmerzen nicht erreicht, worauf er gehofft hatte. Resham hatte ihm nichts verraten. Er hätte ihm auch mit dem Tod drohen können, dem alten Mann wäre es gleich gewesen. Die Relikte waren wichtiger, als das Leben des Einzelnen. Er wandte den Kopf um, als er bemerkte, dass die Tür geöffnet wurde. Seine Augen weiteten sich für den kurzen Moment der Erkenntnis. Denn die Person, die den Raum betrat, war keine, die er erwartet hätte. Er begann mild zu lächeln. „Es ist lange her … “ Sein Gegenüber reagierte nicht groß. Stattdessen ging er langsam zu dem breiten Fenster hinüber, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte hinaus. Er schwieg. Resham setzte sich auf. „Wie geht es dir, Keiro?“ Der Kopf des anderen zuckte herum. Die fliedernen Augen durchbohrten den alten Mann regelrecht. „Als ob Euch das wirklich interessieren würde.“ „Hätte ich ansonsten gefragt?“ Endlich drehte sich Keiro zu seinem Gesprächspartner um. Seine Haltung wirkte angespannt. „Wer weiß? Vielleicht dient diese vermeintlich freundliche Geste dem Zweck, auch mir gegenüber Eure Maske aufrecht zu erhalten? Doch ich muss Euch enttäuschen. Der Trick funktioniert bei mir nicht.“ Für eine Weile wurde es still im Raum. Dann ergriff Resham wieder das Wort. „Es scheint, als hättest du ein besonderes Anliegen. Sprich ruhig. Was genau gedenkst du, in Erfahrung zu bringen oder los zu werden?“ „Wie immer ist Euer Reden überaus gönnerisch. Aber gut, kommen wir zum Punkt. Es ist beides. Ich möchte sowohl etwas in Erfahrung bringen, als auch etwas los werden. Was das angeht, könnt nur Ihr mir die Antworten geben, nach denen ich verlange. Und ich erwarte von Euch, dass Ihr sie mir gewährt, nur, damit das geklärt ist“, erwiderte Keiro. Sein Ton verriet, dass dies keine gemütliche Unterhaltung werden würde. Resham nickte. „Nur zu, stelle deine Fragen. Sollte ich eine Antwort auf sie wissen, werde ich sie nach bestem Wissen und Gewissen geben.“ Der Dieb des Amuletts ging einen Moment unschlüssig auf und ab, wusste nicht, welche Worte er wählen sollte. „Wie Euch mit Sicherheit nicht entgangen ist, hatte ich bereits das Vergnügen meine Cousine wieder zu treffen.“ Der alte Mann überlegte einen Augenblick. „Dass du diesen Satz so aussprichst, wie du es tust, zeigt mir, was du damit sagen möchtest. Du scheinst ebenso begeistert von der Situation zu sein, wie sie es ist – was ich ehrlich gesagt nicht verstehen kann. Immerhin seid ihr beide Mitglieder der selben Familie.“ Keiro wirbelte plötzlich herum, schlug mit einer Faust auf den Tisch, der am Fenster stand. Dann stützte er sich mit beiden Händen auf der hölzernen Platte ab. „Wir waren eine Familie. Bis zu dem Tag, da Ihr und Euer Clan aufgetaucht seid!“ Stille. „Ist das so?“, erwiderte der alte Mann. „Nun, dann interessieren mich natürlich die Gründe, weshalb du so denkst. Was habe ich deiner Meinung nach getan? Was hat der Clan getan, dass du und Risha zu Feinden wurdet?“ „Liegt das nicht auf der Hand? Ihr wisst, wo das Problem zu finden ist. Ich habe aufgehört, einen Verantwortlichen für das zu suchen, was in Kul Elna geschehen ist. Sie hingegen nicht. Noch immer treibt sie der Hass. Und das, Resham, ist allein Eure Schuld!“ Das Clanoberhaupt hielt dem Blick des anderen noch einen Augenaufschlag lang Stand, dann sank er zurück in die Kissen. „Ich weiß, wovon du sprichst. Von der Finsternis, die sich tief in ihrem Herzen eingenistet hat. Doch es tut mir leid – die Verantwortung dafür gibst du dem Falschen.“ „Wie bitte?“, donnerte Keiro. „Ihr leugnet es? Eure negative Einstellung gegenüber dem ägyptischen Königshaus hat Risha doch erst dahin gebracht, wo sie heute ist!“ „Derartige Unterstellungen weise ich von mir!“, wehrte sich Resham, dessen Stimme nun ebenfalls lauter wurde, ehe er tief seufzte. „Es ist nicht so, wie du glaubst. Wenn ich wirklich so abgeneigt gegenüber dem Pharao wäre, hätte ich dann eingewilligt, dass man mich in dieses Gemäuer bringt? Mit Sicherheit nicht. Du betrachtest die Situation aus einem vollkommen überspitzten Winkel, Keiro. Du interpretierst Dinge in meine Handlungen hinein, die so nicht existieren.“ „Tue ich das? Wenn dem so ist, wie seht Ihr es denn?“ Wieder entstand eine Pause. Dem Bruder des Grabräubers war diese mehr als zuwider. Dieser Alte sollte endlich reden! Er brauchte doch nur so lange für eine Antwort, weil er nach Ausflüchten suchte. „Es ist anders“, riss ihn Resham schließlich auf den Gedanken. „Ich habe mehr als einmal versucht, Risha von dem Pfad abzubringen, den sie eingeschlagen hat. Von dem ersten Tag an, da ich bemerkte, welcher Hass in ihrem Herzen zu wuchern begann, habe ich mein Möglichstes getan. Ich habe versucht, ihr Güte, Vergebung und Gnade nahe zu bringen. Und vielleicht war eben das der Fehler, den du mir als einzigen vorwerfen kannst.“ Keiro runzelte die Stirn. Was genau meinte der alte Mann damit? Da fuhr dieser auch schon fort: „Risha hat nicht darauf reagiert, wie ich hoffte. Anstatt dass sie verstand, dass ich diese Dinge für überaus wichtig erachte, betrachtete sie die dunkle Seite davon. Für sie waren die drei Dinge, die ich dir soeben nannte, nur eines: Unbekannte Attribute, die sie ihrer Meinung nach noch nie in ihrem Leben erfahren hat. Vielleicht hätte ich ein wenig hartnäckiger sein sollen, als ich versuchte, sie verstehen zu lassen. Doch ich bezweifle, dass es viel geändert hätte. Es mag nur wenig Zeit zwischen dem Angriff auf Kul Elna und meinem ersten Zusammentreffen mit Risha vergangen sein. Doch offenbar hat diese Zeit ausgereicht, damit sich Angst, Wut und Verbitterung tief in ihr Herz fressen konnten. Als ich sie dann fand, war es wohl schon zu spät. Seit diesem Tag habe ich gegen einen unsichtbaren und überaus mächtigen Gegner gefochten und verloren – Rishas Erinnerungen.“ Keiro ließ sich die Worte durch den Kopf gehen und schüttelte diesen anschließend. „Unterlasst Eure Ausreden! Sie war noch ein Kind! Biegsam wie ein frisch gefertigter Papyrus! Hättet Ihr wirklich die Absicht gehabt, sie in diese Richtung zu beeinflussen, so wäre es Euch geglückt.“ „Du unterschätzt den Verstand, die Erinnerungen und die Gefühle einer jungen Seele. Gerade die Erfahrungen, die wir in unseren ersten Sommern machen, sind prägend für unser ganzes Leben. Nur wenigen gelingt es, die Dinge, mit denen man in dieser Zeit in Berührung kommt, hinter sich zu lassen. Besonders die schlechten. Ich habe mein Möglichstes getan, Keiro. Doch am Ende blieb mir nur noch, Risha so weit unter Kontrolle zu halten, wie ich konnte. Wie glaubst du, kommt es sonst dazu, dass sie noch keine Morde begangen hat, die nicht zwingend erforderlich waren, um ihr eigenes Leben zu wahren? Wenn ich sie wirklich so vergiftet hätte, wie du behauptest, weshalb läuft sie dann nicht umher und tötet wahllos jeden, der ihr begegnet und sie nur schief ansieht? Den Pharao? Seinen Hohepriester? Jetzt hätte sie die Gelegenheit dazu. Ich bin kein Heiliger, das ist richtig. Doch ich habe getan, was in meiner Macht stand. Immerhin befindet sich Risha momentan hier in Men-nefer. Sie ist sogar in der Lage, diesen Krieg über ihre eigenen Gefühle zu stellen. So verbohrt, wie du glaubst, ist sie nicht.“ Keiro starrte nach unten. Er biss sich auf die Unterlippe. Hier kam er nicht weiter. Nicht, weil er vermutete, dass Resham nicht von seiner Sicht der Dinge abrücken würde. Sondern weil er fürchtete, dass er sich eingestehen musste, in falsche Richtungen gedacht zu haben. Und dennoch: War sie nicht inzwischen alt genug? Alt genug, um zu begreifen, dass sie falsch lag? Dass es sinnlos war, so voller Hass zu leben? Zumal jene, die wirklich für den Angriff auf Kul Elna verantwortlich waren, längst das Zeitliche gesegnet hatten? Er wandte sich um, ging der Tür entgegen. „Ich habe die Antworten, die ich wollte. Aber eines noch: Ganz gleich, was Ihr getan, und was Ihr nicht getan habt – Euer Clan wird sich von Bakura fernhalten. Ansonsten sehe ich mich gezwungen, dem Einhalt zu gebieten.“ Die Tür fiel krachend hinter Keiro ins Schloss. Schon seit gestern tobte ihr Gebieter. Die Soldaten wechselten besorgte Blicke, als sie ihn abermals brüllen hörten. Dann nahmen sie blitzschnell Haltung an, als der Herrscher aus seinem Zelt geschossen kam. Er stapfte durch das Lager, wirbelte dabei Sand auf. Er blieb erst stehen, als er freien Blick auf die Stadt hatte, die sich an den Ufern des Nils erhob. Ihr verfluchten Narren! Wer glaubt ihr zu sein, dass ihr einfach in dieses verdammte Lager marschieren und euch meinen Gefangenen schnappen könnt? Dafür werdet ihr bezahlen, ihr Bastarde! Ihr werdet büßen! Dafür, dass ihr so dumm wart, mir noch einen Grund mehr zu geben, diese Stadt endgültig zu unterwerfen! Immerhin befinden sich nun sämtliche Personen, die etwas über die Relikte wissen könnten, hinter euren Mauern. Und dafür werdet ihr die Konsequenzen tragen! „Sie hat also tatsächlich gehalten, was sie versprochen hat“, seufzte Mana, als sie gemeinsam mit Marik und Ryou den großen Innenhof des Palastes passierte. Die beiden jungen Männer wurden aus ihren Worten erst nicht schlau, verstanden dann aber, was die Magierin gemeint hatte, als sie den Blick umher schweifen ließen. Sie entdeckten Samira und Kipino, die vor einem Haufen von Wäsche zwischen den Zelten der Schattentänzer saßen. Beide waren damit beschäftigt, die Löcher in den Kleidungsstücken zu stopfen – ihren Mienen nach zu urteilen eine undankbare Arbeit. Vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass die kleine Rothaarige noch die Nachwirkungen des gestrigen Gelages ihrer Ka-Bestie zu spüren bekam – in Form eines gewaltigen Katers. „Sie sind also tatsächlich bestraft worden … Denke nur ich so, oder hättet ihr nicht auch eine andere Reaktion erwartet, wenn man jemandem ein tot geglaubtes Familienmitglied zurück bringt?“, fragte Marik in die Runde. „Allerdings“, stimmte Mana zu. „Diese Risha ist wirklich wie die Pest. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der dermaßen undankbar ist. Ist dieser eingebildeten Kuh eigentlich klar, welches Risiko alle Beteiligten dafür auf sich genommen haben? Sie selbst hat sich bislang ja noch nicht einmal bedankt!“ „Ich glaube schon, dass es ihr bewusst ist. Aber was will man machen? Liegt eben in der Familie“, erwiderte Ryou – und erntete prompt zwei verdutzte Blicke. „Sag bloß, du nimmst das Verhalten dieser Furie einfach so hin?“, erkundigte sich die Hofmagierin ungläubig. „Ich hatte noch nicht wirklich viel mit ihr zu tun, deshalb ist es mir eigentlich gleich. Aber ich kenne Bakura und das länger, als mir lieb ist. Wenn man über mehrere Jahre seine Art ertragen muss, nimmt man Undankbarkeit und Hochmut irgendwann gelassen“, erklärte der Weißhaarige seufzend. „Da fällt mir ein … “, überlegte Marik laut, „ … seit der Prügelei zwischen dem Grabräuber und meinem ach so netten Ebenbild, habe ich Marlic kaum noch zu Gesicht bekommen. Auch gestern, als unsere Ka-Bestien diese Weinfässer zertrümmert haben, habe ich ihn nicht gesehen. Irgendwie will mir der Gedanke nicht behagen.“ „Der treibt sich bestimmt nur in irgendwelchen Schenken herum. So 'ruhig', wie es derzeit ist, ist es dem Herren sonst sicherlich zu langweilig“, winkte Mana ab. „Sei froh, dass du ihn für den Moment los bist. Rede einfach nicht groß darüber und mach dir keine Gedanken. Du weißt ja, wenn man von Seth spricht … “ Die Worte blieben ihr im Hals stecken, als sie zu einem der Tore sah, die in den Innenhof führten. Durch dieses kam in eben jenem Augenblick Marlic herein gestiefelt. Und kaum hatte er das Trio entdeckt, das in den Schatten der Säulengänge entlang lief, steuerte er auch schon auf sie zu. „Ra … womit habe ich das nur verdient?“, stöhnte Marik genervt und schlug sich eine Hand vor das Gesicht. Doch es half alles nichts. Keine halbe Minute später stand sein besagtes Ebenbild auch schon direkt vor ihnen, wie immer ein breites Grinsen auf den Lippen. „Was ist denn?“, fragte er auch gleich seinen ehemaligen Wirt, als er ihn in beschriebener Posé sah. „Hast du etwa Kopfschmerzen?“ „Nein, ich glaube es ist schlimmer“, entgegnete der junge Ägypter kühl. „Ich glaube, ich habe die Pest.“ „Wie?“, erkundigte sich sein Gegenüber mit hoch gezogener Augenbraue. „Sieh doch einfach mal in den Spiegel!“, motzte Marik daraufhin. „Aber, aber. Warum denn immer so böse, mein Guter?“, erwiderte Marlic mit gespielt enttäuschter Miene. „Ich versuche doch nur, nett zu sein.“ „Das glaubst du am Ende noch selber, oder?“, mischte sich Mana ein. „Wo hast du überhaupt die ganze Zeit gesteckt?“ Wieder grinste der ehemalige Geist des Milleniumsstabes. „Ich muss sagen, die Leute hier verstehen sich auf amüsante Abende in den Schenken. Leider ist nun auch der Letzten das Bier ausgegangen, es gab also keinen Grund mehr für mich, noch länger in der Stadt zu bleiben.“ „Was für triftige Gründe“, kommentierte Marik ironisch. Das zankende Trio – denn Ryou war ja nicht involviert – bemerkte gar nicht, dass es während des Wortwechsels von einem neugierigen Augenpaar beobachtet wurde. Samira hatte mit ihrer Arbeit inne gehalten und musterte Marlic und seinen ehemaligen Wirt. „Sag mal, Kipino? Irgendwie sehen sich die beiden schon recht ähnlich, nicht? Sind die vielleicht auch verwandt?“ Der Angesprochene sah sich kurz um und zuckte schließlich mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Möglich wäre es.“ „Oder ist der eine eher verwandt mit dem Pharao?“ Der ältere Schattentänzer blinzelte irritiert. „Wie kommst du denn darauf?“ „Na ja … “, überlegte die Kleine, ehe sie einige ihrer Haarsträhnen nahm und sie in die Höhe hielt. Dann wartete sie auf eine Reaktion ihres Gegenübers. „Was genau willst du mir sagen, Sam?“ „Der Kerl da und seine ach so große Majestät haben fast die gleiche Frisur!“ „ … Welch bahnbrechende Erkenntnis“, seufzte Kipino und griff wieder zu Nadel und Faden. Doch nur einen Augenblick später sollte er die Werkzeuge erneut sinken lassen. Der donnernde Ruf eines Horns schallte über den Innenhof hinweg und zog eine Arie aus ängstlichen Schreien nach sich. ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ Damit wäre es also geschafft. Die 100.000 Wörtermarke ist geknackt. Ich wundere mich immer wieder, zu was für einem Selbstläufer sich diese Geschichte entwickelt hat. Ich hätte nie gedacht, so viele Kapitel fabrizieren zu können. In diesem geht es wieder ein wenig ernster zu, wobei ich das Augenmerk hier auf Dialoge gerichtet habe. Beim nächsten Kapitel kommt wieder mehr Handlung ins Spiel, wie das Ende schon verraten dürfte. Das besondere Schmankerl für mich an diesem Part ist zweifellos die Unterhaltung zwischen Resham und Atemu. Ich habe schon darauf gewartet, sie endlich aufeinander los lassen zu können und die Szene ist genau so geworden, wie ich sie mir ausgemalt hatte. Reicht ja, wenn es ein Ekel unter den Schattentänzern gibt, da braucht er nicht auch noch gemein sein. ;) Wir sehen uns hoffentlich im nächsten Kapitel! Sechmet Kapitel 26: Rückschlag ---------------------- Rückschlag Die panisch durch die Gänge irrenden Sklaven und Diener sprangen zur Seite, als ihr König an ihnen vorbei rannte. Sein Umhang bauschte sich hinter ihm, bald schnappte er nach Luft. Caesian! Es bestand kein Zweifel. Der Feind blies wieder zum Angriff. Ihm war klar gewesen, dass dieser Moment kommen würde. Er und Seto hatten auch alles Nötige in die Wege geleitet, um im Ernstfall sofort und ohne Umschweife reagieren zu können. Und dennoch hatte er gehofft, die nächste Auseinandersetzung würde auf sich warten lassen, vielleicht gar nie kommen. Noch waren die meisten der verwundeten Schattentänzer nicht so weit genesen, dass sie in die bevorstehende Schlacht eingreifen konnten. Was gewiss ein Nachteil war, denn je höher ihre Truppenstärke war, desto wahrscheinlicher war es, sich gegen Caesian zur Wehr setzen zu können. Er stürmte durch ein Portal ins Freie. In den Innenhof, wo der Clan beherbergt war. Er entdeckte Marik, Mana, Ryou und Marlic, die bereits auf ihn zugeeilt kamen – wobei Letzterer eher gemächlich ging. „Ist es soweit?“, rief ihm Mana schon entgegen. „Ich befürchte ja“, sagte Atemu. „Geh schnell ins Lager hinüber und sieh nach Riell und Risha, ich muss sie sofort sprechen.“ Die Hofmagierin verschwand augenblicklich. „Ich denke, ich werde euch gar nicht erst darum bitten müssen, euch aus dieser Schlacht herauszuhalten?“, meinte er indes an seine Freunde gewandt. Die verbliebenen Drei schüttelten synchron den Kopf. „Wir helfen dir“, beteuerte Marik. „Genau. Jede Hilfe wird nötig sein“, stimme Ryou zu. Marlic gab ein „Du glaubst doch nicht, dass ich mir den Spaß entgehen lasse? Endlich wieder Action!“ von sich. Damit war das schon einmal geklärt. Es dauerte nicht lange, dann hörte der Pharao jemanden nach ihm rufen. Als er sich umsah, entdeckte er Seto, der gemeinsam mit Yugi, Joey und Tea herüber kam. Keiro und Bakura tauchten kurz darauf auch auf. „Majestät! Ich habe die Truppen veranlasst, sich vor den Toren zusammen zu ziehen. Einen Teil habe ich hinter den Toren behalten, für den absoluten Notfall. Die Aufstellung erfolgt wie gewöhnlich, ich denke, sie ist auch weiterhin die effektivste“, erklärte der Hohepriester gleich. Im selben Moment kamen Riell und Risha hinzu. „Nehmt jene unter uns, die sich körperlich an dem Kampf beteiligen können, in die Mitte der Formation. Die Bogenschützen sollten sich zu Euren auf die Mauern gesellen. Außerdem haben wir noch einige, die sich zwar kaum rühren können, aber fähig sind, ihre Ka-Bestien in den Kampf zu schicken. Gewiss sind auch diese nicht im besten Zustand, aber ich bin sicher, sie werden dem einen oder anderen Soldaten den Kopf kosten. Wir haben bereits veranlasst, dass sich alle zu den Toren begeben“, erklärte die Schattentänzerin ohne zu zögern. Marlic zog daraufhin amüsiert eine Augenbraue in die Höhe. Wer war die denn und wo kam sie so plötzlich her? Er musste einiges verpasst haben, während er sich in den Schenken amüsiert hatte. „Ihr müsst ganz schön verzweifelt sein, Pharao, wenn ihr einen Haufen Weiber mit an die Front schickt“, kommentierte er schließlich. Wie vom Blitz getroffen schossen die Köpfe von Mana und Risha herum. „Wie bitte?“, fragten sie im Chor. Zumindest was das betraf, schienen sie sich einig zu sein. „Pass auf, was du sagst, du Krüppel. Ansonsten landet mein Dolch schneller in deiner Brust, als dir lieb ist!“, fauchte die Schattentänzerin. Doch das Ebenbild Mariks gluckste nur amüsiert. „Wie niedlich. Soll ich jetzt etwa Angst haben?“ „Besser wär's!“, giftete die Andere zurück. „Könnt ihr euch vielleicht mal am Riemen reißen? Da steht eine Armee vor der Tür!“, mischte sich auch Joey ein. „Du kennst doch seine Art, der kann einfach nicht ernst bleiben“, kommentierte Bakura mit Nicken in Richtung Marlic. „Mach dir an dem nicht die Hände schmutzig“, fuhr er an Risha gewandt fort. „Der ist es nicht wert.“ „Ach, sind wir immer noch beleidigt?“, höhnte die andere Milleniumsseele auch schon weiter. „Hat übrigens ganz schön weh getan, das Veilchen.“ „Sei auf der Hut, oder du wirst noch viel mehr Schmerzen erleiden, Sackgesicht“, zischte der Grabräuber. Nun war es an Risha, verwirrt drein zu blicken. „Wie? Mir sagst du, ich soll die Finger von ihm lassen und selber drohst du ihm und schlägst ihn?“ „Glaub mir, bei dem macht das keinen Spaß, der steht eher noch drauf“, winkte Bakura ungerührt ab. „Sag mal, kennst du die Tussi etwa?“, mischte sich Marlic wieder ein. „Und wenn schon, geht dich das irgendetwas an?“, erwiderte der Weißhaarige. „Wie niedlich!“, höhnte die andere Milleniumsseele. „Bakura hat 'ne Freundin!“ „Sie ist nicht meine Freundin!“, fauchte der Grabräuber sofort. „Ich bin seine Cousine, du Hohlschädel!“, fügte Risha ebenso hinzu. Marlics Blick glitt zwischen den beiden hin und her. „Was? Sag mal, gibt’s von euch irgendwo ein Nest oder so?“ „Können wir das vielleicht später klären? Falls es euch entgangen sein sollte, vor unseren Mauern steht eine Armee!“, donnerte Seto dazwischen. „Lasst uns zum Stadttor gehen! Wir dürfen keine Zeit verlieren!“, stimmte Atemu zu. Endlich setzte sich die Gruppe in Bewegung. Selbst Marlic rannte. Offenbar hatte er Angst, irgendetwas von der bevorstehenden Schlacht, die er als 'Spaß' betitelte, könne ihm entgehen. Indes wurde der Pharao immer nervöser, versuchte jedoch, dagegen anzukämpfen. In dieser Schlacht musste er weiser vorgehen, als in der letzten. Caesian würde es diesmal nicht so einfach haben, darauf konnte er Gift nehmen! Beim letzten Mal war Atemu noch geschwächt gewesen, doch inzwischen hatte er sich gut erholen können. Auch die Göttermonster würden diesmal deutlich stärker sein. Zudem wusste Mana seit der Befreiung Reshams sicher, dass es sich bei dem Wesen, das immerzu Lichtkugeln schleuderte, um eine Ka-Bestie handelte. Außerdem war ihr nun dessen Erscheinung bekannt, was es deutlich einfacher machen würde, die Kreatur festzusetzen, sobald sie sich zeigte. Denn Darla konnte diese Art von Magie nur wirken, wenn sie ihren Gegner bildlich vor Augen hatte und seinen Standort bestimmen konnte. Diesmal würde Caesian einen Tritt in den Hintern bekommen, der sich gewaschen hatte! Endlich erreichten sie die Stadtmauer. Bogenschützen, sowohl Soldaten Ägyptens, als auch Schattentänzer, hatten sich bereits darauf positioniert. Keiner von ihnen zögerte, sie alle erklommen den Wall sofort. Oben angelangt verschlug es ihnen den Atem, obgleich sie den Anblick bereits kannten. Caesians Heer marschierte auf, endlose Reihen von Männern, die bis an die Zähne bewaffnet waren. Ein Schauer lief Atemu den Rücken hinab. Diesmal mussten sie siegen und dieser Geschichte endlich ein Ende setzen. Der Pharao begutachtete die Aufstellung seiner Truppen. Seto hatte dieselbe veranlasst, die sie auch schon beim letzten Mal verwendet hatten. Das brachte zwar den Nachteil mit sich, dass sie dem Feind bereits bekannt war, zugleich war sie jedoch in den Augen des ägyptischen Herrschers und seiner Berater die effektivste. Zahlreiche Gegner hatten sich an ihr schon die Zähne ausgebissen und auch Caesian würde diese Erfahrung machen! „Majestät!“, hörte er ein Rufen, stellte jedoch gleich darauf fest, dass es nicht ihm gegolten hatte. Es war Samira, die auf das weibliche Oberhaupt der Schattentänzer zugeeilt kam. „Diesmal machen wir den Kerl kaputt, nicht wahr?“ „Was machst du hier?“, bekam sie jedoch eine verdutzte Antwort von Riell. „Na, ich kämpfe mit!“, entgegnete die Kleine, verblüfft von der Frage des Älteren. „Ein Schlachtfeld ist aber kein Ort für Kinder“, warf Tea ein. Man konnte sofort sehen, wie sich die Miene der Rothaarigen veränderte. „Ich bin kein Kind! Ich bin eine Schattentänzerin und ich werde ebenso kämpfen, wie alle anderen auch!“ „Das wirst du nicht … “, setzte Risha an, doch wurde zu ihrer Überraschung gleich unterbrochen. „Aber Majestät! Ich bin stark, das habt Ihr selbst gesagt und … “ „Weil ich eine andere Aufgabe für dich und Kipino habe! Lass mich ausreden, wenn ich dir etwas zu sagen habe, verdammt!“, herrschte die blonde Schattentänzerin sie an. „Hör gefälligst zu. Wir wissen nicht, wie diese Angelegenheit ausgeht. Du gehst gemeinsam mit Kipino in den Palast und bleibst bei Vater. Wenn es Caesian gelingen sollte, in die Stadt einzudringen, dann verschwindet ihr so schnell wie möglich mit Resham von hier. Hast du mich verstanden?“ Samira sah noch einen Moment so aus, als wäre sie damit alles andere als einverstanden. Letztendlich nickte sie aber, ohne weiter zu widersprechen. „Wie Ihr wünscht, Euer Majestät“, sagte sie, dann eilte sie zu Kipino, ehe sie mit ihm in der Stadt verschwand. „Gut, das wäre geklärt. Pharao?“, wandte sich nun Riell an den Herrscher Ägyptens. „Wärt Ihr mit dem Plan einverstanden, die Ka-Bestien meiner Schattentänzer von den Flanken der Formation her einfallen zu lassen? Wenn sie von den Seiten angreifen, können sie in meinen Augen größeren Schaden anrichten, als wenn wir sie in die Mitte der Armee setzen. So werden sie nicht von allen Seiten belagert, können sich besser wehren und einen Feind nach dem anderen ausschalten.“ Atemu nickte. „Ja, so können wir es machen. Ich hatte an eine ähnliche Taktik für unsere Ka-Bestien gedacht. Außerdem können sie sich so leichter zurück ziehen, sobald ihre Zwillingsseelen zu erschöpft sind. Damit vermeiden wir unnötige Verluste.“ „Dann lassen wir die Party mal steigen, oder?“, meldete sich Joey zu Wort. „Zeigen wir dem Typen, wer hier das Sagen hat! Rotauge, komm zu mir!“ Er reckte den Arm mit dem Diadiankh in die Höhe. Das goldene Gestell klappte aus und begann zu leuchten. Kurz darauf erschien in dem üblichen, gleißenden Schein die schwarze Riesenechse hinter dem hitzköpfigen Blondschopf. Das Maul öffnete sich zu einer Drohgebärde. „Das ist doch noch gar nichts“, kommentierte Seto abfällig. „Weißer Drache, erscheine und sei mein Gefährte in dieser Schlacht!“ Am Himmel über der Stadt erschien noch ein weiterer Drache. Allerdings schien diese Kreatur der absolute Kontrast zu der von Joey zu sein. Der Hohepriester lächelte zufrieden, als er das Wesen ansah. „Wird das hier jetzt ein Kräftevergleich? Ich würde sagen, da können wir mithalten, oder?“, sagte Riell mit einem Zwinkern in Richtung Risha. Nach und nach erschien eine Ka-Bestie nach der anderen. Cheron stieg mit einem Viehren in die Lüfte, ehe Anwaar ihm mit kräftigen Schlägen der goldenen und silbernen Flügel folgte. Die Feuerprinzessin und Darla erschienen nebeneinander auf der Mauer Men-nefers und umklammerten kampfbereit ihre Zepter. Der Chaosmagier von Yugi gesellte sich nur kurz darauf zu ihnen. Auch Diabound und Shadara materialisierten sich. Während sich Ersterer ebenfalls gen Himmel erhob, positionierte sich der Zerberus neben den anderen auf der Umgrenzung der Stadt, wobei er ein wütendes Knurren verlauten ließ. Shiruba und Anubis kamen ebenfalls zum Vorschein. Das blaue Feuer von Ryous vierbeiniger Kreatur flackerte unruhig, während das Biest Mariks die Knöchel knacken ließ. Zu guter Letzt rief noch Marlic seine Zwillingsseele Des Gardius herbei, die ein angriffslustiges Fauchen ausstieß. „Dann fehle wohl nur noch ich“, murmelte Atemu, ehe er die Armee vor der Brust kreuzte. „Drache des Osiris, erhöre meinen Ruf! Folge ihm in diese Welt und sein mein Schwert in diesem Kampf! Führe Ägypten zum Sieg! Ich rufe dich, Slifer!“ Plötzlich wurde es schwarz vor Atemus Augen. Die Geräusche um ihn herum verstummten. Die Finsternis schien ihn zu umgarnen, als sie plötzlich von einem Schein durchbrochen wurde. Einem weißen Glanz, der ihn blendete. Doch er vermochte nicht, den Blick abzuwenden – zumal sich ein Bild aus dem Glühen zu schälen begann. Ein Sarkophag von reinstem Gold, über den sich eine Gestalt beugte. Langsam wandte sie sich zu Atemu um. Doch noch ehe er das Gesicht der Person erkennen könnte, verblasste der Anblick plötzlich. Es wurde verdrängt von der Aussicht auf das Schlachtfeld vor Men-nefers Toren. Immer wieder blinzelte der Pharao. War das soeben real gewesen? Ihm kam plötzlich wieder der Falke in den Sinn, den er gesehen hatte, kurz bevor der geflügelte Drache des Ra vor einigen Tagen auf dem Schlachtfeld erschienen war. Hatten diese … Visionen eine Bedeutung? Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als ihm jemand auf die Schulter klopfte. Es war Joey. „Alles in Ordnung, Alter?“ „Ja … Ja, mir geht es gut. Ich war nur für einen Moment in Gedanken“, erwiderte Atemu. Der Wind war stärker geworden, der Himmel hatte sich verdunkelt. Schließlich senkte sich ein Schatten über das Land. Rote Schuppen wanden sich über das Firmament. Sie waren auf dem ewig reichenden Rücken mit zahlreichen Zacken besetzt. Flügel peitschten die Luft. Das Maul, über dem noch ein weiteres saß, öffnete sich zu einem wütenden Brüllen, das die Erde erbeben ließ. Slifer, der Himmelsdrache war hernieder gestiegen. Die Schattentänzer gaben Laute des Erstaunens von sich. Auch ihre beiden Anführer hatten die Köpfe in den Nacken gelegt, um die Bestie genauer betrachten zu können. Auf ihren Mienen stand Ehrfurcht geschrieben, als sie das Monster, welches dem Gott Osiris zugeschrieben wurde, ansahen. Die Aura das Wesens war unglaublich stark. Es gab wohl kein einziges Ka in ihrem Clan, das sich auch nur annähernd mit diesem messen konnte. Die Wolken lichteten sich bereits wieder und machten dem sengenden Sonnenschein Platz, als sich das göttliche Geschöpf herab senkte. Sein stechender, drohender Blick weilte auf dem feindlichen Heer. Atemu tat es ihm gleich. Sie waren bereit für die Schlacht. Irgendwo in den feindlichen Reihen ertönte ein Horn. Schon wie beim letzten Mal löste sich ein einzelner Reiter aus der Masse an Soldaten. Als er weit genug an die Stadt heran geritten war, um verstanden zu werden, rief er die Mauer hinauf: „Seine Majestät Caesian lässt eine Nachricht an Euch überbringen, Pharao!“ „Die da wäre?“, erwiderte Atemu. „Noch habt Ihr die Chance, Euch zu ergeben. Ihr werdet diesen Schritt nicht bereuen. Unsere Bedingungen sind einfach und gnädig. Solltet Ihr kapitulieren, wird Euch kein Leid geschehen – insofern Ihr bereit seid, uns sowohl die Relikte, als auch die drei obersten Mitglieder der Schattentänzer auszuhändigen. Ihr und Euer Volk werdet daraufhin Euer Leben behalten und es dazu nutzen, dem großen Herrscher Caesian zu dienen!“ Für einen Moment dominierte das Schweigen. Dann begann Seto plötzlich mit voller Inbrunst zu lachen. Der Gesandte des Feindes runzelte die Stirn. „Was ist so lustig, wenn ich mich erkundigen dürfte?“ Auch Atemu musste kurz schmunzeln, als er Antwort gab. „Eure Worte, Fremder! Richtet Eurem Herrn aus, dass wir diesen Kuhhandel nicht eingehen werden! Wenn er wirklich glaubt, uns niederwerfen zu können, so soll er es versuchen!“ Der Bote sah nicht überrascht aus. „Sind dies Eure letzten Worte?“ Der Pharao überlegte einen Augenblick. „Nicht ganz. Eines noch: Caesian soll sich der Tragweite eines Angriffs auf unsere Stadt bewusst sein. Wenn er es tatsächlich wagt, erneut unseren Zorn auf sich zu ziehen, so hat er keinerlei Gnade zu erwarten. Dann wird er es sein, der am Ende dieses Tages im Staub kriecht.“ Der Gesandte gab seinem Pferd die Sporen und galoppierte in die hintersten Reihen des feindlichen Heeres zurück. Es dauerte nicht lange, dann erklang erneut ein Horn. Caesian hatte die Nachricht erhalten und forderte seine Männer auf, sich zum Kampf bereit zu machen. „Die Macht des Reliktes, das man Eurem Vater nahm, war die der Regeneration, nicht wahr?“, erkundigte sich Atemu noch ein letztes Mal bei Riell. Dieser nickte. „Ja. Ein großer Vorteil für ihn – aber zugleich auch ein Nachteil. Erinnert Ihr Euch? Sie mögen sich nun wesentlich schneller wieder erheben können, wenn wir sie in den Staub stoßen, und beinahe unmöglich zu töten sein, doch sie sind jetzt verwundbar gegenüber Feuer. Denn was zu Staub zerfällt, kann nicht mehr zusammen gesetzt werden. Darauf müssen wir bauen. Es ist der einzige Weg, sie loszuwerden.“ „Ich habe unsere Bogenschützen mit genügend Öl und Fackeln ausgestattet. Wenn wir nun noch die Ka-Bestien hinzu nehmen, die das hitzige Element ihr Eigen nennen, so werden wir ihn schlagen“, erklärte Seto. „Feuer ist zum Glück eine Ressource, die man nur schwer aufbrauchen kann. Das kann nur zu unserem Vorteil sein!“, mischte sich Joey mit überzeugtem Unterton ein. „Du wirst sehen, Alter. Am Ende des Tages sitzt du wieder in Ruhe auf deinem Thron und wir schmeißen eine fette Party!“ „So ähnlich hast du beim letzten Mal wahrscheinlich auch schon daher geredet. Und was kam dabei heraus?“, kommentierte Bakura abfällig. „Kannst du vielleicht auch irgendetwas positiv sehen?“, entgegnete Mana daraufhin gereizt. „Wenn wir schon mit solchen Gedanken in eine Schlacht ziehen, können wir auch gleich kapitulieren!“ „Von aufgeben war keine Rede“, erwiderte der Grabräuber. „Lediglich davon, dass Wheeler seine große Klappe ein wenig zügeln sollte. Er tut ja gerade so, als habe er schon an zahlreichen Fronten gestanden.“ „Und sowas ausgerechnet aus deinem Mund?“, fauchte der Blondschopf sofort. „Könnt ihr das Gemotze vielleicht mal lassen? Ihr verderbt diese wunderbar bedrohliche Atmosphäre!“, kam es nun von Marlic. „Ihr haltet einfach alle die Schnauze, verstanden?“, donnerte Seto, ehe er den Truppenführern vor der Stadtmauer ein Zeichen gab, die eigenen Männer ebenfalls in Bereitschaft zu versetzen. Rufe wurden über dem Schlachtfeld laut. Speere wurden erhoben, Schwerter gezückt. Pferde viehrten aufgeregt. Bogenschützen legten ihre Pfeile an die Sehnen der Bögen. Einige tauchten sie zuvor bereits in Öl, sodass sie schnell entzündet werden konnten. Streitwagen nahmen ihre Positionen ein. Auch die restlichen Schattentänzer riefen ihre Zwillingsseelen herbei und ließen sie unterhalb der Mauer verharren. Jeder Mann spannte sich an, ebenso die Ka-Bestien, die auf den Mauern saßen oder über der Szenerie schwebten. Erneut erklangen Hörner von beiden Seiten des Feldes. „Und ich habe irgendwann einmal die Spielflächen bei Duelmonsters als Schlachtfelder betrachtet“, murmelte Yugi. „Jetzt ist mir erst recht klar, dass man beides nicht ansatzweise vergleichen kann.“ „Ruhig Blut, Partner“, antwortete Atemu. „Diesmal wird er sich an uns die Zähne ausbeißen. Und wenn ich ihn töten muss, dann werde ich es ohne zu zögern tun.“ Der Kleinere musterte den Pharao von der Seite. Ihm war nicht wohl bei dem Gedanken. Aber er wusste, dass er das Denken aus seiner Zeit, was Töten betraf, nicht in diesen Sphären anwenden konnte. Zwar war das alte Ägypten vergleichsweise sehr zivilisiert, aber dennoch waren die Sitten hier anders als im 21. Jahrhundert. „Es ist soweit“, wurde er schließlich von Setos Stimme aus den Gedanken gerissen. Die Luft über der Stadt schien regelrecht zu vibrieren. Das Brüllen der Soldaten Caesians schallte bis zu ihnen hinüber. Dann setzte sich die unendlich erscheinende Masse aus Menschen mit einem Ruck in Bewegung. „Für Ägypten! Zum Angriff!“, schrie Atemu. Auch seine Soldaten lösten sich mit einem Mal aus ihrer vermeintlichen Starre. Lanzenträger stürmten voran, dicht gefolgt von den Schwertkämpfern, die von den Streitwagen flankiert wurden. Die Ka-Bestien des Clans warteten im Schatten der Mauer, bis die ägyptischen Soldaten ein gutes Stück voran gekommen waren, dann stürmten sie auf ein Zeichen Riells hinterher. Sie preschten an den Seiten der ägyptischen Armee vorbei und machten sich bereit, Caesians Männer von den Flanken der Formation her auseinander zu nehmen. Sekunden, die wie eine Ewigkeit erschienen, zogen dahin, dann prallten die Truppen aufeinander. Schreie gellten über das Land. Die Lanzenträger in der vordersten Reihe stachen auf jedes Ziel ein, das ihnen vor die blanken Enden der Waffen lief. Sogleich gab es an dieser Stelle auf beiden Seiten die ersten Verluste. Schwerter und Beile prallten aufeinander und wurden wieder empor gerissen. Die Streitwagen galoppierten voran und ihre Lenker rissen die ersten Feinde nieder. Zur selben Zeit wurden sie von den Ka-Bestien der Schattentänzer überholt, die in die Flanken der feindlichen Formation einfielen und augenblicklich die ersten Krieger niederwarfen. Die Bogenschützen spannten die Sehnen ihrer Waffen an. „Noch nicht!“, rief Seto. „Lasst den Feind noch näher heran kommen!“ „Aber für uns ist es an der Zeit“, entgegnete Risha. „Cheron! Vorwärts!“ „Ruf ihn sofort zurück! Noch habe ich keinen Befehl zum Angriff gegeben!“, fuhr sie der Hohepriester prompt an. Die Schattentänzerin sah ihn an, als wünsche sie ihm die Pest an den Hals. „Bist du bescheuert? Wenn sich die beiden Armeen erst einmal vermischt haben, wird es vor allem für die Kreaturen in der Luft schwierig, nur den Feind zu treffen!“ „Dem stimme ich zu“, schaltete sich Atemu schnell ein, ehe Seto erneut zu einer Erwiderung ansetzen konnte. „Ka-Bestien vorwärts!“ „Feuer frei!“, rief Tea scheinbar voller Tatendrang, doch ihre Stimme strafte sie Lügen. Dennoch folgte ihre Kreatur diesen Worten gleich. Das Zepter der Feuerprinzessin wirbelte durch die Luft, dann schossen die ersten flammenden Bälle über das Schlachtfeld. Dann sprang sie gekonnt von der Mauer herab, um sich in die Schlacht zu stürzen. Es dauerte nicht lange, dann schlossen sich bereits die nächsten Bestien an. Cheron begann ein brennendes Bombardement aus der Luft. Rotauge, Anwaar, Diabound und der weiße Drache schossen ebenfalls über der Wüste dahin und ließen eine Salve von Angriffen auf den Gegner niedergehen. Shiruba, Anubis, Des Gardius und Shadara sprangen mit flinken Sätzen von der Mauer herab, preschten durch die Reihen der eigenen Soldaten und stürzten sich schließlich auf Caesians Soldaten. Vor allem Ryous Ka-Bestie erwies sich herbei als nützlich, da er aus direkter Nähe ein gutes Dutzend Soldaten auf einmal in Flammen aufgehen ließ. Unterstützt wurde das Quartett bei seinem Bodenangriff von Darla und dem Chaosmagier, die ihre Kräfte bündelten, um größeren Schaden anzurichten. Auch Slifer blieb nicht untätig. Die gewaltige Echse setzte sich mit einem Schrei, der dem eines Adlers glich, in Bewegung. Die gleißenden Angriffe des göttlichen Geschöpfs hinterließen Schneisen der Verwüstung im Wüstensand. Seto hatte sich derweil eine andere Verwendung für die Bogenschützen überlegt. Er ließ sie nun doch feuern. Ihr Ziel waren dabei allerdings die Soldaten Caesians, die bereits verwundet waren und so einfach zu treffen waren. Sinn des Ganzen war, den Feind unschädlich zu machen, ehe die Saat des Chnum ihre regenerierende Wirkung entfalten konnte. „Wo ist dieses Biest?“, murmelte Mana. „Warum hält er es zurück?“ „Du meinst seine Zwillingsseele?“, erkundigte sich Atemu, nahm den Blick jedoch nicht vom Gefecht. „Ja, genau“, erwiderte die Hofmagierin. „Wenn sie auch nur kurz in Erscheinung treten würde, wäre es Darla diesmal vielleicht möglich, sie festzusetzen. Wir brauchen lediglich einen Anhaltspunkt, auch wenn er noch so schnell vorüber zieht. Seit Reshams Rettung wissen wir immerhin, womit wir es zu tun haben.“ „Könnte es nicht sein, dass er sie genau deshalb nicht heraus lässt?“, überlegte der Pharao. „Sagen wir es so, ich bin nicht traurig darüber, dass diese Kreatur bleibt, wo auch immer sie ist.“ „Traurig bin ich ebenso wenig. Besorgt wäre der passendere Begriff. Sie könnte überall sein“, gab Mana zu bedenken. Atemu ließ die Augen aufmerksam über das Schlachtfeld gleiten. In diesem Punkt hatte die Hofmagierin absolut recht. Sie wussten weder ob, noch wann sich Caesians Ka-Bestie zeigen würde. Er konnte nur hoffen, dass ihnen im schlimmsten Fall genügend Zeit blieb, um das Geschöpf auszuschalten, ehe es Schaden anrichten konnte. Denn sie hatten bereits gesehen, wozu es fähig war. Eine Salve von Pfeilen schoss von der Mauer auf das feindliche Heer nieder. Zahlreiche Männer gingen sofort in Flammen auf. Doch der Angriff blieb nicht unerwidert. Dieselben Geschosse, jedoch nicht brennend, stoben aus Caesians Reihen empor. „Runter und an die Mauer!“, rief Atemu und duckte sich gerade noch rechtzeitig, um einem Pfeil zu entgegen, der über ihm vorbei zuckte. Ein verwundeter Schattentänzer war nicht schnell genug, doch sein Leben wurde dennoch gerettet – durch Risha, die ihn geistesgegenwärtig durch einen Hechtsprung zu Boden riss. „Cheron!“, brüllte sie. „Kümmere dich um die Schützen, rasch!“ Der Pegasus änderte sofort seinen Kurs über dem Schlachtfeld. Seine Flügel flammten kurz auf, dann schossen zwei glühende Sicheln auf die Reihen des Feindes hinab. Caesian beobachtete die Schlacht ungerührt. Wer glaubte dieser Pharao eigentlich zu sein? Ja, ihm eilte der Ruf voraus, dass er der Auserwählte der Götter sei. Doch er war nur einer ihrer Diener. Er, Caesian, hielt die Macht der Gottheiten selbst in Händen! Zufrieden betrachtete er Chnums Saat, Seths Zepter und Nephthys Tränen. Am Ende des Tages würde er seine Sammlung weiter vervollständigen können, da war er sich sicher. Zwar war sein Angriff in der Ruine gescheitert, da er dort kein Artefakt hatte finden können, doch er erinnerte sich an den Überfall auf den Clan. Die Tochter des Oberhaupts trug eines mit sich – den Dolch des Anubis, so viel war sicher. Und wer wusste schon, ob das wirklich das einzige Relikt war? Vielleicht stieß er in Men-nefer ja auf eine richtige Goldgrube? Und damit meinte er gewiss nicht die Schätze des Pharao … Er ließ den Blick prüfend über das Feld schweifen. Die Saat des Chnum erwies sich wahrlich als nützlich. Vor allem in Kombination mit den Tränen der Nephthys. Während das eine Relikt dafür sorgte, dass seine Männer nicht sterben konnten, bewirkte das andere, dass durchtrennte Sehnen und geschundene Leiber zu alter Frische zurückkehrten. Er schmunzelte ob der Versuche der Ägypter. Ja, durch die Saat wurden die Soldaten verwundbarer gegenüber Feuer. Trotzdem war das Relikt des Gottes, der häufig als Rind dargestellt wurde, nützlich, regenerierte seine Macht doch alle Wunden, die nicht von Feuer verursacht wurden. Sie konnten nicht gewinnen. Caesian würde sich an ihren fassungslosen, verzweifelten Gesichtern ergötzen. Zugleich würde er diesen verdammten Clan demütigen. Er grinste und rief einen seiner Kommandanten herbei. Es wurde Zeit, diese Auseinandersetzung ein wenig voran zu treiben. Er hatte noch ein Ass im Ärmel. Offenbar hielten ihn seine Gegner für vollkommen auf den Kopf gefallen, das schloss er aus ihrer Taktik. Sie schienen nicht wahrhaben zu wollen, wozu er jetzt, da er drei Relikte sein eigen nannte, fähig war. Oder wussten sie etwa noch gar nicht, dass man die Kräfte der Artefakte auch mit einander kombinieren konnte? „Majestät! Bei den Göttern, seht doch nur!“ Panisch machte der Bogenschütze auf den Mauern Men-nefers auf einen feindlichen Krieger aufmerksam. Gerade eben war sein Leib in Flammen aufgegangen und er war bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Doch nun war er dabei, sich wieder aufzurappeln. Seto starrte an der Seite Atemus auf den Mann hinab. Dann bahnte sich seine Wut einen Weg. „Was soll das? Habt Ihr nicht gesagt, die Saat des Chnum wirke nicht bei Feuer?“, donnerte über den Schlachtlärm hinweg. Das Opfer seines Ausbruchs waren offensichtlich Riell und seine Schwester. Der Schattentänzer sah ebenso verwundert wie erschrocken drein und suchte nach einer Lösung. Was hatte er übersehen? Risha kam ihm schließlich zuvor. „Die Tränen der Nephthys! Anscheinend ist die Kraft der Artefakte doch untereinander kombinierbar. Er muss die beiden Relikte gemeinsam nutzen! Er ist wohl von allen guten Geistern verlassen!“, rief sie entsetzt. „Wir müssen sofort etwas tun, ehe das Auswirkungen haben wird!“ „Ihr behauptet, Ihr wüsstet alles über diese Gegenstände und habt die Möglichkeit außer Acht gelassen, dass er sie zugleich einsetzen könnte?“, brüllte der Hohepriester weiterhin. „Das haben wir nie gesagt!“, erwiderte Riell ebenso aggressiv. „Ich habe Euch von vorne herein erklärt, dass auch wir nicht alle Geheimnisse um die Relikte gelüftet haben. Weil wir sie nicht selbst gebrauchen. Woher sollen wir dann derlei Wissen haben? Außerdem war mir von Anfang an klar, dass dieser Kerl größenwahnsinnig ist, aber dass er soweit geht, zwei Relikte zur selben Zeit zu gebrauchen, hätte selbst ich nicht zu träumen gewagt!“ „Welche Auswirkungen kann es haben, wenn er beide zugleich anwendet?“, schaltete sich nun auch Atemu in das hitzige Gespräch ein. „Ihr wisst, was ein Gegenstand alleine anrichten kann. Wenn zwei zugleich benutzt werden, verdoppelt sich der Schaden für unsere Welt. So wie es aussieht, heilt außerdem die Saat des Chnum alle Wunden, außer Verbrennungen. Diese könnten seine Untergebenen theoretisch töten, doch die Tränen der Nephthys verhindern, dass sie sterben“, erklärte Risha schnell. „Dann müssen wir sofort etwas unternehmen! Slifer!“, schrie Atemu. „Direkter Angriff auf Caesian, schnell!“ „Wir helfen dir!“, entgegnete Yugi sogleich. „Chaosmagier! Schließe dich Slifer an! Wir müssen unseren Gegner aufhalten!“ Zustimmende Gesten und Worte kamen auch vom Rest der Truppe. Bald lösten sich ihre Ka-Bestien aus dem Gewirr der Kämpfenden und suchten sich Wege an den Seiten des Schlachtfeldes, um zu ihrem Ziel vordringen zu können. Die anderen folgten ihnen in der Luft, wobei sie immer wieder Pfeilen ausweichen mussten. „Darla soll sich zurückhalten“, informierte Mana den Pharao. „Sollte sich Caesians Bestie zeigen, so werden wir versuchen, sie festzusetzen.“ Atemu gab nur ein zustimmendes Nicken von sich. Seine Augen hafteten auf dem Punkt, den ihre Zwillingsseelen soeben ansteuerten. Ein ungutes Gefühl machte sich in seiner Magengegend breit. Er hatte schon einmal versucht, den Feind direkt an der Wurzel zu packen. Doch nicht einmal der Angriff des geflügelten Drachen des Ra hatte ihm etwas anhaben können. Er konnte nur hoffen, dass er und seine Freunde nicht geradewegs in eine Falle tappten. Schließlich war es soweit und die Ka-Bestien erreichten ihr Ziel. Die Leibwächter und Soldaten Caesians versuchten zwar, sie von einem weiteren Vordringen abzuhalten, doch vergeblich. Gerade Shiruba mit seiner dicken Haut, der Waffen so leicht nichts anhaben konnten, mähte einen Mann nach dem anderen nieder. Dann sahen sie sich Caesian gegenüber. „Angriff!“, brüllte Atemu, obgleich ihm klar war, dass ihn die Kreaturen auf diese Entfernung unmöglich hören konnten. Doch seine Gedankenverbindung zu Slifer genügte völlig. Der gewaltige Drache öffnete sein oberes Maul und formte eine Kugel aus Blitzen, die schon nach kurzer Zeit immer größer wurde. Auch die anderen Wesen begannen mit der Attacke. Eine nach der anderen schoss von ihrem Urheber davon und sauste Caesian entgegen. Die Monster konnten genau erkennen, dass dem Mann die Angst ins Gesicht geschrieben stand. Doch nur für einen winzigen Augenblick, dann verschwand seine Gestalt im Tosen der Angriffe. Sand wirbelte in einer gigantischen Wolke auf und schleuderte in alle Richtungen davon. Die Erde erzitterte unter der Kraft, die die Ka-Bestien freigesetzt hatten. Für einen Moment schienen die Soldaten wie erstarrt. Alle blickten wir gebannt auf die Stelle, an der soeben noch Caesian auf seinem Pferd gethront hatte. Eine Stille, die im Angesicht der Schlacht beinahe grotesk wirkte, breitete sich aus. Nur langsam lichtete sich der Staub – und ließ Atemu und seine Gefährten erstarren. Noch immer saß Caesian im Sattel seines Hengstes. Über den Kopf reckte er das Zepter des Seth. Wahnsinniges Gelächter entstieg seiner Kehle. Der Ausdruck auf seinem Gesicht unterstrich dieses noch. Offenbar war dasselbe wie beim letzten Mal geschehen. Er hatte sich mit Hilfe des Artefakts vor den Angriffen der Bestien gerettet. Der Sand hatte ihn vor jeglichem Schaden bewahrt. „Das darf nicht wahr sein! Ich meine … in der letzten Schlacht hat er einzig die Attacke des geflügelten Drachen des Ra abschmettern müssen! Aber wie kann es sein, dass unsere Monster gemeinsam angreifen, und er kommt ohne einen einzigen Kratzer davon?“, rief Tea völlig erschrocken aus. „Dieser Irre ist stärker, als wir dachten“, gab Risha Zähne knirschend zu. „Wir dürfen nicht so schnell aufgeben!“, schrie Mana, denn der Kampflärm auf dem Schlachtfeld hatte erneut eingesetzt. „Sie hat recht!“, stimmte Seto zu. „Weißer Drache, Lichtblitz!“ Die Kreatur fackelte nicht lange. Brüllend schlug sie mit den Flügeln, um eine bessere Position für ihren Angriff zu erreichen. Doch Caesian zuckte noch nicht einmal mit der Wimper. Stattdessen grinste er weiterhin siegessicher, als er das Zepter durch die Luft schwang. Sand wirbelte auf, verband sich zu einer regelrechten Woge und schoss dem Weißen Drachen entgegen. Nur einen Augenaufschlag später schrie die Bestie, als sie durch die Luft geschleudert wurde und krachend zu Boden stürzte. Seto krümmte sich synchron mit seiner Zwillingsseele zusammen, als der Schmerz ihre Leiber durchzuckte. Die anderen Ka-Bestien zögerten keine Sekunde. Sie stürzten vor, dem feindlichen Herrscher entgegen. Doch auch sie blieben erfolglos. Eine nach der anderen bekam die Macht des Zepter zu spüren, landete im glühenden Wüstensand. Selbst Slifers Angriff mit gleißenden Blitzen drang nicht annähernd bis zu Caesian vor. Atemu griff sich an den Oberarm, als auch seine Kreatur von einer Woge aus Sand in die Seite getroffen wurde und in der Luft taumelte. Der Feind selbst mochte keine Bedrohung für die Monster darstellen. Aber die Macht, die er in Händen hielt sehr wohl. Die Macht der Götter … Es musste irgendeine Möglichkeit geben, ihn zu vernichten! Nicht nur um Men-nefers Willen, sondern auch für den Fortbestand der gesamten Welt. Doch sie konnten ihn nicht einmal direkt angreifen. Wie, im Namen der Götter, sollten sie ihm dann auch nur ein Haar krümmen? „Ruft die Ka-Bestien zurück! Sie können gegen ihn selbst nichts ausrichten!“, befahl Atemu schließlich. Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als er plötzlich einen Schatten auf der Mauer wahrnahm. Was war das? Er sah nach oben, nur im nächsten Moment erschrocken die Augen aufzureißen. Dort über ihm, mitten in der Luft, schwebte eine Gestalt. Ihr ganzer Körper wurde von einem schwarzen Umhang verhüllt. Lediglich die Hände waren zu sehen. Sie wirkten knochig und endeten in langen, krallenartigen Fingernägeln. „Atemu, was … ?“, hatte sich Mana gerade erkundigen wollen, da folgte sie seinem Blick. Schlagartig wurde sie blass. „Seine Ka-Bestie!“ Auch die anderen rissen nun ruckartig die Köpfe herum. Doch da war es bereits zu spät. Schon gingen die ersten glühenden Kugeln auf sie nieder. Eine davon steuerte direkt auf Mana zu. Doch sie sollte nicht die junge Magierin treffen. Plötzlich tauchte Darla wie aus dem Nichts auf und warf sich dazwischen. Ein gellender Schrei, dann wurde die Ka-Bestie von der Attacke durch die Luft geschleudert und krachte unterhalb der Mauer auf die Straße. Die Steine, die den Grund bedeckt hatten, splitterten ob der Wucht des Aufpralls. Auch Mana wurde von den Füßen gerissen. Atemu reagierte zwar noch, doch die Finger der Magierin entglitten ihm, ehe er sie richtig greifen konnte. Sie schrie erschrocken auf, dann stürzte sie in die Tiefe. Auch der Pharao brüllte vor Angst, als seine Kindheitsfreundin auf dem harten Boden der Stadt aufkam und reglos liegen blieb. Sofort eilte ein umstehender Soldat auf sie zu. Auch einige Bürger kamen rasch herbei – schon seit die Schlacht begonnen hatte, hielt sich eine hartnäckige Menge in den Gassen auf, die bereit war, auch mit Mistgabeln gegen den Feind zu ziehen. „Nein! Mana!“, rief Atemu, dessen Stimme ein von Angst erfülltes Kreischen war. Sekunden, die sich wie Stunden anfühlten, vergingen, in denen sich die junge Frau nicht rührte. Das Herz pochte schnell in der Brust des Königs, während er fassungslos auf die Stelle starrte, an der sie lag. Nein … es durfte nicht sein … Die Geräusche um ihn herum begannen zu verblassen. Auch vernahm er nicht die aufgeregten, teils gar panischen Rufe seiner Freunde und Mitstreiter, die ihren Ka-Bestien Befehle erteilten. Er war wie von einem Schleier aus Stille umgeben – der erst riss, als sich Mana plötzlich bewegte. Sein Herz setzte einen bangen Moment lang aus, wohl in der Furcht, er könne es sich nur eingebildet haben. Doch das war nicht der Fall. Tatsächlich versuchte die junge Magierin stöhnend, sich aufzurichten, bis sie schließlich auf alle Viere kam. „Mana!“, rief Atemu ihr augenblicklich zu, dessen Sinne nun auch wahrnahmen, dass sich die Schlacht fortsetzte. Dennoch schenkte er dem noch keine Beachtung. Er musste wissen, wie es um sie stand! „Alles in Ordnung!“, erwiderte sie so laut, wie möglich. „Oder okay, wie ihr immer sagt. Hab mir wohl nur ein paar Rippen gebrochen … “, fügte sie mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht hinzu. „Ich bin gleich wieder da.“ „Nein, bleib unten! In deinem Zustand kannst du nicht mehr kämpfen! Und keine Widerrede!“, setzte Atemu nach, als er ihr deutlich ansah, dass sie widersprechen wollte. Sie nickte schließlich und ließ sich von einem Soldaten auf die Beine helfen. Er stützte sie und brachte sie von dem Unglücksort weg, damit sie versorgt werden konnte. Der Pharao sprang er wieder auf und wandte sich um. „Runter von der Mauer!“ Der Mark erschütternde Schrei Joeys ließ ihn aufschrecken – und direkt wieder erstarren. Noch mehr der glühenden Kugeln schossen vom Firmament herab und suchten ihr Ziel in der Stadtmauer Men-nefers – der Mauer, auf der sie alle standen. Das Bersten von Stein zerschnitt die Luft, ein Krachen, das mit keinem Geräusch der Welt vergleichbar war. Staub wirbelte auf, als sich die Felsen lösten, zersprangen und sie alle den Halt unter ihren Füßen verloren. ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ Da bin ich wieder. Ich weiß, der neue Upload hat lange gedauert, aber manchmal gibt es eben wichtigere Dinge im Leben. Jetzt ist der ganze Stress aber erst einmal vorüber und ich kann mich wieder der Schreiberei widmen. Ich hoffe, mir sind in der Zwischenzeit nicht alle Leser abgesprungen. Gruß, Sechmet Kapitel 27: Chaos ----------------- Chaos Atemu befand sich für einen Augenblick, der sich anfühlte wie Stunden, im freien Fall. Dann landete er in den Trümmern. Zunächst war alles um ihn herum still. Lediglich ein penetrantes Pfeifen erfüllte seine Ohren. Er registrierte auch irgendwo am Rande seines Bewusstseins, dass er Dreck eingeatmet hatte, welchen er nun aushusten musste. Doch richtig wahrnahm er es nicht. Auch war er sich sicher, Verletzungen von dem Sturz davon getragen zu haben. Im Augenblick aber spürte er durch den Schock keine Schmerzen. Nur langsam ging der schrille Pfeifton zurück und machte wieder den Geräuschen der Umgebung Platz. Eine gespenstische Stille lag über dem Ort, an dem soeben noch ein Teil der Stadtmauer gestanden hatte. Hier und da war sie unterbrochen von Schreien Überlebender und derer, die nach Überlebenden suchten. Alles war so wahnsinnig schnell gegangen. Wie viel Zeit war seit dem Einsturz überhaupt schon vorüber gezogen? Er konnte nicht sagen, ob es Minuten oder gar Stunden waren. Mühsam rappelte er sich auf. Er war nicht von größeren Brocken begraben worden, doch er spürte, wie die Last des Schutts von seinem Rücken glitt, als er sich hoch stemmte. Hustend und keuchend versuchte er den Staub aus seinen Lungen zu verbannen, der sich quälend hinein gedrängt hatte. Erst jetzt, da er sich bewegte, realisierte er die pochenden Schmerzen an seinem Kopf. Mit zitternder Hand tastete er die Stelle ab, nur um daraufhin zusammen zu zucken. Blut klebte an seinen Fingern. Er war verletzt. Als er versuchte, sich aufzurichten, drehte sich alles um ihn herum. Doch er zwang sich, stehen zu bleiben. Sterne tanzten vor seinen Augen, als er sich umsah. Überall hing Staub in der Luft, der seine Sicht behinderte. Auch brannten und tränten seine Augen ob des Drecks, der hinein geraten war. Nur langsam drangen die lauter werdenden Schreie an sein gemartertes Bewusstsein. Ebenso träge wurde ihm bewusst, was eigentlich soeben geschehen war – welcher Schlag Caesian geglückt war. „Yugi!“, schrie er mit brüchiger Stimme. „Joey! Tea!“ Ein Name nach dem anderen kam über seine Lippen, doch das Brüllen forderte seinen Tribut. Der Schwindel wurde stärker, er musste wieder husten, sank auf die Knie. Die Welt verschwamm vor seinen Augen. Waren sie tot? Was, wenn sie wirklich tot waren? Noch immer klangen ihm die Schreie der Menschen in den Ohren nach, als Caesians Monster angegriffen hatte. Es gab mit Sicherheit Tote. Die Frage war nur, ob sich seine Freunde darunter befanden. Obwohl ... War diese Frage nicht falsch, viel zu eingeschränkt? Was war mit den Angehörigen seines Volkes? Mit den Soldaten? Mit denen, die ihre Hoffnung in ihn gelegt hatten und nun vielleicht mit ihrem Leben bezahlt hatten? Immer weiter trieben die Gedanken Atemus ab, hinfort in eine gespenstische Leere der Vorwürfe, die begann, von seinem Inneren Besitz zu ergreifen. Das ist alles meine Schuld. Ich konnte sie nicht schützen ... Dann Schritte. „Na? Verletzt?“ Atemu sah der Person direkt in die Augen, doch erkannte sie im ersten Moment nicht. Nur schleppend gewahrte er, wer da vor ihm hockte und ihn prüfend musterte. Es war Risha, die den Trümmern lediglich entgangen war, da ihre Ka-Bestie sie aufgefangen hatte, ehe sie von den Steinen begraben werden konnte. „Wo sind … die anderen?“, murmelte Atemu geistesabwesend. „Wo ist Seto … meine Freunde … die Leute ... “ „Keine Ahnung“, erwiderte die Schattentänzerin wenig einfühlsam, dann hastete sie weiter. Er hatte einen ordentlichen Schlag auf den Kopf bekommen, doch der Pharao schwebte nicht in Lebensgefahr – was bei den anderen, die auf der Mauer gestanden hatten, ganz anders aussehen konnte. Nicht, dass es sie wirklich interessiert hätte, wie sich der Herrscher Ägyptens fühlte ... Aber sie brauchte ihn noch. Sie konnte nicht leugnen, dass auch sie zitterte. Sie riss sich jedoch zusammen, so gut es ging. Gerade jetzt durfte niemand Schwäche zeigen. Denn dann hätte Caesian das, wonach er sich so gierig die Finger leckte. Sie hörte die Schreie der Soldaten, die für den Fall der Fälle im Inneren der Stadt positioniert gewesen waren. Sie näherten sich der Unglücksstelle. Risha bemerkte einen Schatten, der durch die Wolke aus Dunst auf sie zu geglitten kam – Cheron. Sie hielt inne. „Hast du wen gefunden?“, erkundigte sie sich auf der Stelle. Doch der Pegasus schüttelte den Kopf. „Such weiter! Wir müssen sie finden!“ Auch andere Ka-Bestien schwebten über den Trümmern, suchten nach ihren Zwillingsseelen, während wieder andere sich dem Schlachtfeld vor dem Schutt zugewandt hatten und wachsam darauf achteten, dass Caesians Soldaten fern blieben. Krieger Ägyptens kamen herbei geeilt, begannen damit, Brocken beiseite zu schaffen, doch die Masse war zu gewaltig und sie hatten wenig Zeit. Wer wusste schon, wie lange die Schlacht noch auf dem Feld vor Men-nefers zerstörten Toren weiter toben würde? Nun, da das Hindernis beseitigt war, brauchten die Männer des Feindes sich nur noch einen Weg an den ägyptischen Truppen vorbei zu bahnen oder sie zurück zu drängen, um in die Stadt einfallen zu können. Risha sank auf die Knie und begann, kleinere Felsen zur Seite zu hieven. Die Freunde des Pharao und auch die restlichen Personen, die auf der Mauer gestanden hatten, konnten nicht tief verschüttet sein, immerhin war der Stein unter ihren Füßen weg gebrochen. Zudem waren sie alle nicht weit voneinander entfernt gewesen, was den Kreis weiter einschränkte. Plötzlich hielt Risha inne. War da soeben ein Stöhnen gewesen? Angespannt lauschte sie, versuchte die Schreie der Umgebung auszublenden. Und ja, tatsächlich! Da war es wieder gewesen. Sie horchte genauer hin, versuchte, den Laut nicht mehr zu verlieren. Schließlich folgte sie ihm, bis sie glaubte, die Quelle erreicht zu haben. Hektisch schob sie den Schutt beiseite, hob Felsbrocken an und warf sie weg. Dann fand sie wirklich den Ursprung des Geräusches. Doch die Erleichterung blieb aus. Denn was sie freigelegt hatte, war eine Hand, an der ein einzelner Ring glänzte. Sie kannte dieses Schmuckstück und wusste, zu wem es gehörte – Keiro. Sie ballte die Finger zur Faust. Unter all den Menschen, die sie gehofft hatte zu finden, stieß sie ausgerechnet auf ihn. Den Verräter ohnegleichen … Ein Gedanke schlich sich in ihren Kopf und zauberte für einen kurzen Moment ein bestialisches Lächeln auf ihre Züge. Sie griff nach dem Stein, den sie zur Seite gelegt hatte und platzierte ihn wieder an der Stelle, wo sie ihn gefunden hatte. Sollte er doch verrecken … das Relikt würden sie auch später noch bergen können. Caesian wusste ja nicht einmal, dass es hier war, sie ging also kein Risiko ein. Zu viel hatte Keiro ihr angetan, als dass sie sich ihm gegenüber noch irgendwie verbunden fühlen könnte, obgleich sie vom selben Blut waren. Zu oft schon hatte er ihr gesagt, dass er sie töten wollte. Aber dazu würde er keine Chance mehr bekommen. Plötzlich wurde sie von einem Ruf aus den Gedanken gerissen. Jemand rief ihren Namen. Und sie kannte die Stimmen. Die eine gehörte ihrem Bruder, ganz eindeutig. Die andere... Bakura. In ihrem Kopf überschlug sich alles. Was hatte er ihr getan? Nichts. Stand es ihr wirklich zu, über Keiros Leben zu entscheiden? Ja, sie hasste ihn und wünschte ihm nichts sehnlicher, als dass er endlich aus dem Leben scheiden möge. Doch war es gerecht, damit auch ihren anderen Cousin ins Unglück zu stoßen? Sie wusste zu wenig über die Beziehung der Brüder, um beurteilen zu können, wie schwer Bakura der Verlust seines Fleisches und Blutes treffen würde. Zähne knirschend traf sie eine Entscheidung. „Sei froh, dass ich nicht so bin wie du … “, murmelte sie, dann begann sie, Keiro vom Schutt zu befreien und zugleich auf die Rufe ihres Bruders zu antworten. Bald schälte sich dessen Gestalt aus dem Nebelschleier, der vom Dreck herrührte. „Bei den Göttern, ist alles in Ordnung?“, fragte er sogleich und sank neben ihr auf die Knie. „Mir geht’s blendend, aber ich könnte ein wenig Hilfe gebrauchen. Ich hab' da was gefunden … “, erklärte Risha mit einem Fingerzeig auf die Stelle, wo soeben Keiros Kopf zum Vorschein gekommen war. Der Blick, den sie daraufhin erntete, schwankte zwischen schierem Entsetzen und Fassungslosigkeit. Zudem lag Verwirrung darin. „Kann es sein, dass du vielleicht doch irgendetwas auf den Kopf bekommen hast? Seit wann scherst du dich um ihn? Sag bloß, du hast doch noch gelernt, was Nächstenliebe und Vergebung sind!“ „Völliger Blödsinn“, zischte Risha. „Und jetzt Schnauze!“, fügte sie drohend hinzu, als sie nun auch den Grabräuber ausfindig machen konnte, der sich ihnen näherte. Warum bin eigentlich ausgerechnet ich mit solchen familiären Verhältnissen gestraft?, schoss es ihr durch den Kopf, während sie seufzend zum Himmel aufsah. Da zerrissen plötzlich von Angst erfüllte Schreie die Luft. Augenblicklich wollte Risha aufspringen, doch ihr Bruder hielt sie zurück. „Du bleibst und hilfst deinem einen Cousin, deinen anderen Cousin auszugraben. Ich kümmere mich darum.“ Dann war der Schattentänzer auch schon verwunden, seine Silhouette vom Dunst verschluckt. Immer wieder geriet er ins Taumeln, wenn der Staub unter seinen Füßen nachgab. Er irrte mehr oder weniger ziellos umher, orientierte sich alleine an den Rufen, die seiner Meinung nach vom Rande des Schlachtfeldes herüber wehten. Ihm war klar, was dort vor sich gehen musste. Die Stadt war nun schutzlos. Caesians Männer würden nicht lange zögern und angreifen. Er dankte den Göttern, als er vor sich zwei Gestalten ausmachen und feststellen konnte, dass er wohl nicht der Einzige mit diesem Gedanken gewesen war. Als er näher trat, erkannte er Yugi und Joey, die mit ihren Bestien bereits versuchten, den Feind am überqueren der Mauer – oder viel mehr ihrer Reste – zu hindern. Doch ihr eingeschränktes Sichtfeld machte die Lage nicht gerade einfacher. Zumal es äußerst schwer war, Gegner von ägyptischem Soldat zu unterscheiden, die sich nun in die Stadt zurück zogen. „Alles in Ordnung bei euch?“, machte Riell schließlich auf sich aufmerksam und stellte sich an ihre Seite. „Ja, uns geht’s gut. Dank Rotauge. Der Junge war schnell genug, um Yugi und mich vor dem Sturz aufzufangen. Wie sieht es bei dir aus? Wo sind die anderen?“, fragte Joey sogleich. „Ich habe bisher nur meine Schwester und ihre Verwandtschaft getroffen. Keine Ahnung, wo der Rest ist“, erwiderte Riell. „Verdammt … “, gab der Blonde Zähne knirschend von sich. „Keine Spur von Tea, Marik oder Ryou? Was ist mit Atemu?“ „Letzteren habe ich kurz gesehen. Er scheint nicht schwer verletzt zu sein, aber es sah aus, als wäre er geschockt. Er reagiert nicht, wenn man ihn anspricht“, erklärte der Schattentänzer. „Vielleicht sollte einer von euch versuchen, zu ihm vorzudringen. Immerhin kennt ihr ihn bedeutend länger, als es bei mir der Fall ist.“ „Das mache ich!“, gab Yugi zurück. „Schafft ihr es, hier die Stellung zu halten?“ „Klar Alter, geh schon!“, antwortete Joey. „Und wenn du dabei bist, halte Ausschau nach Tea und den anderen. Diese Ungewissheit macht mich völlig wahnsinnig.“ „Okay“, meinte der Kleinste noch, dann eilte er auch schon davon. Riell und der Blonde aus dem 21. Jahrhundert blieben alleine zurück – zumindest bis sich zwei Schatten vom Firmament senkten. Es waren Anwaar und Cheron. „Habt ihr irgendetwas gesehen?“, rief ihnen der Schattentänzer schon von Weitem zu. Beide Kreaturen hielten ein Stück vor dem Boden in der Luft inne. Der gewaltige, golden geschuppte Drache nickte. „Caesians Männer sammeln sich auf dem Schlachtfeld. Es kann nicht mehr lange dauern, dann werden sie zum finalen Schlag ausholen. Es scheint, als warteten sie lediglich, bis der Staub sich etwas lichtet.“ „Und wir werden sie zurück werfen!“, kommentierte Joey siegessicher. „Dein Optimismus ist verblüffend, Junge. Doch er sollte deinen Blick nicht verschleiern“, entgegnete der Pegasus. „Es sieht nicht gut aus. Viele ägyptische Krieger, die direkt vor den Toren fochten, wurden von den Trümmern erschlagen. Auch einige Mitglieder unseres Clans sind unter den Opfern. Gewiss hat es auch Caesians Männer erwischt, doch durch die Tränen der Nephthys wird dieser Umstand ihren Herren wenig beeindrucken.“ „Das hatte ich beinahe befürchtet“, seufzte Riell. „Aber wir werden das Beste daraus machen müssen! Aufgeben kommt nicht in Frage. Cheron, Risha ist irgendwo dort hinten“, fuhr er fort und deutete in die Richtung. Zur Antwort bekam er ein Nicken, dann erhob sich das geflügelte Pferd etwas höher in die Luft und verschwand. Dann wandte sich der Schattentänzer an Joey. „Und wir beide schauen mal, ob es uns gelingt, hier ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen.“ „Aber Anwaar meinte doch soeben, dass Caesian nicht angreifen wird, solange der Staub in der Luft hängt. Helfen wir ihm nicht, wenn wir für klare Sicht sorgen?“, gab der Blonde zu bedenken. „Vielleicht. Aber auch wir haben kaum Handlungsspielraum, solange wir blind sind.“ Stöhnend öffnete Ryou die Augen. Nur, um sie gleich wieder zu schließen. Der Staub wäre beinahe über seine Wimpern gekommen und hätte seinen Blick verschleiert. Schlagartig kehrten damit die Erinnerungen zurück. Er war wohl nur kurz bewusstlos gewesen, das sagte ihm zumindest sein Gefühl. Rasch stemmte er sich hoch. Sein Kopf pochte, doch wie er durch eine Berührung am Schädel feststellte, würde er mit einer großen Beule davon kommen. Und einigen blauen Flecken, die auf seiner blassen Haut sicherlich gut zur Geltung kamen … Gerade wollte er sich vollends aufrichten, da erschütterte auf einmal etwas den Boden. Er fiel zurück auf die Knie, sah sich ängstlich um. Was war das? Und warum fühlte es sich an, als würde sich die Quelle der Erschütterung nähern? Die Antwort sollte er nur einen Augenaufschlag später bekommen. Er erkannte gerade noch die Silhouette, die sich aus dem Staub schälte, dann presste er schnell die Lider aufeinander, damit der Speichel von Shiruba lediglich sein Gesicht benetzte. Immer wieder leckte ihn die raue Zunge ab, bis er die Kiefer der Bestie zu fassen bekam und sie von sich schieben konnte. „Ich freue mich ja auch, dich zu sehen!“, beteuerte er auf den enttäuschten Blick der Kreatur hin schnell. „Aber wo sind die Anderen? Was ist mit Yugi, Joey … “ „Der Junge, der aussieht wie der Pharao, und der Blondschopf sind in Sicherheit“, entgegnete Shiruba. „Außerdem der andere mit den weißen Haaren, sein Bruder und die zwei Schattentänzer.“ „Schon mal ein guter Anfang. Aber was ist mit Marik und Tea?“, erkundigte sich Ryou und kam endlich auf die Beine. Dann fiel ihm etwas ein. „Stimmt … Marlic fehlt ja auch noch“, fügte er hinzu, wobei er sich nicht sicher war, ob es ihn wirklich so sehr interessierte, wo dieser abgeblieben war. „Keine Sorge. Anubis sucht bereits nach denen, die noch nicht gefunden wurden“, erklärte Shiruba und nickte in die Richtung, wo sich ein Umriss über den Haufen aus Schutt schob. „Wir sollten uns allerdings an die Front begeben“, sprach das silberne Geschöpf weiter. „Caesian wird es nicht genügen, die Mauer in Staub verwandelt zu haben. Die Schlacht hat gerade erst begonnen.“ „Wahrscheinlich hast du recht“, stimmte Ryou zu. „Worauf warten wir dann noch?“ Im nächsten Moment entkam ihm ein erschrockener Laut, als Shirubas Schnauze plötzlich vorschoss und sich im Genick des Weißhaarigen um dessen Kleidung schloss. Ein stolzes Knurren drang aus der kräftigen Kehle, dann preschte die Bestie – mit ihrem Meister im Maul – davon. Vorbei an einem Anubis, der lediglich einen kurzen Blick für die andere Kreatur übrig hatte, ehe er wieder die Nase gen Boden richtete. Mariks Geruch wurde immer deutlicher. Er konnte nicht mehr weit entfernt sein. Dennoch verlor das schakalköpfige Wesen immer wieder die Fährte. Hier und da wurden seine Sinne von anderen Düften überlistet, die es seine Spur verlieren ließen. Zum einen war da Blut – und davon nicht gerade wenig, führte man sich vor Augen, wie viele Menschen unterhalb und auf der Mauer gestanden hatten, als sie einstürzte: Die Soldaten, Bogenschützen, Schattentänzer, Bürger, die hatten helfen wollen … Hinzu kam all der Staub, der sich in seine Nase fraß und ihn immer wieder niesen ließ. Da schnellte sein Kopf plötzlich herum. Hatte er sich das nur eingebildet? Oder konnte es wirklich sein? Angespannt lauschte das Geschöpf, spitzte die Ohren, drehte sie in alle erdenklichen Richtungen, damit ihm auch ja nichts entging. Einen Augenblick darauf stellte sich heraus, dass es sich nicht getäuscht hatte. Mit gewaltigen Sätzen näherte sich der riesige Schakal der Stelle, von der die Geräusche ausgingen. Sie war dominiert von einem einzigen, großen Felsbrocken, der alles andere überragte. Und genau unter diesem schien die Quelle der Laute zu liegen. „Marik? Bist du das?“, grollte die tiefe Stimme des beschworenen Ungeheuers, als es Witterung aufnahm und nun ganz deutlich den Geruch seines Meisters in der Nase hatte. „Ja! Ich bin hier unten! Mir geht es gut, ich bin in einem Hohlraum gelandet! Aber ich bekomme den Stein nicht weg!“, erwiderte eine gedämpfte Stimme. „Kannst du ihn irgendwie beiseite schieben? Möglichst ohne mir irgendwelche Knochen zu brechen oder mich zu zerquetschen?“ Schon beinahe empört schnellte Anubis Kopf zurück. „Was soll das heißen?“ „Nichts, nichts!“, kam es rasch als Antwort. Obgleich dem jungen Ägypter ganz genau bewusst war, warum er das gesagt hatte. Er hatte dieses Wesen nun schon zur Genüge im Kampf erlebt, um feststellen zu können, dass es nicht viel Ahnung von Feinmotorik zu haben schien. „Kannst du mich jetzt bitte einfach hier rausholen? Ich ersticke gleich!“ „Kein Problem! Du kannst dich auf mich verlassen!“, entgegnete Anubis noch, dann konnte Marik hören, wie er sich rasch entfernte. Suchte er etwa nach einer Möglichkeit, ihn so sicher es ging zu befreien? Oder was hatte die Kreatur sonst vor? Eigentlich hatte er erwartet, dass der große Schakal das Trümmerstück einfach packen und hochheben würde – und das dann so, dass der junge Ägypter nicht gleich von den seitlich weg rutschenden Geröllmassen erdrückt wurde – aber anscheinend hatte er sich da getäuscht. Vielleicht hatte sein Einwurf dem Biest ja doch zu denken gegeben … Diese Hoffnung löste sich jedoch prompt in Luft auf, als er trampelnde Schritte hörte, die sich mit wahnsinniger Geschwindigkeit näherten. Staub rieselte in Mariks Augen, als er schützend die Hände vor das Gesicht schlug. Im nächsten Moment ein lautes Krachen, als Anubis mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, gegen den Brocken rannte, um ihn von seinem angestammten Platz zu stoßen. Was der Ägypter, der nun eigentlich befreit war, zunächst gar nicht mit bekam. Erst, als die erwarteten Schmerzen gänzlich ausblieben – und das über eine längere Zeitspanne hinweg – öffnete er ungläubig die Augen und sah direkt in das Gesicht seiner Ka-Bestie, die mit vor Stolz geschwellter Brust neben ihm am Boden saß. Etwas, das wohl ein Grinsen sein sollte, lag auf den Zügen des Schakalgesichts. Für einen kurzen Moment war Marik noch vollkommen fassungslos, dann setzte er sich ruckartig auf. „Was sollte das? Du hättest mich umbringen können!“ „Wieso?“, entgegnete Anubis und zuckte mit den Schultern. „Hat doch funktioniert.“ Kurz überlegte der Ägypter, ob er darauf wirklich eine Antwort geben sollte und entschied sich dann dagegen. Seufzend legte er den Kopf auf die Knie und schüttelte den Dreck aus seinem Haar, klopfte ihn sich schließlich auch vom Körper. „Wo ist der Rest?“, erkundigte er sich dabei. „Die meisten sind schon ausgegraben. Sie haben Aufstellung bezogen, für den Fall, dass Caesian angreift. Allerdings fehlt noch dieser Kerl, der dir so ähnlich sieht.“ „Nicht so wichtig“, entgegnete Marik und kam auf die Beine. „Lass uns zu den Anderen gehen.“ Doch kaum hatte er einen Schritt getan, blieb er auch schon wieder wie angewurzelt stehen. Grund dafür war der plötzliche Knall, der hinter ihm ertönte, sowie der Schutt, der auf ihn nieder prasselte. Als er herum schnellte, erkannte er auch den Auslöser für das unerwartete Geräusch und den Regen aus Dreck. Des Gardius hatte die Steine, die ihn begraben hatten, von sich geschleudert und entstieg den Trümmern. Doch nicht nur das Biest alleine, sondern auch seine Zwillingsseele kam zum Vorschein. Ihre Blicke trafen sich und Marlic zog eine Augenbraue nach oben. „Ach … du auch hier?“, meinte er wenig einfallsreich, wohl, um irgendetwas zu sagen – egal was. Marik wandte sich jedoch einfach ab und ging in die Richtung davon, die er auch zuvor schon hatte einschlagen wollen. „Mal wieder zu früh gefreut … “, seufzte er dabei. „Verdammter Mist … “, knurrte Risha, um deren Schultern Keiros rechter Arm lag, während Bakura ihn auf der anderen Seite stützte. Noch immer war der Zwilling des Grabräubers bewusstlos. „Er muss zugenommen haben … “ „Seitdem ich ihn das letzte Mal gesehen habe, ganz bestimmt … “, entgegnete Bakura ächzend. Immerhin war das gute 17 Jahre her. Doch eigentlich war es weniger Keiros Gewicht, als viel mehr die Tatsache, dass sie ihn über ein Geröllfeld schleppen mussten, die es so beschwerlich machte, ihn fort zu schaffen. Hinzu kam, dass er wie ein nasser Leinensack zwischen ihnen hing. Sie konnten von Glück reden, dass sich Shadara zurück gezogen hatte. So hatte auch Diabound bereits an die Front zurückkehren können, während sein Träger damit beschäftigt war, seinen Bruder in Richtung Stadtkern zu schleifen – heraus aus der gefährlichen Zone, wenn man so wollte. Inzwischen war der Wind heftiger geworden, was von den Schwingen Anwaars und Rotauges herrührte, die so versuchten, den Staub zu vertreiben. Als sie letztendlich die Trümmer hinter sich gelassen hatten, war der Dunst bereits deutlich dünner geworden, sodass sie gleich erkannten, wer ihnen da vom Stadtinneren her aufgeregt entgegen gerannt kam. Es war Mana, mit Seto an ihrer Seite, der sich wohl ebenso hatte retten können. Immer wieder rief er im Laufen den Soldaten Befehle zu, die beim Zusammenbruch der Mauer im Inneren der Stadt gewesen waren und nun im Geröll nach Überlebenden suchten. Die Miene der Magierin verriet, dass ihr Sturz von der Stadtumgrenzung seinen Tribut gefordert hatte. Doch sie versuchte, den Schmerz auszublenden. Sie durfte nicht schlapp machen, dafür war jetzt alles andere als der richtige Zeitpunkt! Als sie im Begriff war, an der Schattentänzerin und ihrem Cousin vorüber zu eilen, hielt sie auf einmal inne. „Habt ihr Atemu gesehen?“, fragte sie gehetzt. „Was ist mit ihm?“, fügte sie hinzu, als sie Keiro erkannte, der noch immer ohnmächtig war. „Keine Sorge, der wird wieder“, entgegnete Risha und verkniff sich den Zusatz 'leider'. „Euer König hockt irgendwo da hinten“, fuhr sie mit einem Nicken in besagte Richtung fort. „Scheint nicht viel abbekommen zu haben, aber sieht ziemlich schockiert aus.“ „Gut“, befand Seto erleichtert. „Bringt den da zum Palast. Sieht nicht so aus, als wäre er uns noch von Nutzen.“ Ein Knurren von Seiten Bakuras war zu vernehmen. „Du wirst gleich nutzlos sein, wenn du nicht aufpasst, was du sagst.“ „Hat da etwa jemand seinen Beschützerinstinkt entdeckt?“, höhnte der Hohepriester. „Bei den Göttern, Schnauze jetzt!“, ging Risha dazwischen, ehe sie sich an ihren Cousin wandte. „Jetzt lass ihn uns abliefern und dann zurück an die Front. Streiten könnt ihr später immer noch.“ Mit diesen Worten setzte sie sich in Bewegung, zog somit Keiro und auch Bakura mit sich, der Seto noch einmal einen bösen Blick zuwarf und sich mental notierte, auf diese Diskussion zurück zu kommen. Beschützerinstinkt … natürlich! Keiro war eben sein Bruder, verdammt. Dass er ihn, da er wohl gemerkt bewusstlos war, aus der Gefahrenzone schaffte, hatte doch nichts mit 'beschützen', nichts mit Gefühlen zu tun! Das war pure Logik und absolut natürliches, instinktives Verhalten! Keine Gefühlssache! Nachdem sie sich ein Stück weit entfernt hatten, sodass sie außerhalb der Hörweite des Hohepriesters waren, warf er Risha kurz einen prüfenden Blick zu, ehe er sprach, wobei seine Stimme einem Zischen glich. „Du hättest mir ruhig beipflichten können! Er ist alt genug, ich brauche ihn nicht zu schützen und deswegen tue ich das hier auch nicht! Bescheuerter Gottesanbeter! Denkt wieder in die völlig falsche Richtung und glaubt, er habe recht. Außerdem – und das kannst du dir für die Zukunft hinter die Ohren schreiben – lasse ich mir von niemanden sagen, wann ich zu schweigen habe, klar?“ Der Kopf der Schattentänzerin schnellte herum. Für einen Moment sah sie den Grabräuber beinahe fassungslos an, dann blieb sie wie angewurzelt stehen – nur um im nächsten Moment ohne Vorwarnung Keiros Arm von ihrer Schulter zu stoßen. So kam es, dass dieser wie ein vollgesogener Sack zu Boden ging und Bakura mit sich zog. Dieser fand sich verdutzt im Staub wieder, erlangte seine Fassung jedoch gleich zurück. „Was sollte das denn werden? Hast du sie noch alle?“ „Ich schon, aber du offenbar nicht!“, schnauzte Risha in ähnlich aggressivem Tonfall zurück. Der letzte Faden Geduld, den sie soeben noch gehabt hatte, war gerissen. „Man, du hast vielleicht Probleme! Da steht ein selbst ernannter Herrscher vor den Toren und will sich die Artefakte unter den Nagel reißen und du hast nichts besseres zu tun, als auf die Provokationen eines verdammten Hofmitglieds einzugehen und dich über Kleinigkeiten aufzuregen! Wenn hier irgendjemand ein Problem damit haben sollte, dass ihm gesagt wird, er würde Keiro beschützen, dann bin ja wohl ich das! Immerhin hat er mir die letzten Sommer den Tod an den Hals gewünscht, nicht dir! Was ist so schlimm daran, wenn du ihn vor größerem Unheil bewahrst, dass du herum schreist, du würdest es nicht tun? Er ist immerhin dein Bruder, da ist das völlig normal! Bei Sachmet, ich hätte ihn einfach verrecken lassen sollen, dann bliebe mir jetzt dein kindisches Getue erspart!“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und rauschte davon. Nie hätte sie gedacht, dass es irgendwann in ihrem Leben einmal Bakura sein könnte, der sie zur Weißglut trieb. Aber diese Hürde hatte er soeben erfolgreich gemeistert. Sie fragte sich wirklich, wie Keiro auf die Idee kam, sie habe nicht mehr alle Zacken an der Krone! Ganz offensichtlich war es doch der 'König der Diebe', wie er sich nannte, bei dem irgendetwas gravierend kaputt war! Plötzlich seufzte sie genervt. Eigentlich war die Frage hier doch eher, bei wem ihrer Verwandten nichts kaputt war. Mit einem Fluch auf den Lippen stapfte sie zurück zu Cheron und ließ Bakura alleine zurück, der ihr entgeistert und zugleich wütend hinterher starrte. Was bildete sich dieses Weib eigentlich ein, so mit ihm zu sprechen? Erstens sprach niemand so mit ihm. Zweitens war er ihr Cousin – was glaubte sie also, wer sie war, solch einen Ton anschlagen zu können? Drittens war sie jünger als er – ganze zwei Sommer – und hatte ihn verdammt nochmal zu respektieren! Viertens war sie, wie bereits festgestellt, eine Frau und Frauen hatten gegenüber einem Mann erst recht nichts zu melden! Er hatte eben ein Problem damit, dass der Hohepriester ihm diese Unterstellung machte, er würde seinen Bruder beschützen, und Punkt. Und auch, wenn er ihr eigentlich keine Rechenschaft schuldig war, so hatte er dennoch gute Gründe für diese Anwandlung. Nämlich … Ja … welche eigentlich? Yugi hetzte durch den Staub. Immer wieder sah er sich suchend um, doch er fand Atemu nicht. Wo war er nur? Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als er plötzlich etwas hörte. „Hilfe! Ist da irgendjemand? Hallo!“ Er erkannte die Stimme sofort. „Tea! Tea, wo bist du?“ „Ich bin hier! Yugi, bist du das? Bitte, hol mich hier raus!“ Er folgte den Schreien. Schließlich stieß er auf eine Vertiefung in dem ganzen Schutt. Als er hinunter blickte, entdeckte er seine Freundin. „Tea! Geht es dir gut?“, rief er besorgt, während er zu ihr hinab rutschte. „Mir fehlt nichts. Aber mein Bein ist eingeklemmt, ich bekomme es einfach nicht los“, erwiderte die junge Frau und versuchte erneut, sich zu befreien. „Die Feuerprinzessin habe ich schon zurück an die Front geschickt. Auch sie konnte mir nicht helfen. Die Steine sind zu schwer.“ „Keine Sorge, wir finden einen Weg“, versicherte der Kleinere. Er wünschte, er wäre dazu in der Lage, sich ebenfalls gedanklich mit seiner Ka-Bestie zu verständigen. Aber da dies nicht möglich war und er vermutete, dass sie mit den feindlichen Kriegern genug zu tun hatte, musste er eben ohne sie eine Lösung finden. „Ich bin gleich wieder da“, sagte er zu Tea. „Ich suche nach etwas, das uns helfen kann, dich da raus zu holen.“ Die Brünette nickte. „Aber beeil' dich. Die anderen brauchen bestimmt jede Hilfe, die sie kriegen können!“ Yugi verließ die Vertiefung und hastete über den Schutt. Direkt nach der Mauer hatten bereits die ersten Häuser der Stadt gestanden, von denen nun nur noch Trümmer übrig waren. Es musste also noch etwas anderes geben, als nur Stein und Staub … Er hielt inne, als er etwas entdeckte, das aus dem Chaos heraus ragte. Schnell eilte er dorthin. Es handelte sich um einen dünnen Balken, der wohl einmal das Dach einer Behausung gestützt hatte – genau das, was er jetzt brauchen konnte. Er befreite das Holz aus den Trümmern und stemmte es sich auf die Schulter. Es war schmal genug, um es zwischen die Steine zu schieben, die Teas Bein umklammert hielten, und zugleich ausreichend stark, um nicht gleich zu brechen. Er zog es zu der Stelle zurück, an der seine Sandkastenfreundin wartete. Dann ließ er zuerst den Balken in die Grube hinab, ehe auch er hinunter stieg. „Hoffentlich funktioniert das“, sagte die Brünette, während sie das Holz musterte. „Einen Versuch ist es wert“, entgegnete Yugi, während er den dünnen Dachbalken zwischen die Steine schob und das andere Ende anschließend auf einem Felsbrocken abstützte, um die nötige Hebelwirkung erzielen zu können. „Tut das weh?“ „Nein, nein. Meinem Bein selbst fehlt nichts. Aber da ist irgendwo ein Trümmerteil, das mich daran hindert, den Fuß heraus zu ziehen.“ „Okay. Kannst du vielleicht mit anpacken? Gemeinsam schaffen wir es bestimmt“, erkundigte sich der junge Mann. Die beiden umklammerten das freie Ende des Balkens, dann trafen sich ihre Blicke. „Auf drei?“, fragte Yugi, woraufhin Tea nur bestätigend nickte. „Gut. Dann: Eins. Zwei. Drei!“ Zusammen zerrten und drückten sie das Holz nach unten. Nur langsam setzte die erhoffte Wirkung ein, doch das Geröll bewegte sich tatsächlich. Sofort begann Tea, ihrem Fuß irgendwie Freiraum zu verschaffen … und zog ihn schließlich heraus. Als sie den Balken los ließen, rutschte der Schutt grollend zurück an seinen Platz und füllte nun auch den Raum aus, den zuvor die Gliedmaße der jungen Frau gefüllt hatte. Die Brünette lachte vor Erleichterung. „Tausend Dank, Yugi! Ohne dich hätte ich das nicht geschafft!“ „Ach, nicht der Rede wert“, erwiderte der Kleinere und kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Sowas tut man doch für Freunde.“ „Aber sag mal, was hat dich eigentlich hier her geführt? Hättest du nicht am Schlachtfeld sein sollen?“ „Ja, eigentlich schon. Aber Riell hat mir von Atemu erzählt. Ihm geht es gut, er ist nicht verschüttet worden. Doch er scheint nicht zu reagieren, wenn man ihn anspricht und sitzt hier irgendwo in den Trümmern. Vielleicht steht er unter Schock. Ich muss ihn finden.“ „Dann nichts wie los! Ich helfe dir!“, sagte Tea und richtete sich schnell auf. Gemeinsam verließen sie den Krater und setzten die Suche nach dem Pharao fort. Sie irrten durch den Dunst, der sich allmählich zu legen begann. Dennoch brannten ihre Augen vom Staub. Immer wieder rutschte der Schutt unter ihren Füßen weg, sodass sie ins Wanken gerieten. Dann endlich fanden sie ihn. Zuerst war er nur eine Silhouette in dem Nebelschleier, doch als sie auf ihn zueilten, wurden seine Umrisse klarer. Aus dem Laufen heraus fiel Yugi auf die Knie und rutschte einen kleinen Abhang hinab, den die Trümmer geschaffen hatten. Er schürfte sich die Haut auf, doch ignoriert es. Der Anblick, den der Pharao bot, bereitete ihm höchste Sorge. Noch immer starrte er stur ins Leere, die Augen glasig in die Ferne gerichtet. Es schien, als habe er gar nicht wahrgenommen, wie Yugi an seine Seite gekommen war. Tea folgte etwas vorsichtiger, als ihr Sandkastenfreund. Doch auch sie erkannte sofort, dass mit dem Herrscher Ägyptens etwas nicht stimmte. Der Kleinere überlegte, ob er ihn direkt ansprechen sollte. Er konnte verstehen, dass Atemu geschockt war. Caesians war es gelungen, ihnen einen empfindlichen Schlag zu versetzen. Er war so weit gekommen, wie niemand vor ihm. Zudem war gewiss, dass Soldaten und Bürger unter den Felsbrocken begraben worden waren und wohl ihr Leben verloren hatten. Doch der Kampf war noch längst nicht vorbei. Einige mochten erschlagen worden sein, was ganz sicher sehr schlimm war. Doch da waren noch andere, die darauf hoffen, gerettet zu werden – und zwar von ihm. „Hey, Atemu“, sagte er schließlich vorsichtig und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Augenblicklich zuckte der Kopf des Königs herum. Noch immer völlig ausdruckslos starrte er nun nicht mehr auf einen fernen Punkt, sondern in Yugis Gesicht. Es war beinahe, als würde er durch den jungen Mann hindurch sehen. „Geht es dir gut? Bist du verletzt? Du blutest ja!“, fuhr Tea fort, doch auch sie erhielt keine Antwort. Ein genauer Blick verriet ihr allerdings, dass dem Pharao nichts zu fehlen schien. Lediglich eine Platzwunde am Kopf, soweit sie das beurteilen konnte. „Hör zu … “, setzte nun wieder Yugi an. „Du musst aufstehen. Caesians Truppen können jeden Moment heran stürmen, dann brauchen wir deine Hilfe.“ Noch einen Moment blieb er still, dann wiederholte Atemu die Worte seines Freundes. „Meine Hilfe?“, flüsterte er und wandte den Blick ab. Er konnte sehen, wie zwei Soldaten eine Frau aus den Trümmern zogen, die wohl an der Mauer gestanden hatte, als sie zusammen gebrochen war. Ihr Körper war regungslos, Blut bedeckte das ganze Gesicht. Sie war mit Sicherheit tot. „Mich braucht hier niemand“, sagte er schließlich. „Ich habe schon jetzt versagt. Ich kann und konnte diese Menschen nicht schützen. Wir könnten alle tot sein.“ Die Worte ließen Yugi schlucken. „Aber Atemu … da sind noch andere. Und die brauchen deine Hilfe. Mich eingeschlossen.“ „Verstehst du es nicht? Er hat bereits gewonnen … “ „Nein, das hat er nicht!“ Yugi war selbst überrascht darüber, dass er geschrien hatte. Tea musterte ihn überrascht, doch nicht böse. Auch er vermochte von Tag zu Tag weniger, seine Nerven zu bewahren. Das Letzte, was sie nun gebrauchen konnten, war ein Pharao, den der Mut verlassen hatte. Denn wenn dem so war, dann konnten sie gleich kapitulieren – und das würde Yugi auf keinen Fall zulassen. „Ja, es sind Menschen gestorben und das ist etwas, was dich traurig machen darf. Aber da sind doch noch andere Leute! Menschen, die Angst haben und ihre ganze Hoffnung in dich setzen! Sie brauchen dich, siehst du das nicht? Wenn du jetzt aufgibst, dann, und nur dann, hat Caesian gewonnen! Noch mehr Menschen werden sterben, wenn du nichts tust! Die Toten kannst du nicht mehr zurück holen, aber du kannst die vor dem gleichen Schicksal bewahren, die dir vertrauen und zu dir aufblicken!“ Sie sahen sich einfach nur an. Starrten in die Augen des jeweils anderen. Dann hob Yugi die Hand. „Los, komm mit mir. Ich werde dir helfen, wo ich kann. Tea ebenso und die anderen auch. Es sind nicht nur die Bürger Men-nefers, die dich jetzt brauchen. Da sind wir, die Schattentänzer und all die Leute, die der Krieg noch betreffen wird, wenn wir hier nichts tun.“ Atemus Blick senkte sich, blieb an der Hand des Anderen hängen. Dann sah er kurz zu Tea. Allmählich verflüchtigte sich die Leere, die ihn eingehüllt hatte. Denn Yugi hatte vollkommen recht. Selbst, wenn er hier aufgab, würde er die Verstorbenen dadurch nicht zurück bringen oder das bereits verursachte Leid verhindern. Es gab nur eines, das er jetzt tun konnte. Und das war kämpfen. Für einen Moment schloss er die Lider und atmete tief durch. Dann öffnete er sie wieder und ergriff bestimmt die Finger, die sich ihm entgegen streckten, ließ sich von seinem Partner auf die Beine ziehen. „Lasst uns gehen“, sagte er. „Es tut mir leid, dass ich euch solche Mühe bereitet habe. Aber du hast absolut recht, Yugi. Wir kämpfen – für die Zukunft ganz Ägyptens!“ Es hatte begonnen. Immer wieder schossen die Ka-Bestien vom Himmel herab oder feuerten Angriffe in die Menge, die wie aus dem Nichts dem entgegen strömte, was einst die Mauer Men-nefers gewesen war. Sie hatten den Sturm begonnen, kaum dass es Anwaar und Rotauge gelungen war, den Staub zu vertreiben. Seto hatte zuvor bereits Befehl gegeben, die Truppen, die vor den Toren standen, hinter den Wall aus Schutt zurück zu ziehen, um die Stadt verteidigen zu können – wenn sie das aus Angst nicht bereits selbst getan hatten. Nun standen sie sich auf den Trümmern gegenüber. Sie hatten alle Mühe, den Feind zurück zu halten. „Weißer Drache! Lichtblitz!“ Die gewaltige Bestie brachte sich in Position, dann ging ein gleißender Strahl auf die nachrückenden Kämpfer Caesians nieder. Sie gingen zu Boden, wurden davon geschleudert oder brachten sich im allerletzten Moment in Sicherheit. Die, die noch zu einer Bewegung fähig waren, standen kurz danach wieder auf – obgleich sie hätten tot sein sollen. Doch diesmal war etwas anders. Sie schleppten sich nicht mit verstümmelten Körpern voran. Vielmehr begannen Fleisch, Haut, Muskeln, all das, was zerstört worden war, ganz plötzlich, sich zu regenerieren. Selbst jene, die die Attacke des weißen Drachen den Schädel gekostet hatte, begannen wie aus dem Nichts, sich auf zu rappeln, den Kopf wieder dort, wo er sein sollte, solange er nicht allzu weit davon geflogen war. Lediglich Verbrennungen verschwanden nicht. Mana zuckte zusammen, als sie das sah und wich instinktiv einige Schritte zurück. „Die Saat des Chnum“, meinte Riell Zähne knirschend. Sie alle wussten, wozu dieses Relikt fähig war. Doch seine Wirkung aus nächster Nähe zu beobachten, ließ sie erschaudern. Und dann noch in Kombination mit den Tränen der Nephthys … „Dafür wird er büßen!“, fügte Risha über das allgegenwärtige Tosen hinzu. „Cheron! Töte sie alle!“ „Diabound! Du auch!“ Die Schattentänzerin wirbelte herum und gewahrte Bakura, der hinzu kam. Die besagte Kreatur sah sich kurz nach dem Grabräuber um, dann schritt sie zur Tat und schoss eine Schockwelle in die feindlichen Reihen. Erneut wirbelte Staub auf. „Na? Wieder runter gekommen?“, erkundigte sich Risha bewusst provokant, als Bakura in ihrer Nähe Aufstellung bezog. „Elende Zicke … “, murmelte er, ohne auf ihren Kommentar einzugehen. Ihm war bewusst, dass sie nämlich genau darauf hoffte. Doch diesen Spaß würde er ihr nicht gönnen. Zumindest nicht jetzt. „Mana!“, schallte Atemus Stimme über das Feld. „Geh in die innere Stadt und gib Anweisung, die Menschen in den Palast zu evakuieren! Gib mir Bescheid, wenn alles arrangiert ist!“ Die Magierin verschwand augenblicklich, ohne weitere Fragen zu stellen. Diese kamen an ihrer Stelle von Seto. „Was habt ihr vor, mein König?“ „Ich habe eine Idee. Der Palast ist das Herz der Stadt. Caesian will ihn und genau das müssen wir verhindern! Solange er nicht sein ist, hat er nicht gesiegt. Sobald alle in die hinteren Teile des Gebäudes gebracht wurden, werden wir uns zurück fallen lassen. Die Straßen Men-nefers werden unser Schlachtfeld sein! Dadurch haben wir einen Heimvorteil. Sollte dies scheitern, so flüchten wir in den Palast und verschanzen uns darin. Das Königshaus ist ein regelrechtes Labyrinth, es dürfte uns zum Vorteil gereichen.“ „Aber was, wenn er dann einfach den Palast angreift und zum Einstürzen bringt?“, wandte Tea zwischen zwei Befehlen an die Feuerprinzessin ein. „Das wird er nicht“, entgegnete Marlic. „Dieser Kerl beschränkt sich auf Weltliches.“ „Da muss ich ihm ausnahmsweise recht geben“, fügte Marik hinzu. „Er will sich vermutlich selbst auf dem Thron sehen. Und das ist nun einmal nicht möglich, wenn er einfach alles kurz und klein schlägt. Die Stadt mag ihm nichts bedeuten – aber im Palast möchte er selbst heimisch werden, um zu zeigen, dass er gewonnen hat.“ Der Kampf setzte sich derweil immer weiter fort. Überall regierten Schreie und das Tosen von Angriffen. Nach einer gefühlten Ewigkeit hörte der Pharao endlich wieder die Stimme seiner Hofmagierin. „Majestät!“ Atemu fuhr herum und sah Mana auf sich zueilen. „Die Leute werden in die Keller gebracht. Von dort führen die Tunnel, die Yugi, Marik und die Schattentänzer bereits benutzt haben, um Resham zu befreien, aus der Stadt heraus. Ich habe sie erneut öffnen lassen. Es wird allerdings dauern, bis alle draußen sind. Ich hielt es für … “ „Richtig, ja. Eine gute Entscheidung, Mana. So bringen wir die Menschen aus dem Kreuzfeuer“, vervollständigte Atemu den Satz. „Also, ihr habt es gehört! Wir halten hier solange wie möglich die Stellung! Danach ziehen wir uns in Richtung Palast zurück und setzten sie in den Straßen der Stadt fest! Gebt den Befehl an die Truppen weiter, Seto. Sie sollen sich bereit halten!“ Unruhig schritt Samira in dem Zimmer auf und ab. Bei jedem Geräusch, das von den Mauern herüber wehte, zuckte sie zusammen und starrte hinaus. Was ging dort nur vor sich? Es war noch nicht lange her, da hatte es einen gewaltigen Schlag gegeben. Kurz darauf waren Staubwolken dort in der Luft gehangen, wo sie die Schlacht vermutete. Sie konnte nicht leugnen, dass sie Angst hatte. Ihr Blick schweifte zu Kipino und Meister Resham. Niemand sagte ein Wort, doch das war auch nicht nötig. Ihre Gesichter sprachen Bände. Sie alle schreckten kurz auf, als es an der Tür klopfte. Ein Soldat betrat den Raum. „Was geht dort draußen vor sich? Bitte, ich muss es wissen!“, fragte Sam noch ehe der Mann auch nur ein Wort sagen konnte. Der Krieger schilderte knapp die Ereignisse an den Toren. Die Augen aller Anwesenden weiteten sich bei dem Bericht. Caesian war ein empfindlicher Schlag geglückt. „Der Pharao lässt alle Zivilisten evakuieren. Ich bin gekommen, um Euch aus der Stadt zu bringen, Herr“, schloss der Kämpfer seinen Bericht schließlich, indem er sich an Resham wandte. Gespannt blickten die beiden Schattentänzer ihr Oberhaupt an. Kipino kam auf die Beine. „So lasst uns keine Zeit verlieren, Euer Hoheit … “ „Nein, mein Guter“, erwiderte der alte Mann sofort. „Ich bleibe hier. Ich werde meinen Clan, der dort ebenfalls an der Front steht, keineswegs im Stich lassen.“ Zwar lag den beiden Clanmitgliedern eine Erwiderung auf der Zunge, doch sie schluckten sie herunter. Niemand widersprach ihrem Oberhaupt. „Ich danke Euch für Eure Bemühungen, Krieger. Doch ich ziehe es vor, hier zu verweilen. Nun geht und bringt jene in Sicherheit, die Eure Hilfe dringender nötig haben, als ein verbohrter, alter Mann“, fuhr er lächelnd fort. Der Soldat nickte und verbeugte sich leicht, dann verließ er den Raum. Zur selben Zeit stemmte sich Resham in seinem Bett hoch und machte Anstalten, aufzustehen. „Meister … Was tut Ihr? Ihr seid doch noch viel zu schwach!“, fragte Samira erstaunt und besorgt. „Ich tue das Einzige, was ich noch tun kann. Ich werde helfen, Sam. Auch, wenn es vielleicht das Letzte ist, was ich für diese Welt noch tun kann...“ Die ägyptischen Truppen wurden immer weiter in die Stadt zurück gedrängt. Sie fochten mit allen Kräften, doch sie kamen einfach auf keinen grünen Zweig mehr. Atemu spürte die Atmosphäre, die über den Kämpfenden lag wie ein Leichentuch. Viele seiner Männer waren eingeschüchtert. Der schützende Wall der Stadt war zersprungen, ihr Herz lag offen. Und dennoch dachte niemand daran, sie dem Feind kampflos zu überlassen. „Wir müssen ihn irgendwie zurückschlagen!“, rief Seto seinem Cousin zu. „Es dauert nicht mehr lange, dann sind Menschen in Sicherheit. Solange müssen wir noch durchhalten!“, erwiderte Atemu. „Aber vielleicht sollten wir ihn trotzdem noch ein wenig näher kommen lassen. Wenn wir den Kampf in die engeren Stadtteile verlegen, haben unsere Soldaten einen Vorteil. Sie kennen die Gegebenheiten.“ „Das ist ein gewagter Plan“, stellte Yugi fest. „Aber er könnte durchaus gelingen. Doch was ist mit den Schattentänzern? Kennen sie sich aus?“ „Keine Sorge, Kleiner“, warf Risha zwischen zwei Befehlen an Cheron ein. „Ich habe mittlerweile aufgehört zu zählen, wie oft wir uns schon heimlich hier rein geschlichen haben.“ „Bitte was?“, war sofort Setos Reaktion, doch er wurde einfach überhört. „Sagt den Hornbläsern, sie sollen ein Zeichen geben. Wir ziehen uns weiter in die Stadt zurück!“ Der Klang der Hörner schallte über sie hinweg. Die Masse der ägyptischen Krieger begann langsam mit dem taktischen Rückzug. „Na endlich wird’s spannend!“, knurrte Risha und zückte ihre Dolche. „Was hast du vor?“, fragte Riell prompt. Sein Gesichtsausdruck verriet, dass er es sich schon beinahe denken konnte. „Wenn wir in die engeren Stadtteile zurückweichen, wird es bald keine zwei Fronten mehr geben, wie es seit dem Fall der Mauer war. Freund und Feind werden sich vermischen – eine perfekte Gelegenheit, mal wieder ein paar Kehlen durchzuschneiden“, erwiderte seine Schwester bestialisch grinsend. Dann wirbelte sie herum und verschwand in den Gassen der Stadt. „Risha! Risha, bleib hier!“, rief ihr Bruder ihr noch hinterher, da brachen die Fronten in sich zusammen. Die Krieger strömten durcheinander. Überall wurden Schreie laut. Riell kaute kurz auf seiner Unterlippe, dann zog er sein Schwert. Offenbar würde seine Schwester recht behalten. Auch, wenn ihm das nicht halb so viel Spaß machen würde, wie ihr. ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ Die Schlacht um Men-nefer geht weiter. An dieser Stelle nochmals einen herzlichen Dank an 3sakuraharuno3 für den wie immer lieben Kommentar zum letzten Kapitel! Kapitel 28: Mitten drin ----------------------- Jaja, es zieht sich im Augenblick mit den Uploads etwas hin. Aber das reale Leben und die Dinge, die mit der Uni zu tun haben, sind nun einmal wichtiger. Nun aber viel Spaß mit dem nächsten Kapitel! ~*~*~*~*~*~*~ Mitten drin Plötzlich waren die Fronten offen. Von jetzt auf gleich sahen sich Yugi und Ryou zehn bewaffneten Kriegern gegenüber, die mit Kampfschreien auf sie los gingen. Beide gaben zunächst einmal Fersengeld. Sie hetzten menschenleere Gassen entlang, schlitterten auf dem sandigen Boden um Häuserecken und fingen sich im letzten Moment, ehe sie hinfallen konnten. Ihre Ka-Bestien waren irgendwo auf dem Schlachtfeld zurück geblieben. Ein äußerst unangenehmer Umstand, wie beide gerade fanden. „Yugi … “, keuchte Ryou nach einer Weile mehr, als dass er schrie. „Die holen auf!“ „Nur nicht schlapp machen!“, erwiderte der Kleinere. „Unsere Ka-Bestien suchen uns sicher schon. Wir müssen sie nur ein wenig hinhalten … “ Die Worte blieben ihm beinahe im Hals stecken, als er plötzlich schlitternd zum Stehen kam. Sein Begleiter rannte kurz darauf in ihn hinein. „Yugi, warum … ?“ Warum er stehen geblieben war? Ganz einfach. Sie hatten sich in eine Sackgasse geflüchtet. Vor ihnen ragte eine Mauer auf, die ebenso hoch war wie die beiden Häuser, von denen sie flankiert wurde. Ihre Oberfläche war glatt – zu glatt, um eventuell daran hinauf klettern zu können. Als sie ein amüsiertes Lachen vernahmen, fuhren beide herum. Am anderen Ende der Einmündung lauerten bereits die Soldaten Caesians. Zwei von ihnen musste das Feuer einer Ka-Bestie oder eines Pfeils erwischt haben, denn sie waren vollkommen entstellt. Die anderen hingegen sahen aus, als hätten sie sich bisher noch gar nicht in die Schlacht gestürzt – was Yugi für unwahrscheinlich hielt. Anscheinend leistete die Saat des Chnum ganze Arbeit. „Ja was haben wir denn da? Zwei Halbstarke, wie mir scheint“, meinte einer von ihnen mit höhnischem Grinsen im Gesicht. „Schade, schade, dass es keine Weiber sin'“, meinte ein Anderer. „Aber was will man machen?“ „Keine Sorge, Caesian entlohnt uns schon, sobald wir die Stadt in unserer Hand haben“, protzte ein Weiterer. „Bevor das passiert, müsst ihr erst an uns vorbei“, entgegnete Yugi, wobei seine Worte nicht so selbstüberzeugt und stark klangen, wie er es sich gewünscht hätte. „Oho, der Zwerg tut auf mutig! Na warte, gleich gibst du so 'nen Kram nicht mehr von dir, wenn wir dir deine verfluchte Zunge aus'm Hals geschnitten haben!“ Ryou und sein Freund wichen immer weiter zurück, bis sie schließlich mit dem Rücken zur Mauer standen. Nun gab es kein Entkommen mehr. „Haben wir einen Plan B?“, murmelte der Weißhaarige, ohne ihre Gegner aus den Augen zu lassen, die mit gezückten Schwertern und bestialischem Grinsen auf sie zu schlichen. „Ich fürchte nein“, gab der Kleinere Zähne knirschend zu. Schließlich standen die Krieger direkt vor ihnen. Einer riss sein Schwert empor. „Sagt auf Wiedersehen!“ In diesem Moment gewahrte Ryou etwas am Ende der Gasse. Ein Lächeln schlich sich auf seine Züge. „Ja … Auf Wiedersehen!“, sagte er und hob eine Hand zum Gruß. Dann setzte er plötzlich ernst hinzu: „Runter Yugi, schnell!“ Der Angesprochene wusste gar nicht, wie ihm geschah. Auf einmal bebte der Untergrund, dann wurde er auch schon von dem Weißhaarigen zu Boden gerissen. Ein verwirrter Gesichtsausdruck sollte die letzte Miene sein, zu der die Soldaten fähig waren. Im nächsten Moment wurden sie alle von den Füßen gerissen und in die Mauer hinein geschleudert – gemeinsam mit einem fauchenden Shiruba, der sich wütend auf die Männer gestürzt hatte. Yugi und Ryou schlugen die Arme vor Augen und Mund, damit der nieder rieselnde Staub sie nicht beeinträchtigen konnte. Stücke von Putz bröckelten auf ihren Rücken herab. Sie hörten Schreie, die bald in gurgelnde Laute übergingen. Erst, als auch sie verklungen waren, wagten die beiden jungen Männer, sich vorsichtig aufzurichten. Vor ihnen stand ein offenbar äußerst zufriedener Shiruba, der wohl mit dem Schwanz gewedelt hätte, besäße er einen. Es dauerte keine paar Sekunden, da schleckte er auch schon mit seiner rauen Zunge über Ryous Gesicht. Der musste zu seiner eigenen Überraschung lachen. „Vielen Dank! Das war wirklich perfektes Timing!“, lobte er die Bestie und streichelte sie am mächtigen Kopf. Sie gab ein zufriedenes Schnurren von sich. Yugi riskierte lediglich einen knappen Blick auf die Krieger, die sie beinahe das Leben gekostet hätten. So wie die aussahen, würde auch die Saat des Chnum nicht mehr viel helfen können. Wobei … er lobte den Tag besser nicht vor dem Abend. Er hob den Kopf, als er einen Schatten wahrnahm, der sich auf sie hernieder senkte. „Chaosmagier!“, rief er erleichtert aus. „Sieht so aus, als wären wir wieder beisammen.“ „Ja“, stimmte Ryou zu. „Lass uns keine Zeit verlieren. Die anderen brauchen sicher unsere Hilfe.“ Tea rannte, so schnell sie ihre Beine tragen konnten. Die Feuerprinzessin war direkt hinter ihr und schoss immer wieder Angriffe die Straße hinab, um ihre Verfolger abzuschütteln. Doch vergeblich. Sie hatten sich ausgerechnet einen Weg ausgesucht, den extrem viele Soldaten des Feindes eingeschlagen hatten. Insgeheim war Tea froh, dass ihre Kleidung inzwischen der der Ägypterinnen entsprach. Die hohen Schuhe, die sie bei ihrer Ankunft hier getragen hatte, hätten sie in solch einer Situation wohl längst den Kopf gekostet. Ihr Blick blieb an den Häuserreihen haften, die an ihr vorüber flogen. Ihr kam plötzlich eine Idee. „Feuerprinzessin!“, rief sie. „Wenn du die Häuser zerstörst, kannst du vielleicht einen Wall schaffen, der sie daran hindert, uns zu folgen!“ Insgeheim tat ihr dieser Vorschlag leid. Die Menschen, die in den Behausungen wohnten, würden ihr Heim neu errichten müssen. Aber was hatte Atemu einmal gesagt? Häuser könnten neu errichtet werden, Menschenleben nicht. Die Zwillingsseele reagierte gleich. Sie riss ihr Zepter herum und feuerte flammende Kugeln zu beiden Seiten in die Fassaden. Das Bersten von Holz und das Krachen von Stein waren zu hören, dann stürzten sie in sich zusammen. Staub wirbelte auf, als sie donnernd auf die Straße niedergingen und den Weg versperrten. Tea blieb keuchend stehen. „Super gemacht!“, lobte sie, während sie sich mit den Händen auf den Knien abstützte, um Atem zu schöpfen. „Was könnten wir als nächstes tun? Hast du eine Idee?“ Die Ka-Bestie schien zu überlegen. „Wir könnten … “, setzte sie gerade an, als die ersten Soldaten am Kamm des Geröllhaufens auftauchten. „ … laufen!“ Tea ließ sich das nicht zweimal sagen. Die Hetzjagd begann von neuem. Ihre Taktik war völlig nach hinten losgegangen. Wobei … konnte man eine einzelne Idee als Taktik bezeichnen? Egal! Auf was für absurde Gedanken kam sie eigentlich? Sie wurde verfolgt! Von Männern, die sie töten, ihr vielleicht gar Schlimmeres als das antun wollten. Sie musste sie abschütteln und das so schnell wie möglich. Aber wie? Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als sie eine Gestalt gewahrte, die unweit am Ende der Straße stand und sich keinen Zentimeter rührte. Als sie genauer hinsah, erkannte sie Marlic. „Weg hier!“, rief sie, so laut es ihr keuchender Atem zuließ. „Sie kommen!“ Sie rannte weiter, lief an ihm vorbei und er folgte ihr … nicht? Schlitternd kam sie auf dem sandigen Boden zum Stehen und wandte sich um. Tatsächlich. Marlic rührte sich noch immer nicht. „Was hast du vor?“, fragte sie panisch. Das erschien ihr sinnvoller, als ihn daraufhin zu weisen, dass er sich in Bewegung setzen sollte. Denn sein Gesicht verriet bereits, dass er nicht im entferntesten daran dachte. „Ruhig Blut, Püppchen“, erwiderte er mit süffisantem Grinsen, dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf die heran rückenden Kämpfer. Ein kurzes Glühen, dann erschien Des Gardius neben ihm. „Der Tanz ist hiermit eröffnet!“ Wie auf's Kommando stürzte sich die Bestie in die Flut aus Soldaten. Binnen Sekunden spritzte Blut an die Hauswände und bedeckte den Boden. Marlic beobachtete das Szenario mit zufriedenem Lächeln. Es wirkte beinahe selig. „Ist das nicht schön?“, fragte er an Tea gewandt, während er Des Gardius mit einem Blick maß, der dem eines stolzen Vaters gleich kam. „Blut, Verderben und Tod. Und das schon am frühen Mittag. Einfach herrlich!“ „Ja … umwerfend … “, murmelte die Brünette mit ironischem Unterton, als sie sich zu ihm gesellte und die Feuerprinzessin ebenfalls in den Kampf schicken wollte. Doch gerade, als sie einen Befehl geben wollte, legte sich plötzlich eine Hand auf ihren Mund. Und das nicht gerade sanft. „Lass den Scheiß! Das sind meine Opfer, such dir gefälligst eigene!“, zischte Marlic. Seine Miene verriet Tea sofort, dass er diese Aussage todernst meinte. Sie wollte gerade nicken – sollte er doch das Blut an seinen Händen haben, ihr war das nur recht – da weiteten sich ihre Augen erschrocken. Sie gestikulierte wild auf einen Punkt hinter ihrem Gegenüber, doch der ging gar nicht darauf ein. „Hast du mich verstanden? Ich fragte, ob du mich verstanden hast?“, erkundigte sich Marlic stattdessen weiter. Erst, als er die Schatten zu seinen Füßen bemerkte, ließ er das Mädchen los und wirbelte herum, nur um sich drei Kriegern gegenüber zu sehen, die es an Des Gardius vorbei geschafft und ihre Beile zum Schlag erhoben hatten. Ihm blieb keine Zeit zur Reaktion. Doch diese war auch gar nicht nötig. Einer von den Männern stieß einen gurgelnden Schrei aus, als plötzlich eine Klinge seine Kehle durchbohrte. Erst danach erinnerte er sich daran, dass er ja gar nicht sterben konnte. Zumindest nicht durch solch eine Verletzung. Er und seine beiden Kumpanen fuhren herum. Vor ihnen stand eine junge Frau. Blondes Haar fiel ihr bis auf die Hüfte hinab und sie blickte angriffslustig drein, zwei weitere Dolche in Händen haltend. Doch was viel wichtiger war: An ihrem Gürtel hing ein göttliches Relikt! „Sucht euch gefälligst jemanden, der sich wehren kann!“, tadelte Risha grinsend. Die Krieger kamen der Aufforderung ohne Umschweife nach. Der Verwundete riss die Klinge aus seinem Hals und umklammerte seine Waffe fester. Ihre Äxte erhoben, stürzten sie alle zugleich auf sie zu. Die Schattentänzerin ließ den ersten Hieb kommen, sodass sie sich unter ihm hindurch ducken konnte. Im selben Zug durchtrennte sie dem Mann Fleisch und Muskeln der Beine. Brüllend ging er zu Boden. Es würde einen Moment dauern, ehe sich die Wunden schlossen. Eine Rolle vorwärts brachte sie wieder auf die Beine, gerade rechtzeitig, um den Schlag zu parieren, der sie hätte treffen sollen. Sie trat ihrem Angreifer in den Bauch, sodass er rücklings in seinen Kameraden krachte. Diesen Moment der fehlenden Deckung nutzte Risha und sprang nach vorne. Erst schlug sie dem einen Soldaten den Schädel ab, dann fand ihr Dolch auch den Weg in den Hals des Nächsten. Doch er blieb auf halben Weg stecken. Sie fluchte kurz und drückte den Kerl zu Boden. Dann holte sie mit dem Fuß aus und trat auf den Knauf der Waffe, um die nötige Kraft aufzubringen, sodass sich auch sein Haupt vom Körper trennte. Da hörte sie bereits die Schritte des Dritten hinter sich. Sie machte einen Salto rückwärts, sodass sie direkt vor ihm landete, wirbelte herum und rammte ihm den Dolch in den Bauch. Den Augenblick des Schmerzes nutzte sie, um ihm die andere Klinge in den Schädel zu stoßen. Erst, als er am Boden lag, kümmerte sie sich darum, dass er vorerst nicht mehr aufstehen würde. Auch er wurde kopflos. Keuchend richtete sich auf und sah sich um. Des Gardius hatte ganze Arbeit geleistet. Ein Meer aus Toten bedeckte die Straßen. Doch sie waren schon dabei, sich zu regenerieren. Sehnen fügten sich zusammen, Wunden heilten, abgetrennte Körperteile wuchsen wieder an. „Mädchen!“, rief sie. „Deine Ka-Bestie, rasch!“ Tea, die dem Gemetzel der Schattentänzerin gebannt und angewidert zugesehen hatte, wurde aus ihrer Starre gerissen. Sofort gab sie den Befehl an ihre Zwillingsseele weiter, die sich ans Werk machte. Es dauerte nicht lange und schon stand der gesamte Straßenzug in Flammen. Der Geruch von brennendem Fleisch verpestete die Luft. Das sollte für eine Weile genügen. „Ich gebe Befehle und sie werden ohne Nachfrage befolgt – so mag ich das“, sagte Risha, als sie an Tea vorüber ging. Dieser lag sofort eine patzige Antwort auf der Zunge, doch Marlic ergriff vor ihr das Wort. „Wow, nicht schlecht. Wie wär's, Püppchen? Wir könnten uns mal auf einen Frühstücksmord oder eine Dinnerfolter treffen, was hältst du davon? Oder doch lieber eine Mittagsverstümmelung?“, meinte er mit süffisantem Lächeln an die Schattentänzerin gewandt. Diese musterte ihn mit einem abschätzenden Blick. „Kein Interesse“, meinte sie und legte dabei alle Kälte, die sie aufbringen konnte, in die Worte. Sie hätte ja gerne noch so einiges mehr vom Stapel gelassen, doch wenn sie schon Bakura ermahnte, er solle sich nicht zu so unpassender Gelegenheit mit dem Hohepriester zoffen, dann sollte sie mit gutem Beispiel voran gehen. Auch, wenn ihr Cousin gerade nicht in der Nähe war. Cheron, der bis jetzt an der Front gewesen war, schloss endlich zu ihr auf und folgte ihr, als sie an dem Milleniumsgeist vorüber schritt und sich einen Weg durch die Gassen Men-nefers suchte. „Was hast du vor?“, fragte Marik, als er Mana in eine Haus folgte. Es war verlassen. Zerbrochene Gefäße auf dem Boden und umgeworfene Möbel kündeten davon, dass die Bewohner es überstürzt verlassen haben mussten. Sie hatten wohl lediglich ein paar Habseligkeiten an sich gerissen. Außerdem stand unangerührtes Essen auf einem Tisch. Für einen Moment schlug sein Ägypterherz höher. Er stand gerade in einem richtig echten Wohnhaus aus der Zeit der Pharaonen! Doch Manas Zischen riss ihn aus den Gedanken, als sie ihm bedeutete, ihr auf das Flachdach zu folgen. Sie stiegen die schmalen Sandsteinstufen hinauf und gelangten schließlich ins Freie. Das Gebäude war nicht besonders hoch, doch da es sich mit den anderen Bauten in diesem Stadtteil ähnlich verhielt, hatten sie eine ungehinderte Aussicht über die Dächer der gewaltigen Ansiedlung. „Was wollen wir hier?“, erkundigte sich Marik noch einmal. Die Hofmagierin prüfte aufmerksam den Himmel. „Ich will versuchen, seine Kreatur irgendwie ausfindig zu machen. Wir müssen sie kriegen. Wir mögen nicht an Caesian heran kommen, doch wenn wir seine Zwillingsseele töten können, so stirbt auch er. Das ist die einzige Lücke in der gesamten Verteidigung unseres Gegners.“ Marik ließ sich den Gedanken durch den Kopf gehen. „Du hast recht. Aber dieses Wesen zeigt sich so gut wie nie. Wie willst du es finden?“ „Genau das ist das Problem. Ich fürchte, ich werde Geduld in einer Situation aufbringen müssen, in der ich sie mir eigentlich nicht leisten kann“, erwiderte Mana seufzend. In Gedanken verloren, sah sie zu Boden – und erschrak, als sie einen Schatten sah. Langsam blickte sie hinauf zum Himmel … und atmete erleichtert auf, als sie Darla sah. „Meine Güte, und ich dachte schon, es wäre dieses Ding! Wie sieht es im Palast aus?“ „Die Menschen sind so gut wie in Sicherheit. Sollte es vonnöten sein, können wir uns nun jederzeit bis zum Palast zurück ziehen“, entgegnete das schwarze Magiermädchen. „Sehr gut. Dann bleibt uns jetzt nichts andere übrig, als abzuwarten, ob sich unser Ziel zeigen wird. Wir müssen dieses Wesen kriegen, mit dem Caesian verbunden ist. Vielleicht können wir diesem Krieg dann ein Ende setzen!“ Joey stolperte, doch fing sich wieder, ehe er zu Boden gehen konnte. Er sah sich nach Rotauge um, doch der Junge schien noch immer auf dem Schlachtfeld festzustecken. Er warf einen kurzen Blick hinter sich. Fünf von diesen verbrannten Zombiefratzen waren ihm dicht auf den Fersen. Er musste sie irgendwie los werden, und zwar schnell. Die Straße, die er soeben noch entlang gehastet war, wich zurück und ging in den ausladenden Marktplatz der Stadt über. Hastig überflogen Joeys Augen die Szenerie. Stände, Obst, noch mehr Stände … Plötzlich blieb sein Blick an einem Stapel von Fässern haften. Allmählich verlangsamte er seine Schritte. Ihm kam eine Idee. „Hey, ihr miesen, hässlichen Gesichtskrapfen! Ja, euch meine ich!“, fügte er hinzu, als er sich ob der verunstalteten Fratzen nicht sicher war, ob sie ihn verstanden hatten. Irgendwie gucken diese Typen überall und nirgendwo hin. „Hier bin ich! Los, nun kommt schon, dann bringen wir es hinter uns. Ich habe keine Lust mehr zu laufen.“ Die Krieger wechselten verdutzte Blicke, dann setzten sie sich erneut in Bewegung. Sie stürmten Joey entgegen. Der wartete, bis sie nahe genug heran waren, um ihrem Schicksal nicht mehr entgehen zu können. Dann sprang er zur Seite und zerrte an dem Stück Holz, dass die gestapelten Fässer an Ort und Stelle hielt. Doch der zunächst so grandiose Plan stellte sich plötzlich als nicht mehr ganz so grandios heraus. Denn dieses verdammte Stück eines Baumes wollte sich einfach nicht lösen. Näher und näher kamen die Soldaten Caesians, während Joey nach Leibeskräften an dem Pflock rüttelte und zerrte. Immer wieder wanderten seine Augen dabei zu der Gefahr, die sich unaufhaltsam ihren Weg zu ihm bahnte. Schweißperlen traten auf die Stirn des Blonden. Nun mach schon, du verdammtes Ding! Mach schon … , flehte er in Gedanken, doch es tat sich nichts. Schließlich standen die Männer vor ihm. Zunächst taten sie nichts weiter, als sein fruchtloses Treiben zu beobachten. Schließlich löste Joey eine Hand von dem Pflock, hob sie, als wollte er grüßen und grinste nervös. „Einen kleinen Moment noch …?“ Die Krieger wechselten überaus irritierte Blicke, bis einer von ihnen mit den Schultern zuckte. Synchron rissen sie ihre Waffen empor. Scheiße, das war's! Joey riss schützend sie Arme über den Kopf, wartete auf den Schmerz. Doch er kam nicht. Als er vorsichtig ein Augenlid aufschob, sah er, dass die fünf Kämpfer alle nach links schauten – und im nächsten Moment von gleißenden Blitzen davon gerissen wurden. Sofort war der Blonde auf den Beinen, suchte die Quelle des Angriffs. Und fand sie in Form des weißen Drachen, der drohend hinter dem Hohepriester Seto Position bezogen hatte. Für einen Moment atmete er erleichtert aus – und schnüffelte dann aufmerksam. Es roch verbrannt … Er wandte sich um, nur um zwei der Fässer in Flammen stehen zu sehen. Langsam breitete sich das Flackern über das Holz aus. Was sickerte da eigentlich für ein Zeug auf den Boden? Er sah genauer hin. Irgendein dunkler Staub, der seltsam roch. Auf eigenartige Weise erinnerte ihn der Geruch an Silvester. Moment mal ... ? Erschrocken sprang Joey auf und gab Fersengeld – gerade noch rechtzeitig um den Fässern zu entgehen, die nur einen Augenaufschlag später mit einem Knall in die Luft flogen. Silvesterkracher? Nein, die gab es in dieser Zeit noch nicht. Was auch immer in den Behältern gelagert gewesen war, es war empfindlich genug, um eine regelrechte Explosion zu verursachen. Mit rasendem Herzen blieb er schließlich stehen, um das Inferno zu beobachten, das am Rande des Marktplatzes um sich schlug. Die Flammen hatten sich violett und grün verfärbt und gaben zischende Laute von sich. Dann fuhr er herum. „Spinnst du? Du hättest mich umbringen können!“, brüllte er an Seto gewandt, der mit ungerührter Miene einige Meter entfernt stand. „Hast du nicht außerdem gestern noch selbst gemotzt, als die Ka-Bestien Fässer zerstört haben? Was war da überhaupt drin?“ „Wahrscheinlich wieder einmal irgendeine neue Erfindung aus dem Osten. Und nichts zu danken“, entgegnete der Hohepriester säuerlich und wandte sich dann zum Gehen. „Hey, ich rede mit dir!“, schmetterte ihm der Blonde nach. „Und wo willst du überhaupt hin?“ „Rein da, schnell!“ Riell wusste gar nicht, wie ihm geschah, da wurde er auch schon durch die Tür gestoßen. Knarrend fiel das Holz hinter ihnen ins Schloss. Bakura drückte ihn zu Boden, sodass sie von draußen niemand würde sehen können. Sie hörten die aufgeregten Rufe von Soldaten und Schritte. Schließlich immer wieder laute Geräusche. Es hörte sich an, als untersuchten sie die Häuser. „Schöne Scheiße“, fluchte der Grabräuber. „Ich hatte eigentlich darauf gesetzt, dass diese Monsterfratzen einfach vorbei laufen.“ „Schön wär's“, murmelte Riell. „Was jetzt?“, überlegte er dann laut. „Es sind zu viele. Ohne unsere Kas, die noch immer an der Front sind, kommen wir nicht gegen sie an.“ Verdammt, Diabound, schwing deinen Hintern hier rüber, sofort!, befahl Bakura in Gedanken und hoffte, dass der Ruf die Bestie erreichen würde. „Wenn ich meinen Milleniumsring noch hätte, wären die Typen kein Problem. Aber es muss eben ohne gehen“, sagte er und zog den vergoldeten Dolch, den er stets mit sich führte. Schon oft hatte er überlegt, ob er Dank seiner Zwillingsseele nicht auf die Waffe verzichten konnte. Gerade war er froh, es nicht getan zu haben. Bakura wagte er einen knappen Blick aus dem Fenster neben der Tür. „Sie kommen“, zischte er dann. Der Grabräuber huschte neben den Eingang zum Haus und positionierte sich dort. Riell schlich ihm hinterher, wählte jedoch die andere Seite der hölzernen Pforte als seinen Standpunkt. Sie sahen sich kurz an. Es war klar, was zu tun war. Angespannt lauschten sie, hörten schließlich, wie die Schritte der Feinde immer näher kamen. Dann war es soweit. Die Tür flog mit einem Knall aus den Angeln, als sie mit Gewalt aufgestoßen wurde. Bakura reagierte sofort. In einer fließenden Bewegung holte er mit der Linken aus und beförderte sie mitten in das Gesicht des erschrockenen Soldaten. Riell nahm sich der zweiten, auf der Schwelle befindlichen Person an, indem er dem Mann sein Schwert in den Leib stieß. Sie sprangen über die zuckenden Leiber hinweg – nur um sich gut zwei Dutzend weiteren Kriegern gegenüber zu sehen. „Das könnte tatsächlich problematisch werden … “, überlegte der Schattentänzer laut und biss sich auf die Unterlippe, während er seine Gegner musterte. Die meisten davon waren bereits praktisch tot. Doch die Relikte sorgten dafür, dass sie nicht in Anubis Reich übergingen. „Ja … “, erwiderte Bakura. Er begann zu grinsen. „Problematisch für sie.“ Riell sah ihn verdutzt an. „Was meinst du … ?“ Die ohrenbetäubenden Schreie von Caesians Männern hinderten ihn daran, den Satz zu Ende zu führen. Er riss den Kopf herum und sah, wie einer nach dem anderen von gewaltigen Klauen zerfetzt wurde. Diabound war plötzlich aus den Schatten der Gassen aufgetaucht und hatte sich auf den Feind gestürzt. Danke seiner besonderen Fähigkeiten hatte ihn niemand kommen sehen. Die Untergebenen des Feindes bekamen die Wut der tobenden Bestie zu spüren. Die, die von den messerscharfen Krallen verschont blieben, erwischte der Schädel am Ende des Schwanzes. „Nicht schlecht“, lobte Riell. „Aber ich fürchte, das wird sie nicht lange aufhalten, solange dieser Kerl die Saat des Chnum in seinem Besitz hat.“ Bakura kam eine Idee. „Was geschieht eigentlich, wenn unsere Bestien die Köpfe seiner Soldaten fressen? Wäre das eine Möglichkeit, sie auszuschalten?“ Der Schattentänzer musterte ihn verdutzt. „Wie kommst du darauf?“ „Nun, wenn man ihnen die Dinger abschlägt und sie nicht allzu weit davon fliegen, wachsen sie wieder an. Wenn man aber dafür sorgt, dass sie nicht mehr heran kommen … Dann dürften die Kerle zumindest orientierungslos sein.“ „Eine nette Idee, aber ich möchte Anwaar so etwas eigentlich nicht zumuten“, erwiderte Riell und verzog dabei angewidert das Gesicht. „Vielleicht ließe sie sich anderweitig umsetzen. Wobei ich bezweifle, dass wir die Zeit haben, Schädel einzusammeln.“ „Hey, Bakura!“ Der Grabräuber und sein Begleiter fuhren herum. Sie entdeckten Yugi und Ryou, die auf sie zugeeilt kamen. „Alles in Ordnung bei euch?“, erkundigte sich der kleinere der Ankömmlinge rasch. „Wenn man mal von dem Gestank dieser … Kreaturen absieht, ja“, entgegnete der König der Diebe, der zu Diabound sah, welcher noch immer seine Gegner zerteilte. „Zu schade, dass das nicht funktionieren wird.“ „Was meinst du?“, erkundigte sich Ryou. Als ihn sein Gegenüber anblickte, durchfuhr ihn ein Schauer. Es schien, als überlege Bakura, ob er ihm wirklich erklären sollte, was ihm in den Sinn gekommen war. Schließlich entschied sich der Grabräuber aber dafür und schilderte knapp, woran er gedacht hatte. „Was das angeht, kann ich nicht behilflich sein. Ich glaube nicht, dass der Chaosmagier … nun … Schädel frisst … “, erwiderte Yugi, dem alleine die Erklärung des Diebeskönigs den Magen flau gemacht hatte. Ryou ging nicht weiter darauf ein. Das Wort ergriff er aber dennoch. „Na ja, vielleicht wäre das schon möglich. Zumindest so ähnlich.“ Die drei anderen sahen ihn neugierig an. „Und woran hast du gedacht?“, fragte Riell. Der Weißhaarige schluckte merklich. Die Idee war mindestens so eklig wie die von Bakura. Und die Tatsache, dass er damit Menschen töten würde, ließ ihn schwindeln. Aber heftige Situationen erforderten heftige Maßnahmen. Und genau genommen, löschte nicht er das Leben dieser Leute aus. Sie waren ja schon tot, nachdem der Grabräuber sich um sie gekümmert hatte. Dennoch zitterte er leicht, als er sich zu Shiruba umwandte, der in einiger Entfernung saß und Diabound gebannt dabei zusah, wie er die Krieger des Feindes bearbeitete. „Ich hätte da eine Aufgabe für dich“, sagte er mit leicht bebender Stimme an die Bestie gewandt. Deren Kopf zuckte sofort herum und die Augen musterten ihn neugierig. „Hör zu … geh zu Bakuras Ka-Bestie und kümmere dich um die Köpfe, die sie abschlägt. Kümmere dich nicht um den Rest, nur um die Schädel! Ich möchte, dass du sie … anzündest bis so gut wie nichts mehr davon übrig ist“, beendete Ryou seine Erklärung, indem er einen hartnäckigen Kloß herunter schluckte. Es war schon widerlich, nur diese Anweisung zu geben. Shiruba sah das offenbar ganz anders. Er nickte eifrig, dann war er mit wenigen Sätzen bei Diabound angekommen und ging seiner Aufgabe nach. Seine Zwillingsseele wagte nicht, ihm dabei zu zu schauen. Es war einfach zu ekelhaft. „Ryou, was hast du vor? Wir haben doch schon versucht, sie zu verbrennen. Sie leiden zwar darunter, aber sie 'leben' dennoch weiter“, erkundigte sich Yugi indes. „Na ja, wir haben doch Biologieunterricht. Da haben wir mal über die Möglichkeit gesprochen, Gliedmaßen wieder anzunähen, wenn sie noch nicht allzu lange abgetrennt und zu zerstört sind, erinnerst du dich?“, begann der Weißhaarige seine Erklärung. Der Kleinere nickte. „Nun, ich dachte mir eben, dass diese Köpfe vielleicht nicht mehr anwachsen können, wenn das Gewebe zu stark zerstört ist. Wenn wir uns auf sie konzentrieren, könnte das eventuell klappten. Bisher haben wir sie ja immer nur im Ganzen angezündet. Das betraf nur die Haut, nie das, was darunter liegt. Sehnen, Muskeln, Adern und so weiter. Theoretisch dürften sich die Köpfe, da Brandverletzungen ja nicht geheilt werden können, nach so einer Verbrennung nicht mehr mit dem Rest zusammenfügen lassen, weil das eine Teil der Verbindung nicht mehr zum anderen passt.“ „Körperteile annähen? Du meinst ein göttliches Wunder?“, fragte Riell nach. „Nein, nein. Da, wo wir herkommen, sind unsere Heiler dazu in der Lage“, erklärte Yugi rasch. „Das mag verrückt klingen, aber es ist tatsächlich so.“ Der Schattentänzer zog eine Augenbraue hoch, vermied es jedoch, darauf näher einzugehen. Irgendwie konnte er sich das nicht so recht vorstellen. „Wie dem auch sei. Ein guter Einfall, Ryou. Aber ich denke nicht, dass die Macht eines Gottes mit solch einer brachialen Methode … “ Er stockte, als sein Blick bei den Kriegern Caesians hängen blieb. Shiruba hatte jeden Schädel, den Diabound abgetrennt hatte, angezündet. Jetzt, nur wenige Augenblicke später, begannen plötzlich einige der kopflosen Körper zusammen zu brechen. Sie blieben reglos liegen, rührten sich keinen Millimeter mehr. Riell, der die Arme vor der Brust verschränkt hatte, ließ sie ungläubig fallen und starrte perplex auf die Stelle, an der ein Torso zu Boden gegangen war. „Ich fasse es nicht“, kommentierte Bakura, ehe er Ryou ansah. „Du bist wohl doch nicht nur als Wirt nützlich.“ Der kleinere Weißhaarige biss sich auf die Unterlippe. „Schön, dass du das auch mal erkennst“, zischte er. „Ich glaube, ich muss mich bei dir entschuldigen“, meldete sich Riell verlegen zu Wort. „Du hattest wirklich recht! Jetzt kennen wir eine Methode, mit der wir Caesians Krieger ausschalten können.“ „Das wird einiges einfacher machen. Genügend Feuermonster haben wir ja auf unserer Seite“, stimmte Yugi zu. „Da wäre ich nie drauf gekommen. Gut gemacht, Ryou.“ Der Angesprochene kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Ach, nicht der Rede wert. War ja auch mehr ein Glücksgriff.“ „Genug der Lobpreisungen“, unterbrach sie der Grabräuber. „Wir sollten den Rest von eurer Bande und seine königliche Hinterfotzigkeit suchen, damit sie ebenso verfahren. So viel Spaß das Ganze hier auch machen mag, allmählich werden mir diese stinkenden Würmer, die Caesian Truppen nennt, lästig.“ „Kannst du auch einmal normal über ihn sprechen? Sein Name ist übrigens Atemu, falls dir das entgangen sein sollte“, entgegnete Yugi daraufhin. Gewöhnlich war es nicht seine Art, auf solche Kommentare einzugehen, aber Bakura ließ wirklich keine Möglichkeit aus, seine Ansichten zum Thema 'Pharao' kundzutun. Der Grabräuber schenkte ihm jedoch nur ein amüsiertes Lächeln. „Wenn er vor mir im Staub kniet und um Vergebung winselt, dann vielleicht.“ Damit wandte sich der Weißhaarige zum Gehen. Atemu hatte sich ebenfalls ein Stück weit in die Stadt zurück gezogen. Immer wieder gingen Slifers Angriffe auf die Soldaten nieder, die durch die Straßen strömten. Zunächst sah es immer aus, als seien die Attacken von Erfolg gekrönt, doch er musste schon bald feststellen, dass sich seine Gegner schneller regenerierten, als ihm lieb war. Schließlich entschied er sich dafür, sich noch ein wenig in Richtung Palast zu bewegen. „Slifer! Lass uns noch weiter in die Stadt vordringen! Achte dabei bitte darauf, dass uns keine Krieger folgen!“ Damit machte er auf dem Absatz kehrt und eilte davon. Er und die anderen hatten sich der Taktik wegen aufteilt, nun sollte er aber allmählich zusehen, dass er sie wiederfand. In diesem Moment bedauerte er ein wenig, dass sie hier keinen Zugriff auf die Technik des 21. Jahrhunderts hatten. Ein Handy oder dergleichen, um auch über weitere Distanzen Kontakt aufnehmen zu können, wäre in solchen Situationen mehr als nützlich. Alleine schon, weil er sich dann jetzt sofort hätte erkundigen können, ob bei seinen Freunden und Mitstreitern alles in Ordnung war. Er hetzte durch menschenleere Straßen, die sich erst hinter ihm wieder zu füllen begannen – mit den Soldaten des Feindes. Men-nefer wirkte in diesem Augenblick wie eine Geisterstadt. Ein Ort, von dem alles Gute, alles Leben Abschied genommen hatte. Er wurde aus diesem Gedanken gerissen, als er jemanden nach ihm rufen hörte. „Atemu! Atemu, wir sind hier oben!“ Sogleich blieb er stehen und sah hinauf. Er entdeckte Mana und Marik, die auf dem Dach eines Hauses kauerten, ihre Ka-Bestien an ihrer Seite. „Was macht ihr denn da?“, erkundigte er sich leicht verwirrt. Es war gar nicht die Art der beiden, sich zu verstecken – nicht, dass er nicht verstehen würde, wenn sie das taten. Nein, es musste wohl einen anderen Grund haben, warum sie dort oben saßen. „Komm herauf, ich habe da eine Idee!“, erklärte die Hofmagierin knapp. Atemu nickte um zu zeigen, dass er verstanden hatte, umrundete dann das kleine Gebäude und betrat es. Im Inneren fand er gleich die Treppe, die zu seinen Freunden hinauf führte. Als er wieder ins Freie trat, ließ er keine Zeit verstreichen. „Was für eine Idee, Mana?“ „Als Yugi und Marik gemeinsam mit den Schattentänzern Resham befreit haben, konnte ich Caesians Ka-Bestie sehen, du erinnerst dich? Sie mag stark sein, doch ich denke, dass wir sie besiegen können. Sie ist der wunde Punkt unseres Gegners. Wenn wir sie irgendwie anlocken könnten, könnte Darla dafür sorgen, dass sie nicht fliehen kann. Anschließend müssen wir sie nur noch ausschalten. Denn wenn sie stirbt, so ist das auch Caesians Ende“, erklärte die Hofmagierin. „Ich weiß nicht sicher, ob es klappen wird. Aber ich denke, es wäre eine Chance.“ „Eine gute Idee, ja“, bestätigte der Pharao. „Sie birgt zwar einige Risiken, aber uns wird keine andere Wahl bleiben, als es auf diesem Weg zu versuchen. Doch wie gedenkst du, sein Monster hier her zu locken? Vielleicht ist es noch gar nicht auf dem Schlachtfeld.“ „Beim letztem Mal hat er sich zuerst den geflügelten Drachen des Ra vorgenommen“, erläuterte Marik. „Außerdem bist du sein Hauptziel. Die Vermutung liegt nahe, dass er sich auch dieses Mal deine göttliche Kreatur zuerst schnappen wird.“ „Ich verstehe, worauf du hinaus willst … “, entgegnete Atemu langsam. Der junge Ägypter hatte recht. „Hör zu, wenn dir das zu gefährlich erscheint … “, wollte Mana ansetzen, doch ihr Kindheitsfreund winkte ungerührt ab. „Es ist meine Pflicht als König, für das Wohl meines Landes zu sorgen und gegebenenfalls dafür zu sterben. Und ich werde jede Gefahr gerne eingehen, solange nur dieser Wahnsinnige in seine Schranken gewiesen wird.“ Mit diesen Worten erhob er sich und reckte die Faust in die Höhe. „Slifer, komm zu mir und führe deine Angriffe von hier aus fort!“ Stöhnend schob er die Augen auf. Alles tat ihm weh. Doch am schlimmsten war sein Kopf. Vorsichtig tastete er ihn ab. Es fühlte sich nicht an, als habe er irgendwelche offenen Wunden. Was war überhaupt passiert? Sie waren gerade noch auf der Mauer Men-nefers gestanden, dann war diese zusammen gebrochen. Durch einen Angriff Caesians … Caesian! Ruckartig setzte sich Keiro auf und bereute es im nächsten Moment schon. Ihm wurde schwindlig, doch er versuchte dagegen anzukämpfen. Aufgeregt sah er sich um. Er war im Palast. Draußen in der Stadt konnte er Schlachtlärm hören. Es war also noch nicht vorbei. Aber wie war er eigentlich hier her gekommen? Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als sich die Tür plötzlich öffnete und ein ägyptischer Soldat eintrat. „Ah, Ihr seid also wieder erwacht! Wie fühlt Ihr Euch?“ „Bestens, danke“, log Keiro. „Wie bin ich hier gelandet?“ „Euer Bruder hat Euch hier her gebracht.“ Hatte er das gerade richtig verstanden? Bakura hatte ihn aus der Schusslinie gebracht? Trotz der Streitigkeiten, die zwischen ihnen herrschten? Ihm blieb nicht genügend Zeit, weiter über die Frage nachzudenken. Der Krieger Atemus redete schon weiter: „Kommt mit mir. Wir werden Euch aus der Stadt heraus bringen.“ „Nein!“, widersprach Keiro sofort. „Ich bleibe. Kümmert Euch um Leute, die Eure Hilfe nötiger haben, als ich. Egal, was Ihr tut, ich gehe hier nicht weg. Zumindest nicht ohne meinen Bruder.“ Er legte dermaßen viel Nachdruck in diese Worte, dass sein Gegenüber überrascht blinzelte. „Seid Ihr Euch dieser Entscheidung wirklich sicher? Ihr seid verletzt und … “ „Keine Sorge, ich kann auf mich selbst aufpassen.“ Damit erhob er sich von der Pritsche, auf der er bislang geruht hatte und stapfte aus dem Raum. Dabei musste er all seine Konzentration zusammen nehmen, um nicht zu schwanken, denn ihm war noch immer schwindlig. Den Soldaten ließ er alleine zurück.Er musste Bakura finden. Wie stand es überhaupt um die Stadt, wenn Atemu bereits angeordnet hatte, sie evakuieren zu lassen? Zumindest eines war sicher: Der Pharao und seine Freunde, sowie der Clan würden nur über ihre Leichen aus Men-nefer verschwinden. Und auch Keiros Bruder würde nicht von selbst das Weite suchen. Immerhin bedeutete dies, dass er aufgeben müsste und das war nicht Bakuras Art, so viel hatte er in der kurzen Zeit, seit sie sich wiedergesehen hatten, gelernt. Er blieb plötzlich wie angewurzelt stehen, als er etwas bemerkte. Es war, als habe er irgendetwas vergessen. Als fehle etwas … Seine Augen weiteten sich. Hektisch ergriff er das Halstuch, das er immerzu trug und riss es sich vom Leib. Anschließend befühlte er seinen nackten Hals, versuchte gar, diesen zu sehen. Es war weg. Das Relikt der Göttin Bastet war verschwunden! Für einen Moment erwägte er, noch einmal in dem Raum nachzusehen, aus dem er soeben kam. Doch er verwarf den Plan gleich wieder. Ebenso schlagartig, wie er den Verlust bemerkt hatte, war ihm auch klar, wer dafür verantwortlich war. Wütend schlug er mit der Faust gegen die Steinwand des Palastes und nahm den dadurch verursachten Schmerz mit zusammen gebissenen Zähnen hin. Es war eindeutig, wer sich das Relikt unter den Nagel gerissen haben musste – Risha. Wahrscheinlich auch noch so, dass es niemand bemerkt hatte. „Wenn ich dich in die Finger kriege!“, fauchte er und stürmte dann, so gut es ihm sein Zustand erlaubte, aus dem Gebäude. Im Vorhof angekommen, wurde der Kampflärm schon deutlich klarer und lauter. Caesian war in die Stadt eingefallen. Als er an zwei Soldaten vorüber eilte, fing er ihre Gesprächsfetzen auf. „Hast du nach dem alten Schattentänzer gesehen?“ „Ja, aber er will nicht gehen … “ Der Alte wusste offenbar noch immer nicht, wann seine Grenzen erreicht waren. Aber was erwartete er auch anderes von jemandem, der einem Haufen Wahnsinniger angehörte? Aber Resham war jetzt sein geringstens Problem. Er musste die anderen finden – allen voran seine durchgeknallte Cousine und seinen Bruder. „Majestät!“ Na endlich kehrte dieser missratene Kundschafter zurück! Der Kerl war ja langsamer als ein Krokodil, das versuchte, sich auf heißem Wüstensand fernab des Nils fortzubewegen. „Was ist? Hast du etwas in Erfahrung bringen können?“, fragte Caesian. Seine Stimme verriet dabei, dass er ein Nein nicht dulden würde. „Ja, mein Herr. Die Ägypter haben die Bürger der Stadt in den Palast bringen lassen und sich in die Stadt zurück gezogen. Es wird nicht mehr lange dauern, dann gehört Men-nefer Euch!“ „Nicht nur Men-nefer, du Wurm!“, fauchte der Regent. „Aber natürlich“, korrigierte sich der Mann rasch und verneigte sich tief. „Entschuldigt. Ich meinte natürlich ganz Ägypten.“ „Gewiss“, entgegnete der Herrscher abschätzend, dann entließ er den Untergebenen mit einer Handbewegung. Erst dann breitete sich ein zufriedenes Lächeln auf seinem Gesicht aus. Ein kurzes Gleißen, dann erschien seine Ka-Bestie neben ihm. „Du gehst voraus. Sorg' dafür, dass diese Maden im Staub kriechen, wenn sie mir von Angesicht zu Angesicht gegenüber stehen.“ Das dunkle Wesen nickte, dann schwebte es davon. Anschließend wandte sich der Feldherr an einen anderen seiner Soldaten: „Gib Signal, dass das Fußvolk Platz machen soll. Ihr Herr und Gebieter wird nun in Men-nefer Einzug halten.“ ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~* Wie ihr seht: Es wird ernst. Also dran bleiben, im nächsten Kapitel treffen Atemu und Caesian zum ersten Mal aufeinander. Vielen Dank auch hier wieder an 3sakuraharuno3 für den Kommentar zum letzten Kapitel. Kapitel 29: Ins Licht --------------------- Es hat gedauert, aber nun geht es wieder weiter. Es ist wirklich verwunderlich, dass man während des Semesters mehr Zeit hat, als in den Semesterferien... Viel Spaß und Danke an 3sakuraharuno3 für den Kommentar zum letzten Teil! Im übrigen ist ihre FF "Auf hoher See" nicht von schlechten Eltern, als ruhig mal reinschauen! *Ende der Schleichwerbung* Ins Licht „Hey, Yugi!“ Der Angesprochene und seine drei Begleiter blieben augenblicklich stehen, als sie die Stimme vernahmen. „Tea!“, rief der Kleinste von ihnen erfreut aus. „Ist alles in Ordnung bei dir?“, erkundigte er sich sogleich. Die Brünette kam keuchend vor ihm zum Stehen. Auch die Feuerprinzessin gesellte sich zu ihnen. „Ja, mit mir ist soweit alles in Ordnung. Wenn man einmal davon absieht, dass ich diesen Wahnsinnigen im Schlepptau habe. Er kann echt noch gruseliger sein, als ich ihn in Erinnerung hatte“, erwiderte sie und deutete dabei nach hinten. Alle Augen richteten sich auf die von ihr besagte Stelle. Bakura verzog angewidert das Gesicht. „Großartig. Den kann auch gar nichts umbringen – fast wie eine Kakerlake.“ „Ich glaube beinahe, Marlic ist noch schlimmer“, kommentierte Ryou daraufhin, während die Reinkarnation Mariks zu ihnen herüber kam. „Na ihr, alles fit soweit?“, meinte er schon beinahe ausgelassen, als er die Gruppe erreichte. „Du musst wissen, dass er einen unheimlichen Spaß an dieser ganzen Sache hat“, flüsterte Tea derweil Yugi zu, der nur seufzend die Schultern hängen ließ. Warum hatte er nichts anderes erwartet? „Hast du sonst noch jemanden gesehen?“, warf Riell plötzlich die Frage in den Raum. „Ja“, bestätigte die junge Frau. „Deine Schwester ist uns kurz über den Weg gelaufen, ist aber genau so schnell wieder verschwunden, wie sie aufgetaucht ist. Keine Ahnung, wohin sie wollte.“ „Sonst niemand?“, fragte Ryou. Tea verneinte. „Aber ich habe zwischenzeitlich so eine Art Explosion gehört. Sie schien vom Marktplatz zu kommen.“ „Das kann gut oder schlecht sein. Aber eines steht fest, wenn wir nur hier herum stehen, finden wir die anderen nie“, gab Yugi zu bedenken. „Wir sollten weiter gehen.“ „Doch wo könnten sie sein?“, überlegte Tea. „Wie wäre es, wenn wir uns einfach an dem Standpunkt dieser großen, roten, hässlichen Eidechse orientierten, die über der Stadt schwebt?“, schlug Bakura vor. Zuerst richteten sich alle Augen auf ihn, dann folgten sie seinem Blick. Tatsächlich. Selbst von hier auf war Slifer, der Himmelsdrache, zu sehen. Immer wieder attackierte er irgendetwas, das sich unter ihm befand. Vermutlich handelte es sich dabei um Soldaten Caesians. „Durchaus eine Möglichkeit“, erwiderte Riell grinsend. „Worauf warten wir dann noch?“, drängte Marlic. „Gehen wir bevor der Pharao den ganzen Spaß für sich alleine haben kann!“ Mit diesen Worten eilte er den anderen voraus. „Dem ist echt nicht mehr zu helfen“, seufzte Bakura, dann wollte auch er sich in Bewegung setzen. Doch er und alle anderen erstarrten urplötzlich. Gleißendes Licht blendete sie, der Knall ließ sie die Hände auf die Ohren drücken, als sich Slifer brüllend aufbäumte. Atemu ging zu Boden. Die Arme hatte er um die Brust geschlungen. Er begann zu husten, spuckte dann einen kleinen Schwall Blut aus. Der Schlag hatte ihn völlig unvorbereitet getroffen. „Bei den Göttern, ist alles in Ordnung?“, schrie Mana und stürzte zu ihm. „Sein Ka … “, presste der Pharao zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor. „Kümmere dich um es!“ Die Hofmagierin kam der Aufforderung nur ungern nach. Lieber hätte sie sich vergewissert, dass mit ihrem Freund und König alles in Ordnung war. Doch sie durfte sich jetzt nicht von ihren Gefühlen leiten lassen. Es stand zu viel auf dem Spiel. Entschlossen fuhr sie herum … und entdeckte das Wesen, das mitten in der Luft über der Stadt schwebte. Die verkrümmten Hände formten bereits die nächste Kugel. „Darla! Beeil' dich und setz' es fest!“ Das schwarze Magiermädchen hielt sich versteckt, richtete jedoch seinen Zauberstab auf die feindliche Kreatur. Die Spitze des Zepters begann zu glühen, dann legte sich ein kaum sichtbarer, grüner Schimmer um die gegnerische Bestie. Jetzt konnte sie nur hoffen, dass dieses Ungetüm derartig auf den Kampf fixiert war, dass es von der Magie nichts mitbekam. „Wir müssen es beschäftigt halten. Anubis! Greif es an!“, sagte Marik. Sein Monster kam der Aufforderung augenblicklich nach. Es begab sich zunächst an den äußerten Rand des Daches, um möglichst viel Anlauf nehmen zu können. Dann preschte es los. Mit den kräftigen Hinterbeinen stieß sich der riesige Schakal schließlich ab und sprang dem Feind entgegen. Doch dieser reagierte sofort. Zwar war sein Angriff noch nicht vollständig ausgearbeitet, aber er richtete ihn dennoch gegen Anubis. Mitten im Sprung wurde Mariks Zwillingsseele von dem Schlag getroffen. Ein jämmerliches Jaulen von sich gebend, wurde sie zu Boden geworfen. Sand wirbelte auf, während sich der junge Ägypter, der die Kreatur befehligte, zusammensackte. Mana musste den Drang, sofort zu ihm zu eilen, unterdrücken. Doch sie durfte dieses Biest nicht aus den Augen lassen. So erschrak sie beinahe, als Atemu plötzlich neben ihr auftauchte. „Slifer! Wirf dieses Ungetüm nieder!“ Der rote Drache hatte sich durch die Ablenkung, für die Anubis gesorgt hatte, wieder aufrichten können. Drohend öffnete er das Maul, ehe er einen knisternden Lichtblitz formte … „Nicht!“, rief Mana aus und packte Atemu am Arm. „Wenn du es angreifst, verschwindet es vielleicht. Bei Mariks Ka war ich mir noch sicher, dass es bleibt, aber vielleicht nimmt es bei einem Göttermonster reiß aus. Dann können wir es nicht mehr festsetzen.“ Sie sah ihm schon beinahe entschuldigend in die Augen. „Ich weiß, welchem Risiko ich dich aussetzen will. Es tut mir leid. Aber es ist … “ Sie verstummte, als sich plötzlich ein Finger auf ihre Lippen legte. Verwirrt blinzelte sie, während Atemu freundlich lächelte. „Es ist in Ordnung. Es ist deine Pflicht, so zu handeln. Und ich bin stolz zu sehen, dass du für Ägypten alles tun würdest.“ So grotesk es in der momentanen Situation auch wirkte: Mana wurde rot. Nur langsam fand sie den Weg in die Realität zurück. Doch endlich gelang es ihr. Sie nickte dankbar, dann wandte sie sich an Darla. „Wie weit bist du?“ „Nicht mehr lange. Gleich habe ich es“, erwiderte die Ka-Bestie knapp. „Dann wollen wir es mal noch solange beschäftigt halten“, meinte Marik, der inzwischen wieder zu ihnen gekommen war. Er hielt seinen linken Oberarm, durch seine Finger sickerte Blut. „Nein“, befahl Atemu. „Wenn du es noch einmal angreifst, könnte es das Letzte sein, was du tust.“ „Aber es wird Verdacht schöpfen, wenn wir nichts tun!“, widersprach der junge Ägypter. „Dafür bin ich ja da!“ In dem Moment, da die Stimme erklungen war, stürzte sich plötzlich Des Gardius auf Caesians Monster – oder wollte es zumindest. Denn es war gezwungen, seinen Angriff abzubrechen und auszuweichen, als ihm eine der gleißenden Kugeln entgegen geschossen kam. Die drei auf dem Dach Kauernden blickten überrascht nach unten, nur um einen offenbar überaus entschlossenen Marlic zu sehen. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich nochmal freuen würde, den zu sehen“, murmelte Marik, während er dabei zusah, wie Des Gardius immer wieder Attacken vortäuschte, um den Feind beschäftigt zu halten. Er blickte sich um, als er weitere Stimmen vernahm. Kurz darauf tauchten auch Tea, Yugi, Ryou, Bakura und Riell auf. An ihrer Seite ihre Kreaturen, die sich ebenfalls in den Kampf stürzten. Binnen weniger Sekunden hatte das feindliche Biest alle Hände voll zu tun. Jedoch hielten sich seine Gegner soweit zurück, dass es sich nicht gezwungen sah, zu verschwinden. Risha hatte die Soldaten abgeschüttelt. So konnte sie ihre ganze Aufmerksamkeit nun dem widmen, was dort am Himmel über der Stadt vor sich ging. Dieses verhüllte Ding war wieder schienen und hatte seinen Angriff begonnen. Caesian konnte nicht weit sein, wenn es in der Nähe war. „Cheron? Flieg voraus und hilf ihnen. Ich bin sofort bei dir“, befahl sie, ehe sich das geflügelte Pferd in die Luft erhob und davon rauschte. Gerade wollte sie sich in Bewegung setzen, da hörte sie ein Scharren hinter sich. Sofort fuhr sie herum – doch da war niemand. Wohl nur der Wind … Sie wandte sich zum Gehen – als sie plötzlich jemand am Hals packte und gegen die nächste Hauswand drückte. Instinktiv versuchte sie, sich zu wehren, unterließ jedoch sämtliche Anstrengungen, als sie etwas kaltes an ihrem Hals spürte. Eine Klinge, die bereits in die oberste Hautschicht schnitt. Erst jetzt betrachtete sie ihren Angreifer. Und sie erstarrte, obgleich sie im darauf folgenden Augenblick nicht mehr verwundert war, ihn zu sehen. „Hab' ich dich gefunden … “, zischte er. „Was soll das, Keiro?“, presste sie hervor. Bei jedem Wort spürte sie das Metall in ihre Kehle schneiden. „Du hast da etwas, das mir gehört. Rück' es raus, wenn dir dein Leben lieb ist, und zwar sofort.“ Er hatte also nicht halb so viel abbekommen, wie sie gehofft hatte. Im Idealfall wäre er für den Rest des Tages außer Gefecht gewesen. Noch mehr ärgerte sie jedoch, dass sie diesen Angriff nicht hatte kommen sehen. Er hatte sie überlistet, kannte sie wohl doch zu gut. „Ich wiederhole mich nur ungern. Wo ist das Relikt, Risha?“ Dabei ließ er seine Hand an ihrer Hüfte hinab wandern, was ihr einen unangenehmen Schauer über den Rücken jagte. Schließlich fanden seine Finger den Beutel, den sie an ihrem Gürtel trug. Sie glitten hinein, kramten darin herum und fanden schließlich, was sie gesucht hatten. „Sieh mal einer an, was haben wir denn da?“, murmelte er und hielt das Amulett der Göttin Bastet empor. „Hab' ich mir doch gedacht, dass nur du es genommen haben kannst.“ „Wenn du hast, was du wolltest, dann geh mir vom Leib!“ Er sah sie eine gefühlte Ewigkeit an, sein Blick war unergründlich. „Weißt du eigentlich, was für eine verlockende Gelegenheit das hier ist? Nur du und ich. Es würde niemandem auffallen, wenn ich dir einfach die Kehle durchschneide. Man würde glauben, du wärst einem Krieger Caesians zum Opfer gefallen. Bakura würde darüber hinweg kommen. Er hat dich die letzten siebzehn Sommer nicht gebraucht, also kann er bestimmt auch zukünftig auf dich verzichten.“ Sie konnte nicht leugnen, dass allmählich so etwas wie Panik in ihr aufstieg. Er schien zu allem bereit. Und dennoch glaubt sie so etwas wie … Traurigkeit aus seinen bösen Worten heraus hören zu können. Verzweifelt überlegte sie, was sie tun konnte. Doch es gab nur eine Möglichkeit und die schloss sie von vorne herein aus. Egal was geschah, sie würde niemals um Gnade winseln. „Hey, ihr … Keiro? Was tust du da?“ Der Angesprochene fuhr herum und vernachlässigte seine Deckung. Instinktiv nutzte Risha den Moment, packte die Hand, in der er das Messer hielt, und biss hinein. Ihr Cousin schrie auf, als er die Klinge fallen ließ. Ehe er sich wehren konnte, stieß sie ihn von sich, sodass er im Staub landete und zückte präventiv ihre beiden Dolche. Keuchend stand sie da und beobachtete, wie er versuchte, sich aufzurichten. Den pulsierenden Schmerz an ihrer Kehle nahm sie kaum wahr. Sie spürte lediglich, wie ein warmes, dünnes Rinnsal ihren Hals hinab lief. Erst jetzt gewahrte sie, wer hinzu gekommen war: Der Hohepriester und der Blonde, den sie nach Men-nefer geführt hatte. Letzterer stürmte gerade herbei. „Sag mal, hab ich das gerade richtig gesehen? Spinnst du, Alter?“ fauchte er gerade an Keiro gewandt, ehe er sich nach Risha umsah. „Ist alles in Ordnung?“ Sie presste einen Moment ihre Lippen aufeinander, bevor sie antwortete. „Alles bestens. Ich suche die anderen.“ Damit macht die auf dem Absatz kehrt und eilte davon. Sie musste hier weg. Und das so schnell wie möglich. Sie hielt es keine Sekunde länger in seiner Gegenwart aus. In ihr überschlug sich alles. Das gerade war kein Albtraum, sondern bittere Realität gewesen. Alleine daran zu denken, trieb sie beinahe in den Wahnsinn. Er hätte sie getötet, da war sie sich sicher. Er hätte sie umgebracht, wären nicht die beiden aufgetaucht. Er, ihr Cousin. Sie hatte mit vielen gerechnet, doch ihr Annahmen bestätigt zu sehen, schockierte sie. Ihre Welt stand Kopf. Was ist los? Bist du in Ordnung? Der Ruf riss sie aus ihren Gedanken. Mach dir keine Sorgen, Cheron. Alles gut, erwiderte sie knapp. Ein paar Soldaten. Mir ist nichts passiert. In diesem Moment war sie dankbar für die Möglichkeit, das eigene Denken teilweise von dem ihres Kas abschirmen zu können. Sie wollte jetzt nicht darüber reden. Lieber belog sie ihre eigene Zwillingsseele. Bist du sicher? Dann komm bitte schnell her. Wir können jede Hilfe gebrauchen. Bin schon unterwegs. Sie blickte kein einziges Mal zurück, während sie davon rannte. Zurück blieben nur Joey und Keiro, denn Seto hatte sich bereits wieder auf den Weg gemacht, um den anderen zu helfen. „Los, raus mit der Sprache!“, forderte der Blonde. „Was sollte das?“ Sein Gegenüber rappelte sich gerade wieder auf. „Nichts. Sie hat mich angegriffen, ich habe mich gewehrt.“ „Das sah aber ganz anders aus“, widersprach Joey. „Wenn ich es doch sage! Sie hat mich mit ihren Dolchen bedroht, daraufhin haben wir gekämpft und ich habe sie schließlich in die Enge getrieben. Ich habe mich nur verteidigt.“ „Ich bleibe dabei, dass es anders aussah. Sie hatte keine Waffe in der Hand“, setzte der Blonde seine Beweisführung fort. „Sie hat sie eben zurück gesteckt, als sie eingesehen hat, dass aus ihrem Plan nichts mehr wird.“ „Von wegen! Niemand, der ein Messer an der Kehle hat, achtet noch darauf, seine eigenen Dolche fein säuberlich zu verstauen, er lässt sie eher fallen!“ „Was soll das werden, Klugscheißer?“, zischte Keiro plötzlich. Dieser Kerl ging ihm gerade gehörig auf die Nerven. Umso mehr aber ärgerte es ihn, dass ihm Risha entkommen war. Wieder eine Gelegenheit dahin, all die Angelegenheiten, die zwischen ihnen offen waren, ein für alle Mal zu beseitigen. „Das fragst du mich?“, rief Joey empört. „Du bist es, den ich gerade dabei erwischt habe, wie er seiner Cousine eine Klinge an die Kehle gedrückt hat! Nur zur Info, wir stehen alle auf der selben Seite! Außerdem seid ihr verwandt! Wenn du unbedingt jemanden killen willst, dann nimm dir diese halb verrotteten Dinger vor, die Caesian seine Truppen nennt!“ „Halt dich einfach raus, verstanden? Du weißt nichts, absolut gar nichts!“, brüllte Keiro noch, dann wirbelte er herum und verschwand in einer Seitengasse. Nun blieb der Blonde alleine zurück. Doch auch er verweilte nicht lange, sondern setzte sich wieder in Bewegung. Anfangs hatte er den Bruder des Grabräubers für einen recht netten Kerl, eventuell gar guten Kumpel gehalten. Inzwischen war er sich da nicht mehr annähernd so sicher. Der Typ wirkte eher wie ein verdammter Psycho! Er verstand dieses Verhalten einfach nicht. Ihm würde nie im Traum einfallen, seiner Schwester Serenity etwas anzutun! Selbst seinem Vater und seiner Mutter nicht, obgleich er zu beiden nie ein sonderlich inniges Verhältnis gehabt hatte. Die Familie stand über allem anderen. Wenn man allem und jedem den Tod an den Hals wünschte, aber doch nicht dem eigenen Fleisch und Blut! Immer wieder fanden die glühenden Angriffe von Caesians Monster ihr Ziel. Diesmal traf es Diabound, der nicht mehr schnell genug hatte ausweichen können. Er wurde umher geschleudert, krachte schließlich in ein Gebäude und stieß einen gellenden Schrei aus. Bakura sackten die Beine weg, als ihn der gleiche, brennende Schmerz im Rücken durchzuckte. Für einen Moment hatte er Mühe, Atem zu schöpfen. Keuchend rang er nach Luft, bis die Pein endlich abflaute und seinen Lungen wieder erlaubte, sich zu füllen. „Ist alles okay?“, erkundigte sich Ryou. „Kümmer' dich um deinen eigenen Kram“, presste der Grabräuber hervor, während er mühsam versuchte, sich wieder aufzurichten. Darlas Zauber nahm allmählich an Stärke zu, doch es reichte noch immer nicht. Die Beschwörung war kompliziert und sie durfte nicht die Hau-Drauf-Methode anwenden. Sie musste ihre Magie so sorgfältig wirken, wie sie konnte, um Caesians Kreatur nicht darauf aufmerksam zu machen, was enorm viel Zeit kostete. Die Ka-Bestien sahen sich jedoch inzwischen nicht mehr nur mit dem Biest des feindlichen Feldherren konfrontiert. Immer mehr Krieger strömten in die Stadt und fanden ihren Weg zu der Truppe. So mussten sich die Zwillingsseelen auch gegen diese Männer zur Wehr setzen. Nach und nach trudelte der Rest von ihnen ein. Der weiße Drache und Rotauge erwiesen sich als besonders hilfreich in dem Kampf, aber auch Shadara erbrachte seinen Beitrag. Risha erreichte sie aufgrund des Umwegs, den sie zuvor eingeschlagen hatte, als Letzte – was nicht viel änderte, war Cheron doch schon vorher zugegen gewesen. Donnern und Krachen schallten über der Stadt hinweg, als immer neue Attacken ausgetauscht wurden. Dann endlich meldete sich Mana zu Wort. „Atemu! Es ist fast so weit! Der Zauber wird jeden Augenblick zu wirken beginnen!“ „Sehr gut! Haltet euch zurück! Gleich kommt unsere Chance!“, befahl der König daraufhin an alle gewandt. Augenblicklich änderten die Bestien ihre Taktik. Sie konzentrierten ihre Angriffe mehr auf die Soldaten, während sie vornehmlich darauf achteten, den Schlägen von Caesians Biest auszuweichen. Gebannt verfolgte die Hofmagierin das Wirken ihrer Kreatur. Jeden Moment war es so weit, der Wall hatte sich schon fast geschlossen. Nur noch ein wenig mehr, dann … Die Kugel leuchtete für einen kurzen Moment grell auf, als sie sich endgültig im das gegnerische Monster schloss. „Perfekt, Darla! Zum Angriff!“ Sofort schoss das schwarze Magiermädchen aus seinem Versteck hervor und positionierte sich vor dem Feind, was Zeichen genug für seine Mitstreiter war. Sie ließen von ihren menschlichen Zielen ab, die sie durch Ryous neu entdeckte Methode erfolgreich hatten in Schach halten können, und lenkten ihre Aufmerksamkeit auf die verhüllte Gestalt am Himmel, die inzwischen realisierte hatte, was geschehen war, und panisch versuchte, sich zu befreien. „Das ist dein Ende, Caesian! Slifer, zermalme seine Ka-Bestie zu Staub!“, brüllte Atemu über den allgegenwärtigen Lärm hinweg Der Drache senkte sich vom Himmel herab und bezog Stellung. Die Zwillingsseelen würden in diesen Angriff alles legen, was sie noch hatten. Jeder von ihnen fokussierte seine ganze Kraft, beschwor seinen Schlag sorgsam herauf, um dieses Ungetüm ein für alle Mal zerstören zu können. Schließlich war es soweit. Flammen vereinten sich zu einem glühenden Tosen, andere Attacken folgten auf der Stelle. Sie alle zogen, einem unheimlichen, bedrohlichen Regenbogen gleich, über den Himmel Men-nefers und suchten ihr Ziel. Meter um Meter rückten sie vor … und wurden von einer urplötzlich auftauchenden Wand aus Sand aufgefangen. Für Flüche, Beschimpfungen und Schreie der Angst blieb ihnen gar keine Zeit mehr. Die tausenden feinen Körner glichen einem gigantischen Strudel, als sie die Attacken mit sich rissen und anschließend in sämtliche Himmelsrichtungen wieder von sich stießen – einige davon auch direkt auf den Pharao und seine Mitstreiter. Die Welt versank für sie in einem ewigen Donnern und blendendem, weißen Licht. Schmerz durchzuckte ihre Körper, als sie davon gefegt wurden und erst dutzende Meter weiter neben ihren Zwillingsseelen auf dem Boden aufschlugen, über welchen sie noch ein ganzes Stück schlitterten und sich die Haut aufschürften, ehe sie endlich liegen blieben. Dann war alles still. Jedoch nur für einen kurzen Moment. In ihren Ohren herrschte ein Pfeifton, vor ihren Augen tanzten Sterne, als sie einer nach dem anderen versuchten, wieder auf die Beine zu kommen. Überwiegend blieb dieses Vorhaben ohne Erfolg. Atemu stöhnte vor Pein, als er zumindest seinen Oberkörper aufrichtete. Sein Kopf fühlte sich an, als habe man ihn zertrümmert. Blut floss ihm ins Gesicht, seine Platzwunde hatte sich erneut geöffnet. Wie durch einen Schleier nahm er den Schatten wahr, der sich über ihn beugte. Langsam sah er hinauf und blickte in das verstümmelte Gesicht eines Kriegers, der das Schwert erhoben hatte. War es vorbei? Er wurde ins Hier und Jetzt zurück gerissen, als der Ruf eines Horns über die Stadt hinweg schallte. Gerade wollte er einen Versuch unternehmen, dem tödlichen Schlag zu entkommen, da musste er feststellen, dass der Mann die Klinge gesenkt und sich zurück gezogen hatte. Was, bei den Göttern, ging hier vor sich? Die Frage wurde ihm beantwortet, als er das Klappern von Hufen vernahm. Sein Kopf schnellte herum – und er blickte zum ersten Mal seit Beginn dieses Krieges direkt in die Augen des Feindes selbst. Hoch zu Ross ritt Caesian persönlich auf ihn zu, immer weiter die breite Straße hinunter. Das lange, schwarze Haar bauschte sich im Wind. Die braunen Augen blitzten hoch erfreut, wie er sie da liegen und kauern sah. Seine Lippen zierte ein Grinsen. Die ganze Visage wirkte höhnisch, während seine Rüstung im Sonnenlicht glänzte. Wider all den Schmerzen folgte Atemu seinem Instinkt und richtete sich so schnell er konnte auf. Dieser Mann würde ihn nicht im Staub knien sehen. Niemals. Auch seine Freunde und Mitstreiter kamen langsam wieder auf die Beine, auch wenn sie sich dabei gegenseitig zur Hand gehen mussten. Sie alle waren schwer verletzt, so viel stand fest. Atemu wünschte, er hätte die Zeit, sich nach dem Befinden der anderen zu erkunden, doch er musste einsehen, dass dafür jetzt nicht der richtige Moment war. Auch wenn es schwer war, sie durften ihm so wenig von ihrer Pein zeigen, wie sie konnten. Doch hatte das überhaupt einen Sinn? Wenn es jetzt zu einem Kampf kam, wären sie alle in dermaßen schlechter Verfassung, dass es nur eines Winks mit dem Zepter des Seth bedurfte, um sie endgültig zu vernichten. Und dennoch war der Pharao fest entschlossen, es darauf ankommen zu lassen. Bis zum letzten Atemzug würde er seine Heimat verteidigen, wenn es nötig war. „So stehen wir uns endlich von Angesicht zu Angesicht gegenüber, Pharao“, sprach Caesian schließlich und sein Grinsen wurde noch breiter, als er gewahrte, wie schlecht es dem anderen ging. „Ich dachte schon, dazu käme es nach dem Angriff meiner Bestie nicht mehr. Doch wie ich merke, seid Ihr zäher, als ich dachte.“ Atemu zwang ein selbstbewusstes Lächeln auf seine Züge. „Wenn Ihr glaubt, uns mit dergleichen außer Gefecht setzen zu können, habt Ihr Euch geschnitten. Außerdem hättet Ihr mir längst von Mann zu Mann gegenüberstehen können, doch offenbar habt Ihr vorgezogen, Eure Soldaten vorzuschicken.“ Caesians Miene verfinsterte sich augenblicklich. „Ich würde Euch raten, Eure Zunge zu zügeln, Ägypter. Wenn Ihr es wirklich darauf anlegt, können wir gerne gegeneinander kämpfen. In Anbetracht Eures Zustandes würde ich Euch jedoch davon abraten. Hiermit gebe ich Euch ein letztes Mal die Chance, Euch zu ergeben. Händigt mit diese beiden aus“, sagte er und deutete mit dem Finger auf eine Stelle hinter Atemu, an der Riell gerade dabei war, seiner Schwester auf die Beine zu helfen, „ebenso wie ihren Vater und übergebt mir Euren Thron und Ihr werdet nichts zu befürchten haben.“ „Nichts dergleichen wird geschehen, Caesian! Sobald ich mit dir fertig bin, wirst du sehen, dass du zurück nach Hause kommst!“, entgegnete der Pharao und ließ nun alle Formen der Höflichkeit fallen. „Und er ist nicht allein!“ Caesian zog irritiert eine Augenbraue in die Höhe, als sich Yugi, Tea und Joey, die ebenfalls mit ihrem Zustand zu kämpfen hatten, an die Seite des Königs von Ägypten stellten. „Wir werden ihm helfen! An unseren vereinten Kräften kommst du nicht vorbei!“, verkündete der Kleinste von ihnen. „Wir treten dir dermaßen in den Arsch, dass dir dein widerliches Grinsen vergeht, du Großkotz!“, fügte Joey hinzu. Das Gesicht des feindlichen Herrschers veränderte sich bei dieser Ansage kein bisschen. „Und was ist mir dir, Kleines? Willst du mir etwa auch drohen?“, erkundigte er sich dann gelangweilt an Tea gewandt. „Das nicht. Aber sie kann Freundschaftspredigten halten, bis du blutest.“ Caesians Kopf schnellte herum und fixierte Marlic, von dem die Aussage gekommen war. „Und im übrigen bin ich auch noch da, um dich in Einzelteile zu zerlegen!“ Der Angesprochene würdigte auch diese Drohung nicht wirklich. Er ließ seinen Blick über den restlichen Haufen schweifen – und blieb plötzlich an Bakura haften. „Sagt, seid Ihr nicht der, den sie 'König der Diebe' nennen? Ich hätte von den Geschichten her, die man sich erzählt, eigentlich gedacht, dass Ihr dem Pharao nicht gut gesonnen seid?“ „Um diesen Möchtegern-König geht es hier gar nicht, sondern darum, dass dich in Ägypten einfach niemand leiden kann, kapiert? Also zieh lieber ab, bevor ich noch richtig sauer werde!“, konterte der Grabräuber, während er sich die rechte Seite des Brustkorbs hielt, an der er verwundet war. „Du hast ihn gehört!“, rief Risha dazwischen. „Zieh ab oder es knallt!“ Sofort schlich sich wieder ein Grinsen auf Caesians Züge. „Noch immer genau so bissig wie vor kurzem, als ich dich beinahe getötet hätte? Du lernst auch nicht dazu, habe ich recht?“ „Du lernst hier offenbar nicht dazu!“, mischte sich nun auch Seto ein. „Ansonsten hättest du aus den vielen Malen, da du an unserer Verteidigung abgeprallt bist die Schlussfolgerung gezogen, dass es besser wäre, zu verschwinden!“ „Falls es euch noch nicht aufgefallen ist: Ich stehe hier mitten in Men-nefer!“, rief Caesian und breitete die Arme zu beiden Seiten aus, um seine Worte zu unterstreichen. „Aber nicht mehr lange!“, brüllte Atemu, dem das hochmütige Gehabe des Feindes zunehmend auf die Nerven ging. Vor allem in Anbetracht seines Zustandes. „Ich sehe, du willst nicht freiwillig von dannen ziehen! Also trage die Konsequenzen und stirb!“ Slifer erhob sich fauchend in die Luft. Blut tropfte auf den Boden herab, doch das Wesen hielt sich tapfer. Die anderen Ka-Bestien folgten seinem Beispiel und begaben sich schützend vor ihre Träger. Caesian stutzte ob des Anblicks keinen einzigen Moment. „Ihr Narren … “, murmelte er, während sich sein Monster zu ihm gesellte. „Töte sie, Askalon!“ Das verhüllte Biest schoss vor und formte augenblicklich eine der gleißenden Kugeln. „Angriff!“, brüllte Atemu im Chor mit seinen Mitstreitern und Freunden. Glühende Blitze und Flammen schossen dem Feind entgegen, doch die immerzu gegenwärtige Barriere der Kreatur bewahrte sie vor jeglichem Schaden. Lediglich Slifer war in der Lage sie zu durchdringen, was sich jedoch als wenig nützlich erwies, wenn das Monster andauernd die Position wechselte, als könne es sich teleportieren. „Wenn es sich nicht greifen lässt, dann machen wir es eben anders!“, rief Mana. „Darla, direkter Angriff auf Caesian!“ Das schwarze Magiermädchen schoss eine Attacke aus der Spitze ihres Zepters. Der Feind reagierte mit einem gelangweilten Wink des göttlichen Relikts des Seth, woraufhin der Angriff an einer Mauer aus Sand abprallte. „Wisst ihr, ich würde gerne noch mit euch spielen. Aber ich warte schon zu lange darauf, endlich auf dem ägyptischen Thron zu sitzen, als dass ich diese Angelegenheit noch unnötig in die Länge ziehen könnte! Askalon, beende das Ganze!“ Die verhüllte Gestalt erschien wie aus dem Nichts vor ihrem Gebieter. Dann ging ein Hagel seiner Angriffe auf die Ka-Bestien der Ägypter nieder. Schreie gellten durch die Straßen der Stadt, als Träger und Monster einen Schmerz erlitten, der sich anfühlte, als zerreiße man sie bei lebendigem Leib. Auch Atemu erging es nicht anders. Als Slifer mit voller Wucht zu Boden geschmettert wurde, sackten ihm die Beine weg. Er ging nieder, lag im Staub, unfähig, sich zu bewegen oder seine Pein heraus zu schreien. Kurz darauf spürte er, wie sich das göttliche Biest, welches er herbei gerufen hatte, dematerialisierte und wieder in seiner Seele verschwand. Mühsam schaffte er es, sich nach seinen Freunden umzusehen. Überall suchten sich Ka-Bestien ihren Weg zurück zu ihren Zwillingsseelen. Kaum einer war noch fähig, sich zu bewegen und dennoch versuchten sie alle, irgendwie wieder auf die Beine zu kommen. Einige bekamen die Quittung dafür augenblicklich und schrien dies heraus. Grauen stieg in Atemu auf. Sie alle waren verletzt – nur wie schwer vermochte er bei dem einen oder anderen nicht zu sagen. Blut bedeckte den Boden. Er glaubte in diesem Moment, noch nie so viel von dem roten Lebenssaft gesehen zu haben. Er wusste, dass das nicht stimmte. Doch war es zumeist das Blut Fremder gewesen. Nicht das seiner Freunde. Er musste sie beschützen, sie retten. Er durfte nicht zulassen, dass Caesian ihnen noch mehr Pein zufügte. Keinem einzigen von ihnen! Doch egal, was Atemu tat, er kam nicht auf die Beine. Seine Glieder wollten sich kaum bewegen und wenn doch, so sackten sie angesichts des Schmerzes, der sie mit jeder Bewegung durchzuckte, weg. Aber er durfte nicht aufgeben! Wenn er hier verlor, so verlor mit ihm das gesamte ägyptische Königreich! Aber was sollte er tun, wenn er nicht einmal in der Lage war, aufzustehen? „Na na, zurück in den Staub!“, hörte er Caesians Stimme. Kurz darauf ein gequälter Aufschrei – Mana. Atemus Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. Dann sah er zwei Stiefel, die direkt vor ihn traten. „So ist es brav. Jetzt seid ihr alle dort, wo ihr hingehört. Wachen! Die beiden Schattentänzer, aber ein bisschen zackig!“ Riell spürte, wie ihm die Arme unsanft auf den Rücken gedreht wurden, dann zog man ihn auf die Beine. Er konnte, sehen, dass es sich bei seiner Schwester nicht anders verhielt. Sie beide wehrten sich nach Leibeskräften, doch mussten schnell feststellen, dass sie der unermüdlichen Kraft der beiden Krieger, die sie in eisernem Griff hielten, nicht gewachsen waren. Risha gelang es zwar, sich in der Hand ihres Peinigers zu verbeißen, bis die Knochen knackende Geräusche von sich gaben, doch los ließ er sie deshalb nicht. Stattdessen kassierte sie von ihm eine klatschende Ohrfeige und wurde weiter davon gezerrt. Bakuras Herz setzte für einen Moment aus. Plötzlich flammten Bilder vor seinem Auge auf. Bilder Kul Elnas, das in Flammen stand, die Straßen überfüllt mit Soldaten, die die Leute vor sich hertrieben, schlugen, misshandelten, quälten und davon schleppten, auf dass sie niemals wieder gesehen wurden … „Lass sie … !“, wollte er ansetzen, doch noch ehe er fertig gesprochen hatte, wurde zurück auf den Boden geschleudert – durch eine einzige, kleine Bewegung des Relikts. „Das hätten wir also. Alles was ich brauche, ist außer Gefahr. Dann kann ich den mickrigen Rest von euch ja endlich aus dem Weg schaffen“, erklärte Caesian. Er umklammerte das Zepter und riss es hoch über den Kopf. „Grüße an eure Götter im Jenseits, Pharao!“ Atemus Augen weiteten sich. Konnte es sein? Konnte das hier wirklich das Ende sein? Würde er hier und jetzt, vor diesem Mann kauernd, sterben? Sein Innerstes schrie 'Nein'. Doch die Realität, die er vor Augen hatte, sprach anderes. Er ließ den Blick noch einmal zu seinen Freunden schweifen. Sie alle waren ebenso benommen wie der Pharao. Freunde … es tut mir leid … es tut mir so unendlich leid!, schoss es ihm durch den Kopf. Erinnerungen zogen vorüber. Wie er mit Mana in den Palastgärten gespielt hatte, als sie noch klein gewesen waren. Wie Seto ihn immer wieder hatte ermahnen müssen, nicht zu gütig zu werden. Wie er und Yugi sich duelliert hatten, um dem König Ägyptens endlich die ewige Ruhe zu geben. Wie Joey und er das eine oder andere Duell gemeinsam bestritten hatten. Wie Tea ihn immer wieder ermuntert hatte, an sich zu glauben. Wie Ryou nach dem Wochenende, an dem Atemu zum ersten Mal dem Geist des Rings begegnet war, mit lauter kleinen Brettspielfiguren in die Schule gekommen war, die die Clique zeigten, um sich zu entschuldigen. Wie Marik nach und nach zum Freund geworden war, nachdem der Pharao ihn von seiner böse Seite befreit hatte … Sollten all die glücklichen und traurigen Tage, die sie gemeinsam erlebt hatten, nun vorbei sein? Er sah, wie sich das Zepter langsam hernieder senkte. Dann ein erschrockener Aufschrei. Statt seine Macht gegen die besiegten Widersacher zu richten, riss Caesian das Relikt im letzten Augenblick herum und beschwor abermals Sand herauf. Gerade noch rechtzeitig, um sich gegen die peitschenden Flammen zu wehren, die seinen Körper hatten verzehren sollen. Der Angriff flaute ebenso plötzlich ab, wie er gekommen war, dann sprang der feindliche Herrscher so schnell er konnte beiseite. Nur Sekunden später schoss eine gewaltige Bestie vom Himmel herab und landete krachend an der Stelle, wo Caesian gerade eben noch gestanden hatte. Sie riss den Kopf in den Nacken, dann stieß Kiarna ein wütendes Brüllen aus. Als nächstes schnellte ihr Schwanz herum und fegte zwei gegnerische Soldaten davon – jene beiden, die Riell und Risha gefangen gehalten hatten. Atemu traute seinen Augen kaum. Das hier war im wahrsten Sinne des Wortes Rettung in allerletzter Sekunde gewesen. Sie mussten den Moment der Verwirrung nutzen. Keuchend stemmte er sich hoch, sah sich um – und erstarrte.Vom Palast her die Straße herunter kommend, sah er drei Menschen. Eine davon war Samira, die andere Kipino. Die letzte Resham … „Schon wieder dieser Alte!“, fauchte Caesian. „Aber gut, so brauche ich ihn wenigstens nicht zu suchen!“ Er wollte sich gerade Kiarnas annehmen, als sich das Wesen plötzlich zurück zog und sich hinter dem Pharao und seinen Mitstreitern positionierte. Was ging hier vor sich? „Resham“, murmelte Atemu, als ihn die drei Schattentänzer erreicht hatten. „Was habt Ihr vor?“ Der alte Mann lächelte. „Ich werde Euch helfen.“ Weiter kam er nicht, da ließ ihn ein Rufen aufblickten. Es war niemand anderes, als seine beiden Kinder, die sich mehr heran schleppten, als dass sie liefen. „Was tut Ihr hier?“, fragte Riell sofort. „Bringt Euch in Sicherheit! Noch ist es nicht zu spät!“ „Nein, mein Sohn. Ich werde bleiben. Ihr seid diejenigen, die gehen werden“, erwiderte Resham. „Was soll das heißen?“, erkundigte sich nun auch Risha. „Noch sind die Tunnel im Palast geöffnet. Seht zu, dass ihr sie so schnell wie möglich erreicht. Caesian gehört mir“, erklärte ihr Vater. Die Augen seines leiblichen Kindes weiteten sich. „Nein, Vater! Das wäre Euer sicherer Tod!“ „Das ist mir bewusst.“ Die schlichte, beinahe zuversichtlich angehauchte Antwort schockierte seine Nachkommen. Beide sahen ihn aus versteinerten Gesichter an, vollkommen überrumpelt. „Ihr wisst nicht, was Ihr da redet … “, wollte Risha ansetzen, doch er ließ sie nicht groß zu Wort kommen. „Ich bin mir der Tragweite meines Handelns durchaus bewusst. Ich habe diesen Weg für mich gewählt und ich werde ihn gehen. Keiner von euch vermag, mich davon abzuhalten. Ich bin nur ein alter Mann. Doch ihr seid jung und stark. Ihr müsst diese Stadt lebend verlassen. Ihr seid die Hoffnung, die Ägypten noch bleibt. Nicht ich. Pharao, nehmt Eure Soldaten und meine Schattentänzer und verschwindet so schnell Ihr könnt. Bedient euch Firells Fähigkeiten, um sie in Kenntnis zu setzen. Ich werde Euch die Zeit verschaffen, die Ihr braucht. Und ihr werdet ihn begleiten“, sagte er noch einmal nachdrücklich an seine Kinder gewandt. „Das ist ein Befehl.“ Noch immer sahen sie ihn vollkommen ausdruckslos an. Sie konnten beide nicht glauben, was sie da soeben gehört hatten. Resham konnte die Angst in ihren Augen sehen. Seine Lippen kräuselten sich zu einem Lächeln. „Ich bin stolz auf euch beide. So stolz, wie es nur ein Vater sein kann. Ihr könnt das schaffen, das weiß ich. Ihr könnt mithelfen, Ägypten vor dem Untergang zu bewahren. Doch dafür müsst ihr nun gehen.“ Riell fand als Erster wieder zu sich. Er schluckte schwer. Sein ganzer Körper zitterte, als er sich in Bewegung setzte. „Lass uns gehen … “, flüsterte er an seine Schwester gewandt, nahm sie am Oberarm und wollte sie davon führen. Einige Schritte weit begleitete sie ihn auch, doch dann riss ihre geistige Blockade ebenfalls. Sie stürzte zurück zu Resham. „Das könnt Ihr nicht tun! Vater, ich bitte Euch! Nach allem, was Ihr für mich getan habt, lasst mich an Eurer Seite bleiben!“ Doch der alte Mann legte ihr nur zwei Finger seiner gesunden Hand an ihre Lippen und brachte sie so zum Schweigen. „Ich habe meine Entscheidung getroffen. Und wenn ich wirklich so viel für dich getan habe, wie du glaubst, Risha, dann danke es mir, indem du nun gehst. Du hast noch dein ganzes Leben vor dir. Vergeude es nicht sinnlos. Es genügt, wenn einer von uns beiden die Schwelle übertritt. Und das werde ich sein.“ Sie starrte ihn vollkommen perplex an. Mit dem, was er gesagt hatte, hatte er ihr sämtliche Argumente genommen. Es gab keinen Weg mehr … Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als sie diesmal an beiden Oberarmen gepackt wurde – von Riell und Bakura. Doch das wäre nicht nötig gewesen. Sie warf noch einen letzten Blick auf das lächelnde Gesicht ihres Ziehvaters, dann wandte sie ihm den Rücken zu und eilte den anderen hinterher, die sich ebenso wie die Soldaten des Pharao und die Schattentänzer zurück zogen. Der Kloß, der in ihrem Hals saß, schnürte ihr beinahe die Luft ab. „Seid Ihr Euch Eurer Entscheidung sicher?“, erkundigte sich Atemu ein letztes Mal. Er hatte längst eingesehen, dass Resham nicht von seiner Entscheidung abzubringen war. Zugleich sah er natürlich die Chance, die sich ihnen bot und fühlte sich schlecht, sobald er daran dachte, dass dieser Mann sein Leben für sie riskieren würde. „Ganz sicher, Pharao. Doch eine Bitte hätte ich noch an Euch“, erwiderte der alte Mann. „Alles was Ihr wollt“, erwiderte der König Ägyptens sofort. Resham lächelte noch immer. „Auch wenn ich nicht mehr bin, haltet an dem Versprechen fest, das Ihr mir gabt.“ Atemu verstand und nickte. „Das werde ich. Das schwöre ich bei unseren Göttern.“ „Ich danke Euch. Lebt wohl, König der beiden Länder!“ Der Pharao neigte leicht das Haupt zum Abschied, dann wirbelte er herum und eilte seinen Freunden und Mitstreitern hinterher, so gut es ging. Zurück blieben der alte Mann und Caesian. Letzterer wirkte verwirrt. „Was soll das hier werden, hä? Willst du dich etwa mit mir anlegen? Sieh dich doch nur einmal an! Sämtliche Kraft ist aus deinem Leib gewichen, du vermagst kaum mehr, alleine zu gehen! Und da glaubst du, dich mir in den Weg stellen zu können?“ „Ihr werdet sehen, wozu ich noch fähig bin, Caesian! Ich mag nicht in der Lage sein, Euer Antlitz endgültig von dieser Welt zu verbannen, doch ich vermag, Euch für den Moment aufzuhalten, den der Pharao benötigt, um Euren Fängen erneut zu entwischen.“ „Ach ja? Du und welche Armee? Was soll ein Einzelner gegen mich ausrichten können?“ „Ich bin nicht allein.“ Caesian wollte bei diesen Worten in Gelächter ausbrechen. Doch nur einen Augenaufschlag später blieb ihm dieses im Hals stecken. Sein Gegenüber hatte zu glühen begonnen. Hinter dem Körper des alten Mannes begann die Luft zu flimmern, greifbare Formen anzunehmen. Dann stob Staub in einem regelrechten Wirbelsturm auf. Ein gellender Schrei fegte über die Wüste hinweg, als sich gewaltige, durchscheinende Schwingen streckten. Grünes Gefieder glänzte im Sonnenlicht. Gelb-orange Schwanzfedern peitschten um die gewaltigen, mit Klauen bewährten und Ringen umschlungenen Füße. Schmuck zierte die Flügel, eine goldene Krone saß auf dem Haupt, während aus dem Rücken ein ähnlicher Ring ragte, wie ihn auch der geflügelte Drache des Ra trug. Gelbe Augen fixierten Caesian, während aus dem Schnabel ein Angst einflößendes Brüllen drang. Simorgh, Reshams Ka-Bestie, war erschienen. Ihr Träger war auf die Knie gefallen, die Beschwörung hatte zuviel Kraft gekostet. „Was soll das werden, alter Mann? Glaubst du wirklich, du könntest mir in irgendeiner Weise schaden?“ „Er mag dazu nicht mehr in der Lage sein. Doch vergiss mich nicht, verblendete Seele!“, donnerte Simorghs Stimme über den Sand hinweg. Er hatte das Reden anstelle Reshams übernommen. Er neigte den Kopf und sah sich um. Als er ein Schwert auf der Straße liegen sah, las er es mit dem Schnabel auf. „Was vermagst du schon auszurichten, Federvieh? Auch du bist nur ein Kind der Götter und ihnen nicht ebenbürtig. Du bist gar noch minderwertiger, als die Bestien, die der Pharao zu beschwören vermag. Und die habe ich alle das Fürchten gelehrt!“, höhnte Caesian weiterhin. Indes ließ Simorgh die Klinge klappernd vor Resham fallen. Der griff mit zitternden Fingern danach. „Wollen wir diesen Kampf nun mit dem Schwert entscheiden? Mir soll es recht sein, auch darin würde ich euch bemitleidenswerte Kreaturen besiegen.“ „Nicht ganz, Caesian“, antwortete wieder der gewaltige Vogel an Stelle seines Trägers. „Doch ehe das Ritual vollzogen wird, das dich abermals um die Relikte bringen wird, lass dir eines gesagt sein! Du wirst fallen. Und dann werden seine Kinder um deine Leiche tanzen!“ „Niemand kann mich besiegen! Absolut niemand!“, brüllte Caesian in irrem Gelächter. „Du bist verblendet, Menschenkind. Ebenso, wie es der Gott einst war, dessen Zepter du in Händen hältst! Doch ihm wurden die Augen geöffnet. Und so wird es auch bei dir sein!“ Ein gellender Schrei stieg aus Simorghs Kehle herauf, als Resham das Schwert packte und mit letzten Kräften in seinen eigenen Leib rammte. Dann breitete er die Hände aus und begann, einen uralten Spruch zu rezitieren. Nach und nach verschwand sein Körper in Licht, begann, sich aufzulösen. Die hellen Funken, in die er zerstob, stiegen auf zu seiner Ka-Bestie und vereinigten sich mit ihr. Brüllend nahm der gigantische Vogel die Energie in sich auf, begann zu strahlen, wie die Sonne selbst. Augenblicklich wich Caesian zurück. „Was tust du?“ „Ich bringe dir die Erleuchtung ...“ Simorghs Stimme war nicht mehr greifbar, sein Körper im Licht aufgegangen. Auf gleißenden Schwingen stieg er empor, tauchte das Land in grellen Schein. Als er wieder hernieder stieß, war es, als fiele die Sonne selbst auf die Erde. Kapitel 30: Schmerz ------------------- Schmerz „Lass dir eines gesagt sein, Caesian! Du wirst fallen. Und dann werden seine Kinder um deine Leiche tanzen! Du bist verblendet, Menschenkind. Ebenso, wie es der Gott einst war, dessen Zepter du in Händen hältst! Doch ihm wurden die Augen geöffnet. Und so wird es auch bei dir sein! Denn ich bringe dir die Erleuchtung ...“ Sie liefen. Liefen als wäre Seth persönlich hinter ihnen her. Woher sie die Kräfte dazu nahmen, wussten sie selbst nicht. Doch das Bewusstsein darüber, was geschehen würde, wenn sie Men-nefer nicht rechtzeitig verließen, verlieh ihnen Flügel. Dennoch kam es ihnen vor wie eine Ewigkeit, bis sie endlich den Palast erreichten. Ohne zu zögern eilten sie durch die Gänge, sprangen Treppen hinunter, bis die Dunkelheit der unterirdischen Tunnel sie verschluckte. Nur vereinzelt erhellten Fackeln ihren Weg – und dennoch hielten sie nicht inne. Sie hatten keine Zeit. Was auch immer Resham plante, es konnte sich nur noch um Augenblicke handeln, bis es eintrat. Bald erfüllten keuchende Laute die Gänge. Die dünne, stickige Luft machte ihnen das Atmen schwer. Zugleich war der Boden schlüpfrig und hielt hier und dort die eine oder andere Falle bereit. „Licht ... Da vorne ist Licht!“, stieß Tea plötzlich hervor, die voraus eilte. Die Kondition, die sie durch das Tanzen gewonnen hatte, kam ihr in diesem Moment zu Gute. So war es zunächst sie, die vom grellen Schein geblendet wurde. Die Anderen folgten ihr auf den Fuß. Sie standen auf einem Hügel nahe des Nils, der üppig bewachsen war. Am Horizont erhob sich Men-nefer aus dem Wüstensand. „Majestät! Majestät, bei den Göttern, Euch geht es gut!“ Nur langsam gewöhnten sich Atemus Augen an die Helligkeit, sodass er zunächst nicht genau wusste, wer da vor ihm stand. Dann jedoch gewahrte er einen seiner Feldherren, der erleichtert herbei geeilt war. „Ja, es ist alles noch einmal gut gegangen“, erwiderte der Pharao. „Doch sagt, konntet ihr die Menschen retten? Wie geht es ihnen?“ „Ja, mein Herr. Alle, die unsere Hilfe angenommen haben, konnten wir in Sicherheit bringen“, entgegnete der Mann, während er mit seinem Schwert auf einen Punkt in der Ferne deutete, wo sich zahlreiche Menschen scharrten. Joey, der ebenfalls bei ihnen stand, seufzte ebenso erleichtert wie Atemu. „Ein Glück. Wenigstens etwas, über das wir froh sein kö...“ Weiter kam er nicht, da wurde er plötzlich zur Seite gestoßen, als sich Risha unsanft an ihm vorbei schob. Wie von der Tarantel gestochen rannte sie auf den Kamm des Hügels hinauf, um ungehindert gen Men-nefer blicken zu können. Ihr Gesichtsausdruck wirkte nervös, regelrecht panisch – was sich nicht besserte, als sie den höchsten Punkt der Erhebung erreichte. Ihre Miene gefror zu Eis. Ungläubig riss sie die Augen auf, während Riell ihr sofort folgte. Die Stadt hatte zu glühen begonnen. Irgendwo in ihren schier endlosen Reihen glomm etwas, so stark, dass es selbst hier noch zu sehen war. Ein Schauer durchfuhr Rishas Körper. Ihr Herz krampfte sich zusammen, als habe man es mit Stacheldraht umwickelt. Ihrem Bruder erging es kein bisschen anders. „Bitte nicht ...“, wisperte sie. Doch der Wind trug die Worte davon, sie blieben ungehört. Plötzlich wurde das Glühen stärker, schwoll an zu einem gleißenden Lichtschein, der aus dem Schoß Men-nefers empor zu steigen schien. Ein gellender Schrei schallte über der Wüste dahin, während Simorgh, anmutiger denn je, dem Firmament entgegen strebte. Bitte nicht ... Goldener Glanz umgab jede einzelner seiner Federn wie Feenstaub. Seine Umrisse waren kaum noch zu erkennen, wurden glühend verschluckt. Dennoch konnten sie sehen, wie die gewaltigen, kräftigen Schwingen schlugen und ihn immer weiter hinauf trugen – zum letzten Mal ... Der Anblick wäre schön gewesen, wenn sein Hintergrund nicht so brutal und schmerzhaft gewesen wäre. Bitte nicht! Immer weiter strebte Simorgh dem nur ihm bekannten Scheitelpunkt entgegen. Vor den Augen der Schattentänzer spielte sich das Szenario wie in Zeitlupe ab. Doch schließlich kam der Moment von dem sie gehofft hatten, er bliebe fern. Der riesige Vogel erreichte seinen höchsten Punkt, wandte sich der Erde zu. Einem Blitz gleich stach er dem Boden entgegen, einen letzten, donnernden Schrei ausstoßend. Bei den Göttern ... bitte, bitte nicht! Schließlich versank die Wüste in einem gleißenden Glühen. Es mutete an, als sei die Sonne selbst auf die Erde hernieder gefallen. Rauschend stob das Licht über das Land und hinterließ nichts als Helligkeit. Geblendet schlugen sich Riell und seine Schwester die Arme vor das Gesicht. Dann war es vorbei. Das Rauschen verebbte. Das Leuchten schwand. Es wurde totenstill. Kein Geräusch durchbrach dieses Schweigen. Nicht einmal der Wind wisperte. Nur langsam ließen die beiden Schattentänzer die Arme sinken. Als wollten sie es nicht sehen, es nicht wahrhaben. Doch schließlich blieb ihnen nichts anderes übrig. Langsam, als seien sie verängstigt, richteten sie den Blick gen Men-nefer. Ein sanfter Glanz lag über der Stadt und hatte sich mit dem Dunst vermischt, der empor gestiegen war, als Simorghs Angriff seinen Gegner getroffen hatte. Ein weiterer Teil der Mauer, die die gigantische Siedlung umgab, war in sich zusammengebrochen. Doch ansonsten erinnerte schon jetzt nichts mehr daran, dass ein Mann soeben sein Leben dem Wohle Ägyptens geopfert hatte. Die Zeit im Leben mehrerer Personen stand still. Riell war der Erste, der sich wieder bewegte. Mit weit aufgerissenen Augen setzte er einen Fuß vor den anderen. Doch bald blieb er wieder stehen. Sein Atem ging nur noch stoßweise. Langsam, sich stetig dagegen sträubend, begriff er, was geschehen war. Sein Vater, das Oberhaupt und der Begründer der Schattentänzer, war nicht mehr am Leben. Tot. Er würde ihn nie wiedersehen. Ebenso wie er seine Mutter vor acht Sommern zum letzten Mal gesehen hatte. Er würde nie wieder mit ihm sprechen, sie würden nie mehr schweigend die Sterne betrachten, keine Späße mehr austauschen. Die Gewissheit brach über Riell herein wie eine Sintflut. Sie peitschte gegen sein Herz, das sich augenblicklich zusammenkrampfte und machte seinen ganzen Körper taub, schwemmte die Frage mit sich, auf die der junge Mann niemals eine Antwort finden würde: Warum ? Er fühlte sich kaum noch fähig, zu stehen. Die Welt um ihn herum nahm er nicht mehr war. Sie war weit fort, während er in Erinnerungen versank, die ihm das Atmen schwer machten und den Kloß in seinem Hals kräftigten. So merkte er nicht, wie Samira neben ihn trat. Das junge Clanmitglied blickte ebenso ungläubig drein wie sein Oberhaupt. Am ganzen Körper zitternd starrte sie gen Men-nefer. Ihre Lippen bebten. Die zierlichen Hände hatte sie in ihr Haar gekrallt. Es konnte nicht sein. Nein. Es war unmöglich. Meister Resham konnte, Meister Resham durfte nicht tot sein! Er war alles, was den Clan ausgemacht hatte. Er hatte ihn gegründet, ihn geleitet. Er konnte doch nicht einfach weg sein! Er konnte sie nicht alleine zurücklassen, nicht in so einer Situation! Sie brauchten ihn! „Was ... was soll denn nur aus uns werden?“, wimmerte sie. „Wie sollen wir ...?“ Die Stimme versagte ihr, ehe sie plötzlich zusammensackte, einen Schrei der Verzweiflung ausstoßend. „Meister Resham ... nein!“ Schluchzend kauerte sie am Boden, das Gesicht in den Händen vergraben. Tränen rannen ihre Wangen hinab, strömten wie Bäche ihr Gesicht hinunter. Ihre Brust schmerzte unter den Krämpfen, die sie beim Weinen schüttelten. Sie rang nach Luft und nutzte doch jede Möglichkeit, die ihr ihre Lungen ließen, um sich den Schmerz von der Seele zu schreien. Absolute Verzweiflung umklammerte ihr Herz. Es gab keinen Weg mehr. Es konnte keinen Weg mehr geben. Nicht ohne ihn. Er hatte sie alle beschützt. Ohne ihn gab es keine Zuflucht mehr. Vollkommen in Pein versunken, spürte sie kaum Kipinos Berührungen. Der ältere Schattentänzer hatte sie in seine Arme gezogen und hielt sie fest. Auch seine Wangen waren von Tränen gezeichnet. Er presste die Lippen aufeinander. Am liebsten hätte auch er seinen Gefühlen freien Lauf gelassen. Doch für Samira, eine ihrer Jüngsten, musste er stark sein. Denn den einzigen Personen, die sie sonst hätten trösten können, war es augenblicklich nicht zu zumuten, sich um jemand anderen zu kümmern. Sein von Tränen verschleierter Blick wanderte zu Risha. Wie angewachsen stand sie noch immer auf derselben Stelle und starrte gen Men-nefer. Ihre Augen zierte dieselbe Ungläubigkeit, wie es bei ihrem Bruder der Fall war. Die Welt war weit entfernt. Es gab nur noch diesen Augenblick. Diesen einen, da Simorgh auf die Erde gestürzt war, ehe er endgültig verschwand – als sich sein Schicksal ebenso erfüllt hatte, wie das seines Trägers. Eine der stärksten Ka-Bestien, die Risha kannte, war fort – und mit ihr Resham. Er war über die Schwelle getreten – und er würde niemals zurückkehren. Sie sank auf die Knie, grub die Hände in den Sand. Ihr Gesicht war unter den langen, blonden Haaren verborgen, während sie die Kiefer aufeinander presste. Er hatte sie gerettet. Wieder einmal. Doch diesmal hatte er es mit seinem eigenen Leben bezahlt. Risha fragte sich nicht, warum er nicht mehr da war. Es war Schicksal gewesen. Nein, sie stellte sich eine andere Frage: Warum war es sein Schicksal? Sechmet, warum? Was hat er verbrochen? Was hat er getan, dass er bereits jetzt und auf diese Weise sterben musste? Sie erwartete keine Antwort. Sie wusste, dass es keine gab. Bald würde die Welt über diesen Verlust hinweg gesehen haben. Sie würde weiter ihrem Trott folgen, als habe es Resham niemals gegeben. Sie würde die Tage, die sich in Rishas Erinnerungen eingebrannt hatten, in weite Ferne rücken lassen. Wie er damals in mitten der Wüste vor ihr gestanden hatte. Wie er ihr die Hand gereicht hatte, um aufzustehen. Wie er sie damals offiziell vor dem ganzen Clan als sein Kind adoptiert hatte. Wie er immer und immer wieder, mit der Geduld eines Gottes, versucht hatte, ihr den Schmerz zu nehmen, gleich wie oft er scheiterte. Er hatte sie wie seine leibliche Tochter aufgezogen, obgleich sie ihm nichts hätte bedeuten müssen. Und doch hatte er sie freiwillig in sein Herz gelassen, gleich wie viel Kummer sie ihm mit ihrer Art bereiten mochte. Es war nicht gerecht. Es mochte Schicksal sein, doch es war nicht gerecht. Jemand anderes hätte an seiner Stelle sterben müssen. Und sie wusste genau, wer. Mit einem Mal war Risha auf den Beinen. Bestimmten Schrittes lief zu einem der Pferde hinüber, die unweit der Düne standen. Die Rufe ihres Bruders nahm sie wahr, als kämen sie auf weiter Ferne, als seien sie kaum vorhanden. Sie wurden erst zur Realität, als sie jemand an den Armen packte und herum drehte. Plötzlich blickte sie direkt in Riells Gesicht. „Was hast du vor?“, brüllte er mehr, als das er sprach. Noch immer lagen die Tränen auf seinen Wangen. „Ich werde ihn töten“, erwiderte Risha dennoch vollkommen sachlich. Sie entwand sich seinem Griff und wollte weitergehen, da wurde sie erneut herum gerissen. „Oh nein, das wirst du nicht!“, schrie Riell sie an. „Du wirst hier bleiben, hast du verstanden?“ „Wieso sollte ich? Dort“, entgegnete sie im gleichen Tonfall, während sie gen Men-nefer deutete, „sitzt der Mann, der unseren Vater auf dem Gewissen hat! Und ich werde nicht zulassen, dass er weiter atmet, während Resham zu den Göttern übergehen musste!“ „Du bleibst hier, verdammt! Vater hat sich für uns geopfert! Ich werde nicht mit ansehen, wie du diese Tat mit Füßen trittst, indem du dich freiwillig in diese Stadt begibst, wo außer dem Tod nichts, aber auch gar nichts auf dich wartet!“ „Resham wird mir vergeben! Und solange ich Caesian nur mit mir nehme, nehme ich auch in Kauf, zu sterben!“ „Weder kannst du ihn besiegen, noch kannst du ihn mit dir nehmen! Niemand kann das! Er nennt die göttlichen Relikte sein eigen! Du bist machtlos!“ „Das werden wir sehen ...“ „Nein, das werden wir nicht!“, donnerte Riell. „Denn ich werde nicht zulassen, dass das Einzige, was mir von meiner Familie noch geblieben ist, ebenfalls stirbt!“ Schweigen folgte auf diese Worte hin. Es wurde erst unterbrochen, als Risha mit einem kurzen, zischenden Laut den Kopf abwandte. Sie sah erst wieder in die Augen ihres Bruders, als er seine Hand auf ihre Schulter legte. „Er wird sterben. Eines Tages. Auf die grausamste und schmerzvollste Weise, die wir finden können. Das schwöre ich, bei den Göttern, die unserem Vater heilig waren.“ Keiro war erschöpft an einem Baum zu Boden gesunken. Sein Kopf fühlte sich an, als wolle er zerspringen, und der ganze Körper tat ihm weh. Dennoch huschte ein kurzes Lächeln über seine Züge. Vorsichtig ließ er den Blick zu den Schattentänzern hinüber schweifen. Ihr Oberhaupt war tot. Sie alle heulten Rotz und Wasser. Ihre beiden künftigen Anführer vor kurzem verschwunden, versorgten wahrscheinlich ihre Wunden. Reshams Tod war taktisch gesehen ein herber Verlust. Doch für Keiros persönliche Pläne hätte es nicht besser laufen können. Der alte Mann war fort und würde ihm niemals wieder in die Quere kommen. Er hatte endlich freie Bahn. Nach all den Jahren ... Seit einer gefühlten Ewigkeit träumte er davon, Risha loszuwerden. Doch bislang war er erfolglos gewesen. Die wenigen Male, da er die Gelegenheit gehabt hätte, hatte er sich zurück halten müssen. Denn wenn es einen Menschen gegeben hatte, den Keiro fürchtete, dann war es Resham gewesen – auch wenn der Alte nicht gerade Angst einflößend aussah. Doch der junge Mann kannte die andere Seite des Clanführers genau. Es gab eine Sache bei der er keinen Spaß verstanden hatte: Und das waren seine Kinder. Wäre Risha etwas zugestoßen und wäre Keiro der Grund dafür gewesen, Resham hätte ihn bis ans Ende der Welt verfolgt, wenn es hätte sein müssen. Was fand er bloß an diesem Miststück? Er erinnerte sich noch an die Worte, die vor langer Zeit in einer Unterhaltung gefallen waren: Risha ist nicht das Monster, für das du sie hältst, Keiro! Ach nein? Zu einem gewissen Teil mochte er richtig liegen. Die Schattentänzer hatten einen großen Einfluss auf sie ausgeübt. Dennoch war sie inzwischen alt genug, um sich davon zu befreien. Doch sie tat es nicht. Sie tötete ohne Rücksicht auf Verluste. Sie wollte stets mit ihrem Kopf durch die Wand, gleich, wie hoch der Preis dafür war. Doch es war nicht nur ihre Art, die Keiro rasend machte. Nein. Seit sie aufgetaucht war, hatte er kaum mehr ein ruhiges Wort mit Bakura wechseln können. Und das war einzig und allein ihre Schuld. Und dafür, so schwor er sich, würde sie teuer bezahlen. „Ist denn wirklich sicher, dass er nicht mehr am Leben ist?“ Teas Stimme klang betroffen. Sie hatte keinen Kontakt zu dem Oberhaupt der Schattentänzer gehabt, doch Atemus Bericht von ihrem Aufeinandertreffen genügte ihr, um zu wissen, dass Resham ein guter Mann gewesen sein musste. Der Pharao schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Ahnung, was er getan hat. Doch seine Worte und die Reaktion des Clans lassen keinen Zweifel zu. Resham ist nicht mehr.“ „Ich hätte nicht gedacht, dass ich etwas Derartiges jemals sagen müsste, doch ich komme nicht darum herum: Wir verdanken diesem Mann unser Leben“, pflichtete Seto bei. „Und dennoch haben wir im Augenblick keine Zeit, zurück zu blicken. Wir haben Men-nefer verloren und stehen hier in mitten der Wüste, zusammen mit aberhunderten Zivilisten – und das vollkommen schutzlos.“ „Er hat recht“, stimmte Mana zu. „Wir haben zwar Späher aufgestellt und es sieht so aus, als würde Caesian die Stadt zunächst sichern und gänzlich unter seine Kontrolle bringen wollen – aber bei ihm weiß man nie.“ „Richtig“, mischte sich auch Yugi ein. „Aber sagt mal, bin ich der Einzige, der die Möglichkeit in Betracht zieht, dass Caesian den Angriff nicht überlebt haben könnte?“ „So Leid es mir tut, aber da muss ich dich enttäuschen ...“ Die Anwesenden fuhren herum, nur um in das gemarterte, blasse und unendlich müde Gesicht Riells zu sehen. „Er nennt die göttlichen Relikte sein Eigentum. Wenn er sie benutzt hat, um den Angriff abzuwehren, dann ist er nicht tot. Gewiss wird ihn der Schlag einige Kraft gekostet haben und ich bin vollkommen sicher, dass er uns die nächsten beiden Sonnenläufe nicht behelligen wird, aber gewonnen haben wir deshalb noch lange nicht. Das, was uns durch die Tat meines Vaters gegeben wurde, ist Zeit – Zeit um unsere Wunden zu versorgen und ein wenig zu ruhen. Mehr jedoch nicht, gleich wie groß sein Opfer war“, fügte er hinzu und man sah ihm an, dass er darüber traurig war. Resham hatte sein Leben gegeben – und ihnen dennoch nicht mehr als eine kurze Weile verschaffen können, um das Geschehene zu verkraften. „Das stimmt nicht, Riell“, entgegnete Atemu schließlich. „Ohne Euren Vater wären wir alle tot. Er hat uns nicht nur Zeit, sondern auch unsere Leben geschenkt.“ „Bin bis jetzt wirklich nur ich auf die Idee gekommen, die Gunst der Stunde zu nutzen?“, mischte sich plötzlich Marlic ein. „Hallo? Der Kerl ist verletzt. Wenn wir Glück haben sogar schwer. Warum marschieren wir jetzt nicht einfach zurück und erledigen ihn ein für alle Mal?“ „Und du allen voran oder wie?“, erkundigte sich Marik. „Du vergisst unsere eigenen Probleme. Caesian musste einiges einstecken, als ihn der Angriff traf, aber uns geht es kein bisschen besser. Außerdem hat er nach wie vor die Relikte. Selbst wenn er halb krepiert wäre, wäre er wahrscheinlich immer noch besser dran als wir, so negativ das auch klingen mag.“ „Des Weiteren sollten wir, ehe wir über uns sprechen, zunächst überlegen, was mit dem Volk geschieht“, gab Mana zu bedenken. „Die Leute sind verängstigt und haben ihr zu Hause verloren. Und wir können sie unmöglich in dieser Gegend verweilen lassen. Es wäre viel zu gefährlich.“ Sie wandte sich an Atemu. „Pharao, die Städte im Süden sind noch nicht geräumt worden. Der Krieg hat sie bislang ja nicht direkt betroffen. Wärt ihr einverstanden, die Zivilisten nach Theben bringen zu lassen?“ „Theben liegt mehrere Tagesmärsche entfernt. Vor allem wird man bei dieser Menge von Personen noch langsamer voran kommen“, warf Seto ein. „Habt Ihr eine bessere Idee? Also ich gebe ganz offen und ehrlich zu: Ich nicht“, entgegnete die Hofmagierin. „Ich ebenso wenig“, pflichtete seine Majestät bei. „Theben ist die nächste, größere Ansiedlung. Sie ist die einzige Möglichkeit, die wir momentan haben.“ „Nun gut“, meinte Seto nickend. „Ich werde alles veranlassen, damit die Leute so bald wie möglich aufbrechen.“ Nachdem er verschwunden war, räusperte sich Ryou. „Wenn das jetzt geklärt ist: Wie sieht denn unser weiterer Plan aus?“ Atemus Blick wanderte sogleich in Richtung Men-nefer. Schließlich seufzte er und ließ die Schultern hängen. „Ganz ehrlich? Ich habe keine Ahnung.“ „Das ist wieder typisch für seine Hochwohlgeborenheit. Kaum läuft etwas nicht ganz nach Plan steht er da und hat keinen Schimmer, wie es weitergehen soll.“ Mana fuhr trotz ihrer gebrochenen Rippen herum, als habe sie eine Schlange gebissen. „Ach ja? Hast du etwa eine Idee, Bakura?“ Der Grabräuber, der die Gruppe soeben hatte passieren wollen, blieb sogleich stehen. „Gewiss“, entgegnete er mit breitem Grinsen. Dennoch wirkte die Miene lange nicht so selbst sicher, wie sonst. Um der Unterhaltung die Schärfe zu nehmen, mischte sich Riell eilig ein. Er war von den Umstehenden wohl derjenige, der noch das beste Verhältnis – sprich: eigentlich gar kein Verhältnis und dadurch wiederum keine Angriffsfläche – zu Bakura hatte. „Und wie sieht diese aus?“ „Denk doch mal nach“, stöhnte sein Gegenüber und verdrehte die Augen. „Caesian will den Pharao töten. Und uns ebenfalls, weil wir ihn auch scheiße finden. Das Ziel hat er nicht erreicht, dafür hat er jedoch Men-nefer bekommen. Dadurch haben sich seine Prioritäten mit großer Wahrscheinlichkeit geändert.“ Riell nickte plötzlich. „Ich glaube ich weiß, worauf du hinaus willst. Caesian wird als erste Amtshandlung nicht alles daran setzen, uns zu bekommen. Er wird zunächst nach weiteren Relikten suchen.“ „So würde zumindest ich es machen. Wobei natürlich nicht auszuschließen ist, dass einer von euch Schattentänzern nicht doch auf seiner Prioritätenliste steht. Immerhin eilt euch der Ruf voraus, Wissen um die göttlichen Gegenstände zu besitzen.“ „Das heißt unsere Aufgabe besteht vorerst darin, ihm zuvor zu kommen. Wir müssen die Relikte finden, ehe er es tut“, führte Riell den Gedanken schließlich zu Ende. „Und wir sollten uns dabei tunlichst nicht erwischen lassen.“ „Dafür bräuchten aber auch wir eine Möglichkeit, hier in der Gegend zu bleiben“, merkte Yugi an. „Wir können ja schlecht in mitten der Wüste kampieren.“ „Und in die Dörfer können wir auch nicht gehen“, fügte Ryou hinzu. „Caesian wird sie eventuell durchsuchen lassen.“ „Was das betrifft, könnte ich vielleicht helfen“, überlegte Riell. „Unser Clan hat nicht immer unter der Erde gelebt. Wir hatten einst einen Unterschlupf in süd-westlicher Richtung. Dort gibt es mehrere große Felsformationen. In ihnen wohnten wir einst. Allerdings ist mir der Zustand der Höhlen und Tunnel klar. Und es ist auf keinen Fall genügend Platz, um uns, den Clan und die ägyptischen Soldaten zu beherbergen.“ „Aber es wäre doch einen Versuch wert“, versicherte Yugi. „Was meinst du, Atemu?“ Der Pharao schien eine ganze Weile nachzudenken. „Was den Platz betrifft, sorge ich mich nicht. Ich hatte so oder so nicht vor, dass Heer weiterhin hier weilen zu lassen.“ Mana riss überrascht die Augen auf. „Wie ... ?“ „Es sind bereits genügend Menschen in diesem Krieg gestorben. Ich werde nicht weiter zusehen, wie Kinder ihre Väter und Frauen ihre Männer verlieren. Nein. Sie werden mit der Bevölkerung nach Theben ziehen.“ „Was beim kommenden Vorhaben gar nicht dumm ist“, stimmte selbst Marlic zu. „Je weniger Menschen, desto unauffälliger. Die Wahrscheinlichkeit, dass Caesian uns zufällig entdecken würde, sinkt damit drastisch.“ „Stimmt. Des Weiteren brauchen wir dann keine Abstriche am Clan zu machen. Ich werde gewiss allen freistellen, mit gen Süden zu ziehen. Doch ich bin mir sicher, dass die meisten bleiben und Rache nehmen wollen“, ergänzte Riell mit bitterem Unterton in der Stimme. „Risha auf jeden Fall.“ „Wobei es doch gerade bei ihr und dir gut wäre, wenn ihr abhauen würdet“, gab Joey zu bedenken. „Der Kerl wollte euch doch, weil er denkt, ihr wisst, wo die anderen Relikte zu finden sind.“ „Dein Einwurf ist begründet, doch du kannst weder von mir, noch von meiner Schwester verlangen, dass wir gehen“, erwiderte das Clanoberhaupt. „Vor allem bei ihr wirst du mit diesem Vorschlag auf Granit beißen. Nein. Wir beide gehen lieber in den Tod, als davon zu laufen. Caesian hat unseren Vater auf dem Gewissen und dafür wird er bezahlen.“ Atemu war zunächst verwundert über Riells wenig rationale Antwort. Er hätte erwartet, dass er es durchaus in Betracht zog, unterzutauchen. Was den Wunsch ihres Feindes anbelangte, wäre es das Geschickteste gewesen, beide verschwinden zu lassen. Doch er konnte sein Gegenüber verstehen. Caesian hatte ihm den Vater genommen. Und dafür musste er büßen, gleich wie hoch der Preis war. Selbst wenn dies vielleicht nicht in Reshams Sinn gewesen war – denn seine Kinder konnten nicht ihr ganzes Leben nach seinem Willen ausrichten. Irgendwann mussten auch sie ihrem eigenen Herzen folgen. Und dieses sinnte in beiden Fällen auf blutige Rache. „Nun gut“, überlegte Atemu schließlich laut. „Das bedeutet, dass die Schattentänzer bleiben, dass ich bleibe ...“ „Und ich!“ „Ebenso!“ „Dito!“ „Als ob ich mir die Gelegenheit entgehen lasse, dem Kerl in den Arsch zu treten ...“ „Auf mich kannst du auch zählen!“ Sie ging es noch eine ganze Weile reihum. Der Pharao war nicht wirklich verwundert. Nein, er hatte damit gerechnet. Zum einen freute er sich, zum anderen machte ihm genau das das Herz schwer. Doch er wusste, dass diskutieren absolut sinnlos war – vor allem in seinem jetzigen Zustand. „Nun gut. Ich werde Seto anweisen, die Soldaten mit den Zivilisten nach Theben zu schicken. Und dann werden wir sehen, ob der von Euch, Riell, genannte Platz uns Unterschlupf bieten kann.“ Die Sonne hatte der Welt den Rücken gekehrt. Lediglich ein letzter roter Schimmer lag noch über der Wüste. Doch auch er würde bald verblassen. In seinem Licht zogen aberhunderte von Menschen gen Süden. Frauen, Kinder, Alte, Kranke, Soldaten. Nur eine vergleichsweise winzige Truppe blieb auf einer nahen Düne zurück. Sie blickten dem Tross hinterher, während der Wüstenwind an ihnen vorüber zog und an ihrer Kleidung zerrte. „Sollen wir gehen?“, erkundigte sich Yugi schließlich nach einer kleinen Ewigkeit bei seinem Ebenbild. Atemu nickte. „Ja. Wir sollten aufbrechen, ehe sich die Nacht gänzlich über das Land senkt. Je länger wir warten, desto kälter wird es.“ „Aber eine Frage bleibt doch noch“, meldete sich plötzlich Ryou zu Wort. „Wenn ich das richtig verstanden habe, dann ist der Ort, zu dem wir gehen wollen, schon seit langer Zeit verlassen. Das heißt, dass wir dort wohl kaum Lebensmittel und Wasser finden werden, oder?“ Riell stimmte zu. „Ja, so sieht es aus.“ „Zugegebener Maßen ein Problem“, überlegte Seto. „Ohne Nahrung und Wasser werden wir nicht lange aushalten. Letzteres dürfte das geringere Problem darstellen, der Nil ist nicht fern. Aber Ersteres ...“ „Ich weiß nicht wo das von dir angesprochene Problem sein soll“, mischte sich Bakura ein, der den Blick in die Wüste hinaus gerichtet hatte. „Dank Caesian sollte es nun genügend verlassene Dörfer geben. Da wird sich gewiss das eine oder andere finden lassen.“ „Warum war mir nur klar, dass ein solcher Vorschlag ausgerechnet von dir kommen würde?“, entgegnete der Hohepriester sogleich schnippisch. Die Antwort darauf war ein amüsiertes Glucksen. „Du bist doch nur neidisch, dass dir dieser Einfall nicht gekommen ist.“ „Ich soll neidisch darauf sein, dass du Erfahrung darin hast, dein Leben mit Stehlen zu unterhalten, anstatt dir dein Brot anständig zu verdienen? Mit Sicherheit nicht.“ „Ich unterbreche euch nur ungern, aber sollten wir nicht erst einmal unseren Unterschlupf aufsuchen, ehe wir uns die Zeit zum Streiten nehmen? Meinetwegen könnt ihr auch gerne auf dem Weg dorthin diskutieren, Hauptsache wir kommen von hier weg“, warf schließlich Tea ein. Sie fühlte sich nicht nur maßlos erschöpft, auch eine gewisse Angst saß ihr im Nacken. Sie befanden sich noch immer in der Nähe von Men-nefer und dort war Caesian. Je schneller sie von hier weg kamen, desto besser. „Sie hat nicht ganz unrecht, Leute“, meldete sich nun auch Joey zu Wort. „Ich würde sagen: Alle Mann zu den Pferden!“ „Gut, ich kläre nur noch schnell die Nahrungsbeschaffung. Risha?“, rief Riell schließlich. Die Angesprochene, die soeben dabei gewesen war, auf ihr Pferd zu steigen, hielt inne. „Ja?“ „Wir brauchen noch Vorräte.“ „Und wo willst du die hernehmen?“ „Aus den verlassenen Dörfern in der Gegend.“ Seine Schwester schien einen Moment nachzudenken. „Ist gut. Ich kümmere mich darum.“ „Das musst du nicht ... Ruh' dich lieber aus!“ „Das könnte ich so zurückgeben“, entgegnete die Schattentänzerin und schwang sich bereits auf ihr Reittier. „Lass' uns die Diskussion einfach beenden, indem wir sagen, dass ich gehe“, schlug sie schließlich vor. Riell seufzte. „Du kannst so dickköpfig sein, wenn du willst.“ „Ich weiß. Sonst noch etwas?“ „Ja. Wenn ihr nur den leisesten Verdacht habt, dass sich Krieger Caesians in der Nähe befinden, verschwindet augenblicklich!“ „Keine Sorge“, entgegnete Risha kopfschüttelnd. „Wir kommen zurecht.“ Sie sah sich um, rief ein paar Schattentänzer zu sich, die nicht allzu schwer verletzt waren. Kurz darauf preschte sie in die Wüste hinaus, gefolgt vom einem kleinen Trupp von rund einem Dutzend Clanmitgliedern. Riell sah ihr besorgt hinterher. Er wusste, dass die Wahrscheinlichkeit gering war, dass sie nach einer derartig anstrengenden Schlacht noch auf Gegner treffen würden. Und dennoch beunruhigt ihn Rishas Abwesenheit. Denn er wusste: Wenn ihr etwas zustieß, er wäre nicht schnell genug bei ihr, um ihr zu helfen. Seufzend schüttelte er den Kopf, um die tristen Gedanken zu vertreiben, ehe auch er sich zu seinem Pferd begab. Langsam setzte sich der Zug aus den Letzten, die noch den Willen hatten, Widerstand zu leisten, in Bewegung. Die Nacht hatte sich bereits über das Land gelegt und der Mond stand hoch am Himmel. Als sie endlich eine Felsformation am Horizont ausmachen konnten, vermochten sie nicht mehr einzuschätzen, wie lange sie schon unterwegs waren. Sie alle atmeten erleichtert auf. Rasch kamen sie näher und Atemu erkannte bald, weshalb der Clan die hohen Klippen einst als Unterschlupf genutzt hatte. Eine Kette von Gestein zog sich durch die Wüste, deren äußere Fassade unscheinbar wirkte. Zugleich schien es schier unmöglich, die hoch aufragenden Wände zu erklimmen. Der Anblick warf in ihm bald die Frage auf, wie sie zu den von Riell beschriebenen Höhlen gelangen sollten. Doch er wurde schnell beruhigt. Der Schattentänzer führte sie eine ganze Weile um die Formation herum, bis er schließlich inne hielt. Versteckt zwischen zwei gewaltigen Steinen befand sich ein Durchlass, der gerade groß genug war, um einem Pferd und seinem Reiter Platz zu bieten. Mit Hilfe von einem Fetzen Stoff, einem Stück Holz und zwei Feuersteinen, die ein Clanmitglied bei sich hatte, war rasch eine Fackel entzündet und Riell betrat den Durchgang. Die Luft darin war heiß und stickig, machte das Atmen schwer. So kam es ihnen wie eine kleine Ewigkeit vor, bis sie endlich wieder ins Freie traten – und ihren Augen nicht trauten. Die Finsternis wich zurück und machte einem riesigen, freien Gelände Platz, das von den hoch aufragenden Felsklippen umschlossen wurde. In ihren Wänden befanden sich aberdutzende von Höhlen, zu denen in den Stein geschlagene Stufen und Pfade hinauf führten. Über all dem lag der Sternenhimmel. Sie legten die Köpfe in den Nacken, um das ganze Ausmaß ihres neuen Verstecks begreifen zu können. „Willkommen, Pharao“, meinte Riell schließlich. „Willkommen im Reich der Schattentänzer.“ Auch er ließ den Blick andächtig in die Höhe gleiten. Ein Ausdruck von Wehmut lag auf seinem Gesicht. „Das ist echt der Wahnsinn, Alter“, kommentierte Joey. „Habt ihr das alles selbst geschaffen?“ „Nicht ganz“, erklärte das Clanoberhaupt. „Wir haben uns an dem, was die Götter hier entstehen ließen, orientiert und es zu unseren Gunsten verbessert.“ Erschöpft saßen endlich alle von den Pferden ab. Doch Ruhe kehrte deshalb noch lange nicht ein. Kaum waren sie in der Himmelspforte, wie der Clan sein Versteck nannte, angekommen, war Riell bereits dabei, Befehle zu geben. Die Höhlen mussten ausgefegt und Ordnung in den Unterschlupf gebracht werden, um hier nächtigen zu können. Jedes Angebot von Atemu oder seinen Freunden, ihnen dabei zu helfen, lehnte das Oberhaupt eindringlich ab. So fanden sie sich bald am Fuße einer der steilen Klippen wieder, während sich eine der Heilerinnen der Schattentänzer um ihre Verletzungen kümmerte. Riell hatte sie als Assihra vorgestellt und die junge Frau, die etwa so alt sein musste, wie er, hatte bald alle Hände voll zu tun. Ihr langes, braunes Haar hatte sie zu einem Zopf gebunden, damit es sie bei ihrem Tun nicht behinderte, während die blauen Augen hier und da kritisch drein blickten. Bald wurde das ganze Ausmaß ihrer Verletzungen klar. Yugi hatte unzählige Schürf- und Schnittwunden erlitten. Zudem prangte eine Platzwunde an seinem Haaransatz, die genäht wurde. Tea hatte auf den ersten Blick wenig abbekommen, dafür war jedoch ihr Handgelenk böse verstaucht. Assihra strich eine Salbe darauf, ehe sie einen festen Verband anlegte – alles andere, als eine angenehme Prozedur. Joey sah aus wie in seinen besten Zeiten. Zahlreiche Kratzer übersäten ihn, während seine Lippe noch immer blutete. Zudem war die linke Seite seines Kiefers angeschwollen. Ryous Befürchtungen hatten sich bestätigt. Die vielen Blutergüsse, die er hatte einstecken müssen, waren inzwischen deutlich zu sehen. Doch das war das geringste Problem, denn die Stellen schmerzten bei der kleinsten Bewegung oder Berührung höllisch. Bei Marik hingegen hatte vor allem der Schlag, den er von Caesians Ka-Bestie hatte einstecken müssen, seine Spuren hinterlassen. Seine Kreatur war mitten in den Bauch getroffen worden. An derselben Stelle hatte sich bei ihrem Träger die Haut rot-bläulich verfärbt. Er bekam aufgrund der Tatsache, dass er auch Blut gespuckt hatte, ein seltsam riechendes Gebräu verabreicht. Es schmeckte widerlich, sollte jedoch laut Assihra eventuelle innerliche Blutungen verhindern. Mit am schlimmsten dran war Mana: Die junge Magierin hatte, wie bereits von ihr selbst vermutet, drei gebrochene Rippen. Inzwischen waren die Schmerzen jedoch so schlimm, dass sie kaum mehr wagte, einzuatmen. Ihr wurde ein straffer Verband am Oberkörper angelegt, um das Verrutschen der Knochen zu verhindern, ehe die Heilerin sie zu absoluter Bettruhe verdonnerte. Seto hatte eine tiefe Schnittwunde am Arm zurückbehalten, die ebenfalls versorgt werden musste. Hinzu kam, dass er die Gliedmaße von nun an so wenig wie möglich bewegen sollte. Die Verletzung zog sich über den Ellenbogen und jedes Mal, wenn er den Arm unbedacht bewegte, platzte das getrocknete Blut erneut auf und machte frischem Lebenssaft Platz. Auch hier musste das Verbandszeug heran. Es wurde straff von oben bis unten um den Arm gewickelt, um die Beweglichkeit einzuschränken, damit er sich erholen konnte. Marlic erwies sich in seinem momentanen Zustand als recht umgänglich. Ohne Motzen und Klagen ließ er die Heilerin die beachtliche Platzwunde an seinem Hinterkopf behandeln. Ganz im Gegensatz zu Bakura. Lediglich dem Umstand, dass der Grabräuber nach den Geschehnissen des Tages nicht mehr wirklich in der Lage war, sich zu wehren, war es zu verdanken, dass sie dennoch einen Blick auf die lang gezogene Schnittwunde über seiner Hüfte werfen konnte. Assihra durfte noch – gnädig wie ihr Patient war – die Verletzung säubern, beim Nähen endete seine Geduld jedoch. Schließlich überließ die Heilerin ihm Nadel und Faden, damit er diese Arbeit selbst übernehmen konnte. Keiro, dem lediglich die zahlreichen Schürfwunden und Blutergüsse von seiner Bekanntschaft mit Men-nefers Stadtmauer zu schaffen machten, bot an, ihm zu helfen, wurde jedoch unfreundlich abgewiesen. Als er es dennoch erneut versuchte, wurde ihm in aller Deutlichkeit erklärt, dass er sich verpissen solle und Bakura dies im übrigen schon mehr als ein Dutzend mal selbst gemacht hätte. Schließlich ging Keiro, auch wenn ihm zugegebenermaßen schleierhaft war, was es mit dem Wort 'verpissen' auf sich hatte. Atemu war als Letzter an der Reihe, so, wie er es verlangt hatte. Auch er war gezeichnet mit Kratzern, Schürfwunden und blauen Flecken. Hinzu kamen zwei kleinere Platzwunden am Kopf und seine Schulter, die höllisch schmerzte. Schließlich lief es darauf hinaus, dass Assihra glaubte, Letztere sei ausgerenkt. Wie es das Schicksal wollte, musste sie zurück an den ihr angestammten Platz gebracht werden – dies jedoch nicht, ohne dass sich Atemu bei diesem Unterfangen beinahe die Zunge ab biss, als er einen Aufschrei unterdrückte. Danach musste er allerdings zugeben, dass es nun deutlich weniger schmerzhaft war, den Arm zu bewegen. Kaum hatte Assihra ihre Arbeit an der Gruppe beendet, stieß schließlich der Besorgungstrupp zu ihnen. Riell unterbrach sein Tun und eilte zu seiner Schwester, die das Schlusslicht bildete. „Ist alles in Ordnung?“, erkundigte er sich, ohne sich die Mühe einer Begrüßung zu machen. Risha nickte. „Alles gut. Wir haben zwei Dörfer geplündert. Die Vorräte, die wir beschaffen konnten, sollten für die nächsten fünf bis zehn Sonnenläufe ausreichen. Trockenes Obst und Fleisch, Wasser, Getreide, Brot. Und zu guter Letzt ein wenig Bier“, fügte sie mit einem Schmunzeln hinzu. Riell gab ein kurzes Lachen von sich. „Als ob das unbedingt nötig gewesen wäre.“ „Wir hatten noch Platz auf den Pferden ...“ „Wie dem auch sei. Hattet ihr irgendwelche Probleme?“ „Nein“, entgegnete Risha. „Wir werden zumindest die nächsten ein bis zwei Sonnenläufe auch keine bekommen, wie es aussieht.“ „Wie kommst du darauf?“, fragte ihr Bruder neugierig. „Ich war nochmal in der Nähe von Men-nefer. Und bevor du jetzt wieder anfängst zu meckern“, warf sie schnell ein, ehe ihr Gegenüber auch nur einen Ton heraus bringen konnte, „ich stehe hier lebendig vor dir, es ist also nichts passiert. Caesian und seine Männer sind am Feiern und ihre Gesänge hört man im ganzen Umkreis der Stadt. Selbstsicheres, arrogantes Pack. Nicht mal Späher oder Wachen haben sie aufgestellt. Der Kerl muss wirklich eine Menge Vertrauen in seine Fähigkeiten haben“, überlegte sie laut, während sie sich daran machte, eines der Fässer von ihrem Reittier zu lösen. „Dennoch war dein Verhalten verantwortungslos! Es hätte etwas passieren können!“, entgegnete Riell schließlich aufgebracht. „Müsste, würde, könnte, sollte, hätte. Wo kämen wir hin, wenn wir uns andauernd um alle Eventualitäten sorgen würden?“, konterte seine Schwester. „Und selbst, wenn dir nichts passiert ist, so könnten dich Späher verfolgen!“, fuhr ihr Gegenüber jedoch ungerührt fort. Rishas Kopf schnellte herum. „Mich verfolgt niemand, ohne dass ich es merke. Und jetzt lass mich in Ruhe, ich habe sowie so schon Kopfschmerzen.“ Erst jetzt fiel ihrem Bruder die Rötung auf, die sich um ihr linkes Auge gebildet hatte – jene Stelle, an der sie die Ohrfeige von einem Soldaten Caesians kassiert hatte. Zudem wirkte ihre Haltung unnatürlich, was sich durch einen Blick auf ihren rechten Fuß bestätigte. Schließlich seufzte er. „Nun gut. Dann lass mich aber dein Pferd abladen. Geh du lieber zu Assihra und lass dich anschauen.“ „Meinetwegen“, stöhnte Risha noch, dann verschwand sie am allgegenwärtigen Getümmel. Die Nacht war bereits weit voran geschritten, als endlich Ruhe in der Himmelspforte einkehrte. Dennoch fand kaum jemand Schlaf. Weder die Schattentänzer, nicht die kleine Gruppe von Leuten aus dem 21. Jahrhundert und ihren ägyptischen Mitstreitern. Sie saßen um mehrere Feuerstellen verteilt unter dem Sternenhimmel. Hier und da wurde Essen zubereitet, um sich endlich zu stärken. Sie alle aßen langsam und mit Bedacht. Sie mussten sparsam mit der wenigen Nahrung umgehen und zwischen den einzelnen Bissen Zeit verstrichen lassen, um dennoch ein Sättigungsgefühl zu erzeugen. Vor allem Joey fiel dies nicht leicht. Das getrocknete Fleisch schmeckte ihm, sodass es nicht einfacher wurde, das Schlingen zu vermeiden. „Wie sieht jetzt eigentlich der Plan aus?“, erkundigte er sich schließlich an Atemu gewandt. „Hast du schon eine Idee?“ Der Angesprochene griff nach einer Dattel und schien zu überlegen. „Als Erstes müssen wir wieder zu Kräften kommen. Das ist das Wichtigste. Solange wir uns nicht von der letzten Schlacht erholt haben, brauchen wir Caesian gar nicht gegenüber zu treten.“ „Danach müssen wir sehen, ob wir uns seiner Armee stellen wollen, oder ob wir uns zunächst um die Relikte kümmern, würde ich sagen“, schlug Yugi vor. „Wobei ich Letzteres für sinnvoller erachte. Ansonsten riskieren wir, dass seine Macht noch weiter wächst.“ „Des Weiteren geben uns die anderen Artefakte vielleicht irgendetwas an die Hand, das uns helfen könnte“, fügte Seto hinzu. „Auch möglich, ja“, stimmte Marik zu. „Da bleibt nur das altbekannte Problem: Wo sollen wir nach ihnen suchen? Hinzu kommt, dass Caesian seinen Triumph nicht ewig feiern wird. Irgendwann wird auch er so etwas wie Ordnung anstreben und dann werden wieder Patrouillen eingesetzt, was es bestimmt nicht leichter macht.“ „Außerdem wir er irgendwann nach uns suchen. Immerhin befinden sich in unseren Reihen drei der Relikte“, gab Ryou zu Bedenken. „Apropos Artefakte: Wo ist eigentlich der Rest?“, warf Tea plötzlich ein. „Werden sich wohl ausruhen“, meinte Yugi. „Es war ja auch ein anstrengender Tag ... Ach was sage ich? Er war einfach schrecklich.“ Er legte seufzend den Kopf auf die Knie. „Wie ist das eigentlich ...“, erkundigte sich die Brünette weiter. „Wird es etwas wie ... eine Beerdigung für Resham geben?“ „Das bezweifle ich“, erwiderte Seto. „Wenn sein Körper noch vorhanden ist, so befindet er sich in Men-nefer.“ Schweigen breitete sich aus. Sie wussten, dass sie eigentlich so schnell wie möglich einen Weg finden mussten, Caesian zurück zu schlagen. Doch im Moment hatte keiner von ihnen die Kraft dazu. Weder körperlich, noch geistig. Zu sehr steckte ihnen noch der Rückschlag in den Knochen. Men-nefer eingebüßt zu haben, war ein bitterlicher Verlust. Trotzdem durften sie nicht verzagen. Atemu war bewusst, dass sie alle jetzt erst einmal Zeit brauchten, um sich wieder zu sammeln. Doch der Raum, den sie dafür in Anspruch nehmen konnten, war knapp. Marik und Ryou hatten recht. Momentan mochte ihnen eine Art Pause vergönnt sein. Doch für wie lange? Atemu seufzte, schloss die Augen und fuhr sich durch die Haare. Seine Gedanken wollten sich einfach nicht beruhigen. Immerzu kreisten sie weiter, riefen ihm in Erinnerung, dass Men-nefer verloren war. Seine Heimat, der Ort seines Aufstiegs und seines Todes, dieses Fleckchen Erde, das sein zu Hause war. Er wurde aus den Gedanken gerissen, als mehrere, leise Stimmen an sein Ohr drangen. Als er aufsah, erkannte er, dass es eine kleine Gruppe von Schattentänzern war, von der das Geräusch kam. Schließlich wurde ihm klar, dass sie sangen. Es dauerte nicht lange, dann fiel das auch anderen Clanmitgliedern auf. Nach und nach stimmten mehr Männer und Frauen in das Lied mit ein. Es klang schön, wie Atemu fand. Zugleich legte sich der Gesang jedoch auch wie ein Leichentuch über die Himmelspforte. „Vor Anubis trete nun, hinab ins weiße Land, Deine Seele auszuruhn', im heißen Wüstensand. Ist Deine Seele rein, ein Spiegel von Verzicht, so schwind' die Pein, und erstärk' das Licht. Hinfort aus dieser Welt, gebannt für alle Zeit, Dein Tod uns quält, bis in die Ewigkeit. Hinweg aus Ägypten, folgtest Deiner Pflicht, Seele, die wir liebten, siehst unsre' Tränen nicht. Hinüber in die Dunkelheit, des Todes Hand Dich zieht, Dein Leben ist Vergangenheit, gleich was nun geschieht. Während man Deiner weint, suche die Sonne der Nacht, dort unten sie scheint, mit all ihrer Pracht. Trauer umfängt mein Herz, mein einzig' Licht? Quält mich auch der Schmerz, vergessen wirst Du nicht.“ Viele der Schattentänzer weinten, während sie sangen. Die Töne glitten umher und vereinten sich mit dem allgegenwärtigen Wind zu einem gespenstischen Wispern. „Was ist das für ein Gesang?“, flüsterte Tea nach einer Weile. „Ein altes Totenlied.“ Sie fuhr herum und blickte in Samiras grüne, traurige Augen. „Wir singen es immer, wenn jemand stirbt.“ Sie verschwand genau so plötzlich wieder, wie sie gekommen war. Hastigen Schrittes zog sie sich zurück, um trauern zu können. Auch Riell saß in einer der Höhlen und lauschte den Klängen. Seine Wangen waren benetzt mit Tränen, während er die gegenüber liegende Wand fixierte. Ebenso hatte sich weit oben auf den Klippen ein Schatten verschanzt. Risha hatte den Blick an den Himmel geheftet. Leise sprach sie die letzten Zeilen des Gesanges mit. Trauer umfängt mein Herz, mein einzig' Licht? Quält mich auch der Schmerz, vergessen wirst du nicht.“ Kapitel 31: Danach ------------------ Trauer lag auf den Zügen der Göttin. Ihre müden Augen blickten hinab auf die Welt, die sie einst mit geschaffen hatte. Sie vermochte nicht, das Sehen von Men-nefer zu wenden. Der äußere Stadtring war vollkommen verwüstet worden. Vor allem das Gebiet, in dem der alte Schattentänzer seine letzten Kräfte vereinigt hatte, war zerstört. Irgendwo dort unten musste sein Leichnam sein. Das Stadtinnere und der Palast hingegen waren so gut wie unversehrt – sah man davon ab, dass ein Irrer auf dem Thron saß, dessen Leute Häuser plünderten und Menschen in Ketten legten. Ein Seufzen verließ die Kehle der Gottheit. Es war traurig. So verdammt traurig. Chaos und Tod hatten ihr geliebtes Land heimgesucht. „Noch ist nichts verloren“, riss sie eine Stimme aus den Gedanken. Nicht, dass sie die Anwesenheit des anderen göttliches Wesens überrascht hätte. Dafür war ihre Bindung viel zu eng. „Es ist schon mehr als genug verloren“, erwiderte sie. „All die unschuldigen Leben. All das vergossene Blut. Wann hört das alles auf?“ „Niemals, Schwester“, entgegnete Sachmet, während sie sich neben ihrer Schwester niederließ. „Es ist die Natur der Menschen, sich gegenseitig zu zerstören. Daran vermögen auch wir nichts zu ändern.“ Bastet sah ihrem Gegenüber fest in die Augen. „Sagtest du nicht, die Seelen aus der Zukunft könnten das Schicksal ändern?“ Sachmet nickte. „Ich hatte die Vermutung, dass es so sein könnte. Doch noch wissen wir nicht, ob es so ist. Weder haben wir eine Bestätigung, noch gibt es Dinge, die beweisen, dass ich falsch lag.“ Plötzlich kam die Göttin in Katzengestalt auf die Beine. „Was sagst du da? Hast du denn nicht gesehen? Men-nefer ist gefallen! Welche weiteren Beweise benötigst du noch, Schwester?“ „Du bist zu voreilig, Bastet“, erwiderte Sachmet, während auch sie ihren löwenförmigen Körper hoch stemmte. „Caesian mag eine Stadt sein Eigen nennen. Eine einzige Stadt. Noch ist nicht ganz Ägypten in seiner Gewalt.“ Die Gottheit der Liebe richtete den Blick wieder auf das Bild Men-nefers, welches vor ihr schwebte. „Damit magst du recht haben. Noch. Auch du siehst diese Visionen, nicht? Sie mögen zu diesem Zeitpunkt noch undeutlich sein. Doch mit jedem Tag der Menschen, der vergeht, gewinnen sie an Schärfe. Bald kann nur noch das, was die Menschen ein Wunder nennen, uns und die ganze Welt retten.“ „Und dieses Wunder, Schwester, wird sich direkt vor unseren Augen zutragen“, versicherte Sachmet, ehe auch sie wieder hinab auf die Welt blickte. „Ich bin die Göttin des Krieges. Ich kenne den Kampfgeist meiner Ägypter. Sie kämpfen bis zum letzten Atemzug. Ein jeder von ihnen.“ Bakura erwachte noch vor der Morgenröte. Lediglich ein paar Sonnenstrahlen hatten ihren Weg bereits zur Welt hinab gefunden. Das morgendliche Zwielicht lag über dem Land. Er war noch nie ein Langschläfer gewesen. Anders als die feinen Damen und Herren des Adels war es einem Dieb nicht vergönnt, auszuschlafen. Denn Schlaf barg Gefahren und war gewiss die Zeit, in der ein Mensch am schutzlosesten war. Und er hatte keine Wachen, die darauf achteten, dass ihm nichts geschah. Selbst wenn er sie gehabt hätte, wäre sein Misstrauen wohl zu groß gewesen. So hatte er von Kindesbeinen an gelernt, früh aufzustehen. Eine Angewohnheit, die sich wohl nie mehr ändern würde. Er befreite sich aus den Decken und verließ die Höhle, die er zu seinem Schlafplatz auserkoren hatte. Anders als der Pharao und sein Pöbel hatte er vorgezogen, alleine zu nächtigen. Draußen war es noch kalt. Nachts fielen die Temperaturen in der Wüste beträchtlich, erreichten manchmal gar Minusgrade. Er zog seinen Mantel enger um sich, um vor der Kälte geschützt zu sein. Als er den freien Platz in der Mitte der Himmelspforte erreichte, ließ er den Blick umher schweifen. Einige Schattentänzer waren bereits – vielleicht auch immer noch – auf den Beinen. Fast alle hielten dampfende Becher in den Händen, um sich zu wärmen. Plötzlich löste sich eine in ihren Umhang gehüllte Gestalt aus der Gruppe und kam langsam auf Bakura zu. „Guten Morgen“, sagte sie zunächst. Ihre Stimme klang matt. Jetzt erkannte der Grabräuber auch, wer da zu ihm gekommen war. Samira. „Möchtest ... Möchtet Ihr auch etwas von unserem Kräutertee? Der wärmt und macht munter.“ Bakura ließ den Blick prüfend zu der verbleibenden Schattentänzer-Truppe schweifen. Drei von ihnen erhoben sich soeben und verschwanden – die Müdigkeit hatte sie wohl doch noch übermannt. Lediglich eine weitere Person blieb zurück. Es war die Heilerin, die sich am Vorabend noch um seine Wunde gekümmert hatte. Schließlich entschied Bakura, dass er Samira und Assihra wohl für eine Weile ertragen konnte. „Meinetwegen“, gab er daher zurück. Das rothaarige Mädchen lächelte kurz, dann eilte sie voraus, um den Tee aufzusetzen. Der Grabräuber folgte ihr schließlich und ließ sich am Feuer nieder, das zwischen den beiden Schattentänzern flackerte. Vielleicht trieb ihn auch die Neugier dazu. Irgendwie interessierte er sich doch dafür, was es mit den Schattentänzern auf sich hatte. Während sein Bruder über sie schimpfte, sobald ihr Name fiel, schienen sie für seine Base eine zweite Familie zu sein. Assihra begrüßte er mit einem Nicken. Ein Lächeln war die Antwort. „Guten Morgen, König der Diebe. Konntet Ihr einigermaßen schlafen?“ „Wie mann's nimmt.“ Er verkniff sich die Frage, wie man bei den Gesängen, die beinahe die ganze Nacht durch die Felsen gezogen waren, hätte ordentlich schlafen können. „Wie sieht es mit Eurer Wunde aus? Hat sie noch geblutet?“ Bakura schob seinen Mantel beiseite, um den Verband zu inspizieren, der sich um seinen Bauch zog. Kein Blut. „Sehr gut“, meinte Assihra. „Es wird schnell verheilen.“ „Ist nicht meine erste Wunde“, entgegnete Bakura. „Ich hatte schon Schlimmeres“, fügte er hinzu, während Samira ihm einen Becher reichte und ihn dabei mit großen Augen ansah. „Etwa so was wie die Narbe an deinem Auge?“, fragte sie schließlich, wobei sie erneut die höfliche Anrede vergaß. „Wie hast du die eigentlich gekriegt?“ Der Grabräuber zog eine Augenbraue in die Höhe. Assihra räusperte sich sofort, um Sam zurecht zu weisen. Denn wenn sich der König der Diebe und seine Base auch nur annähernd ähnelten, dann bedeutete diese Geste nichts Gutes. Wider erwarten reagierte er jedoch anders. „Die Geschichte ist nichts für kleine Kinder.“ Augenblicklich konnte man sehen, wie sich Samiras Wangen rötlich verfärbten und aufblähten. Bakura konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, ob des Anblicks. Gerade erinnerte die Kleine an einen Kugelfisch. Offenbar war sie jedoch zu müde, um zu streiten. So setzte sie sich einfach wieder auf ihren Platz und schmollte. Der Grabräuber legte derweil seine Hände um den dampfenden Becher. Zugegeben, die Wärme tat gut. Auch zeigte der erste Schluck von dem Gebräu, dass es lange nicht so scheußlich schmeckte, wie er erwartet hatte. Lange blieb ihm die aufkeimende Ruhe jedoch nicht vergönnt. Bald fand noch jemand den Weg aus seinem provisorischen Bett. Und dabei handelte es sich um niemand anderen als Keiro. Bakura hörte, wie Samira irgendetwas vor sich hin brabbelte, dann verkündete sie, sich unter diesen Umständen doch ein wenig hinzulegen. Damit war sie auch bereits verschwunden. Der Bruder des Grabräubers musste ja wirklich einen ziemlichen Ruf bei dem Clan haben, wenn selbst dieses Nervenbündel eher Reiß aus nahm, als mit ihm in Kontakt zu kommen. Doch das war Bakura im Moment egal. Keiro überwand seine Scheu schließlich und kam trotz Assihras Anwesenheit zu ihnen herüber. „Guten Morgen“, sagte er dann. Sein Bruder erwiderte den Gruß knapp. Die anwesende Heilerin beließ es jedoch bei einem kurzen Nicken, ehe sie sich erhob und erklärte, dass sie nach einigen Verletzten sehen wollte. Somit blieben die beiden Kinder Kul Elnas alleine zurück. Zunächst herrschte Schweigen. „Hast du gut geschlafen?“, erkundigte sich Keiro schließlich, als er sich endlich entschied, Platz zu nehmen. „Geht“, entgegnete Bakura. Damit breitete sich vorerst wieder Funkstille aus. Jedoch nicht lange. „Bist du etwa noch immer sauer auf mich?“ Der Grabräuber konnte nicht anders, als die Augen zu verdrehen. „Nein. Ich tu' nur so.“ Ein in die Länge gezogenes Seufzen. „Ich kann nicht mehr tun, als mich zu entschuldigen. Leider bin ich nach wie vor nicht in der Lage, die Zeit zurück zu drehen. Ansonsten hätte ich bereits einige Dinge ungeschehen gemacht. Unter anderem diesen Vorfall. Hör zu, ich würde lügen, wenn ich sagen würde, ich hatte nicht vor, dich von Risha fernzuhalten. Ja, ich habe es versucht und ich habe eingesehen, dass es falsch war. Aber was willst du noch von mir? Soll ich vor dir auf die Knie fallen?“ „Wäre ein Anfang.“ „'Kura, bitte! Ich wollte dir nichts Böses! Ich war und bin eben der Ansicht, dass der Umgang mit Risha nicht ...“ „Es geht verdammt nochmal nicht um Risha! Es ist mir gleich, wieso, weshalb und warum du mich aus Men-nefer locken wolltest. Fakt ist, dass du mich hintergangen hast und das ist es, was mir stinkt. Im übrigen mag Risha eine ziemliche Ziege geworden sein, ich habe aber nicht den Eindruck, dass sie für mich eine Gefahr darstellen würde.“ „Ist ja gut, ist ja gut! Ich sehe es ja ein. Ich hätte das nicht tun dürfen, gleich welche Gründe es gibt. Es tut mir leid. In Ordnung?“ Schweigen. „Meine Güte, 'Kura! Bitte, mehr als dich um Verzeihung anzuflehen, kann ich nun wirklich nicht tun!“ „Doch, da gäbe es etwas.“ „Und das wäre?“ Bakura fixierte seine Gegenüber. „Hör auf dich in mein Leben einzumischen. Ich halte zu den Leuten Kontakt, zu denen ich Kontakt halten will. Ebenso verachte und hasse ich, wen ich will. Und der Pharao steht nach wie vor ganz oben auf meiner Liste. Wenn du das endlich akzeptieren kannst, ohne weiterhin meine Weltanschauung zu kritisieren, dann können wir von Verzeihung sprechen.“ Für einen Augenblick herrschte Stille. „Tut mir leid ... aber das kann ich nicht“, entgegnete Keiro schließlich. „Denn der Mensch, den du für Kul Elnas Fall verantwortlich machst, war damals kaum so alt wie wir. Er ist nicht schuldig, gleich wie sehr du dir das einredest. Du suchst krampfhaft einen Schuldigen, doch diesen gibt es nicht mehr. Alle Verantwortlichen sind tot.“ „Ist dem so, ja?“, antwortete Bakura. Seine Augen verengten sich dabei zu Schlitzen. „Wenn wir hier schon von Verantwortlichkeit sprechen, hast du dich aber auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Wer schiebt denn grundsätzlich alles auf unsere werte Base, statt selbst für den Mist einzustehen, den er verbockt hat? Andauernd gibst du vor, sie sei der Auslöser für deine Handlungen, anstatt einfach zu begreifen, dass einzig und allein du es bist, der so eine Scheiße verzapft.“ Er erhob sich ruckartig und wandte sich zum Gehen. Zuvor hielt er aber noch einen Augenblick inne. „Und nur nochmal zum Mitschreiben: Ich brauche niemanden, der mich beschützt. Selbst wenn Risha Seths Reinkarnation höchst persönlich wäre, würde ich alleine mit ihr fertig werden.“ Dann war er verschwunden. Atemu erwachte spät. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als er die Höhle verließ, die er sich mit den anderen teilte. Es lag eigentlich nicht in seiner Gewohnheit, derartig lange zu ruhen. Doch er war einfach zu erschöpft gewesen. Leise schlüpfte er hinaus, um die noch Schlafenden nicht zu wecken. Namentlich handelte es sich dabei um Joey – was zu erwarten gewesen war – Marik, Mana und Tea. Draußen erblickte er Yugi. Er grüßte freundlich, als sich der Pharao zu ihm gesellte. „Und, hast du gut geschlafen?“ „Ja, danke Partner“, erwiderte seine Majestät. „Wie sieht es mit dir aus?“ „Wenn man lange genug mit Joey befreundet ist und gelernt hat, sein Schnarchen zu ertragen, findet man überall zur Ruhe“, entgegnete der Kleinere zwinkernd. Atemu konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Kann ich mir vorstellen. Ryou ist auch schon wach?“ „Jep. Der wäscht sich gerade.“ „Hätte ich vielleicht auch mal nötig...“, entgegnete der Pharao, während er an sich herunter sah. Zwar hatte es sich keiner von ihnen am gestrigen Abend nehmen lassen, den gröbsten Schmutz herunter zu waschen, doch für eine gründliche Reinigung hatte keiner von ihnen Kraft oder Nerven besessen. Yugi quittierte seine Aussage mit einem Lächeln. „Glaub mir, danach fühlst du dich gleich besser. Es ist zwar kein königliches Schaumbad, aber es erfüllt seinen Zweck.“ Atemu schmunzelte. Sein Blick wirkte jedoch betrübt. „Ich kann es ehrlich gesagt noch immer nicht richtig glauben“, sagte er schließlich. „Men-nefer ... nie hätte ich gedacht, dass jemand diese Stadt einnehmen würde. Selbst im Kampf gegen Zorc hat sie kaum Schäden davon getragen. Nun liegt nicht nur ein großer Teil in Schutt und Asche, jetzt gehört sie auch noch Caesian.“ Während er sprach, ballten sich seine Finger zur Faust. Yugi beobachtete einen Moment, wie sein Gegenüber die Nägel in die Haut presste. Dann legte er Atemu eine Hand auf die Schulter. „Es kommen wieder andere Zeiten. Men-nefer wird nicht für immer in seiner Hand bleiben. Wir holen die Stadt zurück.“ „Ja, das werden wir. Ich weiß nur noch nicht wie ...“, erwiderte der Pharao tonlos. „Es gibt einen Weg. Da bin ich mir absolut sicher“, versicherte Yugi derweil erneut. Sein Gegenüber sah auf. Und schließlich konnte seine Majestät einfach nicht anders. Er musste lächeln. Der unerschütterliche Mut und die unendliche Zuversicht seines Freundes waren schon immer ansteckend gewesen. So war es auch diesmal. Der Knoten, der sich seit gestern um sein Herz geschlossen hatte, lockerte sich ein wenig. Ja, sie würden es schaffen. Sie wussten noch nicht wie, aber es gab einen Weg. Mit Sicherheit ... „Vielleicht solltest du erst einmal etwas essen. Ich hole uns ein wenig Brot.“ Damit war der Kleinere auch schon verschwunden. Doch Atemu blieb nicht lange allein. Bald trat Seto aus den Schatten der Felsen und steuerte direkt auf den Pharao zu. Sie begrüßten sich, ehe der Hohepriester Platz nahm. „Ich war soeben auf den Klippen. Ich habe diesen Kipino angewiesen, sein Ka gen Men-nefer zu entsenden.“ Firell eignete sich für derlei Erkundungsflüge tatsächlich. Er war klein und kaum von einem gewöhnlichen Vogel zu unterscheiden. „Was konnte er sehen?“, erkundigte sich seine Majestät. Dem Sohn Aknadins fiel es sichtlich schwer, das Gesehene darzulegen. „Caesians Truppen haben die ganze Stadt besetzt. Im Moment scheint es, als seien sie dabei, sich niederzulassen. Sie plündern jedes Haus, an dem sie vorbei kommen. Außerdem haben nicht alle Einwohner Men-nefers die Stadt verlassen. Das Ka-Wesen konnte beobachten, wie zahlreiche Menschen zu den Kerkern geführt wurden.“ Atemu seufzte. „Wir hatten gehofft, dass genau das nicht geschehen würde. Aber eigentlich war es zu erwarten gewesen.“ Seine Stimme überraschte ihn bei diesen Worten selbst. Er hatte aufrichtiges Mitleid mit diesen Menschen, die mit Sicherheit leiden mussten. Zugleich klang er jedoch erstaunlich zuversichtlich. „Uns blieb nicht genug Zeit, als dass es alle hätten schaffen können. Hinzu kommen jene, die lieber mit unserer Hauptstadt untergehen wollten, als die Niederlage anzuerkennen“, erklärte Seto. „Euch trifft keine Schuld.“ „Du weißt selbst, dass es so nicht ist“, entgegnete Atemu. „Ich bin ihr König. Wann immer sie durch Krieg, Hunger oder andere Umstände leiden, liegt es in meiner Verantwortung, sie vom Unheil zu befreien.“ Seiner allmählich zurückkehrenden Zuversicht taten diese Worte keinen Abbruch. Denn was er sagte, stellte lediglich eine Tatsache dar. „Ihr mögt den Göttern näher sein, als jede andere Seele in diesem Land, mein Pharao“, meinte Seto. „Doch auch Ihr seid nicht allmächtig.“ Seine Majestät lächelte matt. „Wohl wahr ...“ Yugi kehrte mit dem Brot zurück. Sie saßen schweigend beieinander und aßen. Dem Kleinsten von ihnen war sofort aufgefallen, dass der Hohepriester ein ernstes Thema angesprochen haben musste. So schwieg er nun und überließ Atemu für den Moment seinen Gedanken. Doch die Ruhe währte nicht lange. Bald kam Riell zu ihnen und bat den Pharao darum eine Besprechung abzuhalten, sobald alle erwacht waren. Der König Ägyptens stimmte ohne Umschweife zu. Noch war er erschöpft, das musste er zugeben. Zugleich loderte jedoch ein Feuer in ihm. Eines, das Caesian die Schmach, die er diesem Land zugefügt hatte, doppelt und dreifach heimzahlen würde. Es herrschte Katerstimmung. Zumindest kam es Marlic so vor. Egal wo er hinsah, überall waren Schattentänzer und andere dabei, ihre Wunden zu lecken. Zum einen ließ dieses Bild sein Herz, das für Chaos und Schmerz schlug, hüpfen. Zum anderen langweilte es ihn zu Tode. Zum dritten war es die falsche Seite, die hier litt. Er fragte sich, wie sie alle nur so herum sitzen konnten. Caesian hatte sie zurück geschlagen. Wie nur konnten sie also einfach herum hocken und nichts tun? Marlic war nicht dumm. Er wusste, dass er alleine wenig gegen diesen Kerl ausrichten konnte. Und dennoch wäre er am liebsten jetzt sofort nach Men-nefer gegangen und hätte sich diesem Mann gestellt. Er musste zugeben, dass der Typ ihn beschämt hatte – etwas, was zuvor nur seiner ach so großen Majestät gelungen war. Jedes Mal, wenn er an den vergangenen Tag zurück dachte, füllte sich seine Seele mit Zorn. Caesian hatte es tatsächlich geschafft, dass er, Marlic, vor ihm im Staub kroch. Und dafür, das schwor er sich bei den wenigen Dingen, die ihm wichtig waren, würde er bezahlten. Teuer bezahlen. Er würde ihn töten. Langsam und überaus qualvoll. Er würde sich anstrengen, ihm Leid zuzufügen – schlimmere Dinge, als er sich für den Pharao je ausgemalt hatte. Und wenn er damit fertig war, wäre Atemu an der Reihe. Sie hatten noch eine Rechnung offen. Immerhin war er es gewesen, der Marlic im Battle-City-Turnier geschlagen und aus der Welt der Lebenden verbannt hatte. Diese Schmach ... vergessen konnte er sie nicht. Aber er konnte sie wieder gut machen. Zumindest vor den Augen aller Beteiligten. Er selbst würde sich jedoch den Rest seines Daseins darüber ärgern, dass es dem Pharao wenigstens dieses eine Mal gelungen war, ihn in seine Schranken zu weisen. Anfangs hatte er noch darüber nachgedacht, ob er diese 'zweite Chance' nicht nutzen sollte, um sich ein Leben in Saus und Braus aufzubauen. Er hatte sich jedoch bald dagegen entschieden. Viel zu langweilig. Außerdem war seine Verachtung für Atemu nach und nach wieder erwacht. Je länger er sich in der Gegenwart dieses Zwergs befand, desto mehr keimte der alte Hass wieder auf. Schon seine ganze Art ging Marlic gehörig gegen den Strich. Eines jedoch musste er zugeben: Seine Majestät hatte sich ein wenig zum Guten verändert. Er war nicht mehr diese Person, die immer versuchte, es allen recht zu machen und stets freundlich zu sein. Nein, alleine das Beispiel 'Bakura' zeigte schon, dass er auch ganz anders konnte – wodurch Marlic nur noch schärfer auf eine Revanche wurde. Allerdings würde er sich zuvor gut überlegen müssen, wie er das anstellte. Wie gesagt, er war nicht dumm – und wusste genau, dass Des Gardius sich nicht mit den Göttern des Pharao messen konnte. Er mochte mehr über die drei Göttermonster wissen, als neunundneunzig Prozent der Weltbevölkerung, das war richtig. Doch ohne die nötige Macht war er auch er kein Gegner für sie. Er würde sich also etwas einfallen lassen müssen. Diese göttlichen Relikte wären eine Möglichkeit, bestünde nicht die Gefahr, mit ihrem Einsatz die ganze Welt zum Teufel zu jagen. Denn was hatte er von der Niederlage seines Erzrivalen, wenn anschließend niemand mehr da war, um vor ihm um Gnade zu winseln? Genau. Nichts. Aber gut. Man musste ja nichts überstürzen. Zunächst galt es sowie so, Caesian auszuschalten. Denn er würde diesem Kerl keinesfalls sein Leben oder das seiner Beute überlassen. Wenn hier jemand die Menschheit das Fürchten lehrte, dann würde es Marlic sein. Aber um das zu erreichen, musste der fremde Herrscher weg und das würde nicht passieren, solange alle nur herum saßen und nichts taten! Doch auch daran konnte er momentan nichts ändern. Es war regelrecht zum verzweifeln. Gelangweilt und schlecht gelaunt stieß er sich von der Felswand ab, an der er gelehnt hatte. Am besten, er legte sich noch einmal schlafen, dann verging die Zeit schneller. Langsam wandte er sich um – und spürte im nächsten Augenblick, wie etwas mit vollem Karacho in ihn hinein donnerte. Perplex sah er hinunter und fand, am Boden hockend, diese halbe Portion vor, die sich zu den Schattentänzern zählte. Sie erschien zunächst verwirrt, dann guckte sie aus großen, grünen Augen zu ihm hinauf. „Ähm ... 'tschuldigung, habe dich nichts gesehen“, meinte Samira, stand auf und klopfte sich den Staub von der Kleidung. Doch für Marlic war die Sache damit noch nicht gegessen. Seine Laune war eh schon nicht die beste. „Pass' beim nächsten Mal besser auf“, zischte er. „Oder ich schneide dir den Bauch auf, schnapp' mir deine Gedärme und erwürge dich damit.“ Zunächst herrschte absolute Stille. Auf dem Gesicht des ehemaligen Milleniumsgeistes machte sich schon ein siegessicheres Grinsen breit, da gefror seine Miene plötzlich zu Eis – denn Samira reagierte vollkommen anders, als er sich erhofft hatte. „Boah ... Du bist ja voll kreativ! Hast du das schon mal ausprobiert? Hat es funktioniert? Zeigst du mir, wie man das macht?“ Was war denn das für eine Reaktion? Allmählich verstand er, warum so viele diesen Clan mieden. Anscheinend waren seine Mitglieder wirklich nicht ganz knusper ... Zuerst Bakuras durchgeknallte Cousine – gut, die wusste wenigstens, wie man Leute umbrachte – dann deren Bruder mit dem Weltenretter-Tick und jetzt das! Den Göttern sei Dank besaß Marlic die Gabe, seine Beherrschung sehr schnell wiederzufinden, wenn der seltene Fall eintrat, dass er sie verlor. „Ja, ich kann dir das gerne zeigen ... an deinem eigenen, mickrigen Leib!“ So, jetzt war ihm der Sieg aber sicher. „Nö, das ist ja doof. Dann kann ich gar nicht richtig sehen, was genau du machst.“ Nein ... falsch gedacht. Die Kleine wollte es auf die harte Tour? Konnte sie haben! „Ich kann dir ja vorher die Augen heraus schneiden und sie so platzieren, dass sie genau auf deinen Körper gerichtet sind.“ Marlic legte alle Kälte, die er aufbringen konnte, in diesen Satz. Nun war aber Ruhe ... „Ach Quatsch, das geht doch gar nicht. Augen, die man ausschneidet, sehen nichts mehr, wusstest du das denn nicht? Ne, du musst jemand anderen nehmen. Aber keinen von Caesians Soldaten, weil die können ja nicht sterben. Dann kann ich nämlich gar nicht sagen, ob deine Methode jetzt klappt oder nicht.“ Totenstille. Womit hatte er das verdient? Erst der Pharao. Dann Caesian. Und jetzt auch noch dieses ... war Mädchen überhaupt treffend? Nein, definitiv nicht. Dieses Balg musste eine Ausgeburt der Unterwelt sein, anders war das nicht zu erklären. Zugegeben, irgendwo fand er ihre Einstellung nicht schlecht. Doch sie hatte einen entscheidenden Nachteil: Sie ließ Marlics Drohungen wie Wattebällchen aussehen und das gefiel ihm ganz und gar nicht. „Also, was ist jetzt? Lass und doch einfach was abmachen. Wenn dieser Krieg vorbei ist, dann treffen wir uns mal und du zeigst mir, wie man Leute mit ihren Gedärmen erwürgt, einverstanden?“, plapperte Samira plötzlich weiter und hielt ihm die Hand hin. Der Ältere musterte die zierlichen Fingerchen für einen Moment, dann wandte er sich einfach ab und verschwand im nächsten Höhleneingang. Er sollte schlafen. Dringend. Bevor die Liste der Dinge, die er schleunigst ändern musste, sobald Caesian und der Pharao nicht mehr waren, noch weiter ins Unermessliche wuchs. Zurück blieb ein rothaariges Nervenbündel, auf dessen Gesicht sich ein triumphierendes Grinsen zeigte. Das hatte er wohl nicht von ihr erwartet ... Risha saß auf einem Vorsprung an der Außenseite der Himmelspforte. Unter ihr erstreckte sich die Wüste bis zum Horizont. Darüber thronte das stets blaue Firmament. Sie fühlte sich müde. Müde und unendlich ausgelaugt. Es war seltsam zu wissen, dass Resham nicht mehr da war. Ein Teil von ihr erwartete, dass er jeden Moment um die Ecke kommen und sie grüßen würde, das immerzu freundliche und milde Lächeln auf seinem Gesicht. Doch der andere Teil kannte die Wahrheit. Er war tot. Die halbe Nacht hatte sie keinen Schlaf gefunden und wieder und wieder mit sich selbst gerungen. Etwas in ihr hatte sich der Trauer hingeben wollen. Doch sie hatte es nicht zugelassen. Dies war der denkbar schlechteste Zeitpunkt dafür. Es herrschte Krieg. Aber noch etwas anderes hatte ihre Gedanken rasen lassen. Wie von selbst fanden ihre Finger die Stelle am Hals, an der sich ein hauchdünner Schnitt dahin zog. Keiro. Der Ausdruck auf seinem Gesicht. Der Glanz in seinen Augen. Das, was er gesagt hatte ... Sie hatte ihn unterschätzt. Und genau das hätte sie beinahe das Leben gekostet. So sehr sie diesen Hohepriester und den nervtötenden Blonden auch verabscheute, wären sie nicht dazu gekommen, sie läge nun wohl tot in den Trümmern Men-nefers. Sie wusste selbst nicht, wie sie über das Geschehene denken sollte. Zum einen war sie unheimlich wütend. Auf sich selbst und auf Keiro. Zum anderen verspürte sie jedes Mal auf's Neue einen Stich, sobald sie an die Szenerie zurück dachte. Einst hatten sie miteinander gespielt. Alle drei. Sie hatten sich den ewigen Zusammenhalt geschworen, gleich, was auch immer passieren würde. Sie wären füreinander da, würden einander nie im Stich lassen ... Und dann war Kul Elna in Flammen aufgegangen. All die Versprechen waren vom Feuer verzehrt worden. Diese Erkenntnis war für Risha eine der bittersten gewesen. Sie erinnerte sich noch an diesen einen Abend, als Keiro und sie zum ersten Mal aufeinander losgegangen waren. Spätestens da war der Schattentänzerin klar gewesen, dass nichts je wieder so werden würde, wie es vor der Tragödie war. Auch jetzt, da Bakura aufgetaucht war, nicht. Den Beweis dafür trug sie an ihrem Hals. Erneut stellte sie sich die Frage, warum Keiro noch lebte. Schon des Öfteren waren sie einander begegnet, das Resultat war zumeist ein Kampf gewesen. Bei ungefähr der Hälfte davon war sie überlegen gewesen. Sei es durch eine winzige Unachtsamkeit von seiner Seiten oder durch einen Zufall. Dennoch hatte sie ihn nicht töten können. Wann immer sie vor ihm gestanden war – es hätte nur noch ein Schlag gefehlt – hatte sie sich wie versteinert gefühlt. Sie war nicht fähig, ihn umzubringen. Sie konnte ihn verletzten, doch töten konnte sie ihn nicht. Und genau das war es, was sie wahnsinnig machte. Er hatte ihr mehr als einmal Wunden zugefügt – sowohl psychisch als auch körperlich – und trotzdem war es immer wieder das Gleiche! Sie ließ ihn gehen, nur um bei der nächsten Begegnung wieder beinahe umgebracht zu werden.Warum? Warum nur konnte sie ihn nicht beseitigen? Alleine bei dem Gedanken daran, ihn verschwinden zu lassen, sträubte sich etwas in ihr. Aber wieso? Ihr eigenen – leiblichen – Eltern hätte sie ohne mit der Wimper zu zucken in die Unterwelt geschickt, doch bei Keiro brachte sie es nicht fertig, obgleich er das größte Arschloch dieser Sphäre war. Es war zum verzweifeln. Geistesabwesend massierte sie sich die linke Wange. Ein Teil des Augenlides und die Haut über dem Wangenknochen waren inzwischen rot-blau angelaufen. Hätte Kiarna nicht schon mit diesem Soldaten abgerechnet, der die Dreistigkeit besessen hatte, ihr tatsächlich ins Gesicht zu schlagen, sie hätte ihn wohl in Stücke gerissen ... Immer und immer wieder, wenn sich sein Körper regeneriert hätte. Mit dem vergossenen Blut hätte man anschließend locker einen Brunnen speißen können. Sie war schon lange nicht mehr zimperlich. Wenn jemand die Dreistigkeit besaß, sie zu verletzen, dann litt er dafür. Grausam und qualvoll. Sie war sich sicher: Irgendwann würde auch Keiro den letzten Wall, der sie davon abhielt, ihn zu töten, einreißen. Und dann würde sie ihn, Bakura hin oder her, all die Schmerzen spüren lassen, die er ihr so lange zugefügt hatte. Seufzend zog Mana die Decke höher über ihren Körper. Soeben war Assihra wieder gegangen. Sie war noch einmal gekommen, um sich die Verletzungen der jungen Magierin anzusehen. Sie hatte den Verband neu angelegt, damit er möglichst straff um ihren Oberkörper saß. Denn von Zeit zu Zeit lockerten sich die Binden, auch wenn sie sich so wenig wie möglich bewegen durfte, um die optimale Regeneration ihres Körper zu garantieren. Mana wusste, dass das wichtig war. Zugleich war sie jedoch unruhig. Dies war alles andere als der rechte Zeitpunkt, um sich Ruhe zu gönnen. Hinzu kam, dass sie nicht viel Schlaf fand. Das Atmen tat mit den gebrochenen Rippen einfach zu sehr weh. Immerhin hatte ihr Assihra ein kleines Gefäß da gelassen, in dem sich ein dickflüssiges Gebräu befand. Sie sollte es nehmen, wenn sie schlafen wollte. Doch gerade war ihr nicht danach. Auch wenn sie nichts weiter tun konnte, als die Decke anzustarren und ihre Gedanken kreisen zu lassen. Sie blickte zum Eingang der Höhle, als jemand eintrat. Ihr Gesicht hellte sich auf. „Atemu!“, sagte sie freudig und versuchte, sich aufzusetzen – was im nächsten Moment mit einem Stechen in ihrem Brustkorb quittiert wurde. Sofort war der Besucher bei ihr und drückte sie auf das Lager zurück. „Was machst du denn da? Bleib liegen!“ Mana ließ sich auf das provisorische Bett aus Stroh und Lacken zurück sinken, noch immer lächelnd. „Du hast gut reden! Immerhin musst du nicht den lieben langen Tag in einer Höhle verbringen, ohne irgendetwas machen zu können.“ Nun kam auch Atemu nicht um ein Lächeln herum. „Stimmt. Aber es ist nur zu deinem Besten.“ „Ich weiß“, seufzte Mana. „Aber sag, was führt dich her?“ „Ich wollte eigentlich einfach nur nach dir sehen. Das ist alles.“ Das Strahlen der Hofmagierin wurde noch breiter. „Das ist lieb. Wie geht es denn eigentlich dir? Was ist mit deinen Verletzungen?“ Der Pharao winkte ab. „Alles halb so schlimm. Ich spüre es schon fast gar nicht mehr. Offenbar war das, was mein Körper am dringendsten brauchte, einfach ein wenig Erholung.“ „Kann ich mir vorstellen. Wenn all das vorbei ist, sollten wir für eine Weile ans Meer reisen. Dann können wir unsere Seelen nach all den Strapazen richtig baumeln lassen“, schlug Mana daraufhin vor. „Das ist eine gute Idee“, entgegnete Atemu. „Eine angemessene Entlohnung für all das Geschehene wäre es alle Mal.“ Das Lächeln der Magierin schwand ein wenig. „Gibt es Neuigkeiten aus Men-nefer?“ Ihr Gegenüber seufzte. „Nicht direkt. Caesian tut das, was wir von ihm erwartet haben. Er lässt plündern und Menschen in die Kerker führen, während er es sich wahrscheinlich auf dem Thron bequem macht.“ „Er soll sich gar nicht erst zu Hause fühlen“, murmelte Mana. „Er wird Men-nefer nämlich schneller wieder verlassen müssen, als ihm lieb ist.“ „Ja ... das können wir nur hoffen.“ „Nein, nicht hoffen 'Temu!“, widersprach die Hofmagierin plötzlich. „Wir werden es schaffen. Da bin ich mir ganz sicher. Was sollte denn auch schief gehen, mit dir an unserer Seite?“ Der Blick des Pharao wirkte überrascht. Es war ewig her, dass ihn Mana bei dem Spitznamen genannt hatte, den sie ihm in ihrer Kindheit gegeben hatte. Zugleich überraschte ihn ihre Zuversicht. Obgleich sie verletzt war, obgleich Men-nefer verloren war, zweifelte sie kein bisschen an Atemu. Im Gegenteil, sie schien absolut überzeugt, dass er alles schaffen konnte, wenn er nur wollte. Schließlich steckte ihn ihr Lächeln auf's Neue an. „Ich werde zumindest alles tun, was in meiner Macht steht, um Ägypten die Freiheit wieder zu schenken.“ „Das klingt schon besser. Du hast schon so vieles geschafft. Dir gelang es sogar, Bakura und Zorc in ihre Schranken zu weisen. Auch Caesian wird noch lernen, dich zu fürchten.“ Marik hatte nicht lange tatenlos herumsitzen können. Noch immer war er angeschlagen von der Begegnung mit Caesians Ka. Dennoch sah er sich in der Lage, durchaus etwas tun zu können. So hatte er schließlich mit Riell gesprochen. Die Schattentänzer hatten bei ihrer Flucht aus den unterirdischen Höhlen, die lange Zeit ihre Heimat gewesen waren, einen Teil der alten Schriftrollen retten können, die sich mit den göttlichen Relikten befassten. Nun saß Marik im Schatten der hohen Felshänge und studierte eine der Schriften. Von klein auf war er mit den Zeichen, die denen aus seiner Zeit in keinster Weise glichen, in Berührung gekommen. So war es kein Wunder, dass er das Geschriebene lesen konnte. Hier und da musste er aber überlegen, bis ihm die Bedeutung wieder einfiel, hinzu kam die meist kryptische Wortwahl, die das Textverständnis erschwerte. Außerdem handelte es sich um eine Handschrift und die entsprachen in der Regel keiner Norm. Dennoch gab er nicht auf. Sie mussten irgendeinen Hinweis auf den Verbleib der anderen Artefakte finden – ehe es Caesian tat. Immer wieder versuchte er die Beschreibungen von Orten mit Ausgrabungsstätten aus dem 21. Jahrhundert in Verbindung zu bringen, doch erfolglos. Er seufzte. Wenn nicht einmal die zu tiefst gläubigen Schattentänzer in der Lage waren, aus diesen kryptischen Andeutungen etwas herauszulesen, das Hinweise geben konnte, wie sollte er es dann schaffen? Ja, er war mit den Göttern und Mythen seiner Heimat vertraut, doch in seiner Zeit war von dem Meisten nicht mehr viel übrig. Eine neue Religion hatte sich behauptet, die Tempel und andere Kultstätten waren nicht mehr als Ruinen. All das war für Marik lange nicht mehr so greifbar wie für den Pharao, Seto, Mana, die Schattentänzer ... „Hey!“ Er sah auf, als sich jemand neben ihn setzte. Es war Joey. Neugierig beäugt der Blonde den Papyrus, der auf den Knien des jungen Ägypters ruhte. „Was machst du denn da?“ „Ich versuche das hier zu entziffern. Vielleicht finden wir darin eine Möglichkeit, die anderen Relikte aufzuspüren“, erklärte Marik knapp und fuhr sich mit einer Hand durch das Haar. Joey sah das Schriftstück noch ein wenig genauer an. Schließlich schüttelte er den Kopf. „Ich fürchte, da kann ich dir nicht helfen, Alter. Das Gekritzel verstehe ich in etwa so gut wie unsere Matheaufgaben in der Schule ...“ Marik ertappte sich auf diese Worte hin bei dem Gedanken, dass er auch nichts anderes erwartet hatte. Er hielt sich jedoch zurück. „Macht nichts. Ich werde schon irgendwie darauf kommen. Zur Not setze ich mich mal mit Riell zusammen, wenn er Zeit hat, und frage ihn, ob er mir vielleicht das eine oder andere erklären kann.“ „Ja, mach' das. Er ist dir bestimmt eine größere Hilfe als ich“, entgegnete Joey, hielt dann jedoch einen Moment inne. „Ach ja, es gibt gleich Essen. Du hast doch sicher auch Hunger. Los, lass' uns was zu futtern besorgen!“ „Danke, aber ich bin nicht hungrig. Hol' dir ruhig schon etwas, ich esse später.“ Der Blonde zuckte nur mit den Schultern. „Wie du meinst. Aber pass' auf, dass du nicht vom Fleisch fällst!“, fügte er noch hinzu und boxte Marik freundschaftlich in die Seite, ehe er aufstand und in die Sonne hinaus trat. Der zurückgebliebene Ägypter seufzte und legte den Kopf in den Nacken, sodass er die kalte Felswand an seinem Hinterkopf spürte. Manchmal wusste er nicht, was er denken sollte. Damals, als er sich entschieden hatte, endlich etwas Richtiges aus seinem Leben zu machen, war er nach Japan gegangen. Zum einen, weil er Japanisch sowie so sprach, zum anderen weil das Schulsystem dort ausgezeichnet war. Er hatte sich an zahlreichen Schulen beworben und hatte schließlich – wie es das Schicksal so wollte – einen Platz in Domino City bekommen. Seitdem war er oft mit Yugi und seinen Freunden unterwegs. Selbst Joey hatte ihm das, was er zu Battle City Zeiten getan hatte, verziehen – und der Gute konnte wirklich nachtragend sein, wenn er wollte. Zumal es ja nicht irgendein Scherz gewesen war, den Marik ihnen da gespielt hatte. Er hatte ihr Leben in Gefahr gebracht. Doch sie alle teilten die Ansicht, dass es seine dunkle Seite gewesen war, die ihn zu derlei Handlungen getrieben hatte. Er schloss die Augen. Ihm kamen die Worte in Erinnerung, die Marlic damals gesprochen hatte, als er ihm gemeinsam mit Bakura gegenüber gestanden war. Du kannst mir nicht einfach die ganzen schlechten Eigenschaften zuschieben und die guten für dich behalten. Und damit hatte er Recht. Marik hatte es zuerst verdrängt, hatte jedoch bald einsehen müssen, dass seine andere Hälfte richtig lag. Das hatte er spätestens dann gemerkt, als er Teil von Yugis Clique wurde. Er war froh, Freunde zu haben, aber auch nicht traurig, wenn er einen Abend alleine verbringen konnte. Mit Ryou kam er recht gut aus, ebenso mit Yugi. Auch Tea war ganz in Ordnung. Aber gerade Joey und Tristan waren zwei Menschen, die ihm leicht auf die Nerven fielen. Ihre überschwängliche und laute Art war das genaue Gegenteil zu Mariks. Dies waren dann die Momente, in denen er sich zusammen reißen musste. Mancher bösartige Gedanke war ihm da schon in den Sinn gekommen. Eigentlich sollte er diesen Leuten dankbar sein, dass sie ihm eine zweite Chance gaben. Aber so ganz konnte Marik eben doch nicht aus seiner Haut. Wie auch? Es gab zu viele Dinge, alleine schon in seiner Kindheit, die sein Leben nachhaltig geprägt hatten. Und es war allgemein bekannt, dass derlei Erfahrungen immer, egal ob man wollte oder nicht, eine Auswirkung auf das Verhalten haben würden – auch wenn man es selbst vielleicht nicht merkte. Er hatte nach all den Jahren, in denen die Verbitterung in ihm gewachsen war, nicht einfach einen Schalter umlegen und sagen können, dass er von jetzt an ein netter, hilfsbereiter junger Mann war. Das war nicht möglich. Dafür hatte er zu lange gehasst. Und dieses Hassen würde niemals gänzlich verschwinden. Irgendwo würde er immer einen gewissen Zorn auf diese Welt hegen, die ihm ein solch schmerzliches Schicksal hatte zukommen lassen. Irgendwann würde wieder der Moment kommen, da er Neid auf seine Freunde verspürte, weil es ihnen besser ergangen war. Doch Marik wusste, dass es eine Möglichkeit gab, nicht so zu werden wie damals, als er ohne mit der Wimper zu zuckten jeden aus dem Weg geräumt hätte, der ihm auf seinem Pfad zur Rache hinderlich war: Er lernte, mit seinen negativen Gefühlen umzugehen. Weder schob er sie ganz beiseite, noch ließ er ihnen freie Bahn. Und so machte er immer wieder seine Fortschritte. Kapitel 32: Weiter ------------------ Brennend wie eh und je fielen die Sonnenstrahlen auf Men-nefer herab. Und dennoch war es, als hätten sie ihre Wärme verloren. Trümmerfelder säumten die großen Straßen der Stadt. Noch immer lag Staub in der Luft. Hier und da loderten weiterhin Feuer. In mitten all der Verwüstung wurde ein Strom von Gefangenen zu den Kerkern getrieben. Sie hatten sich nicht mehr retten können – oder sich geweigert, ihre Heimat zu verlassen. Überall waren Caesians Soldaten unterwegs. Nach den Feierlichkeiten war ihr Herr schnell zu seiner altbekannten Strenge zurück gekehrt. Denn noch – und das wusste er – gehörte ihm nicht ganz Ägypten, geschweige denn alle Artefakte. Dies war auch der Grund, weswegen er nicht auf einem der zahlreichen Balkone des Palastes stand und grinsend auf Men-nefer hinab blickte. Er befand sich in einem der vielen Empfangssäle, auf dem Stuhl, der normalerweise allein dem Pharao vorbehalten war. Sein Blick war vertieft in einen Papyrus. Lange las er, bis jemand um Eintritt bat. Ungehalten legte er die Schriftrolle beiseite, dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Gast: Es war einer seiner Heerführer. Wenigstens nicht irgendein Subjekt. Diesen Mann konnte Caesian sogar einigermaßen ertragen. Er wurde Gladius genannt und stammte ursprünglich aus Rom. Er war ein Mann von Ehre, unterbreitete seine Dienste aber auch je nach Bezahlung. Und Caesian zahlte gut – vor allem für jemanden mit seinen Fähigkeiten. Dieser Mann war ein ausgezeichneter Stratege, der selbst in der denkbar schlechtesten Situation die Nerven bewahrte. Er war definitiv jeden einzelnen Groschen wert. Ein grauer Stoppelbart zog sich um den Mund. Das zu einem Zopf gebundene Haar von gleicher Farbe fiel auf seine Schulterblätter hinab. Seine blauen Augen war berechnend. Er kniete nieder, als er vor seinem König angekommen war. „Mein Gebieter, ich bringe Neuigkeiten.“ Caesians Lippen umspielte ein Grinsen. Auf diesen Kerl war wenigstens verlass. „So sprich“, forderte er. Sein Gegenüber erhob sich. „Unsere Späher haben einen Zug von Flüchtlingen und ägyptischen Soldaten, sowie hochrangigen Mitgliedern des Palastes ausgemacht. Sie ziehen gen Süden. Allerdings konnten meine Späher keine Anzeichen ausmachen, die darauf hindeuten, dass sich Mitglieder der Schattentänzer unter ihnen befinden.“ Caesian legte die Stirn in Falten. Keine Schattentänzer? Eigenartig ... „Mit Eurer Erlaubnis, mein König, würde ich die Truppen zusammen ziehen und sie verfolgen.“ Für einen Moment blieb es still, dann erhob sich der Herrscher bestimmt. „Nein. Ihr werdet nichts dergleichen tun.“ Von seinem Untergebenen erntete er daraufhin verdutzte Blicke, wodurch er sich zu einer Erklärung genötigt sah: „Sehe ich aus, als befasse ich mich mit einem Haufen Verletzter, Frauen, Kinder und alter Männer? Nein. Diese Leute stellen keine Gefahr für uns dar. Doch sagt, welche Stadt ist ihr Ziel?“ „Wir vermuten, dass es Theben ist, mein Herr. Soweit uns bekannt ist, ist dort noch ein Teil des ägyptischen Heeres positioniert ...“ „Und wenn sie noch dutzende Armeen versteckt hätten, es wäre so oder so gleich. Nichts vermag sich mit der Macht der Relikte zu messen. Weshalb sollte ich mich also mit diesen räudigen Straßenkötern befassen? Nein, die Artefakte der Götter sind zunächst wichtiger.“ „Mit Verlaub, Majestät, gestattet Ihr mir einen Einwand?“, äußerte Gladius vorsichtig. „Sprich ...“ „Wäre es nicht besser durchdacht, zunächst das gesamte Land unter Eure Kontrolle zu bringen? Anschließend hätten wir alle Zeit der Welt, die Relikte zu finden.“ „Du denkst nicht besonders weit, habe ich recht?“ Bei diesen Worten schritt Caesian zum Fenster. Er blickte hinaus, während er fortfuhr: „Du sagtest soeben, dass die Späher keine Schattentänzer unter den Fliehenden ausmachen konnten. Das bedeutet, sie halten sich noch in der Gegend auf. Wahrscheinlich gedenken sie, nach weiteren Relikten zu suchen, ehe ich sie bekommen kann. Und das, Gladius, darf auf keinen Fall geschehen. Diese minderwertigen Maden werden diese Gegenstände niemals mit ihren dreckigen Fingern beschmutzen. Dafür werde ich sorgen.“ „Verzeiht meinen erneuten Einwand, mein Herr. Aber wir haben nach wie vor keine Hinweise auf den Verbleib weiterer Artefakte.“ „Und genau das ist der Punkt, um den wir uns zunächst kümmern müssen. Weißt du Gladius, dieses Reich hier“, er machte eine ausschweifende Handbewegung, „bedeutet mir nichts. Nein. Es geht mir allein um die Relikte. Denn was ist schon die Herrschaft über Ägypten, wenn ich mit Hilfe der göttlichen Gegenstände die ganze Welt zu unterjochen vermag?“ Der Heerführer kam nicht umhin, bei diesen Worten zu schlucken. „Deshalb werden wir uns ihrer auch zunächst annehmen. Doch dafür benötigen wir ein wenig Unterstützung der gegnerischen Seite.“ „Inwiefern, Majestät?“ „Schafft mir einen Schattentänzer oder einen ägyptischen Hohepriester herbei. Beide Parteien haben an der gleichen Front gefochten, sie werden mit Sicherheit Wissen über die Relikte ausgetauscht haben. Wie ihr das anstellt, soll mir gleich sein.“ Gladius nickte. „Wir Ihr wünscht, Gebieter. Ich denke, ich weiß bereits, wie ich es anstellen werde.“ Ein amüsiertes Grinsen erschien auf Caesians Gesicht. „So?“ „Ja. Da wir nicht wissen, wo sich der Clan aufhält, ich aber Eure Meinung teile, dass sie wohl in der Nähe sein müssen, wird es ein Leichtes sein, ihre Aufmerksamkeit auf uns zu lenken – und sie in eine Falle zu locken.“ „Und wie?“ „Gestattet mir, die Leiche des Schattentänzers zu verwenden, der so töricht war, sich Euch entgegen zu stellen. Ihr werdet sehen, kein halber Sonnenlauf und der Clan steht vor den Toren“, erklärte Gladius. „Interessant“, überlegte der Herrscher derweil. „Deinem Gesuch sei stattgegeben. Aber wehe, du enttäuscht mich ...“ „In ... in diesem Fall wüsste ich vielleicht noch eine Möglichkeit, Majestät!“ Die Köpfe von Caesian und seinem Heerführer fuhren zugleich herum, als zwei seiner Soldaten eine Gestalt in den Saal führten. Sie reichte den Männern, von denen sie flankiert wurde, gerade einmal bis zur Hüfte. Ihre Züge waren von Furcht gezeichnet. Einer der Wachmänner ergriff das Wort: „Wir haben ihn erwischt, wie er versuchte, zu lauschen, mein Herr!“ „Du wagst es, einer Unterredung ungefragt zu zu hören?“, meinte Caesian schließlich. Seine Miene war alles andere als begeistert. „Ver... Verzeiht, Euer Hoheit! Es war nicht ... beabsichtigt ... Wirklich! A... Aber wie ich sagte, es gäbe da vielleicht noch eine Möglichkeit!“ Gladius und sein Herr wechselten einen Blick. Schließlich nickte der Herrscher. „Lasst uns alleine!“, befahl er den beiden Soldaten, die sich sogleich zurück zogen. Die Tore des Saals fielen hinter ihnen ins Schloss. Zunächst war alles still. Dann näherte sich Caesian langsam dem Zwerg, wie er ihn bereits jetzt gedanklich betitelte. „Nun denn ... wie ist dein Name? Und was, glaubst du, könnte uns von Nutzen sein?“ Die Gestalt zitterte merklich, während sie antwortete. „Mein Name ist Geberuk, Euer Hoheit. Ich bin ... nein ... war ein direkter Bediensteter der Hohepriesters Seto.“ Gladius zog eine Augenbraue in die Höhe. „Meinst du jenen, der bei unserer Ankunft noch über Ägypten herrschte?“ „Ja! Ja, genau den. Wie Ihr Euch mit Sicherheit vorstellen könnt, habe ich durch mein Amt Einblick in das Leben des ehemaligen Königs von Ägypten bekommen können. Und einiges davon ist nicht unnütz. Ich ... Ich hörte, ihr gedenkt, einen Hohepriester oder einen Schattentänzer zu fassen ...“, er brach unter Caesians strengem Blick kurz ab, ehe er den Faden wieder fand, „ ... nun, Eure Erfolgschancen würden sich verdoppeln, wenn Ihr zwei Köder auslegt. Einen für den Clan und einen für Hohepriester Seto. Zumal Ihr Euch bei ihm sicher sein könnt, dass er Wissen über die Relikte besitzt. Immerhin ist er der Vetter des Pharao ...“ Caesian ließ sich die Worte durch den Kopf gehen. Eigentlich war dieser Vorschlag alles andere als schlecht. Aber ... „Und wer sagt dir, dass sich der Priester noch in der Umgebung von Men-nefer befindet?“ Geberuk zuckte zusammen. Das hatte er wahrlich nicht bedacht. Aber er wäre gar nicht erst in sein ehemaliges Amt gekommen, wäre er nicht ein Meister der Überredungskunst. „Äh ... ja, aber ... selbst wenn er nicht mehr hier ist, so besteht doch sicherlich noch Kontakt zu den Schattentänzern. Und die halten sich ja offenbar noch in der Nähe auf. Das heißt, er würde es so oder so erfahren.“ Caesian grinste. „Nun gut ... und was genau hattest du dir gedacht, Geberuk?“ „Zu... zunächst sollte ich wissen, was ich als Gegenleistung erhalte ...“, begann der ehemalige Bedienstete vorsichtig. Die Miene seines Gegenübers nahm auf der Stelle einen anderen Ausdruck an, sodass er schnell und mit quietschender Stimme hinzufügte: „Mein Leben wäre mir bereits genug!“ Nun war es Gladius, der reagierte: „Du wagst es, Forderungen an unseren Herrscher zu stellen? Du tust regelrecht so, als bräuchte man dich! Hast du etwa vergessen, dass seine Majestät im Besitz der Relikte ist?“ Er hielt erst inne, als Caesian ihm gebot zu schweigen. „Ruhig Blut. Zugegeben, auch ich empfinde sein Wagnis als dreist. Aber gut, solange es nur sein mickriges Leben ist, das er wünscht ... Es soll dir gewehrt werden, Geberuk – insofern uns deine Neuigkeiten von Nutzen sind.“ Geberuk schien aufzuatmen. „Nun, hört zu: Der Hohepriester Seto besitzt das Ka des weißen Drachen. Dieses Ka wurde ihm vor zwei Sommern in der Schlacht gegen Zorc von einer Sterblichen geschenkt. Ihr Name ist Kisara. Bis heute sind viele der Überzeugung, dass Seto große Zuneigung für sie hegt. Auch ich teile diese Ansicht. Für sie würde er so gut wie alles tun.“ Caesian wurde hellhörig. Kisara ... vielleicht war das, wovon der Zwerg soeben berichtet hatte, tatsächlich eine Möglichkeit, an den Priester heran zu kommen. „Verstehe. Und wo finden wir diese Frau?“ „Nun ... ähm ... da gibt es ein kleines Problem.“ „Das da wäre?“ „Sie ist ... nun ... sie weilt nicht mehr unter den Lebenden.“ Plötzlich breitete sich Schweigen aus. Vorsichtig lugte Gladius zu seinem Herren hinüber. Und das, was er sah, verhieß nichts Gutes – was sich im nächsten Moment bestätigen sollte. „Und wie hast du dir vorgestellt ...“, begann Caesian bedrohlich zischend, ehe seine Stimme mit einem Mal zu explodieren schien und er weiter brüllte, „dass uns diese Mitteilung von Nutzen sein könnte?“ Geberuk war zunächst so erschrocken, dass er über sein eigenes Gewand fiel, als er versuchte, Abstand zwischen sich und den Herrscher zu bringen, der sich vor ihm aufgebaut hatte. „A... aber Ihr habt doch die Relikte! Das Artefakt, dass die Toten vor dem Jenseits bewahren kann!“ Mit einem Mal hielt Caesian inne. Soeben hatte es noch ausgesehen, als wolle er den ehemaligen Bediensteten töten. Doch nun war seine Miene leer, ehe sich plötzlich ein Grinsen auf seine Lippen schlich. „Du hast recht ...“ Er wandte sich langsam zu seinem Feldherren um, ging ein paar Schritte auf ihn zu. „Gib Anweisung, den Sokartempel frei räumen zu lassen. Wir werden ihn brauchen. Wenn du damit fertig bist, lass dir die Leiche dieses alten Narren bringen und tue damit, was immer dir in den Sinn gekommen ist.“ „Den Tempel des Sokar, Herr? Mit Verlaub, aber von diesem Gott existiert doch gar kein göttliches Relikt?“ „Das nicht. Doch ich besitze die Saat des Chnum. Zugleich ist Sokar einer der Totengötter. Wer hinab in die Unterwelt fährt, kommt nicht an ihm vorüber – ebenso verhält es sich bei dem, der zurück in die Welt der Lebenden möchte.“ Mit diesen Worten schritt Caesian zu seinem Platz zurück und ließ sich mit schallendem Gelächter darauf nieder. Es läutete. Doch zunächst bekam er es gar nicht mit. Erst, als ihm jemand auf die Schulter klopfte und ein „Bis morgen!“ hören ließ, wurde er aus seiner Starre gerissen. Ruckartig wandte er den Blick von dem ab, was er soeben fixiert hatte. Dennoch wirkte es nicht, als sei er vollends wieder bei der Sache. Tristan erhob sich langsam und suchte seine Sachen zusammen. Sein Blick war noch immer abwesend. Mit den Gedanken ganz wo anders verließ er das Klassenzimmer, lief den Flur hinunter und fand sich schließlich im Freien wieder. Auf dem Schulhof hielt er kurz inne, ehe er seinen Weg fortsetzte. Zwei Tage. So lange hatte er von den anderen schon nichts mehr gehört. Seitdem war es, als seien sie vom Erdboden verschluckt worden. Es hatte kein Lebenszeichen von ihnen gegeben. Tristan hatte alles versucht. Er hatte Anrufe getätigt, war von Haustüre zu Haustüre gerannt. Nichts. Noch einmal ließ er sich die Ereignisse der vergangenen 48 Stunden durch den Kopf gehen. Nach der Schule hatten ihn die anderen gefragt, ob er nicht mit in den Park kommen wollte. Er hatte ablehnen müssen, weil er bereits versprochen hatte, auf seine kleine Cousine aufzupassen. Am nächsten Morgen, also gestern, war er in die Schule gekommen, doch keiner von seinen Freunden war da gewesen. Weder Yugi, noch Tea, noch Joey. Auch kein Marik und kein Ryou. Zunächst hatte er gedacht, dass sie alle vielleicht etwas Falsches gegessen hatten. So etwas kam vor. Doch als er Yugi hatte anrufen wollen, um ihm die Hausaufgaben mitzuteilen, war der nicht ans Telefon gegangen – dasselbe bei den anderen. Schließlich war er zu Yugi nach Hause gegangen, nur um festzustellen, dass sein Großvater ihn seit dem Vortag nicht mehr gesehen hatte. Das Gleiche erlebte er bei Tea. Bei den anderen dreien wurde ihm nicht geöffnet. Hier hatte er nichts in Erfahrung bringen können, lebten Joey, Ryou und Marik doch allein – bei Ersterem waren die familiären Verhältnisse der Grund, weswegen er vor gut einem Jahr ausgezogen war, bei dem Weißhaarigen war es so, dass sein Vater die ganze Zeit im Ausland war und Marik war vor gut ein einhalb Jahren alleine hierher gekommen, um die hiesige Schule besuchen zu können. Schließlich hatten sich heute Morgen die Ereignisse überschlagen: Sowohl Salomon Muto als auch Teas Eltern hatten ihren Enkel, beziehungsweise ihre Tochter, als vermisst gemeldet. Das selbe war auch mit den anderen dreien geschehen, nachdem die Polizei Tristian – der ja ein enger Freund von Tea und Yugi war – befragt hatte und er angegeben hatte, dass auch die anderen drei verschwunden waren. Auch über Joeys Eltern, beziehungsweise seine Schwester Serenity, oder Mariks Familie in Ägypten war nichts in Erfahrung zu bringen. Ryous Vater hatte man in Ägypten noch nicht erreicht, doch Ishizu hatte wohl angeboten, sich umzuhören – auch wenn Tristan bezweifelte, dass es bei so einem großen Land möglich war genau diesen einen Menschen zu finden. Ebenso wenig glaubte er, dass dieser Mann wissen würde, wo sich sein Sohn befand. Allgemein wusste Tristan nicht mehr so richtig, was er glauben sollte. Die Annahme der Polizei, dass sich die fünf vielleicht einen Spaß machten, genervt von der Schule waren und so weiter und angeblich deshalb abgehauen waren, fand er lächerlich. Dafür kannte er sie zu gut. Der Einzige, auf den die zweite These zutreffen würde, wäre vielleicht Joey. Doch auch der wusste, dass ein Abschluss wichtig war. Hinzu kam, dass der Blonde der Schule kaum noch fern blieb, seit er und Tristan sich mit Yugi, Tea und Co. Angefreundet hatten. Er raufte sich die Haare. Nein, keiner von ihnen würde einfach so abhauen. Auch wenn er nicht glaubte, dass es etwas bringen würde, zückte er sein Handy. Schnell hatte er die Rufnummer der Mutos ausgewählt. Bald meldete sich jemand am anderen Ende der Leitung. „Hallo Herr Muto, Tristan hier. Ich wollte nur fragen, ob sich inzwischen etwas ergeben hat?“ „Tut mir leid Tristan, ich muss dich enttäuschen. Kein Lebenszeichen von meinem Enkel oder den anderen“, erwiderte der Großvater Yugis. „Verstehe ...“ Für einen Moment blieb es still. „Sagen Sie, Herr Muto ... glauben sie wirklich, dass sie abgehauen sind oder ihnen vielleicht etwas zugestoßen ist?“ „Hat es einen Grund, warum du das fragst, Tristan?“ „Nun ja. Wissen Sie, bei all den abgedrehten Sachen, die uns in den letzten Jahren so widerfahren sind, würde es mich nicht wundern, wenn nichts 'Normales' hinter ihrem Verschwinden steckt.“ „Das sehe ich ebenso.“ Tristan sah für einen Moment überrascht drein. „Wenn dem so ist, warum haben sie dann eine Vermisstenanzeige aufgegeben?“ „Zum einen weiß man nie. Zum anderen: Wie würde ich dastehen, wenn mein Enkel verschwunden wäre und ich nur sagen würde: 'Der taucht schon wieder auf, er verschwindet andauernd auf mysteriöse Weise'?“ „Ja, natürlich ... Aber was könnte dahinter stecken? Der Pharao hat doch seine ewige Ruhe gefunden und die Milleniumsgegenstände sind nicht mehr!“ „Diese Frage kann ich dir leider nicht beantworten. Hör zu, ich habe Kundschaft. Sollte ich etwas von Yugi hören, wirst du es als Erster erfahren – nun, gleich nach seiner Mutter, die völlig am Durchdrehen ist.“ Tristan nickte, auch wenn ihn sein Gegenüber nicht sehen konnte. „Danke sehr. Auf wiederhören.“ Damit war das Gespräch beendet und der junge Mann hing wieder ganz seinen Gedanken nach. Ziellos lief er schon wie gestern durch die Stadt, in der Hoffnung, dass sie ihm vielleicht doch plötzlich irgendwo begegnen würden. Er wusste nicht, wie lange er schon so durch die Gegend streifte, da klingelte plötzlich sein Handy. Sofort zog er es aus der Tasche und nahm ab. „Ja, hallo?“ Ein banger Augenblick, in der Hoffnung, die Stimme von Yugi oder einem anderen Verschwundenen zu hören. „Hey, Tristan! Hier ist Duke, erinnerst du dich noch an mich?“ Ein Seufzen. Keiner von ihnen. Eigentlich hätte er sich freuen sollen, die altbekannte Stimme zu hören, doch er tat es nicht. Seitdem die Sache mit dem Pharao vorüber gewesen war, hatte die Clique Duke nur noch selten zu Gesicht bekommen. Er war schon vorher zurück in die USA gegangen, um sich ganz seiner Spielefirma zu widmen. Die hohen Ansprüche an den japanischen Schulen waren zwar seinem Lebenslauf zuträglich gewesen, die wenige freie Zeit hatte jedoch nicht gereicht, um sich ausreichend um das Geschäft zu kümmern. Letzten Endes hatte er sich für seinen Lebenstraum entschieden. „Ist alles klar? Du scheinst ja nicht besonders erfreut zu sein, von mir zu hören.“ „Ähm, doch doch. Ich hatte nur gerade ... auf einen anderen Anruf gewartet.“ „Ah, okay. Störe ich?“ „Nein, nein. Nun sag schon, was gibt’s?“ „Na ja, ich bin momentan in der Stadt. Eigentlich geschäftlich, aber wenn ich schon mal hier bin, kann ich ja nicht einfach wieder gehen, ohne euch mal getroffen zu haben. Also, wie sieht's aus, hättet ihr heute vielleicht Zeit?“ „Hör zu, Duke. Da gibt es ein kleines Problem.“ „Das da wäre?“, erklang es stutzig vom anderen Ende der Leitung. „Nun, Yugi, Tea, Joey, Marik und Ryou sind seit vorgestern verschwunden.“ „Was? Was heißt denn verschwunden?“ „Können wir uns treffen? Alles am Telefon zu erklären wäre zu kompliziert.“ „Geht klar. Wann und wo?“ „Das Cafe am Uhrenplatz? In einer viertel Stunde?“ „Verstanden. Ich werde da sein.“ Ryou saß auf den Klippen, die die Himmelspforte einschlossen. Sein Blick war in die ferne gerichtet. Er hatte an seinem Vorhaben festgehalten. Als er gesagt hatte, er wolle verstehen, warum Bakura ihm all das angetan hatte, hatte er es ernst gemeint. Doch es gelang einfach nicht. Gleich wie oft er sich in der Gegenwart des Grabräubers befand, er wurde nicht schlau aus dieser Person. Seine Launen waren noch genau wie damals: Wechselhaft wie das Wetter. Nur ein roter Faden zog sich durch seine Art. Seine Gefühlskälte. Nicht einmal, als Rishas Vater gestorben war, oder als Keiro immer wieder beteuert hatte, dass er Bakura nur habe schützen wollen, als er seinen Bruder unter einem Vorwand aus Men-nefer fort locken wollte, hatte er eine positive Regung gezeigt. Das eine Mal war es ihm gleich gewesen, das andere Mal hatte er sich sofort verraten gefühlt. Ryou verstand es nicht. Wäre jemandem, der ihm nahe stand, der Vater genommen worden, er hätte diese Person in den Arm genommen und wäre für sie da gewesen. Und hätte ihn Amane auf diese Weise schützen wollen, wie es Keiro getan hatte, er hätte sich bestimmt auch übergangen gefühlt, es ihr aber zugleich gedankt. Denn er hätte darin nicht nur das Negative gesehen, sondern auch die Fürsorge. Er wandte den Blick vom Horizont, als sich Schritte näherten. Der Spruch 'Wenn man vom Teufel spricht' musste wirklich etwas Wahres an sich haben. Denn auf ihn zu kam niemand anderes als Keiro. Er schien in seine Gedanken versunken zu sein. So bemerkte er Ryou nicht, bis er direkt vor ihm stand. „Oh. Entschuldige, ich wollte nicht stören.“ Mit diesen Worten machte er einen Bogen um den jungen Mann aus dem 21. Jahrhundert und wollte weitergehen. „Ähm. Du störst nicht.“ Wie angewurzelt blieb Keiro stehen und wandte sich um. Sein Blick wirkte überrascht. „Sag' bloß, du bist noch bereit mit mir zu reden.“ Ryou zuckte die Schultern. „Wieso denn nicht?“ „Nun ja ...“ „Wegen dieser Sache mit Risha? Na ja, ich verstehe zwar nicht, warum ihr euch so hasst, aber im Endeffekt ist das eine Sache zwischen dir und ihr. Ich verurteile niemanden, solange ich keine Hintergründe kenne. Du wirst einen Grund gehabt haben, warum du verschwinden wolltest.“ Ein Schnauben. „Da scheinst du der Einzige zu sein, der so denkt.“ „Mag sein. Aber nimm es den anderen bitte nicht übel. Ich denke, sie stehen in der momentanen Lage sehr unter Druck und sind deshalb besonders vorsichtig – und vielleicht auch ein wenig misstrauisch.“ Schweigen trat ein, das erst wieder von Ryou durchbrochen wurde. „Magst du dich nicht setzen?“ Ein Lächeln huschte über die Lippen seines Gegenübers. Dann ließ er sich nieder. „Was tust du eigentlich hier oben?“ „Ich denke nach.“ „Hm ... Und worüber?“ „Um ehrlich zu sein: Über deinen Bruder.“ Keiro zog überrascht eine Augenbraue in die Höhe. „Und weshalb das?“ Ryou überlegte, wie er es am besten formulierte. „Nun, wie du im Palast bereits festgestellt hast, kennen wir uns schon ein wenig länger.“ „Was mich noch immer verwundert. Ich dachte, du kämst nicht aus dieser Zeit? Wie könnt ihr euch dann schon länger kennen?“ „Das solltest du wirklich besser ihn fragen. Ich weiß nicht, ob er allzu begeistert wäre, würde ich dir das erzählen. Und ich weiß genau, was passiert, wenn ihm etwas nicht passt.“ Außerdem würdest du mir sowie so nicht glauben. Das tut niemand, wenn er so eine Geschichte hört., fügte Ryou in Gedanken hinzu. „Was soll das bedeuten? Du sprichst in Rätseln.“ Der kleine Weißhaarige seufzte und legte sich wieder Worte zurecht. „Hör zu, ich möchte in deiner Gegenwart eigentlich nicht schlecht von ihm reden. Daher sagen wir es so: Er war nicht gerade das, was man 'nett' nennt.“ Nun richtete Keiro seinen Blick in die Ferne. „Ich verstehe schon. Ihr seid alle Freunde des Pharao. Und mein Bruder versuchte, ihn zu töten. Verständlich, dass ihr davon nicht gerade angetan seid.“ Wenn du wüsstest, wovon ich sonst noch nicht angetan war ..., schoss es Ryou durch den Kopf. „Aber glaube mir“, fuhr sein Gegenüber auch schon fort. „Bakura war nicht immer so.“ Der junge Mann aus dem 21. Jahrhundert sah ihn neugierig an. „Du meinst, als ihr noch Kinder ward, oder?“ Keiro nickte. „Wir waren wie alle anderen jungen Seelen, die noch nicht wissen, was es bedeutet zu leiden. Waghalsig, frech und immer gut aufgelegt. Und das, obgleich wir in Kul Elna groß wurden. Es mag dort keine Gesetze gegeben haben. Und dennoch hätte ich mir keine schöneren sechs Sommer vorstellen können, als jene, die ich dort verbracht habe. Unsere Eltern sorgten gut für uns, Vater war ein Meister des Stehlens und unsere Mutter war zwar streng, aber im Grunde genommen gutmütig.“ „Hört sich gar nicht schlecht an ... Hat Rishas Familie auch dort gelebt?“ Keiro schüttelte den Kopf. „Nein. Sie lebten in einem Dorf, das ungefähr einen halben Tagesritt entfernt war.“ Ryou runzelte die Stirn. „Und wie konnte sie dann dabei sein, als ...?“ Doch sein Gegenüber hob abwehrend die Hände. „Frag jeden das, aber nicht mich. Ich will nicht wieder in irgendwelche blöden Situationen geraten, die sie dann für sich nutzen kann, um sich bei Bakura einzuschleimen.“ „Verstehe. Und wie war dein Bruder so als Kind? Ich meine, du hast ja gerade schon angedeutet, dass er damals anders war als jetzt.“ Keiro richtete den Blick zum Himmel und schien zu überlegen. „Ein ganz normales Kind. Er war unbekümmert und dachte nicht an morgen. Wie wir alle eben.“ Er schüttelte erneut den Kopf. „Ich kann noch immer nicht glauben, dass diese Zeiten so plötzlich und so schmerzvoll ihr Ende fanden. Alles war perfekt, weißt du. 'Kura war immer so fröhlich und wenn er es war, dann war ich es auch. Und – ich denke, so viel kann ich verraten – Risha war nicht selten mit von der Partie. Auch sie war so anders. Schüchtern, zurückhaltend. Aber ich denke, ich werde einsehen müssen, dass diese Zeiten endgültig der Vergangenheit angehören.“ „Ihr seid alle erwachsen und habt eine Menge erlebt. Das verändert einen.“ Ein trauriges Lächeln schlich sich auf Keiros Gesicht. „Als du sagtest, du hättest über meinen Bruder nachgedacht, da hast du dich auch gefragt, wie er so werden konnte, nicht?“ Er warf Ryou einen kurzen Blick zu. Dieser schwieg jedoch. „Dasselbe frage ich mich auch. Wir mögen schreckliche Dinge erlebt und einander verloren haben. Doch ist das nicht der Kreislauf des Lebens? Muss man nicht die Wut, nein, den Hass irgendwann hinter sich lassen? Die Vergangenheit? Und seinen Weg weitergehen, ohne ständig zurück zu blicken? Hach ... ich verstehe es einfach nicht.“ Damit erhob er sich. „Danke, dass du mir zugehört hast, Ryou. Manchmal tut es gut, sich den Ballast einfach von der Seele zu sprechen.“ „Keine Ursache.“ Keiro verschwand ebenso leise, wie er gekommen war. Ryou blieb alleine zurück – mit genügend Dingen, über die er sich nun Gedanken machen konnte. Tea hatte sich im Schatten nieder gelassen. Vorsichtig massierte sie ihr Handgelenk. Es schmerzte noch immer höllisch. Aber daran würde sie sich gewöhnen müssen. Es würde noch eine Weile dauern, bis es nicht mehr verstaucht war. Gut Ding wollte eben Weile haben – und das obwohl sie im Augenblick alles hatten, nur keine Zeit. Nein, stattdessen türmte sich Problem auf Problem, Gefahr auf Gefahr. Sie fühlte sich ohnmächtig. Sie mochte eine Ka-Bestie bekommen haben, doch das Gefühl, dennoch nichts an der Situation ändern zu können, blieb. Sie sahen sich einer Übermacht gegenüber, die alles bezwecken konnte, was immer sie nur wollte – zumindest schien es so. Ihr war bewusst, dass sie weder sich, noch ihre Freunde aufgeben durfte, allen voran Atemu. Doch stets die Zuversichtliche zu spielen, wenn es an allen Ecken und Enden brannte, war schwer. Sie schaute auf, als der Pharao aus Manas Höhle trat. Als er Tea entdeckte, erwiderte sie sein Lächeln. „Wie geht es ihr?“, fragte sie schließlich, als der Andere zu ihr herüber kam. „Sie schlägt sich wacker. Aber die Schmerzen sind nicht ohne“, entgegnete seine Majestät. „Auch behagt es ihr nicht, die ganze Zeit nur herum liegen zu müssen.“ Die junge Frau nickte. „Kann ich verstehen. Es würde mich auch in den Wahnsinn treiben, wenn ich nichts anderes tun könnte, als die Decke an zu starren.“ Sie schien einen Moment zu überlegen, dann kam ihr plötzlich eine Idee. „Hey! Erinnerst du dich noch daran, dass in Manas Gegenwart einmal das Wort 'Popcorn' gefallen ist? Du hattest ihr doch versprochen, ihr zu zeigen, was es damit auf sich hat. Wäre dafür nicht jetzt der perfekte Zeitpunkt? Soweit ich weiß war unter dem Korn, das die Schattentänzer mitgebracht haben, auch Mais dabei.“ Auch Atemus Miene hellte sich auf. „Das ist eigentlich ein guter Einfall. Darüber freut sie sich mit Sicherheit!“ „Gut. Ich besorge einen Topf und die kümmerst dich um den Mais.“ Gesagt, getan. Bald hatten sie ein Feuer entzündet, auf dem schließlich das Behältnis mit den Körnern stand. Es dauerte nicht lange, bis die ersten Geräusche unter dem Deckel hervor drangen. Immer wieder gab es einen dumpfen Knall, wenn ein Maiskorn gegen die Wände des Topfes sprang und aufplatzte. „Jetzt bräuchten wir nur noch Salz oder Zucker“, meinte Tea. „Aber das wird sich schlecht machen lassen.“ „Wahrscheinlich, ja“, stimmte Atemu zu. „Aber es wird bestimmt auch so gehen.“ Als es längere Zeit still blieb, wagte Tea schließlich einen Blick unter den Deckel. Aller Mais war zu Popcorn geworden. „Dann bringen wir es mal zu Mana“, sagte der Pharao. „Sie freut sich bestimmt.“ Gemeinsam betraten die beiden schließlich die Höhle, in der sich die junge Hofmagierin derzeit befand. „Hallo Tea“, grüßte diese auch gleich freundlich, ehe sie den Topf in den Händen der anderen Frau gewahrte. „Was hast du denn da?“ „Na du hattest doch Hunger, wie mir berichtet wurde“, grinste die Brünette. „Erinnerst du dich noch daran, als wir über Popcorn gesprochen haben?“ „Klar!“, meinte ihr Gegenüber. „Wieso?“ „Ich hatte dir doch versprochen, dass ich dir welches zeige, sobald wir die Gelegenheit dazu haben. Und hier ist es“, mischte sich Atemu schließlich ein. Er konnte sehen, wie sich die Miene der Magierin aufhellte. Neugierig warf sie, so gut es in ihrer Position eben ging, einen Blick in den Topf. „Sieht ... interessant aus“, befand sie, ehe sie nach dem ersten Stück griff. „Und fühlt sich irgendwie eigenartig an.“ „Probier' mal“, forderte Tea sie auf. „Bei uns wird es für gewöhnlich noch mit Zucker oder Salz gegessen, je nachdem, was man lieber mag. Aber damit können wir leider nicht dienen.“ Sie sah Mana dabei zu, wie sie sich das erste aufgeplatzte Korn in den Mund schob. „Gar nicht übel!“, meinte sie schließlich. „Im Gegenteil. Schmeckt wirklich gut.“ „Du kannst alles haben. Das ist alles für dich“, meinte Tea und schob ihr den Topf hin. „Guten Appetit.“ „Ach was!“, winkte die Hofmagierin ab. „Greift zu. Immerhin habt ihr euch die Mühe gemacht, das ... Popcorn zu zu bereiten.“ Gerade wollte Atemu etwas erwidern, da hörte er, wie sein Name durch das Lager schallte. „Ich bin hier!“, machte er daraufhin auf sich aufmerksam. Nur einen Moment später erschien Riells Kopf im Höhleneingang. „Ich hoffe ich störe nicht“, vergewisserte er sich zunächst. „Nein, keine Sorge. Ist alles in Ordnung?“, erwiderte Atemu mit ernster Miene. „Ja, alles bestens. Ich wollte mich lediglich erkundigen, ob es Euch recht wäre, wenn wir bei Sonnenuntergang eine Besprechung abhalten würden. Ich weiß, wir sind alle noch erschöpft, aber irgendwie werden wir weiter machen müssen“, erläuterte der Schattentänzer. „Ich verstehe. Kein Problem“, meinte der Pharao. „Ich werde da sein.“ ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ So, ich melde mich nach einem Monat endlich mit dem nächsten Kapitel zurück! Wieder danke an sakura, die so lieb war, mir einen Kommentar zu hinterlassen! Du bist mir wirklich der treuste Leser überhaupt. :) Die Kuriboh-Sache habe ich nicht vergessen und sie kommt, versprochen! Ich hoffe, das Kapitel ist einigermaßen gelungen. Wir sehen uns im nächsten Teil! Grüße, Sechmet Kapitel 33: Beschwörung ----------------------- Beschwörung Nervös schritt der Mann auf und ab. Immer wieder prüfte er, ob wirklich alles Nötige vorbereitet worden war. Es war noch keinen ganzen Sonnenlauf her, da war Gladius zu ihm gekommen und hatte Caesians Befehl überbracht. Seitdem stand ihm der Schweiß auf der Stirn. Eine Totenbeschwörung! Was war nur in seine Majestät gefahren? War ihm überhaupt bewusst, dass eine solche auch gewaltig schief gehen konnte? Eikahn seufzte. Sein Gesicht, umrandet von langem, lockigem, schwarzem Haar, zeugte von Sorge. Immer wieder zwirbelte er nervös den Ziegenbart an seinem Kinn, während er überlegte. Nicht einmal er hatte es je zuvor versucht – und dabei gehörte er zu den erfahrensten Magiern, die Caesians Reich kannte. Doch er würde seinen Herren nicht davon abbringen können. Wenn er etwas wollte, bekam er es auch. Noch einmal überprüfte Eikahn die Schriftzeichen, die auf den Tempelboden geschrieben worden waren. Alles stimmte. Auch war das menschliche Blut, mit dem man die Zeichen gemalt hatte, inzwischen getrocknet. Der leblose Leichnam des Mädchens, von dem man den Lebenssaft gewonnen hatte, lag in Tücher gehüllt unweit der Schriftzeichen. Nähere Berichte über die Persönlichkeit der Frau, die Caesian erwecken wollte, hatten gezeigt, dass ihre Seele rein gewesen sein musste. Da es nötig war, den Göttern einen Ersatz für sie darzubringen, hatte Eikahn zunächst einige Zeit damit verbracht, die Gefangenen zu überprüfen. Schließlich war er auf das zwölf Sommer alte Kind gestoßen. Es passte perfekt, war unbefleckt und unschuldig. Noch lieber hätte Eikahn ein Neugeborenes gehabt, doch man konnte nicht alles haben. Er musste sich damit begnügen und hoffen, dass der Austausch gelang. Nur wenn die beiden Herzen, die beiden Seelen das gleiche Gewicht hatten, würde die Frau namens Kisara zurückkehren können. Er erhob sich, als das Geräusch von zahlreichen Schritten nahte. Nur einen Augenblick später betrat Caesian mit teuflischem Grinsen das Heiligtum. „Wenn du mich fragst, klingt das alles sehr merkwürdig.“ Gedankenverloren sah Tristan seinem Gegenüber dabei zu, wie dieser in seinem Milchkaffee herum rührte. „Wem sagst du das, Duke?“, entgegnete er und seufzte schwer. Die vergangene Viertelstunde hatte der Brünette damit verbracht, den Anderen auf den neusten Stand zu bringen. „Ich meine ...“, überlegte der Schwarzhaarige laut und hielt mit dem Umrühren inne, „keinen von ihnen würde ich so einschätzen, als würde er einfach verschwinden. Selbst Joey hat genug Grips, um zu wissen, dass er nicht einfach abhauen kann, ohne dass sich jemand Sorgen macht. Außerdem würde er zumindest Serenity Bescheid geben. Aber sie hat laut dir auch keine Ahnung, wo er steckt.“ „Richtig. Sie ist völlig fertig mit den Nerven.“ Duke nickte verstehend und lehnte sich zurück. Seine Augen waren auf Tristan gerichtet, schienen ihn aber nicht wirklich anzusehen. „Hast du eigentlich schon darüber nachgedacht, dass wieder einmal mehr als ein ... gewöhnlicher Grund dahinter stecken könnte?“ „Ja, das habe ich. Ich überlege seit Tagen, ob es sein könnte. Es wäre wohl auch die einfachste Erklärung, aber es gibt zu viele Dinge, die dagegen sprechen“, erklärte Tristan. „Die da wären?“ „Nun, zum einen sind die Milleniumsgegenstände nicht mehr. Und selbst wenn sie noch irgendwo zu finden wären – Atemu hat den Kampf gegen Zorc gewonnen, ist ins Totenreich eingekehrt und hat den Gegenständen somit ihre Macht genommen. Sie waren der Grund für all die seltsamen Dinge, die uns jahrelang passiert sind. Da sie weg sind, hatte auch das ein Ende. Es kann also eigentlich nicht sein. Ich habe sogar schon an das Siegel von Orichalcos gedacht, aber das ist genau so ausgeschlossen.“ „Du hast Recht ...“, stimmte Duke zu. „Und genau das ist es, was es nicht gerade leichter macht.“ „Wem sagst du das?“, äußerte der Andere erneut. „Okay. Lass es uns nochmal ganz von vorne angehen“, schlug der Schwarzhaarige schließlich vor. „Wann und wo hast du die anderen zum letzten Mal gesehen?“ „Vor zwei Tagen in der Schule.“ „Haben sie sich irgendwie merkwürdig benommen oder hatten sie irgendetwas vor?“ „Nein, sie waren alle ganz normal. Sie wollten in den Park, um dort den Nachmittag zu verbringen.“ Duke überlegte fieberhaft, doch das, was sein Gegenüber erzählte, hörte sich tatsächlich kein bisschen verdächtig oder eigenartig an. „Und du warst schon an eurem Stammplatz, um ihn noch einmal unter die Lupe zu nehmen?“ „Jep. Aber da war nichts. Noch nicht einmal ein Kaugummipapier oder dergleichen“, stöhnte Tristan. Je mehr ihm bewusst wurde, dass er absolut keine Ahnung hatte, wo die anderen steckten, desto verzweifelter wurde er. Es war etwas passiert. Es musste etwas passiert sein. Sie würden niemals einfach gehen. Aber was war es? „Hör zu: Was hältst du davon, wenn wir trotzdem noch einmal in den Park gehen und uns die Stelle genau anschauen? Vier Augen sehen bekanntlich mehr als zwei, es ist der einzige Anhaltspunkt, den wir momentan haben und es ist auf jeden Fall besser, als tatenlos herum zu sitzen.“ „Gut, lass uns das machen. Du hast Recht, eine andere Möglichkeit bleibt uns sowie so nicht.“ Es dämmerte über dem Land des ewigen Sandes. Die ersten Sterne schälten sich aus dem Abendrot hervor und prangten wie funkelnde Diamanten am Firmament. Weit unterhalb ihres wunderschönen Scheins hatte sich eine Gruppe von Menschen um ein Feuer versammelt, dessen Flackern von den Felswänden der Himmelspforte zurück geworfen wurde. Das Thema war dasselbe wie seit zahlreichen Sonnenläufen schon: Caesian. „Ich habe mich wirklich bemüht, aus euren Schriften etwas Nützliches heraus zu lesen“, berichtete Marik gerade an Riell gewandt. „Doch ich fürchte, ich muss dich enttäuschen. Ich wüsste nicht, wo in diesen Texten ein Hinweis auf die Relikte versteckt sein sollte.“ Das Oberhaupt der Schattentänzer seufzte schwer. „Ohne, dass dies böse klingen soll: Aber ich hatte nichts anderes erwartet.“ Auch Risha ließ es sich nicht nehmen, das Gesagte zu kommentieren. „Natürlich überrascht es uns nicht. Generationen von Gelehrten und Priestern haben versucht, die Texte zu deuten und keiner von ihnen war erfolgreich. Wieso sollte es also einem einfachen Kerl gelingen, der noch dazu aus einer völlig anderen Zeit stammt?“ „Du könntest ruhig mal ein bisschen dankbarer sein“, mischte sich Joey ein. „Immerhin hat Marik überhaupt etwas getan, während von dir den lieben langen Tag nicht die leiseste Spur zu finden war!“ „Als ob ich mich vor dem daher gelaufenen Sohn eines Kamels rechtfertigen müsste, was ich tue und was nicht“, entgegnete die Schattentänzerin mindestens eben so säuerlich – woraufhin Ryou und Marik den Blondschopf in ihrer Mitte bei den Schultern packen mussten, damit er nicht einmal quer über das Lagerfeuer hechtete. „Wäre es vielleicht möglich, dass wir hier einmal konstruktiv arbeiten?“, erkundigte sich Seto daraufhin und massierte sich die rechte Schläfe. „Was für Schriften sind das genau, von denen Marik spricht?“ „Aufzeichnungen unseres Clans“, erklärte Samira. „Außerdem alte Texte, die sich mit religiösen Themen befassen. Hier und da gibt es auch Vermutungen über die Fundorte der Gegenstände.“ „Richtig“, mischte sich Riell ein. „Unsere Schreiber konnten ein paar davon retten, als wir unser Versteck fluchtartig verlassen mussten. Aber das, was wir jetzt haben, ist nur ein Bruchteil unserer eigentlichen Sammlung.“ „Als ihr euer Lager verlassen habt?“, fragte Yugi. „Das heißt also, die anderen Aufzeichnungen befinden sich noch dort?“ „Nein, die haben wir gegessen“, erwiderte Risha und rollte mit den Augen. „Klar sind sie noch dort.“ „Gibt es denn vielleicht irgendeine Möglichkeit, an sie heran zu kommen? Eventuell könnten sie genau das sein, was wir jetzt brauchen. Wir können lange überlegen, wo sich die Relikte befinden könnten, solange wir keine Anhaltspunkte haben. Ägypten ist einfach zu groß“, merkte Ryou an. „Ich denke, wir müssen aber damit rechnen, dass sich Caesians Soldaten in der Nähe aufhalten“, warf Tea ein. „Die sind nicht das größte Problem“, meinte Riell schließlich. „Sondern?“, fragte Atemu. „Als man uns angriff, haben wir uns natürlich gewehrt. Unter anderem hat Cheron eine Feuersbrunst durch die Tunnel gejagt. Einige davon sind eingestürzt. Des Weiteren kann auch ein Teil unserer Schriftbestände verbrannt sein“, erläuterte das Clanoberhaupt. „Na großartig“, meldete sich Keiro zu Wort. „Das hast du ja prima hin bekommen, Risha“, sagte er säuerlich. „Hätte ich ihm stattdessen freie Bahn lassen sollen?“, zischte die Angesprochene sofort zurück. „Das nicht unbedingt, aber du hättest vielleicht einfach mal dein Hirn benutzen sollen!“, kam die Antwort. „Du riskierst ein bisschen viel, wenn ausgerechnet du vom Denken sprichst, meinst du nicht auch?“, schoss seine Base augenblicklich zurück. „Wenn ihr nicht beide auf der Stelle die Schnauze haltet, dreh ich euch den Hals um!“, ging Bakura plötzlich lautstark dazwischen. „Ihr seid ja schlimmer als ein ganzer Kindergarten auf Ausflug!“ „ ... ein was auf wie bitte?“ „Egal! Kommen wir zurück zum Punkt: Ihr habt Schriften und diese liegen in eurem ehemaligen Versteck begraben. Das heißt folglich eines, ohne dass man lange darum herum diskutieren müsste: Wir holen uns die Dinger.“ „Alter, du hast doch gerade gehört, dass ein Teil der Tunnel eingestürzt ist!“, kommentierte Joey daraufhin. „Genau deshalb wäre er ja der Richtige“, ließ Seto verlauten. „Der werte Bakura rühmt sich doch immer mit dem Titel 'König der Diebe'. Dann dürfte es doch mit Sicherheit auch kein Problem sein, ein paar Schriftrollen aus einem aufgegebenen Tunnelsystem heraus zu holen, nehme ich an? Vielleicht kannst du deine 'Fähigkeiten' dann auch endlich mal für etwas Nützliches einsetzen, Grabräuber. Oder hast du etwa Angst?“ „Bitte?“, kam prompt die eingeschnappte Antwort von der anderen Seite des Feuers. „Noch so einer, der von etwas redet, das er nicht versteht“, warf Risha ein. „Hier geht es nicht um Mut oder Feigheit. Es ist schlichtweg eine Tatsache, dass es alles andere als sicher ist, in die Gänge hinab zu steigen. Die Felsen könnten sich jederzeit lösen. Entweder man wäre dort unten lebendig begraben oder sofort tot.“ „Risha hat wahrscheinlich recht“, ließ nun auch Yugi verlauten. „Wenn es dort unten wirklich zu Kämpfen gekommen ist, in denen eine Ka-Bestie involviert war, dann kann man davon ausgehen, dass Einsturzgefahr besteht.“ „Aber haben wir eine andere Wahl?“, seufzte Samira, ehe sie eine sichere Miene aufsetzte und Riell entschlossen ansah. „Majestät: Ich melde mich freiwillig, die Schriftrollen zu bergen!“ „Oh nein, das kommt nicht in Frage“, entgegnete Riell. „Die Befreiung meines Vaters war riskant genug für zehn Leben.“ „Ich sage nur 'Skorpionzucht'“, murmelte Risha. „Wenn Bakura sich dazu entschließen sollte, zu gehen, dann werde ich ihn begleiten und sonst niemand, verstanden?“ „Ich arbeite alleine“, teilte der Grabräuber daraufhin mit. „Aber gewiss doch. Wir sprechen hier nicht von irgendeinem Grab. Wir sprechen von einem stockfinsteren, weitverzweigten Tunnelsystem. Gleich, wie viel Erfahrung du haben magst, du wirst jemanden brauchen, der dir den Weg zeigt.“ „Und ich könnte trotzdem mitkommen. Ich bin nämlich die Kleinste hier. Ich passe bestimmt durch alle Ritzen und Öffnungen, durch die Ihr nicht hindurch kommt, Majestät – ohne damit sagen zu wollen, dass Ihr dick wärt, oder so“, erklärte Samira. „Das will ich dir auch geraten haben ...“, setzte Risha gerade an, als sie unterbrochen wurde. „Die Idee ist gar nicht schlecht“, befand Joey. „Und ich würde mich auch noch freiwillig melden. Ich bin kräftig – das könnten wir brauchen, wenn wir Felsen aus dem Weg räumen müssten oder etwas in der Art.“ „Aber klar doch, Spargeltarzan“, schmunzelte Marlic. „Als ob wir dich brauchen würden. Wenn ich dich daran erinnern darf: Ich habe das braunhaarige Individuum, das du Freund nennst, bei unserer letzten Begegnung mit einer Hand hoch heben können“, entgegnete Bakura und verdrehte die Augen. „Er heißt Tristan“, zischte Tea. „Genau. Und wenn ich dir eines raten darf: Versuch das bei mir und du bist Geschichte“, konterte Joey. „Dann bin ich wohl mit dem Erteilen von Ratschlägen dran: Tu das und ich schneide dir die Kehle durch“, mischte sich Risha mit drohendem Unterton ein. „Leute, so wird das nichts“, versuchte schließlich Atemu, sich Gehör zu verschaffen. „Wenn wir uns die ganze Zeit nur gegenseitig anfeinden, kommen wir zu keinem Ergebnis.“ Er wartete kurz ab, ob sich noch irgendwelche weiteren Widerworte bilden würden. Als dies ausblieb, fuhr er fort: „Wie sieht es aus Bakura? Wärst du bereit, zu versuchen, an die Schriftrollen heran zu kommen?“ Die Blicke von Pharao und Grabräuber trafen sich. Die Spannung, die sofort zwischen beiden entstand, war förmlich greifbar. Es war ein schweigendes Kräftemessen, das keiner von ihnen verlieren wollte. Yugi entging dies nicht – ebenso wenig, wie ihm entging, dass Atemu wohl den falschen Weg gewählt hatte. Seine Frage kam einer Art Bitte gleich, auch wenn er das so niemals zugeben würde. Seine Majestät wusste, dass Bakuras Fähigkeiten nötig sein würden, um mit Hilfe der Texte weiter voran zu kommen, doch er würde es nicht so sagen. Zugleich würde sich der Grabräuber wohl, gleich wie schlimm die Situation sein mochte, eher ein Bein abhacken, als auf ein Gesuch des Pharao positiv zu reagieren. Doch Yugi hatte eine Idee, wie er ihn dennoch dazu bringen konnte. „Atemu, ich glaube nicht, dass wir das von irgendjemandem verlangen können“, sagte er betont verständnisvoll. „Es ist viel zu gefährlich.“ Sein Blick streifte bei diesen Worten Seto. Der schien sofort zu verstehen. „Mit Sicherheit ist es das. Da kann eben auch der König der Diebe Angst bekommen.“ Es funktionierte. Bakuras finsterer Blick zuckte auf der Stelle hinüber zu dem Hohepriester. Die fliedernen Augen fixierten ihr Gegenüber einen Moment lang, ehe der Grabräuber verächtlich schnaubte. „Von wegen! Ich breche noch vor Sonnenaufgang auf. Alleine.“ Damit erhob er sich in einer fließenden Bewegung und verließ das Lagerfeuer. Doch Risha würde sich nicht so einfach abschütteln lassen, so viel stand fest. „Vergiss es! Ich komme mit!“, rief sie ihm nach, während sie ebenfalls aufstand, um ihm zu folgen. Kaum hatte sie ihn erreicht, drehte er sich ruckartig um. „Weißt du was? Tu, was du willst. Aber merk' dir eines: Geh mir nicht auf den Sack!“ Damit verschwand er in der Dunkelheit – und ließ eine sichtlich verwirrte Risha zurück, die sich fragte, von welchem 'Sack' er wohl sprach ... Joey hatte es sich ebenfalls nicht nehmen lassen, sich anzuschließen. Zwar hatte Risha die Ansicht vertreten, dass Bakura und sie ausreichten, doch nachdem sie und der Blonde aus dem 21. Jahrhundert über dieser Thematik wieder aneinander geraten waren, hatte sie schließlich nachgegeben. In ihrem Leben brannte es derzeit an allen Ecken und Enden und sie hatte allmählich nicht einmal mehr die Nerven für eine Diskussion. Für gewöhnlich hätte sie ihren Standpunkt vertreten, bis sie gewann. Doch diesmal nicht. Sie hatte zwar keine Ahnung, weshalb der Kerl unbedingt mitkommen wollte, aber sie hatte eine Vermutung: Ihm war es hier im Lager wohl schlichtweg zu langweilig. Welchen anderen Grund hätte er sonst, sich auf dieses nicht ungefährliche Unterfangen einzulassen, außer purem Tatendrang? Zumal niemand ging, mit dem er sich gut verstehen würde. Unterbewusst wanderten Rishas Augen zu der Höhle, in die Bakura verschwunden war. Wahrscheinlich hatte er sich noch einmal hingelegt, um Kraft für ihre Aufgabe zu sammeln. Ihr war durchaus klar, dass sie nicht alleine aufgrund der angeführten Argumente mitgehen wollte. Gewiss brauchte ihr Vetter jemanden, der sich auskannte. Zugleich behagte ihr aber auch einfach der Gedanke nicht, dass er sich in offenes Feld begab. Hier waren sie einigermaßen sicher, dort draußen lauerte die Gefahr. Deshalb begleitete sie ihn lieber, denn dann konnte sie sich wenigstens einreden, dass sie die Situation unter Kontrolle hatte, indem sie im Notfall eingreifen konnte. Außerdem bot sich so vielleicht mal die Gelegenheit, mit ihm zu reden – ohne, dass Keiro plötzlich hinter einer Ecke hervor gesprungen kam und sich wieder mit Hilfe seines dummen Mundwerks einmischte. Sie seufzte und fuhr sich über das Gesicht, zuckte kurz zusammen, als sie nicht an ihre ledierte Gesichtshälfte dachte. Wenigstens hatte sie Samira überzeugen können, hier zu bleiben. So gut es das Nervenbündel auch meinte, im Augenblick war die Wüste kein Ort für halbstarke Ka-Träger. Ihre Bestie war gewiss mächtig – doch ihre Seele war noch viel zu impulsiv. „Ähm ... Entschuldigung? Risha?“ Die Angesprochene wandte sich um – und stand dem Jungen gegenüber, der sowohl Keiro als auch Bakura auf eine gewisse Weise ähnelte. Wie hieß er noch gleich ... ? Ach ja, Ryou. „Was ist?“ „Nun, ich wollte nur fragen, ob es vielleicht möglich wäre, dass ich euch begleite.“ Die Schattentänzerin zog eine Augenbraue in die Höhe. „Und was genau, denkst du, würde uns das bringen?“ „Also, zum einen kann ich eure Schriftzeichen ein bisschen lesen und verstehen. Das heißt ich könnte dabei behilflich sein, herauszufinden, welche Schriftrollen wir brauchen könnten und welche nicht. Ich weiß, Marik wäre dafür besser geeignet, aber er ist im letzten Gefecht lange nicht so gut davon gekommen, wie ich. Ihr könntet natürlich auch einen anderen Schattentänzer mitnehmen, aber soweit ich weiß, sollen ja alle verfügbaren Kräfte für den Fall der Fälle hier bleiben.“ Er machte eine kurze Bedenkpause und seufzte schließlich. „Zum anderen will ich auch einfach mal irgendetwas Nützliches machen.“ Risha verdrehte innerlich die Augen. Bei Ra, dieses Helfersyndrom. Momentan griff es wohl wieder wie eine Seuche um sich. Sie fragte sich wirklich, ob ein Tag ohne Tote und Schwerverletzte so langweilig sein konnte, dass diese Leute unbedingt freiwillig hinaus in die Wüste mussten, wo es deutlich gefährlicher war, als hier. Aber gut, wenn er unbedingt wollte. „Meinetwegen. Aber wehe du fällst uns zur Last. Und bevor durch dich noch jemand auf blöde Gedanken kommt: Du bist definitiv der Letzte, der sich anschließt!“ Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und verschwand in der Dunkelheit, um ebenfalls noch einmal zur Ruhe zu finden. Yugi und Tea halfen ihrem Blonden Kumpanen dabei, etwas Brot und Trockenobst für den bevorstehenden Weg einzupacken. Bald war das Bündel fertig geschnürt. Auch für Ryou wurde eines bereit gelegt. Die drei waren sichtlich erstaunt gewesen, als der Weißhaarige verkündet hatte, dass er ebenfalls mitkommen würde. „Habt ihr beide euch das auch wirklich gut überlegt?“, hakte Tea noch einmal nach. „Klar doch“, bestätigte Joey. „Mach dir keine Sorgen. Uns passiert nichts, immerhin sind wir schon groß. Und wenn es wirklich hart auf hart kommt, haben wir ja immer noch den Großkotz von einem Grabräuber dabei. Ich geb's nur ungern zu, aber sein Ka ist echt 'ne Wumme.“ „Gerade Bakura wäre eigentlich ein Grund um hier zu bleiben, oder nicht?“, meinte Yugi. „Sind wir mal ehrlich: Ich will mir gar nicht vorstellen, was dabei heraus kommt, wenn ihr vier gemeinsam auf einer Mission unterwegs seid.“ „Wie meinst du das?“, erkundigte sich der Blonde überrascht. „Das ist doch ganz einfach“, mischte sich wieder Tea ein. „Bakura provoziert nur allzu gerne. Du wiederum reagierst gerne auf Provokationen. Hinzu kommt dann noch Risha, die immer sofort dabei ist, wenn es irgendwo Stunk gibt. Das kann nicht gut gehen.“ „Und ich stehe dann daneben und verteile Punkte je nach Benutzung des beleidigenden Vokabulars und Treffsicherheit der Fäuste“, fügte Ryou seufzend hinzu. „Niemand hat behauptet, dass das Ganze ein Spaziergang wird, Tea. Aber ich hoffe einfach mal, dass wir uns alle auf unsere Aufgabe konzentrieren und zusammenarbeiten werden, um diese zu lösen.“ „Du weißt, es ist nicht meine Art, so was zu sagen“, entgegnete Yugi. „Aber das glaube ich wirklich erst, wenn ich es sehe. Vor allem was Bakura betrifft. Er macht das alles ja auch nicht ganz freiwillig, sondern eher, um sein Ego zu besänftigen und nicht als feige dazustehen.“ „Schon klar“, erwiderte Ryou. „Das ist mir durchaus bewusst. Aber es besteht auch die Möglichkeit, dass Joey und ich völlig unbehelligt bleiben. Immerhin ist ja Risha dabei – und die scheint sich mit Bakura fast genau so oft in die Haare zu kriegen, wie mit Keiro.“ „Tja, das wirft mal wieder die Frage auf, ob die Angehörigen dieser Familie eigentlich noch irgendjemanden außer sich selbst leiden können“, warf Joey in die Runde, während er die Augen verdrehte. „Die Paradoxeste ist sowie so diese Risha. Betet zum einen irgendwelche Götter an, deren Namen ich nicht aussprechen kann, betrachtet andererseits aber sich als Mittelpunkt des Universums – zumindest kommt es einem so vor.“ „Das dürfte in dieser Familie ein allgemeines Problem sein. Keiro ist ja auch nicht ganz ohne, wie wir inzwischen festgestellt haben“, meldete sich Tea zu Wort. „Vor allem wie er teilweise gegenüber Risha reagiert, ist echt krass. Zu Bakura und uns ist er wahnsinnig freundlich, aber sobald er sie sieht, scheint es, als habe man eine andere Person vor sich.“ „Wundert dich das?“, fragte Joey. „Wenn ich mit den beiden verwandt wäre, wäre ich auch nicht mehr ganz richtig im Kopf.“ Die Nacht hatte sich längst über Men-nefer gesenkt, da kehrte Caesian in den Tempel des Sokar zurück. Am Eingang hielt er kurz inne, um die beiden Statuen, die das Heiligtum flankierten, zu mustern. Zwei riesige, in Binden gewickelte, menschliche Körper, auf denen ein Falkenkopf thronte. Caesian grinste. Diese Gottheit besaß nicht einmal ein eigenes Relikt. Es würde ein leichtes sein, zu bekommen, was der fremde Herrscher wollte. Er würde die Götter Ägyptens einmal mehr lehren, dass sie einen großen Fehler begangen hatten, als sie ihre Kräfte materialisierten und somit aufgaben. Diese Narren ... Er betrat den Tempel. Im Inneren fand er bereits seinen höchsten Magier vor. Die Leiche des Mädchens, das man bereits am Tag rituell getötet hatte, um ihr Blut für die Schriftzeichen verwenden zu können, lag inzwischen in dem Kreis aus Symbolen. Die leeren Augen starrten ausdruckslos zur Decke hinauf. Die Haut hatte einen gräulichen Schimmer angenommen. Die Gewänder waren benetzt mit Blut. „Ist alles vorbereitet?“, fragte Caesian an seinen Untergebenen gewandt. „Ja, mein Herr. Wir können beginnen, sobald Ihr möchtet.“ „Gut. Ich will nicht länger warten“, befand der Herrscher, während er auf Eikahn zuschritt. Behutsam löste er die Saat des Chnum von seinem Gürtel und hielt sie dem Magier entgegen. Als dieser danach greifen wollte, zog Caesian seine Hand noch einmal ruckartig zurück. „Wehe, du enttäuscht mich“, zischte er, ehe er das goldene Relikt in die Hand seines Gegenübers fallen ließ. Eikahn wusste, dass er nur diesen einen Versuch hatte. Wenn er scheiterte, würde morgen schon jemand anderes seinen Posten besetzen. Doch das würde nicht geschehen. Es durfte nicht geschehen. Behutsam stieg er über die Schriftzeichen in die Mitte des Kreises zu dem Körper des toten Mädchens. Vorsichtig platzierte er die Saat des Chnum auf der Brust der Leiche, direkt über dem Herzen. Es war soweit. Langsam begann Eikahn, uralte Schriften zu rezitieren. Bald gewannen die Worte einen Rhythmus, der eher an einen Gesang erinnerte. Das erste Mal sprach er all dies alleine. Beim zweiten Mal stimmten seine Helfer mit ein, die an den Wänden des Tempels verstreut standen. Bald erfüllten ihre Stimmen das Gewölbe. Melodisch glitten sie zwischen den Säulen dahin, füllten jede Ritze aus, erschienen regelrecht greifbar. Schließlich löste sich Eikahn aus dem einstimmigen Gemurmel und streckte die Hand über der Leiche und dem Relikt aus. „Sokar, Gottheit der Toten. Ich biete dir diese Seele im Austausch gegen das Mädchen Kisara dar. Nimm meine Gabe an. Ich flehe dich an! Ich bitte dich! Ich befehle es dir!“ Die letzten Worte hatte er beinahe geschrien. Plötzlich durchzuckte ein greller Schein den Tempel. Die Erde vibrierte, doch die niederen Magier an den Wänden des Heiligtums rührten sich keinen Millimeter. Sie wussten, dass sie Schlimmeres als das erwarten würde, wenn sie es täten. Ihr Gesang wurde gar noch intensiver, noch dringlicher. Ein greller Schein erhob sich aus dem Boden, hüllte zunächst Caesian und seine Männer, dann das Gewölbe und schließlich ganz Men-nefer ein. Ein lautes Krachen, dann war es vorüber. Und in den Sphären der Götter erklang ein einziger, Mark erschütternder Schrei, als einer von ihnen seinen letzten Atemzug tat. ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ Und wieder ein Teil geschafft, auch wenn ich mit diesem Kapitel irgendwie nicht wirklich glücklich bin. Kann sein, dass ich es vor dem nächsten Upload nochmal überarbeiten werde, wenn ich endlich den Finger auf das legen kann, was mich stört ... An dieser Stelle möchte ich mich herzlich bei Kianael (wir sollten öfter mal zusammen Kaffee trinken! ), 3sakuraharuno3, Ian und LeaGreywolf bedanken, von denen ich im Lauf der letzten 1 bis 2 Wochen so viel Feedback bekommen habe. Das hat meine Motivation, diese FF irgendwann fertig zu stellen, neu entfacht und erleichtert mir das Schreiben ungemein. Noch ist zwar kein Ende in sicht, aber gut Ding will bekanntlich Weile haben. Mit dem nächsten Upload wird in gut 2 Wochen zu rechnen sein. Dann wird sich zeigen, welche Auswirkungen Caesians Handeln für Ägypten haben wird, ob Tristan und Duke einen Hinweis auf den Verbleib ihrer Freunde finden, und ob sich Ryou, Joey, Bakura und Risha auf ihrer Mission gegenseitig massakrieren. Bis dahin! Sechmet Kapitel 34: Regen ----------------- Ein Krachen, das die Welt erzittern ließ. Augenblicklich schreckte Atemu hoch. Keinen Wimpernschlag später durchzuckte seinen Körper ein Schmerz unbekannten Ursprungs. Instinktiv fasste er sich an die Brust, keuchte auf, als die Pein nicht nachließ. Es fühlte sich an, als würde etwas versuchen, ihm bei lebendigem Leibe das Herz heraus zu reißen – und es dabei in tausend Teile zerfetzen. Seine Umgebung verschwamm, wurde von einem Schleier verhüllt. So nahm er kaum war, wie seine Freunde, die ebenfalls aufgewacht waren, erschrocken und besorgt an seine Seite eilten. Ihre Worten klangen, als kämen sie von weiter entfernt. Er verstand sie nicht. Ein schriller Pfeifton erfüllte seine Ohren. Atemu war kaum fähig, zu atmen. Er war verwirrt – und dennoch in der Lage, einen einzigen Gedanken klar und deutlich zu fixieren: Es war etwas passiert. Etwas Schreckliches. Nur langsam ließ der Schmerz nach. Nach und nach, schleichend verließ er den Körper des Pharao. Das Geräusch, das seine Ohren betäubt hatte, verschwand allmählich – und ließ neue Laute zu. Aufgeregtes Getuschel, immer wieder Schreie von draußen. Kaum, da seine Muskeln nicht mehr vor Pein gelähmt waren, stürzte er hinaus – und was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Auch, wenn er noch nicht wusste, was genau dieses Zeichen zu bedeuten hatte. Denn es konnte nichts Gutes sein. Schwere Tropfen fielen von einem Firmament herab, das mit schwarzen Wolken verhangen war. Klatschend schlugen sie auf die Erde, bildeten bald Pfützen. Es regnete. Es regnete in einem Land, in dem das Wort für 'Regen' eines der am seltensten gebrauchten überhaupt war. Zu einer Jahreszeit, die dieses Phänomen für gewöhnlich nicht kannte. Irgendetwas war falsch. Furchtbar falsch. Er spürte, wie ihm jemand die Hand auf die Schulter legte. Langsam wandte er den Kopf und sah in Riells besorgte Augen. Dieser erkundigte sich nach dem Befinden des Pharao, doch der ignorierte sein Gegenüber. Sein Sehen richtete sich erneut gen Himmel. Wasser rann über sein Gesicht. „Was ist passiert? Was, bei Ra, geht hier vor?“, fragte er schließlich. Die Miene des Schattentänzers war erfüllt von Trauer, als er antwortete. „Er hat es getan“, setze er an und brach wieder ab. „Er hat es wirklich getan. Er hat einen Gott getötet.“ Gelächter hallte von den Wänden des Tempels wider. Es klang triumphierend – und zugleich eiskalt. Es vermischte sich mit dem Wind, der aufgekommen war und nun durch die Hallen des Heiligtums wehte. Immer wieder grollte der Donner. Es war tatsächlich gelungen. Die Beschwörung war erfolgreich gewesen. Sie hatten das Mädchen namens Kisara zurück in die Welt der Lebenden geholt. Bewusstlos, lediglich in ein dünnes, weißes Gewand gehüllt, lag sie auf dem kalten Steinboden. Das lange, helle Haar fiel ihr ins Gesicht. Ihr Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig, als sie die ersten Atemzüge in ihrem neuen Leben tat. Ihre Züge wirkten sanft und entspannt. Noch hatte sie von dem Schicksal, das ihr zu Teil werden sollte, nichts mitbekommen. Als Caesian sie näher betrachtete, musste selbst er zugeben, dass sie schön war. Das war jedoch alles, denn es interessierte ihn nicht wirklich. Sie hätte das hässlichste Stück Dreck sein können, das Ägypten je hervor gebracht hatte – solange sie ihm nur dienlich war. Denn sobald er sie nicht mehr gebrauchen konnte, würde er sich ihrer sowie so entledigen. Er hatte schon früh gelernt, unnötigen Ballast sofort von sich zu stoßen – Menschen mit eingeschlossen. „Es hat also wahrhaftig funktioniert“, schmunzelte er, während er neben dem besinnungslosen Mädchen nieder kniete und sie näher betrachtete. „Sehr gut. Du wirst mir eine nützliche Waffe sein, mein Kleines.“ Das Schmunzeln wandelte sich in ein perfides Grinsen. Hoffentlich behielt diese Made von einem ehemaligen Diener recht! Denn wenn sich herausstellen sollte, dass dieses Weib und der ganze Wirbel, um sie herbei zu rufen, nutzlos waren, so würde der Knilch dafür büßen. Lange und überaus schmerzhaft ... Bis sich die Wahrheit seiner Worte – oder das Gegenteil – herausstellte, musste er diesem Zwerg jedoch wohl oder übel trauen. Die Zeit würde zeigen, ob Kisara ein wertvoller Trumpf oder doch nur ein nutzloses Stück Mensch war. „Schafft das Weib in eine Zelle! Gebt ihr genug Wasser und Brot, damit sie am Leben bleibt. Mehr aber auch nicht“, wies er schließlich zwei seiner Soldaten an. Die beiden halbtoten Geschöpfe gehorchten auf der Stelle und trugen die bewusstlose, junge Frau aus dem Tempel hinaus. „Maj ... Majestät ...“ Die von Furcht erfüllte Stimme seines höchsten Magiers riss Caesian aus den triumphierenden Gedanken. Als er sich nach ihm umwandte, blickte er in das blasse Antlitz seines Untergebenen. „Was ist?“, herrschte er ihn an. „Seht doch nur ... dort draußen!“ Der Herrscher ließ die Augen in Richtung Tempelzugang schweifen. Doch seine Reaktion war wohl nicht die, die Eikahn erwartet hatte. Denn er begann erneut zu grinsen. Schnellen Schrittes verließ er das Heiligtum und fand sich schließlich im strömenden Regen wieder. Sein Blick war hinauf zum Firmament gerichtet. Lachend öffnete er den Mund und fing einige Tropfen auf. „Mit etwas Fantasie schmeckt es wie Blut, Eikahn!“, rief er schließlich. „Wie das Blut eines Gottes!“ Sie traten durch das große Eingangstor des Stadtparks von Domino City. Schnellen Schrittes führte der Braunhaarige seinen Begleiter zu der Stelle, die der Stammplatz der Clique war. Überall tummelten sich Menschen. Kinder, die spielten. Leute, die Sport trieben. Herrchen, die mit ihrem Hund spazieren gingen. Tristan fühlte sich unwohl. Für all diese Frauen und Männer, Mädchen und Jungen ging das Leben weiter, als sei nichts passiert – während seine Welt stehen geblieben war. Es wirkte falsch, dass sie alle so fröhlich waren und ihrem ganz gewöhnlichen Alltag nachgingen, obwohl eine Gruppe Jugendlicher vermisst wurde. Er versuchte, den Gedanken beiseite zu wischen. Es war doch immer so gewesen. Während seine Klassenkameraden sich lediglich fragten, was sie sich zum Mittagessen machen oder morgen in die Disco anziehen sollten, waren er und die Clique oft grübelnd beisammen gesessen und hatten sich den Kopf darüber zerbrochen, welchen Schritt der Gegner wohl als nächstes machen würde. Schließlich erreichten sie den Platz, den er und die Anderen sonst immer aufsuchten. Es war ein schönes Fleckchen Erde. Weiches Gras wuchs unterhalb eines großen, Schatten spendenden Baumes. Man hatte freien Blick auf den See des Parks. „Und du glaubst also, dass sie am Tag ihres Verschwindens hier gewesen sind, ja?“, riss Duke ihn schließlich aus den Gedanken. „Mit absoluter Sicherheit. Wir sitzen immer hier. Sollte jemand schon vor uns da sein, geht Joey ihm für gewöhnlich so lange auf den Geist, bis er das Weite sucht. In dieser Hinsicht zeigt er eindeutig Revierverhalten.“ „Lass das bloß nicht Seto Kaiba hören. Das würde perfekt in sein Bild vom Straßenköter passen“, entgegnete der Schwarzhaarige mit einem Lächeln, ehe er wieder ernst wurde. „Wie dem auch sei. Sehen wir uns mal um.“ Gesagt, getan. Die beiden jungen Männer machten sich auf die Suche nach allen, was eventuell einen Hinweis aus den Verbleib ihrer Freunde geben konnte. Jeder Quadratmeter wurde in weitem Umkreis genaustens unter die Lupe genommen. Selbst die Abfalleimer wurden inspiziert. Immer wieder robbten sie auch über Boden – und ernteten schon nach kurzer Zeit verwunderte Blicke von verdutzten Passanten. Doch ihre Bemühungen schienen erfolglos zu bleiben. Denn außer Kaugummipapieren und anderem, kaum nennenswerten Unrat fanden sie nichts. „Und du bist dir wirklich sicher, dass sie hier gewesen sind? Vielleicht haben sie ihre Pläne ja auch geändert und sind wo anders hin gegangen“, schlug Duke nach einer Weile vor. „Dann hätten sie mir Bescheid gegeben – für den Fall, dass ich noch nachkommen will. Außerdem fällt die einzige andere Möglichkeit flach: Die Polizei hat sich bereits in unserer Stammeisdiele erkundigt, aber dort waren sie an dem Tag nicht“, entgegnete Tristan aus einem Gebüsch heraus. „Vielleicht hat sich das Personal aber auch geirrt. Im Moment haben sie bestimmt viele Kunden, da erinnert man sich nicht an jeden Einzelnen“, erwiderte Duke. „Oh, glaube mir: Wären sie dort gewesen, das Personal wüsste definitiv Bescheid. Die kennen uns. So viel wie Joey verschlingt sonst kein Kunde auf der ganzen Welt“, seufzte der Braunhaarige. Dann stutzte er plötzlich. „Hey, Duke! Komm mal schnell her, ich glaube, ich habe da etwas gefunden!“ Der Angesprochene machte sich sofort daran, ebenfalls in das Gebüsch hinein zu kriechen. Die nun noch argwöhnischeren Blicke einiger Passanten ignorierte er dabei gekonnt. Schließlich erreichte er Tristan und folgte dessen Blick. Er war gen Boden gerichtet. Denn dort, auf der kahlen Erde, lag ein goldener Gegenstand. Beide erkannten das Symbol sofort. Es war ein Ankh. Jenes Zeichen, das das Nildelta, den Fluss selbst, sowie die Wüste Ägyptens repräsentierte – wenn mein manchen Theorien glauben konnte. „Warum habe ich nur das ungute Gefühl, dass das kein Zufall ist?“, äußerte Duke nach einer Weile des Schweigens. „Nein. Das hier ist alles, aber ganz bestimmt kein Zufall“, stimmte Tristan zu und kniete sich vor dem goldenen Gebilde nieder. „Nach all dem, was wir an der Seite des Pharao erlebt haben, sollen wir hier rein zufällig ein Ankh finden? Ein Zeichen Ägyptens? Oh nein. Wenn das Eine nichts mit dem Anderen zu tun hätte, dann müsste das schon ein sehr, sehr, sehr großer Zufall sein.“ „Allerdings ... Und was machen wir jetzt?“ „Hm ... keine Ahnung. Heb' es doch mal auf“, schlug Tristan vor. „Bist du verrückt? Wenn du es unbedingt aufheben willst, dann mach' es selber“, kam prompt die Antwort. „Okay, okay, weißt du was? Wenn wir hier nur herum stehen und das Ding anstarren, finden wir nie heraus, ob es etwas mit dem Verschwinden der Anderen zu tun hat. Wir fassen es einfach gleichzeitig an, in Ordnung?“, lenkte Tristan ein. „Meinetwegen.“ „Gut. Dann auf drei. Eins ... zwei ... drei!“ Ihre Hände schossen nach vorne und umklammerten das schimmernde Gold. Für einen Augenblick schien nichts zu passieren. Doch dann leuchtete das Ankh plötzlich grell auf. Zugleich ging eine unheimliche Wärme davon aus. Es wurde regelrecht heiß, doch keiner von beiden war in der Lage, seine Finger zurück zu ziehen. „Was passiert hier?“, rief Duke erschrocken aus. „Keine Ahnung! Aber jetzt wissen wir, dass das kein normaler Klumpen Gold ist!“, entgegnete Tristan noch, dann wurde ihnen schwarz vor Augen. Es war noch mitten in der Nacht, als sich der Regen wieder legte. Er war ebenso überraschend verschwunden, wie er begonnen hatte. Zurück blieben ein Dunstschleier, der als dichtes Band über der Wüste hing, und dunkle, trist anmutende Wolken. Zugleich legte sich eine kaum gekannte Dunkelheit über das Land, da das Licht von Sternen und Mond fehlte. Derweil herrschte in der Himmelspforte Aufbruchstimmung. Nachdem Risha für einige Zeit fassungslos in den Himmel gestarrt und keinen Ton von sich gegeben hatte, hatte Bakuras Vorschlag, sich umgehend auf den Weg zum aufgegebenen Lager der Schattentänzer zu machen, sie aus ihrer Starre gerissen. Nun sattelten sie eilig die Pferde und packten rasch das Nötigste zusammen. „Und ihr seid sicher, dass ihr nicht den Tagesanbruch abwarten wollt?“, erkundigte sich Riell noch einmal. „Bei allem Respekt, Bakura, aber ohne das Licht der Sterne seid ihr nicht nur orientierungslos, sondern auch blind!“ „Und was soll das Warten deiner Meinung nach bringen? Wer weiß, was sich dieser Kerl ausgedacht hat, bis der Tag herauf zieht. Vielleicht hat er bis dahin schon die nächste Gottheit zum Teufel gejagt! Diabound hat die Gabe, auch in der tiefsten Finsternis sehen zu können – folglich brechen wir jetzt, gleich und auf der Stelle auf“, entgegnete der Grabräuber bestimmt. „Das mag ja sein, aber wie wollt ihr den Weg finden? Durch die Wolken könnt ihr euch nicht an den Sternenkonstellationen orientieren!“, wandte Riell erneut ein. „Das überlassen wir unseren Ka-Bestien. Cheron kennt die grobe Richtung und solange er diese angeben kann, erledigt Diabound den Rest“, erwiderte Bakura. „Wir haben keine andere Wahl, Riell“, mischte sich Risha sogleich ein, als sie hinzu trat. „Wir können nicht mehr länger warten. Wir haben so oder so schon zu viel Zeit verschwendet. Außerdem hat das Wetter auch einen Vorteil: Unsere Pferde werden länger ohne Pause durchhalten können, da sie nicht der üblichen Hitze ausgesetzt sein werden, sobald die Sonne aufsteigt.“ Bei diesen Worten zog sie den Umhang enger um die Schultern. Mit dem Regen und dem starken Wind war eine für Ägypten ungewöhnliche Kälte aufgekommen, die sie frösteln ließ. „Also was ist jetzt? Sind wir bereit oder sind wir bereit?“, ertönte plötzlich Joeys Stimme. Der Blonde saß ebenso wie Ryou bereits auf einem Pferd. Ein lang gezogenes Seufzen entfuhr Bakura. „Ganz ehrlich, Riell? Wenn du dir um irgendjemanden Sorgen machen willst, dann um diese Beiden“, grummelte er vor sich hin, ehe er sich abwandte und ebenfalls zu seinem Reittier hinüber ging. „Er hat Recht. Aber auch mit diesen Zweien an der Backe werden wir zurecht kommen. Du wirst sehen, wir sind bald wieder zurück – mit den Schriftrollen“, fügte Risha hinzu und wollte sich ebenfalls abwenden. Doch Riell hielt sie noch einmal zurück – und zog sie in eine Umarmung. „Pass bitte gut auf dich auf. Das, was da geschehen ist, gefällt mir ganz und gar nicht. Wann immer sich Schwierigkeiten ergeben, kehrt auf der Stelle um.“ Der Ton in seiner Stimme verriet, dass dies nicht einfach irgendwelche daher gesagten Worte waren. Die Angst war ihm deutlich anzuhören. Er hatte in diesem Krieg schon den Vater verloren – wenn ihm die Götter auch noch den Menschen nahmen, der wie eine Schwester für ihn war ... sein Leben wäre vorbei. „Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich kein kleines Kind mehr bin?“, entgegnete Risha, während sie sich von ihm löste. „Ich bin erwachsen, Riell. Und ich kann auf mich aufpassen. Außerdem bin ich nicht alleine. Cheron ist immer an meiner Seite – und du kennst seine Kräfte. Tu' mir also bitte den Gefallen und zerbrich dir nicht immer so sehr den Kopf über Andere.“ Als ihr bewusst wurde, dass diese Worte wieder einmal härter geklungen hatten, als sie beabsichtigt hatte, schob sie rasch ein selbstsicheres Lächeln hinterher. „Wir sind bald wieder zurück“, versicherte sie noch einmal, dann wandte sie sich um und verschwand ebenfalls zu ihrem Pferd. Kurz darauf stürmten vier Reittiere durch einen der Tunnel hinaus und verließen die Himmelspforte. Ihr Weg führte sie hinaus in die schwärzeste Nacht, die Ägypten jemals erlebt hatte ... Atemu hatte sich schließlich wieder hingelegt. Was sonst hätte er auch tun sollen? Es war stockfinster draußen. In die Nähe Men-nefers zu reiten, um heraus zu finden, was genau geschehen war, hatten Riell, Seto und er eindeutig für ein Himmelfahrtskommando befunden. Sie würden den Tag abwarten müssen, um weitere Schritte unternehmen zu können. Er lag dennoch lange wach, gequält von Fragen, auf die es noch keine Antwort gab. Was hatte Caesian nur getan, dass ein Gott gestorben war? Wie hatte es ein Mensch schaffen können, ein mächtiges, göttliches Wesen in den Tod zu schicken? Welche weiteren Konsequenzen würde all das haben? Offenbar war dieser Schlag noch nicht schmerzvoll genug gewesen, um die Welt völlig aus ihren Bahnen zu werfen. Doch ein Gefühl sagte Atemu, dass sie dem Untergang ein gewaltiges Stück näher gekommen waren. Vielleicht würde der Tod eines Gottes Folgen haben, die sich nicht mehr beseitigen ließen – selbst, wenn sie Caesian besiegten. Aber auch, wenn jeglicher Schaden ausblieb oder mit der Zeit verblassen würde: Das, was passiert war, war eine Tragödie. Atemu war der Auserwählte der Götter. Ihr Stellvertreter auf Erden. Alleine deshalb hatte er den Schmerz des sterbenden Gottes gespürt. Er hatte seine Qualen geteilt. Und er schwor sich, Rache zu nehmen. Bittere, blutige Rache. Für gewöhnlich war das nicht die Art des Pharao. Doch Caesian verlangte ihm alles ab – selbst seinen letzten Funken Gnade für den Feind. Langsam glitt er hinüber in die Traumwelt, mit dem Ziel, den quälenden Gedanken zumindest für eine kurze Weile zu entfliehen. Er fand sich in der Wüste wieder. Um ihn herum befand sich nichts als Sand. Kein Dorf, keine Stadt, kein Baum und kein Fels weit und breit. Die Sonne stach vom Himmel, doch er spürte ihre Wärme nicht. Er fühlte gar nichts. Keinen Wind auf der Haut, keine Körner unter seinen Füßen. Es war totenstill, nicht einmal sein eigener Atem verursachte irgendein Geräusch. Umso mehr erschrak er, als plötzlich ein Laut hinter ihm ertönte – und fuhr augenblicklich herum, nur um in zwei große, gelbe Augen zu blicken. Vollkommen verdutzt musterte er das schwebende Wollknäuel, das helle, gurrende Laute von sich gab. „Ku ... Kuriboh?“, brachte Atemu schließlich hervor. Die kleine Kreatur nickte erfreut. „Priii!“ „Was machst du hier? Und wo sind wir?“, fragte der Pharao schließlich weiter und sah sich erneut um. Noch immer konnte er nichts entdecken. Nur Sand weit und breit. Erneut gab das pelzige Wesen seinen eigentümlichen Laut von sich. Dann bedeutete es Atemu, ihm zu folgen. Gemeinsamen liefen – oder schwebte – sie durch die Wüste. Der Pharao war nicht in der Lage, abzuschätzen, wie lange ihr Marsch dauerte. Doch irgendetwas sagte ihm, dass er Kuriboh vertrauen musste. Das Monster schien ihm etwas zeigen zu wollen. Aber was? In seine Gedanken versunken, lief er beinahe in den schwebenden Wattebausch hinein, als dieser plötzlich inne hielt. „Was ist denn?“, erkundigte er sich, bekam jedoch keine Rückmeldung. Kuriboh starrte lediglich angespannt in die Ferne. Atemu folgte seinem Blick – und runzelte die Stirn. In einiger Entfernung bewegte sich etwas über den Wüstensand. Eine pechschwarze Kugel, so groß wie ein ausgewachsener Mann. Sie schien kein bestimmtes Ziel zu haben. Offenbar berührte sie den Boden nicht, sondern bewegte sich mit schwebenden Bewegungen, die aussahen, als würde das runde Objekt in der Luft hüpfen, vorwärts. Kuriboh wandte sich schließlich zu ihm um und bedeutete ihm, weiter zu gehen. Etwas in den Augen des winzigen Monsters sagte ihm, dass sie dieser Kugel nicht zu nahe kommen durften. So folgte er dem Wesen weiter. Nicht nur die Zeit, die vorbei ging, auch die Strecke war nicht abzuschätzen. Alles sah hier eintönig und gleich aus. Selbst die Hügel im Wüstensand waren überall die selben. Nach einer Weile, die ihm sehr kurz und zugleich wie eine Ewigkeit vorkam, stoppte Kuriboh erneut. Es sah Atemu aus seinen runden Kulleraugen an und deutete mit einem seiner zierlichen, grünen Finger nach vorne. Der Pharao folgte der Geste und entdeckte ein Loch im Sand. Er maß das Wesen mit fragendem Blick, ehe er näher an die Öffnung heran trat. Darin sah er nichts als Schwärze, die alles zu verschlucken schien. „Was ist das hier?“, fragte er Kuriboh. Das zottelige Monster schwebte neben ihm und versuchte, sich auf seine übliche Art und Weise zu artikulieren: Mit Gesten. Zuerst huschte es über den Boden, als suche es etwas. Dann wirbelte es plötzlich herum und deutete auf das Loch. Atemu runzelte die Stirn. „Ich soll diese Öffnung suchen? Aber wir haben sie doch schon gefunden.“ Kuriboh schüttelte den Kopf, bettete ihn auf seine gefalteten Händchen und schloss die Augen. „Verstehe ... ich träume das hier nur. Und wenn ich wieder wach bin, soll ich diesen Ort finden, richtig?“ „Priii!“, gab sein Gegenüber erfreut von sich und nickte eifrig. „Aber warum?“, fragte Atemu und betrachtete das Loch erneut. „Was ist darin, dass ich diese Stelle aufsuchen muss? Kannst du mir das sagen?“ Doch das Wesen zuckte nur hin und her. Das sollte wohl 'nein' heißen. „Nun gut ... weißt du, ob dieser Ort irgendetwas mit Caesian und dem Krieg zu tun hat?“ Ein Schulterzucken von Seiten Kuribohs. Der Pharao legte die Stirn in Falten. Das hier war nur ein Traum. Das Wesen, das ihn hier her geleitet hatte, wusste nicht, warum er diesen Ort in der Wirklichkeit suchen sollte. Es vermittelte ihm aber, dass er es dennoch tun sollte, wenn nicht gar musste. War das hier eine Vision? Steckten die Götter dahinter? Lag hier vielleicht sogar ein weiteres Relikt verborgen? Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als sich plötzlich ein Schatten über ihn legte. Er wandte sich um – und sah die große, schwarze Kugel direkt vor sich. Das Objekt hielt auf ihn zu. Um ihr zu entgehen, war es bereits zu spät. Wie versteinert fixierte er das dunkle Gebilde, als ihn plötzlich etwas zur Seite stieß. Er landete im Wüstensand, war für einen Augenblick benommen. Dann fuhr er hoch und sah sie sich um. Kuriboh hatte ihn zur Seite gestoßen und war somit selbst zum Opfer der schwarzen Kugel geworden. Was nun mit dem kleinen, pelzigen Wesen geschah, raubte Atemu den Atem. Es wurde von der scheinbar flüssigen Masse verschluckt. Durch die durchscheinende Substanz hindurch konnte er sehen, wie sich Kuriboh scheinbar unter Schmerzen wandt und allmählich veränderte. Sein Fell wurde dunkler. Die Augen wurden glühend rot. Lange, messerscharfe Reißzähne wuchsen aus einem geifernden Maul. Aus den kleinen, gelben Krallen wurden lange, schwarze Klauen. Plötzlich zerbarst die Kugel und gab das veränderte Kuriboh in all seiner Grässlichkeit frei. Etwas schrie in Atemu. Er sollte rennen, auf der Stelle verschwinden. Doch er war nicht fähig, sich zu bewegen. Plötzlich schoss das dunkle Wesen auf ihn zu, Klauen und Zähne bereit, sich in sein Fleisch zu bohren ... Schreiend schreckte Atemu aus dem Schlaf. ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ Damit wären wir beim nächsten Kapitel angekommen - und da hast du auch dein Kuriboh, meine liebe 3sakuraharuno3. So, nun aber mal kurz zu etwas anderem: Welche/r Verrückte auch immer "Die Seele der Zeit" als YUAL vorgeschlagen hat, er oder sie sei hiermit herzlich gegrüßt! Ich war wirklich baff, als ich die Benachrichtigung gelesen habe und hab' mich riesig gefreut. Alleine schon der Vorschlag zeigt mir immerhin, dass es da draußen Leute gibt, die diese FF wirklich zu mögen scheinen. All das, ebenso die zahlreichen Kommentare usw., spornt mich immer wieder an, dieses Projekt abzuschließen. Und egal, was auch kommen mag, diese FF wird definitiv zu Ende gebracht werden! Jetzt bin ich aber erst mal gespannt, wie sich die FF im YUAL-Rennen schlagen wird. Einen herzlichen Dank auch an Ian für den Kommentar zum letzten Kapitel! Bis zum nächsten Mal! Sechmet Kapitel 35: Hinweise -------------------- Hinweise Die Nacht war vorüber gezogen. Mit ihr war die Kühle, die der Regen gebracht hatte, verschwunden. Das Einzige, was noch an den nächtlichen Guss erinnerte, waren die leichten Dunstschwaden, die über der Wüste hingen. Doch auch sie zogen sich in Anbetracht der aufkommenden Wärme immer weiter zurück. Schon nach kurzer Zeit gab es keinen Hinweis mehr auf das, was geschehen war. Doch vergessen war die grausame Tat Caesians deshalb nicht. Besonders nicht in den Sphären der Götter. Mit Trauer im Blick betrachtete Osiris das Bild Men-nefers. Dort, im Tempel des Sokar, war das schreckliche Verbrechen verübt worden. Ein gewöhnlicher Mensch hatte sich mit den Gottheiten auf eine Stufe gestellt – und die Welt der Lebenden zahlte den Preis dafür. Die Finsternis war noch stärker, das Ungleichgewicht noch größer geworden. Beides hatte seinen Tribut gefordert. Die sensible Balance zwischen Licht und Dunkelheit, die die Menschen ebenso nannten, wie eine ihrer Göttinnen, hatte sich weiter verschoben. Wenn dem nicht bald Einhalt geboten wurde, würde die Maat endgültig aus dem Gleichgewicht geraten – und die Welt mit sich in den Abgrund reißen. Ein Seufzen entstieg Osiris Kehle. Sokar. Er hatte nicht einmal ein Artefakt sein Eigen genannt. Er war keiner der Stärksten gewesen, hatte keine Chance gehabt, als ein Mensch ihn seiner Macht und seines Lebens beraubt hatte. Einer der Totengötter war dahin. Dieser Gedanke versetzte Osiris einen Stich und lieferte ihm einen weiteren Hinweis darüber, wie es um sie stand. Wenn sie Schmerz empfanden, so zeigte dies nur umso deutlicher, wie weit ihre Stärke bereits geschwunden war. Zunächst hatte dies nur jene unter ihnen betroffen, die ihre Macht in eines der Relikte geschlossen hatten. Doch es war schlimmer geworden. Inzwischen zeigten sich die Auswirkungen in der gesamten Sphäre. Sie alle litten Qualen, die ein jeder von ihnen zu verbergen suchte. „Wo soll das enden?“, stieß Osiris niedergeschlagen hervor. „Im Feuer, mein Freund. Es wird im Feuer enden.“ Er wandte sich nach der grollenden Stimme um, nur um Seth vor sich zu sehen. Ihm folgte Sachmet auf den Fuß. „Caesian wird brennen“, fügte die Gottheit in Raubtiergestalt hinzu. „Und mit ihm wird all das sterben, das er errichtet hat und all jenes wiedergeboren werden, das er vernichtete.“ Osiris ließ ein Zischen vernehmen. „Wenigstens Euch beschert dieser Krieg noch Zuversicht. Aber wie sollte es auch anders sein, seid doch ihr beiden die Einzigen, die von Hass, Tyrannei und Tod zu zehren vermögen. Die Götter des Krieges und des Chaos.“ „Du tust uns Unrecht“, stellte Seth fest. „Erscheint es dir wirklich so, als würde auch nur einer von uns seinen Vorteil aus diesem schrecklichen Zeitalter ziehen?“ Es wurde für eine Weile still. Schließlich schüttelte Osiris das Haupt. „Verzeiht.“ „Nun werde bloß nicht bescheiden, mein Guter“, entgegnete Sachmet mit ihrer tiefen, neckenden Stimme. „Auch du bleibst eben nicht verschont. Auch bei dir zeigen sich die ersten, sterblichen Wesenszüge. Aber das wird vorbei gehen“, fügte sie hinzu, während sie ebenfalls einen Blick auf das Bild Men-nefers warf. „Woher nimmst du nur diese unbändige Zuversicht?“, erkundigte sich der Totengott erneut. „Wir alle leiden, Maat gar noch mehr als wir alle gemeinsam. Mit jeder Erschütterung der Sphäre schwindet ihre Kraft. Es steht nicht gut um sie. Wenn auch noch sie fällt, so sind wir verloren.“ „Es wird sich bald alles wenden. Hab' Geduld, mein alter Freund“, erwiderte die Kriegsgöttin. Osiris Blick wurde misstrauisch. „Sachmet? Du hast nicht etwa ...?“ „Vielleicht doch?“ „Bist du des Wahnsinns? Diese Welt ist schon zur Genüge aus ihren Bahnen geraten! Und du entsendest abermals eine Nachricht an die Menschen? Greifst erneut in das festgeschriebene Schicksal ein? Willst du uns alle hinab in die Unterwelt jagen?“ „Nicht mal mehr die wird es geben, wenn Caesian weiterhin wütet“, antwortete Sachmet in deutlich schärferem Ton. „Ich stelle dir eine Frage, Osiris. Nur eine Einzige: Weshalb tue ich das, wenn mir nicht das Schicksal selbst diese Tat vorher bestimmt hat?“ „Das ist doch Unfug! Wir sind Wesen, die völlig unabhängig von dieser Macht agieren. Wir sind keine Puppen in ihren Händen. Wir tun das, was wir tun, alleine durch unsere eigene, selbstständige Entscheidung! Und diese sollte stets so gewählt sein, dass sie die Wege des Schicksals niemals kreuzt!“ „Und was genau macht dich da so sicher?“, schaltete sich Seth ein. „Was, wenn Sachmets Verdacht berechtigt ist?“ „So ist es uns überliefert. Thot kann dir mit Sicherheit die uralten Schriften zeigen, die vor Äonen entstanden. Sie sind unsere Richtlinie. Sie wurden von den ältesten unter uns geschaffen“, widersprach Osiris. „Du erzählst uns nichts Neues, mein Bester“, mischte sich wieder Sachmet ein. „Wir beide waren dabei. Denn bedenke: Krieg und Chaos herrschen schon seit Menschengedenken. Und mir ist dadurch sehr bewusst, was in diesem Schriftstück festgehalten ist, von dem du sprichst. Es mag von den ältesten, den weisesten unter uns verfasst worden sein – doch wer sagt, dass nicht auch Götter irren können?“ Eisiges Schweigen breitete sich aus. „Wenn ihr Recht hättet“, sagte Osiris nach einer Weile zögernd, seine Stimme nur ein Flüstern, „bedeutete das, dass wir uns in diesen Krieg einmischen müssen?“ „Nein“, entgegnete Sachmet. „Diesen Kampf müssen die Menschen alleine schlagen. Und wir können nur zusehen und ihnen lediglich hier und da einen Hinweis geben. Mehr nicht. Wir würden spüren, wenn es anders wäre.“ Sie wandte sich ab und machte Anstalten, im dichten Nebel, der sie alle umgab, zu verschwinden. „Sachmet!“ Sie hielt noch einmal inne. „Ja?“ „Was für einen Hinweis hast du den Menschen gegeben?“ Sie schwieg für einen Moment. „Die Seele der Zeit, Osiris. Ich habe ihnen einen Hinweis auf die Seele der Zeit gegeben.“ Das Antlitz des Totengottes gefror zu einer Maske des Schreckens. Atemu hatte nach dem Traum nicht mehr zur Ruhe finden können. Nachdem er seine Freunde hatte überzeugen könnten, dass es ihm gut ging und er nur schlecht geträumt hatte, war er nach draußen gegangen und hatte die Felswände der Himmelspforte erklommen. Dort oben war er lange Zeit gesessen und hatte über das, was er im Schlaf gesehen hatte, nachgedacht. Schließlich war er zu dem Entschluss gekommen, dass es kein gewöhnlicher Traum gewesen war. Dafür war er zu real gewesen. Er hatte sich nicht machtlos gefühlt, nur fähig, zu zu schauen. Im Gegenteil. Es hatte gewirkt, als wäre er, oder zumindest ein Teil von ihm, tatsächlich mit Kuriboh in der Wüste gewesen und hätte diesen seltsamen Ort inspiziert. Er hatte sogar genau das tun und sagen können, was er sagen und tun wollte – was eigenartig für einen Traum war. Er war gewohnt, einen solchen nicht annähernd beeinflussen zu können. Besonders an einen Ausschnitt erinnerte er sich immer wieder. „Was ist das hier?“, fragte er Kuriboh. Das zottelige Monster schwebte neben ihm und versuchte, sich auf seine übliche Art und Weise zu artikulieren: Mit Gesten. Zuerst huschte es über den Boden, als suche es etwas. Dann wirbelte es plötzlich herum und deutete auf das Loch. Atemu runzelte die Stirn. „Ich soll diese Öffnung suchen? Aber wir haben sie doch schon gefunden.“ Kuriboh schüttelte den Kopf, bettete ihn auf seine gefalteten Händchen und schloss die Augen. „Verstehe ... ich träume das hier nur. Und wenn ich wieder wach bin, soll ich diesen Ort finden, richtig?“ „Priii!“, gab sein Gegenüber erfreut von sich und nickte eifrig. Mit jedem Augenblick, den er länger darüber nachdachte, wuchs die Überzeugung, dass er tatsächlich nach dieser Öffnung im Wüstensand suchen sollte. Was auch immer sie bergen mochte, das, was er im Traum gesehen hatte, war zu eindrücklich gewesen, als dass er es ignorieren konnte. Vielleicht lag dort der Schlüssel zum Sieg gegen Caesian begraben. Ehe er sich jedoch erheben konnte, wanderten seine Gedanken zu etwas anderem: Dem Schluss des Traumes. Kuriboh war von dieser schwarzen Kugel verschluckt worden – und als abscheuliches Monster wieder entstiegen. Irgendetwas sagte ihm, dass das eine Warnung gewesen war. Er würde sehr vorsichtig sein müssen. Etwas war im Begriff, sich zu ereignen. Und gleich, was es war: Es konnte nichts Gutes sein. Schließlich verließ er seinen Platz und stieg wieder von den Klippen hinunter. Die anderen waren in der Zwischenzeit erwacht. Es war seltsam, die Plätze seiner Freunde Joey und Ryou beim Frühstück verlassen vorzufinden. Er hoffte inständig, dass es ihnen gut ging und ihre Mission erfolgreich sein würde. Er begrüßte die Anderen mit einem matten 'Guten Morgen' und setzte sich zu ihnen, um ein karges Mahl einzunehmen. Als schließlich Seto und Riell dazu stießen, sprach er an, was in der Nacht vorgefallen war. Er erzählte von seinem Traum. Nach einer Weile des Schweigens zog Marlic, der ebenfalls anwesend war, eine Augenbraue in die Höhe. „Und du meinst, bloß weil du es warst, der diesen Traum hatte, würde er etwas besonderes bedeuten?“ Atemu gab einen langen Seufzer von sich. „Das Eine hat mit dem Anderen überhaupt nichts zu tun! Ich ziehe lediglich alle Möglichkeiten in Betracht. Inzwischen vermute ich, dass es sich bei diesem 'Traum' eher um eine Art Vision gehandelt hat. Es war einfach zu real. Es war, als wäre ich wirklich dort. Ich konnte die Dinge beeinflussen. Ich konnte Kuriboh Fragen stellen, ich konnte mit ihm umgehen – was für einen Traum seltsam wäre. In der Regel kann man dabei nur zusehen und den Verlauf nicht im Geringsten beeinflussen. Ich weiß, das klingt wirr. Aber es ist nun einmal schwer zu erklären.“ „Euer Bericht klingt für mich vertraut“, meldete sich Riell zu Wort. „Vater hatte ebenfalls ab und an Visionen. Zu erklären, in wie weit sich diese von Träumen unterscheiden, fiel ihm ebenfalls nicht leicht. Er betonte jedoch immer wieder, dass es sich anders anfühlen würde, dass er einfach wüsste, dass es keine gewöhnliche Erscheinung im Schlaf war – so wie Ihr nun.“ „Ach. Und aufgrund eines Gefühls sollen wir den Pharao jetzt dabei unterstützen, ein Loch in mitten der Wüste zu finden?“, höhnte Marlic. „Macht euch doch nicht lächerlich! Selbst, wenn es diese Öffnung gibt, ist Ägypten gefallen, bevor ihr sie gefunden habt! Mal ganz davon abgesehen, dass niemand weiß, was dort verborgen liegt und ob es überhaupt nützlich ist.“ „Vielleicht handelt es sich dabei aber auch um den Schlüssel zu unserem Sieg“, gab Marik möglichst neutral zu bedenken. „Oder um eine Gefahr“, wandte nun Seto ein. „Bedenkt das Ende Eurer Vision, Majestät. Das Wesen, wie auch immer seine Name war, verwandelte sich in eine Kreatur der Dunkelheit. Vielleicht lauert an dem Ort, nachdem Ihr vermeintlich suchen sollt, eine weitere Bedrohung für Euch.“ „Eventuell stand diese Kugel auch symbolisch für irgendetwas. Etwas, das sich an dem Ort verbirgt, an dem ihr in deiner Vision wart“, überlegte Tea. „Wir haben dieses eigenartige Gebilde aber nicht erst dort an der Öffnung gesehen, sondern schon zuvor in der Wüste. Ich habe nicht das Gefühl, als stünde beides in Verbindung miteinander – ich habe viel mehr das Gefühl, dass ich das Eine suchen und das Andere meiden soll – was auch immer die Kugel darstellen sollte“, entgegnete Atemu. „Selbst wenn das alles so ist“, mischte sich Marlic wieder ein und verdrehte die Augen, „wie wollt ihr ein Loch im Boden finden? Ohne jeglichen Anhaltspunkt? Nur zu eurer Erinnerung, die Wüste ist riesig!“ „Ich werde mit Kipino sprechen“, schlug Riell vor. „Sein Ka Firell ist nicht nur auf schnellen Schwingen unterwegs, auch seine Augen sind besser als die eines jeden Falken. Ich werde ihn bitten, die Wüste auf der Suche nach einer Öffnung im Boden zu überfliegen.“ „Das ist wohl die einzige Möglichkeit, die wir haben. Die Wüste zu Fuß nach diesem Ort abzusuchen wäre wahrscheinlich nicht sehr erfolgversprechend“, stimmte Seto zu. „Was ist denn mit dir los, Priesterlein?“, erkundigte sich Marlic plötzlich mit höhnendem Unterton. „Du bist doch sonst nicht so leicht von etwas Übernatürlichem zu überzeugen – und das obwohl du ein Geistlicher bist.“ Für einen Moment herrschte Schweigen. „Hoffnung, Marlic“, entgegnete der Hohepriester. „So etwas nennt man Hoffnung.“ Damit erhob er sich und folgte Riell, der sich auf den Weg zu Kipino gemacht hatte. Er überprüfte lieber selbst, ob der Schattentänzer auch die richtigen Anweisungen weitergab. Marlic wurde in diesem Moment einfach links liegen gelassen. Er gab ein abfälliges Schnauben von sich. „Hoffnung?“, wiederholte er. „Wohl eher Verzweiflung ...“ Die glühende Hitze, die auf seinen Körper hernieder stach, weckte ihn. Langsam öffnete Tristan die Augen. Es fühlte sich anstrengend an, als seien seine Lider unheimlich schwer. Seine Haut und die Kleidung waren von Schweiß durchtränkt, sein Kopf pochte. Nach und nach wurde das Bild vor seinen Augen klarer, doch er brauchte noch einen Moment, ehe er dessen Tragweite begreifen konnte. Dann war er plötzlich hellwach. Ruckartig setzte er sich auf und sah sich um. Palmen und Gras, ansonsten nur Wüste und das Rauschen eines Flusses. Das hier war nicht mehr Domino City. Und dennoch glaubte er zu wissen, wo er war. Ägypten. Er war wieder in Ägypten gelandet. Ein Stöhnen hinter Tristan riss ihn aus den aufgeregten Gedanken. Er wandte sich um, nur um Duke vorzufinden, der ebenfalls mühsam die Augen öffnete und sich hoch stemmte. „Oh man, was ... was ist passiert ...? Und wo ... verflucht, wo sind wir hier?“, entfuhr es dem Schwarzhaarigen, als er sich ihrer Umgebung bewusst wurde. „Im alten Ägypten“, entgegnete Tristan. „Zumindest vermute ich das.“ Er stutzte, als ein goldener Schimmer unweit seiner Position seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Er schleppte sich zu der Stelle, nur um dort das Ankh vorzufinden, das sie im Stadtpark gefunden hatten. „Du willst mir also ernsthaft erzählen, dass dieses Ding da uns durch die Zeit geschickt hat?“, hakte Duke nach und Beunruhigung schwang in seiner Stimme mit. „Eine andere Erklärung, warum wir hier sind, gibt es wohl nicht“, erwiderte der Braunhaarige. Er konnte es noch immer nicht fassen, auch wenn der Schock ihn abgeklärt klingen ließ. Was zum Teufel ging hier vor? Warum wieder Ägypten? Er war sich zwar keineswegs über das genaue Zeitalter im Klaren, aber irgendetwas sagte ihm, dass es dasselbe war wie damals, als sie gegen Bakura gekämpft hatten. „Meinst du, die anderen sind deshalb verschwunden? Weil sie hier gelandet sind?“, fragte Duke weiter. „Es würde mich sehr wundern, wenn es nicht so wäre“, antwortete Tristan und sah sich erneut um. Schließlich entschieden beide, zunächst dem Geräusch von fließendem Wasser zu folgen. Hinter dem breiten Grünstreifen wurden sie fündig. Ausladende Fluten zogen an ihnen vorüber. „Wenn wir in Ägypten sind, dann dürfte das wohl der Nil sein“, schlussfolgerte Duke, während er ein wenig Wasser mit den Händen schöpfte und es sich ins Gesicht spritzte. „Sehr wahrscheinlich. Aber was machen wir jetzt? Dieses Land ist riesig, die Anderen könnten überall sein. Und wir beide kennen uns hier kein bisschen aus“, sprach Tristan schließlich das aus, was ihm auf der Seele brannte. Duke schien einen Moment lang zu überlegen. „Aber du warst doch schon mal hier. Nach dem, was du mir mal über euer Abenteuer hier erzählt hast, wart ihr damals doch in Atemus Stadt oder? Wie hieß sie noch gleich?“ „Men-nefer“, informierte Tristan. „Sie lag wohl so ziemlich in der Nähe von dem, was heute Kairo ist. Zumindest hat Ryou das mal gemeint.“ „Und Kairo liegt am südlichen Ende vom Nildelta. Vielleicht wäre es eine Idee, daher erst einmal flussabwärts zu gehen?“, schlug Duke schließlich vor. „Das ist zumindest der einzige Ansatz, den wir im Augenblick haben. Also lassen wir es drauf ankommen“, stimmte Tristan seufzend zu, warf noch einen letzten Blick auf das Ankh und steckte es dann in seinen Gürtel. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg, von dem sie nicht wussten, wohin er sie führen würde. Für Joey fühlte es sich an, als wären sie seit einer Ewigkeit unterwegs. Sein Hintern schmerzte ob der Tatsache, dass er seit mindestens einem halben Tag auf einem Pferderücken saß. Zudem hatte er Hunger und Durst. Doch gleich, wie oft er um eine Pause bettelte – weder Bakura noch Risha ließen sich erweichen. Aber er hatte auch nichts anderes erwartet. Als die Schattentänzerin ihn später angefahren hatte, er solle seinen verweichlichten Körper zurück zur Himmelspforte schleppen, wenn ihm etwas nicht passte, hatte er es schließlich unterlassen. Niemand nannte Joey Wheeler verweichlicht! Er würde dieser eingebildeten Kuh schon noch zeigen, was in ihm steckte. Geduld und Ausdauer waren eben keine seiner Stärken, dafür hatte er jedoch andere Qualitäten. Er würde dieser Unternehmung schon noch dienlich sein – und dann würde sie ihm auf Knien rutschend danken, dass er mit gekommen war! „Alles in Ordnung, Joey?“, riss ihn Ryous Stimme schließlich aus den Gedanken. „Ja ja, alles bestens“, entgegnete der Blonde schnell. „Ich bin nur etwas müde, das ist alles. Und ich hab' Hunger.“ „Kann ich verstehen. Aber wir dürfen keine Zeit verlieren, da haben die beiden schon Recht“, entgegnete sein Freund. „Jeder Tag könnte der Letzte sein. Wir müssen unbedingt versuchen, an diese Schriften zu kommen.“ Er unterbrach seine Unterhaltung mit Joey, um sich an Bakura und Risha zu wenden, die einige Längen vor ihnen ritten. „Dürfte ich fragen, wie weit es noch ist?“ „Es wird nicht mehr lange dauern“, entgegnete die Schattentänzerin. „Diabound kann die Felsformation schon ausmachen. Fängst du jetzt etwa auch noch an zu jammern?“, fügte sie schließlich säuerlich hinzu. „Keineswegs. Ich habe nur aus Interesse gefragt“, erklärte Ryou sachlich. Risha strich sich die Haare aus dem Gesicht, die unter der Kapuze ihres Mantels auf der Stirn klebten. Die Wärme war heute unerträglich. Anfangs – in der Nacht und am frühen Morgen – hatten sie die Pferde noch im stetem Galopp voran treiben können. Später wurde die Sonne zwar weiterhin von dunklen Wolken verdeckt, der steigenden Temperatur hatte dieser Umstand jedoch keinen Abbruch getan. Schließlich hatte sich in Verbindung mit dem nächtlichen Regenguss und seinen Überbleibseln – in Form einer durchtränkten Wüste – eine Schwüle ausgebreitet, die sie dazu gezwungen hatte, langsamer zu machen. Sowohl sich, als auch den Pferden zuliebe. „Ich habe dir gesagt, dass wir sie nicht mitnehmen sollten“, unterbrach Bakura schließlich murrend ihren Gedankengang. „Die Menschen aus ihrer Zeit kennen Begriffe wie 'Anstrengung' oder 'Strapazen' nicht mehr. Und wenn, so assoziieren sie beides mit einem kurzen Fußmarsch oder einem eingerissenen Fingernagel.“ „Der Kleine schlägt sich wacker“, entgegnete Risha. „Ich fürchte jedoch, dass ich dir bei dem Blonden Recht geben muss ...“, fügte sie deutlich leiser hinzu. Der Kommentar blieb dennoch nicht ungehört. „Das liegt vielleicht einfach daran, dass ich immer Recht habe.“ „Aber mit Sicherheit – darum wolltest du ja auch erst nicht, dass ich mitkomme, obgleich du dich in den Tunneln unseres Verstecks kein bisschen auskennst, richtig?“, erwiderte seine Base säuerlich. „Ich habe mich bis jetzt noch in jedem dunklen Loch dieser Erde zurecht gefunden – wohlgemerkt alleine“, war die Antwort. Risha ließ ein langes Seufzen vernehmen. „Was ist?“, erkundigte sich Bakura prompt und ebenso gereizt, wie sein Gegenüber zuvor. „Kann man sich vielleicht auch ein einziges Mal normal und vernünftig mit dir unterhalten? Falls es dir noch nicht aufgefallen ist: Seit wir uns wiedergesehen haben, vergeht kein Tag, an dem unsere Gespräche nicht aus Sticheleien und Abfälligkeiten bestehen. Ich weiß nicht, wie du dazu stehst, aber mich treibt das allmählich in den Wahnsinn“, erwiderte sie mit einem Anflug von Wut in der Stimme. Im nächsten Moment schalt sie sich auch schon selbst dafür. Obgleich ihre Stimme sauer geklungen hatte, war doch ein Hauch zu viel Bitte mit geschwungen. Natürlich wollte sie eigentlich nichts lieber, als sich nach siebzehn Sommern einmal ganz normal mit ihm zu unterhalten – aber das hätte sie für gewöhnlich so nicht zugegeben. Sie war niemand, der Bitten stellte oder bettelte. Normalerweise nahm sie sich das, was sie wollte, mit Gewalt – nun ging das in diesem Fall jedoch schlecht. Für einen Moment herrschte betretenes Schweigen, ehe der Grabräuber wieder das Wort ergriff. „Und worüber willst du reden?“ Der Ton war dabei äußerst desinteressiert gehalten. Risha stellte daher zwei Vermutungen auf: Entweder, er war nach all den Jahren wirklich so in seiner Rolle als abweisender, motziger und teils aggressiver Kerl festgefahren, dass er einfach nicht anders konnte, oder er hatte wirklich kein Interesse. „Keine Ahnung. Vielleicht darüber, wie es dir in der letzten Zeit so ergangen ist? Wo du gewesen bist? Was du so gemacht hast?“, schlug sie schließlich mit immer säuerlicherem Unterton vor. „Ich war in Ägypten und habe dem Pharao eine ganze Reihe von Schwierigkeiten bereitet. Dabei ging es mir ziemlich gut, bis er leider den Sieg davon getragen hat. Genug der Auskünfte?“ Erneut trat Schweigen ein. Risha starrte ihn einfach nur fassungslos an. Da kam sie ihm einmal zumindest ein Stück weit entgegen und das war seine Reaktion? Das konnte doch wohl nicht sein Ernst sein! Doch noch ehe sie zu einer patzigen Antwort ansetzen konnte, war das Rauschen von Schwingen zu hören. Kurz darauf erklang Diabounds grollende Stimme. „Wir werden das Versteck des Clans bald erreicht haben. Es gibt jedoch ein kleines Problem.“ „Und das wäre?“, erkundigte sich Bakura. „Soldaten Caesians. Sie bewachen alle fünf Eingänge.“ „Großartig“, kommentierte der Grabräuber. „Gibt es eine Erhebung oder etwas in der Art, von wo aus wir uns die Lage ansehen können?“ „Nein. Aber die Dünen, die die Felsformation umgeben, dürften genügend Schutz bieten, um nicht gesehen zu werden, wenn ihr die Pferde zurücklasst“, überlegte das Wesen, das noch immer nicht zu sehen war. „Na super. Und wie kommen wir wieder zurück, wenn uns die Viecher weglaufen?“, warf Joey an. „Werden sie nicht“, versicherte Risha. Sie stieg ab und löste eine der Satteltaschen, ehe sie den Inhalt zu Boden kippte. Heraus fiel Heu. Bald fand sich noch eine einfache Tonschale mit Wasser daneben. „Wir hätten sie so oder so nicht mit in die Tunnel nehmen können“, meinte Ryou, während auch er von seinem Reittier stieg. „So sind sie wenigstens in der Lage, sich etwas auszuruhen.“ „Wenn ihr euch dann genug um die Tierchen gesorgt habt, könnten wir allmählich unserer eigentlichen Aufgabe nachgehen“, meinte Bakura schließlich genervt und setzte sich in Bewegung. Der Rest folgte ihm. Bald fanden sie sich hinter einer Düne wieder. Hinter deren Kamm versteckt, beobachteten sie die feindlichen Soldaten. Es waren gut zwanzig Männer, teils in bemitleidenswertem Zustand. Doch sie alle wussten, dass der Schein trog: Diese Kreaturen waren durchaus wehrhaft. „Und was machen wir jetzt?“, flüsterte Ryou schließlich und sprach damit die Frage aus, die sie alle sich stellten. „Wir müssen irgendwie an ihnen vorbei kommen. Und das möglichst, ohne Aufsehen zu erregen“, sagte Joey. „Blitzmerker“, kommentierte Bakura abfällig. „So weit waren wir auch schon.“ Ehe der Blonde eine patzige Antwort geben konnte, schlug ihm Risha die Hand vor den Mund. „Halt's Maul, sonst hören sie uns noch“, zischte sie dabei. „Und es gibt wirklich keine andere Möglichkeit, in die Tunnel zu kommen?“, erkundigte sich der Grabräuber indes an seine Base gewandt. „Nein. Es gibt fünf Zugänge und diese werden laut Diabound alle bewacht. Wenn es noch mehr gäbe, wüsste ich davon.“ „Und da bist du dir sicher?“ „Ja, das bin ich. Du vergisst, dass ich mein halbes Leben unter der Erde verbracht habe.“ „Merkt man ...“ „Bitte?!“ „Und was, wenn wir sie niederschlagen? Oder zumindest irgendetwas in der Art“, warf Joey ein. „Du vergisst, dass diese Kreaturen gleich wieder aufstehen. Wir hätten nicht genügend Zeit, um uns in den Tunneln umzusehen“, entgegnete Bakura. „Im schlimmsten Fall kümmern nicht sie sich um uns, sondern sie melden den Angriff. Dann steht binnen kürzester Zeit Caesians halbe Armee vor uns.“ „Hey Leute, ich hätte da eine Idee“, mischte sich Ryou ein. „Diabound ist doch nicht zu sehen, solange die Wolken die Sonne verbergen. Vielleicht könnte er mit Hilfe seiner Schwingen den Sand aufwirbeln. Sandstürme gibt es hier doch ständig, da würden die Soldaten mit Sicherheit nicht misstrauisch werden. In der Zeit, in der sie geblendet sind, könnten wir uns dann unauffällig in die Tunnel schleichen.“ „Das könnte tatsächlich funktionieren“, überlegte Risha. „Sehe ich ebenso. Auf einen Versuch können wir es ankommen lassen“, stimmte Joey zu. Bakura schien ebenfalls nicht abgeneigt. „Also gut“, entschied er schließlich. „Du hast es gehört. Mach' dich an die Arbeit, Diabound.“ Es dauerte nicht lange, dann kam ein böiger Wind auf. Caesian ließ seinen Blick über Men-nefer schweifen. Dabei stützte er sich auf der Brüstung der Palastmauer ab. Von überall her erreichten die Geräusche geschäftiger Arbeit seine Ohren. Seine Männer waren dabei, die Stadt wieder aufzubauen. Immer wieder knallte eine Peitsche. Er hatte ihnen Dampf machen müssen. Sie waren nicht schnell genug. Er hatte bereits nach ihm schicken lassen. Er würde bald hier sein, da war er sich sicher. Als habe das Schicksal auf diesen Gedanken gewartet, hörte er Schritte hinter sich. Als er sich umwandte, entdeckte er Gladius. „Ich grüße Euch, Herr“, begann er das Gespräch knapp. Dann reckte er seinem Gebieter eine Papyrusrolle entgegen. „Dies ist vor Kurzem für Euch eingetroffen. Eine Antwort aus der Heimat.“ Caesian ergriff das Schriftstück auf der Stelle. Mit fliegenden Fingern öffnete er das Siegel und rollte den Papyrus auseinander. Seine Augen wanderten die Zeilen entlang. Dann breitete sich ein kleines, kaum zu sehendes Lächeln auf seinem Gesicht aus. „Er kommt, Gladius. Er kommt nach. Tut mir den Gefallen und sorgt dafür, dass die Arbeiter noch zügiger werden – und wenn ihr ihnen drohen müsst. Alles muss perfekt sein, wenn er hier eintrifft.“ „Selbstverständlich, mein Herr“, erwiderte der Untergebene mit einer Verbeugung, dann ließ er seine Majestät alleine. Caesian wandte den Blick wieder hinab auf die Stadt. Er fühlte sich so glücklich, wie schon lange nicht mehr. Diese Nachricht war die schönste, die er seit langem erhalten hatte. Viel zu viel Zeit war vergangen, seitdem sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Es waren mehrere Mondläufe, die er bereits hier in Ägypten verbrachte, fernab des Landes, in dem er geboren worden war. Doch vermisste er tatsächlich nur jenen, der ihm die Nachricht geschickt hatte. Das Land selbst bedeutete ihm nichts mehr. Im Gegenteil. Es war ein Schandmal. Ein Schandmal, das von seinem Versagen kündete. Doch bald würde er diesen Fehler wieder gut gemacht haben. Bald konnte er ihn vergessen und von vorne beginnen. Hier, in Ägypten – und schließlich in der ganzen Welt. Noch immer ruhte ein leichtes Lächeln auf seinen Lippen, als er von der Mauer herunter stieg. Kapitel 36: Erkenntnisse ------------------------ So, nach einer kleinen, etwas längeren Pause geht es weiter. Daher ohne große Umschweife: viel Spaß mit Kapitel 36 - Erkenntnisse! ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ Binnen kürzester Zeit versank die Umgebung in aufgewirbeltem Sand. Ein gezischtes „Auf geht’s!“ von Bakura war alles, was Joey noch mitbekam, dann sprang er einfach auf und hastete den Anderen hinterher, versuchte dabei, sie in dem Treiben nicht zu verlieren. Bald musste er sein Gesicht mit einem Arm schützen, um überhaupt irgendwie sehen zu können, ohne dass die feinen, umher getriebenen Körner einen Weg zwischen seine Lider fanden. Auch das Atmen war nun deutlich schwerer, war es doch beinahe unmöglich, Luft zu holen ohne den ausgewirbelten Sand einzuatmen. Der recht kurze Weg zum Eingang des Stollens, der einst das zu Hause der Schattentänzer gewesen war, gestaltete sich als schwierig zurück zu legen, wie er nun feststellte. Vielleicht war seine hervorragende Idee doch nicht so hervorragend gewesen, wie angenommen. Auch Ryou hatte Probleme. Nachdem er von einer der Böen, die Diabound erzeugte, beinahe von den Füßen gerissen worden war, hatte er schließlich die Orientierung verloren. Ziellos stolperte er voran, versuchte, die Anderen irgendwie ausfindig zu machen. Obgleich das Tosen der ledernen Schwingen sehr laut war, traute er sich nicht, nach seinen Mitstreitern zu rufen. Die Angst, sie könnten entdeckt werden, war zu groß. Er wollte nicht dafür verantwortlich sein, dass ihre Mission scheiterte. Und dennoch hatte er schon jetzt das ungute Gefühl, dass es darauf hinaus laufen würde, wenn er sich nicht beeilte und sich noch im Freien befand, wenn Diabound seine Tätigkeit einstellte. Er gab einen kurzen, erschrockenen Laut von sich, als er plötzlich gegen etwas stieß und beinahe vornüber fiel. Das Gefühl unter seinen Fingern beruhigte ihn jedoch. Stein. Er musste sich also ganz in der Nähe des Zugangs befinden, den sie angesteuert hatten. Blind tastete er sich am Fels voran und hoffte inständig, dass er bald die besagte Öffnung erreichen würde. Doch der Moment kam nicht. Schließlich realisierte er, dass der Wind an Kraft abnahm. Sein ohnehin schon beschleunigter Herzschlag wurde noch schneller. Wenn er nicht sofort von hier verschwand, dann würde ihn der Feind entdecken – und dann war es aus. Dann hatte nicht nur er sein Leben verspielt, er würde auch die anderen Drei in ernsthafte Gefahr bringen. Wenige Augenblicke später standen die Sandkörner kurz davor, sich soweit zu legen, dass die Wachen Ryou ohne Probleme würden ausmachen können. Er schickte ein Stoßgebet zu allen Göttern, die ihm auf Anhieb in den Sinn kamen – als sich plötzlich eine Hand auf seinen Mund legte und ihn mit sich riss. Starr vor Schreck folgte er nicht nur der Richtung, sondern riss auch überrascht die Augen auf. Ein Fehler, wie sich herausstellte, als Sandkörner hinein rieselten und ihm die Sicht nahmen. Er konnte durch seine geschundenen Lider ausmachen, dass sich seine Umgebung verfinsterte. Der Weg schien leicht abwärts zu führen und es war deutlich kühler. Kaum, da dieser Gedanke getan war, löste sich die Hand von seinem Mund, umfasste seine Schulter und stieß ihn nach vorne. Zu überrascht, um irgendwie zu reagieren, landete Ryou auf kalten Steinboden. Der dabei aufgewirbelte Staub brachte ihn zum Husten. „He, sei nicht so grob zu ihm, hast du verstanden?“ Das war eindeutig Joeys Stimme. Es war also einer von ihnen gewesen, der ihn aus seiner misslichen Lage heraus geholt hatte. „Er ist selbst schuld. Wenn er sich nicht so dämlich angestellt hätte, hätte ich nämlich gar keinen Grund dazu“, erklang plötzlich Bakuras Stimme. Er war es also gewesen, der Ryou im letzten Moment in Sicherheit gezerrt hatte. Energisch wischte sich der junge Mann den Sand aus den Augen und sah sich suchend nach dem Grabräuber um. Auch wenn es Ryou alles andere als recht war, um ein leises und verlegenes „Danke“ kam er nicht herum. Einzig der schnellen Reaktion des Diebes war es zu verdanken, dass sie nicht aufgeflogen waren. „Ich habe von Anfang an gesagt, dass ihr beide nur im Weg sein werdet. Aber auf mich hört ja niemand. Sollte es ein nächstes Mal geben, so bleibt ihr beide wo ihr seid und geht mir nicht mit eurer Unfähigkeit auf die Nerven“, fuhr Bakura indes fort. „Jetzt ist's auch mal wieder gut, Alter!“, entgegnete Joey prompt. „Tut mir ja wirklich Leid, dass weder Ryou noch ich eine steile Karriere als Dieb hingelegt haben. Aber unser anständiges, friedliches und vor allem gerechtes Leben gefällt uns nun mal deutlich besser.“ Auf diese Ansage hin wollte der Grabräuber soeben die wenigen Schritte zwischen sich und dem Blonden überwinden, um sich drohend vor ihm auszubauen, als ihn eine Hand an der Schulter packte. „Seid leise, verflucht nochmal! Wir wissen nicht, ob sich nicht auch Soldaten in den Gängen aufhalten. Aber wenn ihr so weiter macht, dann haben wir, sollte dem so sein, bald Besuch“, zischte Risha. „Soldaten? Hier?“, wiederholte Ryou ihre Worte, während er sich aufrappelte. Daran hatte zumindest er tatsächlich nicht gedacht. „Aber die kennen sich hier unten doch gar nicht aus.“ „Man weiß nie“, entgegnete die Schattentänzerin. „Und wir sind besser auf alles vorbereitet, als ein böses Erwachen zu erleben. Sie hatten immerhin genügend Zeit, um sich einen Überblick über die Tunnel zu verschaffen.“ „Und was machen wir, wenn wir tatsächlich auf eine von den Monsterfratzen treffen?“, warf Joey ein. „Ganz einfach, Kleiner“, entgegnete Risha und zückte einen ihrer Dolche. In ihren Augen glänzte eine mörderische Lust. „Wir stechen ihn ab, entfernen den Kopf und zünden ihn an.“ „Wenn das dann geklärt wäre, könnten wir uns vielleicht an die Arbeit machen. Ich habe nicht vor, ewig in diesem Loch herum zu kriechen“, ergriff wieder Bakura das Wort und schob dabei die Hand seiner Base fort, die noch immer auf seiner Schulter ruhte. Ryou hätte schwören können, dass Rishas Blick im gleichen Moment kurz beleidigt wirkte. Ob das nun auf die Geste oder aber auf die Worte des Grabräubers, die ihr ehemaliges Heim als Loch betitelt hatten, zurück zu führen war, wusste er nicht. Trotz der Gefahr, entdeckt zu werden, entschieden sie sich dafür, eine Fackel zu entzünden. Es gab keine andere Möglichkeit, um ungehindert voran zu kommen. Risha mochte die Gänge in- und auswendig kennen, doch sie mussten berücksichtigen, dass es Tunnel geben würde, in denen kein Stein mehr auf dem anderen saß. Dieser Verdacht bestätigte sich bald. Mehr als einmal mussten sie umkehren, da ihnen der Weg versperrt blieb. Nach einer Weile fanden sie jedoch einen Pfad, auf dem sie eine ganze Zeit lang ungehindert vorstoßen konnten. Tiefer im Inneren der Tunnel fielen Ryou die Wände auf: Reliefs waren in sie eingearbeitet worden. Immer wieder waren Götter dargestellt. Der Rest schien Legenden wiederzugeben oder Geschichten zu erzählen. Sie sahen wunderschön aus. Er hätte gerne Zeit gehabt, sie genauer zu betrachten. Ein wie aus dem Nichts erklingendes Lachen ließ ihn aus seinen Gedanken schrecken. Ein Blick zu den Anderen zeigte, dass er es nicht als Einziger vernommen hatte. Sie alle wirkten plötzlich noch angespannter. Augenblicklich löschte Risha die Fackel und wies ihn und Joey an, zurück zu bleiben. Etwas anderes wäre ihnen auch nicht möglich gewesen. Die unerwartete Dunkelheit raubte ihnen die Sicht, ihre Augen gewöhnten sich nur schwer an die Finsternis. Sie alle lauschten, warteten auf das kleinste Zeichen, welches verriet, dass sich ihnen jemand näherte. Tatsächlich machten sie irgendwann entfernte Gesprächsfetzen aus. Kurz darauf war der Lichtschein aus einem der Gänge zu sehen, die nach recht abzweigten. Er traf die gegenüberliegende Felswand und ließ die Reliefs darauf wie Schatten tanzen. „Was jetzt?“, zischte Joey, der sich neben Ryou an eine der Wände gepresst hatte. Wenn die Feinde um die Ecke bogen, wollte er nicht als perfektes Ziel mitten auf dem Gang stehen. „Überlasst das uns“, entschied Bakura prompt und gab Risha ein Zeichen, ihm zu folgen. Die unbekannte Anzahl an Feinden und der Umstand, dass er keine Unterstützung von Diabound in Anspruch nehmen konnte, verleiteten ihn dazu. Ansonsten hätte er niemals auf ihre Hilfe vertraut. Ryou konnte im Widerschein der Fackeln kurz die Schatten von Clanmitglied und Grabräuber ausmachen, dann waren sie ebenso schnell wieder verschwunden. Wo genau sie sich aufhielten und was sie vor hatten, konnte er nur erahnen. Das Gespräch wurde indes immer lauter. Näher und näher kamen sie. Joey konnte die Stimmen von mindestens drei verschiedenen Personen ausmachen. Doch waren es wirklich so viele oder doch mehr? Selbst wenn es nur drei waren, konnte das ein gewaltiges Problem bedeuten. Er und Ryou hatten bislang auf ihre Bestien vertraut. Zwar trugen beide auch je ein Kurzschwert bei sich, doch waren sie im Umgang damit keineswegs geübt. Ganz zu schweigen davon, dass es für jemanden aus ihrem Zeitalter immer noch eine Überwindung bedeutete, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen. Der Lichtschein an der gegenüberliegenden Wand des Tunnels, aus dem die Geräusche kamen, wurde immer stärker. Plötzlich waren die Stimmen ganz nah. Dann ging alles schnell. Bakura schnellte aus dem Schatten neben dem Tunnelzugang hervor und rammte einem der überrumpelten Soldaten seinen Dolch mitten durch den Hals. In einer fließenden Bewegung zuckte die Klinge herum und trennte den Kopf vom Oberkörper. Risha löste sich aus der Dunkelheit auf der anderen Seite. Sie war im Schutz eines Felsbrockens, der sich aus der Decke gelöst hatte, hinüber gelangt, ohne gesehen zu werden. Sie stieß einem der Feinde einen Dolch durch die Schläfe, mit dem anderen löste sie sein Haupt. Dann verschwanden beide aus Ryous und Joeys Blickfeld. Lediglich die Geräusche, die aus dem Tunnel drangen, verrieten ihnen, dass es sich um mehr als drei Gegner handelte. Nach kurzer Zeit war es schlagartig wieder totenstill. Lediglich das Licht der zu Boden gefallenen Fackel des Feindes gab knisternde Laute von sich, während das Holz vom Feuer verschlungen wurde. Der Blonde löste sich als Erster aus seiner Starre. Die Hand an den Griff des Kurzschwertes gelegt, schob er sich langsam vorwärts, die Wand stets im Rücken. „Bakura? Risha?“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Schließlich erreichte er die Ecke, an der der Gang begann, aus dem sich die Soldaten genähert hatten. „He! Ist alles ... ?“ „Was?!“ Das plötzlich auftauchende Gesicht Bakuras und der gereizte Tonfall ließen Joey zusammenfahren. Er stolperte rückwärts und fiel über einen Stein, sodass er sich am Boden wiederfand. „Musst du mich so erschrecken? Ich wollte lediglich wissen, ob bei euch alles in Ordnung ist!“, fuhr er den Grabräuber an, der wenig gerührt zur Fackel griff und die beiden vor ihm liegenden Leichname anzündete, ehe er das lodernde Holz an Risha weiter reichte. „Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich mich von ein paar Angehörigen des daher gelaufenen Fußvolkes aufhalten lasse!“, gab er schließlich zur Antwort. „Steh' auf, wir müssen weiter. Da lang“, fügte er hinzu und verschwand in dem Tunnel, indem er über eine brennende Leiche hinweg stieg. Ryou war inzwischen ebenfalls hinzu gekommen und half dem Blonden auf die Beine. „Eines Tages erwürge ich ihn noch“, gab Joey leise von sich, eher er sich in Bewegung setzte. Sein weißhaariger Freund konnte ihn verstehen – auch wenn er bezweifelte, dass dieser Plan gelingen würde. Atemu saß auf den Klippen, die die Himmelspforte umschlossen. Sein Blick war an den Himmel geheftet. Mana hatte sich inzwischen soweit wieder erholt, dass es ihr möglich gewesen war, einen Zauber zu wirken. Dadurch hatten sie nicht nur Firell aussenden könnten, um nach der Öffnung Ausschau zu halten, die er in seinem Traum – oder eher: seiner Vision – gesehen hatte. Ein paar Falken, die in den hoch aufragenden Felswänden genistet hatten, gehörten nun ebenfalls zu dem Suchtrupp. Die junge Hofmagierin hatte ihren Willen beeinflusst und ihnen diese Aufgabe übertragen. Doch noch war keines der gefiederten Wesen zurück gekehrt. Es kann eine Ewigkeit dauern, bis sie etwas gefunden haben. Wenn sie überhaupt etwas finden ... Er seufzte. Die Wüste war riesig. Zudem veränderte sie sich andauernd. Der feine Flugsand wurde von den leichtesten Winden getragen und formte die Landschaft beinahe täglich neu. Selbst wenn es dieses Loch im Boden, wie Marlic es ausgedrückt hatte, tatsächlich gab, so konnte es morgen schon unter oder zwischen Dünen verborgen liegen. Unauffindbar ... Atemu sah auf, als sich ihm jemand näherte. Es war Tea, die sich nur kurz darauf neben ihm niederließ. Für eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander. „Woran denkst du?“, durchbrach sie die Stille schließlich. Ihr Gegenüber zuckte mit den Schultern. „An vieles. Zu vieles. Ob mein Traum wirklich eine Vision war, ob es den darin gesehenen Ort wirklich gibt. Wie es Joey und Ryou geht und ob sie Erfolg haben werden. Und schließlich frage ich mich, wie es in diesem Krieg weitergehen soll. Auch wenn ich Ägypten niemals kampflos aufgeben werde, kommt es mir immer wieder vor, als stünden wir mit dem Rücken zur Wand, seitdem wir Men-nefer verloren haben. Es gibt zu viele Punkte, die unklar sind. Hingegen gibt es nichts, was sicher ist.“ Tea ließ sich seine Worte durch den Kopf gehen. Er wirkte bedrückt. Dennoch war sie beruhigt, dass trotz allem eine gewisse Überzeugung in seiner Stimme mit schwang. Wie er gesagt hatte: Er würde nicht kampflos aufgeben. Er würde seine Heimat, seine Freunde, sein Volk bis zum letzten Atemzug und mit allen Mitteln verteidigen. Und dennoch wussten sie alle, dass der Ausgang ungewiss war. Sie konnten gewinnen, sie nahmen es sich sogar fest vor. Und dennoch bestand die Möglichkeit, dass sie morgen schon tot im Staub lagen oder von Caesian gefangen genommen wurden. Sie konnten nicht leugnen, dass es so ausgehen konnte – nein, sie durften es nicht leugnen. Denn das würde sie blenden, sie zu selbstsicher machen. „Wir haben schon so viele Kämpfe gemeinsam durchgestanden“, sagte Tea schließlich. „Einer war schlimmer als der Andere. Ich hätte nie geglaubt, dass die Dunkelheit noch größere Ausmaße erreichen könnte. Mit einem Krieg hätte ich niemals gerechnet. Und nun befinden wir uns mitten drin. Ich weiß, dass ich mich wahrscheinlich nicht annähernd so schlecht fühle, wie du. Aber das, was um uns herum passiert, erschüttert mich dennoch. Noch dazu kommen Yugi, ich und die Anderen aus einer Zeit, die keine Kriege mehr kennt – zumindest nicht in unserer Heimat.“ „Dieser Gedanke ist beruhigend“, entgegnete Atemu und fing ihren verdutzten Blick auf. „Die Aussicht, dass es eines Tages anders sein wird. Dass es Frieden geben wird.“ Doch Tea schüttelte den Kopf. „Du irrst dich. Es mag keinen Krieg mehr geben, zumindest nicht in dieser Form. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass Frieden herrscht. Die Menschen finden andere Methoden, andere Wege, um sich gegenseitig zu schaden. Man könnte fast meinen, es sei ein Fluch.“ Wieder herrschte ein Moment des Schweigens. „Aber vielleicht haben all die Schatten, all das Leid, auch etwas Gutes“, überlegte Atemu schließlich. „Inwiefern?“, erkundigte sich die Brünette. „Bist du dir sicher, dass wir ansonsten als das, was wir haben, wirklich so schätzen würden, wie wir es tun? Würde es nicht eher selbstverständlich werden und seinen Wert für uns verlieren, wenn wir nicht darum kämpfen müssten, es zu erhalten oder zu erlangen? Wenn wir der Dunkelheit ins Auge blicken, büßt unser Leben und alles, was damit zu tun hat, seine Selbstverständlichkeit ein. Uns wird wieder bewusst, wofür wir eigentlich leben, wofür wir kämpfen und warum es sich lohnt. Es mag ein schwacher Trost im Angesicht all des Leides sein. Aber gleich, wie ein Kampf ausgeht, ob man gewinnt oder verliert, man weiß hinterher wieder, wofür man sich aufgeopfert hat.“ Wieder ergriff die Stille von ihnen Besitz, bis Tea plötzlich lächelte. „Es ist schön, dass du so denkst. Als Yugi und ich dich in Men-nefers Trümmern fanden, befürchtete ich, das Unmögliche sei eingetreten und der Mut habe dich verlassen. Es schien, als sein dein Wille gebrochen. Doch gerade sehe ich wieder, dass ich mich geirrt habe. Ich wage gar zu behaupten, dass du nie stärker warst, als in diesem Krieg.“ Atemu musste ebenfalls lächeln. „Ich setze lediglich das um, was ich von euch im Lauf all der Jahre gelernt habe – und wofür ich euch noch immer dankbar bin. Ohne euch wäre ich nicht der, der ich heute bin.“ „Und wir wären ohne dich nicht die, die wir sind“, entgegnete Tea. „Yugi wäre vielleicht niemals so stark geworden, wie er es heute ist. Joey und Tristan hätten den rechten Weg vielleicht nie gefunden. Ryou hätte vielleicht nie wieder lächeln können. Ich hätte meinen Traum, Tänzerin zu werden, ob all der Hindernisse, vielleicht längst aufgegeben. Und letztendlich wären wir vielleicht nie die eingeschworene Truppe geworden, die wir heute sind.“ Sie wandte ihren Blick vom Horizont und sah ihn an. „Auch wir haben dir sehr viel zu verdanken.“ Sie sahen einander einen Moment lang einfach nur lächelnd an. Dann richteten sie ihre Augen wieder in die Ferne und verweilten schweigend nebeneinander, während der Nachmittag verstrich. Seit einem halben Tag folgten Tristan und Duke nun den Fluten des Nils. Wie weit sie gekommen waren, vermochten sie nicht abzuschätzen. Die Hitze machte ihnen schwer zu schaffen. Einzig dem Umstand, dass sie Wasser in Reichweite hatten, verdankten sie es, dass sie noch auf den Beinen waren. „Du warst doch schon einmal hier“, sagte Duke nach einer Weile. „Wo sind wir also?“ „Keinen blassen Schimmer, Alter“, entgegnete sein Kumpan. „Für mich sieht hier alles so ziemlich gleich aus. Das Einzige, was sicher ist, ist, dass wir uns in Ägypten befinden.“ „Immerhin ein Anfang, aber weiterhelfen tut uns das auch nicht. Was ist, wenn wir fernab jeglicher Zivilisation gelandet sind?“, gab der Schwarzhaarige zu bedenken. „Wir werden irgendwann auf Menschen stoßen. Wir sind am Nil. Wo sonst sollten wir jemandem begegnen? Abseits des Wassers kann man nur schwer überleben“, erwiderte Tristan. „Aber selbst wenn wir irgendwelchen Leuten über den Weg laufen, ist nicht gesagt, dass uns das etwas bringen wird.“ „Und warum?“ „Wenn es wie beim letzten Mal ist, dann können sie uns nicht sehen. Und wenn sie es doch können, werden sie uns wohl eher argwöhnisch beäugen als uns einfach so weiterzuhelfen. Sieh uns doch mal an! Wir sind Menschen aus dem 21. Jahrhundert. Wir passen kein bisschen in dieses Bild!“, erklärte er und deutete auf die Umgebung um sie herum. Tatsächlich sollten sie kein Glück haben. Zwar kamen sie unterwegs an zwei Höfen vorbei, doch sie trafen niemanden an. Zugleich wirkten die Behausungen aber nicht, als stünden sie schon lange her – es schien eher, als habe man sie fluchtartig verlassen. Tristan behagte dieser Eindruck kein bisschen. Erst nach einer Weile, die ihnen wie eine Ewigkeit vorkam – es war bereits später Nachmittag – zeigte sich ein Licht am Ende des Tunnels: In Form einer Stadt, die sie am Horizont ausmachen konnten. Sie nahmen ihre Kräfte noch einmal zusammen und gingen schneller, in der Hoffnung, endlich Klarheit über ihre Umgebung und alles, was damit zu hatte, zu erlangen. Die drückende Hitze ließ sie schwitzen und durchtränkte ihre Kleider. Lediglich der Wüstenwind spendete Beiden ein wenig Kühle. Schließlich traten sie zwischen zwei Büschen hervor und sahen in einiger Entfernung, die sie auf ein bis zwei Kilometer schätzten, besagte Stadt vor sich aufragen. „Ich weiß, was das ist!“, rief Tristan freudig aus. „Das ist ...“ Seine Freude wurde abrupt gedämpft. „... das ist Men-nefer“, beendete er seinen Satz mit Überraschung in der Stimme. Selbst aus dieser Ferne konnte er die gewaltigen Zerstörungen ausmachen. Arbeiter schwirrten umher und versuchten, die Mauer wieder in Stand zu setzen. Auf dem gewaltigen, von Sand dominierten Areal vor der Stadt lagen zahlreiche, leblose Körper. Bei vielen war die Verwesung ob der Hitze schon weit fortgeschritten. Auch hier waren Menschen mit Aufräumen beschäftigt, indem sie die Toten auf Haufen warfen und verbrannten. Vögel kreisten über dem Feld und setzten dem schrecklichen Anblick die Krone auf, indem sie immer wieder hernieder stachen und auf Leichen landeten, um ihren Hunger zu stillen. Ohne ein Wort zu verlieren, zogen sich Duke und Tristan wieder in den Schutz der Büsche zurück. „Was hat es mit diesem Ort auf sich?“, wollte der Schwarzhaarige wissen. Sein Gegenüber schluckte merklich, ehe er sprach. „Das ist in dieser Zeit die Hauptstadt Ägyptens. Atemu hatte hier seinen Palast.“ Diese Aussage rief bei Duke einen mehr als verdutzten Blick hervor. „Er machte nicht den Eindruck, als schmückten er und seine Nachfahren ihre Heimat gerne mit toten Körpern.“ „Das war mit Sicherheit auch nicht seine Absicht. Was auch immer hier geschehen ist, es hat nichts Gutes zu bedeuten.“ „Allerdings ... Hier muss eine Schlacht oder etwas in der Art stattgefunden haben. Die Frage ist jetzt, welche Partei siegreich daraus hervor gegangen ist.“ Ihre Blicke trafen sich. Tristan hatte das ungute Gefühl, das ihm beim Anblick vor Men-nefers Toren befallen hatte, nicht direkt deuten können. Nun wusste er, was es war: War er davon ausgegangen, hier auf Atemus Vermächtnis – eine friedliche Hauptstadt – zu stoßen, so war eben dies nun mehr als ungewiss. Irgendetwas war hier passiert und sein Begleiter hatte Recht. Sie konnten nicht einfach dort hinübergehen und davon überzeugt sein, sie würden in der Stadt auf Ägypter treffen. Tristan hatte immerhin gut genug in Geschichte aufgepasst und reichlich Anteil an Unterhaltungen seiner Freunde zu dem Thema gehabt, um zu wissen, dass nicht jede Stadt in Ägypten zu jeder Zeit nur von Ägyptern regiert worden war. Auch innerhalb des Landes hatte es Machtkämpfe gegeben. In welchem Jahrhundert sie auch immer gelandet waren, für Men-nefer war es kein gutes, wie es schien. Ein Schrei ließ ihn zusammenfahren. Die Blicke der Freude trafen sich erneut, dann sprangen ließ auf und eilten im Schutz des Nilgrüns in die Richtung, als der der Laut gekommen war. Schließlich fanden sie die Stelle und suchten sofort Deckung in den Büschen am Rand eines Feldes. Auf der gegenüberliegenden Seite war eine Horde von Menschen versammelt. Sie wurden von fünf Soldaten hoch zu Ross bewacht. Eine Frau lag am Boden und hielt sich das rechte Auge – die Stelle, wo sie die Faust eines der Krieger getroffen hatte. „Du sollst gefälligst dein Maul halten, Abschaum!“, donnerte der Mann gerade, holte mit seiner Lanze aus und stieß ihr mit der stumpfen Seite in den Rücken. Zwei der Bewachten sprangen vor und stellten sich schützend vor sie. „Lasst sie in Ruhe! Was immer ihr auch tut, wir werden keine Feldarbeit für euch verrichten!“, sprach der Ältere von beiden in ruhigem, aber bestimmtem Tonfall. „Und ob ihr das werdet!“, entgegnete der Soldat. „Oder ihr werdet bestraft!“ „Das liegt nicht in eurer Hand. Einzig die großen Götter dieses Landes und ihr Statthalter auf Erden, der Pharao selbst, dürfen über das Leben eines Menschen richten“, widersprach der ältere Mann. „Genau!“, sprang ihm der Jüngere bei. „Ihr seid keine Ägypter! Ihr handelt nicht im Namen des Pharao! Ihr habt nichts zu entscheiden!“ „Falls es euch noch nicht aufgefallen ist“, brüllte der Soldat weiter, „euer Pharao hat keinen Einfluss mehr in diesem Land! Nachdem die Stadt gefallen ist, hat er sich verkrochen wie ein räudiger Schakal! Eure erbärmlichen Leben liegen nun in unserer Hand! Und wir sagen: Macht euch an die Arbeit und zwar sofort!“ Die einschüchternden Worte, die den Anwesenden vor Augen führten, wie es um ihre Heimat stand, reichten aus, damit sich einige der Leute in Richtung des Feldes begaben und ihre Arbeit aufnahmen. Der ältere Mann blieb jedoch, wo er war. „Ihr bedenkt eines nicht: Ein Schakal mag erkennen, wann es an der Zeit ist, zu gehen. Doch er ist schlau und vergisst nicht. Er wird abwarten und eine günstige Gelegenheit nutzen, um es noch einmal zu versuchen. Er wird nicht aufgeben und egal, wie lange es dauert – eines Tages wird er die Fänge in das Fleisch seiner Beute treiben. Und dieser Biss wird tödlich sein.“ Der Soldat sah ihn verwundert an. „Das glaubst du also?“ „So ist es. Unser Pharao, das Kind der Götter namens Atemu, der in der schwersten Stunde zu uns zurückkehrte, wird deinen Herren vernichten.“ „Nun. Er hat euch schon einmal alleine gelassen und jetzt hat er es wieder getan. Und selbst wenn dem so sein sollte, und er noch einmal aus seinem Loch hervor kriecht ... du wirst es nicht mehr erleben.“ Blitzschnell rammte der Soldat seine Lanze zwischen die Rippen des Mannes. Kaum entfernte er die Klinge aus dem verwundeten Fleisch, sackte der Alte zusammen. Der Jüngere fiel neben ihm zu Boden. „Vater! Vater! Nein!“ „Los, bringt ihn weg und dann geht endlich an die Arbeit! Oder ich steche euch eben so ab wie diesen Bastard!“, donnerte der feindliche Befehlshaber. Zwei der Ägypter setzten sich zögernd in Bewegung und wollten den Leichnam fortschaffen. Da sprang der Sohn des Toten auf – und starb ebenfalls durch die Waffe des Fremden. „Und nehmt den hier auch gleich mit!“, rief er den beiden Arbeitern hinterher und spuckte auf den toten Körper des jungen Mannes. Tristan und Duke hatten genug gesehen. Sie zogen sich tiefer in das Grün zurück, wussten, dass ihr Eingreifen nichts bezwecken würde. Sie hatten keine Waffen, waren zudem in der Unterzahl. Dafür hatten sie Erkenntnisse gewonnen, auch wenn diese die schrecklichen Bilder, die sich soeben vor ihnen abgespielt hatten, nur schwer aufwiegen konnten. „Wer auch immer sie sind, sie haben die Stadt offenbar erobert“, fasste Duke den ersten Punkt zusammen. „Richtig. Und sie haben nicht gegen irgendeinen Pharao gekämpft, sondern gegen Atemu, der 'wieder aufgetaucht ist'“, sagte Tristan langsam, als könne er es nicht glauben. „Er ist – wieder – am Leben?“ „Offenbar. Aber selbst, wenn es stimmt, was sie gesagt haben: Wie finden wir ihn?“, sprach der Schwarzhaarige die Frage aus, die beiden auf der Seele brannte. „Und wenn wir ihn ausfindig machen können, sind Joey, Yugi und die Anderen dann bei ihm?“ „Ich weiß es nicht, Duke.“ Sein Gegenüber seufzte. „Ich weiß es wirklich nicht.“ Sie hasteten einen Gang nach dem anderen entlang. Nach dem Zusammenprall mit den Soldaten waren sie niemandem mehr begegnet. Dennoch mussten sie davon ausgehen, dass sich noch mehr von ihnen im Untergrund befanden – und ihre toten Kameraden eventuell finden würden. Sollte dies eintreten, so würden sie Alarm schlagen. Die Gruppe musste sich beeilen. Schließlich erreichten sie auf Umwegen, die sie aufgrund eingestürzter Tunnel nehmen mussten, die Kammer, in der sämtliche Schriften der Schattentänzer gelagert werden. Auch hier waren Teile der Decke herunter gekommen. Sie konnten nur beten, dass die betreffenden Texte nicht unter ihnen begraben lagen. Jeder von ihnen nahm einen mitgebrachten Sack zur Hand. Joey bekam das Regal zugewiesen, indem sich Schriftstücke befanden, die allesamt religiösen Inhaltes waren. Der Rest, der etwas mit den Zeichen auf den Papyri anfangen konnte, untersuchte, was immer ihm in die Hände kam und warf es gegebenen Falles in seinen Beutel hinein. Sie alle beeilten sich, doch sie brauchten lange. Immer wieder horchten sie, ob sich ihnen jemand näherte. Ryou ließ, nachdem er mit einem weiteren Regal fertig war, den Blick umher schweifen. „Risha? Wo könnten denn noch weitere sein?“ Er erhielt keine Antwort. Verdutzt drehte er sich um – doch die Schattentänzerin war verschwunden. Auch Bakura registrierte ihre Abwesenheit. „Was zum ...?“ Ihm fiel auf, dass auch vom Gang her Licht herein drang. „Sucht ihr weiter“, wies er die anderen Beiden an. „Ich gehe nachsehen.“ Der Widerschein, den er gesehen hatte, kam aus einem versetzt liegenden Zimmer auf der anderen Seite des Ganges. Als er vorsichtig um die Ecke spähte, erkannte er einen Raum, der mit zahlreichen Regalen bestückt war. Zudem befanden sich ein Bett und ein Tisch darin – vor letzterem stand Risha und begutachtete etwas, das sie in Händen hielt. Er erkannte auch, worum es sich dabei handelte: Eine kleine, aus Holz geschnitzte Hieroglyphe, die 'Vater' bedeutete. Gedankenverloren betrachtete sie diese. Erinnerungen wurden in ihr wach. Sie hatte diesen Gegenstand einst angefertigt. Jeder halbwegs begabte Handwerker hätte darin das erkannt, was es war – das Werk eines Kindes. Doch Resham hatte diese Hieroglyphe viel bedeutet, obgleich sie nicht mehr als ein Stück grob bearbeiteter Baum war. Risha hatte es ihm eines Tages geschenkt, um ihm zu zeigen, was sie ihn ihm sah: Einen wahren Vater. Sie schloss die Finger darum und presste die Lider zusammen. Wieder saß ein Kloß in ihrem Hals, den sie jedoch zurückdrängte. Den Hass konnte und wollte sie jedoch nicht im Zaum halten. Caesian würde für all das sterben, was er ihr und den Schattentänzern angetan, was er ihnen genommen hatte. Und der Pharao ebenfalls. Für ihre Unterdrückung, für seine Unfähigkeit. Er war das Kind der Götter und hatte es dennoch nicht geschafft, den Fall Men-nefers und somit den Tod Reshams abzuwenden. Er hatte bewiesen, was er war: Ein Heuchler in einem Amt, das ihm nicht zustand. Er war ein Nichts. Und Risha würde ihn eben dies lehren. „Auch wenn es nicht in deinem Sinn war“, flüsterte sie schließlich, „ich weiß, was ich tue. Du warst weise, Vater. Aber du warst nicht allwissend. Der Pharao muss sterben. Vorher wird es für uns, für mich keinen Frieden geben.“ Sie öffnete die Augen und starrte wieder auf die Hieroglyphe. „Ich werde ihn bluten lassen. Sein Tod wird kein leichter sein. Nicht allein für den Clan, sondern vor allem für Kul Elna. Ich weiß, was du jetzt sagen würdest. Du würdest sagen, dass es nichts ändert. Damit hättest du recht. Was geschehen ist, lässt sich nicht rückgängig machen. Aber der Schmerz, der durch die Zeit nicht zu heilen ist, kann anders gemildert werden. Das, was bis heute nicht vergangen ist, wird zur Vergangenheit werden. Ich weiß nicht, ob du mir diese Tat eines Tages vergeben wirst, Vater. Ich hoffe es, doch ich verlange es nicht. Auch wenn du immer davon gesprochen hast, das wir die Herren über unser Schicksal wären – mein Weg ist besiegelt. Und auf diesem Pfad liegt der Tod Atemus. Er wird sterben, durch meine Hand. Ich werde endlich abschließen könnten – sobald ich ihn töte.“ Als sie das hölzerne Symbol unter ihrem Umhang verschwinden ließ, wartete Bakura noch einen Augenblick im Verborgenen, ehe er in den Raum trat. „Was machst du hier?“, verlangte er daraufhin zu wissen, als habe er ihre Worte gar nicht vernommen. Augenblicklich fuhr sie herum und musterte ihn. Doch es machte offenbar nicht den Eindruck, als habe er gelauscht. „Das ist Reshams Zimmer. Ich wollte lediglich nachsehen, ob hier noch Schriften aufbewahrt werden. Aber ich habe nichts gefunden.“ Sie schritt an ihm vorbei aus dem Raum und kehrte in die Schriftkammer zurück. Sie ließ den Blick kurz umher schweifen und betrachtete die Säcke. „Mehr gibt es nicht“, erklärte Ryou. „Außer vielleicht dort hinten, wo die Decke herunter gekommen ist.“ „Das wird uns nicht viel nützen“, entschied Bakura. „Von den Papyri wird nicht mehr übrig sein als Staub. Wir sollten gehen, ehe uns noch jemand bemerkt.“ Sie sammelten die Beutel ein und machten sich auf den Rückweg. Die Schattentänzerin ging vorne weg, während der Grabräuber als letztes folgte – den Blick auf den Rücken seiner Base gerichtet. Resham hatte auf sie anscheinend tatsächlich einen großen Einfluss ausgeübt. Es war jedoch lange nicht so viel, wie sein Bruder scheinbar annahm. Sonst würde sie sich wohl kaum seinem letzten Wunsch widersetzen. Offenbar geschah vieles von dem, was Risha tat, sehr wohl durch ihre eigenen Entscheidungen, nicht durch das Zuwirken des alten Mannes. Allerdings beantwortete ihm diese Erkenntnis seine Fragen nicht. Er hatte geglaubt, der Zwist zwischen Keiro und seiner Base gründe sich darauf, dass er eines Tages mit dem Relikt der Bastet verschwunden war – und das, obgleich der Clan für ihn gesorgt hatte. Bisher hatte es gewirkt, als sei Risha wegen seiner Undankbarkeit sauer. Doch aus irgendeinem Grund zweifelte Bakura nun daran, dass dies das Einzige war. Natürlich hatte er mitbekommen, dass sich beide auch aufgrund ihrer verschiedenen Ansichten nicht grün waren. Aber da war noch etwas. Und neugierig wie er war, gedacht er, dies schnell in Erfahrung zu bringen. Eine leise Stimme in seinen Gedanken sagte ihm, dass es etwas mit Kul Elnas Untergang zu tun haben musste ... Er wurde jäh aus seinen Überlegungen gerissen, als der Ruf eines Horns durch die Gänge hallte. Kapitel 37: Risiko ------------------ Duke entfuhr ein spitzer Schrei. Soeben hatten sich er und Tristan von der Stelle entfernen wollen, von der aus sie den Mord an einem Ägypter beobachtet hatten, als hinter ihnen plötzlich drei Soldaten mit gezückten Lanzen aufgetaucht waren. Sie glänzenden, Tod bringenden Spitzen schwebten direkt vor ihnen und unterdrückten jeden Gedanken an Widerstand oder Flucht. Was die beiden jungen Männer jedoch endgültig erbleichen ließ, waren die verunstalteten Körper der Waffenträger. Fleisch fehlte an einigen Stellen vollständig, überall waren Brandverletzungen. Sie sollten nicht mehr am Leben sein und dennoch standen sie quicklebendig vor Duke und Tristan. Zunächst dachten sie an eine Sinnestäuschung ob der Hitze, doch als sie von den verstümmelten Wesen an den Armen gepackt und zu Boden gedrückt wurden, erkannten sie, dass diese Gestalten reinste Realität waren. „Sieh einer an, was haben wir denn hier?“, säuselte einer von ihnen. „Sahid, schau mal was wir gefunden haben!“, rief er schließlich nach jenem Soldaten, der soeben die beiden Bauern umgebracht hatte. Der kam auf der Stelle herbei geritten. „Ah, noch mehr Arbeitskräfte für unseren Herren“, befand der Besagte, als er sie erreicht hatte – bis er sie genauer musterte und ihm die außergewöhnliche Kleidung der beiden Männer auffiel. „Wer seid ihr und woher kommt ihr?“, verlangte er daher kurz darauf zu wissen. Duke warf Tristan einen beunruhigten Blick zu. Was war wohl die bessere Variante? Sich dumm stellen und so tun, als verstünde man nicht, was einem gesagt wurde? Oder besser kooperieren? Die Antwort auf diese Frage brauchten sie nicht selbst zu suchen. Als dem Soldaten die Wartezeit zu lang wurde, rammte er kommentarlos einen Speer direkt vor ihren Gesichtern in den Boden. Der reflexartige Ausweichversuch wurde durch die anderen Krieger verhindert, die die beiden jungen Männer aus dem 21. Jahrhundert weiterhin erbarmungslos gepackt hielten. „Ist ja schon gut, schon gut!“, entfuhr es Tristan vor Schreck. „Ich bin Tristan und das ist mein Freund Duke! Wir sind nur zu Besuch hier, eigentlich kommen wir aus Domino City! Und unsere Regierung wird bestimmt sehr, sehr verärgert sein, wenn ihr uns nicht sofort frei lasst!“ „Was zum Geier redest du da für einen Schwachsinn?“, zischte ihm Duke von der Seite zu. Als ob irgendjemand hier Domino City kennen würde. Sie befanden sich in einer Zeit, zu der noch nicht mal an besagte Stadt zu denken gewesen war! Tristan jedoch hoffte, dass seine Aussage Eindruck hinterlassen würde. Gerade weil hier niemand Domino City kennen konnte, hoffte er, dass es für sie zu riskant sein könnte, sie gefangen zu halten. „Woher wollt ihr kommen?“, erkundigte sich der Soldat abermals und riss den Braunhaarigen damit wieder aus den rasenden Gedanken. „Domino City!“ „Domminositie? Nie gehört. Wo soll das liegen?“ „Weit östlich.“ „Im Osten? So so. Nun, dann wird sich unser Herr mit Sicherheit freuen, darüber in Kenntnis gesetzt zu werden, dass es auch in dieser Himmelsrichtung noch Ländereien zu erobern gibt!“ Während Duke und Tristan jegliche Farbe verloren, brachen die umstehenden Krieger in Gelächter aus. „Davon würde ich abraten! Wir verfügen über Waffen, von denen ihr nur träumen könnt!“, versuchte Duke die Situation noch zu retten, doch er blieb erfolglos. „Welche Waffen sollen wir schon fürchten, Junge? Wir haben die Relikte der Götter auf unserer Seite! Nichts und niemand kann uns noch aufhalten!“ Er wandte den Blick ab und sah in den Himmel. Kurz darauf verzog er das Gesicht. „Wirklich schade. Ich hätte euch liebend gern selbst bei Caesian abgeliefert, aber daraus wird wohl nichts. Los Männer, wir rücken ab! Wir müssen die Wachposten am Versteck der Schattentänzer ablösen. Die beiden hier nehmen wir mit und übergeben sie den Soldaten, die nach Men-nefer zurückkehren.“ Kaum waren die Worte über seine Lippen gekommen, wurden Tristan und Duke auf die Beine gehievt. Stramme Knoten wurden um ihre Handgelenke gebunden, während die anderen Enden der Seile an einem Sattel befestigt wurden. Der Soldat, der die kleine Gruppe anzuführen schien, warf ihnen ein letztes, böses Grinsen zu. „Dann wollen wir sehen, ob ihr mit unseren Pferden Schritt halten könnt!“ Keiro hatte die Himmelspforte schon bald verlassen, nachdem sich sein Bruder auf den Weg zum Versteck der Schattentänzer gemacht hatte. Lange Zeit hatte er sich ziellos von seiner Ka-Bestie umher tragen lassen. Dass ein solches Handeln seine Risiken barg, war ihm durchaus bewusst. Er musste überaus vorsichtig sein, um keine Spuren zu hinterlassen, die ihren derzeitigen Unterschlupf verraten konnten. So hatte er Shadara schließlich in einen Teil der Wüste hinaus gelenkt, der sich weit ab vom Nil befand. Die Wahrscheinlichkeit, hier auf Menschen zu stoßen, war verschwindend gering. Letzten Endes hatten sie im Schatten eines Felsens angehalten. Seitdem sie dieses Fleckchen Erde erreicht hatten, saß er nun dort und hing seinen Gedanken nach. In der Nacht hatte ihn abermals dieser Traum befallen. Dieser Traum, an dem einst alles zerbrochen war. Keiro war gläubig. Er glaubte an die Götter und daran, dass sie die Geschicke der Menschen lenkten – auch wenn er ihnen, nach allem was geschehen war, schon lange nicht mehr huldigte. Für das Schicksal, das ihn und seine Familie einst ereilt hatte, gab es keine Entschuldigung. Selbst wenn er vielleicht hätte dankbar sein sollen, dass er überlebt hatte, er war es nicht. Denn genau genommen wäre ihm vieles erspart geblieben, wenn er einfach gestorben wäre. Diese Geschichte lag weit in der Vergangenheit und verfolgte ihn dennoch bis heute – in seinen Träumen. Auch wenn er dabei eher von Warnungen, sogar von Visionen sprach. Sie wiederholten sich ständig, hatten den selben Inhalt, wenn auch hier und da in anderer Gestalt. Und er war sich sicher, dass sie ein verzweifelter Versuch der Götter waren, das Geschehene wieder gut zu machen. Er legte den Kopf auf die angewinkelten Knie, als sich die Bilder wieder vor seinen Augen abspielten. Es war ihre Schuld gewesen. Wäre sie niemals nach Kul Elna gekommen, alles wäre anders verlaufen. Das Dorf wäre nie überfallen worden, es hätten nicht so viele Menschen ihr Leben lassen müssen ... Er sah sich selbst, als kleinen Jungen, wie er in der Nacht auf seiner Schlafstätte lag. Doch irgendetwas ließ ihn wach werden. Einem unbestimmten Gefühl folgend, ging er auf die Wege hinaus, die zwischen den mickrigen Lehmhütten entlang führten. Überall waberte Nebel. Nach einer Suche, die sich anfühlte, wie die Ewigkeit selbst, entdeckte er eine Gestalt zwischen den Schwaden. Langsam näherte sich Keiro ihr, bis er sie endlich erkennen konnte. „Risha ...?“ Dort stand sie, in ein weißes Kleidchen gehüllt. Ihr Blick war auf den Pfad gerichtet, der von den Klippen, die Kul Elna umgaben, hinab in das Dorf führte. Sie warf einen Blick über die Schulter, als sie ihn gewahrte. Sie wandte sich nur halb zu ihm um, sah ihm in die Augen – und Keiro stockte der Atem. Überall klebte Blut auf dem weißen Stoff, der ihren kindlichen Körper umgab. Eine Pfütze des roten Lebenssaftes umspielte ihre Füße, tränkte die Haut. Glühend rote Augen sahen ihn an. Ein abartiges Grinsen zog sich über ihre Züge. Er wollte sie fragen, was passiert sei, was hier geschah, doch dazu kam es nicht mehr. Ein einziges Wort kam über ihre Lippen, wie ein Flüstern und kalt wie Eis. „Sterbt ...“ Im selben Moment bebte der Boden. Es dauerte nicht lange, dann preschten die ersten Reiter in das Dorf hinein, hielten an und zerrten Menschen aus ihren Häusern. Um die beiden Kinder herum brach das Chaos aus, doch niemand schien Notiz von ihnen zu nehmen. „Was hast du getan?“, schrie Keiro seine Base an. Doch deren Grinsen wurde nur noch breiter, ehe sie in ein Lachen ausbrach, das nicht von dieser Welt war ... Jede Nacht sah er diese Bilder. Und er konnte nicht leugnen, dass er das Gefühl hatte, sie würden ihn allmählich in den Wahnsinn treiben. Er war sich bewusst, dass Risha die Soldaten nicht nach Kul Elna geführt hatte. Und dennoch war er sich sicher, dass diese Tragödie nie stattgefunden hätte, wäre sie nicht gewesen. Ihre eigenen Eltern hatten sie einst als verflucht bezeichnet – und er glaubte, Wahrheit in diesen Worten zu erkennen. Sie war ein verfluchtes Kind, ein Mensch, der nur Unheil hinterließ, gleich auf welchem Pfad er auch wandelte. Sie hatte ihm ihr wahres Gesicht schon oft genug gezeigt. Er konnte nicht falsch liegen. Es war einige Mondläufe her, dass Risha und Keiro von Resham aufgegriffen worden waren. Keiro hatte bald nachdem die erste Trauer vorüber gegangen war, begriffen, dass er nicht in der Vergangenheit leben durfte. Er musste weiter machen, einen anderen Weg gab es nicht. Risha hingegen war noch immer zurück gezogen, sprach mit kaum jemandem. Schon mehr als einmal hatten sich Vetter und Base deshalb gestritten. Sobald er versuchte, sie aus dem Loch zu holen, in das sie durch das Erlebte gefallen war, schlug sie praktisch um sich. Und trotzdem versuchte er es immer wieder – so auch eines Nachts, als er zu später Stunde an ihrer Kammer vorüber ging, in der noch immer Licht brannte. Obgleich sie nicht antwortete, als er klopfte, öffnete er schließlich die Tür, nur um sie auf ihrer Schlafstätte sitzend vorzufinden. Ihr Blick war stur gerade aus gerichtet, flog nur einen kurzen Moment in seine Richtung, um sich zu vergewissern, wer herein gekommen war. Angespannte Stille folgte, bis sich Keiro von der Tür löste und neben ihr Platz nahm. „Risha ... du musst endlich wieder richtig schlafen“, sprach er schließlich, während er eine Hand auf ihre Schulter legte. „Es tut dir nicht gut, wenn du andauernd unausgeruht bist.“ Ihr Blick war eiskalt, als er seinen traf. „Wenn du mir sagst, wie ich das machen soll? Bei all den Träumen?“ „Du musst dagegen ankämpfen, dich all dem stellen. Indem du davor wegläufst, machst du es nicht besser.“ Die folgende Reaktion sah er nicht kommen. Wie von der Tarantel gestochen, sprang Risha auf, schlug seine Hand von ihrer Schulter und funkelte ihn Wut entbrannt an. „Ich laufe weg? Ich? Ich tue nichts dergleichen, der Einzige, der das macht, bist du!“ „Risha, was ...?“ „Du machst weiter, als sei nichts geschehen! Du tust so, als habe es Kul Elna niemals gegeben, als hätten Bakura und die anderen niemals existiert!“ „Das ist völliger Unfug, und das weißt du“, entgegnete Keiro betont ruhig. „Wie könnte ich meinen eigenen Bruder, meine Familie jemals vergessen? Es ist wahr, es ist schlimm, dass sie tot sind. Schlimmer als alles, was uns wahrscheinlich jemals passieren wird. Aber hier zu sitzen und sich in Selbstmitleid zu wälzen, macht sie nicht mehr lebendig, Risha! Denkst du nicht, sie hätten gewollt, dass wir unser Leben fortsetzen und aus der Chance, die uns gegeben wurde, etwas Großartiges machen?“ Für einen Moment herrschte Stille. Dann rannen die ersten Tränen Rishas Wangen hinab. „Du verstehst ... gar nichts“, brachte sie mit erstickter Stimme hervor. „Das tue ich sehr wohl, Risha. In deinem Herzen befinden sich großer Schmerz und gewaltige Wut. Aber ehe ich nun weiterhin spreche, sag' du mir doch, was du von jetzt an tun willst. Nur hier sitzen? Weinen? Schreien? Ich verstehe ja, dass du Zeit brauchst, aber irgendwann musst du dich wieder aufraffen!“ Es folgte erneut drückendes Schweigen, bis das Mädchen ein einziges Wort hervor presste. „Rache.“ „Bitte?“ „Ich will Rache. Für das, was passiert ist.“ „Und wohin bringt dich das? Es verursacht nur noch mehr Leid – und es ändert rein gar nichts.“ „Es gibt mir Genugtuung.“ „Vielleicht im ersten Augenblick, aber dieses Gefühl kann und wird nicht von Dauer sein ...“ „Verdammt, halt dein Maul!“ Keiro verstummte augenblicklich, als ein Becher direkt neben seinem Kopf an der Wand zerschellte. Entgeistert starrte er Risha an, die wie ein Raubtier, das Mühe hatte, sich zu beherrschten, auf der gegenüber liegenden Seite des Raumes stand. „Halt den Mund“, wiederholte sie noch einmal. „Du verstehst mich kein bisschen. Das alles mögen deine Ansichten sein, die du mir aufzwingen willst – aber ich lasse sie mir nicht aufzwingen. Weder werde ich vergessen, was passiert ist, noch werde ich zulassen, dass es ungesühnt bleibt. Ich werde lernen, Keiro, und dann bringe ich sie alle, einen nach dem anderen, zur Strecke! Und du wirst mir dabei helfen, denn wir schulden es denen, die im Feuer Kul Elnas umgekommen sind!“ „Das werde ich nicht. Niemals. Denn wie ich schon sagte, es verändert rein gar nichts. Du bist völlig verblendet, Risha. Ich denke, wir sollten gleich bei Sonnenaufgang einen Heiler aufsuchen. Das, was geschehen ist, hat deine Sinne vernebelt. Du musst dich endlich wieder beruhigen, du selbst werden ...“ „Raus!“ „Ich werde jetzt nicht ...“ „Ich sagte 'Raus', verdammte Scheiße!“ Mit diesen Worten wurde Keiro bei den Schultern gepackt und zur Tür gezerrt. Erst, als sie dort angekommen waren, sah ihm Risha noch ein letztes Mal fest in die Augen. „Und jetzt verschwinde und komm' erst wieder zurück, wenn du eingesehen hast, dass du falsch liegst.“ Keiro wusste damals genau, welches Spiel sie spielte. Sie würde solange nicht mit ihm reden, bis er um des lieben Friedens Willen nachgab. Doch diesmal nicht. Nicht in einer so ernsten Angelegenheit. Es wurde Zeit, ihr ihre Grenzen zu zeigen – ihr zu beweisen, dass nicht immer alles nach Plan verlaufen konnte. „Ich werde meine Ansichten nicht ändern, Risha. Nicht in diesem Leben und auch nicht im nächsten.“ „Dann verrätst du mich.“ „Nein, ich lasse nur nicht zu, dass du deine Wut an mir auslässt! Oder an Anderen! Reiß dich endlich zusammen, verflucht nochmal!“ Erst, als er das schockierte Gesicht seiner Base sah, wurde ihm bewusst, dass er sie soeben angebrüllt hatte. Etwas, das nicht beabsichtigt gewesen war. Normalerweise schrie er nie. Doch die selbe Diskussion über Mondläufe hinweg immer wieder führen zu müssen, brachte auch seinen Geduldsfaden dazu, irgendwann zu reißen. Und trotzdem tat es ihm augenblicklich Leid. „Risha, das war nicht meine ...“ „Hau ab. Hau ab und komm mir nicht mehr unter die Augen. Du verstehst mich sowie so nicht, ich brauche dich nicht ...“ „Ich will dich ja verstehen, aber ich weiß doch selbst nicht, was ich tun soll!“ Als er erneut nach ihren Schultern greifen wollte, stieß sie ihn mit solcher Wucht von sich, dass er gegen die Wand auf der anderen Seite des schmalen Ganges prallte. Die Worte, die dann folgten, rissen eine Wunde in Keiros Herz, die sich bis heute nicht geschlossen hatte. „Wenn nur Bakura hier wäre! Er würde denken wie ich! Er würde es verstehen! Verdammt, warum bist du nicht an seiner Stelle gestorben?“ Noch immer tat es Keiro weh, wenn er an diesen Augenblick zurück dachte. In diesem Moment hatte er erkannt, dass das liebe, kleine Mädchen, das seine Base gewesen war, niemals existiert hatte. Seit dieser Nacht suchten ihn die Träume heim. Und er wusste genau, das sie ihm nur bestätigten, was er schon die ganze Zeit, seit Resham sie gefunden hatte, befürchtet hatte: Sie war verflucht. Sie war besessen von Rache. Und er hatte sie verloren. Von völliger Finsternis umgeben, schlichen sie durch die Gänge. Jede Fackel wäre ein zu großes Risiko gewesen. Man hatte gemerkt, dass sie hier waren, hatte vermutlich die Leichen der Soldaten gefunden. Eventuell waren diese auch selbst wieder aufgestanden und hatten Hilfe geholt. Nun mussten sie verhindern, dass man sie fand. Sie mussten so schnell wie nur möglich weg von hier. Doch die zwangsläufige Dunkelheit erleichterte es ihnen kein bisschen. Selbst Risha und Bakura, die schon des Öfteren in den finstersten Gemäuern herum gekrochen waren, stolperten immer wieder oder mussten inne halten, um sich irgendwie zu orientieren. Dabei achteten sie auf jedes noch so leise Geräusch. Doch es begegnete ihnen niemand. Nirgendwo waren Stimmen in den Gängen zu hören. So gelangten sie tatsächlich unbehelligt bis zu dem Tunnel, durch den sie herein gekommen waren. Auf leisen Sohlen schlichen sie so nah wie möglich an den Ausgang heran, um einen Blick nach draußen zu erhaschen. Ihre Befürchtung bestätigte sich: Die Soldaten, die Bakura und Risha zuvor in einem der Tunnel überwältigt hatten, waren entdeckt worden. Die Krieger unterhielten sich aufgebracht. „Ich weiß nicht, wer das war! Scheint, als wären sie überrascht worden!“ „Genau! Das müssen irgendwelche Schattentänzer gewesen sein, die sich versteckt haben!“ „ ... oder vielleicht Geister?“ „Ich wäre dafür, dass wir reingehen und die Bande raustreiben!“ „Wir werden nichts dergleichen tun!“, donnerte einer von ihnen dazwischen. Offenbar war er der Befehlshaber über den Haufen von Untoten und Soldaten. „Wir warten, bis die Anderen kommen, um uns abzulösen. Unsere Schicht ist gleich beendet, glaubt ihr, ich verzichte auf ein ordentliches Bier, um mich mit irgendwelchen hochmütigen Ägyptern zu schlagen? Soll sich Sahid, der elendige Hund, darum kümmern! Sorgt lediglich dafür, dass du Eingänge bewacht sind, damit niemand entkommt. Den Rest überlassen wir ihm.“ Zustimmendes Gelächter wurde laut. „Das bedeutet, wir haben für den Augenblick nichts zu befürchten ...“, murmelte Joey. „Gut erkannt, Blondie. Das bringt uns nur leider kein Stückchen weiter. Wir sitzen wie die Ratten in der Falle“, entgegnete Bakura Zähne knirschend. „Ich befürchte fast, uns bleibt nur eine Möglichkeit.“ „Das sehe ich ebenso. Wir müssen sie rasch beseitigen und dann zusehen, dass wir verschwinden“, stimmte Risha zu. „Richtig. Aber wir werden noch warten“, stimmte der Grabräuber zu. „Und weshalb? Ich meine, wenn die uns entdecken, dann haben wir erst recht ein Problem“, erkundigte sich Ryou und seine Stimme verriet, dass ihm gerade alles andere als wohl zumute war. „Ist doch logisch“, zischte Bakura. „Wenn wir die Kerle jetzt abmurksen und die Ablösung sieht das Gemetzel, werden sie sich sofort an unsere Fersen heften oder nach Men-nefer zurück reiten und Alarm schlagen. Deshalb warten wir, bis auch die Ablösung da ist, ehe wir den Tanz beginnen – und legen gleich alle um. Damit gewinnen wir mehr Zeit. Niemand wird Verdacht schöpfen, wenn eine Truppe, die für den restlichen Tag vom Dienst befreit ist, eine Zeit lang nicht auftaucht. Man wird denken, sie vergnüge sich, während die nächste Schicht anständig Wache hält.“ „Wenn man dir so zuhört, kann man echt froh sein, wenn man nicht so weit denken kann, wie du. Was auch immer an logischen Ansätzen aus deinem Mund kommt, es ist grundsätzlich menschenverachtend und krank“, kommentierte Joey diese Erklärung. „Ich fasse das mal als Kompliment auf ...“, entgegnete Bakura mit einem leichten Grinsen, während er die Soldaten nicht aus den Augen ließ. Eine ganze Weile tat sich nichts, dann waren Silhouetten am Horizont zu erkennen. „In Ordnung, sieht so aus, als bekämen wir Besuch. Ich wäre dafür, dass wir das Ganze schnell und sauber über die Bühne bringen – mit Ka-Bestien.“ „Solange es blutig genug wird, bin ich dabei“, stimmte Risha zu. „Sagt mal, was ist bei euch eigentlich falsch gelaufen? Die Eine dürstet regelrecht nach Blut, der Andere redet vom Töten, als wäre es ein Handwerk oder so!“, meinte Joey, während er sich die Haare raufte. „Ich meine, hallo? Hier geht es um Menschenleben!“ „Die nicht verschont bleiben können, wenn wir erfolgreich sein wollen. Oder willst du etwa verantwortlich dafür sein, wenn wir mit einer Meute Soldaten im Schlepptau zur Himmelspforte zurückkehren?“, fuhr Risha ihn an. „Hey Leute, seht mal da!“ Die Augen der drei Angesprochenen richteten sich augenblicklich wieder auf die Schar von Soldaten. Diese war den Neuankömmlingen entgegen gelaufen. Offenbar hatte irgendetwas ihre Aufmerksamkeit erregt. „Sieht aus, als habe Sachmet deine Gebete erhört, Blondschopf. Das ist unsere Chance! Zu den Pferden und dann nichts wie weg hier!“, zischte Risha noch über die Schulter, dann wollte sie auch schon los stürmen. „Halt!“ Wie erstarrt, hielt Risha inne. Augenblicklich fuhr sie herum und funkelte Ryou wütend an, von dem der Ruf gekommen war. „Was, bei Seth, ist nun schon wieder?“ „Wir können nicht einfach gehen! Joey, sieh nochmal genau hin! Da, bei den Soldaten!“, entgegnete der Weißhaarige, ehe er wie wild in Richtung der Feinde gestikulierte. Joey folgte seinen Gebärden schließlich – und erschrak. Das konnte nicht sein. Die Hitze und die Anstrengung mussten ihm einen bösen Streich spielen. Denn die beiden Personen, die er dort zu erkennen glaubte, konnten nicht hier sein. Aber es bestand kein Zweifel. Auch nachdem er sich mehrmals die Augen gerieben hatte, das Bild war nach wie vor das Gleiche. Dort drüben standen Duke und Tristan. Ein Blick zu Bakura versicherte dem Blonden, dass selbst er die beiden erkannt haben musste. „Was tun diese beiden Idioten hier?“, erkundigte er sich an Ryou gewandt. „Ich weiß es nicht! Wir dachten, sie wären nicht hier her gekommen!“, entgegnete der Besagte sofort. „Aber wie dem auch sei, wir müssen ihnen helfen!“ „Und wieso sollten wir das tun?“, erkundigte sich Risha mit verdrehten Augen. „Weil sie Freunde von uns sind!“, antwortete Ryou aufgebracht. „Ich sehe das Verhältnis zwischen Aufwand und Nutzen nicht – vom dem Risiko, das wir eingehend müssten, ganz zu schweigen! Jetzt haben wir die Chance, ungesehen davon zu kommen! Wenn wir noch länger warten oder versuchen, sie zu befreien, setzen wir unser Leben auf's Spiel!“, antwortete die Schattentänzerin aufgebracht. „Ja, aber ...“, wollte Ryou ansetzen, doch er wurde jäh unterbrochen. „Nichts 'aber'! Sie hat recht, wir werden wegen diesen beiden Hohlbirnen ganz bestimmt keine Rettungsmission starten, die unseren Auftrag und unser eigenes Dasein in Gefahr bringen könnte“, fuhr ihn der Grabräuber an. „Es gibt aber ein 'aber'!“, mischte sich plötzlich Joey ein. „Denkt doch mal nach: Wenn Caesian mitkriegt, dass Duke und Tristan Freunde von Atemu sind, dann wird er sie ganz sicher benutzen, um uns zu erpressen.“ „Nur weil man erpresst wird, Kleiner, heißt das noch lange nicht, dass man darauf auch eingehen muss“, erwiderte Risha. „Ach, und du würdest für Samira nicht alles tun, was in deiner Macht steht?“, konterte der Blonde sofort. „Zur Erinnerung: Ich spreche von dem kleinen, rothaarigen Energiebündel, das deinen Vater befreit hat, ohne dabei an das Risiko für ihr eigenes Leben zu denken!“ Betretenes Schweigen folgte, bis die Schattentänzerin endlich zu antworten vermochte. „Sam wüsste genau, dass ich sie nur zum Wohle des Clans aufgeben würde. Sie würde es nachvollziehen können. Sie würde nicht wollen, dass man wegen ihr all die Anderen in Gefahr bringt.“ „Mach' dich nicht lächerlich!“, schoss Joey nach. „Selbst du würdest alles daran setzen, sie zurück zu bekommen! Schieb' nicht immer deinen verdammten Clan vor, du bist nämlich ein frei denkender Mensch, der tun und lassen kann was er will. Und würde Samira entführt werden, du würdest sie retten wollen! Denn auch, wenn du dir alle Mühe gibst, einem den Gedanken auszutreiben, selbst du hast irgendwo tief in dir drin ein Herz, das sich zumindest um ein paar Menschen sorgt!“ „Schluss jetzt!“, ging Bakura schließlich dazwischen, stets darauf bedacht, nicht die Aufmerksamkeit der Soldaten auf die Gruppe zu lenken. „Diese sinnlose Diskussion bringt uns nicht weiter. Ich gebe es ungern zu, aber Blondie hat nicht unrecht. Ich sehe den Pharao bereits nach Men-nefer rennen, sobald er erfährt, dass seine Freunde dort gefangen sind – und dann war alles, was wir bisher unternommen haben, für die Katz'. Das heißt, wir werden wohl eingreifen müssen. Aber ...“, er machte eine bedeutungsvolle Pause und wandte sich zu Ryou und Joey um, „wenn wir sie nicht befreien können, aus welchen Gründen auch immer, müssen wir anderweitig dafür sorgen, dass sie für Caesian nicht mehr von Nutzen sein werden.“ Ryous Augen weiteten sich. „Was willst du damit sagen?“ „Dass ich sie töten werde, wenn eine Befreiung nicht möglich ist.“ „Wenn du es wagst, auch nur noch einmal daran zu denken, drehe ich dir persönlich den Hals um, hast du das kapiert?“ Joey waren die Worte kaum über die Lippen gekommen, da fand er sich plötzlich an der Wand wieder, während Bakuras Dolch an seiner Kehle saß. „Wann begreifst du es endlich? Das hier ist nicht die schöne heile Welt, die ihr aus eurem Zeitalter kennt! Dieses Land befindet sich im Krieg! Und im Krieg sterben nun einmal Menschen! Gesetze, Moral, Anstand, Tugend, all das wird hinfällig, sobald der erste Mann seinen Lebensatem aushaucht. Es geht hier nur ums nackte Überleben und die richtige Taktik. Und wenn die richtige Taktik nun einmal die ist, sich von Leuten aus den eigenen Reihen zu trennen, dann ist das eben so! Meinst du, der Feind denkt anders? Meinst du, Caesian hätte Skrupel, seine Männer zu opfern, um daraus einen Vorteil zu erlangen? Nein, den hätte er nicht! Und genau deshalb müssen wir ebenso denken. Denn wenn wir schonend und nachsichtig vorgehen, richten wir nichts, absolut gar nichts gegen ihn aus!“ „Selbst Caesian hat Menschen, an denen ihm etwas liegt! Diese Menschen hat jeder! Oder würdest du Keiro bereitwillig aufgeben, nur um ein Ziel zu erreichen? Oder Risha?“ Obgleich die Worte nur gepresst zwischen Joeys Lippen hervor gekommen waren, verfehlten sie ihre Wirkung nicht – zumindest glaubte Ryou, in den Augen des Grabräubers für einen kurzen Moment etwas aufblitzen zu sehen. Der fand seine Beherrschung jedoch so schnell wieder, dass der weißhaarige Junge gleich glaubte, sich geirrt zu haben. „Familie und Freunde, Blondie, sind zwei verschiedene Dinge. Ich könnte nun noch eine moralische Grundsatzdiskussion mit dir darüber führen, für wen du dich entscheiden würdest, wenn man dich fragen würde, ob dein bester Freund oder deine Schwester am Leben bleiben soll. Aber ich werde es nicht tun, denn für so einen Unfug haben wir keine Zeit!“ Mit diesen Worten zog er den Dolch zurück und stieß Joey zu Boden. Der Blonde war kaum hoch gekommen, als ihn Bakura noch einmal am Arm packte. „Aber eines schwöre ich dir: Sobald Ägypten außer Gefahr und der vorläufige Frieden zwischen allen Parteien beendet ist, bist du einer der Ersten, den ich abstechen werde, Köter!“ Mit diesen Worten wandte er sich um und huschte zum Ausgang. Dabei bedeutete er Risha, dass sie folgen sollte. Besagte Schattentänzerin warf noch einen mahnenden Blick zurück, dann ging auch sie. „Lass dich von ihm nicht beeindrucken. Was meinst du, wie oft er mir schon mit dem Tod gedroht hat?“, versuchte Ryou rasch, die angespannte Stille, die zurück geblieben war, zu entschärfen. Zu seinem Glück schien Joey den Augenblick auch nicht für geeignet zu erachten, um eine noch längere Diskussion zu führen, weswegen er seinem Klassenkameraden schließlich zum Ausgang folgte. Dort waren Risha und Bakura bereits dabei, die Lage zu besprechen. „Dreiundzwanzig Soldaten, zwei Gefangene. Könnte lustig werden“, befand Risha gerade. „Ich würde vorschlagen, unsere Ka-Bestien kümmern sich um die Soldaten. Der Kleine“, meinte sie mit Nicken in Richtung Ryou, „läuft derweil los und holt die Pferde. Der Andere kümmert sich um seine teuren Freunde – und sieht zu, dass er sie da raus holt, ehe unsere Zwillingsseelen die Umgebung dem Erdboden gleich gemacht haben. Sobald ihr eure Aufgaben erledigt habt, sucht ihr das Weite. Wir selbst könnten uns derweil darum kümmern, dass Caesians Männer auch schön brav ihre Köpfe verlieren, sobald sie unschädlich gemacht worden sind. Anschließend kommen wir nach.“ „Geht in Ordnung. Auf drei ...“, entgegnete Bakura. „Hey, Augenblick mal!“, ging plötzlich Joey dazwischen. „Ich brauche ein Messer oder so, sonst kann ich sie nicht los machen!“ Doch diese Aussage brachte ihm nichts weiter ein, als ein gehässiges Grinsen von Seiten Rishas. Nur einen Lidschlag später war die letzte Zahl gefallen und Cheron löste sich in einem lodernden Feuerball aus dem Körper der Schattentänzerin. Diabound folgte auf den Fuß. Sogleich wurden die Schreie der Soldaten laut, als sie sich mit den mächtigen Bestien konfrontiert sahen. Ryou brauchte kein weiteres Indiz, um zu wissen, dass seine Zeit gekommen war. So schnell er konnte, rannte er aus dem Tunnel heraus, vorbei an dem Massaker, das sich ihm bot, und weiter der Stelle entgegen, an der sie die Pferde zurück gelassen hatten. Auch Risha und Bakura verließen ihr Versteck und stürzten sich in die Masse aus Feinden, die so leicht nicht am Boden bleiben wollte. Joey indes sah sich eilig nach irgendetwas um, womit er die Fesseln seiner Freunde durchtrennen konnte. Schließlich fand er einen scharfkantigen Stein und entschied, dass er sich damit begnügen musste. Auch er stürzte aus der Deckung hervor und bahnte sich eilig einen Weg zwischen den kämpfenden Leibern hindurch. Einmal hielt er inne, als die Klinge von Rishas Dolch knapp an seinem Gesicht vorüber surrte, kurz darauf musste er sich zu Boden werfen, um nicht von Diabounds umher peitschenden Schweif von den Füßen gerissen zu werden. Trotz des Sandes, der in seinen Augen brannte, stemmte er sich eilig hoch und hetzte weiter. Endlich konnte er die Gesuchten in dem Tumult ausfindig machen. Da ihre Hände gefesselt waren, versuchten sie nur mit den Beinen, sich möglichst weit vom Kampfgeschehen zu entfernen, um nicht versehentlich erstochen oder nieder getrampelt zu werden. Sie hatten das große Glück gehabt, bereits vom Pferdesattel los gebunden worden zu sein, um an den Trupp übergeben zu werden, der nach Men-nefer hatte zurückkehren sollen – ansonsten wäre das Pferd vor Panik mit ihnen durchgegangen und hätte sie bereits weit hinter sich hergeschleift. Joey mobilisierte noch einmal alle Reserven und legte das letzte Stück Weg zurück, das ihn noch von seinen Freunden trennte. Die Hitze und die unter seinen Füßen weg rutschenden Sandkörner trieben ihm den Schweiß auf die Stirn. Erschöpft rang er nach Atem, als er sie endlich erreichte. Als er vor ihnen in die Knie sank und ein „Hey, Leute!“ hervor brachte, begegnete er nur ungläubigen Blicken. Es dauerte einige Lidschläge, bis Tristan und sein Begleiter realisierten, wer da gerade vor ihnen hockte und ihre Fesseln mit einem Stein bearbeitete. „Joey? Du? Was ... Wie kommst du hier her? Dann seid ihr also doch nicht verschwunden, sondern ...“ „Später, Tris'“, wies ihn der Blonde zurecht. „Gerade haben wir keine Zeit für Erklärungen.“ Er warf einen eiligen Blick über die Schulter. Zu seiner Erleichterung sah er bereits Ryou mit den Pferden im Schlepptau näher kommen. „Hört mir jetzt genau zu: Sobald die Seile durchtrennt sind, laufen wir zu den Pferden. Tristan reitet mit mir, Duke setzt sich hinter Ryou. Danach geht’s ab durch die Mitte.“ „Was? Ryou ist auch ...“, wollte sich der Schwarzhaarige gerade erkundigen, als der Besagte bereits in seinem Blickfeld erschien. „Ja, ich bin hier“, entgegnete er. „Mit mehr Informationen müsste ihr bis später warten, wir haben gerade keine ...“ „Zeit, ja, wir haben's verstanden!“, erwiderte Tristan. „Jetzt sieh schon zu, dass du diese verdammten Schnüre durch bekommst!“ „Was machst du da eigentlich?“, warf Ryou ein. „Wo ist dein Kurzschwert?“, hakte er weiter nach, während er sein eigenes aus der Halterung am Gürtel zog und den Blonden eilig beiseite schob, um sein Werk fortzusetzen. „Muss es irgendwo in den Gängen verloren haben ...“ „Sowas passiert auch nur dir, oder?“, kommentierte Duke, während Ryou auch seine Fesseln löste. „Können wir vielleicht später darüber diskutieren? Hieß es nicht 'ab durch die Mitte'?“, rief Tristan noch, als ihn Joey im nächsten Moment von den Füßen riss, gerade rechtzeitig, um einem Feuerball Cherons zu entgehen, der daneben gegangen war – wobei sich der Blonde alles andere als sicher war, dass es sich dabei nur um ein Versehen handelte. Gerade wollte er dem Ka irgendetwas Patziges zurufen, als ihm die Worte im Hals stecken blieben. Der Pegasus war einige Meter entfernt von ihm gelandet und riss gerade einem Soldaten den Kopf von den Schultern – mit Hilfe messerscharfer Zähne, die er zuvor definitiv nicht besessen hatte. Die unterarmlangen Eckzähne stellten dabei besonders furchteinflößende Exemplare dar. Doch noch mehr hatte sich an dem Biest verändert. Auf der Stirn prangte ein goldenes Horn. Der Körper wirkte raubtierhafter als zuvor, die Schwingen muteten an den Enden an, als seien sie verschlissen. Insgesamt schien das Wesen seine Aura gewandelt zu haben – als strahle Cheron plötzlich eine Dunkelheit aus, die vorher nicht da gewesen war. „Was zum Teufel ist das?“, fragte er mehr sich selbst, als die Anderen. Doch Ryou ließ ihm keine Zeit zum Überlegen, zerrte ihn auf die Beine und brachte ihn damit in das Hier und Jetzt zurück. Gemeinsam eilten sie zu den Pferden, saßen auf und ließen den Schauplatz, der inzwischen in Blut getränkt war, hinter sich zurück. ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ So, endlich melde ich mich wieder zurück! Ich hoffe, das Kapitel hat euch gefallen. Ab jetzt gehen die Updates wieder schneller voran, der vielen Freizeit sei dank! Danke an Baka-Akab für den Kommentar zum letzten Kapitel. :) Kapitel 38: Zurück ------------------ Zurück Eigenartig. Das war der erste Gedanken, der der jungen Frau durch den Kopf schoss, als sich die Dunkelheit allmählich zurückzog. Es war, als höre sie das Rauschen des Windes. Als rieche sie heißen Wüstensand. Als … fühle sie. Aber das war unmöglich. In der Welt, in der sie sich befand, gab es keine Empfindungen. Alles war rein, klar – frei von Schmerz. Doch irgendetwas verriet ihr, dass sie sich all das nicht nur einbildete. Etwas stimmte nicht. Als sie Lider aufschob, sah sie die Decke eines Gemäuers über sich. Sie konnte ihren eigenen Atem hören, spürte weichen Stoff unter sich. Ruckartig schnellte sie hoch. Das konnte nicht sein! Hektisch sah sie sich um. Nein, das war falsch! Sie konnte, sie durfte nicht hier sein! Sie hatte diese Welt doch längst hinter sich gelassen! Warum war sie nun zurückgekehrt? Was war bloß geschehen? „Wie ich sehe, seid Ihr endlich erwacht.“ Die unerwartete Stimme ließ sie herumfahren. Sie blickte in das Gesicht eines ihr unbekannten Mannes. Ein Lächeln, dem jegliche Wärme fehlte, umspielte seine Lippen. „Hast du gut geschlafen, Kisara?“ Sie ritten, als wäre Seth persönlich hinter ihnen her. Erst, als sie sicher waren, das ehemalige Versteck der Schattentänzer weit genug hinter sich gelassen zu haben, zügelten sie ihre Pferde und trieben sie langsamer voran. In Anbetracht der noch immer vorherrschenden schwülen Hitze, wäre alles andere unklug gewesen. „Ein Glück, wir haben es geschafft“, befand Joey schließlich und schloss für einen Moment die Augen, während er nach Atem rang. „Das war echt knapp.“ „Allerdings“, stimmte ihm Ryou zu. „Seid ihr alle in Ordnung? Ist irgendjemand verletzt?“, erkundigte er sich anschließend an die gesamte Truppe gewandt. Als niemand bejahte, atmete auch er erleichtert auf. „Dann klären wir doch gleich mal die erste Frage“, ergriff wieder Joey das Wort und wandte sich zu Tristan um, der hinter ihm saß: „Was macht ihr hier?“ „Das Gleiche könnten wir euch fragen“, kam die wenig aussagekräftige Gegenfrage von Duke, dem noch immer sichtlich der Schreck in den Gliedern saß. „Und was ist hier eigentlich los? Wir waren in der Nähe von Men-nefer, bevor wir diesen Zombiefratzen ins Netz gegangen sind. Die Stadt besteht ja nur noch aus Trümmern! Und wer zum Geier ist dieser Caesian?“, fügte Tristan sogleich hinzu. „Das ist eine lange Geschichte“, begann Joey. „Die Kurzfassung, um euch erst einmal auf den neusten Stand zu bringen: Wir waren im Stadtpark. Wir, damit meine ich Ryou, Marik, Tea, Yugi und mich. Im nächsten Moment haben wir uns in Ägypten wiedergefunden, mitten in einem Sandsturm – und ohne jeglichen Plan, wie wir hier her gekommen sind. Wir wurden von Mana gefunden, an die du dich bestimmt noch erinnerst, Tristan. Sie hat uns nach Men-nefer gebracht, wo wir festgestellt haben, dass Atemu wieder da ist und die Stadt belagert wird – von Caesian, der mit Hilfe von den Relikten der ägyptischen Götter versucht, das Land an sich zu reißen. Kurz darauf haben sich die Ereignisse überschlagen und wir haben die Stadt verloren. Im Moment haben wir uns in ein Versteck zurückgezogen und überlegen, wie wir Caesian wieder vom Thron des Pharaos treten können.“ „Das hört sich ja alles andere als rosig an“, kommentierte Duke, als der Blonde geendet hatte. „Das ist es auch nicht, ganz im Gegenteil“, pflichtete Ryou bei. „Momentan sieht es gar nicht gut für uns aus, und das obwohl sich selbst die verfeindetsten Parteien Ägyptens zusammen getan haben, um gegen Caesian in die Schlacht zu ziehen.“ „Apropos ...“, überlegte Joey. „Wo bleiben die anderen Beiden so lange?“ „Welche anderen Beiden?“ „Nun, zum einen wäre da Risha. Sie ist mittlerweile Führerin eines Clans der sich die Schattentänzer nennt. Eigentlich will sie nichts lieber, als Atemus Untergang, aber sie hat zumindest vorübergehend eingesehen, dass eine Zusammenarbeit notwendig ist, um Caesian zu schlagen. Außerdem ist sie Bakuras Cousine.“ „Bitte? Ich dachte, seine Familie wäre in diesem Räuberdorf ums Leben gekommen?“, äußerte Tristan. „Nicht ganz. Sie und Keiro, sein Bruder, haben überlebt. Um Joeys Erklärung fortzuführen: Der Andere, auf den wir warten, ist Bakura selbst“, erklärte Ryou. „Was? Aber ich dachte, er sei tot. Zumindest hat es sich so angehört, als ihr von eurem Erlebnissen vor zwei Jahren erzählt habt“, fragte Duke argwöhnisch. „War er auch. Genau wie Atemu. Aber sowohl der Pharao, als auch Bakura sind wieder da – und Marlic ebenso“, vollendete der Blonde schließlich den Schockmoment. „Echt jetzt? Und du willst mir verklickern, die würden beide an Atemus Seite gegen Caesian kämpfen?“, platzte Tristan ungläubig heraus. „Na ja, an seiner Seite ist vielleicht etwas viel gesagt. Aber im Augenblick haben sie zumindest das gleiche Ziel“, erklärte Ryou. „Wow ... wie kann in zwei, drei Tagen nur so viel schief gehen?“, warf Duke in die Runde und fuhr sich durch die Haare. „Das ist ja abartig.“ „Zwei, drei Tage? Wovon sprichst du?“, hakte Joey sofort mit hochgezogener Augenbraue nach. „Na ihr seid doch ungefähr vorgestern verschwunden – es wundert mich eben, wie viel in so kurzer Zeit passieren kann“, versuchte der Schwarzhaarige, sich zu erklären. Nun sah ihn der Blonde Stirn runzelnd an. „Duke, wir sind nicht erst seit zwei Tagen hier, sondern schon bedeutend länger. Weißt du, wie lange genau?“, fragte er an Ryou gewandt, der vor Duke auf dem Rücken seines Pferdes saß. „Nein, ich habe nicht mitgezählt. Aber ich würde sagen, schätzungsweise zwei, vielleicht auch schon drei Wochen“, entgegnete der Angesprochene. „Aber das kann nicht sein“, meldete sich Tristan hinter Joey. „Wollt ihr uns verarschen? Vorgestern habt ihr plötzlich alle in der Schule gefehlt. Als ich versucht hab', euch die Hausaufgaben mitzuteilen, stand ich vor verschlossenen Türen oder eure Eltern wussten nicht, wo ihr seid. Am Tag darauf haben Teas Eltern und Yugis Großvater die Polizei alarmiert. Nachdem die mich befragt hatten, ist dann auch der Rest von euch auf der Liste gelandet, weil ich angegeben habe, dass ihr alleine lebt und eure Familien darum wohl nicht direkt mitbekommen würden, wenn ihr mal nicht zur Schule oder nach Hause kommt. Man hat Ishizu, sowie Serenity und deine Mutter kontaktiert, Joey, aber niemand wusste, wo ihr seid. Ryous Vater hat man noch nicht erreicht, aber ich bin sicher, sie versuchen es weiter – und fügen Duke und mich bald zu der Liste hinzu. Daheim geht die Post ab, Leute. Alle machen sich wahnsinnige Sorgen.“ Betrübte Stille folgte. „Oh man … Serenity dreht bestimmt durch, wenn sie mich nicht finden kann …“, meinte Joey schließlich und biss sich auf die Unterlippe. „Und unsere Eltern erst. Mal ganz davon abgesehen: Was sollen wir denn der Polizei erzählen, wenn wir wieder zurück sind? Wenn es überhaupt einen Weg nach Hause gibt …“, überlegte Ryou laut. „Ich behaupte mal, darum machen wir uns Gedanken, wenn das hier vorbei ist. Die Polizei und – auch, wenn das hart klingen mag – unsere Familien, sind im Augenblick unser geringstes Problem. Sie sind zumindest in Sicherheit“, erwiderte der Blonde. „Solange wir hier die Stellung halten zumindest. Du erinnerst dich an das, was wir schon einmal diskutiert haben? Wenn es keine Vergangenheit gibt …“ „… dann auch keine Zukunft“, beendete Duke Ryous Satz. „Man, und ich dachte, die Zeiten von Hokuspokus und all diesem Krimskrams wären vorbei!“ „Das dachten wir alle. Aber hey, was das Heimkommen anbelangt, können wir vielleicht helfen!“, mischte sich Tristan plötzlich ein. Er griff an seinen Gürtel und holte das goldene Ankh hervor, das ihn und Duke überhaupt erst in diese Misere hinein gezogen hatte. „Als wir das Teil berührt haben, sind wir hier her gekommen. Vielleicht kann es uns auch wieder nach Hause schicken.“ Ryou betrachtete den Gegenstand eingehend. „Dadurch seid ihr hier gelandet?“ „Ja. Es ist glühend heiß geworden. Wir wurden ohnmächtig und sind erst in Ägypten wieder zu uns gekommen“, erklärte Duke. Joey und der Weißhaarige tauschten einen vielsagenden Blick. Ersterer sprach schließlich aus, was sie dachten. „Ich hab‘ die leise Vermutung, dass das Teil kein gewöhnliches Ankh ist, Jungs.“ „Ach ne, was du nicht sagst“, entgegnete Tristan sarkastisch. „Natürlich ist es das nicht, immerhin hat es uns einmal quer durch die Zeit katapultiert!“ „Ich glaube, das meint er nicht. Ich denke, Joey will vielmehr darauf hinaus, dass ihr beide eventuell ein Relikt der Götter gefunden habt“, klärte Ryou sie schließlich auf. Die beiden Neuankömmlinge wechselten zunächst einen verdutzten Blick, der jedoch bald zu dem Ankh in Tristans Händen wanderte und dort haften blieb. „Ist das dein Ernst?“ „Könnte durchaus möglich sein. Gut wäre es jedenfalls, damit hätten wir schon vier von zehn Artefakten sichergestellt!“, meinte Ryou euphorisch. „Allerdings. Pack das Ding lieber wieder weg, bis wir in der Himmelspforte sind, Tristan. Sollten wir irgendwelchen Soldaten über den Weg laufen, und die sehen das, werden sie es sicherlich haben wollen“, riet Joey seinem Freund. Besagter tat wie ihm geheißen. Ryou sah sich indes suchend um, ließ den Blick über den Horizont schweifen. Die Wolkendecke über Ägypten hatte sich wieder geschlossen. „Sag mal, Joey, wunderst du dich nicht auch, wo die Anderen …?“ „Was macht ihr hier? Kaffeekränzchen?“ Die vier jungen Männer fuhren erschrocken zusammen und sahen sich panisch um. Einen Wimpernschlag später begann die Luft vor ihnen zu flirren, ehe sich Diabound langsam vor ihnen materialisierte. Tristan und Duke fielen vor Schreck rückwärts von den Pferden. „Oh mein Gott, was ist denn das?!“ „Das ist Bakuras Ka-Bestie!“ Die Zwillingsseele war indes auf die beiden Menschen aufmerksam geworden. Sie beobachtete sie belustigt, ließ sich jedoch nicht von ihrer eigentlichen Aufgabe abbringen. „Ich wiederhole mich ungern: Was tut ihr hier?“ „Wir warten auf Bakura und Risha! Was denn sonst? Wo bleiben die beiden Scheusale?“, entgegnete Joey patzig. „Sie warten auf euch“, erwiderte das Ka und zeigte mit einer langen Klaue gen Horizont. „Ach ja? Und was machen die beiden dort drüben?“, erkundigte sich der Blonde und versuchte, in der Ferne irgendetwas – oder irgendjemanden – zu erkennen. „Ähm … Joey?“ „Was ist denn?“ „Ich glaube, wir sind in die falsche Richtung geritten …“ Joeys Kopf schnellte erst zu seinem weißhaarigen Kumpanen herum, dann wandte er sich langsam wieder zu Diabound um und kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Oh … tehe …“ Das Ka verdrehte einfach nur die Augen, ehe es sich in Bewegung setzte. Die Menschen folgten ihm. Als seine Knochen vom langen Sitzen allmählich schmerzten, entschied Keiro, dass es Zeit wurde, zur Himmelspforte zurück zu kehren. Langsam stemmte er sich hoch und schritt zu Shadara hinüber, der im Schatten döste. Behutsam, um das Ka nicht zu erschrecken, legte er ihm eine Hand auf den mittleren Schädel und kraulte ihn hinter den Ohren, ehe er auch den anderen beiden die gleiche Behandlung zuteilwerden ließ. „Ich bin wahrlich froh, dich zu haben, alter Freund“, murmelte er dabei. Worte waren zwischen einem Träger und seiner Bestie eigentlich unnötig, dennoch verspürte er den Drang, auszusprechen, was er in diesem Moment dachte. „Ansonsten wäre ich wirklich alleine.“ Keiro ließ den Blick über die Wüste gleiten. Es hatte ihn noch nie lange an einem Ort gehalten. Er war schon viel in der Weltgeschichte herumgekommen, hatte einiges gesehen und erlebt. Und dennoch war er immer wieder hierher zurückgekehrt. Fast so, als habe er gespürt, dass sich in Ägypten eines Tages etwas Großes ereignen würde. Und obgleich er wusste, dass man ihn hier brauchte, war der Drang, einfach auf Shadaras Rücken zu steigen und dem Horizont entgegen zu preschen, geradezu überwältigend. Hinfort von all den Problemen, den Streitereien … dem Krieg. Aber er wusste, dass es nicht so einfach war. Er war zu einer der wenigen Figuren geworden, die noch nicht von ihrer Seite des Spielfeldes geschlagen worden waren. Es zählte jeder einzelne. Er konnte jetzt nicht einfach verschwinden – und wenn auch nur für Bakura. Gerade wollte er sich vom Anblick der Wüste, die so friedlich und zugleich unter all den Wolkenbergen so bedrohlich wirkte, losreißen, da blieb sein Blick an etwas haften, das er aufgrund der Entfernung nicht klar erkennen konnte. Es wirkte wie … ja, ein Loch in der Landschaft, mitten in einem Hügel aus Sandstein. „Was ist das?“, sprach er seine Gedanken abermals laut aus. Shadara war seinem Blick gefolgt. „Fatamorgana?“, schlug der Zerberus vor und stemmte sich hoch. „Dafür erscheint es mir doch etwas zu … wirklich. Komm mit, mein Junge, lass uns nachsehen“, entschied Keiro schließlich und schwang sich auf den Rücken der Bestie. Während sie dahin ritten, ließ er den Blick immer wieder wachsam umher wandern. Im war bewusst, dass das, was sie im Begriff waren, näher in Augenschein zu nehmen, durchaus eine Falle oder schlichtweg gefährlich sein konnte. Durch Caesians Missbrauch an den göttlichen Relikten hatte sich in dieser Welt bereits vieles verändert. Die Legenden ließen zudem vermuten, dass Ereignisse, wie der Regen in der vergangenen Nacht, nur Vorboten schlimmerer Auswirkungen sein konnten. Schließlich erreichten sie die besagte Stelle. Für Keiro wurde augenblicklich klar, dass er keiner Fatamorgana aufgesessen war. Als sie nur noch zehn Schritt von der Felsformation entfernt waren, hielt Shadara an. Sein Träger kniff ratlos die Augen zusammen. „Was, in Horus‘ Namen, ist das?“ Im Schatten des Gesteins schwebte eine mannsgroße, pechschwarze Kugel gut zwei Finger breit über dem Boden. Sandkörner, die unter ihr aufwirbelten, ließen vermuten, dass sie um die eigene Achse rotierte. „Ich habe keine Ahnung. Aber ich werde es mir näher ansehen. Du bleibst hier“, entschied Shadara schließlich und bedeutete Keiro mit einem Zucken der Schultern, abzusteigen. Warum er ohne große Widerworte tat, was seine Zwillingsseele von ihm verlangte, wusste er nicht – vielleicht war es die Neugier, die danach verlangte, mehr über das eigenartige Gebilde zu erfahren. Langsam setzte sich der Zerberus in Bewegung. Witternd und in geduckter Haltung schlich er näher, stets zum Angriff bereit. „Sieht nicht aus, als könne man das essen“, befand schließlich einer der drei Köpfe. „Ist das eigentlich alles, woran du denken kannst? Essen und schlafen?“, giftete ihn ein anderer an. „Schnauze!“, fuhr der Letzte sie beide an und brachte sie zum Schweigen. Schließlich stand Shadara direkt vor der schwarzen Kugel. Er schnüffelte erneut. Nichts. Von dem Objekt ging keinerlei Geruch aus. Zugleich wirkte es, jetzt, da er so nah war, nicht mehr real. Es vermittelte den Eindruck als … ja, als würde er hier etwas ganz genau vor sich sehen, ohne wirklich sicher zu sein, dass es da war. Gerade wollte sich der Zerberus abwenden und in sicherem Abstand überlegen, was er als nächstes tun sollte, um herauszufinden, was das für ein Ding war, da blieb er wie angewurzelt stehen. Mit einem Mal fühlte er sich, als krieche etwas langsam in all seine Glieder. Zunächst war es Kälte. Eine Kälte, die er so noch nie verspürt hatte. Dann ein seltsame Ziehen … und plötzlich tiefste Furcht. „Shadara?“, erkundigte sich Keiro überrascht, als seine Zwillingsseele mitten in der Bewegung verharrte. „Was ist? Stimmt etwas nicht?“ Synchron schossen die drei Köpfe herum und fixierten die Kugel. Diese Empfindungen … diese Dunkelheit … sie kamen von ihr! „Keiro, la…!“ Weiter kam Shadara nicht mehr. Das schwarze Gebilde schoss nach vorne und schloss ihn ein, schien ihn regelrecht zu verschlingen. Er hörte Keiro Schreien, jedoch nicht vor Schreck – sondern vor Schmerzen. Denselben Schmerzen, die auch in Shadaras Körper und Geist wüteten. Dann war es still. Panisch warf sie die Lacken von sich und sprang aus dem Bett, in das man sie gelegt hatte. Dabei ließ sie ihr Gegenüber keinen Wimpernschlag lang aus den Augen. Sie wusste nicht, weshalb, aber irgendein Instinkt verriet ihr, vorsichtig zu sein. Erst, als die Distanz zwischen ihnen so groß war, dass sie mit dem Rücken zur Wand an der gegenüberliegenden Seite des Raumes stand, wagte sie, Fragen zu stellen. „Wer bist du? Was … was mache ich hier?“ Der Mann musterte sie amüsiert. „Ah … ist das nicht eine Frage, die wir uns alle stellen?“, sinnierte er schließlich. „Woher kommen wir? Weswegen sind wir hier? Und vor allem: Wo gehen wir einmal hin? Der einzige Unterschied zwischen uns beiden, meine liebe Kisara, ist, dass du die Antwort auf die letzte Frage bereits kennst, während ich, so, wie sich die Dinge derzeit gestalten, auf ewig nicht wissen werde, was auf der anderen Seite liegt.“ Sie legte die Stirn in Falten. Was er da eben gesagt hatte … nein! „Ich … ich bin …“ „In Ägypten. Um es ein wenig genauer auszudrücken: Du bist am Leben. Dank mir.“ Er ließ die Worte sacken, ehe er sich in Bewegung setzte und langsam um das Bett herum ging. „Erlaube mir, mich vorzustellen: Mein Name ist Caesian. Herrscher aller Länder und Gebieter über die Relikte der Götter selbst.“ Kisara verstand die Welt nicht mehr. Wovon sprach dieser Mann? Was, in Horus‘ Namen, ging hier vor sich? Was war bloß in Ägypten passiert, nachdem sie gestorben war? Caesian bedachte sie mit einem wissenden Seitenblick, während er zu einem Tisch hinüber ging und sich aus einer Karaffe Wein in einem Becher goss. „Es ist verständlich, dass du dich fragst, was geschehen ist. Immerhin hast du nichts davon miterlebt. Doch sei unbesorgt: Das Einzige, was du wirklich zu wissen brauchst, ist, dass du von nun an mir zu Diensten zu sein hast.“ Kisara ballte ihre zierlichen Hände zu Fäusten. „Die Einzigen, die über mich zu verfügen haben, sind die Götter Ägyptens und ihr Stellvertreter auf Erden. Sonst niemand.“ Es klang nicht so überzeugt, wie sie es hatte klingen lassen wollen. Doch für sie stand schon jetzt fest, dass sie nicht einen einzigen Befehl annehmen würde, der über die Lippen dieses Mannes kam, auch wenn sie noch immer nicht wusste, was hier vor sich ging. „Ach ja, ihr Ägypter“, meinte Caesian und schwenkte den Wein an den Wänden des Gefäßes entlang, das er in Händen hielt. „Ihr seid mir wirklich ein paradoxes Völkchen. Entweder ihr liebt oder ihr hasst eure Herrscher über alles. Scheinbar gehörst du zu der zuerst genannten Sorte. Deshalb lass dir gesagt sein, dass keiner der Pharaonen, die du vielleicht noch gekannt haben könntest, mehr in dieser Stadt wandelt. Ich habe sie alle verjagt. Wie feige Schakale sind sie vor mir davon gelaufen.“ „Das ist eine Lüge! Kein Pharao würde Ägypten jemals im Stich lassen!“, entgegnete Kisara sofort. „Ach, ist dem so? Dann sag mir, meine Liebe: Wo sind sie? Siehst du hier irgendeinen von ihnen? Wie hießen sie noch gleich? Atemu? Oder sprichst du etwa von jenem Pharao, der sich Sethos nannte?“ Die Gesichtszüge der jungen Frau erstarrten vor Entsetzen. Caesian grinste belustigt. „Sieh an, es scheint als habe ich einen wunden Punkt getroffen, wie? Keine Sorge, Mädchen, wie ich bereits sagte, ich habe sie alle verjagt, nicht getötet – noch nicht.“ Kisaras Gedanken schwirrten durcheinander. So viele Fragen – und immer, wenn sie glaubte, es könnten nicht mehr werden, warf dieser Mann neue auf. So sprach sie schließlich jene aus, die sie am meisten plagte. „Warum hast du mich zurückgeholt?“, fragte sie tonlos. „Ist das nicht offensichtlich?“, entgegnete Caesian, nachdem er von seinem Wein genippt hatte. „Du bist mein Köder. Sobald den guten Seto die Kunde erreicht hat, dass du hier bist, wird er alles daran setzen, dich zu befreien – und wenn es bedeutet, dass er seine eigene Heimat verraten muss.“ „Das wird er niemals tun!“ „Sei dir da nicht so sicher. Menschen tun für die Liebe so manche, eigenartige Dinge. Ich bin mir sicher, dass auch dein Hohepriester dieser Krankheit von einem Gefühl unterliegen wird.“ „Dein Plan wird nicht aufgehen“, drohte Kisara erneut. „Er weiß genau, dass ich niemals wollen würde, dass Menschen um meinetwillen leiden müssen! Lieber sterbe ich erneut! Du vergisst, dass mir dieses Schicksal schon einmal wiederfahren ist. Ich fürchte den Tod nicht!“ „Was hältst du davon“, begann Caesian, während er sich ihr langsam näherte und sie so Stück für Stück in eine Ecke drängte, „wenn wir einfach abwarten? Die Zeit wird zeigen, was geschehen wird.“ Als sie nicht mehr weiter zurückweichen konnte, umfasste er ihr Kinn und hob es an, sodass sie ihm in die Augen sehen musste. „Und selbst, wenn Seto wahrlich nicht so handeln sollte, wie ich glaube, dass er es tun wird, so wirst du dich immer noch gut in meinem Harem machen.“ „Nur über meine Leiche“, zischte Kisara. Caesian lächelte nur ein kaltes, herzloses Lächeln. „Aber, aber Mädchen. Das beißt sich nun mit dem, was du soeben gesagt hast. Wolltest du nicht, dass niemand um deinetwillen leiden muss? Dann verrate mir, wie, glaubst du, habe ich dich aus den Händen des Todes befreit? Hast du eigentlich eine Ahnung, welchen Wert dein Leben besitzt?“ Er beugte sich näher zu ihr, sodass er in ihr Ohr flüstern konnte. „Den Wert eines Kindes und eines Gottes.“ Kisaras blaue Augen weiteten sich vor Entsetzen. Als er sich wieder von ihr entfernte, um sie anzusehen, rannen Tränen ihre Wangen hinab. „Nein …“, hauchte sie. „Doch, allerdings. Darum sei vorsichtig mit dem, was über deine Lippen kommt, Liebes“, sagte Caesian und wischte eine der Tränen weg. Schließlich wandte er sich um und ging zur Tür. Doch ehe er sie öffnete, sah er sich noch ein letztes Mal zu ihr um. Noch immer stand sie fassungslos an der Stelle, wo er sie zurück gelassen hatte. „Wir wollen doch nicht, dass ihr Opfer umsonst war, hm?“ Ein einziger Schrei kam über Kisaras Lippen, als er gegangen war. Der Ruf eines Wachtpostens von oberhalb der Klippen kündigte die Rückkehr der Truppe an, die ausgezogen war, um das ehemalige Versteck der Schattentänzer zu durchsuchen. Kurz darauf hallte bereits das Geräusch von Hufen, die auf Fels schlugen, durch die Gänge, die in die Himmelspforte führten. Atemu war angespannt. Hatten sie es geschafft? Hatten sie die Schriften bergen können, von denen sie sich so viel erhofften? Waren sie, insbesondere Joey und Ryou, wohlauf? Ihm schossen zahlreiche Fragen durch den Kopf – und es wurden nur umso mehr, als die Pferde heraus aus den dunklen Pfaden im Gestein und ins Freie preschten. Denn das, was er sah, hatte er nicht erwartet. „Aber das sind doch …“ „Duke und Tristan! Was machen die beiden hier?“, vollendete Yugi die Worte des Pharaos und eilte gemeinsam mit Tea und Marik zu der Stelle hinüber, an der die Tiere schließlich gehalten hatten. Auch Atemu wollte sich hinzugesellen, da streifte ihn Riells argwöhnischer Blick. Rasch schloss der Schattentänzer die Distanz zwischen ihnen. „Pharao, ist euch bekannt, was es mit diesen beiden Männern auf sich hat?“, erkundigte er sich ohne große Umschweife. Atemu entging nicht, dass eine Hand bereits auf den Griff seines Schwertes lag. „Ihr könnt beruhigt sein“, versicherte er daher schnell. „Diese beiden sind auf unserer Seite, das kann ich Euch versichern. Ihre Namen sind Tristan und Duke.“ „Tristan und Duke …?“, wiederholte Riell mit hochgezogener Augenbraue. Sein Gegenüber nickte. „Ja. Sie stammen ebenso wenig aus unserer Zeit, wie Yugi, Tea, Joey, Marik und Ryou.“ „Ich verstehe. Aber hieß es nicht, eure Freunde, die bislang unter uns weilten, seien die Einzigen, die das Schicksal ereilt hat, hierher zu kommen?“ „Das dachten wir auch“, bestätigte Atemu mit einem Nicken. „Was auch besser gewesen wäre“, mischte sich plötzlich eine weitere Stimme in die Unterhaltung ein. Risha war herüber gekommen und ließ einen der Säcke mit Schriftrollen vor ihrem Bruder zu Boden plumpsen. „Wir haben schon genug Mäuler zu stopfen. Nun kommen noch zwei weitere hinzu.“ Ihr Blick verriet Atemu bereits, dass sie darauf aus war, ihn zu reizen. Doch Riell ergriff geistesgegenwärtig das Wort. „Ist bei dir alles in Ordnung? Die Frage, ob ihr erfolgreich gewesen seid, hat sich ja bereits erledigt“, meinte er mit Fingerzeig auf die Schriften. „Es geht mir gut. Ein paar Soldaten können das nicht von sich behaupten. Wobei anzumerken wäre, dass wir deutlich weniger Ärger gehabt hätten, wären uns nicht diese beiden in die Quere gekommen. Ihretwegen haben wir uns offen zeigen müssen“, fuhr Risha mit Nicken in Dukes und Tristans Richtung fort. „War Caesian …?“ „Nein. Und sein Fußvolk kommt so schnell auch nicht mehr auf die Beine, dafür haben wir Sorge getragen. Was mich zu dem eigentlichen Anliegen bringt, von dem ich glaube, dass es noch einmal dringend besprochen werden sollte – dass wir hier lauter unausgebildete Bauern unter uns haben, die aus einer Zeit kommen, in der ihnen scheinbar alles auf dem Silbertablett serviert wird und die nicht einmal wissen, wo bei einem Schwert vorne und hinten …“ „Ich danke Euch.“ Rishas Kopf zuckte augenblicklich herum. Entgeistert sah sie Atemu an, der eben gesprochen hatte. „Wie bitte?“ „Ich sagte, dass ich Euch danke. Ihr habt geholfen, meine Freunde zu befreien. Dafür ist in meinen Augen ein Dank angebracht. Wenn Ihr mich nun entschuldigen würdet – ich würde sie gerne begrüßen.“ Damit zog Atemu von dannen und ließ eine völlig perplexe Schattentänzerin und ihren breit grinsenden Bruder zurück. Kapitel 39: Endgültig --------------------- Caesian war zufrieden. Sehr zufrieden sogar. Er hatte befürchtet, dass die Auferweckung von den Toten ihre Spuren an der jungen Frau hinterlassen würde. Doch dem war nicht so – wenn man einmal davon absah, dass ihre plötzliche Rückkehr ins Diesseits sie zutiefst erschüttert zu haben schien. In allen anderen Belangen jedoch war sie vollkommen unversehrt. Das war gut. Ein makelloses Druckmittel war zunächst das beste Druckmittel. Sollte der Hohepriester nicht wie erhofft auf ihre Rückkehr reagieren, konnte er stets andere Saiten aufziehen. Nun galt es nur noch, Seto von seinem Glück in Kenntnis zu setzen … Eine Idee dazu kam ihm, als er den großen Innenhof des Palastes betrat. Dort entdeckte er Gladius und zwei Untergebene niederen Ranges. Zwischen ihnen lag ein – offenbar einen Körper verhüllendes – Leinentuch. Caesian grinste. Als er näher an die kleine Gruppe herantrat, gewahrten ihn seine Untertanen. Die beiden einfachen Soldaten fielen sogleich auf die Knie, während sich Gladius verbeugte. „Mein Herr“, äußerte er zudem. „Gladius. Immer eifrig bei der Arbeit. Die Leiche des alten Schattentänzers, nehme ich an?“, erkundigte sich Caesian mit Kopfnicken in Richtung des Leinentuches. „Sehr wohl, Majestät. Es ist gut, dass Ihr hier seid. Mir kam ein Gedanke, den ich gerne mit Euch besprechen wollte.“ „Ah, das trifft sich. Mir fiel auch gerade etwas ein. Doch nur zu, sprich zuerst“, forderte der Tyrann sein Gegenüber auf. „Zu gütig, Majestät. Nun, ich hatte überlegt, ob es nicht einen sinnvolleren Weg gäbe, als die Schattentänzer mit dem toten Alten aus ihrem Versteck zu locken. Immerhin ist fraglich, ob der Pharao und sein Gefolge den Köder ebenfalls schlucken werden.“ „Wahre Worte, Gladius. Woran dachtest du?“ „Ich frage mich, euer Herrlichkeit, ob es nicht unserer Sache dienlich wäre, die Leiche ein Stück außerhalb der Stadt auszulegen und sie den Schattentänzern in die Hände fallen zu lassen – nicht unbeaufsichtigt, natürlich. Ich werde meine besten Männer in Bereitschaft versetzen und sie werden die Brut verfolgen, sobald sie sich den Greis zurückgeholt haben. Haben sie das Nest dieser räudigen Schakale gefunden, wird es uns möglich sein, sie ein für alle Mal vom Antlitz dieser Welt zu tilgen, mein König. Alle auf einen Streich.“ Caesian ließ sich die Worte einen Augenblick lang durch den Kopf gehen. „Es ist erstaunlich, Gladius, wie manchmal zwei Menschen einen ähnlichen Einfall zur fast selben Zeit haben können. Doch so effizient dein Plan auch ist, so unsicher ist er.“ Er schnippte mit den Fingern und wandte sich an einen der umstehenden Soldaten. „Bring‘ mir eine Papyrusrolle und einen Kiel. Sofort.“ Der Untertan eilte davon. „Darf ich mich erkundigen, was ihr ersonnen habt, mein Gebieter?“ „Gewiss, mein Guter. Wie ich sagte, dein Plan entbehrt jeglicher Sicherheit. Ich stimme dir bis zu jenem Punkt zu, an dem du gedenkst, die Leiche etwas außerhalb von Men-nefer in der Wüste zu platzieren. Allerdings wird niemand die Schattentänzer verfolgen, sobald sie sich die Überreste ihres Geliebten Oberhauptes geholt haben. Denn so lösen wir unser Problem mit dem Pharao nicht. Gewiss wäre es uns scheinbar ein Leichtes, sie zu überrennen. Doch ich will diesmal vorsichtiger sein, Gladius. Atemu ist uns schon einmal entwischt. Er kommt bald zu uns nach Ägypten, ich darf mir also keine Fehler mehr erlauben. Und deshalb werde ich nun alle Sicherheiten nutzen, die ich finden kann.“ „… mein Herr, ich fürchte, ich verstehe nicht?“ Der Soldat kehrte mit den gewünschten Schreibutensilien zurück. Caesian nahm sich kurz die Zeit und kritzelte etwas auf ein Stück Papyrus, das er daraufhin zusammenrollte. „Keine Sorge, ich erkläre es dir gerne. Du hast Recht, um die Schattentänzer brauchen wir uns wahrlich keine Sorgen zu machen. Gleich, ob wir diese Wilden dazu zwingen, sich den Körper des Alten zu erkämpfen, oder ob wir ihn ohne Hindernisse an sie zurückgeben, sie werden uns so oder so angreifen. Es ist nur eine Frage der Zeit – dafür sorgt diese hitzköpfige Wüstendirne, die der Alte adoptiert hat, schon. Auch, was den Pharao anbelangt, stimme ich dir zu. Es ist wahrlich fraglich, ob es ausreichen wird, ihn mit den Überresten eines verstorbenen Verbündeten zu reizen, damit er sich zeigt. Doch, wie ich bereits sagte, kann ich auch nicht riskieren, ihn in seinem Versteck aufzuscheuchen, wobei er mir vielleicht abermals wie Sand durch die Finger rinnt. Es gibt jedoch einen Weg, diese unschöne Möglichkeit zu umgehen. Deshalb wirst du folgendes tun, Gladius …“, erklärte er und drückte seinem Gegenüber den Papyrus in die Hand, „Verunstalte die Leiche des Alten, aber lasse sein Gesicht unberührt. Diese Bauern sollen noch erkennen können, wer er war. Und stecke ihm diesen Fetzen in den Mund. Dann drapiere die Leiche in der Wüste und überlasse sie den Schattentänzern. Danach wird es nur wenige Sonnenläufe dauern und wir sind endlich am Ziel.“ Gladius sah verunsichert auf das kleine Schriftstück. „Darf ich fragen, was hierin geschrieben steht, mein Herr?“ „Sicher doch, mein Freund. Sieh mal, wir hatten bislang wahrlich nichts, das uns den Pharao hätte bringen können. Doch seit unserer kleinen Beschwörung im Tempel ist dem nicht mehr so … davon weiß der gute Seto aber noch gar nichts. Diesen Umstand müssen wir schnellst möglich ändern, findest du nicht auch?“ Der Truppenführer begann nun ebenfalls zu grinsen. „Ihr wollt das Mädchen nutzen, um mit der Hilfe des Hohepriesters an den Pharao heranzukommen – dazu muss er aber zunächst von ihrer Rückkehr unter die Lebenden erfahren“, fasste er mit Blick auf die kleine Papyrusrolle zusammen. „Raffiniert wie eh und je, Majestät.“ „So ist es, Gladius“, meinte Caesian mit boshaftem Lächeln. „So ist es.“ Nachdem sich die erste Wiedersehensfreude gelegt hatte und Neuigkeiten aus beiden Welten ausgetauscht worden waren, fanden sich alle zu einer Besprechung in der Mitte der Himmelspforte ein. Zumindest sah so der Plan aus, denn Einer ließ auf sich warten. „War ja klar“, grummelte Risha und schob sich ein Stück Brot in den Mund. „Keiro braucht immer eine zusätzliche Aufforderung.“ „Er hat wahrscheinlich nicht einmal mitbekommen, dass wir etwas zu besprechen haben“, entgegnete Riell. „Er ist schon den ganzen Tag verschwunden. Wir vermuten, dass er sich wohl für ein Weilchen abgesetzt hat. Nicht jeder verträgt die Enge hier gut.“ „Ein Weilchen? Wenn wir Glück haben, hat er den Schwanz eingezogen und kommt nie mehr wieder“, korrigierte seine Schwester schnippisch. „Wie dem auch sei, es hat keinen Sinn zu warten – zumal uns Caesian, seit er hier aufgekreuzt ist, keine Zeit schenkt. Er plant mit Sicherheit bereits seine nächsten Schritte, auf die wir vorbereitet sein müssen“, warf Atemu ein. „Womit du meinst, dass er nach weiteren Relikten suchen wird und, dass wir sie vor ihm finden müssen, richtig?“, hakte Yugi nach. Der Ältere nickte. „Allerdings. Zudem bleibt die Frage zu klären, was es hiermit auf sich hat“, fügte er mit Fingerzeig auf das Anch, das Tristan und Duke mitgebracht hatten, hinzu. „Möchte uns vielleicht nochmal schnell jemand erklären, wo wir in Bezug auf diese Artefakte gerade stehen?“, fragte Tristan in die Runde. „Sicher“, meinte Mana. „In unserem Besitz befinden sich derzeit der Dolch von Anubis, die Feder des Thot, den Reif der Isis, sowie das Amulett der Göttin Bastet. Caesian hingegen hat Nephthys‘ Tränen, das Zepter des Seth und die Saat des Chnum in seine Gewalt gebracht. Drei Relikte sind bislang nicht im Spiel: Der Speer der Sachmet, die Sonnenscheibe des Ra und das Anch des Horus, wie wir inzwischen aus den Aufzeichnungen erfahren haben.“ Alle Blicke wanderten zu dem goldenen Gegenstand in ihrer Mitte. „Na ja“, meinte Joey schließlich. „Möglich wär’s doch. Immerhin hat es Duke und Tristan hierher gebracht, als sie sich gewünscht haben, uns zu finden.“ „Da diese Welt aber sowie so schon instabil ist, hätten wir doch irgendwelche Auswirkungen spüren müssen, oder?“, gab Ryou zu bedenken. „Das denke ich auch“, stimmte Tea zu. „Aber was ist es dann? Für einen einfachen Gegenstand ist es zu mächtig, aber es bringt nicht die Auswirkungen eines Artefakts mit sich.“ „Ich hab‘ eine Idee!“, rief Joey plötzlich aus. „Wir testen es. Wir wünschen uns ganz doll, dass Caesian tot umfällt – wenn er dann wirklich krepiert, wissen wir Bescheid!“ „Intelligenzbestie. Schon mal daran gedacht, welche Folgen das für diese Sphäre haben könnte? Wir könnten alle mit ihm draufgehen“, erwiderte Bakura und verdrehte die Augen. „Tja, das hat man davon, wenn Leute fachsimpeln, die nicht mit den hohen Künsten von Magie und Mystik vertraut sind“, ergänzte Marlic. „Ach, aber weil ihr euch so gut auskennt, haben eure Pläne auch immer so wunderbar funktioniert, nicht?“, keifte Tristan sofort zurück. „Schluss damit!“, ging Seto bestimmt dazwischen. „Wir haben keine Zeit für diese Kindereien! Das Schicksal Ägyptens steht auf dem Spiel, wann begreift ihr das eigentlich endlich?“ „Hört, hört, der Hohepriester hat gesprochen“, murmelte Risha gelangweilt. „Ich hätte da eine Idee, Leute“, meldete sich plötzlich Marik zu Wort. „Die da wäre?“, ging Atemu rasch auf ihn ein, bevor wieder irgendjemand anfangen konnte, zu streiten. „Denken wir doch nur einmal an die Milleniumsgegenstände zurück. Diese Gegenstände waren unzerstörbar. Sie haben tausende von Jahren überstanden, ohne auch nur einen Kratzer abzubekommen. Tristan hatte doch erzählt, dass er den Milleniumsring sogar einmal aus Pegasus‘ Schloss geworfen hat, mehrere hundert Meter tief in einen Wald hinein. Der Ring hat dennoch keinerlei Schaden genommen und ist wieder zu Ryou zurückgekehrt.“ „Worauf willst du hinaus?“, hakte Bakura nach. „Ein gewöhnlicher Gegenstand oder einer, der nur mit schwacher Magie ausgestattet ist, würde solch einen Fall niemals überstehen. Ich weiß, das, was ich jetzt sage, hört sich blöd an, ich meine es aber durchaus ernst, denn ich denke, dass sich die wahre Natur dieses Gegenstandes nur unter großer Belastung zeigen wird: Ich würde vorschlagen, das Anch von den Klippen der Himmelspforte zu werfen. Überlebt es, wissen wir, dass es sich um ein göttliches Relikt handelt. Wird es zerstört …“ „… geht eventuell die ganze Welt vor die Hunde, weil wir Mächte freisetzen, die durch ihre Hülle in Form des Anchs gebändigt waren. Oder die Götter töten uns gleich, weil wir ihre Vermächtnisse durch die Gegend schmeißen“, kommentierte Risha. „Vielleicht gäbe es eine weniger drastische Variante“, meldete sich Yugi zu Wort. „Riell? Könntest du vielleicht versuchen, in die Feder des Thot eine Kerbe zu schneiden? Bei gewöhnlichem Gold müsste das mit einem Messer und genügend Kraft gehen, denn Gold ist ein relativ weiches Metall. Da es ein göttliches Relikt ist, sollte es aber eigentlich unversehrt bleiben, oder nicht?“ Der Angesprochene nickte. „Das wäre eine Idee.“ „Das ist nicht dein Ernst, oder? Was, wenn du das Artefakt damit beschädigst?“ Risha sah ihren Bruder mehr als misstrauisch an. „Das werde ich nicht. Wir wissen, dass es ein göttliches Relikt ist. Es wird keinen Schaden nehmen. Darauf vertraue ich.“ Seine Schwester schnaubte nur abfällig, als er die Feder und ein Messer hervorzog. Er legte das Artefakt vor sich hin und setzte das Messer an. „Eins, zwei, drei …“ Das Kreischen, das entstand, wenn Metall über Metall glitt, war zu hören. Alle Augen richteten sich angespannt auf die Stelle, an der Riell das Messer entlang geführt hatte – es war nichts zu sehen. „Gut. Nun das Gleiche mit dem Anch. Danach sind wir schlauer“, befand Yugi und reichte es dem Schattentänzer. „Aber was ist, wenn das nur irgendein härteres Metall ist, das man mit Gold überzogen hat?“, warf Joey ein. „Dann müsste zumindest der Überzug Schaden nehmen, denke ich“, erwiderte Tea. Wieder setzte Riell das Messer an. Erneut erklang der kreischende Ton. Dann herrschte Gewissheit. Eine Kerbe prangte in dem Anch. Die Erkenntnis war niederschmetternder, als gedacht. „Verfluchter Mist!“, fauchte Risha und raufte sich die Haare. „Oh nein …“, äußerte Mana betroffen. „Das heißt also, das echte Relikt ist noch irgendwo da draußen“, fasste Bakura zusammen. „Großartig …“ „Majestät! Majestät!“ Kipinos Rufe rissen sie aus den Gedanken. Er eilte von der anderen Seite der Himmelspforte auf sie zu und kam schlitternd zum Stehen. „Es gibt Neuigkeiten von den Spähern!“ „Die da wären?“, erkundigte sich Riell sofort. „Mein Herr, Euer Vater … seine Überreste …“ „Spuck’s schon aus!“, fauchte Risha ihn an. „C… Caesian hat seinen Leichnam außerhalb von Men-nefer abgelegt. Es sind keine Soldaten oder dergleichen zurück geblieben, sie haben ihn scheinbar einfach hingeworfen.“ Kurz herrschte betretene Stille. „Eine Falle. Definitiv eine Falle“, stellte Seto schließlich fest. „Das ist mir gleich“, verkündete Riell und erhob sich. „Sammle einen Trupp, ich werde losreiten und meinen Vater holen.“ „Das kann nicht Euer Ernst sein!“, widersprach der Hohepriester. „Wie ich sagte …“ „Und wie ich sagte, ist es mir egal. Ich gehe zur Not auch alleine!“, schoss der Schattentänzer scharf zurück. „Ihr wisst, was mit ihm geschehen wird, wenn er kein Begräbnis erhält. Sein Ka wird keine Ruhe finden, sein Ba wird nicht erwachen, sein Akh wird nicht entstehen. Das Jenseits bliebe ihm verwehrt. Das kann und werde ich nicht zulassen.“ „Majestät, da ist noch etwas“, meldete sich Kipino noch einmal zu Wort. „Das da wäre?“ „Der Pharao erzählte doch von einer Vision, in der er eine Höhle gesehen haben will, die im Boden des Reiches liegt.“ „So ist es“, bestätigte Atemu. „Weiter?“ „Nun, ich denke, Firell hat den Ort gefunden, nach dem Ihr sucht.“ Riell war unwohl, als er mit einem kleinen Gefolge Schattentänzer durch die Wüste preschte. Sein Magen krampfte sich zusammen, es schnürte ihm mehr und mehr die Kehle zu, mit jedem Stück des Weges, der ihn zu dem Leichnam seines Vaters führen sollte. Es war nicht die Angst, in eine Falle zu geraten, nein, keineswegs. Es war die Angst vor dem, was er dort vorfinden würde, vor dem Zustand, in dem sich die Überreste desjenigen befanden, der ihn großgezogen hatte. Tage waren vergangen, seitdem er ihn in dieser Stadt zurückgelassen hatte, in den Händen des Feindes, unter sengender Hitze. Schließlich erreichten sie ihr Ziel. Ein gutes Wegstück außerhalb Men-nefers entdeckten sie die beiden Späher des Clans, die – aller Angst zum Trotz – zurückgeblieben waren, um den Leichnam bis zum Eintreffen ihres Oberhauptes zu bewachen. Einige Schritte entfernt zügelte Riell sein Pferd und stieg ab, blieb unschlüssig stehen. Er wusste, dass er nicht ewig hier stehen konnte. Dennoch war jeder Moment, den er die Wahrheit länger vor sich herschieben konnte, willkommen. Letztlich setzen sich seine Beine in Bewegung. Schwerfällig, langsam. Näher und näher trugen sie ihn zu der Stelle hin, an der ein Umhang den Körper seines Vaters verbarg. Einer der Späher hatte ihn scheinbar darüber gebreitet. Weswegen? Um ihn vor den eigenen, nur allzu ungewollten Blicken seiner Untergebenen zu schützen, die sie dennoch vor Fassungslosigkeit nicht abwenden konnten? Damit die anwesend Schattentänzer sich nicht erneut mit der Tatsache konfrontiert sehen mussten, dass ihr weises, langjähriges Oberhaupt nur noch eine leblose Hülle war? Oder war der Grund ein viel schlimmerer? Als er die beiden Späher erreichte, nickte er ihnen kurz zu. Sie erwiderten den Gruß, dann zogen sie sich zurück, gingen hinüber zu den anderen Schattentänzern, die in gebührendem Abstand warteten. Riell sackte mehr neben dem Toten zusammen, als dass er sich hinkniete. Er biss sich auf die Unterlippe. Er fürchtete diesen Moment mehr, als jede Auseinandersetzung mit Caesian. Langsam streckte er die zitternden Finger nach einer Ecke des Umhangs aus und ergriff sie. Einen weiteren Augenblick lang verweilte er so, unfähig, sich zu rühren. Doch es half alles nichts. Gleich, wie lange er wartete, die Wahrheit würde dieselbe bleiben. All seine Kraft zusammennehmend, krallte er die Nägel in den Stoff und riss ihn beiseite. Der Anblick ließ sein Herz im Leib gefrieren. Er schlug sich eine Hand vor den Mund. Er hatte in seinem Leben, besonders in den vergangen Umläufen, zahllose Tote gesehen. Doch was man den Überresten seines Vaters angetan hatte, war für ihn nicht zu begreifen, nicht nachzuvollziehen – nicht im Geringsten. Seinem Antlitz hatten sie noch den wenigsten Schaden zugefügt, sah man davon ab, dass man ihm die Augen aus den Höhlen gerissen hatte. Doch der Zustand des restlichen Leichnams übertraf all die Alpträume, die sich Riell auf seinem Weg hierher ausgemalt hatte. Außer dem Skelett und einigen Fetzen Fleisch war unterhalb des Halses nichts mehr da. Überhaupt nichts. Keine Haut, keine Muskeln, keine Organe … noch nicht einmal Blut hatte sich unter dem Leichnam gesammelt, so wenig war von seinem Körper übrig. Das Einzige, das Riell davon abhielt, sich an Ort und Stelle zu übergeben, was der hartnäckige Gedanke daran, dass er hier noch immer seinen Vater vor sich hatte. Die Tränen jedoch konnte er nicht zurückhalten. Gleich, was die Schattentänzer tun würden, Resham war endgültig und unwiederbringlich verloren. Die ägyptischen Totenriten waren kompliziert. Sie beinhalteten unter anderem die Mumifizierung, sowie die Belebung des Verstorbenen – die Überführung in ein unendliches Wesen, das wiederum seinem unendlichen, auf ewig unversehrten Körper, der Mumie, einwohnen konnte. Nur so konnte eine Seele im Jenseits weiterexistieren. Riell wusste genau, dass keines von beidem mehr einen Sinn ergab. Der Körper seines Vaters war zerstört, geschändet. Selbst, wenn es noch eine Möglichkeit gegeben hätte, Resham vor dem endgültigen Tod, der ihm nun bevorstand, zu bewahren, Riell hätte es nicht getan. Denn in diesem Zustand, in dieser Form wollte niemand bis in die Unendlichkeit weiterexistieren. Zugleich wurde ihm bewusst, dass sie sich niemals wiedersehen würden. Alle Hoffnungen auf das Glück der Wiedervereinigung im Leben nach dem Tod zersprangen wie Glas. Am ganzen Körper zitternd beugte er sich vor um bedeckte den Leichnam wieder. Dann schlug er die Seiten unter die Überreste, hob sie hoch und trug sie zu seinem Pferd. Gleich, wie verunstaltet die Leiche, wie aussichtslos die Situation war, Resham war sein Vater. Er würde ihn nicht zurücklassen. Ihm würde etwas einfallen. Etwas, das dem Toten zumindest noch einen Funken Ehre zuteilwerden ließ, ehe sich Riell auf ewig verabschieden musste. Tief in seinem Inneren spürte er neben all der Trauer und Verzweiflung jedoch noch etwas anderes – bittere Entschlossenheit. Er hatte Caesians Nachricht verstanden. Von nun an würde er vor nichts mehr zurückschrecken, um diesen Bastard vom Antlitz der Welt zu tilgen, gleich, wie viele Sünden er beging. Denn im Jenseits wartete niemand auf ihn. Langsam kam Keiro zu sich. Er spürte den Wüstensand unter seinen Fingern, der warme Wind streichelte sein Gesicht. Er stemmte sich hoch. Klarheit. Absolute Klarheit. Sein Verstand war so klar wie schon seit mehreren Sommern nicht mehr. Ein diabolisches Lächeln umspielte seine Lippen. Er wusste nun, was er tun musste. Die Götter hatten ihm den Weg gezeigt, der ihm bestimmt war – und ihm die Mittel in die Hand gegeben, ihn zu bestreiten. Er würde nicht scheitern. Aus einem Gefühl heraus beschwor er seine Ka-Bestie. Die dabei freigesetzt Energien ließen ihn erschaudern. Was er dann sah, gefiel ihm. Shadara hatte sich verändert. Fangzähne, noch gewaltiger als zuvor. Fell, schwarz wie die Nacht selbst, von blauen Flammen umspielt. Augen, die ihn an die Untiefen der Unterwelt erinnerten. Eine Aura von absoluter Finsternis. Ja, er würde nicht scheitern. Nicht mehr. Kapitel 40: Rätsel ------------------ Rätsel Atemu war unruhig, während er sein Pferd durch die Wüste trieb. Riell und er hatten beschlossen, sich aufzuteilen: Während Ersterer losgezogen war, um die Überreste seines Vaters zurückzubringen, hatten sich der Pharao, Kipino und Samira auf den Weg zu der Stelle gemacht, die Firell gefunden hatte. Noch immer hatte er das ungute Gefühl, dass Riell geradewegs in einen Hinterhalt geritten war. Doch er hatte gar nicht erst versucht, das junge Clanoberhaupt von seinem Vorhaben abzubringen. Er wusste, von welcher Bedeutung ein Begräbnisritual war. Nicht nur, um Abschied nehmen zu können – auch, um der Seele ihren Frieden zu geben. Er hätte an seiner Stelle nicht anders gehandelt. „Firell zufolge ist es nicht mehr weit“, riss ihn Kipinos Stimme plötzlich aus den Gedanken. „Wir müssten es gleich geschafft haben.“ „Von wegen geschafft“, protestierte Samira. „Wenn wir dort sind, geht es doch erst richtig los, oder nicht?“ Der andere Schattentänzer seufzte. „Du betrachtest alles schon genau so negativ, wie es Risha immer tut!“ „Na und? Sie ist ja auch unsere Anführerin, wir sollten uns also alle ein Beispiel an ihr nehmen!“ „Verstehe. Dann solltest du künftig vielleicht früher aufstehen, abends länger arbeiten …“ „Halt den Mund!“ Atemu kam nicht umhin, kurz zu Schmunzeln, als er der Unterhaltung lauschte. Kurze Zeit später erreichten sie die von Kipino beschriebene Stelle. Sie war genau so einfach, wie der Schattentänzer sie zuvor geschildert hatte: Sie waren umgeben von ebener Wüste, die weit und breit jegliche Felsen oder Hügel vermissen ließ. Direkt vor ihnen im Boden befand sich zudem ein Loch, das gerade groß genug war, damit ein Mensch hindurch passen konnte. Vorsichtig trat Atemu näher und kniete sich hin, einen Blick in die Öffnung werfend. Für einige Ellen konnte er noch Fels erkennen, der einen Tunnel formte. Danach verhinderte die Dunkelheit, dass er noch irgendetwas sehen konnte. Samira kam an seine Seite gehopst. „Das ist es also? Darf ich als Erste hinuntersteigen?“, fragte sie an Kipino gewandte. „Bitte, bitte, bitte!“ „Auf keinen Fall!“, entgegnete der Ältere streng. Das Mädchen zog eine Schnute. „Och menno! Du bist voll die Spaßbremse, Alter!“ Atemu brauchte einen Augenblick, bis ihm der Fehler auffiel. Überrascht wandte er den Kopf um, nur um eine Samira mit verschränkten Armen zu sehen, vor der ein vollkommen perplexer Kipino stand und sie anstarrte. „Was …? Aber … ich … was ist eine Bremse?“ „Eine Bremse ist etwas, das Gegenstände, die in Bewegung geraten sind, wieder zum Stehen bringt“, erklärte ihm der Pharao. „Es scheint, als habe Samira die Ausdrucksweise meiner Freunde aufgegriffen – zumindest ein wenig davon. Sollte das nicht im Sinne ihrer Erziehung sein, entschuldige ich mich dafür.“ Kipino blickte noch einen Moment lang verdutzt drein, dann seufzte er schwer. „Welche Erziehung?“ „Ich stehe direkt neben dir!“, protestierte der Rotschopf sofort. „Das ist mir bewusst. Aber ich darf wohl aussprechen, was der Wahrheit entspricht.“ „Von wegen Wahrheit!“ „Doch, so ist es. Und nun Schluss damit, wir haben Wichtigeres zu tun!“ Nachdem er ein Machtwort gesprochen hatte, begab sich Kipino an die Seite des Pharaos – was Samira nicht davon abhielt, ihm die Zunge heraus zu strecken. Sie stand eingeschnappt daneben und sah zu, wie der andere Schattentänzer eine Fackel aus den Satteltaschen seines Pferdes holte und sie mit Hilfe von Feuersteinen entzündete. Kurz darauf landete die Fackel in dem dunklen Schacht, während sechs Augen ihrem Fall gespannt folgten. In einer Tiefe von fünfzehn Fuß kam sie auf. Das von ihr ausgehende Licht zeigte, dass die Wände ungleichmäßig genug waren, um daran hinab zu klettern. Atemu nickte. „In Ordnung. Ich werde hinuntergehen. Ihr wartet hier.“ „Tut mir leid, Majestät, aber das wird nicht möglich sein“, entgegnete Kipino. Auf den fragenden Blick hin, der ihm zugeworfen wurde, zuckte er die Schultern. „Anweisung von Risha.“ Atemu seufzte schwer. Rishas Anspannung stieg ins Unermessliche, als die Späher verkündeten, dass ihr Bruder zurückkehrte. Als die Pferde schließlich in die Himmelspforte preschten, wartete sie bereits ungeduldig. Riell war kaum von seinem Reittier gestiegen, da war sie an seiner Seite. Ihr Bruder gab ihr jedoch mit einem einzigen Blick zu verstehen, dass hier weder die rechte Zeit, noch der rechte Ort war, um zu reden. Ihre Augen wanderten unruhig von ihm zu dem schlaffen, viel zu dünnen Bündel, das er eben von seinem Pferd hob. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Sollten das … Reshams Überreste sein? Irgendetwas stimmte nicht. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht. Wortlos folgte sie Riell, der, ohne die Anderen auch nur eines Blickes zu würdigen, zu der Aushöhlung stapfte, die ihm als Schlafplatz diente. Während er hineintrat und das Bündel behutsam ablegte, zog Risha das Tuch am Eingang vor, damit niemand hereinschauen konnte. Keiner von beiden wagte es zunächst, die Stimme zu erheben, als sie alleine waren. Doch irgendwann konnte die Schattentänzerin nicht mehr an sich halten. „Wie schlimm ist es?“ Riell atmete tief ein. Wie sollte er es ihr beibringen? Es selbst mit eigenen Augen zu sehen, war bereits eine Tortur gewesen. Die Kunde von Reshams Zustand weiterzutragen, war noch schlimmer. „Risha …“, begann er zögernd, auf der Suche nach Worten. Er kaute auf seiner Unterlippe, wusste nicht, wie er es erklären sollte. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, dass sie näher kam und sich neben ihn kniete. Sie sah ihn eindringlich an, wandte den Blick dann jedoch ab und streckte die Hand langsam nach dem Leinentuch aus. Sie zuckte zusammen, als Riell plötzlich ihr Handgelenk ergriff. In seinen Augen spiegelten sich Schmerz, Trauer und unbändige Wut. „Überlege es dir gut“, sagte er leise. „Es wird dich in deinen Träumen verfolgen.“ Er konnte sie nicht davon abhalten, die Leiche zu sehen, wenn sie sie sehen wollte. Es war ihr gutes Recht. Es war vielleicht nötig, um mit dem Verlust umgehen zu können. Und dennoch musste er sie warnen, auch, wenn ihm bewusst war, dass sie nicht auf ihn hören würde. Es war seine Pflicht. Rishas Augen wanderten derweil zurück zu dem Leinenbündel. Mit sanftem Druck gab sie Riell zu verstehen, dass er loslassen sollte. Er tat es. Behutsam legte sie die Finger auf das Tuch und ergriff eine Ecke. Ein Alptraum mehr oder weniger … sie musste es wissen. Aus dem Augenwinkel sah sie noch, wie Riell den Kopf abwandte, dann zog sie den Stoff zurück. Es bereitete ihr Mühe, nicht augenblicklich zurück zu weichen. Ihre Augen weiteten sich. Sie gab kein Geräusch von sich, als sie das ganze Ausmaß der Katastrophe betrachtete. Ihre Gedanken schwirrten durcheinander. Was hatten sie ihm angetan? Was, im Namen aller Götter, die sie kannte, hatten sie ihm angetan? Warum? Warum er? Warum der Mann, der selbst im Angesicht des schlimmsten Unglücks noch Hoffnung hatte? Warum der Eine, der selbst gegenüber der widerlichsten Ausgeburt der Unterwelt noch Güte gezeigt hatte? Warum Jener, der es am allerwenigsten verdient hatte? Ihre Hand ballte sich zur Faust. Caesian hatte ihn nicht einfach nur getötet. Er hatte seinen Körper geschändet, seine unendliche Seele zerstört, so wie er Ägypten geschändet und zerstört hatte. Bislang war diese ganze Auseinandersetzung nichts Persönliches gewesen. Risha war nicht dumm. Sie wusste, dass in einem Krieg Menschen starben. Sie hatte zwar Rache für Reshams Tod geschworen, doch sie war sich bewusst gewesen, dass es jeden von ihnen hätte treffen können. Doch nun hatte Caesian die Grenze überschritten. Spätestens jetzt war dieser Krieg etwas verdammt Persönliches. Und dafür würde er leiden. Lange, qualvoll. Sie würde ihn foltern, ihm anschließend Zeit geben, sich auszukurieren, ehe sie ihm wieder Schmerzen bereitete. Immer und immer wieder, solange, bis er brach. Und wenn es bis an ihr Lebensende dauern mochte. Ein Schluchzen riss sie aus den Gedanken. Forschend blickte sie in Riells Tränen überströmtes Gesicht. Er sah zurück. „Alles in Ordnung“, sagte er mit erstickter Stimme und deutete auf eine Träne. „Es hilft. Wirklich, Risha.“ Sie spürte den Kloß in ihrem Hals, unterdrückte ihn jedoch. Sie würde nicht weinen. Sie war stärker als das. „Dafür wird er büßen“, flüsterte sie, sprang auf und verließ die Höhle. Sie kam jedoch nicht weit. Kaum war sie hinausgetreten, wurde sie von Riell am Arm gepackt. „Was hast du vor?“, fragte er mit noch immer gebrochener Stimme. „Er ist zu weit gegangen.“ „Das hast du vorher bereits gesagt.“ „Nun hat er die Grenze endgültig überschritten! Wir dürfen diesen Bastard keinen einzigen Augenblick länger auf Erden wandeln lassen!“ Risha merkte erst, dass sie laut geworden war, als sie zahlreiche Blicke auf sich spürte. „Und was ändert das? Nichts kann ihn jetzt noch retten. Nichts, Schwester. Nichts.“ „So siehst du es also? Was willst du tun, hm? Hier rumsitzen und weiterhin zusehen, wie dieser dreckige Mistkerl alles mit Füßen tritt, was wir kennen und lieben?“ „Nein!“, donnerte Riell mit einem Mal und brachte sie zum Schweigen. „Nein. Nichts liegt mir ferner. Aber ich gedenke, anders vorzugehen, als du. Was glaubst du, wollte er damit bezwecken, dass er uns Vater in diesem Zustand zurückgegeben hat? Genau das, was du tun möchtest. Dass wir blind in unser Verderben laufen, von Hass und Trauer geblendet. Aber das werden wir nicht tun, denn ich weigere mich, diesem Scheusal das zu geben, was er möchte. Deswegen werden wir nicht jetzt gehen. Wir werden überlegen und planen – damit wir ihn endlich ein für alle Mal zur Strecke bringen können.“ Für einen Augenblick standen beide nur da, sahen einander an und schweigen. Schließlich wischte sich Riell mit dem Umhang über das Gesicht. „Folge mir bitte. Es gibt da noch etwas, das wir besprechen müssen.“ Der Abstieg hatte nicht lange gedauert. Bald fanden sich Atemu, Kipino und Samira in einer dunklen Höhle wieder, von der aus ein einzelner Gang abging. Während der Pharao die Fackel vom Boden aufhob, entzündete Kipino zwei weitere. Schließlich setzten sie sich in Bewegung. Zu Beginn hatte Atemu geglaubt, es wäre Einbildung – nun war er sich sicher, dass er hier unten irgendetwas spürte. Etwas Mächtiges. Vielleicht hatten sich die Götter ein weiteres Mal wohlgesonnen erwiesen und ihnen hier tatsächlich den Weg zu einem der Artefakte geebnet. Dennoch blieb er wachsam. Sein Gefühl musste nicht zwingend etwas Positives bedeuten. Sie konnten auch geradewegs in eine Falle tappen. Eine ganze Weile lang folgten sie dem Pfad, der immer weiter abzufallen schien. Hinter einer Biegung endete er plötzlich. Vor ihnen befanden sich drei Treppenstufen, danach gewann die Aushöhlung im Fels an Raum. Atemu versuchte, in der Finsternis etwas zu erkennen, doch das Licht seiner Fackel war nicht stark genug, um seinen Schein weit genug zu werfen. Als er sich weiter umsah, entdeckte er etwas: Links und rechts verliefen an der Wand entlang feine Rillen in der Mauer, die mit einer Flüssigkeit gefüllt waren. Als er sie näher in Augenschein nahm, stellte er fest, dass es Öl war. Ohne lange zu überlegen, entzündete er es. Mit einem leisen Zischen sprang das Feuer auf die Substanz über, fraß sich an ihr entlang immer weiter voran. Bald war Atemu klar, dass sie hier in einer größeren Höhle gelandet waren. Doch was er sah, als sämtliches Öl ringsherum in Flammen stand, übertraf seine kühnsten Vorstellungen. Vor ihnen erstreckte sich eine Höhle, in die der Palast Men-nefers spielend hineingepasst hätte. Sie war angefüllt mit zahllosen Regalen, die wiederum unzählige Schriftrollen fassten und bis unter die Decke reichten. Leitern in regelmäßigen Abständen ermöglichten einen Zugang zu den Schriftstücken. Die gewaltigste Bibliothek, die Atemu jemals gesehen hatte. Die Wände waren über und über mit Götterdarstellungen und Hieroglyphen bemalt. Die meisten davon waren jedoch derart kryptisch gehalten, dass sich der Pharao nicht auf Anhieb einen Reim aus ihnen machen konnte. Von der Neugierde gepackt, ließen er und die beiden Clanmitglieder ihre Fackeln am Eingang zurück und traten zwischen die Regale. „Was ist das hier?“, sprach Samira schließlich die Frage aus, die ihr auf der Zunge lag. „Eine Bibliothek“, erwiderte Kipino knapp. „Das sehe ich selbst! Aber wenn er schon von diesem Ort geträumt hat – den es dann auch noch wirklich gibt – dann muss hier doch irgendetwas Besonderes sein, oder nicht?“, meinte sie und gestikulierte in Richtung Atemu. Der Pharao nickte. „Das sehe ich ebenso. Am besten sehen wir uns ein wenig um. Aber seid auf der Hut.“ Sie teilten sich auf, jeder nahm sich ein anderes Regal vor. Normalerweise hätte sich Samira nichts Ätzenderes vorstellen können, als eine Bibliothek zu durchsuchen. Lesen war nicht gerade ihre Lieblingsbeschäftigung, auch, wenn Kipino ihr dauernd damit in den Ohren lag, dass es nicht jedem vergönnt war, lesen und schreiben zu können. Doch diese Sammlung hier musste irgendetwas Außergewöhnliches an sich haben und sie war fest entschlossen, herauszufinden, was es war. Sie griff sich wahllos drei Schriftrollen aus einem Regal und ließ sich auf dem Boden nieder. Als sie eine davon aufrollen wollte, fiel ihr auf, dass sie mit einem kleinen, hölzernen Schildchen versehen war. Ein Name stand darauf. Achum, Sohn des Totach und der Rasut. Samira runzelte die Stirn. Sie war nie sonderlich aufmerksam gewesen, wenn sie von Kipino unterwiesen wurde, doch die Geschichte ihrer Heimat hatte sie immer interessiert. Von so einem Namen hatte sie jedoch noch nie gehört. Verwundert entrollte die das Schriftstück. Es war nicht sonderlich lang. Sie überflog die Zeilen. Etwa die Hälfte des Dokumentes gab das Leben dieses Achums wieder, das alles andere als spektakulär klang. Dann stockte Samira. Bis zu dem Punkt, an dem es hieß, dass Achum geheiratet habe, war der Texte für sie klar und verständlich. Danach wandelte sich die Ausdrucksform urplötzlich. Sie wurde kryptisch, formelhaft. Wer immer das hier geschrieben hatte, war zum Ende hin wohl übermüdet, senil oder beides gewesen. Kopfschüttelnd legte sie die Rolle beiseite und besah sich die nächste. Doch sowohl bei dieser, als auch bei der darauffolgenden, ergab sich das gleiche Muster. Ein Teil des Textes, mal länger, mal kürzer, war absolut verständlich gehalten. Ab einem gewissen Punkt war er jedoch plötzlich nicht mehr nachvollziehbar. Sie untersuchte noch einige weitere Schriftrollen, wahllos ausgewählt, nur um das gleiche Bild bei allen zu finden. Es war lediglich eine darunter, bei der sich der kryptische Teil nur auf einen Satz beschränkte – eine Rolle über das Leben eines Bauern namens Reshef. Dann stach ihr plötzlich noch etwas ins Auge. Sie legte sämtliche Schriftrollen nebeneinander. Wie war das möglich? Sie schnappte sich die Rollen und suchte Kipino und den Pharao zwischen den Regalen. Als sie beide gefunden hatte, breitete sie die Schriftstücke vor ihnen aus und legte ihre Beobachtung dar. Zunächst sprach sie die wechselnde Ausdrucksform der Texte an. Atemu nickte zustimmend. „Das ist Kipino und mir auch schon aufgefallen. Aber wir haben keine Erklärung dafür.“ „Das ist aber nicht das Einzige“, fuhr der Rotschopf fort. „Seht mal her. Alle Schriftrollen weisen die gleiche Handschrift auf.“ Pharao und Schattentänzer stockten. „Dann hast du wohl zufällig Rollen des gleichen Schreibers genommen. Es liegt nahe, wenn sie nebeneinander im Regal stehen“, versuchte sich Letzterer an einer Erklärung. „Das taten sie aber nicht! Ich habe sie völlig willkürlich herausgenommen.“ Die beiden Älteren tauschten Blicke. „Ich glaube nicht an einen Zufall“, sagte Atemu schließlich. „Aber wie kann es sein, dass ein einziger Mann all diese Schriften verfasst hat?“ Er ließ den Blick umher schweifen. Nein. Diese Arbeit würde den Lebenszyklus eines einfachen Menschen bei weitem übersteigen. „Außerdem enthielt alles, was ich bis jetzt gefunden habe, irgendwelche Lebensläufe. Aber nicht von Königen, großen Kriegern oder dergleichen – sondern von ganz einfachen Menschen, die über ganz Ägypten verstreut leben. Warum würde man so etwas aufschreiben? Und wie soll man all das hier fertigbringen, wenn man auch noch quer durch das ganze Land reisen muss?“, überlegte Samira weiter. „Letztes ließe sich lösen, indem die Leute zum Verfasser kommen – sofern sie es sich leisten können, eine solche Reise auf sich zu nehmen. Bei deinem anderen Argument stimme ich dir zu“, meinte Kipino. „Sehen wir uns weiter um. Wir müssen herausfinden, was das hier ist“, entschied Atemu schließlich und wandte sich ab. Der Schattentänzer tat es ihm gleich. Samira hingegen entschied, mit dem zu arbeiten, was sie bislang herausgefunden hatte. Sie ergriff die Schriftrolle des Bauern Reshef. Sie war am wenigsten kryptisch gehalten. Wenn sie also versuchen wollte aus den verworrenen Worten schlau zu werden, wäre es am besten sie würde hier anfangen. Doch als sie zu der letzten Zeile zurückkehrte, waren die Hieroglyphen nicht mehr dieselben. Als ihre Augen weiter über das Dokument wanderten, erkannte sie, dass sich auch der restliche Text gewandelt hatte. Nun war es nur noch eine Zeile, die nicht mehr in Rätseln geschrieben war, ansonsten war der Text vollkommen unverständlich – und diese eine Zeile sprach von der Geburt eines Mädchens mit dem Namen Kina. Verwirrt blinzelte Samira. Sie war sich absolut sicher, dass das hier gerade eben noch die Schriftrolle des Bauern Reshef gewesen war! Eilig sprang sie auf und suchte die Anderen. Die kleine Gruppe in der Himmelspforte wurde unruhiger, je länger Risha und Riell verschwunden blieben. Der Wutausbruch der Schattentänzerin verhieß nichts Gutes. Irgendetwas war passiert und es hatte mit Reshams Leichnam zu tun. So erschien es, als sei eine Ewigkeit vergangen, als beide aus Riells Behelfsquartier traten und zu ihnen ans Lagerfeuer herüberkamen. Seto erhob sich und ergriff als erster das Wort. „Was ist passiert?“ „Ich möchte nicht darüber sprechen“, erwiderte Riell. „Wir sind in keinen Hinterhalt oder dergleichen geraten. Wir haben lediglich die Leiche meines Vaters zurückgebracht. Das ist alles was Ihr wissen müsst. Der Rest ist Angelegenheit der Schattentänzer.“ Der Hohepriester sah alles andere als überzeugt aus. Doch ehe er etwas sagen konnte, fuhr sein Gegenüber bereits fort. „Von einer Sache möchte ich euch jedoch in Kenntnis setzen“, meinte er und hob einen kleinen Papyrus in die Höhe. Seto hatte den Fetzen bislang gar nicht bemerkt. „Dieses Schriftstück fand ich an dem Leichnam meines Vaters. Es ist an Euch gerichtet.“ Spätestens jetzt hatten beide die gesamte Aufmerksamkeit der Anderen auf sich. Riell machte jedoch keine Anstalten, das Schreiben an Seto auszuhändigen. „Risha und ich haben es bereits gelesen. Wir mussten wissen, was es damit auf sich hat. Eine Nachricht vom Feind an jemanden aus den eigenen Reihen hätte einen Verräter unter uns bedeuten können. Ihr hättet in meiner Situation ebenso gehandelt.“ Der Hohepriester konnte nicht leugnen, dass er das getan hätte. Dennoch riss er den Papyrus aus Riells Fingern, sobald er ihm gereicht wurde. Hektisch entfaltete er ihn. Seine Augen weiteten sich. Wieder und wieder las er den Text. Es konnte, es durfte nicht wahr sein! Mit einem Mal ergab der Regen Sinn. Caesian hatte einen Gott getötet – um ein anderes Leben zurück in diese Welt zu holen. Die Nachricht, die ihm das bestätigte, war ebenso einfach wie furchtbar. Ich habe Kisara. ~*~*~*~ Kapitel 41: Lösung ------------------ „Ich … habe Kisara.“ Wie angewurzelt stand Seto da. Seine Finger, die den kleinen Fetzen Papyrus hielten, zitterten. Die Angst kroch langsam durch seine Glieder, fraß sich auch in jede Faser seines Körpers, während sie einen winzigen, doch hellen Funken Hoffnung und Freude unter sich begrub. Kisara war zurück, genauso wie Atemu. Im Tausch für das Leben eines Gottes. In Caesians Gewalt. Seto wurde schwindelig. Wie um alles in der Welt konnte das Schicksal nur so grausam sein? Waren die Götter tatsächlich schon so schwach, dass sie etwas so furchtbares zulassen mussten? Oder war das nicht der Grund? Hatten sie es einfach so geschehen lassen? Wenn ja, was steckte dahinter? Eine Prüfung? Hatten sie alle denn nicht schon genug gelitten? Warum? Er zerknüllte das Schriftstück in der Faust. „Denk‘ nicht mal dran.“ Bakuras Stimme riss ihn aus den Gedanken. Langsam richtete er seinen Blick auf den Grabräuber, kalt und hart, dennoch so unruhig, wie man Seto seit Beginn dieses Krieges noch nicht gesehen hatte. „Woran?“ Seine Stimme war kaum mehr, als ein Zischen. „Nach Men-nefer zu gehen. Um uns zu verraten oder deinen priesterlichen Hintern sinnlos in Gefahr zu bringen.“ Seto trat langsam näher an ihn heran. „Ich werde mir von einer diebischen kleinen Made nicht sagen lassen, was ich zu tun oder zu lassen habe.“ Sein Gegenüber zuckte nur die Schultern. „Solltest du aber. Ich denke nämlich rational. Du nicht.“ „In jedem Fall sollten wir keine voreiligen Entscheidungen …“ Riell kam nicht dazu, seine Worte zu Ende zu bringen, denn Seto explodierte förmlich. „Und was soll ich deiner Meinung nach tun, hm? Hier herumsitzen und Däumchen drehen, während er sie vielleicht foltert? Sich an ihr vergeht? Sie in einem dreckigen, stinkenden Loch verrotten lässt? Er hat oft genug bewiesen, wozu er fähig ist. Gerade eben wieder – indem er Reshams Leiche zerfleddert und Kisara im Tausch für das Leben eines Gottes aus dem Jenseits gerissen hat! Und ich soll einfach so tun, als sei nichts gewesen?“ „Jep.“ Eisiges Schweigen folgte. Doch Bakura ließ es sich nicht nehmen, sich zu erklären. „Ich weiß, dieser Blickwinkel bleibt dir in deinem momentanen Zustand verborgen. Aber es ist so. Machen wir doch mal ein kleines Gedankenexperiment. Risha spielt dabei Kisara und Riell nimmt deinen Platz ein. Was würdest du ihnen raten, hm?“ Er ließ die Worte einen Moment wirken. „Richtig, du würdest Riell erklären, dass er die räudige Aussätzige doch zu Seth jagen soll. Genau das solltest du ebenfalls tun. Denn es gibt keinen Weg, die Kleine da rauszuholen, ohne Verluste zu machen. Caesian wird sie nicht aus tiefster Herzensgüte heraus hergeben, wenn du lieb fragst. Er wird eine Gegenleistung wollen. Und die Optionen, was das sein könnte, sind vielfältig. Entweder, er fordert dich auf, uns zu verraten. Oder er verlangt ein Relikt im Austausch für das Weib. Vielleicht will er gar alle haben, dafür, dass er sie am Leben lässt. Und am Ende wirst du sie trotzdem nicht wieder kriegen, weil er sie dennoch abmurksen wird, es ist lediglich eine Frage der Zeit. Ich würde dir ja zustimmen, wenn die Kleine noch irgendwelchen Wert hätte, aber seit sie dir ihre Ka-Bestie vermacht hat, ist sie vollkommen nutzlos. Mir ist klar, dass du das nicht so siehst. Bevor du mir eine reinhaust, denk aber mal kurz darüber nach, ob ich nicht Recht habe, wenn man diese Aussage alleine auf unsere Sache hier bezieht. Dann wirst du nämlich erkennen, dass stimmt, was ich sage.“ Seto bebte am ganzen Körper. Unbändige Wut und abgrundtiefe Verzweiflung verschmolzen in seinem Inneren zu einer Woge, die ihn zu ersticken drohte. Verbissen versuchte er das Offensichtliche zu leugnen, bis er es nicht mehr leugnen konnte. Bakura hatte Recht. „Ich soll … also einfach nichts tun?“, presste der Hohepriester zwischen den Zähnen hervor. „Exakt. Alles andere wäre dumm. Und komm nicht mal auf die Idee, alleine loszuziehen. Selbst, wenn man dir zutrauen würde, dass du die Klappe hältst, gleich was Caesian dir oder ihr antut – ich würde dir eher den Hals umdrehen, als dich gehen zu lassen.“ Seto hob den Blick und sah ihn an. Der Grabräuber verdrehte nur die Augen. „Oh weh … denk jetzt bloß nicht, mir würde etwas an dir liegen. Ich würde ein Fass Bier köpfen, wenn du drauf gehst. Aber die Konsequenzen wären unschön. Atemu kann ich noch genug Hirn beimessen, damit er nicht gleich gen Men-nefer reiten wird, wenn er von der Gefangenschaft deiner Holden erfährt. Aber wenn Caesian seinen Vetter umgebracht oder gefangen genommen hätte, wäre ich mir da schon nicht mehr so sicher. Dann ist es am Ende er, der uns alle ins Verderben stürzt – wegen nichts und wieder nichts.“ Ein Klatschen riss beide aus den Gedanken. Es kam von Marlic. „Hätte nicht gedacht, dass ich das mal sagen würde, aber ich stimme Bakura zu.“ Dann schepperte es plötzlich. Joey hatte seinen Becher zu Boden geworfen und war aufgesprungen. Seine Schultern bebten, während seine Augen abwechselnd zwischen Mariks dunkler Seite und dem Grabräuber hin und her wanderten. „Wie feige seid ihr eigentlich?“, zischte er schließlich. „Es geht um ein unschuldiges Mädchen, das mit all dem absolut nichts zu tun hat. Und ihr wollt sie einfach ihrem Schicksal überlassen? Wie wär’s, wenn ihr mal all eure vorgeschobene Logik beiseitelasst – oh nein, streicht das, sie ist ja gar nicht vorgeschoben, denn zu so etwas wie Mitgefühl seid ihr nicht fähig! Gerade hatte ich noch überlegt, euch vorzuschlagen, dass ihr euch mal in seine Lage reinversetzen sollt, aber oh, das würde nicht funktionieren! Denn es gibt ja niemanden, der sich einen Dreck um euch scheren würde, weil ihr gefühlskalte Arschlöcher seid!“ Bakura zog eine Augenbraue nach oben. „Wow. Das trifft mich jetzt hart.“ „Ja“, stimmte Marlic zu. „Ganz tief in meinem verkommenen, schwarzen Herzen. Dann sag du uns doch, was wir stattdessen tun sollten, Blondie.“ „Das, was jeder anständige Mensch tun würde! Nach Men-nefer reiten und Kisara da rausholen!“ „Womit wir wieder beim Thema Sinn und Verstand wären“, mischte sich Risha ein. „Für den Fall, dass du diesen Teil verpasst haben solltest: Es nützt nichts, weil er sie so oder so nicht herausgeben wird. Spätestens, wenn er hat, was er will, schickt er sie ohnehin ins Jenseits zurück.“ „Aber man kann doch nicht von vorne herein aufgeben, ohne es zumindest versucht zu haben!“, schaltete sich nun auch Tristan ein. „Was mischt du dich eigentlich ein?“, erwiderte die Schattentänzerin. „Du weißt nichts von diesem Krieg, also halt dich gefälligst raus.“ „Wenigstens verstehe ich was von Ehrgefühl, aber das Wort scheint in deinem Wortschatz ja komplett zu fehlen. Wundert mich bei der Abstammung kein bisschen!“ „Du dreckiger, kleiner …“ „Leute, das bringt uns doch auch nicht weiter!“, versuchte Tea, sich Gehör zu verschaffen. „Sie hat Recht! Bitte, wir sollten eine Lösung finden, statt uns hier nur gegenseitig zu beschuldigen!“, pflichtete Mana ihr bei. „Hört auf, sofort! Ihr alle!“ Plötzlich wurde es still. Die Augen sämtlicher Anwesenden richteten sich auf Seto. Der Hohepriester zitterte noch immer am ganzen Leib. Seine Kiefer presste er fest aufeinander. Dennoch vermochte er kaum, die Tränen, die aufstiegen, zurückzuhalten. „Ich … muss nachdenken …“, presste er schließlich hervor und wandte sich ab, stürmte davon in Richtung der Höhle, die ihm als Unterschlupf diente. Als er fort war, nahm Riell seine Schwester beiseite. „Wir müssen auf ihn Acht geben. Trauer und Wut verleiten uns Menschen nur allzu leicht dazu, etwas Dummes zu tun.“ Risha nickte bloß, ehe auch sie sich zurückzog. „Samira, das hast du dir nur eingebildet …“ „Nein, hab‘ ich nicht! Ich bin mir ganz sicher, dass diese Schriftrolle eben noch von einem Reshef handelte, der Bauer war. Jetzt geht es plötzlich um eine Kina! Außerdem war sie bis zum letzten Blatt gefüllt, nun stehen da gerade einmal drei Sätze!“ „Du wirst sie versehentlich vertauscht haben. Bei all den Rollen hier, würde es mich nicht wundern, wenn …“ „Ich habe sie aber nicht vertauscht, Kipino! Das wäre gar nicht möglich gewesen! Das war eine von denen, die ich euch gezeigt habe! Ich habe sie in der Zwischenzeit nicht zurück in ein Regal gelegt. Nachdem ihr weg wart, habe ich sie wieder aufgerollt und festgestellt, dass sie sich verändert hat!“ „Dann hast du die Schriftrolle von diesem Bauern wahrscheinlich gar nicht erst mitgebracht, sondern sie schon mit dieser hier verwechselt, bevor du überhaupt zu uns gekommen bist! Sei doch nicht immer so stur, jeder macht einmal Fehler!“ „Ich habe aber keinen gemacht! Ich sage die Wahrheit!“ Atemu hatte sich aus dem Streit herausgehalten, Samira aber dennoch aufmerksam zugehört. Er konnte nicht sagen, was, aber irgendetwas an ihrer Beharrlichkeit verleitete ihn dazu, einige Schriftrollen aus einem Regal zu ziehen und auf dem Boden auszubreiten. Zunächst las er sie aufmerksam. Mit dem Fingernagel machte er dann kleine Einkerbungen an den Stellen, wo der Text unleserlich wurde und prägte sich die Namen der Personen, von denen die Papyri handelten, von rechts nach links ein. Um nicht nur nutzlos herumzusitzen, während er darauf wartete, dass sich Samiras Behauptung eventuell bestätigen würde, erhob er sich und besah sich die Wände der Bibliothek genauer. Schließlich wanderte sein Blick zur Decke hinauf und blieb dort hängen. Eine riesige Mythendarstellung zierte das Deckengewölbe. Atemu kannte die Geschichte, die sich dahinter verbarg, gut. Als kleiner Junge hatte er sie oft gehört. Es war, als würde er der Stimme seines Vaters lauschen, während er dort hinauf starrte. „Es gab eine Zeit, da hatten sich die Menschen von den Göttern abgewandt. Sie rebellierten und würdigten die, die ihnen einst das Leben geschenkt hatten, nicht mehr. Der Gott Re war darüber sehr zornig, nach allem, was er für sie getan hatte. So rief er seine Tochter, die Göttin Hathor, zu sich und trug ihr auf, die Menschheit zu bestrafen. Sie verwandelte sich in ein gewaltiges Raubtier und wütete auf Erden. Sie richtete ein gewaltiges Gemetzel an, bis sie sich am Blut der Menschen satt getrunken hatte. Re sah, wie die Menschen litten durch das, was er ihnen angetan hatte. Und er bekam Mitglied. So wies er Hathor an, es dabei zu belassen. Doch die Göttin hatte Geschmack am Menschenblut gefunden und weigerte sich, ihm Folge zu leisten. Re wusste da, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie ihr Durst wieder morden ließ. Er musste etwas unternehmen. So befahl er, Bier zu brauen, viel davon, und versetzte es mit rotem Ocker. Anschließend wies er an, das Bier dort auszugießen, wo Hathor als nächstes jagen würde. Als sie damit fertig waren, stand es drei handbreit hoch auf dem Wüstensand. Tatsächlich erschien Hathor daraufhin. Da entdeckte sie das vermeintliche Blut und begann sogleich zu trinken, bis sie vollkommen betrunken war, sodass sie die Menschen nicht mehr kümmerten. So hat Re die Menschen gerettet. Wo er zuvor noch wütend auf sie gewesen war, herrschte nun nur noch Traurigkeit über ihr Verhalten. Und so kam es, dass er sich von den Menschen distanzierte, indem er zum Himmel aufstieg. Dennoch wacht er bis heute über sie. Was ist die damit sagen möchte, Atemu, ist, dass sich jeder Mann gut überlegen sollte, welche Mächte er freisetzt … Für Re ist es noch einmal gut gegangen. Doch wir Menschen sind nicht so stark, wie die Götter. Überlege dir immer gut, welche Folgen das haben könnte, was du im Begriff bist, zu tun. Vergiss diesen Ratschlag niemals … nicht so, wie dein Vater …“ Atemu hatte erst Jahre später verstanden, was sein Vater damit gemeint hatte. Erst, als er all die Verwüstung erlebt hatte, die die Milleniumsgegenstände ihrer Zeit hatten anrichten können, war im bewusst geworden, wie sehr der König darunter gelitten haben musste – unter dem Wissen, dass er diese Kraft entfesselt hatte und anders, als der Gott Re, nicht in der Lage war, sie wieder zu bändigen. Caesian hatte nun den gleichen Fehler begangen. Atemu zweifelte nach wie vor daran, dass er auch nur den Hauch einer Ahnung hatte, was er mit dem Missbrauch der göttlichen Relikte anrichtete. Nun war es an ihnen, dem Einhalt zu gebieten. Er riss sich von der Darstellung los und kehrte dorthin zurück, wo er die Schriftrollen hatte liegen lassen. Er bemerkte, dass er hier, fernab des Himmels, sämtliches Zeitgefühl verloren hatte. War es noch Tag oder bereits Nacht? Wie lange hatte er über der mythischen Darstellung gegrübelt? Er schob den Gedanken beiseite. Egal, wie lange sie schon hier waren, es wurde Zeit, dass sie herausfanden, warum Atemu diesen Ort im Traum gesehen hatte. Er kniete sich nieder und nahm die Texte eingehend in Augenschein. Tatsächlich. „Kipino, Samira! Habt ihr einen Moment?“ Es dauerte nicht lange, dann waren sie an seiner Seite. „Habt Ihr etwas gefunden?“, erkundigte sich der Schattentänzer. Atemu erhob sich. „In der Tat. Samira hatte Recht.“ „Wie …?“ „Ich hab’s doch gleich gesagt! Dann haben sich die da also auch verändert?“, hakte die Kleine mit Fingerzeig auf die Papyri nach. „Allerdings. Seht ihr diese Einkerbungen? Ich habe sie an den Stellen gemacht, an denen der Text nicht mehr verständlich war. Nun werden die Worte erst ein Stück weiter unten kryptisch. Zuvor hatte ich auch den Inhalt studiert und ich kann bestätigen, dass ein paar neue Zeilen hinzugekommen sind.“ „Aber … wie um alles in der Welt ist das möglich?“, murmelte Kipino. „Ich weiß es nicht“, gab Atemu zu. „Wir können uns nun sicher sein, dass Samiras Beobachtung kein Irrtum war. Aber was es ist, ist mir schleierhaft.“ „Da hilft nur eines: Weitersuchen!“, verkündete Samira und sprang davon. „Ich wäre ja dafür, erst einmal mit dem zu arbeiten, was wir bereits haben. Das alles muss doch irgendeinen Sinn ergeben. Erst Euer Traum. Dann diese seltsamen Schriftstücke …“ „Ja. Jetzt müssen wir herausfinden, was es damit auf sich hat. Die Texte lesen sich fast wie Lebensgeschichten. Aber wer sind diese Menschen? Und warum wird ihr Leben hier schriftlich festgehalten? Ich weiß nicht, wie es Euch geht, aber ich bin bei der Lektüre über nichts Außergewöhnliches gestolpert, nur über Erzählungen vom Dasein armer wie mächtiger Menschen …“ Kipino nickte zustimmend. „Genau den gleichen Eindruck habe ich auch …“ „Nun gut … vielleicht hat Samira Recht und wir finden irgendwo noch Hinweise“, entschied Atemu schließlich. „Lassen wir uns die Fragen einfach weiter durch den Kopf gehen und sehen, ob es hier noch Teile gibt, die dieses Mosaik ergänzen könnten.“ Damit teilten sie sich erneut auf. Der heiße Wüstenwind trieb den Sand vor sich her. Zwar hatte sich die Nacht längst über das Land gelegt, doch der Hitze tat dies keinen Abbruch. Es würde dauern, bis die Luft kühler wurde. Die beiden Wachtmänner hatten ihre Schicht noch nicht lange begonnen, doch schon jetzt hatten sich die Sandkörner in jede Falte von Haut und Kleidung gesetzt. Immer wieder rieben sie sich die Augen, wenn erneut Dreck hinein gelangte. Sie waren es gewohnt und trieben ihre Pferde weiter am Grünstreifen des Nils entlang. In ihrer Heimat wäre es ihnen nicht anders ergangen. Und dennoch störte es zumindest einen von ihnen. „Hatte seine Majestät nicht gesagt, hier würde alles besser werden? Warum sind wir dann immer noch hier draußen unterwegs und setzen uns dem Sand aus, anstatt in einer Schänke den Freuden des Lebens zu frönen? Einige dieser Ägypterinnen sind wirklich hübsch anzusehen, da läuft einem fast das Wasser im Mund zusammen.“ „Hör auf, dich zu beschweren“, erwiderte sein Begleiter. „Ja, Caesian hat gesagt, dass wir es hier besser haben würden. Er sagte aber auch, dass viel Arbeit vor uns liegt und jeder seinen Teil dazu würde beitragen müssen.“ „Würde ich ja gerne! Indem ich unserer Armee ein wenig Zuwachs verschaffe!“, entgegnete der Andere feixend. „Unsere Aufgabe ist es aber, Wache zu halten. Und jetzt konzentriere dich, wenn uns etwas entgeht, könnte das fatale Folgen haben.“ „Von wegen! Dieses Land gehört längst uns! Der Pharao ist davon gerannt, wie ein verschreckter Schakal! Lass uns mal anhalten, ich hab‘ da was zu erledigen.“ Sie zügelten die Pferde, woraufhin er im Gebüsch verschwand. Als er kurze Zeit später zurückkehrte, war er noch immer nicht von seiner Ansicht abgerückt. „Mal ehrlich, wovor sollen wir uns denn hier noch fürchten?“ „Der Pharao befindet sich noch immer dort draußen. Er könnte jederzeit zuschlagen. Solange nicht sämtliche Relikte in Caesians Besitz sind, sind wir hier nicht fertig.“ „Dabei könnte ich vielleicht behilflich sein …“ Augenblicklich zückten die beiden Wachtmänner ihre Schwerter und fuhren herum. Vor ihnen, im Schatten einer Palme, stand eine Gestalt. „Wer bist du?“ Ihr Gegenüber grinste nur, während er langsam aus dem Dunkel heraus und in das Licht des Mondes trat. Die beiden Soldaten wussten nicht, weswegen, doch irgendetwas an seiner Ausstrahlung brachte sie dazu, ein Stück zurück zu weichen. „Das … ist nicht von Bedeutung“, entschied der Fremde schließlich. „Das Einzige was zählt, ist, was ich euch anzubieten gedenke.“ „Und das wäre?“ Der Andere kicherte. „Nicht euch direkt, ihr Idioten! Eurem König.“ Die Wachtmänner tauschten Blicke. Währenddessen veränderte sich der Gesichtsausdruck des Fremden. Sämtliche Belustigung verschwand und wurde ersetzt durch eiserne Entschlossenheit. „Bringt mich zu Caesian. Sofort.“ „Kipino, Möchtegern-König, ich glaube, ich habe etwas gefunden!“, riss sie Samiras Rufen aus den Gedanken. Atemu überging die Anrede gekonnt und begab sich, ebenso wie der Schattentänzer, zurück auf einen der Hauptgänge, der durch die Regal führte. Vom anderen Ende der Bibliothek her winkte die Rothaarige ihnen zu, ehe sie wieder in einem Seitenflur verschwand. Als sie das Mädchen erreicht hatten, erwartete sie sie bereits. „Könnte das hier vielleicht wichtig sein?“, meinte sie und zeigte den Gang hinab. Er endete in einer steinernen Wand, die über und über mit Hieroglyphen beschrieben war. Doch das war es nicht, was die Aufmerksamkeit von König und Clanmitgliedern auf sich lenkte. In der Mauer befand sich eine Nische, gerade groß genug, damit ein Mann darin Platz gehabt hätte. Die mit Öl gefüllten Rinnen, die die ganze Bibliothek umspannten, endeten links und rechts des Durchlasses. Im Halbdunkel der Vertiefung erkannten sie ein hölzernes Podest, dessen obere Fläche schräg geschnitzt worden war. Eine dünne Querstrebe ab unteren Ende verhinderte, dass das, was darauf lag, herunter rutschen konnte. Von dieser gehalten wurde eine reich mit Gold verzierte und aus feinstem Papyrus gearbeitete Schriftrolle. „Was, bei Anubis, ist das?“, sprach Kipino schließlich den Gedanken aus, der ihm durch den Kopf ging. „Ich weiß es nicht. Noch nicht“, erwiderte Atemu und trat näher heran. Sein Blick ruhte auf den Hieroglyphen, die die Wand über der Nische zierten. Versucht es nicht, könnt nicht entkommen, dem, was das Schicksal euch ersonnen. Selbst der Gott vermag es nicht, zu gehorchen ist auch seine Pflicht. Der Sonnenlauf, er ist nicht aufzuhalten, wie der Menschen Leben, der Lauf der Gezeiten. Ebbe und Flut – was der Nil lange kennt, ist auch den Geschöpfen nicht fremd. Nichts kann ewig dauern, drum sollt ihr nicht trauern, wenn sie euch ruft in die Dunkelheit, sie, die Eine – die … „Im Namen aller Götter!“, stieß Kipino hervor und sank auf die Knie. „Das … das ist … ich kann es nicht fassen!“ Selbst Samira war wie gelähmt. Ihre Augen wanderten unablässig über die Schriftzeichen, wieder und wieder. Sie hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit. Atemu war augenblicklich klar, dass sie hier eine bedeutende Entdeckung gemacht haben mussten – selbst, wenn ihm die Zeilen noch längst nicht so viel verrieten, wie den Schattentänzern. Auch er las die letzte Strophe erneut. Nichts kann ewig dauern, drum sollt ihr nicht trauern, wenn sie euch ruft in die Dunkelheit, sie, die Eine – die Seele der Zeit. Kapitel 42: Verrat ------------------ Stille durchdrang den Thronsaal des Palastes von Men-nefer. Caesian saß auf dem Stuhl, der eigentlich Atemu zu eigen war. Er hatte die Finger ineinander verschränkt, während sein Blick durch den Raum schweifte. Die feinen Meißelungen der Wände, manche Jahrzehnte, einige bereits Jahrhunderte alt, hatte er tilgen lassen. Sie waren Göttern geweiht gewesen, die hier keine Macht mehr besaßen. Caesian hatte lange überlegt, ob er neuen Wandschmuck in Auftrag geben sollte. Doch diese Idee hatte er ebenso rasch verworfen, wie sie ihm gekommen war. Mit neuen Wandbildern konnte er die Götter verhöhnen. Doch nur kahler, nackter Stein verdeutlichte, was sie wirklich waren. Besiegt, gebrochen, vergangen. Nichts. Ein Lächeln huschte über seine Züge. Ja. Er hatte geschafft, was niemand zuvor je vermocht hatte. Er hatte sich das uneinnehmbare Königreich der Wüste unterworfen. Ägypten war sein und er konnte damit verfahren, wie immer es ihm beliebte. Er konnte seine Ankunft kaum mehr erwarten. Caesian wurde als den Gedanken gerissen, als einer seiner Untergebenen in den Thronsaal eilte. Er kniete vor seinem Herrn nieder. „Was gibt es?“, erkundigte sich der Tyrann gelangweilt. Was war es diesmal? Nicht genügend Steinblöcke? Zu wenige medizinische Mittel? Zu wenig Bier? Dass dieses Gewürm auch nichts ohne sein Zutun erreichte! „Majestät, da ist jemand, der Euch zu sehen wünscht.“ „Und das wäre?“ „Einer von ihnen. Aus dem Gefolge des Pharao.“ Caesian zog zunächst eine Augenbraue in die Höhe, ehe ein diabolisches Grinsen auf seine Züge kroch. „Ich wusste, die Kleine würde von Nutzen sein. Schickt ihn herein.“ „Sehr wohl, mein Herr.“ Als der Soldat davon eilte, vermochte sein Herr kaum, seine Freude im Zaum zu halten. Seto war also tatsächlich gekommen. Wenn er alleine hier war und sich offen stellte, konnte das nur eines bedeuten: Er wollte verhandeln. Nicht mehr lange und der Pharao würde vor ihm im Staub kriechen, ehe er ihn ein für alle Mal zerschmetterte! Als sein Untergebener zurückkehrte, war Caesian bereits dabei, sich zu erheben. Doch er verharrte schlagartig auf dem Thron, als er sah, wer dem Soldaten da tatsächlich in den Saal hinein folgte. Das war nicht der Hohepriester. Ganz und gar nicht. Vor ihm stand jemand völlig anderes. Er kannte ihn dennoch, erinnerte sich flüchtig an ihn. Er hatte ihn gesehen, ehe er die Stadt eingenommen hatte. Zweifellos einer von ihnen. Doch was hatte er hier zu suchen? Caesian verbarg seine Überraschung eilig, erhob sich und wies seine Wachen an, sie alleine zu lassen. Kurz darauf schlossen sich die schweren Holztüren des Thronsaals mit einem krachenden Laut. Dann war es still. Eine drückende, angespannte Stille, während sich die beiden Männer einfach nur ansahen. Der Blick des Einen geprägt von Neugierde, der des Anderen von absoluter Überzeugung, ganz so, als gehöre er genau hier hin, in eine Stadt, die vor Feinden nur so wimmelte. „Was …“, zerschnitten Caesians Worte schließlich das Schweigen, „… hast du hier zu suchen?“ Ein amüsiertes Lächeln zeigte sich auf den Lippen seines Gegenübers. „Ich bin gekommen, um dir ein Angebot zu unterbreiten. Eines, das du nicht ablehnen solltest, willst du den Pharao und seine Bande jemals in die Knie zwingen.“ Der überraschte Gesichtsausdruck kehrte zurück. Caesian musterte sein Gegenüber von oben bis unten. „Mir schien, du wärst auf ihrer Seite.“ Ein Glucksen war die Antwort. „Viele Menschen glauben, Dinge in mir zu sehen, die nicht sind.“ Der fremde Herrscher schritt die wenigen Stufen, die von Thron herunter führten, hinab. Er war misstrauisch, sehr sogar. Versuchte man etwa, ihm hier eine Falle zu stellen? Er verdrängte den Gedanken schnell. Selbst wenn dem so war, wovor brauchte er sich fürchten? Vor nichts. Rein gar nichts. „Welchen Grund könntest du wohl haben, dich plötzlich gegen sie zu stellen?“, überlegte Caesian laut. „Ist das von Bedeutung?“, entgegnete der Andere. „Ich würde sagen, dass es das nicht ist. Lediglich das Ergebnis ist entscheidend.“ „Verstehe mich nicht falsch, mein Guter. Es ist nicht so, als bräuchte ich dich oder einen eventuellen Hinterhalt zu fürchten. Meine Macht ist bereits jetzt unermesslich, das müssen selbst du und deine Freunde inzwischen begriffen haben. Nein, ich bin einfach nur neugierig. Aber nun gut, wenn die den Geheimnisvollen mimen möchtest, soll es so sein. Ob deine Beweggründe von Bedeutung sind, werde ich entscheiden, sobald ich dein Angebot gehört habe.“ „Schon besser“, entschied sein Gegenüber, schritt an Caesian vorbei und ließ sich auf dem Thron nieder. Der Tyrann war von der Selbstverständlichkeit der Geste überrumpelt, auch wenn er es nicht zeigte. Einen Augenblick dachte er daran, diese freche Ausgeburt der Wüste zurecht zu weisen, doch er hielt sich zurück. Sollte er ein paar Augenblicke auf dem Platz verbringen, den er niemals innehaben würde. „Man sitzt gut hier“, befand der Andere schließlich und schwang die Beine über eine Armlehne. „Sehr gut sogar.“ „Allerdings“, bestätigte Caesian. „Doch nun genug des Geschwätzes. Was für ein Angebot ist es, das du mir unterbreiten möchtest?“ „Da ist jemand ungeduldig, hm?“, neckte sein Gegenüber. „Mir soll es gleich sein, ich habe ebenfalls nicht den ganzen Tag Zeit. Nun, im Grunde könnte man sagen, ich biete dir die Lösung deines, momentan scheinbar einzigen, Problems an. Du hast nicht den Hauch einer Ahnung, wo sich der Pharao und seine Bande befinden – das bedeutet, du kannst sie weder vernichten, noch dich der Relikte bemächtigen, die sie in ihrem Besitz haben. Unschön, nicht wahr? Das trübt die ansonsten so fröhliche Wiederaufbaustimmung gewiss, habe ich nicht recht?“ Caesian schnaubte. „Ich werde sie früher oder später finden. Sie können sich nicht ewig verstecken. Schon alleine, weil es das Temperament dieses Packs nicht zulässt, wie sich in den vergangenen Tagen zeigte.“ „Ah, der Überfall auf das Schattentänzer-Loch. Ja, sie hatten diesen Schritt geplant, als ich sie das letzte Mal sah. Deinem Ton nach hat ihr Plan funktioniert und sie haben die Schriften erlangt.“ Er unterbrach kurz, als er Caesians Gesichtsausdruck gewahrte. „Ach, sieh an. Du wusstest bislang noch gar nicht, was genau sie entwendet haben, habe ich recht?“ Caesian biss sich kurz auf die Unterlippe, ehe er gespielt seufzte. „Nun, ich kann leider nicht von mir behaupten, die fähigsten Männer unter mir zu haben. Sie waren nicht in der Lage, mir einen Hinweis darauf zu geben, was entwendet worden sein könnte. Und da sie versäumt haben, die Bestände dieses Rattenlochs nach meinen Anweisungen zu erfassen, war es auch auf diesem Weg nicht möglich, Genaueres in Erfahrung zu bringen. Ich kann dir versichern, dass ihr Tod kein leichter war.“ „Du meinst derer, die den Angriff überlebt haben? Es waren gewiss nicht viele“, entgegnete sein Gegenüber und grinste. Ehe Caesian ausfallend werden konnte, fuhr er fort: „Um deine Frage zu beantworten – und damit meinen guten Willen für eine Zusammenarbeit zu zeigen – will ich dir verraten, was gestohlen wurde. Sie haben Schriftrollen geholt, die bei der überstürzten Flucht der Schattentänzer zurückgelassen worden waren.“ Der Tyrann zog die Augenbraue in die Höhe. „Wozu?“ Der Andere nahm die Beine von der Armlehne und beugte sich vor. „Nicht irgendwelche Papyrusfetzen, mein Lieber. Aufzeichnungen, die angeblich Hinweise auf die Fundorte der verbleibenden göttlichen Relikte geben.“ Das Leuchten, das sich augenblicklich in den Augen des selbsternannten Herrschers zeigte, ließ ihn erneut grinsen. „Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass du diese Schriftstücke mindestens ebenso gerne hättest, wie die Köpfe des Pharaos und seiner Bande. Von den Artefakten, die sie in ihrem Besitz haben, einmal ganz abgesehen.“ Er ließ sich zurück in den Thron sinken. „Und ich weiß rein zufällig, wie du an all das kommen kannst. Doch ich warne dich vor falschen Gedanken. Als Geisel werde ich dir nichts nützen. Als Gefangener noch weniger. Wie sieht es also aus, Caesian? Nimmst du mein Angebot an?“ Der Herrscher überlegte einen Augenblick. Schließlich zeigte sich wieder das unheilvolle Lächeln auf seinen Lippen. „Allerdings, das werde ich. Doch ehe wir uns ausführlicher über das unterhalten, was du weißt, möchte ich noch zwei Dinge klären.“ „Die da wären?“ „Nun, ich sollte vielleicht wissen, mit wem ich zusammenarbeite. Zudem weiß ich, dass alles auf dieser Welt seinen Preis hat. Was ist der deine?“ Der Andere erhob sich, ein diabolisches Grinsen, das schon beinahe unmenschlich wirkte, auf den Zügen. „Mein Name ist Keiro. Und was ich will, ist, dass du Risha mir überlässt.“ Atemus Augen wanderten Mal um Mal über die Zeilen, die in seinem Kopf keinen Sinn ergeben wollten. Schließlich wandte er den Blick ab und sah zu Kipino und Samira hinüber, die beide mit offenen Mündern auf die Schriftrolle starrten. „Was … ist das hier?“, sprach er seine Frage schließlich aus. Samira antwortete, ohne ihn anzusehen. „Die Seele der Zeit …“, hauchte sie. Sie wirkte wie gebannt. Atemu sagte nichts ob der wenige aussägekräftigen Erwiderung, sondern geduldete sich, bis Kipino seine Starre überwunden hatte. Langsam erhob sich der Schattentänzer. Auch seine Stimme war kaum mehr als ein ehrfürchtiges Flüstern. „Euer Majestät … wenn ihr nach etwas gesucht habt, das uns zum Sieg über Caesian verhelfen kann … ich denke, dann haben wir es nun gefunden.“ Schließlich sah er dem Herrn der beiden Länder in die Augen. „Wir haben gar nicht mehr daran geglaubt, dass sie existiert. Generationen von Menschen haben nach einem wundersamen Ding gesucht, das mit dem Blut der Götter geschrieben ist und die Geschicke der Lebenden kennen soll. Niemand hat es gefunden – bis heute.“ Kipino trat näher an das Schriftstück heran und Atemu tat es ihm gleich. Einen Augenblick schwiegen beide, ließen ihre Blicke über die Zeilen wandern, die mit rotem Lebenssaft auf dem feinen Papyrus niedergeschrieben waren. „Euer Hoheit“, ergriff der Schattentänzer schließlich wieder das Wort, „dürfte ich fragen, was ihr dort lesen könnt?“ Atemu war einen kurzen Moment verwundert, dann nickte er. „Gewiss. Der Papyrus beschreibt die jüngsten Ereignisse. Den Krieg. Den Fall Men-nefers. Er kennt gar den Traum, der mich hier her geführt hat, in allen Einzelheiten. Er erzählt alles, was geschehen ist, bis zum jetzigen Zeitpunkt. Ab da ist er ebenso kryptisch und unverständlich verfasst, wie all die anderen Schriften hier.“ „Er kennt euren Traum in allen Einzelheiten, sagt Ihr?“ „Ja. Verzeih die Frage, doch ich habe geglaubt, du wärst des Lesens mächtig. Ist dem nicht so?“ „Sehr wohl. Doch alles was ich lese, ist, dass Ihr träumtet. Es steht nichts Ausführliches über die Begebenheiten in eurem Traum darin.“ „Aber natürlich! Sieh …“ Atemu brach abrupt ab. Er begriff binnen eines Wimpernschlags, worauf sein Gegenüber hinaus wollte. „Die Seele der Zeit … Sie weiß über das Schicksal der Menschen Bescheid – eines jeden Einzelnen. Jeder, der sie betrachtet, sieht seine eigene Geschichte vor sich. Du wusstest davon, dass ich geträumt habe und obgleich ich euch allen geschildert habe, was ich sah, konntet ihr euch lediglich vorstellen, wie es gewesen sein muss. Ihr habt es nicht selbst gesehen, deshalb …“ „… ist es kein Teil meiner Geschichte“, vervollständigte Kipino den Satz und nickte. „Der kryptische Teil wiederum“, fuhr Atemu fort, „kann, sowohl hier, als auch bei allen anderen Schriften in diesem Gewölbe, nur eines sein: Das, was wir noch nicht wissen. Das, was noch kommen wird. Das, was noch nicht in Stein gemeißelt ist.“ „Die Zukunft“, murmelte Samira. „Aber wie soll uns dieser Papyrus dann weiterhelfen? Die Vergangenheit kennen wir alle nur zu gut. Das, was uns noch bevorsteht, ist, was uns Sorgen bereitet. Aber bei all dem wirren Gefasel finden wir niemals heraus, was uns erwartet und was zu tun ist, um das Unheil abzuwenden. Es ist vollkommen nutzlos“, setzte sie niedergeschlagen hinterher. „Falsch“, sagte Atemu und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. „Diese Entdeckung wird uns von großem Nutzen sein.“ „Aber wie?“, hakte die Rothaarige nach. „Es wird nicht einfach sein, sie zu unserem Vorteil nutzen. Aber die Götter geben uns dennoch eine mächtige Waffe an die Hand. Alles, was wir noch tun müssen, ist, sie zu entschlüsseln.“ „Was schwierig werden könnte. Seht selbst!“, mischte sich Kipino ein. Die anderen beiden folgten dem Fingerzeig des Schattentänzers und betrachteten den unteren Textabschnitt eingehend. Sie versuchten, ihn zu lesen, doch brachen immer wieder ab, da sich die Worte plötzlich veränderten. Mal um Mal wandelte sich der Inhalt. „Was hat das zu bedeuten?“, sprach Kipino die Frage, die ihm auf der Seele brannte, laut aus. Er war überrascht, als Atemu nur verstehend nickte. „Ich glaube, ich weiß es. Der Teil des Weges eines Menschen, der noch vor ihm liegt, ist verworren. Es gibt so viele Möglichkeiten, was uns widerfahren könnte, allesamt abhängig von unseren und den Entscheidungen anderer. Unserer Freunde, aber auch unserer Feinde. So vieles bestimmt und beeinflusst unser Leben, ohne dass wir es selbst wahrnehmen. Diese Schrift kann uns keine Antworten auf all die Fragen geben, die wir haben. Wir müssen weise wählen.“ Er trat vor und legte eine Hand auf den Papyrus. Dann schloss er die Augen. Er fokussierte seine Gedanken auf eines der Relikte, nach dem sie bislang vergeblich suchten. Bitte, lass es ihn noch nicht gefunden haben, schoss es ihm durch den Kopf, doch er verdrängte den Gedanken rasch. Gerade war kein Platz für Caesian. Alles, woran er dachte, durfte das Anch des Horus sein. Eine gefühlte Ewigkeit verging, bis er die Finger von dem Schriftstück löste und auf den Text hinabsah. Kipino sah ihm neugierig über die Schulter. Er seufzte. „Es scheint als …“ „… habe es funktioniert. Ich weiß nicht, was du siehst, mein Freund. Für mich jedenfalls sind die Worte konstant. Sie wandeln sich für den Augenblick nicht mehr“, unterbrach Atemu ihn. Samira schob den König Ägyptens ein Stück zur Seite, um selbst einen Blick auf den Papyrus zu werfen. „Also wenn Kipino das Gleiche sieht wie ich, dann ist der Text absolut unverständlich. Was kannst du denn sehen?“ „Hier steht …“ Vom Firmament gestoßen, auf Erden verborgen der Königsglanz. Erstickt vom Leben, verschluckt von Blut, vergessen im Licht. Teil der Vergangenheit, Stück der Gegenwart, Symbol der Zukunft. Zunächst herrschte Schweigen. Dann raufte sich Samira die Haare. „Und wie soll uns das weiterhelfen? Woran hast du überhaupt gedacht?“ „An das Anch des Horus. Seinen Fundort“, erklärte Atemu. „In jedem Fall ergibt das, was du eben sagtest, schon einen größeren Zusammenhang, als das, was ich eben noch gelesen habe. Man merkt immerhin, dass der Text auf etwas hinaus möchte“, befand Kipino. „Und worauf, du Schlaumeier?“ Atemu seufzte. Er würde ein ernstes Wörtchen mit Joey und Tristan reden müssen, sobald sie wieder in der Himmelspforte waren. Früher oder später würden sich die Schattentänzer daran stören, wenn ihr Nesthäkchen derlei Ausdrücke benutzte. „Ich denke, wir können uns darauf einigen, dass die ersten drei Zeilen das Anch des Horus beschreiben. ‚Vom Firmament gestoßen‘ und ‚auf Erden verborgen‘ meint die Handlung der Götter, bei der sie ihre Gefühle in Relikte sperrten und sie in Ägypten versteckten. Der Königsglanz ist ein Synonym für das Anch selbst.“ „Das würde ich auch so sehen“, stimmte Kipino zu. „Sehen wir uns die nächsten Zeilen an. ‚Erstickt vom Leben, verschluckt von Blut, vergessen im Licht‘ … was könnte damit bloß gemeint sein?“ „Hm … wie wäre es mit einem Friedhof?“, meinte Samira. „Ein Friedhof ist Zeichen dafür, dass das Leben vorbei ist. Er hat mit dem Sterben zu tun, wozu Blut und Licht passen würden.“ „Aber nichts in diesem Kontext“, widersprach Atemu. „Der Tod erstickt uns, nicht das Leben.“ „Zumal alles in unserer Kultur danach strebt, eben genau das abzuwenden, was die dritte Zeile dieses Absatzes beschreibt. Wir tun alles, um nicht vergessen zu werden“, führte Kipino den Gedanken weiter aus. „Deine Überlegung würde eher zum letzten Abschnitt passen. Friedhöfe sind ein Teil von Vergangenheit und Heute, sie halten die Toten gegenwärtig. Zugleich symbolisieren sie das ewige Leben, wofür die Zukunft stehen würde. Allerdings erklärt das die voran gegangenen Zeilen noch immer nicht. Unter dem Kontext des Sterbens passen sie einfach nicht zueinander.“ „Dann vielleicht ein Schlachtfeld“, mutmaßte Samira weiter. „Das Leben des Einen erstickt das des Anderen. Blut ist dort viel zu finden, man könnte meinen, es könne einen wortwörtlich verschlucken. Und wir versuchen oft, das Schreckliche, was dort geschehen ist, im Schein des Sieges zu vergessen.“ „Wenn wir einmal davon ausgehen, dass uns die Seele der Zeit eine eindeutige Antwort mitzuteilen versucht, dann stehen wir abermals vor einem Widerspruch. Das Anch kann nicht auf einem Friedhof und einem Schlachtfeld zugleich sein“, sagte Atemu. „Und wenn das Schlachtfeld nun der Friedhof ist?“, warf die Rothaarige ein. „Dann stehen wir vor einem Problem. Seitdem die Götter die Relikte versteckt haben, gab es hunderte, vielleicht gar tausende Schlachten im gesamten Land“, erklärte Kipino. „Eben deswegen glaube ich, dass wir mit der Annahme eines Friedhofs oder Schlachtfeldes falsch liegen. Die Götter haben mir im Traum Hinweise auf den Fundort der Seele der Zeit gegeben. Warum also sollten sie uns etwas an die Hand geben, das uns kaum nützt, wenn sie uns doch offensichtlich helfen möchten? Nein, ich denke, die Antwort wird viel eindeutiger ausfallen müssen, erst dann sind wir auf der richtigen Spur.“ „Ach ja? Und wie soll die aussehen, oh großer Ich-Weiß-Alles-Besser?“, meinte Samira mit schnippischem Ton, während sie die Arme verschränkte. Doch Atemu ließ sich von ihrer Angespanntheit nicht aus der Ruhe bringen. „Wenn man nicht weiterkommt, hilft es ab und an, in eine vollkommen andere Richtung zu denken. Gehen wir es einmal von der anderen Seite her an. Fokussieren wir uns nicht auf den Tod, sondern auf das Leben. Inwiefern würde Leben in den Kontext passen?“ „Das Leben passt zu den drei Bereichen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Uns wird das Leben geschenkt, wir sind am Leben und wir existieren in einem anderen Seinsbereich fort, sobald wir das Totenreich betreten haben“, dachte Kipino laut nach. „So meine ich das nicht“, widersprach Atemu. „Ich meine viel mehr, was in Ägypten die Macht dazu hat, sich derart in unseren Köpfen einzuprägen, dass es Teil von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden kann. Was ist in der Lage zu ersticken, zu verschlucken und zu vergessen, während es jedoch mit Attributen wie Leben, Blut und Licht assoziiert wird?“ Kurze herrschte Stille. Kipino war der erste der wieder einen Gedanken fassen konnte. „Vielleicht ein König? Horus selbst wurde nach einer alten Legende im Streit gegen Seth zum Herrscher des Diesseits ernannt. Die Götter schenkten Ägypten während ihrer Herrschaft zudem Nahrung, den Lebensatem, den Nil …“ Kipino brach abrupt ab. Sein Blick fand den des Pharao. Beide sahen sich mit einem plötzlich Ausdruck des Verstehens in die Augen. „Das ist es!“, meinte Atemu. „Was ist was? Hey, klärt mich mal auf!“, forderte Samira, die verständnislos daneben stand. „Es passt alles zusammen“, fuhr der König fort, ehe er sich zu dem jüngsten Mitglied der Gruppe umwandte, um es ihr zu erklären. „Es ist der Nil! Er ist, was zu verschlucken, zu vergessen, zu ersticken vermag, während er uns gleichzeitig all das gibt, was wir zum Leben brauchen. Er ist unser Licht, er ist das Blut Ägyptens! Er ist ein bedeutender Teil unserer Vergangenheit und Gegenwart, sowie ein Symbol der Zukunft, da er niemals aufhören wird, die Fortexistenz der Menschen in diesem Land zu ermöglichen.“ Samira schien einen Augenblick zu überlegen. „Aber das passt doch auch wieder nicht! Habt ihr eine Ahnung, wie groß und lang der Nil ist? Bis wir ihn abgesucht haben, hat Caesian schon Urenkel!“ „Ich denke, ich weiß, wo sich das Relikt befindet. Wenn es stimmt, was ich glaube, dann waren wir bereits unmittelbar in seiner Nähe“, meinte Atemu. „Und wo soll das gewesen sein?“ „Als wir nach dem Reif der Isis gesucht haben, befanden wir uns in den Sümpfen unmittelbar des Nils. Dort, wo die Göttin angeblich einst ihrem Sohn das Leben schenkte. Was würde also, in Verbindung mit dem Nil, naheliegender sein, als das Relikt ihres Kindes dort zu vermuten? An dem Ort, der sie beide zusammenschweißte, an dem sich Isis versteckte, um ihren Sohn ungesehen von Seth zur Welt zu bringen?“ „Aber wäre das nicht vollkommen dämlich? Ich meine, wenn jemand dort gezielt nach einem Relikt sucht, und dann gleich zwei findet, erleichtert man Leuten wie Caesian doch nur ihr widerliches Handwerk!“, widersprach Samira. Doch Atemu lächelte nur. „Denk einmal anders herum. Wer würde vermuten, dass zwei so mächtige Gegenstände an ein und demselben Ort versteckt sind? Kipino, bitte entsende Firell zurück zur Himmelspforte. Ein paar von den unseren müssen sich augenblicklich auf den Weg machen und nach dem Relikt suchen. An uns wird es vorerst sein, die Seele der Zeit in Sicherheit zu bringen, ehe ich mich ihnen anschließe.“ „Mir gefällt das gar nicht“, fuhr Samira fort, während sie Kipino dabei zusah, wie er Firell beschwor. „Als du damals mit deinen Leuten aufgebrochen bist, seid ihr Caesian direkt in die Arme gelaufen. Was, wenn es diesmal wieder passiert?“ Ihre Augen folgten der Ka-Bestie, als sie durch den langen Gang, den sie gekommen waren, ins Freie flog. „Ich hoffe es nicht, Samira“, erwiderte Atemu schließlich. „Ich hoffe es nicht.“ Caesian beobachtete von der wiedererrichteten Stadtmauer Men-nefers aus, wie sich einige hundert Soldaten auf den Weg in die Wüste machten. Ein böses Lächeln lag auf seinen Lippen, als er sich zu dem Mann umwandte, der neben ihm stand. „Ich hoffe, was du sagst, entspricht der Wahrheit, mein Lieber. Ich wäre ansonsten überaus erzürnt. Ich denke, das ist dir bewusst?“ „Keine Sorge, es ist wahr. Die Schar von Ratten versteckt sich in diesem Loch, das sie Himmelspforte nennen. Ihr werdet sie mit Sicherheit dort finden. Als ich sie zuletzt sah, haben sie sich noch immer die Köpfe darüber zerbrochen, wo weitere Relikte zu finden sein könnten. Ich denke nicht, dass sie das Lager inzwischen aufgegeben haben“, erklärte Keiro mit einem Grinsen, das noch düsterer war, als Caesians. „Und der Rest ihrer Truppen befindet sich weit im Süden, sagst du?“ „Sehr wohl.“ „Dann können sie warten. Ich nehme mir Zeit dafür, wenn wichtigere Dinge erledigt sind. Wenn wir den Kopf der Schlange gefunden haben, gilt es zunächst, die verbleibenden Artefakte aufzuspüren, nachdem ich die, die sich bereits in ihrem Besitz befinden, meiner Sammlung hinzugefügt habe.“ „Was immer ihr tut, ist mir gleich“, erwiderte Keiro und sah sein Gegenüber mit ernstem Blick an. „Das Einzige, worauf ich bestehe, ist Risha. Lebendig.“ „Ich habe meinen Soldaten klare Instruktionen gegeben. Du wirst sie bekommen, sorge dich nicht. Auch, wenn mich zugegebenermaßen interessieren würde, weswegen.“ Der Blick des Anderen schweifte wieder über die Wüste. Ein grässliches Schmunzeln legte sich auf seine Lippen. „Nennen wir es … eine persönliche Angelegenheit, die nach über einem Jahrzehnt endlich aus der Welt geschafft werden möchte.“ Caesians zog eine Augenbraue in die Höhe. „Ich verstehe … Im Übrigen ist mir etwas aufgefallen. Einer aus der Gruppe des Pharao und du, ihr seht euch wahrlich ähnlich. Ihr seid verwandt, nicht? Dennoch sagtest du bislang nichts über ihn. Ist dir gleich, was mit ihm geschieht, wenn meine Männer die Himmelspforte erreichen?“ Keiro schien einen Moment zu überlegen. „Nicht direkt. Aber manchmal muss man eben Opfer bringen, um sein Ziel zu erreichen.“ Damit wandte er sich um und stieg von der Mauer hinab, ließ Caesian alleine zurück, der sich bereits ausmalte, wie es sich anfühlen würde, drei weitere Relikte in Händen zu halten. Dabei fiel sein Blick hinab auf seine Faust. In dieser, im Glanz der Sonne schimmernd, ruhte das Amulett der Bastet, welches er von Keiro erhalten hatte. ~*~*~*~ Wie angekündigt hier das nächste Kapitel. Ich möchte mich bei allen Reviewern des letzten Kapitels herzlich bedanken. Ansonsten hoffe ich, dass auch dieser Teil der Geschichte wieder einmal gefallen hat. :) Kapitel 43: Gefunden -------------------- „Ich frage mich, ob bei ihnen alles in Ordnung ist“, seufzte Tea und starrte nachdenklich in den Becher Wasser, den sie in Händen hielt. „Mach‘ dir keine Gedanken. Nach dem, was wir wissen, ist dieser Ort, den Atemu gesehen hat, ein gutes Stück weit weg. Ist doch klar, dass sie da länger brauchen, bis sie wieder da sind“, versuchte Duke sie aufzumuntern. Er zupfte dabei unterbewusst an den ägyptischen Kleidern herum, die er und Tristan inzwischen bekommen hatten. „So ist es. Solange sie nicht in Men-nefers Nähe kommen, dürfte keine Gefahr bestehen“, pflichtete Ryou ihm bei, ehe er sich umsah. „Aber sagt mal … Keiro ist jetzt schon ganz schön lange weg, oder?“ „Du hast recht“, meinte Mana, deren Zustand sich inzwischen soweit gebessert hatte, dass sie sich wieder daran machen konnte, die Schriften zu studieren, die die anderen aus dem ehemaligen Lager des Clans geholt hatten. „Und niemand scheint zu wissen, wo er ist.“ Sie beobachtete Risha, die erneut über den Hof der Himmelspforte tigerte und abermals einen der Wachtmänner ansprach. Auch sie schien das Verschwinden Keiros zu beunruhigen – wenn wohl nicht auf dieselbe Weise, wie den Rest der Gruppe. Sie wurde aus den Gedanken gerissen, als Riell zu ihnen herüberkam. „Hallo Mana“, sprach er die junge Hofmagierin auch direkt an. „Ich wollte mich erkundigen, ob Ihr den Papyri bereits irgendetwas entnehmen konntet?“ „Nein, leider nicht“, entgegnete sein Gegenüber. „Ich mache nur eben eine Pause, dann löse ich Marik für heute ab.“ „Wenn er sich ablösen lässt“, warf Tea ein. „Seitdem wir die Schriften haben, tut er beinahe nichts anderes mehr, als zu lesen.“ „Er muss irgendwann eine Pause machen“, meinte Ryou. „Dem stimme ich zu. Ich kann nicht darüber klagen, dass er mit solchem Eifer versucht, uns zu helfen, doch er darf sich nicht übernehmen. Auch er ist in der letzten Schlacht verletzt worden. Ich werde mir ebenfalls nochmal ein paar Papyri vornehmen und sehen, ob ich etwas finde. Je mehr von uns das tun, desto besser“, sagte Riell schließlich. „Was ist mit Seto? Er müsste das Gekritzel doch auch lesen können?“, warf Tristan daraufhin ein. „Er ist noch immer nicht wieder aus seinem Quartier gekommen. Die Nachricht bezüglich Kisara scheint ihn wirklich getroffen zu haben“, erwiderte Tea. „Es muss schlimm sein, nur hier herumsitzen und nichts dagegen tun zu können, dass Caesian sie in seiner Gewalt hat.“ „Aber Seto ist doch nicht der Einzige! Riell, Alter, wir würden euch echt gerne helfen, aber wir können es leider nicht. Umso weniger kann ich verstehen, wieso Risha, Bakura, Keiro und Marlic den ganzen Tag tun und lassen, was sie wollen, wenn sie sich in der Zeit nützlich machen könnten! Das wären vier Leute mehr, die an der Sache arbeiten könnten“, wandte sich Joey schließlich an das Oberhaupt des Clans. „Schon mal versucht, Marlic zum Lesen zu überreden? Oder überhaupt zu irgendetwas, das sich sein krankes Hirn nicht selbst ausgedacht hat? Ich prophezeie dir, dass du kläglich scheitern wirst“, erklang plötzlich Mariks Stimme hinter ihnen. Er hatte seinen Posten verlassen, um sich etwas zu trinken zu holen. „Was Keiro anbelangt“, ergriff wieder Riell das Wort, „werde ich unter keinen Umständen erlauben, dass er auch nur in die Nähe dieser Aufzeichnungen gelangt. Mir ist klar, wie ihr darüber denken müsst, aber dabei bleibe ich.“ „Dann haben wir noch immer Bakura und dein Schwesterherz“, erinnerte Joey noch einmal. „Jep. Und das sieht nicht gut aus …“, meinte Mana gedehnt und nickt zum gegenüberliegenden Ende des Hofes. Der Grabräuber und die Schattentänzerin standen sich gegenüber. Ihre Haltung verriet, dass sie nicht über das Wetter plauderten. Worum es ging, wurde der Gruppe deutlich, als die Unterhaltung schlagartig an Lautstärke gewann. „Bin ich sein Bruder oder du? Du musst doch wissen, wo er steckt!“ „Ich bin aber nicht seine Amme und jetzt geh‘ mir nicht weiter auf die Nerven!“ Der Grabräuber drehte sich abrupt auf dem Absatz um und wollte verschwinden, doch Risha folgte ihm. „Machst du dir etwa gar keine Sorgen?“ „Ach, seit wann machst du dir denn Sorgen um Keiro? Ist ja was ganz Neues! Entscheid‘ dich mal darüber, was du eigentlich willst!“ „Ich mache mir keine Sorgen um ihn, sondern darum, dass er uns in ernsthafte Schwierigkeiten bringen könnte! In der Himmelspforte ist er definitiv nicht, das bedeutet, er muss irgendwo da draußen rumlaufen!“ „Himmel hilf, er macht einen Spaziergang! Wir werden alle sterben!“, erwiderte Bakura mit triefendem Zynismus. „Nimm‘ mich gefälligst ernst und hör‘ auf, dich wie ein Kleinkind zu verhalten! Was, wenn er in irgendeine Patrouille hineinläuft oder sich doch entschlossen hat, das Land zu verlassen? Mit dem Relikt?“ Marik bemerkte derweil aus dem Augenwinkel, wie seine dunkle Hälfte aus einer der Kavernen gekrochen kam und das Schauspiel neugierig beobachtete. „Wenn er tatsächlich abgehauen ist, dann war der Schachzug gar nicht mal dumm. Dann kommen zwar, oh weh, die Schattentänzer nicht mehr an das Artefakt, aber Caesian auch nicht! Und bevor er geschnallt hat, dass das Ding nicht mehr in Ägypten ist, friert mit Sicherheit die Unterwelt zu.“ „Hat es denn nicht ausgereicht, dass er dich belogen hat, um zu erkennen, dass man ihm nicht trauen kann? Dass er immer mehr im Schilde führt, als man auf den ersten Blick glaubt?“ „Halt dich gefälligst da raus! Das geht dich einen Dreck an!“ „Oh, verzeiht mir bitte, König der Diebe – aber soweit ich mich erinnere war ich Hauptbestandteil dieses Konflikts!“ „Ihr dürft euch jetzt küssen!“, flötete Mariks dunkle Seite dazwischen. „Schnauze, Marlic!“, kam es unisono von den Streithähnen. „Wenn du unbedingt wissen willst, was er treibt“, wandte sich Bakura schließlich wieder zu Risha um, „dann geh doch da raus und such ihn!“ „Weißt du was? Genau das werde ich tun! Aber beschwer dich nicht bei mir, wenn er nicht in einem Stück zurückkommt!“ Damit rauschte sie ab, auf die Höhlen zu, in denen die Pferde standen. Riell machte gar keine Anstalten, sie zurückzuhalten. Er würde es im Augenblick sowie so nicht schaffen. Vielleicht war es sogar besser, wenn sie und Bakura sich für den Moment aus dem Weg gingen. Zumindest bei Keiro hatte das meistens geholfen. Er seufzte schwer. Kein einziger Tag verging, ohne dass sich irgendwelche Parteien an die Gurgel gingen … Er sah auf, als ein Pferd samt Reiter an ihm vorbei preschte. Seufzend sah er Risha hinterher, bis sie in dem Tunnel verschwunden war, der aus der Himmelspforte hinausführte. Dann machte er sich auf, um einige Papyri zu holen. „Bei allem Respekt, Euer Hoheit – doch seid Ihr Euch bei dieser Entscheidung sicher?“ Caesian warf Gladius einen Seitenblick zu, dann richtete er die Augen wieder auf das Schriftstück in seinen Händen. „So wie du sprichst, hast du Bedenken – die da wären?“ „Mein Herr, die Himmelspforte ist ein strategisch überaus günstiger Ort. Wenn Ihr das Heer dorthin marschieren lasst, wird es rasch entdeckt werden. Der Pharao und seine Verbündeten wären in der Lage, zu verschwinden, ehe die Truppen sie erreichen.“ Ein amüsiertes Lächeln spielte auf Caesians Lippen. „Aber Gladius – wer sagt denn, dass ich nicht genau das erreichen will?“ Sein Gegenüber hob verdutzt die Augenbrauen. „Majestät, ich verstehe nicht …“ Der König legte die Schrift, die er eben noch studiert hatte, beiseite und faltete die Hände. „Es ist ganz einfach, mein Guter. Sie suchen nach den Relikten. Wieso sollte ich mir also die Hände schmutzig machen, wenn ich doch einfach warten kann, bis sie die Arbeit für mich erledigt haben?“ „Aber … zu Keiro sagtet Ihr …“ „Was ich zu ihm sagte, war gelogen. Denkst du allen Ernstes, ich weihe ihn auf der Stelle in all meine Pläne ein, nur, weil er mir ein Relikt vor die Füße wirft? Gewiss nicht. Es könnte ebenso gut eine Falle sein. Nein, dieser Angriff ist lediglich ein Test. Wenn das Heer in einen Hinterhalt geraten sollte, wissen wir, dass er nicht mit ehrlichen Absichten zu uns gekommen ist. Wenn er aber die Wahrheit sprach, so werden ich seine … Gesinnung zu nutzen wissen.“ „Und wenn es den Truppen tatsächlich gelingt, den Pharao zu töten?“ Caesian zuckte mit den Schultern. „Dann haben wir ein Problem weniger. Sollte es heute enden, werden wir die restlichen Relikte eben selbst finden müssen.“ Eine Weile herrschte Schweigen, bis Gladius erneut das Wort ergriff. „Da ist noch etwas, dass wir bedenken sollten, Euer Hoheit.“ Auf den auffordernden Blick seines Herrn hin fuhr er fort: „Wenn sie tatsächlich entkommen, wird uns auch dieser Herumtreiber nicht mehr sagen können, wo sie stecken. Ägypten ist riesig – wie sollen wir sie dann wiederfinden?“ „Mit Logik, Gladius. Mit simpler Logik“, entgegnete Caesian und schenkte sich Wein ein. „Sie werden nicht mehr zur Himmelspforte zurückkehren können. Das heißt, sie brauchen einen neuen Rückzugsort. Und davon gibt es in diesem Land derzeit nicht gerade viele.“ „Ohne Euch kritisieren zu wollen, Majestät, aber alleine die Nilufer abzusuchen würde Mondläufe dauern.“ Caesian ließ ein kurzes, freudloses Lachen vernehmen. „Sonst bist du doch weitaus scharfsinniger, mein Lieber.“ Er erhob sich und schritt zum Fenster. „Was ich meine, Gladius, ist der Süden. Die ägyptischen Truppen – oder vielmehr, was davon noch geblieben ist – haben sich dorthin geflüchtet. Sie werden Men-nefer nach diesem Angriff in einem weiteren Umkreis meiden, als bislang. Im Osten erwartet sie das Meer, im Westen die Wüste – das bedeutet, sie können lediglich nach Süden gehen.“ Dem Söldner ging ein Licht auf. „Ihr wollt sie immer weiter den Nil hinab treiben, bis sie wieder mit dem ägyptischen Heer zusammentreffen.“ „Richtig. Ich werde sie vor mir hertreiben und ihnen gelegentlich erlauben, Reißaus zu nehmen – sollten sie sich nicht nach Süden bewegen, kann nur ein Relikt dahinter stecken, es sei denn, sie wollen sich freiwillig ersäufen oder in der Wüste verrotten. Ich würde es ihnen in ihrer Lage nicht verübeln, aber ich glaube nicht, dass das die Motivation dahinter sein wird. Früher oder später werden sie dann auf ihren alten Pfad zurückkehren – und wenn alle wieder glücklich vereint sind, die mickrigen Reste des Heeres im Rücken und mit neuer Hoffnung, werde ich sie zerschmettern.“ „Herr … der einzige Wermutstropfen des Ganzen ist, dass unsere Späher lediglich gesehen haben, dass das Heer Richtung Süden gezogen ist. Ob sie irgendwann von ihrem Weg abgewichen sind, ist unklar. Wir verlassen uns in Bezug auf den Aufenthaltsort der feindlichen Truppen auf Worte aus dem Mund eines Tunichtguts. Was, wenn das Heer nicht dort lagert und wir ihre Spur tatsächlich verlieren? Sie könnten erneut erstarken und uns unerwartet angreifen. Majestät, ich halte Euch für den einzig wahren Regenten unter dieser Sonne, aber die Göttermonster des Pharao sind wahrlich nicht zu unterschätzen.“ „Gladius! Mein Bester, heute ist nicht dein Tag, habe ich Recht? Wo, außer im Süden gen Theben haben sie die Möglichkeit eine Armee über längere Zeit lagern zu lassen? Zudem könnten sie das Tal, das sie zur Bestattung ihrer hochrangigen Würdenträger und Könige nutzen, als strategischen Punkt verwenden. Sie können nur dort sein. Und sollte dem wider allem gesunden Menschenverstand nicht so sein … nun, dann wird der gute Keiro erfahren, was es heißt, mich zu verärgern.“ Er nahm einen Schluck Wein, als eine der Flügeltüren, die in den Thronsaal führten, aufgeschoben wurde. „Was ist?“, erkundigte er sich, ohne den Soldaten anzusehen, der mit einer Verbeugung eintrat. „Euer Hoheit, ich bin gekommen, um Euch mitzuteilen, dass soeben ein Kundschafter aus dem Westen zurückkam. Meister Taisan ist nur noch einen Tagesritt von der Stadt Eurer Majestät entfernt. Er wird wohl am Morgen hier eintreffen.“ Caesian gelang es für den Bruchteil einer Sekunde nicht, seine Überraschung zu verbergen. Doch ebenso schnell, wie der Ausdruck gekommen war, war er wieder verschwunden und durch den kalten Blick des gnadenlosen Tyrannen ersetzt worden. „Gut. Du kannst gehen. Du ebenfalls, Gladius.“ Als seine Untergebenen den Raum verlassen hatten, blickte er eine Weile gedankenverloren in das Rot des Weins, während er die Flüssigkeit leicht hin und her schwenkte. „Endlich …“ „Mana?“ Die Hofmagierin sah auf und entdeckte Ryou am Eingang zu der Kaverne, in der die Schriften lagerten. Marik hatte sich inzwischen davon überzeugen lassen, sich zumindest für kurze Zeit auszuruhen, sodass die junge Frau alleine war. „Hallo Ryou. Was gibt es?“ „Hast du vielleicht einen Augenblick?“ Sein Gegenüber zog verwundert eine Braue nach oben, nickte jedoch und bedeutete ihrem Gegenüber, sich zu setzen. Er kam der Aufforderung nach und ließ sich neben ihr nieder. „Kommst du gut voran?“, fragte er und ließ den Blick über die schier unzähligen Papyri wandern. Mana verzog die Mundwinkel. „Wie man es nimmt. Ich mache Fortschritte, aber irgendwie sieht man davon nichts“, seufzte sie. „Bislang bin ich auf nichts von Bedeutung gestoßen – leider. Aber das war sicher nicht, weshalb du zu mir gekommen bist, habe ich recht?“ „Nein. Es ist so …“ Ryou schien einen Moment lang nach den richtigen Worten zu suchen, ehe er fortfuhr. „Als wir am Lager der Schattentänzer mit Caesians Soldaten aneinander geraten sind, hat Risha Cheron beschworen. Und er sah irgendwie … anders aus.“ „Anders?“, wiederholte Mana und sah ihn eindringlich an. „Ja. Seine Eckzähne waren plötzlich viel spitzer und länger. Auf der Stirn hatte er auf einmal ein Horn. Mähne und Flügel wirkten irgendwie ausgefranst. Ich weiß nicht, wie ich es genau beschreiben soll, aber etwas schien nicht in Ordnung zu sein. Es wirkte als wäre er … krank? Verwahrlost?“ Die Hofmagierin ließ sich das Erzählte kurz durch den Kopf gehen, dann nickte sie. „Er hat sich verändert. Auch, wenn das, was du eben sagtest, nicht gut klingt, so ist es normal.“ „Normal?“, hakte Ryou verdutzt nach. Mana lächelte. „Es ist ein wenig kompliziert. Aber ich werde versuchen, es dir zu erklären. Wie du bereits weißt, sind Ka-Bestien ein Teil unserer Seele. Menschen verändern sich mit der Zeit – und dementsprechend wandeln sich auch ihre Zwillingsseelen. Du warst nicht dabei, als Atemu gegen Bakura gekämpft hat. Damals hat man das sehr deutlich gesehen. Noch bevor der alte Grabräuber überhaupt den Mund aufgemacht hat, konnte man die rapiden Veränderungen in seinem Inneren, seinen Zorn und seinen Hass, an Diabound erkennen. Als wir ihn zum ersten Mal sahen, war er noch ein Wesen mit weißer Haut, einem menschlichen Antlitz und reinen Flügeln. Im letzten Gefecht erinnerte er schon mehr an einen Dämon – er mutete damals genauso an, wie heute. Aber Veränderungen sind nicht immer negativ. Darla hat auch nicht immer so ausgesehen, wie jetzt. Ich habe mich verändert, und sie sich ebenfalls. Wir sind beide erwachsener geworden, das zeigt sich auch an ihrem Äußeren. Wusstest du, dass eine Ka-Bestie bei der Geburt ihres Trägers ebenfalls die Gestalt eines Kindes oder Jungtieres hat?“ Ryou wollte schon nicken, hielt sich dann aber noch rechtzeitig zurück und schüttelte den Kopf. Es wäre zu kompliziert, Mana zu erklären, dass die Ägyptologen seiner Zeit mit dieser ‚altägyptischen Vorstellung‘ vertraut waren, sie allerdings für bloßen Aberglauben hielten. Sie hatten die Informationen aus Hieroglyphen-Inschriften gewonnen. Aus den Überresten von dem, was einmal von Ägypten übrig sein würde … nein, es wäre zu taktlos, auch wenn Mana den Niedergang des Reiches nicht erleben würde. Außerdem würde sie nicht nachvollziehen können, wie jemand die Existenz von Ka-Bestien anzweifeln konnte. Schließlich fuhr die junge Hofmagier fort und wischte seine Gedanken so beiseite. „Die Bestien wachsen mit uns. Wenn es stimmt, was du sagst, dann hat sich in Risha irgendetwas verändert.“ Ryou brauchte nicht lange nachzudenken. „Meinst du, Reshams Tod könnte der Auslöser dafür gewesen sein?“ „Es ist durchaus möglich, aber man kann es nicht mit Sicherheit sagen. Sie ist nicht gerade die Art von Person, der man es rasch anmerken würde – ein Ekel ist sie immerhin schon, seit wir sie kennengelernt haben.“ „Da magst du Recht haben. Aber müsste sich Riells Ka dann nicht auch gewandelt haben?“, überlegte Ryou laut. „Nicht unbedingt. Bei manchen sind die Veränderungen sehr plötzlich, bei anderen gehen sie langsam vonstatten. Es kommt vor allem auf die … wie soll ich sagen? Vielleicht ist Stabilität der richtige Begriff. Ja, es hängt mit der Stabilität eines Gemüts zusammen. Risha ist, gleich wie sehr sie es leugnen mag, extrem impulsiv und zugleich ein wahnsinnig negativ denkender Mensch. Genau wie Bakura – Diabound spiegelte augenblicklich wider, was in ihm vorging und mit Cheron verhält es sich jetzt eventuell genauso. Riell hingegen ist sehr besonnen und für negative Gefühle nicht so empfänglich. Die Veränderungen an Anwaar müssten demnach gering bis nicht vorhanden sein.“ Ryou ließ sich die Gedanken noch einen Moment lang durch den Kopf gehen, dann nickte er. „Das klingt logisch. Ich danke dir, Mana!“ Sein Gegenüber lächelte freundlich. „Gern geschehen!“ „Kann ich dir hier vielleicht noch irgendwie behilflich sein? Ich meine, ich kann zwar keine Hieroglyphen lesen, aber ich könnte dir zum Beispiel etwas zu Essen oder zu Trinken bringen.“ Die Hofmagierin schien kurz zu überlegen. „Nein, dan… obwohl, warte. Da wäre etwas.“ „Was denn?“ Sie beugte sich verschwörerisch zu Ryou hinüber. „Weißt du, wie man ‚Popcorn‘ macht?“ Der Tag zog dahin. Risha schnaubte abfällig, als sie den Kamm einer Düne erklomm und den Blick über das Land schweifen ließ. Die Sonne begann bereits, in grellem Orange am Horizont zu versinken. Eine Weile stand sie einfach nur da und betrachtete das in Ägypten beinahe alltägliche Naturschauspiel, bis sie das Schlagen von Flügeln aus den Gedanken riss. Kurz darauf landete Cheron leichtfüßig neben ihr. „Immer noch keine Spur von ihm?“ „Nein“, war die knappe Antwort der Ka-Bestie. Seit sie die Himmelspforte verlassen hatte, hatte sie unentwegt versucht, Keiro aufzuspüren. Doch er war wie vom Erdboden verschluckt. Gleich wie weit Cheron ausflog, er konnte ihn nicht finden. Rishas Verdacht, dass er sich aus dem Staub gemacht hatte, solange er noch konnte, verstärkte sich zunehmend. Es würde passen. Keiro war nie jemand gewesen, der sich Konflikten stellte, gleich welcher Art sie waren. Es gab lediglich Male, da hielt er länger durch – doch letzten Endes knickte er immer ein und tauchte ab. Er hatte es schon oft getan, warum nicht auch diesmal? Dennoch ließ irgendetwas Risha daran zweifeln, dass er gegangen war. Und dieses Etwas hieß Bakura. Sie traute ihm viel zu, aber dass er seinen eigenen Bruder sitzenlassen würde, kurz, nachdem sie wieder zueinander gefunden hatten? Als er vorgehabt hatte, aus Men-nefer zu verschwinden, hatte er versucht, Bakura mitzunehmen. Warum war er also jetzt ohne ihn losgezogen? „Cheron? Tu mir einen Gefallen und flieg noch bis zum Horizont. Danach kehren wir zur Himmelspforte zurück, mit oder ohne Keiro“, bat sie und nickte gen Nord-Osten. Die Ka-Bestie erhob sich mit mächtigen Flügelschlägen in die Luft. Nein. Nein, noch etwas passte nicht. Selbst wenn er sich dazu entschlossen hatte, sich von nun an aus dem Krieg herauszuhalten, sie hätten ihn finden müssen. Keiros Monster war nicht in der Lage, zu fliegen. Selbst, wenn er nicht auf einem Pferd, sondern auf Shadaras Rücken unterwegs war, hätte er nicht über die Distanzen hinaus kommen können, die Cheron heute abgeflogen war. Ein panisches Wiehern riss aus sie aus den Gedanken, als der Pegasus vom Himmel geschossen kam und knapp über ihr in der Luft verharrte. „Hast du ihn …?“ „Wir müssen sofort verschwinden!“ Eine Woge von Unruhe und Dringlichkeit rollte durch die seelische Verbindung und ließ Risha schaudern. „Was, in Sachmets Namen, ist los?“ „Caesian, sein Heer. Es kommt genau auf uns zu. Es scheint, als marschiere es zielstrebig gen Süd-Westen.“ Es fühlte sich an, als gefriere das Blut in ihren Adern. Dann schallte der Ruf eines Horns über die abendliche Wüste. „Das bedeutet … sie werden auf die Himmelspforte stoßen.“ Die Blicke von Ka und Träger trafen sich. „Ich glaube nicht an einen Zufall“, grollte Cheron. „Flieg‘ voraus. Ich bin direkt hinter dir. Warn‘ die Anderen. Wir müssen umgehend weg.“ Sie wirbelte herum und rannte zu ihrem Pferd. Kaum, dass sie aufgesessen war, preschte sie bereits über den Wüstensand dahin, so schnell sie das Tier trug. Der Pegasus war bereits zu einem winzigen Punkt in der Ferne geworden. Risha?, hörte sie seine Stimme in ihren Gedanken. Wohin?, griff er ihre letzte Äußerung auf. Die Schattentänzerin schluckte schwer. Ich weiß es nicht, Cheron. Ich weiß es nicht … Caesian hatte nicht bemerkt, wie sich eine Gestalt hinter einem Vorhang des Thronsaales hervorgestohlen hatte. Ebenso wenig hatte er zur Kenntnis genommen, wie diese Gestalt lautlos aus dem Fenster gestiegen war und sich an einer Säule des darunter befindlichen Freigangs herabgelassen hatte. Kaum, dass sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte, verschmolz sie mit dem Schatten der Gebäude. Hatte Caesian allen Ernstes geglaubt, ihn täuschen zu können? Scheinbar ja. Keiro mochte nie als Soldat gedient haben. Er hatte sich seine Fähigkeiten in den Gossen verschiedenster Städte angeeignet. Doch selbst er war sofort misstrauisch gewesen, als Caesian das Heer ohne zu Zögern zur Himmelspforte entsandt hatte, ohne zuvor auch nur einen einzigen Späher die Gegend auskundschaften zu lassen. Zudem hatte er seinen obersten Feldherren in Men-nefer verweilen lassen. Er wollte ihn testen. Sollte er. Keiro hatte in dieser Hinsicht nichts zu verbergen. Zugleich hatte er soeben etwas gelernt: Gleich, wie viele Relikte und Pharaonenhäupter er Caesian vor die Füße schmiss, er musste wachsam bleiben. Der Tyrann überließ nichts dem Zufall, das musste man ihm lassen. Aber auch Keiro würde sich nicht lumpen lassen. Wenn Caesian glaubte, ihn kontrollieren zu können, hatte er sich geschnitten. Er war hier, um eine Aufgabe zu erfüllen. Er würde dafür Sorge tragen, dass auch die letzten Reste der Schattentänzer vom Antlitz der Welt verschwanden. Er selbst würde für ihren endgültigen Untergang herbeiführen. Wenn sich herausstellen sollte, dass Caesian dabei im Weg stand, würde er seine Ansichten über diese Allianz revidieren müssen. Zur Not mit Gewalt. Nichtsdestotrotz stahl sich ein Lächeln auf Keiros Lippen. Caesians Finte hatte ihm Zeit verschafft. Und er würde sie nutzen. Es würde wohl noch etwas dauern, bis er Risha in die Finger bekam. Er würde das Beste daraus machen – und sie leiden lassen. Marlic schlurfte über den Hof des Verstecks. Zunächst sah er sich ziellos um, ehe er plötzlich auf die kleine Gruppe zusteuerte, die im Schatten der Felsen saß. Yugi, Tea, Joey, Duke und Tristan sahen auf, als er sich näherte. „Immer noch nichts Neues?“, erkundigte er sich eigenartig normal. Yugi überwand als Erster seine Überraschung und schüttelte den Kopf. „Nein“, erwiderte er knapp. Marlics Miene verzog sich. „So ein Mist … Diese Warterei macht mich wahnsinnig!“, brummte er und verpasste einer Schüssel, die am Boden stand, einen Tritt, sodass sie ein Stück weit flog und dann in dutzende Teile zersprang. „Das heißt noch lange nicht, dass du …“ Tristan kam nicht dazu, seine Aussage zum Ende zu bringen. Ein aufgeregter Ruf schallte von den Klippen der Himmelspforte herab. Es dauerte nicht lange, bis sie beobachten konnten, wie einer der Soldaten am Boden in Richtung der Kaverne lief, die Riell als Quartier diente. Kurz darauf zeigte sich das Oberhaupt der Schattentänzer. „Was ist los?“, rief er die steinigen Wände hinauf. „Etwas kommt auf uns zu, Majestät! Ich glaube, es ist Cheron. Aber … er ist allein!“ Sofort breitete sich eine Anspannung aus, die regelrecht greifbar war. Yugi und die Anderen kamen augenblicklich auf die Beine und eilten zu Riell hinüber. „Was hat das zu bedeuten?“, erkundigte er sich bei dem Ägypter. „Ich weiß es nicht. Aber wir werden es gleich wissen“, erwiderte der diplomatisch. Es gelang ihm jedoch nicht, die Besorgnis gänzlich aus seiner Stimme zu verbannen. Irgendetwas war seltsam. Cheron würde Risha niemals verlassen, wenn sie in Gefahr war – was bedeuten musste, dass sie sich keiner unmittelbaren Bedrohung gegenüber sehen konnte. Auf der anderen Seite würde er sie in diesen Zeiten auch dann nicht alleine dort draußen lassen, wenn weit und breit keine Gefahr zu erkennen war. Nein, irgendetwas war falsch. Während sich der Hof der Himmelspforte allmählich füllte, glitt der Pegasus schließlich über die Umgrenzung der Himmelspforte hinweg und landete aufgebracht vor Riell. Der Schattentänzer versuchte, ihm eine Hand auf den Hals zu legen, um ihn zu beruhigen, doch die Bestie wich der Geste sofort aus. „Cheron, was ist …?“ „Keine Zeit für Erklärungen! Wir müssen weg! Auf der Stelle!“ Einen Wimpernschlag lang breitete sich erschüttertes Schweigen aus. „Was soll das heißen, wir müssen weg?“, hakte Joey schließlich als Erster nach. „Wieso? Ohne einen guten Grund werden wir bestimmt nicht den einzig sicheren Ort in ganz …“ Er brach abrupt ab und taumelte zurück, als sich Cheron zunächst auf die Hinterläufe stellte und dann seine Hufe nur knapp vor dem jungen Mann in den Boden rammte, dass das Gestein splitterte. „Ist das Überleben von uns allen vielleicht Grund genug?“, fauchte das Monster und entblößte die langen, spitzen Eckzähne. Das Horn an seiner Stirn schwebte knapp vor Joeys Gesicht. Riell war kurz davor gewesen, Anwaar zu rufen, doch er hielt inne. Der Pegasus war Schweiß gebadet, seine Flanken hoben und senkten sich ruckartig. Sein Verhalten war vollkommen fern von dem ruhigen Charakter, den er sonst an den Tag legte. Cheron hatte Angst. „Was ist passiert?“, wandte er sich noch einmal an das Seelenwesen, diesmal lauter. „Wir müssen wissen, was los ist!“ Der Pegasus schüttelte die Mähne und tänzelte einige Schritte zurück. „Caesian … seine Armee … sie marschieren genau auf uns zu.“ Riells Blut gefror. Gemurmel brach um ihn herum aus, während er versuchte, das Gehörte zu verarbeiten. Auch Yugi starrte den Ka sprachlos an. Doch er fing sich schneller wieder, als das Oberhaupt des Clans. „Das bedeutet …“ Er stockte und schluckte hart. Die folgenden Worte fühlten sich an wie eine Verheißung. „Sie haben uns gefunden.“ Kapitel 44: Verdammt -------------------- Mana war es schließlich, die die entscheidende Frage stellte. „Wie viel Zeit bleibt uns?“ Cheron warf den Kopf zur Seite, als überlege er. „Ich schätze, dass sie bald hier sein werden, nachdem es dunkel geworden ist.“ „Sie wollen uns im Dunkeln überraschen. Tja, daraus wird leider nichts mehr“, kommentierte Bakura, der so wie alle anderen ebenfalls hinzu gekommen war. „In dem Punkt magst du Recht haben, aber das bringt uns auch keinen Vorteil. Selbst, wenn es nur ein Teil des Heeres ist, sind wir weit unterlegen – außerdem fehlen uns Atemu, Samira und Kipino“, entgegnete Yugi, ehe er sich wieder an Riell wandte. „Was machen wir jetzt?“ Cheron schnaubte aufgebracht. „Bist du taub? Wir. Müssen. Hier. Weg!“ „Hat da etwa jemand Schiss?“, warf Marlic wenig hilfreich ein. Während sich der nächste Streit entspann, beobachtete Yugi, wie das Oberhaupt der Schattentänzer sich hart auf die Unterlippe biss. Die Augen sämtlicher Clanmitglieder waren auf ihn gerichtet. Sie warteten auf eine Entscheidung. Er senkte das Haupt, um sie für den Moment nicht ansehen zu müssen. Was jetzt? Sie hatten sich noch nicht vollständig von der letzten Schlacht erholt. Der Pharao war nicht hier. Nicht auf seine Ka-Bestien zählen zu können, war ein gewaltiger Nachteil. Sie hatten drei Relikte, mit dem von Keiro gar vier, die es zu beschützen galt. Riell ballte die Hände zu Fäusten, als er sich entschied. „Nehmt an Waffen, Vorräten und Wasser, was ihr tragen könnt und sattelt die Pferde! Passt auf, dass ihr sie nicht überladet! Wir verschwinden – sofort!“, verkündete er schließlich mit einer Stimme die fester klang, als es sein Entschluss war. Augenblicklich brach das Chaos los. Während die Schattentänzer ohne zu zögern gehorchten, die Meisten von ihnen froh, einer Konfrontation zu entgehen, kamen von anderer Seite Proteste. Insbesondere Bakura und Marlic waren strikt dagegen, vor der Bedrohung davon zu laufen. Doch Riell gelang es, sie einfach zu ignorieren, während er sich an Marik und Mana wandte. „Kommt, ihr müsst mir helfen. Wir müssen die Schriften einsammeln!“ „Ich komme sofort“, erwiderte die Hofmagierin. „Ich wecke Seto – er muss eingeschlafen sein, sonst wäre er längst hier.“ Damit eilte sie davon. „Cheron, wo ist Risha?“, fuhr der Clanführer fort. „Auf dem Weg hierher.“ „Kehr‘ zurück zu ihr und sorge dafür, dass ihr nichts geschieht.“ Anschließend wollte Riell ebenfalls von dannen ziehen, als er am Arm zurückgehalten wurde. Ihm lag bereits eine patzige Erwiderung auf der Zunge, als er bemerkte, dass nicht Marlic oder Bakura hinter ihm standen, sondern Yugi. „Was ist mit Atemu, Samira und Kipino?“, fragte der Kleinere ohne Umschweife. „Und mit Keiro?“, fügte Ryou hinzu. Riell schüttelte den Kopf. „Ich könnte mir im Augenblick um niemanden weniger Sorgen machen, als um Keiro. Was den Pharao anbelangt, so werden wir darauf hoffen müssen, dass er und meine Schattentänzer uns finden werden. Firell mag klein sein, aber er kann relativ große Strecken zurücklegen …“ „Aber was, wenn sie an diesem Ort, den Atemu im Traum gesehen hat, etwas gefunden haben? Etwas, das uns helfen würde? Und was, wenn sie damit hierher zurückkehren?“, gab Yugi zu bedenken. Noch ehe Riell sich eine Antwort überlegt hatte, fuhr er fort: „In welche Richtung sind sie geritten?“ „Warum willst du das …?“ „Ihr verschwindet wie geplant. Ich suche Atemu. Sag mir einfach, wohin ihr gehen werdet und wir kommen dorthin, sobald ich ihn und die anderen beiden gefunden habe.“ „Und du gehst auf keinen Fall alleine!“, mischte sich plötzlich Joey ein. „Duke, Tristan, Tea und ich kommen mit! Das ist sicherer.“ „Nein“, widersprach Yugi entschieden. „Joey, du wirst hier gebraucht. Rotauge kann Sachen oder Leute transportieren, denn die Pferde alleine reichen nicht. Es sind nicht genug. Außerdem brauchen wir so viele Ka-Bestien wie möglich, sollte das Heer irgendwie aufschließen. Duke und Tristan wiederum können mit anpacken, das ist genau so wichtig. Eure Hilfe wird hier gebraucht. Zudem ist es so sicherer. Je weniger von uns sich absetzen, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, entdeckt zu werden.“ „Aber mich wirst du nicht los“, entgegnete Tea bestimmt. „Ich komme mit, egal was du sagst.“ „Hör zu …“ „Nichts da! Die Feuerprinzessin kann weder bei der Flucht behilflich sein, noch kann ich hier viel tun. Ich werde dich begleiten.“ „Ich ebenso. Die Sicherheit Seiner Majestät ist oberstes Gebot.“ Die Anwesenden wandten sich überrascht um, als sie Setos Stimme vernahmen. Er sah erschöpft, aber entschlossen aus. Was er nicht laut aussprach, war, dass es noch einen anderen Grund gab, weswegen er nicht mit dem Rest ziehen wollte: Er konnte nicht garantieren, dass er sich würde beherrschen können, wenn er nicht bald eine Distanz zwischen sich und Caesians Truppen brachte. Dass dieser Mann Kisara mit in all das hinein gezogen hatte, war unverzeihlich. „In Ordnung. Also, wohin ist Atemu geritten und wo treffen wir uns?“, kam Yugi zur Sache. Riell schien einen Augenblick zu zögern, nickte dann aber. „Gen Westen. Die Stelle müsste etwa einen halben Tagesritt entfernt sein. Genaueres weiß ich nicht, Firell hat sie dorthin geführt. Euer Ka wird Euch helfen müssen, sie zu finden, Hohepriester“, erklärte er an Seto gewandt, ehe er fortfuhr: „Was deine zweite Frage anbelangt, Yugi … Ich fürchte, ich weiß es nicht …“ So einfach die Worte waren, so verheißungsvoll klangen sie in diesem Moment. Riell wusste weder ein, noch aus. Alles, was er wusste, war, dass sie zunächst von hier verschwinden mussten. Was danach kam, war ungewiss. „Theben.“ Alle Köpfe wandten sich zu Seto um. „Theben?“, wiederholte Yugi. „Ja. Der Rest unserer Truppen hat sich dorthin zurückgezogen. Es ist die einzige Möglichkeit. Im Westen erwartet uns die Wüste und im Osten das Meer. Es gibt keinen anderen Rückzugsort. Zumal uns das dort befindliche Tal einen strategischen Vorteil bringen könnte, sollten Caesians Männer unsere Spur verfolgen. Wir könnten uns vielleicht eine Weile halten, bis wir einen Weg gefunden haben, ihm das Handwerk zu legen.“ Riell nickte. „Gut. So machen wir es. Ich vertraue auf euch. Bringt mir Kipino und Samira gesund zurück – und Atemu ebenfalls.“ „Verstanden. Du kannst dich auf uns verlassen“, entgegnete Yugi. „Und passt auf euch auf“, fügte Joey hinzu. „Macht keine Dummheiten.“ „Dass ich so etwas einmal aus deinem Mund hören würde“, entgegnete Tea. „Für euch gilt im Übrigen das Gleiche!“, fuhr sie fort und sah dabei auch Tristan und Duke eindringlich an. „Verzeiht, dass ich euch unterbreche, aber wir müssen los“, mischte sich Seto ein, ohne den irritierten Tonfall in seiner Stimme zu verbergen. Damit trennten sie sich. Während der Hohepriester mit Yugi und Tea nach Westen davon ritt, zeichnete sich bereits eine schwarze Linie aus hunderten von Menschen am Horizont ab. Riell und die Schattentänzer, so wie der Rest des Widerstandes, verließen das Versteck nur kurze Zeit später. Risha schloss bald zu ihnen auf. Die Kohlen in den Feuerstellen der Himmelspforte waren noch nicht erloschen, da stürmten Soldaten den Unterschlupf. Dass sie nichts vorfanden, überraschte sie nicht. Noch in derselben Nacht sandte Caesian Gladius mit dem Rest der Armee hinter seinen Feinden her. Er selbst würde in wenigen Sonnenläufen folgen. Unter einem klaren Himmel, der von Sternen übersät war, zogen beide Parteien schließlich gen Süden. Der letzte Feldzug hatte begonnen. Die Nacht hatte sich noch nicht lange über Ägypten gesenkt. Die Wüste lag einsam und verlassen da. Lediglich drei Pferde und ihre Reiter bahnten sich einen Weg durch ihre unendlichen Weiten. Samira, Kipino und Atemu waren vor einer Weile aufgebrochen, doch noch lag ungefähr die Hälfte des Rückwegs vor ihnen. Der Pharao trug die Seele der Zeit bei sich, die in Leinentücher gewickelt war, um sie vor Sand zu schützen. „Ich habe Hunger …“, tat die Jüngste nun schon zum vierten Mal kund. In der Eile ihres Aufbruchs hatten sie nur wenig Verpflegung mitgenommen und alles, bis auf etwas Wasser, war bereits aufgebraucht. „Wir haben es nicht überhört, weißt du?“, meinte Kipino. „Wir sind bald zurück, dann kannst du etwas essen.“ „Wie weit ist es denn noch?“ „Nicht mehr weit.“ „Wie weit genau?“ „Ich weiß es nicht.“ „Woher weißt du dann, dass es nicht mehr weit ist?“ Dieser Gesprächsverlauf setzte sich noch eine Weile fort, doch Atemu schenkte ihm keine Beachtung. Seine Gedanken kreisten um den Papyrus, den sie in der unterirdischen Kammer entdeckt hatten. Er konnte nur hoffen, dass er ihn wahrlich verstanden hatte und sie tatsächlich einem weiteren Relikt auf die Schliche gekommen waren. Sie brauchten endlich einen Schritt nach vorne, einen Erfolg nach den zahllosen Rückschlägen. Sie alle hatten sich bislang tapfer gehalten, doch er wusste, dass die Situation einen jeden von ihnen Tag um Tag mehr zermürbte. Es sah immer mehr so aus, als seien sie machtlos gegen das, was Caesian tat. Das musste sich ändern – so schnell wie möglich, ehe sie den Mut verloren. Doch gerade, als sich ein zuversichtliches Lächeln auf seine Züge schleichen wollte, ließ ihn ein Geräusch zusammenfahren. Es kam von Kipino. Sofort wandte er sich auf seinem Pferd nach dem Anderen um. Der Schattentänzer war leichenblass. Den eben ausgestoßenen Laut vermochte Atemu nicht zu deuten, er hatte irgendwo zwischen einem Stöhnen und einem Keuchen gelegen. „Was ist?“, fragte er alarmiert. Auch Samira musterte das ältere Clanmitglied mit Sorge. „Kipino, was ist los?“, hakte sie nach, als er nicht gleich reagierte. Er hielt die Zügel seines Reittieres in verkrampften Händen und starrte mit glasigen Augen ins Leere. „Was hat er?“, fragte Atemu schließlich an Samira gewandt. „Firell sieht irgendetwas. Und er zeigt es ihm“, erwiderte die Schattentänzerin. Bange Minuten vergingen, dann sackte Kipino plötzlich auf seinem Pferd zusammen. Er atmete heftig, ganz so, als schnappe er nach Luft, die man ihm verwehrt hatte. Dann richtete er sich schlagartig wieder auf und sah seine Begleiter panisch an. „Die Himmelspforte …“, brachte er hervor und der Ton in seiner Stimme verriet bereits, dass irgendetwas geschehen sein musste. „Was ist damit?“, ging Samira sofort auf ihn ein. „Sie … Caesian hat sie gefunden.“ Die Worte hingen wie eine Verheißung über ihnen. „Da ist Rauch. Feuer. Alles brennt. Und Soldaten. So viele Soldaten!“, fuhr er fort. Es klang verzweifelt. Samira wartete nicht. Mit einem kräftigen Tritt in die Seite brachte sie ihr Pferd dazu, loszupreschen. Auch Atemu überwand den ersten Schreck rasch. Er riss dem Schattentänzer die Zügel seines Pferdes aus der Hand, befahl ihm knapp, aber bestimmt, sich festzuhalten und gab dann seinem eigenen Reittier die Sporen. Das Herz schlug wild in seiner Brust, während seine Gedanken rasten und er sich die schlimmsten Ereignisse ausmalte. Obgleich er schwitzte, war ihm eiskalt. Er bekam kaum Luft, obgleich ihn nichts daran hinderte, Atem zu holen. Bitte nicht. Bitte, bitte nicht. Firell waren die Menschen nicht entgangen, die aus der Richtung der Himmelspforte – oder dessen, was noch davon übrig war – kamen. So sorgte er dafür, dass Atemu und seine Begleiter einen Kurs einschlugen, der sie zusammenführen würde. Der Pharao atmete erleichtert auf, als ihm Yugi, Tea und Seto entgegenritten. „Ein Glück, ihr seid unversehrt! Was ist geschehen?“ Sie zügelten ihre Pferde, doch keiner machte Anstalten, abzusteigen. Sie wussten, dass sie nach dem, was vorgefallen war, nicht lange bleiben konnten. „Caesians Armee hat das Versteck entdeckt“, erwiderte Seto knapp. Yugi fuhr daraufhin fort: „Aber seid unbesorgt, allen dürfte es gut gehen. Risha hat nach Keiro gesucht und Cheron hat das Heer kommen sehen, ehe es uns zu nahe kam. Sie sind mit Sicherheit alle davon gekommen, ehe auch nur ein Soldat einen Fuß in die Himmelspforte gesetzt hat.“ „Und wo sind sie?“, hakte Atemu nach. „Deswegen sind wir hier. Sie sind nach Süden gezogen“, erklärte Tea. „Sie gehen nach Theben“, führte Seto daraufhin weiter aus. „Ich habe vorgeschlagen, sich dort mit dem Rest der ägyptischen Armee zu treffen. Außerdem können wir die Landschaft dort zu unserem Vorteil nutzen.“ Der Pharao ließ sich die Neuigkeiten einen Moment durch den Kopf gehen, ehe Kipino ihn aus den Gedanken riss. „Majestät? Firell erzählte mir eben, dass er das Heer noch am Horizont ausmachen konnte. Es scheint ebenfalls nach Süden zu ziehen.“ „Das heißt, sie folgen dem Rest von uns?“, warf Samira ein. Atemu legte die Stirn in Falten. Wie um alles in der Welt hatte Caesian ihren Unterschlupf gefunden? Und was hatte es zu bedeuten, dass seine Armee ebenfalls den Nil hinab zog? Die Antwort lag auf der Hand. Das bedeutete jedoch nicht, dass sie angenehm war. Im Gegenteil. Sein Magen krampfte sich zusammen, als ihm bewusst wurde, was heute Nacht eingetreten war. „Es ist also soweit“, sagte er schließlich. „Was ist soweit?“, erkundigte sich Yugi. Atemu hob den Blick und sah ihm fest in die Augen, als er antwortete. „Caesian hat zum letzten Schlag ausgeholt.“ Ein kurzer Blick in Setos Richtung bestätigte, dass dieser das ebenfalls verstanden hatte. Trotzdem die Frau, die er liebte, in den Händen des Feindes war, hatte er seine Mitstreiter dazu veranlasst, sich von Men-nefer zu entfernen. Den Resten des ägyptischen Heeres und einem strategisch günstigen Ort entgegen – beides Dinge, die sie brauchen würden, wenn Caesian sie in die Enge getrieben hatte. „Was soll das heißen? Wovon sprichst du?“ Es lag Angst in Teas Stimme, als sie die Frage aussprach. „Ich weiß nicht, wie es ihm gelungen ist, aber er hat uns ausfindig gemacht. Und er hat sich entschieden, die Sache zu beenden. Ich glaube, dass er vorhat, uns solange vor sich herzutreiben, bis wir nicht mehr weiter können. Die letzte größere, befestigte Stadt im Süden ist Theben. Obgleich Setos Entscheidung, dorthin zu gehen, die richtige war, so weiß Caesian doch, dass er uns spätestens dort haben wird, wo er uns haben will – in einer Lage, die uns nur wenige Möglichkeiten bietet. Entweder, wir stellen uns ihm – oder wir geben auf. Er ist sich sicher, dass er auf die eine oder die andere Weise gewinnen wird, gleich, wie wir entscheiden.“ „Das heißt, wir müssen so schnell wie möglich nach Theben und ein Heer aufstellen! Worauf warten wir noch?“, äußerte Samira hektisch. „Du vergisst etwas“, erwiderte Atemu. „Dort draußen sind noch drei Relikte der Götter verborgen. Ich bezweifle, dass Caesian sich mit dem Gedanken zufrieden geben wird, dass er bald vier weitere sein eigen nennen könnte. Nein, ich bin davon überzeugt, dass er weiterhin versuchen wird, sie alle zu finden. Umso bedeutender ist es, dass wir dem Hinweis nachgehen, den uns die Seele der Zeit gegeben hat.“ „Die Seele der Zeit? Wovon sprecht Ihr, Majestät?“, fragte Seto. Der Pharao löste das Leinenbündel vom Sattel, das die uralte Schriftrolle barg, und überreichte es seinem Vetter. „Das hier. Samira wird dir auf dem Weg alles erklären können.“ „Wie bitte? Was hast du vor?“, hakte Tea nach. Atemu entschied, dass er ihnen zumindest ein paar Antworten schuldig war. „Das hier“, begann er mit Kopfnicken in Richtung des Bündels, „ist ein Jahrtausende altes Artefakt, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kennt. Es hat uns den Hinweis gegeben, dass sich ein weiteres göttliches Relikt in den Sümpfen verbergen könnte, in denen wir bereits den Reif der Isis gefunden haben. Es darf unter keinen Umständen in Caesians Hände geraten. Darum werdet ihr, Yugi, Tea, Seto und Samira die Seele der Zeit so schnell wie möglich zu den Anderen bringen. Umgeht das Heer weiträumig und findet den Rest. Je mehr Menschen in der Lage sind, diesen Fund zu beschützen, desto besser. Ich glaube, dass er es sein wird, der diesen Krieg letztendlich entscheidet.“ Sein Partner betrachtete die eingewickelte Schriftrolle nachdenklich, ehe er den Blick hob und sein Gegenüber fragend ansah. „Und was ist mit dir?“ „Ich werde nach diesem Relikt suchen. Und ich würde dich, Kipino, bitten, mich zu begleiten. Firell könnte sich als überaus nützlich erweisen, wenn es darum geht, herauszufinden, ob die Sümpfe sicher sind.“ Der Schattentänzer nickte, auch wenn er die Lippen dabei fest aufeinander presste. „Gewiss, Euer Hoheit.“ „Gut. Seto …?“ „Mit Verlaub, mein König, aber ich denke, es wäre angebrachter, wenn ich an Eurer Seite bliebe. Der weiße Drache ist stark und …“ „… und seine Kräfte werden nötig sein, wenn die Seele der Zeit beschützt werden muss. Zudem begebe ich mich in die Nähe der Stadt, in der Kisara derzeit gefangen gehalten wird. Auf keinen Fall“, entschied Atemu bestimmt. „Du kennst den Weg nach Theben. Führe sie sicher dorthin. Egal, was auch passiert. Verstehe mich nicht falsch, Vetter, mir widerstrebt es ebenfalls zutiefst, Kisara in den Händen dieses Mannes zu lassen. Doch im Augenblick ist da nichts, was wir tun könnten, um ihr zu helfen. Jegliches Handeln wäre vergeblich.“ Setos Blick war verbissen. Atemu konnte sich nur ausmalen, was für ein Kampf derzeit in ihm toben musste – eine Schlacht zwischen Vernunft und dem Drang, endlich etwas unternehmen zu müssen. Dennoch nickte er kurz darauf. „Ihr könnt Euch auf mich verlassen, Majestät.“ „Habt ihr genügend Proviant dabei, um euch alle satt zu bekommen?“ „Sicher. Wir haben uns in der Eile zwar nur Brot geschnappt, aber davon genug. Hier, ihr beide könnt sicher etwas davon brauchen“, erklärte Yugi und reichte Atemu ein Bündel mit Verpflegung. „Und Wasser können wir uns vom Nil besorgen“, fügte Samira hinzu. „Wahrscheinlich holen wir die Anderen irgendwann sowie so ein, dann sollte das Essen kein Problem mehr darstellen.“ „Wie weit ist es denn eigentlich von hier bis nach Theben?“, erkundigte sich Tea. „Ein Fußmarsch von etwa zehn bis zwölf Tagen. Da wir aber zu Pferd unterwegs sind, dürfte es etwas schneller gehen“, antwortete Seto. „Wie dem auch sei, wir sollten keine Zeit verlieren“, löste Yugi das Gespräch schließlich auf. „Lasst uns losziehen.“ „Er hat Recht. Am besten beeilt ihr euch.“ Atemu zögerte einen Moment, ehe er fortfuhr: „Ich danke euch. Für all das, was ihr bislang geleistet habt und für das, was ihr noch zu leisten bereit seid.“ Sein Blick galt dabei insbesondere Seto, der nur kaum merklich nickte, ehe er sein Pferd antraben ließ. Samira hingegen winkte nur ab. „Ja ja. Denk nur nicht, wir machen das für dich. Wir machen das nur für unsere Heimat – und damit der Tag kommen kann, an dem Riell und Risha deinen Herrscherhintern vom Thron treten werden. Bring mir den da bloß heil wieder zurück, hast du verstanden?“, meinte sie mit Nicken in Kipinos Richtung, „Der ist nur geliehen, nicht geschenkt!“ „He! Ich bin doch keine Ware!“ Auf den Zügen des Pharao spielte ein kleines Lächeln. „Versprochen.“ „Sehr gut. Also, worauf warten wir noch?“ Damit gab Samira ihrem Pferd die Sporen und ritt davon, Seto hinterher. Tea und Yugi wandten sich noch einmal zu Atemu und seinem Begleiter um. „Passt gut auf euch auf – ihr beide“, sagte die junge Frau schließlich. Dann preschten auch sie davon, dem südlichen Horizont entgegen. Der Pharao und der Schattentänzer sahen ihnen noch einen Augenblick lang nach, dann setzten auch sie sich in Bewegung. Es war noch tiefste Nacht, als Atemu und Kipino in die Nähe Men-nefers kamen. Sie umgingen die Stadt in einem weiten Bogen, während Firell vom Himmel aus sicherstellte, dass sich keine feindlichen Soldaten in der Nähe befanden. Schließlich konnten sie im Schein des Mondes die Sümpfe, die ihr Ziel waren, am Horizont ausmachen. Das Ka des Schattentänzers kreiste zunächst einige Zeit über dem Grün des Nilufers. Erst, als sie absolut sicher waren, dass sich keine Späher in der Gegend aufhielten, bewegten sie sich vorsichtig in Richtung des Flusses. Angespannt lauschten sie auf jedes Geräusch und ließen die Augen unablässig umher wandern. Schließlich erreichten sie den Tempel, in dem sie damals auf Caesian getroffen waren, ohne Zwischenfälle. Die Pferde ließen sie dort im Dickicht zurück, während sich der Pharao und sein Begleiter zum Nil hinab begaben. Kipino sah sich suchend um. „Wo genau vermutet Ihr das Relikt, Majestät?“, flüsterte er schließlich, sichtlich nervös. Atemu nahm es ihm nicht übel. Je schneller sie von hier verschwanden, desto besser. „Ich glaube nach wie vor, dass des Rätsels Lösung einzig und alleine der Nil sein kann. Alles andere würde keinen Sinn ergeben.“ „Bleibt nur zu hoffen, dass ihr mit Eurer Vermutung, dieser Abschnitt sei gemeint, Recht behaltet. Ansonsten wüsste ich nicht, wie wir das Artefakt je finden sollten.“ „Die Götter haben uns die Seele der Zeit gezeigt. Ich vertraue auf ihr Wohlwollen“, entgegnete Atemu und legte dabei seinen Mantel ab. Zudem löste er das Schwert von seinem Gürtel. Ich vertraue auf ihr Wohlwollen – auch wenn all das, was geschehen ist, viel mehr den Eindruck vermittelt, als hätten sie uns verlassen ... „Was habt Ihr vor?“, erkundigte sich der Schattentänzer verdutzt und riss den König damit aus seinen Gedanken. „Ich bezweifle, dass das Relikt einfach auf uns zugeschwommen kommen wird“, erwiderte der Pharao mit angespanntem Lächeln. „Ich werde in den Fluss steigen und sehen, ob ich etwas finde.“ „Ihr vermutet es also tatsächlich im Nil?“ „Der Spruch sagte, dass Relikt wäre vom Leben erstickt und vom Blut verschluckt worden. Deshalb denke ich, dass es in den Fluten versteckt sein muss, ja.“ Kipino nickte. „Gut. Firell und ich behalten die Gegend im Auge und achten auf Krokodile. Passt auf Euch auf, Euer Hoheit.“ Atemu nickte ihm dankend zu, dann stieg er den Rest des Hanges hinab, der ihn von den Fluten trennte, und trat ins Wasser. Kalt umspielte es zunächst seine Füße, dann seine Oberschenkel, ehe er sich ganz hinein gleiten ließ. Einen Moment lang trieb er einfach nur auf dem Nass und sah sich um, suchte nach irgendetwas, das verdächtig erschien. Doch da war nichts. Schließlich holte er Luft und tauchte unter. Im Dunkel der Fluten konnte er kaum etwas erkennen. Immer wieder kehrte er an die Oberfläche zurück, um Atem zu holen, ehe er wieder verschwand. Nach einer Weile begann er, den Boden des Flusses abzutasten, doch seine Hände fanden nichts als Algen, Steine und Schlamm. Selbst als er etwas später bereits vor Kälte zitterte, beendete er seine Suche nicht. Sie brauchten dieses Relikt. Sie brauchten das Gefühl von Erfolg, das sein Fund mit sich bringen würde. Dringend. Doch er blieb erfolglos. Atemu fand noch nicht einmal die Spur eines Relikts. Seine Gedanken rasten. Was hatte er übersehen? Oder hatte Kipino am Ende gar Recht? Befand sich das Artefakt vielleicht tatsächlich im Nil, jedoch irgendwo anders? Eine weitere Möglichkeit, die sie bislang nicht in Betracht gezogen hatten, kam ihm plötzlich in den Kopf: Was, wenn es einst hier versteckt gewesen, inzwischen jedoch Fluss abwärts getrieben worden war? Die Strömung war an einigen Stellen stark genug dafür. Nochmals tauchte er auf und sah sich um. Seine Zähne klapperten und seine Lippen hatten sich bläulich verfärbt, doch er ignorierte es. Kurz wanderte sein Blick zum Himmel. Es würde nicht mehr lange dauern, in der Zeitrechnung seiner Freunde vielleicht noch ein, zwei Stunden, dann würde die Sonne aufgehen. Und dann, da war er sicher, würden sie nicht unentdeckt bleiben. Sie mussten hier weg, das war ihm bewusst. Aber so einfach wollte er nicht aufgeben. Nein, er blieb stur. Das Relikt musste hier sein, ansonsten bestand keine Chance, es jemals zu finden – nicht mit der ihnen davon laufenden Zeit und den mangelhaften Ressourcen, auf die sie sich stützen mussten. Er holte ein letztes Mal Luft und tauchte unter. Wieder schien ihn die Dunkelheit zu verschlingen. Er schwamm und schwamm, weigerte sich zu glauben, dass er sich geirrt hatte. Nein, nein, nein. Es musste hier sein! Sie brauchten dieses Relikt! Bald spürte er, wie seine Lungen schmerzten, nach Luft verlangten. Das Gefühl wurde stärker und stärker. Schließlich zwang es ihn, aufzutauchen. Da sah er etwas. Er kam nur kurz an die Oberfläche, holte hektisch Atem und verschwand wieder in den Fluten. Nein, es war kein Streich gewesen, den sein erschöpfter Körper ihm gespielt hatte. Da war tatsächlich etwas. Ein feiner, kaum wahrnehmbarer Goldschimmer, der hinter einem dichten Bündel Algen hervordrang. Eilig schwamm Atemu zu der Stelle und zog das wogende Grün beiseite. Dahinter befand sich ein Tunnel, dessen Länge er nicht genau abschätzen konnte. Er konnte im trüben Wasser lediglich erkennen, dass der Schein vom anderen Ende kommen musste. Nochmals tauchte er eilig auf, atmete tief ein, dann machte er sich daran, in den Tunnel hinein zu schwimmen. Der Weg zog sich. Zudem führte er immer weiter nach unten. Schon bald verspürte er wieder das Ziehen in der Brust, das ihn veranlassen wollte, Luft zu holen. Doch er weigerte sich mit aller Kraft. Er war zu nah dran, um jetzt umzukehren. Dann endete der Tunnel abrupt in einer Wand. Instinktiv schwamm er nach oben – und schnappte sofort nach Luft, als sein Kopf die Oberfläche durchstieß. Er brauchte einen Moment, bis er wieder zu Atem kam, dann sah er sich um. Er befand sich in einer kleinen Höhle, kaum mehr als zehn Schritt lang und fünf Schritt breit. Sie war hell erleuchtet. Seine Augen suchten nach der Quelle des Lichts – und fanden sie. Dort, an der gegenüber liegenden Seite der Kaverne, lag es. Das Ankh des Horus. Atemus Herz machte einen Sprung, als er eilig aus dem Wasser stieg und zu dem Gegenstand hinüber eilte. Dabei musste er die Hand vor Augen halten, da ihn der Schein des Artefakts blendete. Ehrfürchtig ging er davor in die Knie und betrachtete es, so gut es ging. Es war zierlich gearbeitet, weitaus weniger klumpig als der Milleniumsschlüssel. Die Oberfläche war mit Hieroglyphen beschrieben. In der Mitte des runden Bogens, der das obere Ende des Relikts darstellte, befand sich ein stilisierter Falke, der die Flügel gespreizt hatte. Es bestand kein Zweifel. Er hatte es gefunden! Er atmete noch einen Moment lang durch, dann wurde es Zeit, zu Kipino zurück zu kehren und zu den Anderen aufzuschließen. Er löste das Tuch, das seine Gewänder zusammenhielt, von seiner Hüfte, um den Gegenstand darin einzuwickeln. Doch als er nach dem Relikt griff, wurde es schlagartig dunkel im ihn herum. Überrascht taumelte Atemu einen Schritt zurück. Ein dichter, schwarzer Nebel, der aus dem Nichts gekommen war, waberte plötzlich um ihn herum. Eine Kälte, die bis in die Knochen drang, breitete sich aus. Bald fiel ihm auf, dass er nichts hörte. Weder seinen eigenen Atem, noch das Scharren seiner Sohlen auf dem Steinboden. Er legte die Stirn in Falten, machte sich auf das Schlimmste gefasst. Da zerriss plötzlich ein Laut das Nichts. Ein Lachen. Ruhig Blut, Götterkind. Dir geschieht nichts. Die Worte wurden nicht gesprochen. Nein, er hörte sie vielmehr in seinen Gedanken. Wie damals, wenn er mit Yugi kommuniziert hatte. Die Stimme klang seltsam, als stamme sie nicht von dieser Welt. Er glaubte, dass sie weiblich war, konnte es jedoch nicht mit Sicherheit sagen. „Wer ist da? Komm‘ raus und zeig‘ dich!“, forderte er schließlich, während er das Relikt fest umklammerte. Die Antwort war zunächst ein Glucksen. Na, na. Wir werden doch in diesem Krieg nicht bereits unsere Manieren verloren haben? Immerhin … Er spürte einen leichten Luftzug. … bin ich eine Göttin! Er fuhr herum, als die Stimme, nun fauchend, mit einem Mal direkt neben ihm zu erklingen schien. Vor ihm, gerade einmal drei Schritte entfernt, stand eine Löwin. Ihr Fell war schwarz wie die Nacht. Die sonnengelben Augen musterten ihn amüsiert, zugleich jedoch auch ernst. Goldschmuck zierte den Körper des unnatürlich großen Tieres, während sich die elfenbeinfarbenen Reißzähne deutlich von der dunklen Umgebung abhoben. Es bestand kein Zweifel. Dies konnte nur eine Wesenheit sein. „Sachmet? Die Gottheit des Krieges?“, sprach er seinen Gedanken schließlich aus. Die Menschen schreiben mir viele Attribute zu. Dies ist nur das verbreitetste. Aber immerhin scheinst du schon einmal zu wissen, wer ich bin, Gotteskind. Dann wirst du beim nächsten Mal vielleicht auch daran denken, dich gebührend zu verhalten. Atemu überlegte nur kurz, ehe er sich auf ein Knie sinken ließ und den Kopf neigte. Es erschien ihm die angebrachteste Geste, hier, in Gegenwart einer Macht, die so vieles in dieser Welt überstieg. „Bitte verzeiht mir mein Verhalten, Sachmet. Ich war angespannt und habe nicht bedacht, was ich sage.“ Daraufhin vernahm er eine Art Schnurren in seinen Gedanken. Es sei dir verziehen. Erhebe dich, König von Ägypten. Wir haben nicht viel Zeit. Es wird mir nicht möglich sein, mehr als einen kurzen Augenblick in dieser Sphäre zu verbringen – zumindest, wenn ich ihr ohnehin bereits geschädigtes Gefüge nicht noch weiter aus dem Gleichgewicht bringen will. Atemu nickte, ehe er aufstand. „Was ist es, das Ihr wünscht?“ Die Göttin musterte ihn einen Moment lang. Ich wollte den, auf dessen Schulter unser aller Zukunft ruht, einmal von nahem sehen. Den toten König, der wiederauferstand. „Das ist alles?“ Sachmet verzog das Maul zu etwas, das an ein Grinsen erinnerte. Nein. Sie schien einen Moment zu überlegen, ehe sie fortfuhr: Wie ich weiß, bist du meinem Hinweis gefolgt. Du hast die Seele der Zeit gefunden. Der Pharao runzelte die Stirn. „Ihr wart es, die mir im Traum gezeigt hat, wonach ich suchen soll?“ In der Tat. Und glaube mir, damit habe ich ebenso riskiert, diese Welt zu schädigen, wie ich es auch jetzt tue, da ich herab gestiegen bin. „Diese Welt zu schädigen? Was hat das zu bedeuten?“ Du hast viele Fragen für solch eine junge Seele, Menschengott. Doch ich werde sie beantworten – denn ich spüre, dass die Menschen zweifeln. Atemu fühlte sich bei den Worten ertappt. Er senkte kurz den Blick, ehe er ihr fest in die Augen sah. "Wir tun so viel und erreichen doch so wenig. Für viele fühlt es sich an, als treten wir auf der Stelle. Als ändere sich nichts, trotz unserer Bemühungen. Tag für Tag sterben mehr und mehr Menschen. Wir verlieren Soldaten, Freunde und Familienmitglieder. Ich denke, dies bedingt die Frage, wo die Götter in diesem Krieg sind." Es ist nicht so einfach, Junge., knurrte Sachmet. Auf seinen fragenden Blick hin fuhr sie fort: Die Götter versiegelten einst einen Teil ihrer Kräfte, um die Welt vor ihnen zu schützen. Doch sie gaben längst nicht all ihre Macht ab. Auch heute vermögen wir noch so vieles. Wir könnten den Himmel brennen, das Meer versiegen und den Wind ersterben lassen. Doch all das hätte verheerende Folgen. All diese Eingriffe in das empfindliche Gefüge der Welt könnten ihr Ende bedeuten. „Aber wie kann es dann sein, dass ihr die Geschicke der Menschen lenkt? Wenn ihr das tut, beeinflusst ihr jedes Mal ein Leben, jedoch ohne irgendwelche Folgen.“ Ganz einfach: Ihr liegt falsch. Wir tun nichts dergleichen. Atemus Augen weiteten sich. „Was? Aber …“ Gewiss, wir vermögen, in eure Geschicke einzugreifen. Doch wir tun es nur selten – so wie jetzt. Und ein jedes Mal riskieren wir unser eigenes Dasein und das der gesamten Welt. Unsere Kräfte sind zu stark, als dass sie sie ertragen könnte. Die Gedanken des Pharao rasten. „Aber … aber wenn eine Schlacht geschlagen wird, wenn ein Kind erkrankt, wenn … wenn irgendetwas geschieht, bei dem über Leben und Tod entschieden werden muss – wer entscheidet, wenn nicht ihr?“ Das Schicksal. Als Atemu nichts sagte, sondern die Göttin nur mit gerunzelter Stirn ansah, führte sie die Worte weiter aus: Das Schicksal ist die stärkste Macht in dieser Welt. Sie steht über allem. Über dem Bauern. Über dem König. Selbst über dem Gott. Sie ist das Gefüge, und gleichzeitig das, was es aufrechterhält. Hin und wieder kommt es darin zu Störungen – beispielsweise wenn ein Wahnsinniger einen Gott ermordet, eine Göttin einem Sterblichen Hinweise gibt oder ihm gar noch erscheint. Nehmen sie überhand, so kann dies das gesamte weltliche Gefüge augenblicklich zum Einsturz bringen. Die Welt würde aufhören zu existieren. "Ihr sagt, dass dies geschehen wird, wenn sie überhand nehmen. Das heißt, die Welt kann ein gewisses Maß an Störungen dulden, doch wenn es zu viele werden, droht sie unterzugehen? Da die Welt noch existiert, ist dieser Fall scheinbar bislang nicht eingetreten." Richtig. Doch die Erschütterungen häufen sich. Ich kann nicht sagen, wie lange es noch dauern wird, bis sie zu zahlreich werden, als dass diese Sphäre sie noch verkraften kann. Diese Störungen müssen ein Ende haben, ehe es zu spät ist. Atemu nickte, sah dabei jedoch zu Boden. "Ich weiß. Wir tun alles, was in unserer Macht steht. Doch es ist alles andere als leicht." Die Göttin verzog das Maul abermals zu einer Art Lächeln. Was glaubst du, warum ich dich die Seele der Zeit finden ließ, Götterkind? Der Pharao studierte sein Gegenüber einen Moment lang forschend. "Um uns zu helfen. Und dafür danke ich Euch." Artig, artig. So ist es brav. Atemu überging den Kommentar. Ihm lagen noch weitere Fragen auf der Zunge, die danach schrien, geäußert zu werden. "Diese Visionen, die ich hatte, als ich die Göttermonster beschwor ... Einmal sah ich einen Falken, ein weiteres Mal den Gott Osiris ..." Ein Zeichen, Menschengott. Ein Zeichen, dass ihr nicht alleine seid. Dass wir an eurer Seite sind, gleich, was geschieht. Auch dann wenn es für euch den Anschein haben mag, als hätten wir euch verlassen - denn das haben wir nie. "Ich verstehe ... Der Regen, der vor kurzem über Ägypten fiel – bedeutete er wirklich den Tod eines Gottes?" Ja und nein. Götter sterben nicht in gleicher Weise, wie ihr es tut. Doch auch das, was mit Sokar geschehen ist, wirkt sich auf die Welt aus, denn es bringt eine Veränderung, eine Erschütterung des Gleichgewichts mit sich. "Daher der Regen." Richtig. "Und meine Freunde ... stießen sie aus der Zukunft zu uns, weil diese Sphäre bereits erschüttert wurde?" Die ersten Menschen nicht. Wir sandten sie euch, um euch Unterstützung zu verschaffen. Die beiden Männer, die vor kurzem hierher gelangten, hingegen, sind durch das inzwischen entstandene Ungleichgewicht zu euch gestoßen. Sachmet sah plötzlich auf, schien etwas an den kahlen Wänden zu fixieren, das nicht da war. Dann wandte sie sich wieder an Atemu: Die Zeit läuft uns davon, Götterkind. Es bleibt noch eines, an das ich dich erinnern will. "Und das wäre?" Kannst du dich des Traumes entsinnen, der dich zu der Seele der Zeit führte? "Sicher. Was ist damit?" Vergiss über den Triumph, eines der ältesten Überbleibsel der Zeit gefunden zu haben, nicht, wie er endete. In dieser Welt lauern noch andere Gefahren außer Caesian. Welche, die ihm vielleicht gar ebenbürtig sind. Abermals sah sich die Göttin um, dann wandte sie sich ab. Es wird Zeit, in deine Spähre zurückzukehren, Götterkind. Der Sonnenaufgang naht. Ehe Atemu auch nur ein weiteres Wort äußern konnte, zog sich der schwarze Nebel zurück. Das göttliche Wesen verschwand mit ihm, als habe es niemals existiert. Was es gesagt hatte, schwirrte dem Pharao noch im Kopf herum, als er zurück in das Wasser stieg und in die Dunkelheit des Tunnels eintauchte, durch den er gekommen war. Nun, nachdem Atemu wusste, was jedes Mal auf dem Spiel stand, wenn sich die Götter einmischten, war ihm klar, weshalb sie Caesians Tyrannei nicht längst ein Ende gesetzt hatten. Und dennoch wünschte er sich, es wäre anders. Seine Gedanken wanderten zurück zu dem Traum. Kuriboh, das von einer schwarzen Kugel verschlungen wurde und entsetzliche Qualen litt, ehe es sich plötzlich veränderte – zu einer Gestalt des Schreckens. Was hatte dieser Teil des Traumes nun zu bedeuten? Kuriboh, ein friedliches Wesen, wurde mit einem Mal von der Dunkelheit befallen und zu einem Monster der Schatten gemacht. Aber wofür genau stand diese Szene? Caesian, der Ägypten nach und nach überrannte? Nein, das wäre zu simpel. Dann kam ihm schlagartig eine Idee. Was, wenn das, was er gesehen hatte, ein Hinweis auf die mysteriöse Ka-Bestie ihres Feindes war? Das Monster hatte die wenigen Male, da Atemu es überhaupt gesehen hatte, regelrecht grotesk gewirkt. Was, wenn ihm etwas zugestoßen war, dass es in die Finsternis gestürtzt hatte? Caesian würden die Auswirkungen mit Sicherheit auch betreffen, da der Ka ein Teil der menschlichen Seele war. Aber wenn es so war, was war es dann, das die Bestie so verändert hatte? Er schob all die Fragen beiseite, als er durch die Wasseroberfläche stieß. Nachdem er sich eilig umgesehen hatte, entdeckte er Kipino am oberen Ende des Hangs, der zum Nil hinabführte. Mit einigen kräftigen Schwimmzügen gelangte Atemu ans Ufer und stieg aus den Fluten. "Majestät!", zischte der Schattentänzer ihm entgegen. "Ein Glück, ich dachte schon, Ihr wärt vielleicht ertrunken!" "Dem ist nicht so, mein Freund. Und ich kehre nicht mit leeren Händen, zurück - wir waren erfolgreich!", erwiderte Atemu mit einem Lächeln, das nun wieder mehr Zuversicht ausstrahlte, als in den letzten Sonnenläufen. Er hob das Ankh des Horus in die Höhe, sodass es der Andere trotz der Entfernung sehen konnte. Kipino kam sofort auf die Beine, einen begeisterten Ausdruck auf seinen Zügen. "Ihr habt es gefunden? Den Göttern sei Dank! Ich hatte schon geglaubt ..." Was dann geschah, vermochte Atemu selbst im Nachhinein nicht richtig zu begreifen. Ein Ruck ging durch den Körper des Schattentänzers, gefolgt von einem kurzen, abgehackten Aufschrei. In seinen Augen stand Furcht geschrieben. Dann sackte Kipino vorne über, während der Pfeil in seinem Rücken noch immer von der Wucht des Einschlags zitterte. Irgendwo in der Ferne gellte Firells Schrei. Atemus Arm sank, beinahe ließen seine Finger das Ankh fallen. Seine Augen weiteten sich entsetzt. "Nein ... Nein!" Binnen Sekunden überwand er die Distanz, die ihn von dem Schattentänzer trennte, und kniete sich neben ihn. Doch es war zu spät. Als er den leblosen Körper aus der Nähe sah, musste er feststellen, dass der Pfeil direkt in Kipinos Herz eingedrungen war. Es gab nichts mehr, das ihm helfen konnte. "Das ... nein ... bitte nicht ..." Vollkommen geschockt, nahm er beinahe nicht wahr, wie sich Gestalten aus dem Grün des Nilufers schälten. Soldaten, einige von ihnen untot, kamen auf ihn zu, ihre Lanzen und Schwerter erhoben. Binnen eines Wimpernschlags hatten sie ihn umzingelt. Sie erkannten, wen sie da vor sich hatten und beschlossen, ihn zu Caesian zu bringen. Doch Atemu hörte ihnen kaum zu. Seine Gedanken rasten, sein Herz hatte sich vor Schmerz zusammengezogen. Er bekam kaum Luft. Nicht noch einer von ihnen. Nicht noch einer, der bereit gewesen war, alles zu geben. All die Soldaten Ägyptens. All die Männer, Frauen und Kinder, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Resham, der sich geopfert hatte. Und nun Kipino ... Dieser Tag hätte trotz der Vertreibung aus der Himmelspforte ein Tag ihres Triumphes werden sollen. Doch nun nicht mehr. Nun würden sie erneut trauern. Wie an so vielen anderen Tagen in der letzten Zeit. Bring mir den da bloß heil wieder zurück, hast du verstanden? Der ist nur geliehen, nicht geschenkt! Samiras Worte ... Es war genug. Und dennoch litten sie immer weiter, Sonnenlauf für Sonnenlauf. Es war genug ... Und dennoch starben sie, Ägypter wie Schattentänzer, einer nach dem anderen. Es war längst genug! Und dennoch waren sie dazu verdammt, Niederlage um Niederlage, Verlust um Verlust zu bewältigen ... "Es ist genug!", schrie Atemu in die Nacht hinaus, als er spürte, wie die Kräfte in seinem Inneren förmlich explodierten. Wie sich Obelisk der Peiniger materialisierte und die feindlichen Soldaten auslöschte, bekam er kaum mit. Seine Augen waren auf etwas fixiert, das nur er sehen konnte. Ein gewaltiger schwarzer Falke, geschmückt mit Gold, dessen stechende, sonnengelbe Augen in schmerzerfüllt ansahen. Ich weiß, mein Sohn. Ich weiß ... Kapitel 45: Vereint ------------------- Die Sonne hatte sich noch nicht lange erhoben. Doch schon jetzt war die Hitze enorm. Caesian stand an einem der großen Fenster im Thronsaal von Men-nefers Palast. Sein Blick war nach draußen gerichtet, wo Arbeiter – einige von ihnen ägyptische Sklaven – damit beschäftigt waren, die Schäden der Kämpfe zu beseitigen. Gut ..., schoss es ihm durch den Kopf. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Er wurde aus den Gedanken gerissen, als sich die Flügeltüren des Saales öffneten und ein Soldat mit Keiro im Schlepptau eintrat. Caesian entließ seinen Untergebenen mit einer simplen Handbewegung und bedeutete dem Ägypter, an dem großen Tisch in der Mitte des Raumes Platz zu nehmen. Sein Gegenüber tat dies ohne Umschweife und griff zugleich nach einer Hand voll Trauben, die auf der polierten Holzplatte in einer silbernen Schale angerichtet waren. Caesian setzte sich ebenfalls und beobachtete den Anderen einen Moment lang, ehe er die Stimme erhob. "Hast du bereits die Neuigkeiten gehört?" Der Weißhaarige sah ihn zunächst nicht an. "Allerdings. Atemu ist gesichtet worden. Die Soldaten waren jedoch nicht fähig ihn zu schnappen. Nicht verwunderlich. Was ich mich viel mehr frage, ist ..." Plötzlich lehnte er sich nach vorne und sah dem Tyrannen fest in die Augen. "... wie das sein kann. Ich dachte, Ihr hättet vor, den Pharao und seine Brut an der Himmelspforte auszulöschen – und mir Risha zu bringen. Da heißt, entweder schlug Euer Plan fehl ... oder Ihr hattet nie vor, es dort zu beenden. Für Letzteres würde sprechen, dass lediglich ein Teil des Heeres zu ihrem Versteck aufgebrochen ist. Außerdem wart Ihr nicht dabei, obgleich dieser Sieg doch von solch großer Bedeutung für Euch ist." Als er geendet hatte, schon er sich eine Traube in den Mund und sah Caesian auffordernd an. Gewiss hatte Keiro schon vom ersten Augenblick an gewusst, dass etwas an den Befehlen seines Gegenübers falsch war – doch das würde er sich nicht anmerken lassen. Manchmal war es besser, den Dummen zu mimen, anstatt der Welt zu zeigen, dass man in der Lage war, eigenständig zu denken. Besonders bei Menschen wie Caesian. Die Antwort war zunächst ein erheitertes Glucksen. "Mein lieber Keiro. Du musst schon verstehen, dass ich nicht jedem, der daher gelaufen kommt, ohne weiteres Glauben schenken kann – besonders dann nicht, wenn er noch vor kurzen zu meinen Feinden zählte. Du hast Recht, ich hatte nie vor, es an der Himmelspforte zu beenden. Ich wollte lediglich sehen, ob du die Wahrheit sagtest. Das hast du und deshalb habe ich dich nun zu mir gebeten, um dich über meinen wahren Plan in Kenntnis zu setzen." Caesian griff nach einem Apfel aus der Obstschale und betrachtete ihn. "Wie es den Anschein hat, haben sich deine Freunde dazu entschieden, nach Süden zu flüchten. Ich schätze, sie planen, nach Theben zu ziehen. Ich werde sie vorerst gehen lassen. Sie werden nicht so einfach aufhören, nach Relikten zu suchen. Das kommt mir zugute, denn dann brauche ich mich nicht darum bemühen, sie aufzuspüren. Sobald wir sicher sein können, dass sie alle gefunden haben, werde ich es zu Ende bringen – an dem Ort, wo sie ihre Ranghöchsten bestatten. Passend, findest du nicht? Keine Sorge, du wirst den Wildfang wie abgemacht bekommen und kannst mit ihr anstellen, was immer du willst – sie war nicht der Schattentänzer, der in der Nacht sein Leben ausgehaucht hat. Wenn man Versprechungen mir gegenüber einhält, so halte ich mich auch an die meinen. Ich bin schließlich ein Mann von Ehre." Keiro musste es sich verkneifen, bei den letzten Worten eine Grimasse zu ziehen. Ehre ... dass er nicht lachte! "Ich verstehe. Wie lange gedenkt Ihr zu warten, bis Ihr ihnen folgt? Ihr müsst wissen, dass ich kein Mann bin, der gerne herumsitzt und zusieht, während andere die Arbeit für ihn erledigen." Caesian grinste. "Du solltest es einmal ausprobieren. Ich bin sicher, du würdest rasch auf den Geschmack kommen. Doch sei unbesorgt. Wir werden nicht lange untätig bleiben. Ein Soldat, nun ... überlebte die gestrige Auseinandersetzung. Mehr oder weniger in einem Stück, wenn du verstehst. Er berichtete, dass der Pharao ein Bündel bei sich trug, von dem ein Lichtschein ausging. Ich denke, der Pharao hat eines der drei fehlenden Relikte bereits gefunden – wie auch immer er das angestellt hat. Das heißt, es bleiben nunmehr zwei Artefakte übrig. Daher – und weil wir eine Weile brauchen werden, um nach Theben zu gelangen, werde ich in fünf bis zehn Sonnenläufen aufbrechen. Du kannst mich begleiten, wenn du wünscht." Er unterbrach sich, als er sah, wie einer seiner Untergebenen zur Tür eintrat und ihm bedeutete, dass er Nachricht brachte. Caesian bedeutete ihm, näher zu kommen. "Das wäre dann alles für heute, Keiro. Da ist ein Freudenhaus in der Nähe der großen Straße, die durch die Stadt führt. Warum vertreibst du dir die Zeit nicht dort ein wenig? Die Mädchen gehen auf mich." Keiro verkniff sich einen Kommentar und neigte kurz das Haupt. Dann wandte er sich zum Gehen. Er hatte es scheinbar geschafft – das Vertrauen des neuen Herrschers war ihm offenbar gewiss. Vollends sicher konnte er sich nicht sein, doch Caesian hatte im heutigen Gespräch weniger distanziert gewirkt, als im letzten. Nun hieß es warten – etwas, das er mehr hasste, als vieles andere auf der Welt. Herr und Untertan warteten, bis sich die Tür hinter dem Schelm geschlossen hatte, dann ergriff Ersterer das Wort. "Was gibt es?" "Majestät – er ist soeben eingetroffen." Das Pferd unter ihm preschte durch die Wüste. Noch war die Sonne nicht hoch genug gestiegen, als dass er es veranlassen musste, langsamer zu machen. Es ritt stetig nach Süden. Bald würde er in der Ferne das ausmachen können, was gestern noch die Himmelspforte gewesen war. Atemu fühlte sich taub. Immer wieder wanderten seine Augen zu dem zweiten Pferd, dessen Zügel er an dem Sattel seines Reittieres befestigt hatte. Es trug ein Bündel, so groß wie ein ausgewachsener Mann. Kipinos Leichnam. Wie nur war es so gekommen? Warum musste er nun alleine zu den Anderen zurückkehren, mit einer Nachricht auf den Lippen, die nur wieder Leid hervorrufen würde? Kipino hätte bei ihm sein sollen, lebendig bei ihm sein sollen, wenn sie das Ankh des Horus ihren Mitstreitern zeigten. Der freudige Ausdruck auf seinem Gesicht, der so plötzlich erstorben war und sich zu einer Fratze des Schmerzes und der Angst gewandelt hatte, würde ihn in seine Albträume verfolgen. Hätte er das Artefakt doch nur schneller gefunden. Oder hätte er Kipino mit den Anderen ziehen lassen, dann wäre der Schattentänzer jetzt noch am Leben. Stattdessen hatte er ihn um Hilfe gebeten und ihn damit in den sicheren Tod gelockt. Hatte er das wirklich? Immer wieder kamen ihm Sachmets Worte in den Sinn. Das Schicksal, das über allem stand. War es wirklich Kipinos Schicksal gewesen, von Atemu gefragt zu werden, ob er ihn begleiten würde? War es wirklich sein Schicksal gewesen, am Nilufer zu warten? Und war es wirklich sein Schicksal gewesen, dort durch einen Pfeil zu sterben? Tausende Fragen schossen Atemu durch den Kopf, während die Wüste an ihm vorüber zog. Fragen, die er Sachmet stellen würde, sollte er sie noch einmal treffen. Was genau war dieses Schicksal? Götter konnten in es eingreifen, ebenso die göttlichen Relikte. Doch wie verhielt es sich mit den Menschen? Konnten sie seine Wege ebenfalls beeinflussen? Taten sie es vielleicht gar mit jedem einzelnen Schritt, ohne es zu wissen? Bedingten sich die einzelnen Lebensstränge der Sterblichen gegenseitig? Beeinflussten sie einander? War das Schicksal des einen davon abhängig, was der andere tat? Gab es etwas, das Atemu hätte tun können, um Kipinos Tod zu verhindern? Die Frage ließ ihn schlucken. Er wusste nicht, ob er die Antwort tatsächlich erfahren wollte. Wenn es so war, dann würde er für den Rest seiner Existenz damit leben müssen, einen Unschuldigen auf dem Gewissen zu haben. Selbst wenn es stimmt und es hätte einen Weg gegeben, ihn zu retten – dir war dieser Weg unbekannt. Du wusstest nicht was geschehen würde. Es war nicht deine Schuld. Die Stimme in seinem Hinterkopf vermochte nicht, seine Pein zu lindern. Irgendetwas konnte man immer tun! Wenn er doch nur vorsichtiger gewesen wäre, seiner Umgebung mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätte, als er aus dem Wasser gestiegen war – oder Kipino einfach nur bedeutet hätte, versteckt zu bleiben, vor Blicken geschützt durch das Grün des Nils. Doch der Triumph hatte ihn übermannt. Es war das eingetreten, wovor Sachmet ihn – wenn auch in einem anderen Zusammenhang – gewarnt hatte. Er hatte vor Freude alle Vorsicht fallen lassen. Ein weiterer Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Wie um alles in der Welt sollte er den Schattentänzern beibringen, dass wieder einer von ihnen verloren war? Allen voran Samira? Es würde ihr das Herz brechen, vielleicht gar noch mehr, als Reshams Tod es getan hatte. Hinzu kamen Atemus Bedenken, dass sich das Verhältnis zwischen ihm, seinen Gefolgsleuten und dem Clan damit wieder deutlich verschlechtern könnte. Vor allem Risha würde den Tod Kipinos nicht gut aufnehmen, da war er sich sicher. Auch Samira war ein Mensch, dessen Trauer rasch in blinde Wut umschlagen konnte. Zu allem Übel war er mit dem Schattentänzer auch noch alleine unterwegs gewesen, als er gestorben war. Sein Gefühl ließ ihn befürchten, dass gerade die beiden zuletzt genannten Clanmitglieder Verdächtigungen anstellen würden, die dahin gingen, dass Kipinos Tod für Atemu keine Überraschung gewesen war. Energisch schüttelte er schließlich den Kopf, ganz so, als wolle er all die wirren Gedanken dadurch vertreiben. Er konnte lange ein Schreckensszenario an das andere reihen, es würde jedoch nichts bringen. Im Endeffekt würde er es sein müssen, der Riell und seinem Clan die Nachricht vom Tod ihres Bruders und Freundes überbrachte. Daran ging kein Weg vorbei. Er würde ihre Reaktionen ertragen müssen, gleich, wie sie ausfielen. Er gab seinem Pferd die Sporen. Er wollte es hinter sich bringen – und wenn auch nur, um endlich über das, was passiert war, sprechen zu können. Der Rest des Widerstandes zog derweil immer weiter gen Theben. Anfangs hatten besonders die flugfähigen Ka-Bestien einen großen Teil der Vorräte und Güter, sowie einige Menschen transportiert, um möglichst rasch eine Distanz zwischen sich und dem Feind aufzubauen. In der Nacht hatten sie dann entschieden, dass ihr Vorsprung für's Erste ausreichend war und hatten die Lasten umverteilt. Da die geflügelten Monster in der recht flachen Wüste aus der Ferne einfach auszumachen waren, hatte man nun die Ungetüme herbei gerufen, die sich zu Land fortbewegten. Shiruba, Anubis, aber auch Cheron und Des Gardius trugen nun seit dem frühen Morgen die Sachen, während die Menschen zu Fuß oder zu Pferd unterwegs waren. Besonders die ersten beiden Wesen waren aufgrund ihres kräftigen Baus und ihrer immensen Körperkraft vollkommen bepackt. Alles in allem kamen sie recht rasch voran, dafür, dass sie in solcher Hektik hatten aufbrechen müssen und nicht annähernd genügend Reittiere für alle hatten. Dennoch hatten sie beschlossen, Diabound bei Einbruch der Nacht auszuschicken, um sich darüber Klarheit zu verschaffen, wie weit Caesians Truppen wirklich entfernt waren. Durch seine Fähigkeiten war das Monster schließlich in der Lage, sich praktisch unsichtbar zu machen sobald die Sonne verschwand und trug damit das geringste Risiko, Schaden zu nehmen. Ryou wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn, während er neben Shiruba her trabte. Er war derartig warme Temperaturen nicht gewohnt und mochte sie auch nicht wirklich. Dennoch biss er sich weiter tapfer durch. Dabei half ihm, hin und wieder einen Blick zu Shiruba zu werfen. Das kräftige Ungetüm schleppte die Lasten, die man ihm aufgeladen hatte, ohne den kleinsten Protest von sich zu geben. Lediglich das offenstehende Maul und die leicht heraushängende Zunge verrieten, dass die Anstrengungen nicht spurlos an ihm vorbei gingen. Doch im Augenblick schien er noch fit genug zu sein, damit sich Ryou keine Sorgen machen musste. Seine Gedanken schweiften wieder zu Keiro. Wo war nur abgeblieben? Er hatte ihn nirgendwo gesehen, als sie die Himmelpforte verlassen hatten und auch jetzt konnte er ihn nicht unter den Leuten ausfindig machen. Was, wenn ihm etwas zugestoßen war? Er seufzte. Scheinbar war er der Einzige, den diese Frage interessierte. Riell hatte ihm klipp und klar gesagt, dass ihn der Verbleib des Anderen nicht kümmerte. Risha hingegen schien sich ebenfalls Gedanken zu machen, jedoch auf andere Art und Weise als Ryou – sie wollte wissen, wo er war, damit sie ihn im Auge behalten konnte. Selbst Bakura tat so, als wäre ihm egal, was aus seinem Bruder wurde. Er wusste nicht, warum, doch plötzlich verlangsamte er seine Schritte. "Ich bin gleich wieder zurück", sagte er zu Shiruba, der ihm einen fragenden Blick zuwarf und seine Aussage mit einem knappen Nicken quittierte. Kurz sah er sich um, dann entdeckte er den Gesuchten in der Menge. Bakura ritt ein Stück weit hinter ihm, etwas abseits vom Rest des Trosses. Ryou steuerte auf ihn zu und fand sich schließlich direkt neben ihm wieder. "Bakura?", sprach er den Anderen an. Der hatte sein Kommen bereits mit hochgezogener Augenbraue verfolgt. "Was willst du?" "Sag mal ... wunderst du dich denn gar nicht, wo Keiro hin ist? Er hat schon in der Himmelspforte gefehlt und auch jetzt ist er nirgends zu sehen." Der Grabräuber verdrehte zur Antwort die Augen. "Jetzt fang' du nicht auch noch damit an!" "Aber was ist, wenn ihm etwas zugestoßen ist? Was, wenn er irgendwo da draußen ist und Hilfe braucht?" "Das bezweifle ich." "Aber ..." "Keiro ist alt genug, um auf sich selbst aufzupassen. Zum Mitschreiben: Ich bin nicht sein Kindermädchen!" "Das sagt ja auch niemand! Aber als sein Bruder solltest du dich wenigstens für ihn interessieren. Ich weiß, das was er abgezogen hat, war nicht richtig. Doch ihr habt euch nach so langer Zeit endlich wiedergefunden, meinst du nicht ... hey!" Ehe Ryou seinen Satz vollenden konnte, hatte Bakura seinem Pferd die Sporen gegeben und war davon geprescht. Am vorderen Ende des Zuges angekommen, zügelte er es wieder. Ryou fuhr sich genervt mit der Hand durch die Haare. "Sowas Ungehobeltes ..." "Hey, ist alles okay?" Er wandte sich nach der Stimme um, nur um Joey, Duke und Tristan zu entdecken, die zu ihm herüber kamen. "Ja, ja", winkte er ab. "Alles gut. Ich hab' lediglich versucht mit Bakura zu reden." "Allmählich solltest du gelernt haben, dass das ein Ding der Unmöglichkeit ist, oder?", kommentierte der Blonde. "Weswegen wolltest du ihn sprechen?" "Wegen Keiro. Er ist noch immer nicht wieder zu uns gestoßen. Ich mache mir eben Gedanken darüber, was mit ihm sein könnte", erwiderte Ryou. "Keiro? Das war Bakuras Bruder, soweit ich mitbekommen habe, richtig?", erkundigte sich Tristan. "Genau", bestätigte Joey. "Mit dem kann er aber genauso gut, wie mit Risha und jedem anderen Menschen auf diesem Planeten – nämlich gar nicht." "Bei solchen Familiengeschichten, besonders wenn es um irgendwelche zerstrittenen Geschwister geht, bin ich immer wieder dankbar dafür, Einzelkind zu sein", meinte Duke. "Was genau ist denn der Grund, warum die alle nicht miteinander können?" "War eine längere Geschichte. Die Kurzform: Keiro und Risha hassen sich, deswegen hat Keiro Bakura nicht erzählt, dass Risha noch lebt. Bakura hat aber rausgefunden, dass Risha noch lebt und war dann sauer auf Keiro – und das, obwohl ihm Risha offenbar am Allerwertesten vorbeigeht", fasste Joey prägnant zusammen. "Das muss man nicht verstehen, oder?", warf Tristan ein. "Ne, muss man nicht. Immerhin geht's hier im Bakura, da wäre jeder Versuch, irgendetwas verstehen zu wollen, sowie so vollkommen sinnlos. Der Kerl hat schlicht und ergreifend ein Rad ab", erwiderte der Blonde. "Na ja ...", meinte Ryou, während er in Bakuras Richtung sah. "Er hat einiges mitgemacht. Ich weiß nicht, ob wir nicht auch so wären, wenn wir das erlebt hätten, was er erlebt hat." "Sag mal geht's noch? Ausgerechnet du brichst 'ne Lanze für den Kerl? Nach allem was er dir angetan hat?", entgegnete Tristan sichtlich überrascht. Der Angesprochene ließ den Blick auf dem Mann ruhen, der sein Zwilling hätte sein können. "Ich weiß selbst, dass es vollkommen bescheuert ist. Aber irgendwie ..." Ehe er seine Worte jedoch weiter erklären konnte, erregte ein Soldat seine Aufmerksamkeit, der vom Ende des Zuges zur Spitze ritt und sein Pferd neben dem von Riell zügelte. Sie besprachen kurz etwas, dann deutete der niedere Schattentänzer nach Norden. Die vier jungen Männer aus der Zukunft folgten seinem Fingerzeig und entdeckten etwas in der Ferne am Himmel, das momentan kaum mehr als ein Punkt war. "Was ist das?", sprach Duke schließlich die Frage aus, die ihnen allen sofort durch den Kopf geschossen war. "Keine Ahnung. Aber hey, seht mal!", rief Joey plötzlich. Riell hatte sich von dem Tross abgesetzt und preschte auf seinem Pferd dem Schatten am Himmel entgegen. Ein kurzes, grelles Aufleuchten folgte, dann erschien Anwaar und schoss über der Wüste dahin, dem unbekannten Etwas entgegen. Sie verfolgten das, was sich am Himmel abspielte, angespannt. Bislang hatten sie nur ein einziges Monster in den Reihen des Feindes gesehen und das war Caesians. Doch was, wenn der feindliche Tyrann wieder einmal eine Überraschung für sie bereitgehalten hatte? Was, wenn da noch mehr Ka-Bestien waren, die ihm unterstanden? Anwaar wurde in der Ferne kleiner und kleiner – dann drehte er plötzlich ab. Riell verharrte noch einen Moment dort, wo er war, dann wandte er sein Pferd um und ritt zurück zu seinen Mitstreitern. "Keine Sorge!", ließ er sie schon von weitem wissen. "Es ist Seto!" "Seto?", hakte Joey sogleich nach. "Was macht der denn da oben? Und was ist mit Yugi und Tea?" "Sie sind bei ihm, ebenso wie Samira. Sie kommen mit dem weißen Drachen zu uns", erwiderte der Schattentänzer. Man merkte ihm sofort an, dass er zum einen erleichtert, zum anderen besorgt war – denn von Atemu und Kipino fehlte jede Spur. Der Tross hielt an und wartete, bis das Monster des Hohepriesters sicher bei ihnen gelandet war. Es trug seine vier Passagiere in den mächtigen Klauen. Kaum, da es festen Boden unter den Füßen hatte, ließ es sie herunter und verschwand wieder in der Seele seines Trägers. "Ein Glück, ihr seid sicher zurück!", begrüßte sie Marik als Erster, während er und die Anderen zu ihnen hinüber eilten. "Aber wo sind der Pharao und Kipino?", fügte er die Frage hinzu, die ihm und den Umstehenden auf der Seele brannte, als sie die Ankömmlinge erreichten. „Genau! Und seit wann seid ihr unter die Drachenreiter gegangen?“, hakte Joey nach. „Wir hätten ewig gebraucht, um Caesians Heer zu umgehen. Da hat Seto gemeint, dass wir so wohl am schnellsten zu euch aufschließen“, sagte Tea. "Atemu und Kipino kommen nach", erklärte Yugi anschließend. "Sie haben an dem Ort, der ihm im Traum erschienen ist, etwas gefunden, das ihnen einen Hinweis auf ein weiteres Relikt gegeben hat." "Wirklich? Und was wäre das?", fragte Marik sowohl neugierig, als auch erfreut nach. "Das hier", ergriff Seto das Wort und wickelte die Seele der Zeit aus den Leinentüchern aus, die sie schützten, ehe er sie auf dem Boden ausbreitete. "Ein Papyrus?", äußerte Mana verdutzt. "Nicht schon wieder irgendein Schrift-Kram", schnaubte Marlic. "Tja, doof wenn man nicht lesen kann, was?", griff Samira die Vorlage feixend auf. "Bild dir bloß nichts darauf ein, dass du deinen Namen schreiben kannst, du Gör." "Könnt ihr Zwei mal kurz die Klappe halten?", ging Joey dazwischen. "Was ist das für ein Ding? Und wo sind die beiden jetzt?" "Laut Atemu handelt es sich bei dieser Schrift um die Seele der Zeit. Wisst ihr, was es damit auf sich hat?", fragte Yugi an die Altägypter unter ihnen gewandt. Mana legte die Stirn in Falten. "Noch nie davon gehört ...", sagte sie schließlich. Riell und Risha hingegen tauschten mehr als überraschte Blicke. „Es gibt einige Legenden, die sich um die Seele der Zeit ranken … aber es gab nie auch nur den geringsten Hinweis darauf, dass sie wirklich existiert. Und ihr seid euch absolut sicher, dass sie das ist?“, erwiderte Ersterer nach kurzem Überlegen. „Denn wenn ja, dann hat der Pharao etwas gefunden, das die göttlichen Relikte noch bei weitem übertrifft – so viel weiß ich, aber das ist leider auch schon alles.“ Den Umstehenden entging nicht, dass in seiner Stimme eine gewisse Sorge mitschwang – noch etwas, das es zu beschützen galt und das Caesian, sofern es wirklich war, wofür sie es hielten, um keinen Preis in die Finger bekommen durfte. "Verstehe. Nun, Atemu zufolge hat ihm dieser Papyrus offenbart, wo sich das Ankh des Horus befinden könnte. Deswegen ist er mit Kipino losgezogen, um es zu suchen. Er glaubt, dass es sich in denselben Sümpfen befindet, in denen der Reif der Isis verborgen war", erklärte Yugi schließlich. "Sie sind bitte wohin gegangen?", entfuhr es Risha. "Aber der Reif war doch in der Nähe von Men-nefer versteckt! Und sie sind dort lediglich zu zweit hingegangen?", hakte auch Marik sofort nach. "Und du hast das zugelassen?", echauffierte sich Mana derweil an den Hohepriester gewandt. "Er befahl mir, den Papyrus außer Reichweite von Caesian zu bringen. Glaube mir Mana, es gäbe nichts, was ich lieber getan hätte, als ihn zu begleiten. Aber ich bin leider nicht in der Position meinem König zu widersprechen", zischte Seto sie zur Antwort an. Die Hofmagierin verkniff sich daraufhin weitere Bemerkungen und widmete ihre Aufmerksamkeit der Seele der Zeit. „Und darin stehen also die Orte niedergeschrieben, an denen sich die Relikte befinden?“, fragte sie, um sich von dem unguten Gefühl abzulenken, das sie befallen hatte, sobald sie von Atemus Aufenthaltsort erfahren hatte. Vorsichtig griff sie nach dem Papyrus und rollte ihn ein Stück weit aus, sodass sie einige Zeilen lesen konnte. „Das wird nichts bringen“, unterbrach Samira ihr Tun plötzlich. „Das Ding ist etwas … seltsam. Man kann es nicht einfach so lesen.“ Die Hofmagierin sah sie mit gerunzelter Stirn an. „Was meinst du damit?“ „Hm … wie erkläre ich das am einfachsten …? Warte, ich zeig‘ es dir!“ Die kleine Rothaarige kniete sich neben Mana in den Sand und entrollte den Papyrus noch etwas weiter. „So, jetzt lese ich dir vor, was für mich da steht.“ „Für dich?“ „Jep. Hör zu!“ Samira fuhr damit fort, drei Zeilen aus der Schrift laut vorzulesen – sie handelten von zwei armen Ägyptern, einem Ehepaar, das ein Kind erwartete. Die Frau brachte schließlich ein kleines Mädchen zu Welt. Mana hatte bereits ab dem ersten Satz die Stirn noch tiefer in Falten gelegt. „Halt, warte“, meinte sie schließlich. „Ich will dir wirklich nicht zu nahe treten … aber du hast dich da verlesen. Da steht nichts von armen Leuten, sondern von Menschen aus dem Mittelstand – und ihre Namen sind ebenfalls anders, als die, die du genannt hast. Sie … sie hießen nicht Amsu und Jendayi, sondern … Sefu und Hehet …“ „Wie deine Eltern?“ Entgeistert wanderte Manas Blick zu der kleinen Schattentänzerin. „Woher …?“ „Das ist es, was ich dir zeigen wollte. Die Seele der Zeit ist kein normaler Papyrus. Jeder, der sie ansieht, sieht seine eigene Lebensgeschichte vor sich. Amsu und Jendayi waren die Namen meiner Eltern und sie stammten aus ärmlichen Verhältnissen. Du hingegen liest natürlich von den deinen, weil deine Geschichte ja eine andere ist als meine.“ Samira sah wieder auf das Schriftstück hinab. „Das hier ist der erste Abschnitt, der von unserer Entstehung und Herkunft handelt. Danach folgt all das, was wir erlebt haben und was uns geprägt hat. Und dann …“, meinte sie und entrollte das Schriftstück ganz, „… wir es irgendwann total wirr und man versteht kaum noch ein Wort. Das passiert ab da, wo es um die Dinge geht, die noch nicht geschehen sind.“ „Du meinst, dieses Dokument kennt auch unsere Zukunft?“, äußerte Ryou verblüfft. „Echt jetzt?“, mischte sich auch Joey ein. „Alter, wie geil ist das denn? Los, sag‘ schon, wann besiegen wir Caesian endlich?“ „Hörst du mir überhaupt zu? Ich sagte doch, das, was noch nicht geschehen ist, ist absolut kryptisch! Es ist unmöglich herauszulesen, was noch passieren wird!“, wiederholte Samira genervt. „Oder du bist hier diejenige, die nicht lesen kann“, kommentierte Marlic feixend. Sofort war die kleine Rothaarige auf den Beinen. „Und ob ich das kann! Risha hat es mir beigebracht!“ „Als ob das irgendwas zu sagen hat. Los, geh beiseite!“ erwiderte der Andere und schob die Schattentänzerin weg, um einen besseren Blick auf die Seele der Zeit haben zu können. Die Blicke, mit denen Risha derweil versuchte, ihn zu erdolchen, ignorierte er gekonnt. „Dann lass mal sehen …“ murmelte Marlic und begann den letzten Absatz zu lesen. Es dauerte jedoch nicht lange, da wandelte sich sein triumphierender Gesichtsausdruck – schließlich blickte er säuerlich drein. „Was zum Geier …?“ „Sag ich doch! Wer ist jetzt hier der Doofe, hä?“, hakte Samira sofort nach und streckte Marlic zur Krönung noch die Zunge heraus. „Mach‘ das nochmal und ich schneid‘ sie dir ab, du vorlautes Balg!“, schoss der sogleich zurück. „Versuch es doch!“, flötete die Rothaarige. „Ganz wie du …“ Marlic hatte sie erhoben und war drauf und dran, auf Samira loszugehen. Doch kaum, dass er auch nur einen Schritt in ihre Richtung getan hatte, spürte er plötzlich etwas Kaltes an seiner Kehle. Ein kurzer Blick bestätigte ihm, dass sich ein Dolch direkt an seinem Hals befand – gehalten von Risha. „Das würde ich lassen …“, kommentierte die kühl. Marlic sah einen Moment lang verdutzt drein, dann begann er breit zu grinsen. „Sieh an, sieh an. Du gehst ja ganz schön ran, Kleines. Aber ich steh‘ drauf …“, säuselte er – und erntete prompt die Reaktion, die er hatte bekommen wollen. Rishas Augenbraue begann zu zucken, während ihr Gesicht einen Ausdruck annahm, den er nicht beschreiben konnte, der ihn jedoch so sehr amüsierte, dass er beinahe loslachen musste. In jedem Fall war das den keineswegs ernst gemeinten Kommentar jedoch wert gewesen. Ein kurzer Blick bestätigte ihm, dass auch die restlichen Umstehenden überaus lustige Gesichtsausdrücke aufwiesen. Was für ein Spaß, endlich etwas Abwechslung inmitten all der Langeweile! Er wollte gerade nachlegen, als … „Eher bring ich sie um die Ecke, als dass du einen Finger an sie legst. Ich lass nicht zu, dass du meinen Stammbaum besudelst, gleich welche noch so weit entfernte Ecke davon.“ Marlics amüsierter Blick wanderte zu Bakura, der mit verschränkten Armen ein Stück weit entfernt stand. „Besudeln? Ich? Ha! Du meinst wohl, deine jämmerliche Blutlinie würde endlich mal jemanden aufweisen, auf den sie stolz sein kann!“ „Dass gerade du dein zu groß geratenes Maul aufreißen …“ „Haltet den Mund, alle beide!“, ging Marik dazwischen. „Wann rafft ihr eigentlich endlich, dass dieses ständige Gezanke uns keineswegs weiterhilft! Ihr könnt euch darüber streiten, wer das größere Ego hat, wenn dieser Krieg vorbei ist – bis dahin wäre es aber durchaus angebracht, sich nicht zu verhalten, als hättet ihr noch nicht mal die Pubertät hinter euch gebracht!“ „Passiert das öfter?“, fragte Tristan derweil an Tea gewandt. Die seufzte nur tief. „Allerdings. Ständig kriegt sich hier irgendwer in die Haare. Manchmal ist es der reinste Kindergarten.“ „Das glaube ich nicht“, kommentierte Duke und erntete verdutzt Blicke von seinen Freunden. „Alle hier stehen unter gewaltigem Druck. Ist doch klar, dass sich der einen Weg bahnt, auch wenn die Gründe, über die dann gestritten wird, noch so banal sind. Ich denke es ist besser, dass sie sich regelmäßig mal was an den Kopf werfen, als dass sich der Frust aufstaut und irgendwann explosionsartig entlädt.“ „Prinzipiell würde ich dir da sogar zustimmen“, erwiderte Tea. „Aber wart’s mal ab. Irgendwann geht auch dir das ständige Gekeife auf die Nerven.“ „Ich hätte da eine Frage, Samira“, bemerkte Ryou derweil und lenkte die Aufmerksamkeit der Umstehenden damit wieder auf das eigentliche Thema zurück. „Du hast gesagt, dieses Schriftstück hätte Atemu verraten, wo das Ankh des Horus verborgen ist. Aber wenn es nur den Lebenslauf dessen, der es betrachtet, enthält und das, was noch kommen wird, total kryptisch ist, wie hat er dann herausgefunden, wo er suchen muss?“ Die Kleine schien einen Moment zu überlegen, dann schüttelte sie den Kopf. „Ich weiß nicht genau … er hat eine Hand darauf gelegt und schien sehr konzentriert. Dann hat er uns einen Vers vorgelesen, den nur er sehen konnte.“ Kurz herrschte Schweigen, dann ergriff Seto das Wort. „Wir werden warten müssen, bis seine Majestät uns eingeholt hat. Ich würde vorschlagen, wir setzen unseren Weg bis zum Einbruch der Nacht fort und schlagen dann ein Lager auf. Nach dem, was wir aus der Luft gesehen haben, dürfte der Abstand zwischen uns und Caesians Heer groß genug sein, um uns eine Rast leisten zu können – zumal auch seine Truppen nicht ununterbrochen marschieren können.“ Yugi nickte zustimmend. „Und wenn wir mit unserer Vermutung richtig liegen, dann ist es ohnehin nicht sein Ziel, uns so schnell wie möglich einzuholen.“ „Wie darf ich das verstehen?“, erkundigte sich Riell daraufhin. „Atemu glaubt, dass er vorhat, uns bis nach Theben zu treiben, ohne uns wirklich angreifen zu wollen. Er denkt, dass Caesians uns erst in die Enge treiben will – um dann zum entscheidenden Schlag auszuholen.“ Es herrschte betretene Stille, ehe Risha seufzte. „So unangenehm es ist, es auszusprechen, aber ich vermute, seine Hochwohlgeborenheit hat ausnahmsweise Recht. Zumindest klingt es nach etwas, das Caesian tun würde. Alleine für seine ständigen Spielchen werde ich ihm mit höchstem Vergnügen den Kopf abschlagen …“ „Ich fürchte, da wirst du dich hinten anstellen müssen“, warf der Hohepriester ein. „Oh, wie süß! Will da etwas jemand Rache für seine kleine Freundin nehmen?“, ergriff Marlic die Chance und grinste. Seto schenkte ihm lediglich einen abschätzigen Blick, ehe er sich zum Rest des Trosses umwandte. „Lasst uns gehen. Ansonsten wird unser Vorsprung bald nicht mehr so groß sein.“ Caesian gab sich keinerlei Mühe, seine Freude zu verbergen, als er mit beschwingtem Schritt durch die Korridore des Palastes eilte. Endlich. Endlich, endlich, endlich! Wie lange hatte er auf diesen Tag gewartet? Zu lange, entschied er. Er hatte nicht gedacht, dass sich die Ägypter ihm derartig widersetzen würden, sodass sich sein Plan verzögert hatte. Letzten Endes hatte er ihn aber doch benachrichtigen und zu sich bitten können. Ja, Men-nefer war noch nicht vollständig wiederaufgebaut. Aber das, was die Arbeiter bislang geschafft hatten, genügte vorerst, um Taisan einen ersten Eindruck von dem zu vermitteln, was sie sich hier erschaffen würden. Schließlich trat er in den Innenhof des Palastes hinaus. Das große Tor, das den Zugang zum königlichen Grund und Boden ermöglichte, stand weit auf. Caesian musste nicht lange warten, bis eine Schar Reiter hindurchgeritten kam. Seine Augen wanderten suchend über die Soldaten, bis er schließlich das weiße Pferd in ihrer Mitte und den, der darauf saß, erblickte. Er bemühte sich nicht, das ehrliche Lächeln, das sich auf seine Züge stahl, zu verbergen. Kaum, da der Tross gehalten hatte und die Reiter abgestiegen waren, knieten sie vor dem neuen Herrscher Ägyptens nieder – bis auf den Mann, den Caesian so sehnsüchtig erwartet hatte. Sein Erscheinungsbild flößte den Soldaten, die ihrem Herren zu Beginn des Krieges hierher gefolgt waren, die altbekannte Ehrfurcht ein, die sie schon in ihrer Heimat jedes Mal verspürt hatten, wenn sie ihm gegenüberstanden. Vielleicht lag es daran, dass er wirkte, als stamme er nicht von dieser Welt, als sei er ein höheres Wesen. Lange, weite, weiß-graue Gewänder, die mit Silber bestickt waren, wallten seinen Körper hinab. Sie verdeckten alles, von den Schultern bis hinab zu den Füßen. An den Händen trug er weiße Handschuhe. Um Hals und Kopf war ein dichtes Tuch von gleicher Farbe geschlungen. Was es jedoch war, das ihn so unmenschlich wirken ließ, war die versilberte Maske, die sein Gesicht verbarg. Zwei winzige Öffnungen waren hinein geschlagen worden, damit er sehen konnte – und gaben zugleich einen Blick auf seine Augen frei, den einzigen Teil seines Körpers, der überhaupt zu sehen war. So geschah es mehr aus Reflex, als auf Anweisung hin, dass die umstehenden Wachtposten ebenso auf die Knie gingen, wie jene, die den Tross begleitet hatten. Caesian schritt derweil mit ausgebreiteten Armen auf den Mann in Weiß zu. Das Lächeln auf seinem Gesicht wirkte nun leicht verbissen. Ein Beobachter hätte beinahe den Eindruck bekommen können, als müsse der Tyrann Tränen der Freude zurückhalten. „Endlich sehen wir uns wieder“, sprach er, als er die Distanz zwischen sich und dem Anderen überwunden hatte, und ihn in die Arme schließen konnte. Sein Gegenüber erwiderte die Geste. „In der Tat. Es ist zu viel Zeit vergangen, seitdem wir uns das letzte Mal sahen“, sprach er, wobei seine Stimme durch die Maske leicht gedämpft klang. Doch selbst, wenn sie nicht gewesen wäre, hätte sein Tonfall recht ausdruckslos geklungen. Er hatte schon früh die Eigenschaft angenommen, seine Emotionen nicht mit Intonation, sondern durch seine Wortwahl auszudrücken. Sie lösten sich voneinander. Caesian ließ den Blick über den Mann wandern, dessen Stimme dennoch verraten hatte, dass er jünger war, als der derzeitige Herrscher des Landes. Das Lächeln fiel einen Moment, ehe es wieder genau so strahlend war, wie vorher. Dann legte er dem Weißgekleiderten eine Hand auf die Schulter. „Wie geht es dir, Taisan?“ „Nun, da die Reise hinter uns liegt, besser“, war die Antwort, während sich beide allmählich vom Tross entfernten. „Wenn du möchtest, kannst du dich zunächst ausruhen. Ich habe deine Gemächer bereits herrichten lassen. Ich denke, sie werden dir gefallen. Ich kann dir auch etwas zu essen bringen lassen. Wir haben alles, was du dir vorstellen kannst.“ „Nein, nein. Ich bin viel zu neugierig, um zu ruhen. Ich möchte endlich mit eigenen Augen sehen, wovon du in deinen Briefen so schwärmtest“, entgegnete Taisan. Caesian lächelte abermals. „Dann komm, Bruder. Ich zeige dir Men-nefer.“ Kapitel 46: Hass ---------------- Inzwischen neigte sich der Tag dem Abend zu. Die Sonne begann nach und nach zu versinken, wobei sie das Land in rötliches Licht tauchte. Die Dünen, die Men-nefer umgaben, wirkten, als würden sie in Flammen stehen. Taisan ließ den Blick über die unendlichen Weiten der Wüste schweifen, während der Wind an seinen Gewändern zerrte. Caesian hatte ihn zuletzt auf die inzwischen wieder aufgebaute Stadtmauer hinauf geführt. In einiger Entfernung konnte er das Grün des Nilufers ausmachen, das in starkem Kontrast zum Rest der Landschaft stand. „Du hast kaum etwas gesagt, während ich dir alles gezeigt habe. Wie gefällt es dir hier?“, fragte Caesian schließlich in die abendliche Stille hinein. Sein Bruder schien einen Moment zu überlegen, dann nickte er. „Es ist wunderschön. Schöner als alles, was ich bislang erblickt habe. Dieses Land … es scheint so rein. So unbefleckt und gesund. Ganz anders als alles, was wir kannten.“ „Ich hatte dir doch versprochen, dass es uns eines Tages besser gehen würde, nicht wahr? Wie du weißt, halte ich mein Wort, Taisan.“ Erneut trat Schweigen zwischen sie. Caesians Blick wanderte nach einer Weile zu seinem Gegenüber. Die Sonne tauchte die weißen Gewänder, die er trug, in ihre warmen Farben. Auch die versilberte Maske auf seinem Antlitz zierte ein roter Schimmer. Der Gesichtsausdruck des Älteren wandelte sich langsam, während er seinen Bruder so betrachtete. Eine Frage hatte er bislang nicht gestellt. Nicht etwa, weil er sie vergessen hatte. Nein. Der Grund war ein anderer. Ein Teil von Caesian fürchtete die Antwort. „Wie geht es dir?“, sprach er die Worte dennoch aus. „Ich meine … hat sich irgendetwas verändert, seit wir uns zuletzt sahen?“ Taisan zögerte. „Nicht viel. Es geht mir gut“, erwiderte er schließlich. Der Andere legte die Stirn in Falten. „Was heißt ‚nicht viel‘? Ist es schlimmer geworden?“ Die Augen sahen ihn unter der Maske hervor prüfend an. Dann hörte Caesian ein Seufzen. „Im Gegenteil. Vor kurzem hatte ich noch Schmerzen. Ich dachte nicht, dass ich in der Lage sein würde, bald zu dir zu kommen. Doch kurz bevor ich aufbrach, ließen sie ebenso rasch nach, wie sie aufgetreten waren.“ „Aber … das ist doch gut, nicht wahr?“ „Ich denke, das ist es nicht, Bruder.“ Taisan unterbrach sich kurz und rieb seine Finger gedankenverloren aneinander, ehe fortfuhr: „Anstelle der Schmerzen spüre ich an einigen Stellen … nichts mehr. Meine Hände beispielsweise – sie sind taub. Gleich ob ich Nadeln hineinsteche oder sie in heißes Wasser halte, ich fühle nichts. Die Heiler sagen, dass diese Entwicklung zum gewöhnlichen Verlauf der Krankheit gehört. Es wird sich weiter ausbreiten, bis ich kaum noch etwas spüre – weder Schmerz, noch Hitze, noch Kälte. Zudem merke ich, dass ich nicht mehr so gut sehe, wie im letzten Sommer.“ Caesian wusste zunächst nicht, was er darauf erwidern sollte, sodass er einfach schwieg. Das, was sein Bruder gesagt hatte, ging ihm aber dennoch durch den Kopf. „Was … was wird geschehen, nachdem du nichts mehr fühlst?“, flüsterte er schließlich. Taisan sah ihn wieder an. „Das ist nicht von Bedeutung. Noch nicht.“ „Du willst mich nicht beunruhigen. Dabei solltest du besser als jeder andere wissen, dass es gerade das Ungewisse ist, das mir Sorgen bereitet – besonders dann, wenn es dich betrifft.“ Es war still, ehe der Jüngere wieder das Wort ergriff. „Es ist in mir, Caesian. In meinen Adern. Es zerstört meine sterbliche Hülle, Stück für Stück. Irgendwann werde ich noch schwächer sein, als ich es heute ohnehin schon bin. Wenn eintrifft, was die Heiler sagen, dann werde ich irgendwann weder gehen, noch sprechen können.“ Taisan wandte den Blick wieder von seinem Gegenüber ab. „Wenn es soweit ist, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis ich diese Sphäre verlassen werde.“ Caesian biss sich auf die Unterlippe. Er wusste es, seit dem Tag kurz nach der Geburt seines Bruders, als man festgestellt hatte, dass das Kind nicht gesund war. Und dennoch fürchtete er den Augenblick, da er alleine auf dieser Welt zurückbleiben würde, mehr als alles andere. Mehr als die schlimmste Niederlage. Mehr als seinen eigenen Tod. Schließlich rang er sich dazu durch, die Gedanken beiseite zu schieben und legte dem Jüngeren eine Hand auf die Schulter. „Dieser Tag ist noch fern. Es wird dir hier gut gehen, Taisan – besser, als du es jemals in unserer Heimat hattest. Die Luft hier ist so klar, das Wasser nicht verseucht, die Straßen sauber. Wir haben unser Paradies gefunden, Bruder, und wir werden es nach deinen Wünschen gestalten. Was auch immer du begehrst, ich werde dafür sorgen, dass es in Erfüllung geht.“ Und ich werde alles daran setzen, die verbleibenden Relikte zu finden. Es muss eine Möglichkeit geben, dir zu helfen. Sie können es mit Sicherheit, fügte er in Gedanken hinzu. Taisan war schon immer ein nachdenklicher Mann gewesen. Auch jetzt schien er wieder genau zu überlegen, ehe sprach. „Ich weiß deine Großzügigkeit zu schätzen. Doch eine Frage gibt es, die mir keine Ruhe lassen will.“ „Dann sprich!“, forderte Caesian ihn freundlich lächelnd auf. „Auch, wenn ich nie zuvor einen Blick auf dieses Land erhascht habe, so ist es mir doch nicht unbekannt. Als du hierher kamst, hatte dieses Land einen Regenten.“ Mit einem Mal fixierten seine Augen den Älteren – mit einem bohrenden, unnachgiebigen Ausdruck in ihnen. „Was, Bruder, ist mit ihm geschehen, dass du nun an seiner statt regierst? Was ist passiert? Zuerst hast du nur mit einem kleinen Tross das Land verlassen, ehe du nach einem Großteil unserer Truppen schicktest – warum?“ Caesian stockte, etwas, das er selten tat. Doch mit dieser Frage hatte er nicht gerechnet. Und er wusste nicht, wie er sie beantworten sollte. Der Grund dafür war ebenso simpel, wie problematisch: Seit er denken konnte, war sein Bruder jemand gewesen, der Gewalt verabscheut hatte. Er sann viel darüber nach, warum sie überhaupt existierte. Taisan suchte, so schien es, sein Leben lang nach der Antwort auf diese Frage. Welchen Sinn all das Leid hatte. Er erinnerte sich noch gut an einen der letzten Abende, den er mit seinem Bruder verbracht hatte, ehe er nach Ägypten aufgebrochen war. Er hatte am Balkon des heimischen Palastes gestanden, während sein Blick über die Stadt schweifte. Es war eine Nacht gewesen, in der Caesian abermals Kämpfe in den Straßen beenden musste – gewaltsam. Die Worte, die Taisan damals geäußert hatte, kamen ihm nun wieder in den Sinn. “Sieh es dir an, Bruder.“, forderte Taisan ihn auf, während noch immer Feuer in einem der äußeren Stadtteile brannten und den schwarzen Himmel surreal erleuchteten. “Gleich, wohin wir blicken, überall ist Schmerz. Blut wird vergossen, jeden einzelnen Sonnenlauf unseres Daseins. Und wofür? Nur um einen weiteren Tag zu erleben, an dem wir wieder töten. Es ist ein Teufelskreis. Doch die Menschen sind zu blind, um dies zu erkennen. Alle Probleme lösen sie mit Gewalt, und schaffen dabei zugleich neue, die ebenfalls nur mit dem Schwert zu bewältigen sind – oder zumindest glauben sie das. Stell dir nur einmal vor, wie einfach es wäre, all dieses Leid zu beenden. Wenn nur irgendjemand sagen würde ‚Es ist genug‘ und die Waffe nicht erheben würde. Wenn alle einmal nicht nur an sich und ihren Vorteil denken würden … wir hätten so eine schöne Welt. Doch stattdessen zerstören wir sie, mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen.“ Caesian trat schließlich neben ihn und stützte sich auf der Brüstung des Balkons ab. „Taisan … so einfach ist es nicht“, begann er. „Die Konflikte, die unser Land zermürben, sind gewachsen. Sie reichen zu weit zurück, die Menschen, die sie ausfechten, sind zu verbittert. Gleich, wie einfach es ist, sie werden nicht aufhören, einander Leid zuzufügen.“ „Vielleicht muss nur jemand den Anfang machen“, erwiderte Taisan und warf seinem Bruder dabei einen langen Blick zu. Der Ältere seufzte. „Das geht nicht. Diese Leute lassen nicht mit sich reden. Die einzige Sprache, die sie verstehen, ist die der Gewalt. Es ist nötig, sie auszulöschen, damit das Paradies, von dem du sprichst, vielleicht eines Tages wahr werden kann. In dieser Welt gibt es keinen anderen Weg – nicht mehr.“ „Aber wie lange wird das noch dauern? Und wie viel Blut muss bis dahin noch vergossen werden? Ich verstehe, was du sagen willst, Caesian. Wirklich. Doch welche Früchte trägt dieses Vorhaben, wenn für jeden Kopf der Schlange, den wir abschlagen, zwei neue nachkommen? Es ist, als kämpften wir gegen einen übermächtigen Feind – als stellten wir uns der Finsternis und Grausamkeit selbst.“ Er seufzte. „Manchmal, so wie heute, Bruder, bedauere ich nicht, dass dieses Gift durch meine Adern rinnt.“ Caesian sah ihn perplex an. „Wie … wie darf ich das verstehen?“ Er war sich nicht sicher, doch er glaubte, dass Taisan unter seine Maske lächelte, als er ihm antwortete. "Es gibt Tage, da glaube ich, dass mir all das Leid zu viel wird. Es ist, als laste es auf meiner Brust und drückte mir die Luft aus dem Körper. Ich blicke hinab auf die Stadt und sehe so viel Schmerz. Ein endloses, dunkles Meer, das scheinbar kein Ende hat. An Tagen wie diesen, Caesian, wünsche ich mir, dass mich die Krankheit endlich dahinrafft.“ Dieses Gespräch hatte den Älteren zutiefst erschüttert. Umso unsicherer war er nun. Was sollte er Taisan antworten? Er hatte sich dieses Land mit dem Mittel genommen, dass sein Bruder so sehr verabscheute – mit Gewalt. Ja, der Jüngere war durchaus in der Lage, zwischen nötigem und unnötigem Leid zu unterscheiden. Auch er wusste, dass sich manche Menschen nie eines Besseren belehren lassen würden, dass es keine andere Möglichkeit gab, als sie aus dem Weg zu räumen – zum Wohle all derer, die sich nach Frieden sehnten. Und trotzdem bedauerte Taisan jeden einzelnen Tod, gleich ob den von Freund oder Feind. Doch Caesians Taten waren nicht zum Wohl der Allgemeinheit erfolgt. Er hatte niemandem einen Gefallen getan, als er in Ägypten einmarschiert war – außer seinem Bruder und sich selbst. Schließlich entschied er sich, nochmals das aufzugreifen, was er Taisan erzählt hatte, ehe er das Land verließ, um die Stille nicht zu lang werden zu lassen. Sein Gegenüber hätte sonst Verdacht geschöpft. „Wie du weißt, kam ich hierher, um einen Heiler aufzusuchen, von dem es hieß, dass er der begabteste Mann sei, der je gelebt hat – damit er dir helfen kann. Doch als ich nach Ägypten kam, war ich entsetzt. Nichts von dem, was ich über dieses Reich gehört hatte, traf noch zu. Wie sich herausstellte … hatte sich kurz vor meiner Ankunft ein Mann namens Atemu des Thrones bemächtigt und König Setos ermordet.“ Die Worte sprudelten einfach so aus ihm heraus. Er wusste nicht, woher diese Geschichte stammte, sie kam ihm schlagartig in den Sinn. Innerlich zerriss es ihn. Er wollte nicht lügen. Doch er wusste, dass er Taisan das Land des Friedens, das er sich so sehr wünschte, nicht anders geben konnte – ebenso wenig wie du Chance, doch noch geheilt zu werden. „Atemu? Wenn ich mich recht entsinne, trug der Herrscher, der Setos vorausging, den gleichen Namen.“ Caesian nickte rasch. „Ja. Dieser Mann, Bruder, ist dem Wahnsinn verfallen. Er sagt, er sei derselbe König – was vollkommen unmöglich ist, denn Atemu ist nicht mehr, mögen die Götter ihn selig haben. Er unterjochte die Menschen, richtete jeden hin, der seine Meinung nicht teilte. Viele schlossen sich ihm an, aus Angst, sonst ihr Leben oder das ihrer Lieben zu verlieren. Ich musste nach dem Heer schicken, Taisan – zum Wohl des ägyptischen Volkes.“ Wieder folgte Stille. Diesmal jedoch länger und drückender, als zuvor. Irgendwann hielt Caesian die Anspannung nicht mehr aus. „Ich spreche die Wahrheit. Du glaubst mir doch … oder?“ Es blieb weiterhin still – bis plötzlich eine dritte Stimme das Schweigen brach. „Die Worte Eures Bruders sind wahr, königliche Hoheit.“ Die Geschwister wandten sich überrascht um. Caesian erkannte den Mann, der gesprochen hatte, auf der Stelle: Es war niemand anderes als Keiro, der scheinbar zufällig vorbeigekommen war und die Worte des Tyrannen vernommen hatte. „Darf ich fragen, wer Ihr seid?“, erkundigte sich Taisan bereits, ehe sein Bruder etwas sagen konnte. Sein Gegenüber war im ersten Moment ob der Höflichkeitsform leicht überrascht. Da schien ja wenigstens einer in der Familie Manieren zu haben. „Gewiss. Mein Name ist Keiro. Ich bin in Ägypten geboren und aufgewachsen und kenne daher die dunkle Seite unserer Regenten. Seine Majestät spricht die Wahrheit. Er hat uns erlöst, als der König, der sich Atemu nannte, dabei war, dieses Land dahinzuraffen – und seine Bewohner mit ihm.“ Caesian war verblüfft. Mehr als das. Doch er ließ den Anderen gewähren. Scheinbar hatte er sich kein bisschen in Keiro getäuscht. „Ich würde gerne mehr hören“, entgegnete Taisan nach kurzer Pause. „Ich zweifle nicht an den Worten meines Bruders. Doch er ist kein Ägypter. Ihr hingegen seid es. Euer Blickwinkel ist ein anderer.“ „In der Tat“, stimmte Keiro zu. „Es ist viel geschehen – zu viel, als dass ich von allem erzählen könnte. Denn die Dunkelheit brachte nicht nur unser letzter Regent über uns. Nein, auch seine Vorgänger waren nicht besser. Ich bekam dies am eigenen Leib zu spüren – unter der Herrschaft von König Aknamkanon, dem Vater Pharao Atemus.“ Taisan sah ihn prüfend an. „Wärt Ihr bereit, mir davon zu erzählen?“ „Gewiss“, entgegnete Keiro und trat näher, ehe er sich an die Stadtmauer lehnte und seinen Blick über die Wüste schweifen ließ, so als sortiere er seine Gedanken. „Ich war noch jung. Sehr jung, um genau zu sein, gerade einmal ein paar Sommer alt. Mein Bruder, unsere Eltern und ich lebten in einem kleinen Dorf, das etwa einen halben Tagesritt entfernt vom Tal der Könige liegt. Sein Name war Kul Elna. Viele von dort waren sehr arm. Um ihre Familien zu ernähren zogen die Männer immer wieder in die Nekropole oder nach Theben und stahlen. Sie fügten jedoch nie einem Menschen Leid zu und nahmen in der Stadt alles stets nur von Leuten, die genug hatten. Und obgleich wir nie reich waren, manchmal gar hungern mussten oder nachts erbärmlich froren, war es ein schönes Leben. Doch dann kam diese verhängnisvolle Nacht.“ Er brach kurz ab. Er schloss die Augen. Was in diesem Moment in ihm vor sich ging, bekamen die beiden anderen Männer nicht mit. Dann fuhr er fort: „Ich … ich wusste lange Zeit nicht, was der Grund dafür war, dass man uns angriff. Erst … später … erfuhr ich, dass die Leute, die unser Dorf überrannten, Soldaten von König Aknamkanon waren. Er … er sah sich mit einem gewaltigen Heer konfrontiert, das auf Ägypten zu marschierte. Sein Bruder … er war sehr belesen und hatte in einigen alten Schriften von einem Zauber erfahren, mit dem man Gegenstände herstellen konnte, die ihrem Träger große Macht verliehen. Doch um an sie heran zu kommen …“, er schluckte schwer, „… brauchte es Blutopfer. Jede Menge davon. Die Seelen von … Menschen.“ Keiro hatte die letzten Worte regelrecht ausgespuckt. Er griff sich an den Kopf. Für Caesian und Taisan wirkte es, als suchten ihn die Erinnerungen heim. Keiner von beiden ahnte, was wirklich geschah. „Aknamkanon ahnte, dass der Zauber eine dunkle Seite hatte. Und dennoch ließ er seinem Bruder freie Hand. Akunaden war Kul Elna ein Begriff. Er kannte die Zahl der dort lebenden Menschen. Es waren gerade genug für sein Vorhaben. Zudem befand sich das Dorf weit genug entfernt von Theben, um kein Aufsehen zu erregen. Wenn irgendjemand zufällig dort vorbeikommen und feststellen würde, dass dort niemand mehr war, würde er davon ausgehen, dass eine Räuberband dort gewütet hätte oder der Ort aufgegeben worden wäre. So zog Akunaden in dieser verhängnisvollen Nacht mit den Soldaten des Königs aus.“ Keiro bemerkte nicht, wie er immer schneller erzählte. „Sie kamen in unser Dorf … sie metzelten jeden Einzelnen nieder. Einen nach dem Anderen und warfen sie in einen Behälter. Er … er war nicht groß, gerade einmal zwei, drei Leichen hätten vielleicht hinein gepasst und dennoch verschwand jeder einzelne Körper darin. Sie wurden mit der Hilfe dunkler Magie zu einer goldenen Flüssigkeit. Diese wurde schließlich in die Form der Milleniumsgegenstände gegossen. Niemand entkam in dieser Nacht der unersättlichen Machtgier des Königshauses, außer meinem Bruder und mir. Ich habe seitdem viele Ausreden gehört. Man habe es zum Wohle des Volkes getan; Opfer müssten immer gebracht werden, doch so wären sie vergleichsweise gering geblieben. Aknamkanon erfuhr später von dem, was sich in meiner Heimat zugetragen hatte, doch es wurde einfach totgeschwiegen. Er hatte noch nicht einmal den Anstand, sich öffentlich zu entschuldigen. Weder er, noch sein Sohn, noch dessen Vetter, der regierte, ehe der wahnsinnige König Einzug hielt. Ich kann es nicht mehr ertragen.“ Als Keiro geendet hatte, ging sein Atem schneller. Ihm war nicht gut. Dennoch nahm er sich noch einmal zusammen. „Glaubt mir, wenn ich Euch sage, mein Herr, dass die Regentschaft Eures Bruders das Beste war, was Ägypten geschehen konnte. Denn die Blutlinie, die bislang auf dem Thron saß, war seit jeher verdorben.“ Als Stille eintrat, sah Taisan sein Gegenüber einen Moment lang forschend an. „Ich danke Euch dafür, dass ich Eure Geschichte hören durfte, obgleich es Euch solche Qualen bereitet, darüber zu sprechen. Auch, wenn es nichts ändert, möchte ich Euch sagen, dass mir das, was Euch und Eurer Familie, Euren Freunden widerfahren ist, überaus leid tut.“ Keiro nickte knapp. „Danke. Wenn Ihr mich nun entschuldigen würdet, Euer Majestät … es hat mich mehr angestrengt, davon zu erzählen, als ich dachte.“ Damit wandte er sich ab und ging in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Als Caesian und sein Bruder schließlich außer Sichtweite waren, ließ er sich gegen die Mauer sinken und rutschte daran herab. Inzwischen umklammerte er den Kopf mit beiden Händen. Bakura hatte ihm niemals erzählt, weswegen genau er solch eine Wut auf Atemu hegte. Ehe es dazu kommen konnte, hatten sie sich dermaßen zerstritten, dass sie kaum noch ein Wort miteinander wechselten. Keiro hatte die ganze Geschichte mit allen Hintergründen nie erfahren. Und dennoch kannte er sie nun. Wie aus dem Nichts wusste er, was sich in Kul Elna abgespielt hatte. Es ergab alles Sinn. Atemus machtgieriger Vater, sein skrupelloser Onkel, dessen ebenso verdorbener Sohn, der Pharao selbst … und Risha, ohne deren Anwesenheit sie dieses Unglück nicht ereignet hätte. Es hätte ein anderes Dorf getroffen, dessen war er sich vollkommen sicher. Keiro schwor sich, dass er gleich, nachdem er Risha getötet hatte, auch den Pharao und seinen Vetter umbringen würde. Die Nacht war längst herein gebrochen. Inzwischen zeichneten sich die Sterne deutlich am dunklen Himmel ab. Der Mond warf sein Licht auf die Wüste hinab und erhellte sie. Yugi und seine Freunde saßen am Fuß einer Düne beisammen. Es war noch nicht lange her, dass sie ein Lager errichtet hatten. Sie hatten zunächst gewartet, bis Diabound von seinem Erkundungsflug zurückgekehrt war und berichtet hatte, dass Caesians Truppen ihren Marsch für heute beendet hatten. Erst dann hatten sie sich, aller Vermutungen zum Trotz, getraut, ihr Lager aufzuschlagen und ein Feuer zu entfachen, das sie die Nacht über wärmen sollte. Die erste Wache hatten einige Schattentänzer übernommen, doch Duke und Tristan hatten Riell angeboten, später zwei von ihnen abzulösen. Begründet hatten sie es damit, so auch ihren Beitrag leisten zu können, nachdem sie keine Ka-Bestien besaßen. Bislang hatte in der kleinen Gruppe kaum jemand ein Wort gesagt. Die Sorge um Atemu, der noch immer nicht zu ihnen aufgeschlossen hatte, saß zu tief. Yugis Blick wanderte zum Kamm einer nahen Düne, wo Mana unruhig auf- und abschritt, während sie immer wieder in die Ferne sah. „Meint ihr, es geht ihm gut? Und Kipino?“, äußerte Ryou schließlich in die Stille hinein. „Was ist denn das für eine blöde Frage? Natürlich ist bei ihnen alles okay!“, erwiderte Joey. „Wir reden hier von Atemu. Der ist nicht so leicht unterzukriegen.“ „Ich hoffe, du hast Recht“, seufzte Tea. Sie sah auf, als sie bemerkte, wie Risha die Düne emporschritt, auf der Mana schon seit einiger Zeit herumlief. Auch sie suchte den Horizont nach irgendeinem Lebenszeichen ab. Doch sie blieb ebenso erfolglos. War ihnen vielleicht irgendetwas zugestoßen? Hatte Caesian sie entdeckt und gefangen genommen? Und wenn dem so war, hatte er damit ein weiteres Relikt in seine Finger bekommen? Sie biss sich auf die Unterlippe. Atemu und Kipino waren etwa zur selben Zeit Richtung Men-nefer aufgebrochen, als sich der restliche Widerstand gen Süden aufgemacht hatte. Sie waren lediglich zu zweit und auf Pferden unterwegs, das bedeutete, sich waren in der Lage, deutlich schneller voran zu kommen, als ihre Verbündeten. Verdammt, selbst wenn sie Caesians Heer in einem besonders großen Bogen umgingen, müssten sie inzwischen eingetroffen sein! Risha schnaubte und wandte sich ab. Kurz glitten ihre Augen suchend über das Lager, dann erblickte sie ihn – er saß wie immer ein gutes Stück abseits. Zielstrebig steuerte sie auf ihn zu und sah bereits von weitem, wie er die Augen verdrehte, als sie auf ihn zukam. „Was ist jetzt schon wieder? Für’s Protokoll, mir ist immer noch scheißegal, wo Keiro ist“, begrüßte Bakura sie, kaum, da sie ihn erreicht hatte. „Darum geht es mir nicht“, erwiderte sie, ohne sich dabei auf seine Augenhöhe zu begeben. „Du musst Diabound nochmal losschicken. Wir müssen endlich wissen, wo sich der Bastard und mein Schattentänzer befinden.“ Ein Glucksen. „Und warum sollte ausgerechnet mich der Verbleib von diesen Maden interessieren?“ „Weil du ebenso gut wie ich weißt, dass wir den Krieg ohne ihn nicht gewinnen werden. Nicht mit den Mitteln, die wir haben.“ „Das sind ja ganz neue Töne.“ „Es ist lediglich die Wahrheit. Mir ist nicht wohl dabei, aber es lässt sich nicht leugnen. Ich tröste mich damit, dass man ihn hinterher immer noch umbringen kann.“ Auf Bakuras Lippen zeigte sich ein Schmunzeln. „Glaub mir, du würdest kläglich scheitern. Es bedarf schon mehr als eines alten, geflügelten Gauls, um den Auserwählten der Götter zu besiegen.“ Rishas Mine war kurz säuerlich, dann zog auch sie einen Mundwinkel nach oben. „Hm … vielleicht werde ich deinen Rat beherzigen – immerhin weißt du ja, wovon du sprichst, nachdem dein Plan beim letzten Mal schief ging.“ Plötzlich wirkte der Grabräuber nicht mehr so amüsiert. Stattdessen starrte er sie finster an. Sie musste sich ein Grinsen verkneifen. „Also, was ist je…“ „Majestät! Da kommt jemand! Ich glaube, es ist der Pharao!“ Sofort wandten sich alle Köpfe zu dem Wachtposten um, der die Worte gerufen hatte. Die Gruppe um Yugi war augenblicklich auf den Beinen und eilte zu Mana auf die Düne hinauf. „Tja, sieht so aus als hätte sich das erledigt. Kann ich dann wieder meine Ruhe haben?“ Risha warf ihrem Vetter auf die Bemerkung hin einen bösen Blick zu, dann setzte sie sich ebenfalls in Bewegung. Riell schloss sich ihr auf halbem Weg an. Gemeinsam schritten sie die Erhöhung empor – und erstarrten, kaum, da sie ihren Kamm erreichten und Atemu entdeckten. Zwei Pferde – aber nur ein Reiter. Und ein mannsgroßes Bündel auf dem Rücken eines der Tiere. Rishas Blut gefror zu Eis. Nein. Nein, nein, nein, nein, nein. Nicht … nicht schon wieder. Nicht schon wieder einer von ihnen. Und nicht Kipino! Allen voran nicht Kipino! Es war sicher ein Irrtum. Der Schattentänzer war nur nicht bei ihm, lediglich … woanders. In dem Bündel war vielleicht das Relikt. Ein abstrus großes Relikt. Das würde doch zu Horus passen, nicht? War er nicht so etwas wie der Urvater aller Pharaonen? Der Gedanke schoss ihr durch den Kopf, doch sie glaubte ihn nicht einen Wimpernschlag lang. Besonders dann nicht mehr, als Atemu langsam, zitternd von seinem Pferd stieg und das Bündel vom Rücken des zweiten Tieres hob. Er kam auf sie zu, behutsam, als trage er die bedeutendste Fracht dieser Sphäre. Als er sie erreicht hatte, legte er es vor ihr in den Sand, vorsichtig, als habe er Angst, den Inhalt noch weiter zu beschädigen. Dann richtete er sich auf und suchte ihren Blick, doch Rishas Augen blieben an den Leinentüchern haften, die vor ihr im Staub lagen. Sie hörte ihn sprechen. Die Worte klangen, als wäre er weit entfernt. Ein heller, pfeifender Ton blendete ihn beinahe vollkommen aus. Sie verstand ihn nicht. Wollte es auch nicht. Dennoch riss er sie irgendwann in das Hier und Jetzt zurück. „… Risha …“ „Was hast du getan?“ Ihre Stimme brach. Und dennoch verfehlten die Worte ihre Wirkung nicht. Die Anklage, die in ihnen mitschwang, war deutlich zu hören. Schließlich löste sich ihr Blick von dem Bündel, ihr Kopf ruckte nach oben – und ihre Augen fixierten Atemu mit solchen Hass, dass er beinahe ein Stück zurück gewichen wäre. „Was hast du getan?“ Diesmal war ihre Stimme laut und von Wut erfüllt. Sie bebte am ganzen Leib. Die Hände hatte sie zu Fäusten geballt, so fest, dass Blut zwischen ihren Fingern hervor quoll. Der Pharao hielt ihrem bohrenden Blick stand, als er antwortete. „Caesians Soldaten … ein Spähtrupp, um genau zu sein … sie haben uns …“ „Caesians Soldaten? Ein Spähtrupp?“, den zweitem Satz schrie sie, „Du willst mir allen Ernstes erzählen, ein verdammter Spähtrupp hätte Kipino, einem Schattentänzer, das angetan?“ „Was … was ist passiert?“, hörte sie Riell gezwungen beherrscht sagen. Atemu wandte seine Augen von ihr ab, vielleicht dankbar, stattdessen nun ihren Bruder ansehen zu können. „Ich habe im Nil nach dem Relikt suchen müssen“, begann er. „Kipino hat derweil Wache gehalten. Als ich … als ich zurückkam und ihm das Artefakt zeigte, da ist er vor Freude aufgesprungen. Dann … hat ihn plötzlich ein Pfeil getroffen und sein Herz durchbohrt. Ich konnte nichts mehr tun …“ Er spürte, wie ihm mit einem Mal Tränen die Wangen hinab liefen. Doch es interessierte ihn nicht. Er ließ ihnen einfach freien Lauf. „Es tut mir … so furchtbar leid.“ „Das ist eine Lüge.“ Sein Blick wanderte wieder zu Risha. „Nein“, sagte er bestimmt. „Und ob es das ist. Kipino hat also Wache gehalten? Wie kann es dann sein, dass ihm und Firell entgangen ist, wie sich ein Spähtrupp näherte?“ „Risha …“ „Halt die Schnauze, Riell! Wie blind bist du eigentlich? Ich habe es immer gesagt aber nein, du wolltest ja nicht hören! Der Pharao ist nicht unser Feind, Vielleicht haben wir endlich die Chance, neu anzufangen, Bestimmt können wir, wenn das hier vorbei ist, all die Unstimmigkeiten zwischen uns und Men-nefer begraben“, äffte sie seine Worte nach. „Das alles ist absoluter Schwachsinn! Er hat Kipino darum gebeten, ihn zu begleiten, und nun ist er tot! Vielleicht hat er es nicht selbst getan, das mag sein, aber dann hat er ihn zumindest den Kopf für sich selbst hinhalten lassen! Er trachtet uns nach wie vor nach dem Leben! Alles, was wir für ihn sind, ist ein Mittel zum Zweck! Jetzt kann er uns vielleicht noch brauchen, aber sobald Caesian besiegt ist oder es sich sonst irgendwie anbietet, wird er sich unserer entledigen! Wer weiß, was Kipino herausgefunden oder gesehen hat! Wach endlich auf, Riell, er ist ebenso unser Feind wie dieses Monster, das jetzt auf dem Thron sitzt!“ „Ki… Kipino ist …?“ Alle Augen wanderten zur Quelle der gebrochenen Stimme. Samira war unbemerkt hinzugekommen. Sie hatte direkt hinter Risha gestanden und ihren Wutausbruch mitbekommen. Sie sah ihre beiden Oberhäupter mit einem verwirrtem Blick an, in dem zugleich ein Flehen lag – darum, ihr zu sagen, dass sie sich verhört hatte, dass es nicht wahr war. Dass alles gut war und sie sich keine Sorgen machen brauchte. Dann erblickte sie plötzlich das Bündel und begriff, dass die ersehnten Worte nicht kommen würden – denn sie hatte sich nicht getäuscht. Es war, als hätte ihr jemand heißes Wasser in die Adern gegossen. Zugleich wurde ihr unbeschreiblich kalt. Ihre Kehle schnürte sich zu, die Brust fühlte sich an, als habe jemand allen Atem aus ihr herausgepresst. Ihre Sicht verschwamm, als ihr Tränen in die Augen stiegen und ihre Wangen hinabrannen. „Nein!“, brüllte sie und stürzte an Risha vorbei. „Nein, nein, nein! Kipino!“ Sie schrie seinen Namen in die Nacht hinaus, als sie neben dem Leichnam zusammensackte und das Gesicht in den Händen vergrub. Es dauerte jedoch nicht lange, bis sie auf Knien herumfuhr und Atemu anging. „Du … du verfluchter Mörder!“ „Sam!“, versuchte Riell sie zur Besinnung zu bringen. Doch der Versuch sollte vergeblich bleiben, da Risha prompt dazwischen ging. „Wage es nicht, sie zu maßregeln!“, zischte die Blonde und baute sich nun vor ihrem Bruder auf. „Sie spricht nichts als die Wahrheit.“ „Sie tut nichts dergleichen – ebenso wenig wie du! Nicht ich bin derjenige von uns, der verblendet ist! Du verrennst dich in deinen Hass gegen das Königshaus! Atemu hat nichts getan! Gar nichts! Es hätte ebenso gut ihn treffen können!“ Rishas Antwort war ein gehässiges, kurzes Lachen. „Das glaubst du wirklich?“ „Allerdings!“ „Das bedeutet, du traust diesem dahergelaufenen Bastard mehr, als deinem eigenen Blut?“ „Das Eine hat mit dem Anderen rein gar nichts zu tun! Hier geht es nicht um Vertrauen, sondern um gesunden Menschenverstand – den du scheinbar irgendwann im Lauf dieses Krieges zugunsten von Paranoia abgegeben hast! Wir stehen auf derselben Seite! Was für einen Grund hätte er gehabt, Kipino absichtlich in Gefahr zu bringen oder gar zu töten?“ Seine Schwester schüttelte fassungslos den Kopf. „Kriech ihm weiter so in den Hintern und man wird bald nicht mal mehr deine Füße sehen …“ „Risha, es reicht!“ „Da hast du Recht! Es ist genug! Unser Clan hat schon viel zu lange den Kopf für ihn hingehalten! Das …“, sagte sie und deutete dabei auf Kipinos Leiche, „… war das letzte Mal, dass einer von uns sein Blut für diese Missgeburt vergossen hat!“ Damit wirbelte Risha herum und wandte sich an die Schattentänzer, die inzwischen näher gekommen waren, um zu erfahren, was geschehen war. „Packt zusammen! Wir brechen auf!“, wies sie sie an und machte Anstalten, ebenfalls ins Lager hinab zu gehen. Doch Riell riss sie plötzlich am Arm zurück. „Das ist nicht deine Entscheidung!“, schrie er. Im nächsten Moment zuckte er zusammen. Sie hatte ihm ins Gesicht gespuckt und sich anschließend losgerissen. „Fass mich nicht an“, zischte sie. „Wir gehen. Es mag nicht meine Entscheidung sein, aber es ist die ihre! Ich gehe und wenn sie mir folgen wollen, so ist das ihr Recht!“ Sie wandte sich zum Gehen, ehe sie sich noch einmal umdrehte. „Aber vorher …“ Sie zückte blitzschnell einen Dolch von ihrem Gürtel und fuhr herum. Doch ehe sie auch nur in Atemus Nähe kommen konnte, sprang Seto dazwischen. „Oh nein, das wirst du nicht tun!“, rief er entschlossen und blockierte ihren Angriff mit seiner eigenen Waffe, während er ihr demonstrativ den Weg versperrte. Die Schattentänzerin lachte kalt. „Du willst mich aufhalten? Versuch‘ es doch!“ Da durchzuckte plötzlich ein greller Lichtblitz die Nacht und der weiße Drache erschien direkt vor ihr. Sie taumelte augenblicklich einige Schritte zurück. Das Monster stieß einen wütenden Schrei aus und zeigte die langen, weißen Zähne, die an Messer erinnerten, während es sich zu voller Größe aufrichtete. „Keinen Schritt weiter“, wies Seto sie ruhig, aber bestimmt an. „Oder du wirst es bereuen.“ Rishas Blick bohrte sich in den des Hohepriesters. „Du … wagst es?“ Ein weiterer Lichtblitz war zu sehen, dann stand der Sand um sie herum in Brand. Mit einem bestialischen Schrei erhob sich Cheron aus dem Feuer – und brachte die Umstehenden zum Stocken. Das Monster hatte sich vollkommen gewandelt. Das weiße Fell und die roten Federn waren nun pechschwarz. Die einst schönen, orangefarbenen Augen waren blau, der Blick eiskalt und unerbittlich. Flammen von gleicher Farben brachen aus seinem Nacken, bildeten den Schweif und umspielten die mächtigen Schwingen. Spitze Eckzähne von der Länge eines menschlichen Arms blitzten im Licht des Mondes auf, ebenso wie ein langes Horn auf der Stirn. Der ganze Körperbau des Hengstes erinnerte nun mehr an ein Raubtier, als an ein Pferd. Zudem war die Bestie beträchtlich gewachsen. Risha reichte ihr gerade einmal bis zum Knie. Der weiße Drache überlegte nicht lange. Mit einem Aufschrei stürzte er sich auf den Gegner. Cheron entging dem Angriff und stieß sich vom Boden ab. Sein Kontrahent folgte im auf der Stelle. Die Monster gewannen zunächst an Höhe, dann gingen sie abermals aufeinander los. Während die gigantische Echse einen Lichtblitz nach dem anderen verschoss, konterte der Pegasus mit Feuersbrünsten. Als keiner von beiden nach einer Weile einen entscheidenden Treffer gelandet hatte, ging der weiße Drache schließlich in den Nahkampf über. Er schloss die Distanz zwischen sich und Cheron, während er den Angriffen des Gegners auswich. Als er ihn erreicht hatte, schnappte er nach dem Hengst und bekam ihn an einem Hinterlauf zu fassen. Er riss ihn herum – und schleuderte ihn dem Erdboden entgegen. Der Pegasus versuchte, den Aufprall abzumindern, doch die Wucht seines Fluges war zu stark. Letztlich krachte er unter einem Aufschrei in den Wüstensand. Doch so einfach würde er sich nicht bezwingen lassen. Unbändiger Hass pulsierte durch die Verbindung zu Risha in ihm. Kaum, da er aufgeschlagen war, wollte er auf die Beine kommen – nur im nächsten Moment zurück in den Staub gedrückt zu werden. Als der Dunst, den sein Einschlag aufgewirbelt hatte, zurückwich, erkannte er auch, warum. „Anwaar“, zischte Cheron. Der goldene Drache hatte einen Fuß auf die übereinanderliegenden Flügel der anderen Ka-Bestie gesetzt. Mit den mächtigen Klauen hingegen presste er Schultern und Hals des Pegasus nach unten. Risha fuhr augenblicklich herum. Riell sah sie an und gab ihr alleine mit seinem Gesichtsausdruck zu verstehen, dass Anwaar ihr eigentlicher Gegner sein würde, wenn sie Cheron nicht auf der Stelle zurückrief. Ein Augenblick, der sich wie die Ewigkeit selbst anfühlte, verstrich, während sich die beiden Geschwister einfach nur anstarrten. Dann durchzuckte abermals ein Blitz die Nacht und der Pegasus verschwand in der Seele seiner Trägerin. Die wiederum kehrte noch einmal zu Riell zurück, wobei sie ihn keine Sekunde lang aus den Augen ließ. Als sie ihn erreicht hatte, war ihre Stimme lediglich ein kaltes Flüstern. „Möget ihr alle, aber du ganz besonders, auf ewig rastlos in der jenseitigen Welt umherwandern.“ Damit wandte sie sich um und ging. Es dauerte nicht lange, da sah Riell ein einzelnes Pferd vom anderen Ende des Lagers aus in die Nacht hinaus preschen. Kisara saß an dem vergitterten Fenster ihres Gemachs. Das Essen, das man ihr einige Zeit zuvor gebracht hatte, stand weitestgehend unberührt auf einem kleinen Tisch. Sie hatte lange darüber nachgedacht, gar nichts zu sich zu nehmen. Würde sie verhungern, konnte Caesian sie nicht mehr als Druckmittel gegen Seto benutzen. Dann war ihr jedoch gekommen, dass der Hohepriester dazu erst einmal von ihrem erneuten Tod unterrichtet werden musste – was der Mann, der sie gefangen hielt, mit Leichtigkeit verhindern konnte. Inzwischen hatte sie sich dazu entschieden, zu kämpfen. Sie musste einen Weg finden, zu entkommen. Doch bislang hatte sich ihr keine Gelegenheit dazu geboten. Ihr Zimmer war verriegelt und stets von einem Soldaten bewacht. Sie horchte auf, als zwei Wachen unter ihrem Fenster vorbei gingen. Irgendetwas hatte sich seit dem vergangenen Tage verändert. Bis zum Morgen waren die Baumaßnahmen in dem Bereich, den sie sehen konnte, unermüdlich vorangegangen. Dann hatten sie plötzlich geendet. Man hatte die Ägypter, die zur Arbeit gezwungen worden waren, weggebracht, ebenso wie die Männer, die eigentlich tot sein sollten und nur dank der Relikte nicht in das Jenseits übergegangen waren. Erst später am Tag hatten feindliche Untertanen ihren Platz eingenommen und den Wiederaufbau fortgesetzt. Es war, als wolle Caesian die Ägypter und Untoten wegschaffen – aber wieso? Und was tat er mit ihnen? Sie seufzte schwer und richtete ihren Blick zum Himmel, der von hellen Sternen übersät war. „Seto … ganz gleich, wo du bist – ich hoffe, es geht dir gut.“ Kapitel 47: Nachspiel --------------------- Nachspiel Die Nacht war noch nicht vorbei, als Atemu geweckt wurde. Er hatte gemeinsam mit seinen Freunden unter freiem Himmel übernachtet, da keine Zeit war, um Zelte oder dergleichen aufzuschlagen. Doch das alleine war nicht der Grund, weswegen er sich wie erschlagen fühlte. Er hatte nach dem, was passiert war, kaum ein Auge zugetan. Seine schlimmsten Befürchtungen waren eingetreten. Hinzu kam der noch immer in seinem Herzen pulsierende Schmerz über Kipinos Verlust, den er über die Zeit zu schätzen gelernt hatte. Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Yugi und die Anderen näher kamen und sich zu ihm setzten. Auch Mana war bei ihnen. Tea reichte dem Pharao eine Tasse Tee, die er dankend annahm. Für’s erste würde die Flüssigkeit genügen müssen. Er verspürte keinerlei Appetit. „Wie geht es dir?“, sprach ihn sein Partner schließlich an. Atemu reagierte mit einem müden Lächeln. „Ich … weiß nicht“, antwortete er schließlich. Zu vieles ging in seinem Inneren vor sich. „Es ist einiges passiert.“ Yugi nickte. „Ja, allerdings. Ich will dich nicht drängen. Aber wenn du darüber sprechen möchtest, weißt du, dass wir alle ein offenes Ohr haben.“ „Genau“, pflichtete ihm Joey bei. „Aber lass dir eines gesagt sein: Wehe du machst dir Gedanken über den Bockmist, den diese blöde Kuh von sich gegeben hat. Wir alle wissen, dass sie Unrecht hat. Du hättest Kipino niemals etwas angetan, ebenso wenig wie den anderen Schattentänzern und du nutzt sie ganz bestimmt auch nicht aus. Nur um das mal klarzustellen.“ „Richtig“, sagte Mana. „Risha ist diejenige, die einen Fehler gemacht hat. Nicht du. Du hast seit dieser Krieg ausgebrochen ist alles in deiner Macht stehende – und noch viel mehr – getan, um Ägypten zu retten. Dich trifft keinerlei Schuld an dem, was geschehen ist. Es hätte jeden von uns erwischen können.“ „Bleibt nur zu hoffen, dass der Rest von unseren Clan-Kumpels das genauso sieht“, warf Tristan ein. „Riell ist anders als sie. Ich denke nicht, dass er Atemu irgendwelche Vorhaltungen machen wird“, meinte Tea. „Risha ist im Laufe der Nacht nicht zurückgekommen, oder?“, fragte Ryou schließlich an Duke gewandt, der gemeinsam mit Tristan einige Stunden zuvor Wache geschoben hatte. Der schüttelte den Kopf. „Vielleicht sollten wir nach ihr suchen lassen“, äußerte Marik plötzlich. „Bist du bekloppt? Die Giftspritze kann uns gestohlen bleiben!“, echauffierte sich Joey sofort. „Nicht, um sie zu überzeugen, sich uns wieder anzuschließen“, führte der Ägypter weiter aus. „Ich mache mir eher Gedanken darum, dass sie Caesian in die Hände fallen könnte – absichtlich oder unabsichtlich sei dahingestellt.“ „Unterstellst du ihr gerade allen Ernstes, dass sie überlaufen könnte?“, hakte Ryou nach. „Wer weiß“, meinte Marik und zuckte mit den Schultern. „Sie hat zwar mit Atemu zusammengearbeitet, zugleich aber stets betont, dass sie ihn ja nach dem Ende des Krieges immer noch umbringen könnte. Bei Caesian könnte es sich doch ähnlich verhalten, oder nicht?“ „Ich glaube, du übertreibst – gewaltig“, erwiderte der Weißhaarige. „Hört mal, ich weiß ja, dass das was sie vom Stapel gelassen hat nicht in Ordnung war und ich will sie dafür auch gar nicht in Schutz nehmen. Aber ich denke nicht, dass auch nur die Hälfte von dem, was sie gesagt hat, wirklich so gemeint war. Ein Freund ist gestorben und das nach allem, was wir in diesem Krieg schon mitgemacht haben. Caesian konnte sie nicht anklagen, der ist ja nicht da, also hat sie den Druck an jemand anderem abgelassen – was nicht okay ist, aber irgendwo … menschlich, denke ich.“ Tristan blinzelte verdutzt. „Man, Alter, du hast dir wirklich viel zu lange einen Körper mit diesem irren Grabräuber geteilt. Dass du für sowas Verständnis aufbringen kannst …“ „Ich kann mich lediglich gut in andere reinversetzen. Das ist alles. Warum warten wir jetzt nicht erst einmal ab?“, meinte Ryou und sah dann lächelnd zu Atemu. „Vielleicht taucht sie ja bald wieder auf, weil sie eingesehen hat, dass ihre Reaktion nicht fair war. Hey, eventuell entschuldigt sie sich ja sogar!“ „Du glaubst auch noch an den Weihnachtsmann, was?“, entgegnete Joey säuerlich. „Mal was anderes!“, warf Tea ein, um eventuelle Streitigkeiten im Keim zu ersticken. „Mana? Was … war das eigentlich … mit Cheron? Ich meine, er sah so anders aus …“ Die Hofmagierin nickte. „Rishas Hass hat endgültig auf ihren Ka übergegriffen. Dadurch hat er sich noch weiter verändert, als es nach Reshams Tod bereits der Fall war.“ „Wie bei Bakura damals“, mutmaßte Yugi. „Richtig. Deswegen zweifle ich auch daran, dass deine Vermutung zutreffen könnte, Ryou. Denn wenn es wirklich nur ein momentanes Gefühl gewesen wäre, das von Risha Besitz ergriffen hat, dann hätte es sich nicht sofort in ihrem Monster niedergeschlagen.“ Es folgte Schweigen. „Da fällt mir ein … was wird jetzt eigentlich aus Kipinos Leichnam? Bestatten wir ihn, bevor wir weiterziehen?“, fragte Duke in die Runde. „Sicher nicht. Den Schattentänzern stehen hier nicht die Mittel zur Verfügung, um ihn auf ein Leben im Jenseits vorzubereiten“, erwiderte Marik. „Was genau meinst du damit?“, hakte Tristan mit hochgezogener Augenbraue nach. „Das Grab ist in dieser Zeit nicht einfach ein Ort, an dem man den Verstorbenen ablegt. Die Toten werden mumifiziert, um ihren Körper für das jenseitige Leben zu erhalten. Aus dem gleichen Grund gibt man ihnen Beigaben mit in das Grab – um sie für die Reise und ihre dortige Existenz hinreichend auszustatten. Auch die Wandmalereien tragen dazu bei. Sie halten nicht nur die Existenz des Toten fest, wie es einem oft in Museen oder so vermittelt wird. Manchmal sind beispielsweise die Totenbücher an den Wänden abgebildet, die den Verstorbenen sicher durch die Unterwelt leiten sollen. Ich denke, ich muss nicht extra ausführen, welcher Aufwand mit all dem einhergeht. Alleine die Mumifizierung dauert ungefähr siebzig Tage, von der Anlage des Grabes ganz zu schweigen. Aber all das ist zwingend notwendig, damit der Tote überhaupt ein verklärter Ahnengeist werden und in die jenseitige Sphäre übergehen kann“, erläuterte der Ägypter. „Stimmt doch so, oder?“, fragte er anschließend an Mana gewandt. Die nickte. „Okay, verstehe. Aber … was genau werden sie dann mit ihm machen, bis sie dazu kommen?“, meinte Tristan weiter, auch wenn er sich nicht sicher war, ob er die Antwort wirklich wissen wollte. „Das liegt doch auf der Hand. Sie werden ihn höchstwahrscheinlich mitnehmen, ebenso, wie sie es mit Reshams sterblichen Überresten tun – und die erste Gelegenheit nutzen, die sich ihnen bietet, um sie zu mumifizieren, ehe ihre Körper noch weiter verfallen“, erwiderte Marik mit einem Schulterzucken. „Moment mal! Reshams Überreste? Des Vaters von Riell? Aber … der ist doch schon eine ganze Weile nicht mehr“, warf Duke ein. „Und sie schleppen ihn allen Ernstes mit sich rum? Seitdem?“ „Seit sie seinen Körper wiedergefunden haben, ja. Glaubst du wirklich, sie hätten ihn einfach in der Himmelspforte liegen lassen? Das würde bedeuten, dass seine Seele niemals Ruhe finden würde“, erklärte der Ägypter. „Auf uns mag das seltsam wirken. Aber zeigt bitte ein bisschen Respekt.“ „Ja, klar, schon verstanden. War nicht so gemeint, aber es ist wirklich sehr … seltsam“, versuchte Duke sich zu erklären. „Aber Reshams Leichnam wurde doch von Caesian … nun, verunstaltet. Wenn man den Körper erhält, damit er so, wie er im diesseitigen Leben war, weiter existieren kann, was genau bedeutet das dann für seine Totenruhe?“, erkundigte sich Tea. „Nichts Gutes“, entgegnete Mana. „Ganz im Gegenteil. Es kann sein, dass seine Seele verloren ist.“ Sie seufzte, ehe sie aufstand. „Ich werde mal sehen, ob Seto inzwischen auf ist – wenn er denn geschlafen hat.“ Damit wandte sie sich um verschwand zwischen den anderen umhersitzenden Gruppen. Nach einer Weile des Schweigens ergriff Tea plötzlich noch einmal das Wort. „Atemu? Darf ich dich mal etwas fragen?“ „Aber sicher“, entgegnete der Pharao. „Worum geht es?“ „Nun, weißt du … nachdem das gestern alles passiert ist, also das mit Kipino … da kam mir die Frage in den Sinn, was uns eigentlich genau nach dem Tod erwartet. Und irgendwie dachte ich, dass du es vielleicht wissen könntest. Immerhin hast du die Schwelle ja schon einmal überschritten … nicht?“ Atemu lächelte sie aufmunternd an. „Die Frage muss dir nicht unangenehm sein. Um ehrlich zu sein, hatte ich mich schon gewundert, dass sie mir noch niemand gestellt hat. Allerdings … weiß ich nicht so recht, was ich dir darauf antworten soll, Tea. Es ist nicht so, als könne ich mich an irgendwelche konkreten … Dinge, die mir passiert sind oder dergleichen erinnern.“ Er überlegte einen Moment. „Ich weiß noch, dass da Licht war. Alles war so hell, zugleich war es aber nicht unangenehm. Ich glaube, dass ich das Flüstern des Windes und das Rauschen eines Flusses gehört habe. Es war ganz warm. Nicht so, dass man schwitzen würde, einfach nur … angenehm. Mich erfüllte so ein Gefühl von vollkommener Ruhe und Gewissheit. Und dann war da jemand … ich weiß nicht wer. Aber ich weiß, dass eine Person war, die sich sehr freute, mich zu sehen. Und ich brachte ihr ebensolche Freude entgegen.“ Tea ließ sich die Worte durch den Kopf gehen. „Hat … es denn wehgetan, als du gestorben bist?“, flüsterte sie schließlich. Atemu lächelte erneut. „Nein. Im Gegenteil. Ich glaube, ich habe mich noch nie so leicht und gut gefühlt, wie dort. Das einzige, was schmerzte, war von meinen Freunden im Diesseits Abschied nehmen zu müssen.“ Die Brünette wusste nicht, weshalb, doch sie musste ebenfalls lächeln. Dann stockte sie plötzlich. „Ich glaube, da möchte jemand mit dir sprechen.“ Atemu folgte ihrem Blick – und sah Riell, der auf sie zukam, ehe er in einiger Entfernung stehenblieb. Es bestand kein Zweifel, der Schattentänzer wollte mit ihm unter vier Augen reden. „Entschuldigt mich“, sagte er, dann erhob er sich und ging dem Anführer des Clans entgegen. Der begrüßte ihn unerwartet freundlich. „Guten Morgen. Ich hoffe, Ihr konntet zumindest einigermaßen ruhen?“ „Wie man es nimmt. Darf ich fragen, was Ihr möchtet?“ „Verzeiht bitte, dass ich Euch unterbrochen habe. Zunächst … zunächst wollte ich noch einmal deutlich machen, dass ich die Ansichten meiner Schwester nicht im Geringsten teile. Euch trifft keine Schuld, was Kipinos Tod anbelangt, da bin ich sicher. Wir befinden uns in einem Krieg und so sehr es auch schmerzen mag, das zu sagen, aber ein solcher fordert stets seinen Tribut. Es hätte jeden von uns treffen können – dass es ihn getroffen hat, ist Schicksal.“ Riell unterbrach sich kurz, ehe er fortfuhr: „Ich stehe nach wie vor voll und ganz hinter Euch, Herr der beiden Länder, und ich hoffe inständig, dass dieser Zwischenfall dem Frieden zwischen der ägyptischen Krone und den Schattentänzern nicht im Wege stehen wird.“ Ein kleines Lächeln stahl sich auf Atemus Züge. „Nein. Nicht im Geringsten, mein Freund. Ich danke Euch, ich weiß Eure Worte sehr zu schätzen. Und dennoch …“ Er sah sich kurz um. „Und dennoch muss ich Euch diese Frage stellen. Ich weiß jetzt – und habe auch vorher schon geglaubt zu wissen – wie Ihr reagieren werdet. Doch wie sieht es mit dem Clan aus?“ Riell seufzte schwer. „Das ist, was ich Euch als nächstes mitteilen wollte. Scheinbar sind in der Nacht zahlreiche Schattentänzer verschwunden.“ Der Pharao runzelte die Stirn. „Glaubt Ihr, sie sind Risha gefolgt?“ Sein Gegenüber schüttelte den Kopf. „Nein. Fast alle von ihnen haben ihre Amulette zurückgelassen – ein Zeichen dafür, dass sie die Schattentänzer damit hinter sich gelassen haben. Deshalb glaube ich nicht, dass das der Fall ist. Es sieht eher danach aus, als seien sie desertiert.“ „Von wie vielen sprechen wir?“ Der Schattentänzer biss sich auf die Unterlippe. „Dreiviertel des Clans.“ Atemus Augen weiteten sich. „Dreiviertel?“ Riell nickte betroffen. „So ist es.“ Er fuhr sich mit einer Hand durch die Haare während er den Blick ziellos umherwandern ließ. „Darf ich ehrlich sprechen, Pharao?“ „Gewiss.“ „Seid Ihr noch immer sicher, dass wir diesen Krieg irgendwie gewinnen können?“ Der amtierende Regent sah ihn überrascht an. „Seit wann hegt Ihr diese Zweifel?“ Der Andere ließ ein freudloses Lachen hören. „Erst seit gestern. Aber dafür umso stärker. Zuerst stirbt mein Vater und nun Kipino. Meine Schwester ist fort. Der Clan zerstreut sich in alle Winde. Caesian treibt uns vor sich her, wie Vieh. Und gegen all das können wir, so scheint es, rein gar nichts tun.“ „Das ist nicht wahr“, erwiderte Atemu und legte seinem Gegenüber eine Hand auf die Schulter. „Ihr dürft so nicht denken, Riell. Denn wenn Ihr das tut, dann ist es tatsächlich aussichtlos. Ihr habt Recht, es ist nicht leicht, in all dieser Dunkelheit das Licht zu sehen. Und dennoch ist es da – denn wäre es das nicht, gäbe es auch keinen Schatten. Eure Worte sind wahr, doch sie dürfen nicht aus Eurem Munde kommen. In unserer Position können wir es uns nicht leisten, derartige Bedenken laut auszusprechen. Es sei denn, wir entscheiden uns dafür, aufzugeben. Doch in diesem Fall hätten wir unsere Bestimmung verfehlt. Und wir würden das Opfer all derer mit Füßen treten, die in diesem Krieg ihr Leben gelassen haben, damit Ägypten in Frieden weiterexistieren kann – auch das Eures Vaters und Kipinos.“ Riell wirkte erst nachdenklich, dann lächelte er plötzlich. „Ihr glaubt gar nicht, wie sehr ich Euch bewundere.“ „Wofür?“ „Für Eure Zuversicht, die selbst in den dunkelsten Augenblicken so hell erstrahlt wie die Sonne selbst.“ Atemu lächelte zurück, schüttelte jedoch zugleich den Kopf. „Auf Euch mag es so wirken, doch denkt nicht, ich sei in irgendeiner Weise weniger von Sorgen geplagt als Ihr. Ich hatte und habe die gleichen Zweifel wie Ihr. Ich habe wegen Ihnen beinahe die ganze Nacht lang kein Auge geschlossen. Aber wenn wir zulassen, dass sie uns übermannen, dann geben wir auf. Und diesen Triumph will ich Caesian nicht gönnen“, sagte er und warf einen Blick hinter sich, dorthin, wo seine Freunde beisammen saßen. „Aber das ist nicht alles. Ich habe es vor allem ihnen zu verdanken, dass ich dann noch atmen kann, wenn ich glaube, ich müsse ersticken. Euer Dank gilt also auch ihnen.“ „Wenn das, was ihr sagt, wahr ist, dann ist dem so, in der Tat. Ich danke Euch für diese Worte. Ihr habt vollkommen Recht. Die Zeit, um aufzugeben, ist noch fern.“ „Sehr gut“, meinte Atemu und nickte dem Anderen bekräftigend zu. Dann wurde seine Miene wieder nachdenklicher. „Sagt, wie geht es Samira? Oder ist sie etwa auch …?“ Riell schüttelte den Kopf. „Nein. Wobei das vielleicht auch daran liegen mag, dass unsere Heilerin ihr einen Schlaftrank verabreicht hat, nachdem sie einfach nicht zur Ruhe kommen konnte. Sie schläft noch immer.“ „Verstehe“, sagte der Pharao und ließ den Blick zum Horizont schweifen. „Wir sollten bald aufbrechen, nicht?“ „Ehrlich gesagt, ist da noch etwas, über das ich mit Euch sprechen wollte“, warf der Schattentänzer ein. „Es geht um die Seele der Zeit. Sam hat berichtet, dass Ihr wüsstet, wie man ihre Kräfte nutzt, um die Relikte zu finden. Ich denke nicht, dass wir warten, sondern direkt nach dem nächsten Artefakt suchen sollten.“ Atemu nickte. „Ihr habt Recht. Lasst uns die Anderen zusammenrufen.“ „Gut“, stimmte Riell zu und wollte sich bereits abwenden, als der Herrscher der beiden Länder ihn noch einmal zurückrief. „Noch etwas“, sagte er. „Wir kämpfen in diesem Krieg nun schon lange Seite an Seite und ich habe Euch wahrlich zu schätzen gelernt. Ihr seid mir ein Freund geworden, Riell. Daher möchte ich vorschlagen, dass wir auf diese unnötigen Höflichkeitsfloskeln verzichten und uns einfach duzen – sofern Ihr nichts dagegen einzuwenden habt.“ Der Schattentänzer wirkte wie vom Donner gerührt, lächelte aber schließlich. „Sehr gerne.“ Atemu erwiderte die Mimik. „Das freut mich.“ Damit wandte er sich zum Gehen – ohne zu wissen, dass er Riell soeben an ein Gespräch mit Kipino erinnert hatte. Kurze Zeit später hatten sich alle um die Seele der Zeit versammelt. Das Schriftstück lag nun ausgebreitet vor ihnen. „Also, wie genau funktioniert das jetzt?“, fragte Joey den Pharao. „Sam meinte irgendwas von wegen du hättest deine Hand darauf gelegt und dann sei ein Vers erschienen.“ „Ganz so einfach war es nicht“, entgegnete Atemu. „Es hat einen Moment gedauert, bis ich überhaupt etwas lesen konnte.“ „Aber was genau habt Ihr getan, damit es dazu kommt, mein König?“, hakte Seto nach. „Ich habe versucht, mich einzig und allein auf meinen größten Wunsch zu konzentrieren – im betreffenden Augenblick war das, das Ankh des Horus zu finden. Ich habe mich bemüht, alle anderen Gedanken auszublenden. Besser kann ich es nicht beschreiben.“ „Welche Relikte fehlen denn eigentlich noch?“, äußerte Duke in die Runde. „Die Sonnenscheibe des Ra und der Speer der Sachmet“, sagte Ryou. „Bleibt die Frage, um welches wir uns zuerst kümmern wollen.“ „Das, welches in Caesians Händen größeren Schaden anrichten könnte … aber welches könnte das sein?“, gab Mana zu bedenken. „Ich denke, das dürfte keinen Unterschied machen. Fangen wir einfach mit Ras Artefakt an, ehe wir hier noch lange diskutieren“, schlug Yugi vor. Atemu nickte zustimmend. „In Ordnung“, entschied er und kniete sich vor der Seele der Zeit nieder. Er legte, wie schon beim letzten Mal, eine Hand auf das Schriftstück und schloss die Augen. Dann versuchte er, alles um sich herum auszublenden – die Umstehenden, die Betriebsamkeit des allmählich erwachenden Lagers, selbst das Säuseln des Windes. Nichts von alle dem durfte seine Konzentration stören. Er stellte bald fest, dass sich dies am heutigen Tag schwieriger gestaltete, als in der unterirdischen Bibliothek in der Wüste. Dennoch bemühte er sich. Schließlich fokussierte er seine Gedanken einzig und alleine auf die Sonnenscheibe des Ra. Bitte, ihr Kräfte, die selbst über denen der Götter stehen … gewährt mir auch diesmal eure Gunst und lasst nicht zu, dass Caesian dieses Relikt für seine finsteren Machenschaften missbrauchen kann. Es steht zu viel auf dem Spiel! Damit öffnete er die Augen – und sah nichts vor sich. Keinen Vers, auch sonst keine Form von Text, die er in irgendeiner Weise hätte entziffern oder nachvollziehen können. Verwundert lehnte er sich zurück. „Was ist? Was siehst du?“, fragte Yugi ihn gleich. „Ich … da … ist nichts.“ „Was soll das heißen, da ist nichts?“, wiederholte Marlic sofort die Worte des Pharao. „Natürlich steht da was!“ „Ich weiß … aber ich kann es ebenso wenig lesen oder verstehen, wie ihr.“ Die Umstehenden tauschten verwirrte Blicke. „War das Ding vielleicht so eine Art Einmal-Zauber?“, warf Tristan wenig hilfreich ein. „Natürlich! Eigentlich stammt das Ding gar nicht aus einer Bibliothek. Nein, seine Majestät hat uns verschwiegen, dass er in der Wüste eigentlich einen übergroßen Kaugummiautomaten gefunden hat und da er gerade 100 Yen einstecken hatte, hat er sich den Spaß erlaubt, eine alte Schriftrolle rauszulassen, die unser Schicksal in diesem Krieg beeinflussen soll. Blöderweise hat er aber die Gebrauchsanweisung nicht gelesen, da stand nämlich klipp und klar drin, dass man im Tutu um das Ding rumtanzen muss, nachdem man es verwendet hat, sonst geht es kaputt“, entgegnete Bakura trocken und verdrehte die Augen. „Halt in Zukunft einfach die Klappe, wenn du von etwas keine Ahnung hast und erspar uns deine sinnlosen Kommentare.“ „Meine Kommentare sind also sinnlos? Dann erklär‘ du uns doch, warum es nicht funktioniert hat!“, konterte Tristan. Der Grabräuber reagierte nur mit einem Schulterzucken. „Woher soll ich das wissen? Hab‘ ich »Auskunft« auf der Stirn stehen, oder was? Ein Einmal-Zauber war es aber ganz sicher nicht!“ „Ich denke, ich weiß, was schief gelaufen ist“, warf Marlic plötzlich mit einem Grinsen in die Runde und näherte sich der Seele der Zeit. „Platz da, Pharao, lass das mal jemanden machen, der es auch kann!“ „Wenn ich dich daran erinnern dürfte: dein letzter Versuch hat auch keinen Erfolg erzielt“, sagte Mana. „Stimmt. Aber da wusste ich ja auch noch nicht, wie genau das Teil funktioniert.“ „Was hast du vor?“, fragte Atemu ihn schließlich. „Das Gleiche zu tun, was du beim letzten Mal getan hast.“ „Und was macht dich so sicher, dass es bei dir klappen wird?“ Marlic grinste dieses Grinsen, dass eigentlich keiner der Umstehenden leiden konnte. „Ist doch simpel. Du schaffst es nicht, weil du dich nicht genügend konzentrierst. Könnte vielleicht daran liegen, dass mal wieder jemand gestorben ist und du nichts dagegen tun konntest. Aber keine Angst, zum Glück hast du ja mich.“ Der Pharao biss sich bei dem Kommentar des Anderen auf die Unterlippe, trat dann jedoch beiseite. Entweder er schaffte es tatsächlich, den Hinweis auf das nächste Relikt herauszubekommen, oder er würde ebenso scheitern. Wenn Ersteres eintrat, würde Atemu mit den triumphierenden Selbstpreisungen seines Gegenübers schon zurechtkommen … und wenn er scheiterte, dann war es an dem Herrscher der beiden Länder, über Marlics Frust zu lächeln. Vielleicht hatte Mariks dunkle Seite sogar Recht … vielleicht war er momentan wirklich nicht in der Lage, sich ausreichend zu konzentrieren. Er hatte kaum geschlafen. Zudem stimmte es, Kipinos Tod belastete ihn. Er beobachtete, wie sich der einstige böse Geist vor der Seele der Zeit niederkniete und eine Hand auf den alten Papyrus legte. Dann schloss er die Augen. Ihm fiel es relativ leicht, die auf ihn fixierten Blicke der Umstehenden auszublenden – die interessierten ihn ja sowie so kaum. Das Einzige, was an ihnen amüsant war, waren ihre Reaktionen, wenn er seine Späßchen mit ihnen trieb. Dann versuchte er sich die Sonnenscheibe des Ra so gut vorzustellen, wie es ging und ließ seine Gedanken einzig und alleine um den Wunsch kreisen, sie zu finden. Er konzentrierte sich darauf, als sei sie das wichtigste Gut auf Erden. Kurz drängte sich der Gedanke in sein Bewusstsein, dass er auch deswegen derjenige sein wollte, dem sich die Zeilen offenbarten, weil er dann dem Pharao eins auswischen konnte. Er schob ihn jedoch schnell beiseite. Am Ende blamierte er sich noch genauso, wie seine Majestät. Sonnenscheibe, Sonnenscheibe, Sonnenscheibe … sag mir, wo ich das verdammte Ding finden kann! Schließlich öffnete er die Augen – und begann breit zu grinsen. „Jackpot!“, rief er aus. „Ich hab’s geschafft! Siehst du, Pharao, so macht man das!“ Die Anderen sahen zugegebenermaßen verdutzt aus. „Ernsthaft?“, hakte Mana nach. „Dann lies uns vor, was da steht, bevor es wieder verschwindet!“ „Wie heißt das?“, feixte Marlic und grinste nur noch breiter. „Wir haben keine Zeit für deine albernen Spielchen, mach‘ einfach das, was sie sagt!“, mischte sich Seto ein. „Nur wenn einer das Zauberwort sagt.“ „Bitte?“ Die Augen aller Anwesenden wanderten zu Ryou, der nur mit den Schultern zuckte. „Ehe wir hier wertvolle Zeit vergeuden, soll er seinen Willen kriegen. Ist nicht so, als täte es weh, nett zu sein.“ Marlic zog bei der Aussage eine Augenbraue in die Höhe. „Respekt, Bakura, den hast du wirklich gut erzogen. Kannst du dir mal eine Scheibe von abschneiden, Marik!“ „Besäßest du jetzt die Güte, uns endlich zu sagen, was da steht?“, erkundigte sich Atemu und massierte sich dabei die Schläfe. „Aber selbstverständlich, nun, da mich der Kleine sooo lieb gebeten hat“, entgegnete der dunkle Geist mit diesem süffisanten Grinsen, für das die meisten Menschen ihm gerne eine verpassen würden, und wandte sich wieder dem Text zu. „Also, sperrt die Lauscher auf. Hier steht …“ Vom Firmament gestoßen, auf Erden verborgen, der Sonnenglanz. Wächter des Lichts, Feind der Schatten, Zeuge des Staubes. Erlischt bei Nacht, Erglimmt am Tag, zur rechten Zeit. Zunächst herrschte Schweigen. „Gut … und … ähm, was genau fangen wir jetzt damit an?“, fragte Joey schließlich in die Runde. „Es geht darum, den Sinn der Worte zu verstehen“, erklärte Atemu. „Also gut, lasst uns nachdenken. Die erste Strophe können wir übergehen, sie beschreibt lediglich, dass es um die Sonnenscheibe des Ra geht. Was könnte mit den anderen beiden gemeint sein?“ „Wächter des Lichts, Feind der Schatten … das trifft doch auf den Gott selbst zu, oder nicht? Dem ägyptischen Glauben zufolge zieht Ra bei Tag in seiner Sonnenbarke über den Himmel und verschwindet bei Nacht in der Unterwelt“, meinte Marik. „Aber was hat der Begriff »Feind« damit zu tun?“, warf Tea ein. „Auf seinem Weg durch das Jenseits muss Ra jeden Tag gegen eine Gottheit namens Apophis antreten und sie besiegen, damit er seinen Weg ungehindert fortsetzen kann“, erklärte der Ägypter weiter. „Ra ist also der Wächter des Lichts, da er der Sonnengott ist. Gleichzeitig ist er der Feind der Schatten, da er in der Unterwelt täglich seinen persönlichen Gegner, das dämonische Wesen Apophis, bezwingt, woraufhin am Morgen wieder die Sonne aufgehen kann.“ „Das klingt logisch“, sagte Duke zustimmend. „Gehen wir erstmal davon aus, dass du Recht hast – wo gehört dann in dem Mythos der »Zeuge des Staubes« hin?“ „Das ist eine sehr gute Frage“, erwiderte Marik. „Na ja, wenn Ra durch die Unterwelt fährt, dann wird er doch Zeuge dessen, was mit den Menschen passiert, wenn sie diese Sphäre verlassen, oder? Staub ist ja nicht nur das, was sich unter unserem Bett sammelt, sondern auch eine Synonym für Vergänglichkeit. Klingt das … einigermaßen logisch?“, schlug Yugi schließlich vor. „Ich finde, das klingt sogar sehr logisch – sowohl dein Vorschlag, als auch der von Marik. Aber was genau will uns die Strophe damit sagen?“, wandte Mana ein. „Ich meine … inwiefern gibt sie uns einen Hinweis darauf, wo wir suchen müssen? Wenn wir einmal ausschließen, dass sie möchte, dass wir uns in die Unterwelt begeben.“ Tristan schluckte schwer. „Meinst du wirklich …?“ „Hab‘ ich nicht gesagt, du sollst still sein, wenn du keine Ahnung hast? Das war ein Witz. Ein Besuch in der Unterwelt, das würde diesem Wahnsinn noch die Krone aufsetzen“, äußerte Bakura. „Zumal es keinen Sinn ergeben würde.“ „Wie meinst du das?“, hakte Atemu nach. „Erinnere dich doch mal an das, was Keiro erzählt hat. Die Götter haben ihre Kräfte weggeschlossen, damit sie keinen Schaden mehr anrichten können. Wäre nicht gerade weitsichtig, so ein Relikt an einem ihrer Hauptaufenthaltsorte zu deponieren, oder? Auf Erden wandeln sie selten, in Himmel und Unterwelt sind sie ständig. Es muss irgendwo hier in unserer Sphäre sein“, führte der Grabräuber weiter aus und überging gekonnt Tristans Beschwerden aus dem Hintergrund. „Ich stimme unserem lieben Bakuralein zu“, kommentierte Marlic. „Außerdem hab‘ ich keine Lust, schon wieder dahin zurück zu gehen. Mir gefällt’s hier besser.“ „Oh, das bestimmt den Fundort des Artefakts sicher entscheidend“, meinte Marik sarkastisch. „Schauen wir uns doch mal die nächste Strophe an, vielleicht ergibt sich dann ein klareres Bild“, schlug Riell vor. „Was erlischt bei Nacht, erglimmt am Tage und das immer zur richtigen Zeit?“ „Öhm … ne‘ falsch eingestellte Lampe mit Zeitschaltuhr?“ Kaum, da Joey die Aussage getätigt hatte, traf ihn der kleine Stein, den Bakura die ganze Zeit über zwischen den Fingern hin und her bewegt hatte, am Kopf. „Für dich gilt das Gleiche, wie für den anderen Idioten!“, schnauzte der Grabräuber dabei. „Eine Zeitschalt… was?“, fragte Mana verwirrt. „Nichts, nichts!“, sagte Yugi schnell. „Ist vollkommen unwichtig, vergiss es am besten einfach wieder. Also, das ist es definitiv nicht. Aber mir fällt ehrlich gesagt auch nichts ein, auf das diese Beschreibung passen würde“, fügte er nachdenklich hinzu. „Der Tod.“ Alle Augen richteten sich auf Seto, der sich bislang nicht an der Diskussion beteiligt hatte. „Der Tod?“, wiederholte Tea. „Wie genau meinst du das?“ „Leben und Tod sind ebenso ein Gegensatz, wie Licht und Dunkelheit. Leben und Licht sind miteinander verbunden. Die Sonne spendet uns beides.“ „Genau – die Nacht hingegen lässt das Licht verschwinden. Und würde sie nicht irgendwann wieder enden wären wir dem Tode geweiht“, kommentierte Ryou. „Aber das mit dem ‚zur rechten Zeit‘ … wie passt das ins Bild?“ „Wenn wir schon bei der Todes-Thematik sind, dann wäre der Satz vielleicht damit zu erklären, dass niemand zur falschen Zeit oder am falschen Ort stirbt. Versteht ihr, was ich meine? Keiner von uns weiß, wann und wie er gehen muss, aber irgendwann trifft es uns alle. Wir können nichts dagegen tun, außer es positiv zu nehmen und daran zu glauben, dass wir schon dann gehen werden, wenn der rechte Zeitpunkt gekommen ist“, schlug Tea vor. Atemu nickte zustimmend. „Das klingt sehr schlüssig. Gut, wenn wir einmal davon ausgehen, dass das Relikt an einem Ort versteckt ist, bei dem es sich nicht um die Unterwelt handelt, der aber eng mit dem Sterben in Verbindung steht … wo könnte die Sonnenscheibe des Ra versteckt sein?“ „Eine Balsamierungsstätte vielleicht?“, warf Mana ein. „Oder ein Friedhof!“, kam es von Joey. „So etwas wie Friedhöfe im eigentlichen Sinne gibt es in diesem Zeitalter nicht. Was du meinst, sind dann wohl eher Nekropolen“, korrigierte Marik. „Habt ihr eigentlich eine Ahnung, wie viele Nekropolen es in Ägypten gibt? Wir wären alt und grau, bevor wir alle untersucht hätten“, gab Bakura zu bedenken. „Die, die du irgendwann einmal ausgeräumt hast, können wir ja schon mal ausschließen“, kommentierte die Hofmagierin säuerlich. „Ich glaube nämlich, ein göttliches Relikt wäre sogar dir aufgefallen.“ „Wartet mal!“, verschaffte sich Ryou daraufhin Gehör. „Ich glaube, ich habe da eine Idee!“ „Die da lautet?“, fragte Duke. „Ist es nicht so, dass man glaubt, dass vor allem die Könige nach ihrem Tod in den täglichen Sonnenlauf einbezogen werden? Also dass sie Ra bei seiner Reise durch Himmel und Jenseits begleiten?“ „In der Tat. Ich glaube, ich verstehe, worauf du hinaus willst“, sagte Seto. „Wenn wir uns bei unserer Suche auf Königsgräber beschränken würden, würde das die Sache deutlich vereinfachen. Wobei wir auch dann noch nicht eindeutig sagen könnten, wo genau wir nachsehen müssen – es bleiben immer noch mehrere Möglichkeiten.“ „Wie viele genau?“, hakte Joey nach. „Schwer zu sagen. Die Könige vergangener Tage wurden an ganz verschiedenen Orten bestattet. Aber es gibt auf jeden Fall zwei größere Nekropolen, die in Betracht kommen würden“, erklärte Mana. „Und wo befinden sich die?“, fragte Tea. „Im Tal der Könige und nördlich von Men-nefer in Gizeh.“ „Also dort, wo die Pyramiden stehen? Aber … wenn das wirklich der Fall wäre, bedeutet das, dass sich das Relikt genau in entgegengesetzter Richtung zu unserem Ziel befinden würde. Und wir müssten an der Hauptstadt vorbei, um dort hinzugelangen …“, gab Duke zu bedenken. „Richtig. Am derzeitigen Hauptsitz Caesians“, bestätigte Yugi. Für eine Weile herrschte Schweigen, ehe Seto die Stille durchbrach. „Mein König? Was gedenkt ihr zu tun?“ Atemu biss sich auf die Unterlippe. Die Entscheidung war alles andere als einfach. „Ich würde vorschlagen, dass wir uns zunächst noch einmal vergegenwärtigen, welches Problem sich uns stellt“, warf Riell ein. „Es sieht so aus: Wir könnten Suchtrupps zu beiden Orten schicken. Wenn wir das tun, bedeutet das allerdings, dass wir auf einige Ka-Bestien verzichten müssen, sollte Caesian uns einholen, ehe die Suchenden zurückgekehrt sind. Ich muss zugeben, dass mir der Gedanke nicht behagt. Zumal wir erst wieder gesehen haben, wie gefährlich es ist, sich in die Nähe der Hauptstadt zu begeben“, führte er aus. Dann wandte er sich direkt an Atemu. „Im Endeffekt ist es Eure … deine Entscheidung. Aber wäre es die meine, ich würde mein Glück zunächst im Tal der Könige versuchen.“ „… und riskieren, dass Caesian dem Relikt vor uns auf die Schliche kommt. Das habt Ihr außer Acht gelassen. Wenn wir uns irren und es befindet sich tatsächlich in Gizeh, dann hat er es vielleicht schon gefunden, ehe wir unseren Fehler bemerken“, konterte der Hohepriester. Erneut trat Schweigen ein. Schließlich fuhr sich Atemu durch die Haare und seufzte. „So gerne ich auf der sicheren Seite bleiben und beide Möglichkeiten zugleich untersuchen würde, ich stimme Riell zu. Wir müssen vorsichtig sein und können uns keine Rückschläge mehr erlauben. Ich erachte es für sinnvoller, dass wir uns zunächst zum Rest unseres Heeres in Theben begeben und sehen, ob wir im Tal der Könige fündig werden. Wenn dem nicht so sein sollte, dann werden wir nach Gizeh gehen.“ „Aber dann sind wir mehrere Tagesritte von dort entfernt! Dann hätte Caesian einen entscheidenden Vorsprung, wenn er wirklich nach der Sonnenscheibe suchen sollte“, wandte Mana ein. „Ich weiß, es ist ein Risiko aber …“ „Völliger Unfug. Denn du liegst ausnahmsweise mal richtig.“ Atemu blinzelte verdutzt, während er sich zu Bakura umwandte. Der Grabräuber hatte die Arme vor der Brust verschränkt und den Blick auf die Wüste hinausgerichtet. „Mal ehrlich, wenn ich ein Gott wäre und ich müsste so etwas wichtiges wie ein Relikt vor den Augen der Menschheit verbergen, dann würde ich jeden Ort in Ägypten wählen, aber ganz bestimmt nicht die Nekropole bei Gizeh. Das Land dort ist überwiegend flach, was bedeutet, dass man das Artefakt schlicht und ergreifend im Sand verscharren müsste. Die Dünen der Wüste sind allerdings ständig in Bewegung und auch die dort immer wieder stattfindenden Grabungen, um Gräber anzulegen, bergen das Risiko, dass der Gegenstand irgendwann zum Vorschein kommt. Das Tal der Könige dagegen ist recht sicher. Es ist verwinkelt und – wie der Name schon sagt – von Erhöhungen umgeben. Die Zeit verändert es nicht annähernd so stark wie offene Flächen und die Wahrscheinlichkeit, dass dort zufällig jemand darüber stolpert, ist geringer.“ „Du lässt da etwas außer Acht“, entgegnete Seto. „Auch dort werden Erweiterungsmaßnahmen vorgenommen. Die Gefahr, dass das Relikt entdeckt werden könnte, besteht also auch an diesem Ort.“ „Seid Ihr wirklich so beschränkt, wie ich glaube, oder tut Ihr nur so, Hohepriester? Wo grabt ihr denn eure Gräber hin, hm? In. Den. Boden. Habe ich gesagt, dass die Götter das Relikt im Dreck verscharrt haben? Ich meine die Felswände, die das Tal umgeben! Lediglich der unterste Teil davon wird überhaupt zur Anlage von Grabeingängen genutzt, was mehr als genug Möglichkeiten lässt, ein so wichtiges Artefakt für lange Zeit zu verbergen“, erklärte Bakura schon beinahe gelangweilt. „Wenn ich du wäre, Pharao“, fuhr er dann fort, „würde ich dort mit der Suche beginnen.“ Atemu ließ sich die Erläuterungen durch den Kopf gehen. Sie waren durchaus schlüssig. Bakuras Argumente waren sogar schon beinahe mehr als das. Sie bestachen durch ihre Logik. Schließlich nickte er. „So werden wir es machen. Wir werden nach Theben gehen und das Tal der Könige untersuchen. Sollten sich unsere Vermutungen als falsch herausstellen, werde ich alleine nach Men-nefer zurückkehren und dort nachsehen. Lasst uns aufbrechen. Die Zeit drängt.“ Damit wollte er sich bereits abwenden, als … „Oh großer Pharao! Ich hätte da nen‘ Vorschlag zu machen“, flötete Marlic dazwischen. „Der da wäre?“ „Wenn wir als Gruppe zusammenbleiben, brauchen wir noch ein Weilchen, bis wir endlich in Theben ankommen. Und wie du gerade so treffend formuliert hast, die Zeit drängt leider. Deswegen werde ich schon einmal vorausreiten und mich umsehen.“ Es war keine Frage, sondern eine Aussage. Atemu legte die Stirn in Falten. „Du?“ „Jep. Immerhin habe ich die Strophe zum Vorschein gebracht. Zudem brauche ich mir dann eure Visagen eine Zeit lang nicht ansehen.“ Mana überging den Kommentar und wandte sich ebenfalls an den König. „Pharao, vielleicht ist dieser Einfall gar nicht so schlecht. Ich könnte ihn begleiten und die Truppen in Theben vorab von dem unterrichten, was auf sie zukommt. Außerdem könnte ich ein Auge auf ihn haben“, fügte sie mit neckischem Grinsen in Richtung Marlic hinzu. Atemu nickte. „Gut, von mir aus. Aber gib‘ auf dich Acht.“ „Ich komme auch mit.“ Die Anwesenden fuhren zu der Quelle der Stimme herum. Hinter ihnen stand Samira. Das Gesicht des Mädchens zeigte deutliche Spuren der vergangenen Nacht. Ihre Augen waren gerötet und von dunklen Schatten untermalt, während ihre Haut deutlich blasser als sonst wirkte. Sie sah erschöpft und dennoch entschlossen aus. „Das kommt nicht in Frage, Sam. Es geht dir im Augenblick nicht gut. Du solltest dich stattdessen ausruhen“, meinte Riell besorgt. „Aber wenn ich mitgehe, könnte Kiarna uns nach Theben bringen. Dann wären wir deutlich schneller dort, als wenn wir reiten. Ihr habt doch gerade alle gesagt, dass uns die Zeit wegläuft, da wäre das doch der einzig logische Schritt, oder etwa nicht? Weder Des Gardius, noch Darla können wen transportieren – mein Ka hingegen kann es.“ Ihre Stimme war während dieser Worte ungewohnt ruhig, beinahe schon kalt. Auch ihrem Blick fehlte das sonst immer präsente Feuer. Doch das Clanoberhaupt schüttelte nur bestimmt den Kopf. „Nein. In deinem Zustand wäre das zu riskant.“ Mit einem Mal sah Samira ihm direkt in die Augen. Wut spiegelte sich in den ihren. „Ich glaube, du hast da etwas missverstanden, Riell. Ich nehme keine Befehle von dir an. Die Einzige, die mir etwas zu sagen hat ist Risha – und die hast du erfolgreich vertrieben. Außerdem wäre es nur in eurem Interesse, wenn ich gehe. Sonst würdet ihr euren geliebten Pharao bald aus anderen Gründen nach Theben bringen können.“ Ihre Worte waren kälter als Eis. Riell war schockiert. Hatte sie Kipinos Tod wirklich so schwer getroffen? Hatte er gereicht, um das bisschen Vertrauen, das Samira in das Königshaus gefasst hatte, zu zerstören? Es machte den Anschein. Er suchte nach Worten, irgendetwas, das ihre Wut mildern und sie zur Vernunft bringen konnte. Doch er fand keine. Zu tief hatte ihn getroffen, was das ansonsten so fröhlich Mädchen eben gesagt hatte. Die wandte sich derweil an Marlic. „Also, was ist? Brechen wir endlich auf?“ Der Angesprochene ließ ein Pfeifen vernehmen. „Hört, hört. Du scheinst ja eine besondere Begabung dafür zu haben, dir Freunde zu machen, Pharao. Gut, Kindchen. Du bringst mich und das Weib nach Theben. Aber dort trennen sich unsere Wege.“ „Meinetwegen. Hauptsache, ich komme hier weg. Ich gehe Proviant holen.“ Damit machte die Rothaarige auf dem Absatz kehrt und verschwand. Marlic und Mana folgten ihr kurz darauf, wobei Letztere Atemu noch einen aufmunternden Blick zuwarf, ehe sie ging. „Hat die Kleine eigentlich noch alle Latten am Zaun? Die könnte dir ja noch nicht mal ein Haar krümmen, wenn sie sich auf den Kopf stellt und Hula tanzt!“, rief Joey aus. „Natürlich nicht. Deswegen brauchen wir auf das Gewäsch eines Kindes auch gar nicht erst einzugehen“, entschied Seto hingegen. „Wir sollten ebenfalls aufbrechen, Majestät. Caesians Truppen werden bald dasselbe tun.“ Der König bestätigte dies mit einem Nicken. „Gut, dann mache ich mich auch mal vom Acker.“ Die Umstehenden wandten sich verwundert nach Bakura um. Der Grabräuber machte bereits Anstalten, zum seinem Pferd hinüber zu gehen, das – wie sie jetzt feststellten – schon gesattelt und mit Proviant versorgt war. „Was hast du vor?“, erkundigte sich Riell. „Ich werde das tun, wozu dir die Durchsetzungskraft fehlt. Ich hole Risha zurück.“ Der Schattentänzer war wie vor den Kopf gestoßen. „Du … tust was …?“ Bakura verdrehte die Augen. „Bist du taub? Ich hab‘ gesagt, ich gehe und suche dein heiß geliebtes Schwesterherz.“ „Ja, ja, so meinte ich das nicht. Ich habe schon verstanden“, entgegnete der Andere schnell. „Ich bin nur überrascht … ich meine, ich dachte nicht, dass ihr beide gut …“ „Tun wir nicht.“ „Aber warum dann?“ Der Grabräuber schwang sich auf sein Pferd. „Ganz einfach: Ein Großteil eures Clans ist bereits abgehauen. Wenn eure Führungsriege nicht bald wieder eine Einheit bildet, dann macht sich auch der Rest aus dem Staub. In Theben sitzen noch genug von euch, die inzwischen wieder kampffähig sein dürften, aber wenn die erfahren, dass eines ihrer Oberhäupter die Fliege gemacht hat, weil der Pharao angeblich einen Schattentänzer auf dem Gewissen hat, dann werden es noch weniger Truppen sein, die sich Caesian in den Weg stellen.“ „Verstehe ich das richtig? Du glaubst nicht, dass Atemu etwas mit Kipinos Tod zu tun hat?“, hakte Ryou plötzlich nach. Bakura ließ ein kurzes Lachen vernehmen. „Pah! Der Pharao und einen Verbündeten umbringen? Niemals. Der Kerl hätte schon einiges tun müssen, um die unendliche Güte seiner Majestät derartig auszureizen, dass er ihn umbringen würde.“ Seine Augen wanderten zu Atemu, der den Blick erwiderte. Der Grabräuber grinste. „Und das haben bislang nur wenige geschafft. Nicht wahr, Pharao?“ Damit gab er seinem Pferd die Sporen und ritt in die schwindende Nacht hinaus. Caesian beobachtete einer seiner Feldherren, während dieser den Raum verließ. Kaum, da die hohe Flügeltür zum Thronsaal hinter ihm ins Schloss gefallen war, ließ sich der Tyrann auf einem Stuhl an der lagen Tafel in der Mitte des Raumes nieder und nahm einen kräftigen Schluck von seinem Rotwein. Er hatte klare Anweisungen an einen seiner fähigsten Männer gegeben. Und dennoch war ihm unwohl bei dem Gedanken, Men-nefer nicht selbst im Griff haben zu können, bis er aus Theben zurückkehren konnte. Das Misstrauen Taisans hatte ihn in eine schwierige Lage gebracht. Eigentlich hatte er vorgehabt, noch eine Weile in der Hauptstadt zu bleiben und erst dann aufzubrechen, wenn er Nachricht bekam, dass der Pharao und seine Gefolgsleute in der Stadt nahe des Tals der Könige eingetroffen waren. Doch da sein Bruder so sehr hatte wissen wollen, was geschehen war, musste er nun rasch handeln. Keiros Geschichte hatte Taisans Verdacht zunächst gemildert, doch zugleich hatte sie auch ihren Nachteil gehabt: Die Aussage, die Ägypter seinen froh darüber, ihren König los zu sein, war mehr als falsch. Caesian hatte bereits vorsorglich vor der Ankunft seines Bruders sämtliche Sklaven, die er zu Bauarbeiten eingeteilt hatte, in die Kerker schaffen lassen. Nun musste er sicherstellen, dass Taisan nicht einmal ansatzweise in ihre Nähe kam – ansonsten würde er die Wahrheit herausfinden. Daher war einer seiner Befehle gewesen, die Ägypter nach und nach heimlich verschwinden zu lassen. Ein anderer hatte zum Inhalt, dass die Soldaten, die nicht mehr vorzeigbar waren, und somit einen Verdacht darauf erwecken könnten, dass irgendetwas nicht mit rechten Dingen zuging, aus der Stadt verschwinden und in einiger Entfernung auf den Marschbefehl warten sollten. Darüber hinaus hatte er beschlossen, in drei Sonnenläufen gen Theben aufzubrechen. Er musste die Sache zu einem Ende bringen. Wenn der Pharao besiegt war, die versklavten Ägypter weitgehendste exekutiert waren, er die missgestalteten Soldaten nicht mehr brauchte und sich ihrer entledigen konnte, dann konnte er wieder aufatmen. Bis dahin war es jedoch noch ein weiter Weg – je schneller er ihn anging, desto besser. Denn so minimierte er die Wahrscheinlichkeit, dass Taisan herausfand, was in diesem Land wirklich vor sich ging. Caesian seufzte schwer, während er den Kopf mit einer Hand stützte. Bruder … ich wünschte, die würdest verstehen … Ich muss das tun – für dich. Kapitel 48: Rastlos ------------------- Die Nacht war dabei, sich über das Land zu senken. Vereinzelt waren bereits die ersten Sterne am Firmament zu erkennen. Die Wärme des Tages wich allmählich der Kühle, die das Verschwinden der Sonne mit sich brachte. Mana zog ihren Umhang enger um die Schultern und hielt ihn fest, damit der Wind ihn ihr nicht gleich wieder vom Leib zerrte. Seit dem Morgen waren sie unterwegs, ohne Rast zu machen. Allmählich schmerzten ihre Glieder von der kauernden Position, in der sie sich befand. Kiarna trug sie und Marlic in je einer ihrer Pranken, während Samira sich einen Platz auf den Schultern der Ka-Bestie gesucht hatte. Das Monster hatte bereits einen beachtlichen Teil der Strecke zurückgelegt und es konnte sich nur noch um eine Frage der Zeit handeln, bis sie Theben erreichen würden. Die Hofmagierin warf einen Blick zu Marlic. Er hatte es sich, so gut es eben ging, gemütlich gemacht, lag auf seinem Rücken und hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Vielleicht hätte sie auch ein wenig ruhen sollen. Sobald sie angekommen waren, würde ihr das erst einmal nicht vergönnt sein. Doch sie glaubte kaum, dass sie Erfolg gehabt hätte. Die Kälte des Gegenwindes ließ sie zu sehr frieren. Ihre Gedanken wanderten zu Atemu. Sie seufzte. Er tat ihr leid. Seit Monaten stand er unter solch enormem Druck und jetzt hatte sich die Lage noch einmal mehr angespannt. Sie würde ihm zu gerne helfen, wusste jedoch, dass sie das nicht konnte. Weder war sie in der Lage, Caesian verschwinden zu lassen, noch konnte sie irgendetwas gegen den Konflikt mit den Schattentänzern tun. Auch die verbleibenden Relikte konnte sie nicht herbeizaubern. Das Einzige, was sie tun konnte, war, ihm unterstützend zur Seite zu stehen. Und auch, wenn ihr bewusst war, dass ihre Mittel nichts anderes zuließen, fühlte es sich an, als wäre das, was sie machen konnte, gar nichts. Sie war nutzlos. Dazu verdammt, daneben zu stehen und zuzusehen, wie der Kindheitsfreund, den sie von klein auf an immer bewundert hatte, litt, ohne die Möglichkeit, sein Leid zu lindern. Sie konnte es nur mit ihm teilen, aber das erlaubte er nicht. Sie wünschte, er würde es tun, sie daran teilhaben lassen, damit er diese Bürde nicht alleine tragen musste. Doch das ging nicht. Er war der Pharao von Ägypten und durfte keine Schwäche zeigen. Sie wiederum war nur eine Hofmagierin. Und diese verschiedenen Schichten, denen sie angehörten, trennten sie nicht nur gesellschaftlich, sondern auch, wenn es um das ging, was sie für ihre Heimat zu tun vermochten. Streng genommen hatte sie in Sachen Politik – und damit eingeschlossen auch Kriegsführung – überhaupt kein Mitspracherecht. Lediglich, wenn an der Front magische Unterstützung gebraucht wurde, kam sie ins Spiel. Das war es jedoch auch schon wieder. Ihr Platz war dort, wo geforscht und untersucht wurde. Neue Zaubersprüche, Heilmittel und alles sonst, was Volk und Regentschaft das Leben erleichterte. Die politischen Strategien schmiedeten andere, Leute, die höher gestellt waren, als sie. Dass ihr alter Meister Mahad überhaupt so sehr in die Rechtsfragen des Staates involviert gewesen war, war alleine der Tatsache geschuldet, dass er Hofmagier und Aufseher der Stadtwache zugleich gewesen war. Wäre letzteres nicht der Fall gewesen, er hätte den Thronsaal nur äußerst selten von innen gesehen, geschweige denn einen Milleniumsgegenstand anvertraut bekommen. Sie wünschte, sie könnte in seine Fußstapfen treten und mehr für ihr Land tun. Doch dieser Wunsch war utopisch. Sie war nicht wie er und würde es auch nie sein. Sie kam aus einer völlig anderen Schicht als ihr Meister und konnte sich glücklich schätzen, dass man ihre Fähigkeiten überhaupt entdeckt und erlaubt hatte, sie zu einer Magierin auszubilden. Ihre Gedanken wanderten zu Seto. Seit er seine Regierung angetreten hatte, hatte sie ihn kaum noch zu Gesicht bekommen. Er war die meiste Zeit dabei, Probleme des Staates zu lösen, oder an offiziellen Weihungen, Prozessionen oder sonstigen Feierlichkeiten teilzunehmen. Sie hingegen verbrachte viel Zeit in Bibliotheken, den magischen Werkstätten oder außerhalb der Stadt, um dort üben zu können, ohne dass jemand zu Schaden kam, wenn ihr ein Zauber missglückte. Wenn Atemu nach dem Krieg wieder den Thron besteigen sollte … würde es dann ebenso sein? Würde sie ihn auch so selten sehen, sich langsam von ihm entfernen? Würde sie ihn irgendwann vielleicht nicht mehr ihren Freund nennen können? Sie wusste, er würde nie aus bösem Willen mit ihr brechen. Doch was, wenn es ihm sein Stand und all die Aufgaben, die auf seinen Schultern ruhten, irgendwann nicht mehr erlaubten, sie zu sehen? Bei Seto war es nicht belastend gewesen. Den Hohepriester akzeptierte und schätzte sie zwar, er war jedoch grundlegend gegensätzlicher Natur. Kurzum: Freunde im eigentlichen Sinne waren sie nie geworden. Bei Atemu lag die Sache anders … Es würde schmerzen, dabei zuzusehen, wie sie sich langsam voneinander entfernten. Sie schreckte aus ihren Gedanken hoch, als Kiarna ein Grollen vernehmen ließ. Sie richtete den Blick zum Horizont und konnte gegen das restliche Licht der nun beinahe vollständig verschwundenen Sonne eine Stadt ausmachen. Mana seufzte erleichtert. Endlich hatten sie es geschafft. Sie hielt sich an einer Kralle der Ka-Bestie fest, während sie zu Samira hinauf sah. „Wir landen am besten außerhalb der Stadtmauer. Ich glaube nicht, dass im Inneren genug Platz für Kiarna wäre.“ Die junge Schattentänzerin nickte knapp, sagte jedoch nichts. Die Hofmagierin spürte, wie der Phönix allmählich zur Landung ansetzte. Bitte, lass das Relikt hier sein, bat Mana in Gedanken, ohne sie an jemand bestimmten zu richten. Gib uns endlich einen Triumph, den wir auskosten können. Atemu und seine Verbündeten hatten beschlossen, heute erst später zu rasten. Je eher sie Theben erreichten, desto besser würde es sein. Es konnte jedenfalls nicht schaden, die Stadt eine Weile vor Caesians Truppen zu erreichen, um dort noch einmal alle Kräfte zusammennehmen zu können, ehe der Feind sie einholte. Der Pharao war den ganzen Tag über erstaunlich still gewesen. Yugi beunruhigte sein Verhalten. Seit dieser Krieg ausgebrochen war, war er häufig nachdenklich, doch sein Partner glaubte nicht, dass seine Gedanken heute etwas mit der ihnen folgenden Bedrohung zu tun hatten. Er vermutete, dass ihn Kipinos Tod mehr belastete, als man auf den ersten Blick sah – besonders in Zusammenhang mit den Anschuldigungen Rishas. Er hatte den Anderen bislang nicht angesprochen, wägte noch immer ab, ob er ihn in Ruhe lassen oder dazu ermuntern sollte, über das, was ihn bedrückte, zu reden. Die Entscheidung sollte ihm kurz darauf abgenommen werden. Er bekam mit, wie Atemu Seto anwies, weiterzuziehen, und erklärte, dass er für eine Weile alleine nachdenken müsse. Der Hohepriester hatte noch nicht auf den Befehl reagiert, da hatte der Pharao sein Pferd bereits aus der Gruppe herausgelenkt und preschte in den Sonnenuntergang hinaus. Yugi zögerte noch etwas, dann ließ er sich zurückfallen und folgte dem ägyptischen König. Seit dem Morgengrauen war er nun schon unterwegs – doch bislang blieb seine Suche erfolglos. Bakura schnaubte abfällig. Sie konnte sich nicht einfach in Luft aufgelöst haben! Und wenn sie nicht gerade auf Cheron unterwegs war, dann konnte sie noch nicht weit gekommen sein. Wäre das aber der Fall, dann hätte sie kein Pferd mitgenommen. Er ließ den Blick über die Wüste schweifen, die sich unterhalb der Düne, auf der er stand, erstreckte. Naturgemäß hatte er keine Fußspuren ihres Reittieres mehr gefunden, denen er hätte folgen können. Der Wind hatte sie längst verweht. Zudem hatte er keine Ahnung, wohin sie eigentlich wollte. Alle Anlaufpunkte der Schattentänzer waren zerstört. Ansonsten gab es nichts, wohin sie sich zurückziehen könnte. Oder etwa doch? Gerade bemerkte er zum ersten Mal, wie schlecht er Risha eigentlich kannte. Wobei schlecht noch untertrieben war. Er kannte sie gar nicht. Deshalb erschloss sich ihm auch nicht recht, weswegen sie überhaupt so überstürzt abgehauen war. Klar, sie hatte eine ziemliche Wut auf Atemu und Riell gehabt. Aber das … damit hatte er nicht gerechnet. Sie wirkte eigentlich weitestgehend überlegt, relativ kalkulierend. Da hatte er sich offenbar getäuscht. „Oder sie hat einfach nur ihre verdammten Tage …“, murmelte Bakura frustriert. Warum tat man so etwas? Leute, die kleinbeigaben hatte er noch nie verstehen können. Wenn ihn etwas störte, dann räumte er den Störfaktor aus dem Weg. Wobei es im gestrigen Streit eigentlich niemanden gegeben hatte, der irgendetwas falsch gemacht hatte. Der Pharao hatte den Schattentänzer nicht auf dem Gewissen, das war sogar dem Grabräuber von Anfang an klar gewesen – und er war nun wirklich alles andere als gut auf ihn zu sprechen. Man musste schon einiges tun, damit seine Hoheit bereit war zu töten. Und so, wie Bakura das Clanmitglied, das nun irgendwo in der Unterwelt wandelte, einschätzte, hätte der Kerl das nie im Leben fertig gebracht. Atemu hätte sich wahrscheinlich sogar noch in die Flugbahn des Pfeils geworfen, um den Mann zu beschützen, wenn er es irgendwie hätte einrichten können – und das, obwohl Kipino nicht einmal annähernd so wichtig in diesem Krieg gewesen war. Aber so war der Pharao nun mal. So aufopferungsvoll, so selbstlos … so abgrundtief dämlich. Genau wie Risha. Ihre Anschuldigungen waren absolut haltlos gewesen. Das Einzige, was sie in Wahrheit gewollt hatte, war, ihren Frust an jemandem abzulassen. Typisch Frau eben … Er legte die Stirn in Falten und grübelte weiter über den letzten Gedanken nach. Das traf es eigentlich ziemlich gut. Wahrscheinlich rannte er ihr nur wegen irgendeiner weibischen Laune hinterher, die ebenso schnell wieder abgeklungen sein würde, wie sie gekommen war. Vielleicht war sie auch längst zu den anderen zurückgekehrt? Irgendetwas ließ ihn daran zweifeln. Genau so typisch weiblich war nämlich ihre Angewohnheit, Fehler nicht zuzugeben. Sie würde also lieber irgendwo elendig in der Wüste verrecken, als sich einzugestehen, dass sie falsch gelegen hatte – und Letzteres würde sie tun, wenn sie zurückkam. Aber warum suchte er eigentlich nach ihr? Das hier war der reinste Kindergarten! Dann fiel ihm wieder ein, was er gegenüber Riell an Argumenten vorgebracht hatte. Truppenstärke und so … um die mussten sie leider tatsächlich fürchten, wenn die Führungsriege des Clans nicht bald wieder komplett war, denn dem Pharao würden sich nur die wenigstens Mitglieder unterstellen. Außerdem wollte er ihr mal eine Portion ihrer eigenen Medizin verpassen. Hatte sie nicht noch kurz bevor sie letztlich versucht hatte, Atemu abzustechen, davon geredet, dass sie sich würden gedulden müssen, bis der Krieg vorbei war, ehe sie zum Schlag ausholten? Dass sie keine andere Wahl hatten, als Seite an Seite zu kämpfen, bis Caesian fiel? Ha, er würde es genießen, ihr endlich mal eine Kostprobe dieses Gelabers reindrücken zu können. Zudem – aber das musste ja keiner wissen – hatte er so einen triftigen Grund gehabt, sich endlich mal eine Weile aus der ach so verbrüderten Gemeinschaft zu lösen. Alleine das Gerede von den Freunden des Pharao war Nerv tötend. Und jetzt waren auch noch zwei Idioten mehr dazu gekommen … Er sah auf, als Diabound zurückkehrte. Er hatte die Bestie kurz zuvor ausgesandt, um die Umgebung abzusuchen. „Irgendetwas gefunden?“, erkundigte sich der Grabräuber knapp. Das Monster nickte. „Ja. Einen enthaupteten und bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Tross Soldaten gen Westen. Sieht aus, als hätten sie Bekanntschaft mit Cheron gemacht.“ „Na endlich. Zeig mir den Weg.“ Damit schwang er sich auf sein Pferd und folgte Diabound. Yugi entdeckte ihn auf einer Anhöhe, die am Nilufer lag. Sein Blick war auf den Fluss gerichtet, sodass er ihn zunächst nicht kommen sah. Er wandte sich allerdings sogleich um, als er das Wiehern eines Pferdes hörte. Atemu erblickte den Jüngeren, als dieser gerade von seinem Reittier stieg, ehe er langsam näher kam. „Partner. Was tust du hier?“ „Störe ich dich?“, äußerte der Andere die Gegenfrage. „Nein. Ich … habe lediglich einen Moment für mich gebraucht. Hast du dir etwa Sorgen gemacht?“ Yugi zuckte mit den Schultern. „Würde ich es leugnen, wäre das eine Lüge.“ „Das musst du nicht. Wirklich. Es geht mir gut.“ „Bist du sicher?“ Als der Pharao ihm einen fragenden Blick zuwarf, fuhr er fort: „Du bist schon seit heute Morgen so still. Du scheinst die meiste Zeit in Gedanken versunken zu sein. Ist es wegen dem, was gestern passiert ist?“ Atemu seufzte schwer und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. „Es tut mir leid, wenn ich dir Sorgen bereitet habe.“ „Darum geht es mir doch gar nicht“, meinte Yugi mit einem Lächeln und setzte sich in den Sand. „Ich möchte dir lediglich die Möglichkeit geben, darüber zu sprechen – sofern du das möchtest. Wenn nicht, ist das auch in Ordnung, ich werde dich nicht dazu drängen. Ich will nur nicht, dass du etwas in dich hineinfrisst, weil du Angst hast, du könntest mich oder die Anderen damit belasten.“ Der Pharao überlegte einen Moment, dann verschränkte er die Arme vor der Brust, wobei er keine Anstalten machte, sich ebenfalls niederzulassen. „Es ist nur so, dass … Sag, kennst du dieses Gefühl, wenn du rückblickend alles anders machen würdest? Wenn du wegen eines simplen Zwischenfalls so vieles in Frage stellst?“ Der Kleinere nickte. „Ja … auch, wenn ich wohl selten so schwerwiegende Entscheidungen treffen musste, wie du.“ „Gestern beispielsweise. Heute könnte ich mich dafür ohrfeigen, dass ich nur danebenstand und mitangesehen habe, wie Risha … ach, ich weiß nicht, was genau sie gemacht hat, doch würde es noch einmal passieren, ich würde nicht nur dabei zusehen, wie Riell und Seto für mich in die Bresche springen!“, sagte er und es hörte sich an, als schwinge Verzweiflung in seiner Stimme mit. „Sie hat sich unmöglich benommen. Wobei ich denke, dass auch sie unter großem Druck steht. Aber trotzdem hätte das nicht passieren dürfen. Ihre Anschuldigungen gegen dich waren nicht nur falsch, sondern auch verletzend.“ Atemu schnaubte. „Sie glaubt, mich zu kennen und dabei weiß sie überhaupt nichts über mich! Weder über mich, noch über meinen Vater, den sie ebenso verurteilt! Ich habe es satt, mir ständig Vorhaltungen wegen Kul Elna machen zu lassen! Als all das passiert ist, war ich noch ein Kind! Und selbst mein Vater wusste erst lange nach der Erschaffung der Milleniumsgegenstände, was sich in dieser Nacht wirklich zugetragen hat!“ Er spuckte die Worte aus, als lägen sie ihm bitter auf der Zunge. „Mal davon abgesehen geht es hier verdammt nochmal nicht um Kul Elna! Es geht um die Zukunft dieses Landes, unserer Heimat! Und Risha hat nichts, aber auch absolut gar nichts Besseres zu tun, als andauernd wieder von dieser Sache anzufangen! Die Welt dreht sich nicht um sie! Wann rafft sie das endlich? Zudem liegt sie falsch und sucht lediglich einen Schuldigen, den sie bestrafen kann, weil mein Onkel dafür nicht mehr zur Verfügung steht, aber das merkte sie nicht einmal! Egal, welche Argumente ich vorbringe, egal, ob ich auf den Knien vor ihr herumrutschen würde, es würde nichts, rein gar nichts ändern! Und das treibt mich in den Wahnsinn! Sie ist genauso verbohrt wie Bakura, aber der schafft es im Moment wenigstens seine verdammte Klappe zu halten! Ich versuche es allen Recht zu machen, wirklich! Aber wenn sie mir nicht einmal die Möglichkeit gibt, ihr zu zeigen, dass sie sich irrt, wie soll mir das gelingen? Ich habe sie lange reden lassen, mich zusammengerissen, aber irgendwann ist auch meine Geduld einmal zu Ende! Diese ständigen Anfeindungen, diese andauernden Beschuldigungen für etwas, das nicht meine Schuld war … es reicht! Genauso wenig habe ich irgendetwas mit Kipinos Tod zu tun gehabt! Verflucht, ich hätte alles, alles getan, um das zu verhindern! Aber ich konnte es nicht! Ich habe ihn weder umgebracht, noch ihn an meiner statt sterben lassen! Ich hasse mich dafür, dass ich nichts getan habe, während Seto und Riell diesen Konflikt, der mir galt, für mich ausgebadet haben!“ Atemu merkte selbst nicht, wie er lauter wurde, sich immer mehr in Rage redete. „Hätte ich doch nur den Mund aufgemacht! Dann wären die Schattentänzer vielleicht gar nicht desertiert – wenn sie nur gesehen hätten, dass ich jemand bin, der nicht nur für das, was seine Untergebenen tun, sondern auch für das, was er selbst tut, Verantwortung übernehmen kann! Der nicht nur delegiert und ständig die Schuld auf andere schiebt! Wer weiß, ob sie wirklich gegangen sind, weil sie Rishas Worten glaubten? Vielleicht sind sie auch nur abgehauen, weil ich so feige war! Wer folgt schon einem feigen König?“ Er holte aus und rammte die geballte Faust in den Stamm einer nahestehenden Palme. Dann war es still. Das einzige Geräusch waren die schweren Atemzüge des Pharao, der wieder um Beherrschung rang, und das Flüstern des Windes. Schließlich zog Atemu die Hand zurück und richtete sich wieder auf. „Es … tut mir Leid, Partner. Ich hätte nicht …“ „Alles okay.“ Er wandte sich zu dem Jüngeren um. Der lächelte ihn an – jedoch nicht mitfühlend oder dergleichen, sondern ehrlich erleichtert. „Warum … siehst du so fröhlich aus?“, erkundigte sich der Pharao verdutzt. „Weil du endlich all das, was sich angestaut hat, herausgelassen hast. Das ist gut. Jedenfalls besser, als es irgendwann in einer Schlacht zu tun, denn da musst du einen kühlen Kopf bewahren. Hör zu, das, was eben passiert ist, ist vollkommen menschlich. Auch du hast Sorgen, Ängste, Bedürfnisse und ja, auch du wirst mal sauer. Ich weiß, das kannst du dir in deiner Position meistens nicht leisten. Deshalb ist es nochmal umso besser, dass dieser Ausbruch jetzt passiert ist, da wir nicht bei den Anderen waren. Ich glaube zwar, dass Riell deine Meinung im Moment teilen würde, und trotzdem … es hätte nicht das beste Klima für eure weitere Zusammenarbeit geschaffen. Aber hey, was ich eigentlich sagen will, ist, dass auch du das Recht hast, dir mal den Frust von der Seele zu schreien oder einer – zugegebenermaßen unschuldigen – Palme eine zu verpassen.“ Atemu musste aufgrund des letzten Kommentars schmunzeln. „Ich danke dir, Partner …“ „Kein Problem. Dafür sind Freunde doch da. Und wenn du mal wieder Druck ablassen musst, dann sag einfach Bescheid!“ Der Pharao nickte dankbar. „Das werde ich. Wollen wir zurück zu den Anderen gehen?“ „Aber klar doch. Nicht, dass sie uns noch abhängen.“ Damit liefen beide zurück zu ihren Pferden – Atemu mit wesentlich leichteren Schritten, als zuvor. Marlic trieb sein Pferd durch das Grün des Nilufers. Inzwischen hatte die Nacht das Land fest im Griff. Endlich hatte er aufbrechen können. Zunächst hatte ihn Mana mit sich durch die Stadt geschleift, um mit dem Vorstehenden der Stadtwache zu sprechen. Dort hatten sie dann schließlich erreichen können, dass Marlic uneingeschränkten Zugang zum Tal der Könige bekam. Zu diesem Zeitpunkt war er sich schon sicher gewesen, sie bald los zu sein, doch er hatte sich getäuscht – die Hofmagierin hatte ihm zunächst noch einen Vortrag darüber gehalten, dass er noch nicht einmal daran denken sollte, in der Nekropole irgendetwas mitgehen zu lassen. Gleich, ob er sie angepampt oder ihr versichert hatte, dass das nicht passieren würde, sie hatte keine Ruhe gegeben. Marlic war jetzt noch genervt von dem Gespräch. War er Bakura oder was? Umso mehr hatte er aufgeatmet, als er endlich zu den Ställen geführt wurde. Mana hatte zwar vorgeschlagen, er solle bis zum Morgen mit der Suche warten, doch er hatte abgelehnt. Erstens wollte er sie loswerden. Zweitens war ihm verdammt langweilig. Schon seit Tagen. Den Pharao vor der Seele der Zeit vorführen zu können, war zwar vergnüglich gewesen, ebenso wie der Auftritt von Bakuras Cousinchen, bei dem er erwartet hatte, es würde irgendwann einfach platzen, aber na ja … irgendwie hielt das nicht lange nach. Gab immerhin nicht viel, das man in der Wüste machen konnte, außer den ganzen Tag vor sich hin zu latschen. Natürlich hatte er mehr als einmal versucht, seine Mitstreiter zu piesacken, aber die waren meistens zu erschöpft von der Hitze und dem ständigen Laufen, weswegen sie kaum auf seine Anfeindungen eingingen oder sie nur mit verdrehten Augen abnickten. So machte das keinen Spaß. Darum galt nun: diese Sonnenscheibe finden und dann ab in eine ordentliche Kneipe in Thebens Zentrum. Je schneller, desto besser. Eines beschäftigte ihn jedoch. Schon seit er die Stadt verlassen hatte, hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. So oft er jedoch inne hielt und sich umsah, war da niemand. Zunächst hatte er versucht, es zu ignorieren, doch es wollte ihm einfach nicht gelingen. Zwischenzeitlich fragte er sich, ob er paranoid wurde. Wobei das seltsam wäre, denn wenn er auch alles Mögliche war, aber paranoid gehörte eigentlich nicht dazu. Marlic war viel mehr der Typ Mensch, der vollkommen unbedarft in jede Situation hineinging, egal, wie lebensgefährlich sie auch sein mochte. Sein Selbstvertrauen war groß genug, um sich vor nichts und niemandem zu fürchten, sich auch Widersachern zu stellen, die bedeutend stärker waren, als er selbst. Davon gab es aber in seiner Selbstsicht natürlich nicht viele. Um genau zu sein lediglich einen, nämlich Atemu, aber das verdrängte er bis heute relativ erfolgreich. Plötzlich zügelte er sein Pferd erneut. Verdammt, er bildete sich das nicht ein! Da war irgendjemand, ganz sicher. Und er würde auch herausfinden, wer es war. Ein kurzer Lichtblitz, dann schälte sich Des Gardius aus der Dunkelheit. Der schneidende Ton von aufeinander klirrendem Metall erklang, als er die Klauen gegeneinander rieb. „Ich zähle bis zehn! Entweder du kommst bis dahin raus oder mein Ka wird dich holen!“, rief er in die Nacht hinaus. „Eins!“ Es blieb still in der Finsternis. „Zwei!“ Lediglich das Rauschen des Windes in den Kronen der Palmen war zu hören. „Drei!“ Ebenso wie das Plätschern des nahen Nils, dessen Fluten niemals schliefen. „Vier!“ Seine Augen wanderten unablässig umher. „Fünf!“ Doch obgleich der Mond hell am Himmel stand, konnte er nichts erkennen. „Sechs!“ Machte er sich hier vielleicht doch zum Affen und da war gar nichts? „Sieben!“ Nein. Er spürte deutlich, dass ihn jemand beobachtete. „Acht!“ Und dieser jemand würde leiden, wenn er nicht endlich aus seinem Versteck kam! „Neun!“ Selbst Schuld. „Ze…“ „Schon gut! Hier bin ich!“ Marlic zog verwundert eine Augenbraue in die Höhe, als ein Stück abseits des Weges ein Pferd samt Reiter aus den Schatten trat. Er hatte die Stimme sofort erkannt. „Was, in Ras Namen, willst du hier?“, hakte er augenblicklich nach. Das Reittier trabte näher. Schließlich trat es unter dem Palmendach hervor und auf den Weg hinaus. Im Mondschein konnte er erkennen, dass er sich nicht geirrt hatte – es war niemand anderes als Samira. „Ich dachte … na ja, dass du vielleicht ein wenig Hilfe bei der Suche gebrauchen könntest“, sagte sie, als sie ihn erreicht hatte und spielte nervös mit ihren Fingern Marlic schnaubte amüsiert. „Pah! Sehe ich aus, als bräuchte ich irgendwelche Hilfe? Jetzt zieh Leine.“ „Aber ich will mitkommen!“ „Kinder gehören um diese Zeit ins Bett. Und jetzt mach‘, dass du wegkommst.“ Er rief Des Gardius zurück, wandte sein Pferd um und ließ es antraben. Es dauerte jedoch nicht lange, bis er weitere Hufschläge hinter sich vernahm. Kurz darauf schloss das Mädchen zu ihm auf. „Ich bin kein Kind! Außerdem könnte Kiarna helfen! Um diese Zeit ist es im Tal der Könige bestimmt sehr dunkel und sie ist ein Feuermonster!“ „Ich finde das Relikt auch ohne dein zu groß geratenes Vögelchen. Da entlang geht es zurück nach Theben. Hopp, hopp!“, entgegnete Marlic gelangweilt und machte eine scheuchende Bewegung mit der rechten Hand. „Aber … ich will mitkommen!“, echauffierte sich die Rothaarige. Es hätte nur noch gefehlt, dass sie mit dem Fuß aufstampfte. „Tja, zu dumm, dass wir da nicht einer Meinung sind. Ich will nämlich nicht, dass du das tust.“ Samira verschränkte die Arme vor der Brust. „Du kannst mich nicht dazu zwingen, umzukehren!“ „Sei dir da mal nicht so sicher …“ „Du würdest mir nichts tun. Niemand vergreift sich an Kindern.“ „Das mag auf die meisten Menschen zutreffen, aber nicht auf mich. Außerdem dachte ich, du wärst kein Kind?“ Es herrschte kurzes Schweigen, während dem die Schattentänzerin jedoch keine Anstalten machte, ihn in Ruhe zu lassen. „Bin ich auch nicht“, entschied sie schließlich. „Dann verzieh dich endlich, bevor ich gewalttätig werde!“, knurrte Marlic zurück. „Ach komm schon! Ich mach‘ auch alles, was du sagst!“ „Na schön. Dann hau jetzt ab.“ „Alles außer das.“ Frustriert riss Marlic sein Pferd herum und fixierte Samira mit eiskaltem Blick. „Ich gebe dir noch diese eine Chance, zu verschwinden. Danach tue ich dir weh. Und zwar sehr, sehr weh. Habe ich mich klar und deutlich ausgedrückt?“ „Aber … ich will nicht zurück nach Theben. Ich will bei dir bleiben!“ Die Augen des ehemaligen Milleniumsgeistes weiteten sich. Was hatte die Kleine da eben gesagt? Das … hä? Für gewöhnlich mieden ihn die Menschen, solange sie konnten. Und die da wollte … „Was?“, äußerte er schließlich perplex. Samira sank ein wenig auf ihrem Pferd zusammen und seufzte schwer. „Ich … ich fühle mich unwohl, seit Risha weg ist. Sie war immer die Einzige, die mich richtig verstanden hat. Sie hat nie gemeckert, wenn ich meine Meinung gesagt habe. Jetzt ist bloß noch Riell da, und der denkt immer nur diplomatisch, damit er ja nicht bei anderen aneckt. Er ist nie er selbst. Er achtet andauernd ganz genau auf das, was er sagt. Das ist total ätzend. Und der Rest sind irgendwelche Freunde vom Pharao, mit denen will ich erst Recht nichts zu tun haben. Aber du bist in Ordnung. Du sagst auch immer alles, was du denkst, und es ist dir egal, was andere davon halten. Und du bist zwar schon irgendwie komisch, aber auf eine gute Art und Weise, finde ich. Außerdem …“ Sie setzte den besten Liebes-Kindchen-Blick auf, den sie meistern konnte. „… musst du mir irgendwann noch zeigen, wie man Leute mit ihren Gedärmen stranguliert! Und wenn wir im Tal auf irgendwelche Probleme stoßen, wäre das doch die ideale Gelegenheit, immerhin ist kein doofer Pharao da, der einem das vermiesen kann.“ Marlic war baff. Wobei es das nicht ganz traf: Schockiert wäre wohl bezeichnender gewesen. Er hatte anscheinend ohne sein Wissen und Zutun einen Fan bekommen. Einen ziemlich großen, zumindest machte es den Eindruck. Eigentlich wollte er sie trotzdem wegschicken, aber irgendetwas hielt ihn zurück. Das war das erste Mal, dass ihn irgendjemand bewunderte, wo er doch sonst nur Abscheu erntete – nicht ungeplant, natürlich. Was diese Situation nur umso seltsamer machte. Da war diese halbe Portion, die seine bei den meisten Menschen als vollkommen abartig verschrienen Vorstellungen toll fand. Wider aller Logik und gegen jegliche Intention Marlics war sie scheinbar begeistert von dem, was er tat. Das bedeutete, er machte entweder irgendetwas ganz furchtbar falsch – oder die Kleine hatte nicht mehr alle Latten am Zaun. Auf jeden Fall faszinierte ihn ihre Reaktion. So hörte er sich schließlich ein „Mach doch, was du willst“ murmeln, ehe er sein Pferd abermals umwandte und den Pfad weiter hinab ritt. Die Schattentänzerin folgte ihm freudestrahlend auf den Fuß. Der Morgen war noch fern, als Marlic und seine ungewollte Begleitung den Zugang zum Tal der Könige erreichten. Der Bote, der ihnen vorausgeeilt war, hatte die dortigen Wachen bereits von ihrem Kommen unterrichtet, sodass beide ungehindert passieren konnten. Sie mussten ein Stück weit in die Schlucht hineinreiten, bis sich die ersten Grabanlagen aus dem Fels schälten. Sie Zugänge waren durch Fackeln markiert. Schließlich zügelte Marlic sein Pferd und stieg ab. Die Schattentänzerin tat es ihm gleich. Beide ließen ihren Blick umherschweifen. „Bleibt die Frage, wo wir anfangen sollen …“, murmelte der fleischgewordene Geist. „Wie wäre es, wenn wir erstmal ein bisschen Licht machen?“, schlug Samira vor und beschwor ihre Ka-Bestie. Der heilige Phönix von Nephthys erhob sich brüllend in die Nacht und landete direkt hinter seiner Trägerin. „Kia? Wäre es möglich, dass du diesen Ort ein bisschen erhellst? Wir müssen so viel sehen können, wie möglich.“ Das Monster nickte zur Antwort. Es sammelte seine Kräfte und ließ die Flammen, die aus seinem Körper schlugen, wachsen. Der goldene Panzer des Wesens reflektierte ihr Licht zusätzlich, sodass sie die nähere Umgebung problemlos erkennen konnten. „Nun gut. Dein Vögelchen soll uns folgen, damit wir immer da etwas sehen, wo wir gerade sind. Des Gardius!“, rief nun auch Marlic seinen Ka herbei. Die Bestie erschien sofort. „Also, haltet die Augen nach irgendwelchen verdächtigen Stellen offen. Die Gräber können wir ausschließen, das Relikt wäre bei ihrer Anlage bereits entdeckt worden.“ Damit machten sie sich an die Arbeit. Während der ehemalige Milleniumsgeist und sein Monster besonders die unteren Bereiche der steilen Felswände in Augenschein nahmen, forderte Samira Kiarna auf, sie auf ihren Kopf zu nehmen, damit sie die höher gelegenen Stellen untersuchen konnte. Eine Weile herrschte Schweigen in der Nekropole, bis die junge Schattentänzerin schließlich entschied, dass es ihr zu still war. „Warum genau magst du den Pharao eigentlich nicht?“, fragte sie vom Schädel des Phönix herunter an Marlic gewandt. Der nahm seinen Blick nicht von der Felswand, an der er soeben entlang schritt, während er antwortete. „Wer sagt denn, dass ich ihn nicht mag?“ „Na ja … so, wie du dich ihm gegenüber verhältst … außerdem habe ich Gerüchte gehört, dass du mal versucht haben sollst, ihn umzubringen. Stimmt das?“ „Allerdings …“ Seine Gedanken wanderten zu der Zeit zurück, da das Battle City Turnier stattgefunden hatte. Er war seinem Ziel so nah gewesen … und dann war ihm seine Made von einem Wirt dazwischen gekommen. Ein Glück, dass er Marik los war. Wobei er es ja schon ein wenig vermisste, den Geist des Anderen zu malträtieren … „Wie genau hast du es denn machen wollen?“ Marlic warf ihr einen Seitenblick zu. Ja, der Pharao verstand es wirklich, sich Feinde zu machen. Hätte er mehr auf Samira gehalten, so hätte er sogar zu behaupten gewagt, dass die Kleine seiner Majestät eines Tages noch gewaltige Bauchschmerzen bereiten würde. Wobei … wer wusste, was die Zukunft brachte? Den Anfang schien sie jedenfalls schon einmal zu machen. Wenn auch aus den falschen Intentionen. Rache für jemanden zu nehmen, hing immer mit Emotionen zusammen – positiven Emotionen, die man für die verlorene Person gehegt hatte. Das bedeutete, dass man irgendwo tief in sich einen weichen Kern trug, eine Schwachstelle. Eine solche hatte schon Bakura zu Fall gebracht. Marlic hingegen war der Form gewordene Hass seines Wirts gewesen - eine durch und durch aus negativen Gedanken geschaffene Entität, die dem Pharao deswegen nach dem Leben getrachtet hatte, weil sie daraus den Sinn ihres Daseins zog. So war es auch heute noch, auch wenn sich der böse Geist seit seiner Manifestation in einem menschlichen Körper des Öfteren seltsam … menschlich fühlte. Als er noch Mariks Körper kontrolliert hatte, war er zum Beispiel nie trinken gewesen. Jetzt tat er es recht gerne, weil es ihm eine eigenartige Form von Befriedigung gab, zumindest für einen kurzen Zeitraum. Dieses Gefühl, wenn der Kopf langsam neblig wurde, war ab und an angenehm. Auch Weiber hatten ihn früher kein bisschen interessiert. Heute taten sie es ebenfalls nicht, zumindest nicht auf irgendeine emotionale Weise. Aber er musste zugeben, dass es da doch einige ganz attraktive Exemplare gab, die er durchaus anziehend fand … zumindest für ein, zwei Nächte. All das hatte ihn anfangs durchaus verwirrt. Aber Marlic war – richtiger, eigener Körper hin oder her – schon immer ein Genussmensch gewesen. Noch vor einiger Zeit hatte er sich nur am Leid anderer ergötzen können, jetzt waren eben noch ein paar andere Dinge hinzugekommen, die er spaßig fand. Und so genoss er erst einmal einfach. Konnte ja nicht schaden, sich noch ein paar andere Hobbies zuzulegen, dann wurde es wenigstens nicht langweilig. Sollte er aber jemals mit irgendeiner Form von Gefühlsduselei anfangen, und sei es auch nur, dass er jemandem mal die Tür aufhielt, so schwor er sich, auf der Stelle Selbstmord zu begehen. „Marlic? Hörst du mir eigentlich zu?“ Samiras Stimme riss ihn aus den Gedanken. „Wie ich den Pharao umbringen wollte, das war deine Frage.“ „Und kriege ich auch eine Antwort?“ Der ehemalige Milleniumsgeist überlegte. Was sollte er ihr denn erzählen? Dass er dreitausend Jahre in der Zukunft versucht hatte, den Pharao in einem Kartenspiel auf Leben und Tod in die Knie zu zwingen? Nein, dann würde sie nur noch mehr fragen. „Wie wohl? Ich bin mit meinem Ka gegen ihn angetreten.“ Das besagte Monster zuckte noch nicht einmal. Irgendwo hatte er ja Recht. Des Gardius hatte immer irgendwo tief in ihm geschlummert, jedoch nie Form angenommen. „Echt? Gegen die Göttermonster?“ „Gegen Slifer und Obelisk, ja.“ „Und was war mit dem geflügelten Drachen des Ra? Bist du besiegt worden, bevor er aufgetaucht ist?“ „Natürlich nicht! Ra stand zu diesem Zeitpunkt unter meiner Kontrolle …“ Kaum, da er die Worte ausgesprochen hatte, hätte er sich am liebsten selbst eine gelangt. Jetzt kamen mit Sicherheit … „Was? Wirklich? Du hast mal einen Gott kontrolliert? Das ist ja der Wahnsinn! Wie hast du das gemacht?“ Scheiße … Zum Glück arbeitete sein Kopf recht zügig, sodass er nicht lange überlegen musste. „Es gab einst einen Spruch, der einen befähigte, Ra zu befehligen. Bevor du fragst: Nein, er existiert nicht mehr. Er wurde zerstört, es gibt also keinen Weg, denselben Zug noch einmal zu machen.“ Oder vielleicht doch? Gab es die Götterkarten noch? Selbst wenn nicht, Marlic erinnerte sich noch an die altägyptischen Worte, die auf der mächtigsten von ihnen geschrieben waren als wäre es gestern gewesen. Eventuell sollte er das bei Gelegenheit einmal ausprobieren … „Ich schätze mal, es hat nicht gereicht, sonst hättest du ihn ja bezwungen. Zwei gegen einen ist aber auch nicht ganz gerecht …“ Der Geist des Milleniumsstabes schnaubte. „Schreib‘ dir eines gleich hinter die Ohren, Kindchen: Diese Welt ist niemals gerecht. Jeder, der dir etwas anderes erzählt, lügt.“ Samira ließ sich die Worte durch den Kopf gehen. „Ich weiß. Ich weiß das sogar sehr gut.“ Marlic hatte das Gefühl, als warte sie darauf, dass er nachhakte. Und irgendwie … na ja, diese Suche, bei der sie bislang lediglich Steine angafften, war nun wirklich alles andere als aufregend. Aber das musste er sie ja nicht spüren lassen. „Pft“, schnaubte er daher. „Ich bezweifle, dass jemand in deinem Alter weiß, wie die Welt tickt.“ „Und ob!“, entgegnete die Rothaarige, jedoch ohne die sonstige Schärfe in ihrer Stimme. „Ach ja? Und was genau veranlasst dich zu dieser Annahme?“ Als er zunächst keine Antwort erhielt, wandte er sich um. Samira saß noch immer auf dem Kopf ihrer Ka-Bestie, ihr Blick lag jedoch nicht mehr auf den Felswänden und suchte, sondern er war gen Boden gerichtet. Sie kaute auf ihrer Unterlippe und schien … trübselige zu sein? Schließlich seufzte sie. „Meine Eltern … weißt du, früher, als es die Milleniumsgegenstände noch nicht gegeben hat, waren Ka-Bestien deutlich seltener, als heute. Und auch nach ihrer Erschaffung dauerte es eine ganze Weile, bis man sie als … normal empfunden hat. Selbst dieser Tage gibt es noch Menschen, die sie fürchten und als ein Übel betrachten. Meine Eltern waren solche Leute. Als sie entdeckt haben, dass ich in der Lage bin, Kiarna zu rufen, sind sie zu Tode erschrocken und haben irgendetwas von großem Unheil erzählt. Sie … haben Heiler gerufen und so gut wie alles versucht, um sie aus meiner Seele zu vertreiben. Aber wie soll das gehen, wenn sie doch ein Teil davon ist? Letztlich blieben ihre Bemühungen erfolglos und sie haben mich inmitten der Wüste ausgesetzt. Ich bin einige Zeit umhergeirrt und wurde schließlich von einer Räuberbande aufgegriffen, die vorhatte, mich für Geld zu verkaufen. Eines Nachts sind sie allerdings den Schattentänzern begegnet und die haben mich befreit und aufgenommen. Risha selbst war damals die, die meine Fesseln gelöst hat. Seitdem bin ich Mitglied des Clans. Ich habe also sehr wohl eine Ahnung davon, dass diese Welt alles andere als gerecht ist. Wenn es noch nicht einmal die eigenen Eltern sind … wie soll es dann der Rest der Menschheit sein?“ Marlic schwieg einen Moment, nachdem sie geendet hatte. Es schien so, als habe das Kind tatsächlich schon mehr in seinem Leben durchgemacht, als er gedacht hatte. „Es wird immer so sein, dass die, die schwächer sind, die Stärkeren fürchten und alles dafür tun werden, sie zu eliminieren. Ist praktisch ein Naturgesetz. Und das, obwohl doch die ganze Welt danach strebt, sich stetig weiterzuentwickeln. Einfach paradox …“, murmelte er schließlich. Sie waren inzwischen im hinteren Teil des Tales angelangt, doch noch fehlte jegliche Spure von einem göttlichen Relikt. Marlic seufzte. Irgendwie hatte er sich das mit dem Auftreiben eines Artefaktes einfacher vorgestellt … Kapitel 49: Erinnerungen ------------------------ Das Lachen eines Mädchens erfüllte die warme Luft. Das Kind, kaum mehr als vier Sommer alt, lief durch die Straßen Thebens. In den Armen trug es zwei große, pralle Granatäpfel. Für gewöhnlich kam sie nicht in den Genuss solcher Speisen. Doch heute hatte sie Glück gehabt. Ein netter Händler, der dabei war, seinen Stand abzubrechen, hatte ihr das Obst überlassen. Er hätte es am morgigen Tag nicht mehr verkaufen können, hatte er gesagt. Dafür waren sie schon zu hart. Das Mädchen kümmerte das nicht. Das, was manch andere Menschen als Abfall betrachteten, war nicht selten ihr Abendessen. Und wie sich ihre Mutter erst freuen würde, wenn sie sah, was ihre Tochter da mitbrachte! Doch dann trübte sich ihre Freude plötzlich. Sie hörte Stimmen vom anderen Ende der Gasse her, die sie soeben entlang ging. Stimmen, die sie kannte – und fürchtete. Nur kurz darauf umrundeten drei Mädchen die Ecke und erblickten sie. Auf dem Gesicht der Ältesten zeigte sich sofort ein gehässiges Grinsen. „Wen haben wir denn da? Müsstest du nicht längst zuhause sein?“ Das Kind antwortete nicht. „Und was hast du da eigentlich? Sind das Granatäpfel?“ Instinktiv umklammerte sie das Obst fester. „Eine wie du kann sich sowas doch nicht leisten. Hast du sie also gestohlen?“ „Nein!“, rief das Mädchen nun aus, ehe es deutlich leiser fortfuhr: „Man hat sie mir geschenkt.“ „Das glaubst du doch selbst nicht. Wer würde jemandem wie dir schon etwas schenken wollen? Sieh dich nur einmal an!“ Die Ältere begann, sie zu umkreisen. „Die alten Fetzen, die du Kleidung nennst. Dann deine verlausten Haare. Und wie du stinkst! Jede Hammelherde ist eine Wohltat dagegen!“ „Das ist nicht wahr … ich stinke nicht …“, widersprach das Kind, jedoch ohne jeden Nachdruck in der Stimme. Sie wusch sich, jeden Tag sogar! „Wie auch immer – jetzt gib mir die Granatäpfel“, fuhr die Andere nun fort und streckte fordernd eine Hand aus. „Aber das sind meine … du hast sowas doch ständig zu essen“, versuchte sie, der Älteren zu widersprechen. „Pah, als ob ich die noch essen würde, nachdem du sie angefasst hast! Nein, ich will lediglich für Ordnung sorgen – damit jeder ausschließlich das bekommt, was ihm auch wirklich zusteht. Entweder, du gibst sie mir auf der Stelle oder ich werde die Stadtwache rufen.“ „Aber ich hab‘ doch gar nichts Unrechtes getan!“ „Meinst du, das kümmert mich? Ich will, dass du sie mir gibst und zwar sofort!“ Sie untermalte die Aufforderung mit den Fingern. Das Mädchen war den Tränen nahe, als sie vortrat, um ihrem Gegenüber das Obst zu geben. Sie hatte sich so sehr darauf gefreut, sie heute Abend mit ihrer Familie zu teilen. Jetzt war jegliche Freude verflogen. An ihre Stelle trat Traurigkeit – und Wut. Seit langem schon piesackten diese Weiber sie und nie konnte sie sich wehren. Sie hatten immer eine passende Drohung parat, so wie heute. Wenn sie wirklich die Stadtwachen riefen, würde ihr niemand glauben. Ein Ding ohne Geld, wie sie eines war, musste gestohlen haben, eine andere Möglichkeit gab es gar nicht. Sie fühlte sich ohnmächtig, obgleich die Wut in ihr loderte wie ein Feuer. Wie gerne sie dieser eingebildeten … Schreie, sowohl ihr eigener, als auch die ihrer Peinigerinnen, zerrissen die Luft, als der Sand um das Mädchen herum plötzlich in Flammen aufging. Aus ihnen erhob sich ein Wesen, kaum größer, als das Kind. Die Älteren suchten das Weite, so schnell sie ihre Beine tragen konnten. Das Mädchen stolperte über seine eigenen Füße, als es zurücktaumelte, und ging zu Boden. Die Granatäpfel rollten davon, doch sie schenkte ihnen gar keine Beachtung mehr. Ihre Augen waren auf die Kreatur gerichtet, die ihr gegenüber stand. Als die Flammen sich zurückzogen, konnte sie sie schließlich deutlicher erkennen. Es war ein weißes Fohlen. Doch die Farbe seines Fells war nicht das Ungewöhnliche am ihm. Mähne und Schweif waren rot. Aus seinen Schultern kamen zwei zierliche Flügel von gleicher Farbe. Am meisten faszinierten das Kind jedoch die Augen des Wesens – sie hatten die Farbe von Bernstein. Das Tier scharrte unruhig mit den Hufen, während es das Kind betrachtete. Dieses wiederum starrte vollkommen perplex zurück. Sie wusste nicht, wieso, aber auf eine seltsame Art und Weise fürchtete sie die Kreatur nicht. Im Gegenteil … auch, wenn sie sie heute zum ersten Mal sah, fühlte es sich an, als wären sie sich schon früher begegnet. Dennoch rutschte sie rasch ein Stück zurück, als das Wesen Anstalten machte, näher zu kommen. Es erschrak daraufhin und sprang zur Seite. Die beiden musterten sich eine Weile, dann erst fand das Mädchen seine Stimme wieder. „Kannst … kannst du mich verstehen?“ Zu ihrer Überraschung nickte das Fohlen. Zugleich zuckte sie zusammen, als eine Stimme erklang – in ihren Gedanken. Natürlich verstehe ich dich! „Warum … wie …?“ Ich weiß es nicht … Wieder folgte Stille, bis das Kind genügend Mut zusammen genommen hatte, um weiterzusprechen. „Was bist du? Und … wo kommst du her?“ Das Wesen scharrte aufgeregt mit einem Vorderhuf. Spürst du es denn nicht? Das Mädchen schluckte. „Na ja … irgendwie ist mir, als würde ich dich kennen. Aber ich habe dich doch noch nie zuvor gesehen, weder dich noch sonst ein … Tier wie dich. Wie sollte das also sein?“ Weil ich schon immer bei dir war. Aber wir … waren noch nicht weit genug, sodass ich mich dir nicht zeigen konnte. Aber jetzt sind wir es endlich!, freute sich das Fohlen weiter. „Wovon redest du? Ich … ich fürchte, ich verstehe nicht.“ Die Kreatur schien zu überlegen, ehe sie betrübt den Kopf hängen ließ. Ich weiß auch nicht, wie ich es genau erklären soll. Ich habe dafür keine Worte, es sind lediglich Eindrücke, Gefühle – Gefühle durch die ich weiß, dass ich zu dir gehöre. Das Mädchen ließ sich die Worte durch den Kopf gehen. „Du meinst wir könnten … Freunde sein?“ Oh ja, das trifft es gut! Freunde!, freute sich das Wesen daraufhin und sprang auf und ab. Das Kind musste lächeln. „In Ordnung. Freunde. Ich muss mich noch bei dir bedanken. Du hast diese blöden Ziegen vertrieben. Das war nett.“ Oh, gerne geschehen … auch wenn das ehrlich gesagt gar nicht meine Absicht war … ich bin einfach … erschienen. Irgendwie. Das Mädchen lachte. „Ich bin übrigens Risha …“ Ich weiß! Auf den fragenden Blick seines Gegenübers hin fügte das Fohlen rasch hinzu: Ich weiß nicht, woher ich es weiß, aber ich weiß es. „Oh, gut … und wie heißt du?“ Ich weiß nicht … „Hast du etwa deinen Namen vergessen?“ Nein! Ich … ich glaube, ich hatte nie einen … „Aber das kann doch gar nicht sein. Jeder hat einen Namen!“ Außer mir … Risha überlegte. „Hm. Du brauchst aber einen … Warte mal! Ich hätte da eine Idee!“ Wirklich? „Ja! Wie wäre es mit Cheron? Gefällt dir der Name?“ Cheron?, wiederholte das Fohlen und legte den Kopf schief. Dann sprang es abermals auf und ab. Oh ja, der gefällt mir sogar richtig, richtig gut! Das Kind lächelte. „Sehr schön. Nun denn, dann komm mit Cheron. Ich müsste eigentlich längst wieder daheim sein. Ich kann gar nicht erwarten, dich meinen Eltern vorzustellen!“ Cheron schreckte aus seinen wandernden Gedanken hoch, als ein Geruch seine Nüstern streifte. Seine Quelle war noch weit entfernt, sodass er ihn nicht eindeutig zuordnen konnte. Noch beunruhigte er ihn also nicht. Doch er würde aufmerksam bleiben müssen – was ein Teil von ihm auch tat, während ein anderer erneut abschweifte. Der Pegasus war genauso schnell verschwunden, wie er erschienen war, nachdem Rishas Vater versucht hatte, ihn mit einer Axt zu erschlagen. Alles war so schnell gegangen. Sie waren nach Hause gekommen, das Mädchen vor Glück strahlend mit den beiden Granatäpfeln in den Händen und einem neuen Freund im Schlepptau. Diese Freude war ebenso rasch verschwunden, wie sie gekommen war. Ihre Eltern hatten sie und das kleine Monster einen Moment lang sprachlos angesehen. Dann war ihre Mutter schreiend in Tränen ausgebrochen, während ihr Vater sofort nach der Axt gegriffen hatte. Er brüllte herum und hieb noch mehrmals auf die Stelle ein, an der einen Wimpernschlag zuvor Cheron gestanden hatte, ehe er die Waffe fallen ließ. Dann wirbelte er herum und packte sein Kind, schüttelte es und schrie es an. Risha verstand nicht, was er sagte, und selbst wenn sie verstanden hätte, war sie zu verängstigt von dem plötzlichen Wutausbruch, als dass sie hätte antworten können. Schließlich riss er sie an den Haaren herum, schleifte sie ins Nebenzimmer und warf sie zu Boden. Kurz darauf fiel die Tür krachend ins Schloss und der Schlüssel wurde herumgedreht. Es vergingen Stunden, in denen Risha mitanhörte, wie sich ihre Eltern stritten, während sie in einer Ecke des Raumes kauerte und weinte, weil sie nicht verstand, was passiert war. Und Cheron konnte nichts tun, außer durch ihre Augen alles mit anzusehen, da ihre Angst ihn ebenso lähmte, wie sie selbst. Der Pegasus schnaubte, als ihm ein Schauer den Rücken hinabfuhr. Warum gerade jetzt all diese Erinnerungen aus den tiefsten Winkeln seines Denkens hervorgekrochen kamen, wusste er nicht. Und selbst wenn er gewollt hätte, im Augenblick konnte er nichts dagegen tun, dass seine Gedanken weiter zu dem wanderten, was dann geschehen war. Zwei Tage vergingen, in denen die Türe nur einmal kurz geöffnet wurde. Rishas Mutter betrat das Zimmer, stellte ihr mit zitternden Händen einen Krug Wasser hin und warf ihr etwas Brot vor die Füße, ehe sie anschließend sofort wieder verschwand. Erst dann tat sich etwas. Eine neue Stimme kam vor dem Zimmer hinzu. Die Ungewissheit, die an dem Verstand des Kindes zerrte, als wolle sie ihn in Stücke reißen, trieb sie dazu, sich direkt vor die Türe zu setzen und zu lauschen. Wie sich aus dem Gespräch ergab, redeten ihre Eltern mit einem Heiler. Gewiss keinem der offiziell anerkannten, einen solchen konnten sie sich keineswegs leisten, wie ihr später klar wurde. Sie sprachen mit ihm darüber, ob es eine Möglichkeit gab dieses Ding aus ihrer Seele zu entfernen. Risha verstand zu diesem Zeitpunkt nicht, was sie meinten. Erst Jahre später sollte sie begreifen. „Aber irgendetwas muss man doch tun können!“ „Nun, du könntest einen hübschen Sattel für das Pferdchen kaufen …“ „Das ist nicht witzig!“ „Wie du meinst. Aber ich muss dich enttäuschen, das, was du und deine Frau verlangen, kann ich nicht tun. Eine Ka-Bestie von ihrem Träger zu trennen, birgt gewisse Risiken. Vor allem in so jungem Alter. Das Monster ist noch nicht eigenständig genug und zu stark mit der Seele des Kindes verwoben. Würde ich es austreiben, könnte ihr Geist zerrissen werden. Sie wäre dann nichts weiter mehr, als eine leere Hülle.“ „Ich wäre bereit, es zu riskieren. Denn wenn dieses Ding in ihr bleibt, dann habe ich ohnehin keine Tochter mehr!“ „Tut mir leid, aber wenn es das ist, was du möchtest, dann such‘ dir jemand anderen dafür. Ich mag ja für Geld so einiges tun, aber auch ich habe meine Prinzipien, weißt du?“ Es waren Schritte zu hören, dann öffnete und schloss sich eine Tür. Kurz darauf war das Scheppern von berstender Keramik zu hören. Anschließend war es eine Zeit lang still, bis Risha die wütende Stimme ihres Vaters hörte. „Das ist alles deine schuld! Einzig und allein dein dreckiges, verkommenes Blut ist dafür verantwortlich!“ Ihre Mutter wimmerte. „Was … was hast du denn jetzt vor?“ „Was ich vorhabe? Was denkst du denn was ich vorhabe?“ Das Singen von Metall, dann die panischen Schreie der Frau. „Bei den Göttern, nein! Das kannst du doch nicht tun! Sie ist unser Kind!“ „Bleib wo du bist. Sie ist nichts weiter als Dreck! Sie hat den Fluch auf sich! Je länger wir sie am Leben lassen, desto weiter wird sie uns dem Abgrund entgegen bringen!“ „Aber du weißt doch gar nicht, was geschehen wird, wenn du ihr das antust! Was, wenn du den Dämon verärgerst? Was, wenn er wütend wird? Die Götter haben sie so gemacht, was, wenn wir vielleicht gar ihren Zorn auf uns ziehen?“ Stille. „Die Götter haben sie also so gemacht, ja? Nun gut. Dann sollen auch die Götter darüber entscheiden, ob sie lebt oder stirbt.“ Kurze Zeit später öffnete sich die Türe. Rishas Vater kam mit einem Becher in der Hand herein. Es dauerte nicht lange, dann hatte er sie gepackt und gezwungen, das eklige Gebräu, das sich darin befand, zu trinken. Nur einen Wimpernschlag später wurde alles schwarz. Der Wüstenwind strich kühl durch Cherons Mähne. Doch er war es nicht, der die Flammen an seinen Flügeln stärker lodern ließ. Es waren die Emotionen, all der Hass und die Verachtung für Rishas Eltern. Und die Erinnerungen drangen unaufhaltsam weiter und weiter aus den dunkelsten Ecken seines Gedächtnisses hervor. Die Schwärze währte lange. Als sie dann endlich wieder wich, war das Erste, das Risha spürte, die unerträgliche Mittagshitze. Langsam schob sie die Augen auf und versuchte, durch den noch immer dichten Schleier der Benommenheit ihre Umgebung in Augenschein zu nehmen. Sie bemerkte, dass sie über dem Rücken eines Pferdes hing, das unter ihr beständig vorwärts trabte. Alles, was sie weit und breit sehen konnte, war Sand. Sand … Augenblicklich keimte Panik in ihr auf. Sie warf den Kopf herum und erkannte, dass derjenige, der das Reittier lenkte, ihr Vater war. Sie befanden sich irgendwo in der Wüste. Er … er hatte doch wohl nicht vor, sie auszusetzen? Sie einfach hier draußen alleine zu lassen? Ein Teil von ihr wollte ihn fragen, was hier vor sich ging. Ein anderer schnürte ihr indes die Kehle zu. Wenn dem so war, dann war die Wahrheit mehr, als sie ertragen konnte. Obgleich die Wirkung des Tranks, den man ihr eingeflößt hatte, allmählich nachließ, war sie wie gelähmt. Die Zeit verstrich und fühlte sich dabei an, wie eine Ewigkeit. Einzig und allein der Stand der Sonne ließ den Schluss zu, dass sie mindestens einen halben Tag unterwegs gewesen waren, als sie schließlich ein Dorf erreichten. Risha kannte es nicht, doch ihr fiel auf, dass viele der Lehmhütten längst nicht so gut gearbeitet waren, wie die Häuser in Theben. Außerdem erregten sie allem Anschein nach Aufmerksamkeit. Viele der Leute, die sich in den Straßen und Gassen aufhielten, sahen ihnen hinterher. Wo war sie hier nur? Was war das für ein Ort? Als sie an den Dorfrand kamen, der von einer Felsklippe überragt wurde, zügelte ihr Vater schließlich das Pferd und stieg ab. Sie hörte seine Schritte und das Geräusch, als er an die Tür einer Hütte klopfte. Kurz darauf wurde sie geöffnet. Für einen Augenblick blieb es still. Risha lauschte angespannt, nicht in der Lage zu beobachten, was vor sich ging. „Was, im Namen aller Götter, willst du hier?“ Sie hörte ihren Vater schnauben. „Das geht dich einen Dreck an, Gahiji. Ich will mit deinem Weib sprechen.“ „Pass auf wie du über meine Frau …“ „Ist schon gut Liebling!“, schaltete sich plötzlich eine weibliche Stimme in das Gespräch ein. „Guten Abend, Ottah. Was führt dich zu uns? Ist mit meiner Schwester alles in Ordnung?“ „Was mich zu euch führt? Ich werde dir sagen, was mich zu euch führt!“ Risha hörte näherkommende Schritte, dann wurde sie mit einem Mal vom Pferd gehoben und nur kurz darauf zu Boden geworfen. Sie schrie auf. „Hast du den Verstand verloren? Was soll das? Wer ist dieses Mädchen?“, hörte sie die andere Männerstimme wütend fragen. Zur gleichen Zeit tauchte die Frau im Blickfeld der Vierjährigen auf, als diese sie herum drehte und sie besorgt musterte. Ihre Haare waren lang, glatt und blond, ihre Augen von der gleichen Farbe, wie Fliederblüten – sie sah Rishas Mutter zum Verwechseln ähnlich, nur dass ihre Züge nicht von Verbitterung gezeichnet waren, sondern sanft und gütig wirkten. „Sie ist der Bastard, den ich einmal meine Tochter nannte“, hörte sie ihren Vater sagen. Die Frau, die sie schützend in die Arme genommen hatte, fuhr herum. „Wie bitte? Das ist …“ „Deine Nichte, Oseye, ganz recht. Und du kannst wirklich stolz auf dich und das schmutzige Blut deiner Familie sein. Es hat sich nicht nur bei euren beiden Missgeburten durchgesetzt, sondern auch bei ihr. Wie es scheint, ist die ganze Generation verdorben.“ Risha sah, wie der andere Mann ihren Vater beim Kragen packte und ihn zu sich zog. „Wage es nicht noch einmal, so über meine Söhne zu sprechen!“ „Was denn, Gahiji? Kannst du die Wahrheit nicht ertragen? Du hast ebenso wie ich ein Dämonenweib geheiratet, das nichts anderes hervorbringt, als Ausgeburten der Unterwelt! Nichts anderes als Kreaturen der Schatten entspringen dem Schoß dieser Weibsbilder! Und der Fluch, den sie tragen, wird uns eines Tages unser Leben kosten, wenn wir uns ihrer nicht entledigen! Aber was rede ich? Du glaubst es ja sowie so nicht.“ „Richtig. Weil es nichts als dummes Gewäsch und abergläubische Paranoia ist!“ Mit diesen Worten stieß der Mann Rishas Vater von sich. „Mach, dass du aus unserem Dorf kommst, bevor ich mich vergesse! Und denk nicht einmal daran, das Kind mitzunehmen!“ „Keine Sorge, das hatte ich ohnehin nicht vor. Tut mit ihr, was ihr wollt. Mein Problem soll sie von nun an nicht mehr sein. Doch wenn euch euer Leben lieb ist, dann schick ihr sie am besten noch heute Nacht in die Wüste hinaus.“ Damit wandte sich Rishas Vater zum Gehen. Er stieg auf sein Pferd und preschte kurz darauf in die Dunkelheit hinaus. Das war das letzte Mal, dass sie und ihre Ka-Bestien ihn sahen. Cheron erinnerte sich noch, als sei es gestern gewesen – die Ohnmacht, die er gefühlt hatte, als Rishas Angst so gewaltig gewesen war, dass er nichts anderes hatte tun können, als durch ihre Augen zuzusehen. Wenn er diese Menschen jemals wiedersehen würde, deren einzige gute Tat gewesen war, seine Trägerin in die Welt zu setzen – er würde sie töten. Langsam, qualvoll. Sie würden leiden, so wie Risha gelitten hatte, als man sie wie ein Stück Unrat weggeworfen hatte. Die folgenden Sonnenläufe waren schwierig. Obgleich das Mädchen bald merkte, dass ihr diese beiden Menschen, die sie nicht kannte, nichts tun würden, war sie dennoch verängstigt. Die Umgebung war ihr vollkommen fremd, die Geräusche und Gerüche so anders, als in der großen Stadt. Es fiel ihr anfangs schwer, zu begreifen, welches Glück sie eigentlich gehabt hatte. Es sollte ihr erst später klarwerden, wenn sich der erste Schock gelegt hatte. Dass Gahiji und Oseye sie so ohne weiteres aufgenommen hatten, war nicht selbstverständlich und einzig und allein ihren guten Herzen zu verdanken. Ihre Tante sprach noch in derselben Nacht, da ihr Vater sie zurückgelassen hatte, lange und geduldig mit ihr, erklärte ihr, dass alles in Ordnung sei und sie nun keine Angst mehr haben müsse. Sie ermunterte Risha gar dazu, Cheron herbeizurufen, doch noch war das Erlebte zu präsent. Erst die nächste Zeit brachte eine Besserung. Maßgeblich hatte damals dazu beigetragen, da war sich der Pegasus heute sicher, dass im neuen Zuhause des Mädchens diese zwei Jungen gelebt hatten, die ebenfalls Träger von Ka-Bestien waren: Bakura und Keiro, die Zwillingssöhne ihrer Tante und ihres Onkels. Während sie anfangs auf Geheiß ihrer Mutter ihre Distanz zu dem Mädchen wahrten, um sie nicht zu verschrecken, bekam Risha doch mit, dass beide das gleiche Schicksal wie sie ereilt hatte – und, dass in Kul Elna vollkommen anders damit umgegangen wurde. Diabound und Shadara wurden wie gleichberechtigte Familienmitglieder behandelt und verbargen sich nicht im Geringsten vor den Augen des Dorfes. Ersterer war damals kaum mehr als eine kleine, weiße Schlange mit den Ansätzen von Flügeln am Rücken, während Letzterer einem Welpen mit drei Köpfen glich. Für Risha war das zunächst verwirrend. Hinzu kam, dass sie nicht leugnen konnte, Cheron teils die Schuld an dem zu gegeben, was geschehen war. Dies änderte sich erst, als Oseye davon Wind bekam und ihr lang und breit erklärte, dass weder sie, noch ihr Ka einen Fehler begangen hätten. Dann wurde es schließlich besser. Cheron kam wunderbar mit den anderen beiden Kreaturen zurecht. Sie spielten miteinander oder trugen Übungskämpfe aus. Und Keiro, der schon immer sehr neugierig gewesen war, schaffte es schließlich, Risha aus der Blase herauszulocken, die sie um sich errichtet hatte. Bald wirkte es so, als sie die Nacht, in der ihr Vater sie vor die Füße ihrer Verwandten geworfen hatte, niemals passiert, als sei sie schon von Geburt an in dieser wundervollen Familie aufgewachsen. Und dann brannte Kul Elna. Der Pegasus wurde abermals aus den Gedanken gerissen, als der Geruch von vorhin seine Nüstern streifte. Doch diesmal war er deutlicher. Er ließ den Blick über die Wüste schweifen, die sie in alle Himmelsrichtungen umgab. Er überlegte einen Moment, dann entschied er, Risha zu wecken. Er trabte über den felsigen Boden der Anhöhe, auf der sie rasteten, zu der Stelle hinüber, wo sie sich zusammengerollt hatte. Als er sie erreicht hatte, stupste er sie mit der Schnauze an. Es dauerte nicht lange, dann hörte er sie grummeln, ehe sie sich halb aufrichtete und das Monster mit verschlafenen Augen ansah. „Was ist?“ „Ich wittere etwas.“ „Feinde?“ „Nein.“ Sie zog eine Augenbraue hoch. „Sondern?“ „Bakura.“ Einen Moment lang starrte sie ihn an, dann schlug sie den Umhang zurück, den sie als Decke benutzt hatte und setzte sich auf. „Wie weit entfernt?“, fragte sie, während sie sich den Schlaf aus den Augen rieb. „Nicht sehr weit.“ „Dann lass uns gehen.“ Sie stand auf und ging zu ihrem Pferd hinüber, während sie sich das zuvor zweckentfremdete Kleidungsstück um die Schultern warf. „Weswegen?“ Die Frage ließ sie innehalten. Sie wandte sich zu dem Pegasus um. „Was meinst du?“ „Warum willst du weg? Denkst du nicht, er hat sich vielleicht ebenfalls entschieden, die Anderen zu verlassen?“ Die Blonde schüttelte den Kopf. „Nein. Hat er nicht.“ „Was macht dich da so sicher?“ „Er hat keinen Ton gesagt. Während Riell dem Pharao in den Hintern gekrochen ist, hat er nicht ein Wort fallen lassen, und das obgleich er dem Königshaus angeblich nicht zugetan ist. Sonst ist er immer schnell dabei, wenn es darum geht, seine Majestät anzuklagen. Diesmal nicht. Das heißt, er ist anderer Meinung.“ „Das würde bedeuten, dass er aus einem anderen Grund hier ist.“ „Gut erkannt.“ Die Ka-Bestie ließ den Blick über die Wüste schweifen. „Ich bezweifle, dass er dir etwas tun will. Dazu hätte er keinen Anlass.“ „Richtig“, bestätigte Risha, während sie den Sattel ihres Pferdes festzog. „Und damit gehen mir die Erklärungen aus. Keine Ahnung, was er hier will.“ „Er wird nicht zufällig hier sein.“ „Auch das mag stimmen, aber was immer sein Anliegen ist, es ist mir egal. Los, lass uns endlich aufbrechen.“ „Hast du inzwischen entschieden, wohin uns der Weg führen wird?“ Sie zögerte. „Noch nicht. Mir fällt schon etwas ein. Jetzt komm.“ Damit saß sie auf und trieb ihr Reittier in die Nacht hinaus. Cheron folgte ihr auf den Fuß. Kapitel 50: Suchen ------------------ Suchen „Argh! Das ist doch zum Haare raufen!“, rief Samira aus und tat genau das. „Wo ist das verdammte Ding denn bloß?“ Inzwischen war die Sonne aufgegangen. Die kleine Schattentänzerin und Marlic waren die ganze Nacht auf den Beinen gewesen und hatten sich im Tal der Könige umgesehen – ohne Erfolg. Zunächst hatten sie geglaubt, in der Dunkelheit vielleicht irgendetwas übersehen zu haben. Doch auch bei Tageslicht fiel ihnen nichts Ungewöhnliches auf. Es war frustrierend. Sie waren in Löcher und Felsspalten gekrochen, hatten mit Kiarnas Hilfe sogar auf den Klippen gesucht, jedoch nichts gefunden. Mittlerweile waren sie dreckig, hungrig und müde. Marlic trat entnervt einen Stein beiseite. „Es muss hier irgendwo sein. Außer der verdammte Grabräuber hat sich geirrt und es ist doch Gizeh oder eine andere Nekropole gemeint.“ Samira seufzte schwer und ließ sich auf einem Felsen nieder. „Wenn das der Fall ist, dann müssen wir so schnell wie möglich dorthin. Kiarna kann uns an Men-nefer vorbei bringen, ohne, dass wir viel Zeit verlieren.“ „Ruhig Blut, Kindchen. Zuerst einmal gehen wir zurück nach Theben, stärken uns und schlafen. Dann überlegen wir, wie es weitergeht. Mal ganz davon abgesehen, dass ein ordentliches Bad wirklich reizend wäre“, erwiderte Marlic und wedelte sich dabei mit der Hand vor der Nase herum. „Wir dürfen aber nicht trödeln! Essen und schlafen können wir auf dem Weg dorthin und mir ist egal, ob du stinkst“, widersprach das junge Clanmitglied. „Erstens stinke ich nicht!“ „Na ja …“ „Zweitens brauchen wir nicht zu hetzen. Der Pharao und sein Anhang brauchen noch ein paar Tage, bis sie hier aufschlagen – genauso wie Caesian. In der Zwischenzeit sind wir einmal nach Men-nefer und wieder zurück geflogen und können ihnen unterwegs wahrscheinlich noch winken. Also komm jetzt, ehe ich ungemütlich werde.“ Die Drohung war nicht besonders nachdrücklich gewesen, doch sie brachte Samira dazu, ihm zu den Pferden zu folgen. Er fuhr sich durch die Haare. Er konnte nicht leugnen, dass er erschöpft war. Der Schlaf während ihrer Anreise war nur wenig erholsam gewesen und die Nacht über hatte er kein Auge zugemacht. Sein Kopf brummte. Das dumpfe Gefühl, dass sie hier auch dann nicht fündig werden würden, wenn sie noch einmal wiederkamen, verstärkte das Pochen in seinen Schläfen noch. Denn wenn das Relikt nicht hier war, dann gab es neben der Nekropole in Gizeh noch dutzende weitere Möglichkeiten, wo es sich befinden konnte. Denn Bakura hatte Recht. Auch Marlic hielt den anderen Ort als Versteck für relativ unwahrscheinlich, doch nun, da sie hier nicht fündig wurden, blieb er ihre eheste Wahl. Er grummelte genervt, als ihm klar wurde, dass er vor ihrem Aufbruch noch mit des Pharaos Hofmagierin würde sprechen müssen. Wenn sie sich den Pyramiden unbehelligt nähern und sich in Ruhe dort umsehen wollten, würden sie ein Schreiben oder ähnliches brauchen, das ihnen den Zugang ermöglichte. Klar, sie konnten die dort befindlichen Wachen auch niedermetzeln, Marlic hätte das mit seiner momentanen Laune sogar sehr begrüßt, aber dafür fehlte ihnen dann doch die Zeit. Er war lange nicht so angespannt, wie die Schattentänzerin, aber er hatte sich doch zum Ziel gesetzt, das Artefakt zu finden bevor der Pharao eintraf – einfach, damit er ihn begrüßen konnte, indem er es ihm mit einem triumphierenden Grinsen unter die Nase hielt. Er warf einen Blick nach hinten, wo Samira auf ihrem Pferd den Weg entlang trabte. Jep, und er würde dafür sorgen, dass die Kleine in einem Stück blieb. Dann hatte er gleich noch etwas, womit er seine Majestät piesacken konnte. Aber zuvor würde er sich erst einmal den Bauch vollschlagen, sich ein kühles Bier gönnen, ein Bad nehmen und ordentlich Schlaf tanken. Dann würde es weitergehen. Kühl umspielte das Wasser seine Haut, während er sich den Dreck vom Körper schrubbte. Natürlich hatten sie keine Öle oder dergleichen bei sich, die ein Duschgel ersetzt hätten, doch Ryou war dennoch überaus dankbar für die Entscheidung, die Nacht nahe des Nils zu verbringen. Sie waren gestern lange unterwegs gewesen, sodass sie entschieden hatten, heute ein klein wenig später aufzubrechen, als am Vortag. Das hatte ihnen Zeit gegeben, sich im Nil zu waschen – etwas, das dringend nötig war. Schweiß, Sand und anderer Schmutz hatten sie alle geplagt. Neben ihm tauchte soeben Marik vollständig im Wasser unter, wobei er sich durch die Haare fuhr, um die lästigen Sandkörner aus ihnen herauszubekommen. Als er wieder auftauchte, rieb er sich das Nass aus den Augen. „Tut das gut. Ich glaube, ich hätte es keinen Tag länger mit all dem Dreck am Körper ausgehalten“, sagte er. „Geht mir ähnlich“, pflichtete Ryou bei. „Schade nur, dass es nicht lange dauern wird, bis unsere Bemühungen wieder zunichte gemacht werden.“ „Wahrscheinlich. Jedenfalls weiß ich jetzt, was ich tun werde, wenn wir wieder zurück in unserer Zeit sind.“ „Lange und ausgiebig duschen?“ „… mit richtig warmem Wasser, Shampoo und Duschgel. Exakt.“ „Klingt gut“, stimmte der Weißhaarige mit einem Lächeln zu, während er Tristan dabei beobachtete, wie er Joey untertauchte. „Erst jetzt merke ich richtig, wie weit wir in unserer Zeit sind – und was man nicht alles vermissen kann. Ich bin zwar nicht anspruchsvoll, was das Essen angeht, aber so ein Burger wäre doch mal wieder schön“, seufzte er nach einer Weile. „Da sagst du was. Oder Klimaanlagen“, erwiderte Marik. „Gerade du müsstest die Hitze doch gewohnt sein.“ „Das schon, das heißt aber nicht, dass ich die Vorzüge einer angenehm temperierten Umgebung nicht zu schätzen weiß. Was mir persönlich auch fehlt – und wovon ich ehrlich gesagt nicht gedacht hätte, dass es das tun würde – sind unsere Kommunikationsmittel. Sie würden in unserer jetzigen Situation so einiges erleichtern.“ „Stimmt … wir könnten nachhaken, wo Bakura sich rumtreibt, uns erkundigen, wie Marlic in Theben voran kommt, wo Keiro abgeblieben ist …“, überlegte Ryou laut, ehe er einen Moment lang schwieg. „Was meinst du?“, fuhr er schließlich fort. „Hat Marlic schon irgendetwas gefunden?“ Der Ägypter strich sich gedankenverloren über den Arm, ehe er antwortete. „Schwer zu sagen. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wir werden es erfahren, wenn wir nach Theben kommen. Zu wünschen wäre es aber, selbst wenn wir dann tagelang seine Selbstbeweihräucherung ertragen müssten.“ „Wahrscheinlich, ja. Mal sehen, was kommt.“ Ryou erhob sich schließlich und stieg aus dem Fluss, um sich abzutrocknen. Marik folgte ihm nur kurz darauf. „Um ehrlich zu sein, bin ich doch schon ein wenig gespannt, wie Theben aussieht“, meinte Letzterer dabei. „Natürlich haben wir in unserer Zeit das Glück, dass Spuren des Alten Ägypten für die lange Zeit, die vergangen ist, gut erhalten sind, aber trotzdem. Es ist bestimmt noch einmal etwas ganz anderes, all die Tempelanlagen in ihrer vollen Pracht zu sehen.“ „Oh ja, da hast du Recht. Wird sicher aufregend, auch wenn wir wohl leider nicht viel Zeit haben werden, sie uns näher anzusehen“, pflichtete sein Gegenüber bei und rieb sich die Haare trocken. „Mit Caesian an unseren Fersen vermutlich nicht, nein. Wir können wahrscheinlich von Glück sprechen, wenn wir mal eine Nacht lang ordentlich schlafen können, ehe er uns eingeholt hat“, stimmte Marik mit säuerlichem Unterton zu. „Allerdings. Dabei wäre so eine Mütze Schlaf eine echte Wohltat – in einem Bett, nicht irgendwo in der Wüste auf dem Boden“, meinte Ryou nickend und unterdrückte ein Gähnen. „Die Hoffnung stirbt zuletzt“, kommentierte Marik, der inzwischen dabei war, den Rest seiner Kleidung wieder anzuziehen. Zum Baden hatten sie alles bis auf den Schurz abgelegt. „Ra, ich hätte mir in meinen kühnsten Träumen nicht ausmalen können, was ich in meinen ersten Sommerferien in Japan alles erleben würde! Ich dachte, wir gehen vielleicht ab und an ins Kino, zum Schwimmen, Eis essen, mal etwas trinken oder was man eben so in unserem Alter tut. Stattdessen sitzen wir jetzt im Ägypten von vor dreitausend Jahren fest, kämpfen an der Seite des Landes gegen einen Wahnsinnigen und jagen uralten Relikten hinterher, die die Götter geschaffen haben. Und das Schlimmste daran ist, dass wir anschließend noch nicht mal jemandem davon berichten können, weil wir ansonsten bald in einer Gummizelle sitzen.“ Ryou musste lachen. „Oh ja … dabei wären das mit Abstand die ereignisreichsten Sommerferien an der ganzen Schule! Ach, was sage ich, wahrscheinlich haben wir hier die verrückteste Zeit von allen Schülern auf der ganzen Welt.“ „Gut möglich. Sehr wahrscheinlich sogar“, stimmte Marik lächelnd zu. „Aber es nützt alles nichts, am Ende müssen wir die Klappe halten.“ „Na ja, du kannst wenigstens mit deiner Familie darüber sprechen“, warf Ryou ein. „Ishizu und Odeon würden dir mit Sicherheit glauben.“ „Das schon, ja … und diesmal könnte mir meine Schwester noch nicht einmal vorhalten, ich sei unvorsichtig oder leichtsinnig gewesen. Immerhin hatte ich ja kein Mitspracherecht, als wir hierher verfrachtet wurden.“ Da kam Marik ein Gedanke. „Hey, sag mal, wo es mir gerade einfällt: Wir hatten doch mal darüber gesprochen, dass ich über die Weihnachtsferien nach Hause fliegen will – wie sieht es denn aus, hast du mal mit deinem Vater gesprochen? Wie gesagt, wir könnten ja zusammen rüber fliegen, wenn du ihn besuchen solltest, dann wäre die Reise nicht so langweilig.“ Ryou ließ den Gürtel sinken, den er sich soeben hatte umschnallen wollen. Einen Moment lang sah er gedankenverloren drein, dann seufzte er. „Ja, habe ich.“ Sein ägyptischer Freund biss sich auf die Unterlippe. „Das klingt nicht gut …“ „Wie man es nimmt. Für ihn ist es scheinbar kein allzu großes Ding.“ „Wieso, was genau ist denn bei dem Gespräch herausgekommen?“ Der Weißhaarige ließ sich in den Sand sinken, ehe er antwortete. „Er wird zu Weihnachten weder in Japan, noch in Ägypten sein. Er fliegt am einundzwanzigsten Dezember nach New York City, um dort eine Ausstellung vorzubereiten, die am zweiten Januar eröffnen soll. Er hat endlich einen Geldgeber für das Projekt gefunden und ist Feuer und Flamme – so sehr, dass er mich gleich anrief, um mir zu sagen, dass wir uns leider auch dieses Weihnachten nicht sehen werden. Ich hatte vorgeschlagen, dass ich ja nach New York kommen könnte, aber er meinte, er hätte sowie so keine Zeit. Ich hab‘ dann nicht mehr weiter nachgebohrt und es gut sein lassen.“ Für einen Moment lang herrschte drückende Stille. Dann seufzte Marik, setzte sich neben Ryou und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Tut mir wirklich leid für dich.“ Der Andere sah ihn mit einem gezwungenen Lächeln an. „Ach, halb so schlimm. Ich kenne es ja eigentlich nichts anders. Dann kaufe ich mir von dem Geld, das ich gespart habe eben ein schönes Geschenk für mich selbst und bastle an meinen Modellen weiter.“ Das Lächeln schwand. „Aber irgendwo ist es schon traurig. Weißt du, ich habe mich mittlerweile damit abgefunden, dass er über Weihnachten nicht nach Hause kommen kann. Darum wollte ich ihn ja diesmal besuchen. Aber nicht mal das will er.“ Eine Weile lang saßen die beiden schweigend nebeneinander. Dann kam Marik plötzlich eine Idee. „Hey, hör mal. Ich weiß, das ist nicht das, was du dir vorgestellt hast, aber wie wäre es, wenn du trotzdem mit mir nach Ägypten kommst? Wir könnten Weihnachten gemeinsam verbringen und du müsstest nicht alleine sein. Das Geld hast du ja immerhin zusammen, oder nicht?“ Ryou sah ihn verdutzt an und zögerte. „Du, das ist echt nett … aber ich will euch wirklich nicht stören, du siehst deine Familie ja auch selten genug.“ „Ach, Unsinn! Ishizu und Odeon hätten mit Sicherheit absolut nichts dagegen, wenn du mitkommst. Im Gegenteil, sie mögen dich. Ich denke, sie würden sich freuen! Ich kann zwar nicht für einen Weihnachtsbaum garantieren, aber immerhin für mehr Spaß, als wenn du nur alleine zuhause sitzt.“ „Meinst du wirklich?“ „Und ob! Also, wie sieht’s aus?“ Ryou lächelte. „Das … das wäre echt toll. Danke, Marik.“ „Keine Ursache. Dafür sind Freunde doch da“, erwiderte der Ägypter, der sich verlegen am Hinterkopf kratzte. Ein Ruf ließ sie schließlich aufhorchen. „Sieht so aus, als müssten wir weiter. Also los, komm! Treten wir Caesian in den Hintern, damit wir diese coolsten aller Weihnachtsferien auch noch erleben!“, forderte Marik ihn auf, erhob sich und hielt ihm die Hand hin. Ryou ergriff sie dankbar. Keiro schritt durch die Hallen des Palastes von Men-nefer. Caesian hatte ihn zu sich rufen lassen. Obgleich es ihm bis zu einem gewissen Grad widerstrebte, sich von dem selbsternannten Herrscher herbeipfeifen zu lassen wie ein Hund, war er der Aufforderung nachgekommen. Der Kerl hatte vielleicht Neuigkeiten vom Pharao und seinem Gefolge. Als er in den Thronsaal trat, wurde er bereits erwartet. Caesian bedeutete ihm, sich zu setzen, während er seine Bediensteten hinausschickte. Keiro ließ sich auf einen Stuhl an der Tafel sinken und griff nach der darauf stehenden Weinkaraffe und einem Becher, ohne eine Einladung abzuwarten. Ein wenig musste er sein Gegenüber durchaus spüren lassen, dass er kein Untergebener war. Doch Caesian schien das nicht einmal zu bemerken. Er ließ sich ebenfalls nieder. „Du fragst dich mit Sicherheit, weshalb ich dich sprechen wollte“, begann er die Unterhaltung. „Nun, zum einen möchte ich dir ein Kompliment machen. Dein Vermögen, nun … missliche Lagen einzuschätzen und ihnen zu entkommen, ist bemerkenswert. Mein Bruder schöpft bislang keinerlei Verdacht. Er ist der festen Überzeugung, die aufrichtigen Worte eines ägyptischen Bürgers gehört zu haben. Das war gute Arbeit, Keiro – und eine Geste der Loyalität, die ich nicht zu vergessen gedenke.“ Caesian schenkte sich ebenfalls etwas vom Rotwein ein und schwenkte ihn in seinem Becher umher. „Darüber hinaus wollte ich dich davon unterrichten, dass ich Men-nefer in zwei Sonnenläufen verlassen werde, um mich des Pharaos anzunehmen.“ Sein Gegenüber legte die Stirn in Falten. „Ich dachte, Ihr hättet vor, länger damit zu warten?“ Der Tyrann seufzte. „Allerdings, das war mein Plan. Doch durch die Ankunft meines Bruders hat sich einiges geändert. Ich werde dieses kleine Problem schneller beseitigen müssen.“ Keiro musste schmunzeln. „Gestattet Ihr mir eine Frage?“ „Sprich.“ „Wer genau übernimmt in Eurer Abwesenheit das Kommando? Ich meine, es ist doch naheliegend, dass dies Taisan sein wird. Wenn er jedoch ohne Euer wachsames Auge in der Stadt verweilt, könnte das doch durchaus zu … Schwierigkeiten führen.“ Caesian nickte. „Du hast Recht, mein Bruder wird während meines Feldzuges die Kontrolle über die Stadt übernehmen. Alles andere würde nur Misstrauen erregen. Deshalb habe ich Maßnahmen ergriffen, die verhindern, dass etwaige Schwierigkeiten auftreten werden.“ Keiros Schmunzeln wandelte sich zu einem breiten Grinsen. „Ich habe mir doch gedacht, dass ich weniger Missgeburten in den Straßen sehe, als gewöhnlich. Ihr habt sie aus Men-nefer schaffen lassen?“ „Richtig. Sie warten in einem Tagesritt Entfernung auf den Marschbefehl. Die ägyptischen Bürger wiederum, die Taisan ebenso wenig zu Gesicht bekommen sollte, werden nun nach und nach ebenfalls weggebracht und entsorgt. Zudem haben ich einen meiner kompetentesten Heerführer damit beauftragt, in der Nähe meines Bruders zu verweilen und dafür zu sorgen, dass es nichts gibt, was unangenehme Situationen hervorrufen könnte.“ „Ich verstehe“, erwiderte Keiro langsam, während der freudige Ausdruck auf seinen Zügen schwand. „In zwei Tagen wollt Ihr aufbrechen? Nun, das bedeutet für mich wohl, dass ich mich bereithalten werde – nicht wahr?“ „Gut, dass du es ansprichst. Genau darüber wollte ich mit dir reden.“ Der Blick des Weißhaarigen verfinsterte sich schlagartig. „Ihr habt Euer Wort gegeben …“ „Gewiss, mein Guter, und daran halte ich mich auch. Wie ich sagte, Zeichen von Loyalität vergesse ich nie. Ich habe dich nicht zu mir gerufen, um dich zum Hierbleiben überreden zu wollen, ganz im Gegenteil. Ich wollte dich lediglich wissen lassen, dass es Neuigkeiten gibt – von der Schattentänzerin.“ Keiros Interesse war geweckt. Er stellte den Becher beiseite und lehnte sich auf den Tisch. „Was gibt es?“ „Nun, weißt du, ich habe mich mal wieder meiner kleinen Spielzeuge bedient. Was meine Soldaten unbemerkt nach Ägypten brachte, dient nun dazu, eine kleine Einheit von ihnen so nah hinter dem Pharao und seinem Tross hinterher schicken zu können, dass wir stets über alles, was sich in ihren Reihen tut, unterrichtet sind. Heute Morgen erreichte mich die Botschaft, dass sich die Gruppe gespalten habe. Offenbar hat der Tod des Schattentänzers für einige Aufregung gesorgt. Ein Teil des Clans hat sich aus dem Staub gemacht – ebenso wie das Objekt deiner Begierde.“ „Sie ist weg?“, wiederholte Keiro. „Weshalb?“ „Nun, zunächst hat sie scheinbar den Pharao des Mordes bezichtigt und anschließend auch noch versucht, ihn umzubringen. Garstiges kleines Biest, das Blondchen. Dummerweise hat ihr eigener Bruder sie davon abgehalten, sich auf die Seite seiner Majestät geschlagen und sie damit dazu gebracht, zu verschwinden.“ Caesian trank einen Schluck, ehe er fortfuhr. „Schade eigentlich, dass ihr der Anschlag misslungen ist. Sie hätte mir eine Menge Arbeit erspart.“ „Wohin ist sie gegangen?“, hakte Keiro nach. „Meinen Soldaten zufolge ist sie nach Westen geritten. Wohin sie jedoch will, ist mir nicht bekannt. Das herauszufinden, wird deine Aufgabe sein, befürchte ich“, meinte der Tyrann mit einem Schulterzucken. „Ich habe meine Bediensteten in den Stallungen bereits angewiesen, dir ein Pferd samt Proviant zurecht zu machen. Ich betone es noch einmal, mein lieber Keiro – ich werde Loyalität stets würdig entlohnen.“ Sein Gegenüber nickte, ehe er sich erhob und eine Verbeugung andeutete. „Ich danke Euch. Doch nun entschuldigt mich bitte. Ich werde mich umgehend auf den Weg machen müssen, wenn ich sie finden will.“ „Gewiss. Eine Sache wäre da aber noch, mein Guter: Sollte die Kleine ein Relikt bei sich tragen – denn diese Frage konnten mir meine Soldaten nicht eindeutig beantworten – so weißt du, wem du es zu geben hast, nicht wahr?“ In der Stimme des Tyrannen schwang ein scharfer Ton mit, während er Keiro mit drohendem Blick fixierte. Der setzte rasch ein Lächeln auf. „Aber selbstverständlich, Euer Hoheit. Was sollte auch jemand wie ich, so ganz ohne Ambitionen, mit einem solchen Gegenstand wollen? Zumal ich nicht gedenke, mir den mächtigsten Mann Ägyptens zum Feind zu machen.“ „Sehr schön. Dann viel Erfolg bei deiner Jagd. Lass dir nicht die Augen auskratzen.“ Damit verließ Keiro den Thronsaal – und notierte sich mental, Caesian eines Tages das selbstgefällige Grinsen aus dem Gesicht zu schneiden. Der Tag hatte sich ohne irgendwelche Ergebnisse dahin gezogen. Inzwischen neigte sich die Sonne dem Horizont entgegen und tauchte die Wüste in ihr flammendes Licht. Bakuras Kehle entstieg ein frustriertes Grollen, als er von seinem Pferd stieg und es an einem Felsen festband. Den ganzen Tag lang hatten Diabound und er nach Risha gesucht – ohne irgendeinen Erfolg. Allmählich begann er sich zu fragen, warum er das eigentlich tat. Ach ja, Schattentänzer-Clan aufrechterhalten und so. Am Arsch. Langsam aber sicher verlor er die Geduld. Diese elendigen Weiber-Marotten! „Verdammter Mist, sie kann sich doch nicht einfach in Luft aufgelöst haben!“, fauchte er, fischte ein Stück Brot aus dem Beutel mit Proviant und riss es in zwei Stücke. Anschließend ließ er sich im Sand nieder und kaute lustlos auf einem Brocken davon herum. „Ich meine, sieh dich doch nur mal um! Wüste, Wüste, Wüste, nichts als Wüste! Man müsste sie eigentlich auf einen halben Tagesritt Entfernung ausmachen können!“ Seine Ka-Bestie hatte sich in einiger Distanz ebenfalls niedergelassen und zuckte nun mit den breiten Schultern. „Sie hat eben von dem Besten gelernt.“ „Ach, quatsch‘ keinen Unfug. Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, konnte ich noch nicht mal einen Apfel stehlen ohne verdroschen zu werden, weil man mich erwischt hat! Und von ihrem wunderbaren Clan hat sie es ganz sicher nicht.“ „Menschen werden kreativ, wenn sie nicht gefunden werden wollen.“ „Was soll das denn heißen? Hat sie sich im Sand verbuddelt oder was?“ „Wer weiß …“ Bakura schnaubte abfällig und erklärte die Unterhaltung damit für beendet. Seine Gedanken kreisten jedoch weiterhin um das Thema. „Wenn ich eine trotzige Ziege wäre, wo würde ich hingehen …“, murmelte er schließlich vor sich hin. Zu einem Ergebnis kam er jedoch auch diesmal nicht. Zunächst war da das Problem, dass der Grabräuber ein Mann war, und für die gestaltete es sich von Natur aus schwierig, sich in das andere Geschlecht hineinzuversetzen. Nach seiner Meinung war es eigentlich nicht nur schwierig, sondern absolut unmöglich. Weiber waren viel zu impulsiv, empfindlich und vor allem unlogisch. Das zweite Problem war, dass Bakura Risha kaum kannte, was bedeutete, dass jeder Ansatz, ihre Entscheidungen nachzuvollziehen, sowie so von vorne herein zum Scheitern verurteilt war. Und das Wenige, was er über sie wusste, half auch nicht. Denn wenn er es richtig interpretiert hatte, konnte er ihr guten Gewissens zutrauen, dass sie selbst nicht wusste, wohin sie eigentlich wollte und daher ziellos umherrannte. Er suchte in diesem Fall nach der Nadel im Heuhaufen. Aber so einfach würde er sie nicht davon kommen lassen. Und wenn er sie gefesselt und geknebelt zurückschleifen musste, er würde dafür sorgen, dass nicht noch mehr Schattentänzer den Schwanz einzogen, nur, weil sie ihren Trotz ausleben musste. Er schlang die letzten Bissen des Brotes herunter und stand auf. „Los, lass uns weitergehen. Je eher wir endlich gen Theben aufbrechen können, desto besser.“ „Du willst heute noch weiter machen?“ „Sieht so aus, was? Red‘ dich nicht raus. So müde bist du noch nicht, das würde ich merken.“ „Wie du meinst“, äußerte Diabound, woraufhin er einen Laut vernehmen ließ, der an ein Seufzen erinnerte. „Was tun wir eigentlich, wenn sie nicht mit uns kommen will?“, fragte er dann, während sie sich in Bewegung setzten. „Du tust gar nichts – und ich verpass‘ ihr eine.“ Es war schon spät, als sich der Pharao und seine Anhänger dazu entschieden, ihr Lager aufzuschlagen. Anwaar hatte sich zuvor des Abstandes zu ihren Verfolgern vergewissert und verkünden können, dass ihre Distanz zunehmend größer wurde. Es war eben doch ein Unterschied, ob hundert oder mehrere tausend Mann gemeinsam marschierten. Atemu war nach seinem Wutausbruch am Vortag wieder deutlich entspannter gewesen. Es hatte gut getan, all den angestauten Frust einmal herauslassen zu können, auch wenn ein Teil von ihm dieses Verhalten nach wie vor verurteilte. Er war auch nur ein Mensch, jedoch einer, der von den Göttern dazu erwählt worden war, dieses Land zu regieren – und als solcher ziemte sich derartiges Tun kein bisschen. Er war erleichtert, dass Yugi der Einzige gewesen war, der ihn so gesehen hatte. Sein Partner hatte den Anderen nichts davon erzählt und würde es wohl auch nicht mehr tun. Als sie zurückgekehrt waren, hatte Atemu behauptet, er habe lediglich einen Augenblick zum Nachdenken gebraucht. Nun saß er wieder deutlich besseren Gemüts mit ihnen zusammen und teilte die Ration Proviant mit ihnen. „Man … ich will ja echt nicht meckern, aber so langsam kann ich Brot und getrocknetes Obst nicht mehr sehen“, ließ Joey verlauten, während er auf einer Dattel herumkaute. „Da muss ich dir Recht geben. Ein Königreich für eine Pizza!“, stimmte Tristan zu. „Oder einen Burger!“ „Oder Spaghetti!“ „Oder eine deftige Lasagne!“ „Sushi!“ „Könnt ihr mal damit aufhören?“, schaltete sich schließlich Tea ein. „Wir können froh sein, dass wir überhaupt etwas zu essen haben.“ „Genau. Mal ganz davon abgesehen, macht uns euer Gerede nur noch hungriger“, fügte Duke hinzu. „Wie viele Vorräte haben wir eigentlich noch?“, warf Yugi schließlich in die Runde. „Reichen sie noch bis Theben oder müssen wir genauer aufpassen, wie wir sie einteilen?“ „Darüber haben wir vorhin bereits gesprochen“, entgegnete Atemu und nickte in Richtung Seto, der ein Stück abseits saß. „Wir werden morgen versuchen, einige Fische aus dem Nil zu angeln, damit wir noch mehr Rücklagen haben. Genügend Zeit sollte sein, Caesians Truppen sind weit genug entfernt. Im Übrigen haben wir bereits etwa die Hälfte des Weges zurückgelegt. Noch etwa vier bis fünf Umläufe, dann sollten wir die Stadt erreicht haben.“ „Definitiv ein Lichtblick“, sagte Marik. „Es wird gut tun, wieder Mauern um uns zu haben.“ „Die Frage ist, für wie lange. Nach dem, was Caesian mit Men-nefer getan hat, glaube ich kaum, dass diese allein uns schützen werden“, seufzte Ryou. Dann wandte er sich an den Pharao. „Du, Atemu? Ich habe mir da etwas überlegt.“ „Und was wäre das?“, fragte sein Gegenüber mit hochgezogener Augenbraue. „Na ja, wir stehen doch sowie so schon genug unter Zeitdruck. Wäre es da nicht vielleicht sinnvoll, auch gleich noch nach dem letzten Relikt zu suchen, anstatt zu warten, bis wir die Sonnenscheibe aufgetrieben haben? Ich meine, in vier bis fünf Umläufen könnten wir den Speer Sachmets auch gefunden und nach Theben gebracht haben, sodass wir uns dann ganz auf Caesian konzentrieren können, ohne befürchten zu müssen, dass das Artefakt in der Zwischenzeit von seinen Schergen gefunden wird. Wenn das nicht klappt, dann können wir noch immer abbrechen und uns erst einmal um ihn kümmern, ehe wir die Suche fortsetzen – und darauf hoffen, dass es dann noch da ist, wo es sich jetzt befindet.“ Atemu ließ sich die Worte durch den Kopf gehen. Ryous Gedanken waren nicht dumm. Tatsächlich gingen sie alle nach wie vor davon aus, Caesian würde seine Kräfte auf zwei Dinge verwenden: Ihre Vernichtung und die Suche nach den Relikten der Götter. So lag es für ihn nahe, dass die Bedenken des Weißhaarigen durchaus zutreffen könnten. Sie würden sich ohnehin bereits gegen mehrere Gegenstände von übernatürlicher Kraft behaupten müssen, was so schon schwer genug werden würde – ob dem Tyrannen dann noch der Speer in die Hände fiel, konnte über Sieg oder Niederlage entscheiden. Zudem konnten sie sich durch den großen Abstand zu den nachfolgenden Feinden derzeit noch erlauben, ihre Kräfte aufzuteilen und die Gruppe zumindest teilweise zu trennen – sobald sie in der Falle saßen, war jeder Mann entscheidend. „Du hast Recht“, entschied er schließlich, ehe er sich erhob. Wartet hier, ich werde Seto und Riell zu uns bitten und die Seele der Zeit holen.“ „Ihr wollt was?“ Mana starrte Marlic und seine jüngere Begleitung zunächst perplex an. Die beiden waren, nachdem sie sich den Bauch vollgeschlagen hatten, relativ schnell dazu übergegangen, ihr von ihrem Plan zu berichten. Der einstige Geist verdrehte die Augen. „Wir wollen nach Gizeh. Hast du was an den Ohren?“ Die Hofmagierin verkniff es sich, seine Mimik zu erwidern. „Seid ihr denn auch wirklich absolut sicher, dass sich im Tal der Könige kein Relikt befindet?“ „Eindeutig“, schaltete sich nun Samira ein. „Vielleicht habt ihr auch nur etwas übersehen. Ich könnte euch noch einmal dorthin begleiten und …“ „Das würde auch nichts ändern. Wir haben alles abgesucht, jeden noch so kleinen Spalt. Wenn bei der Anlage der Gräber nichts gefunden worden ist, dann gibt es dort kein Artefakt“, stellte Marlic mit Nachdruck klar. „Hör zu, Püppchen, dein Pharao ist dir doch wichtig, oder? Dann hör auf, meine kostbare Zeit zu verschwenden und stell uns irgendeinen Wisch aus, der uns erlaubt, die Nekropole zu betreten!“ Mana wurde bei Atemus Erwähnung kurz rot, riss sich aber schnell wieder zusammen. „Natürlich ist es mir wichtig, dass wir das Relikt schleunigst finden. Aber ich kann hier momentan nicht weg …“ „Keine Angst, Kleines. Ich bin schon groß, ich brauche keine Amme mehr“, flötete Marlic mit diesem abstoßenden Grinsen auf den Lippen. Die Hofmagierin legte die Stirn in Falten und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Schließlich atmete sie einmal tief ein und aus, ehe sie sprach. „Soll ich ehrlich sein?“ „Aber Teuerste, ich bitte darum!“ „Ich vertraue dir nicht. Kein Stück. Nach dem, was ich gehört habe, hast du schon einmal versucht, Atemu zu schaden. Wer sagt denn, dass es nicht dein Ziel ist, das Artefakt selbst zu nutzen um genau das Gleiche noch einmal zu versuchen?“ Marlic zog eine Augenbraue hoch. Damit hatte er ehrlich gesagt nicht gerechnet. Doch er wäre nicht er selbst, wenn er nicht auf derlei Aussagen zu reagieren wüsste. Er setzte sein charmantestes Lächeln auf und lehnte sich vor, wobei er die Unterarme auf der Tischplatte ruhen ließ und die Finger verschränkte. „Pass mal auf, ich erkläre dir jetzt, wie das hier läuft. Es ist eigentlich ganz simpel, denn dir bleibt nur eine Möglichkeit: Du musst mir vertrauen. Das Artefakt ist definitiv nicht im Tal der Könige, die nächstbeste Anlaufstelle bleibt also Gizeh. Und wenn du nicht selbst dorthin gehen kannst, muss es eben jemand anderes tun. Tja, da komme nun ich ins Spiel, denn ich bin derzeit deine einzige Option – von dieser halben Portion einmal abgesehen, aber du würdest doch niemals ein Kind alleine in feindliches Gebiet schicken, oder?“ Er lehnte sich wieder zurück und betrachtete seine Fingernägel. „Mal ganz davon abgesehen: Ich bin nicht blöd. Wenn ich dem Pharao das Leben zur Hölle machen will, dann nutze ich dafür Mittel, bei denen ich nicht selbst draufgehe – was im Augenblick, bedenkt man einmal den Zustand dieser Sphäre, aber relativ wahrscheinlich wäre.“ Er wandte den Blick von seinen Fingern und fixierte nun die Hofmagierin. „Also, was ist? Kriegen wir den Wisch oder nicht?“ Manas Augen wanderten einmal von ihm zu Samira – die versuchte, sich ein gehässiges Grinsen zu verkneifen – und wieder zurück. Schließlich seufzte sie schwer. „Ich hole Pinsel und Papyrus …“ Kapitel 51: Finden? ------------------- Die Nacht war vergangen, ohne, dass der Pharao und seine Freunde etwas über den Verbleib des letzten Relikts herausgefunden hatten. Sie alle hatten sich einmal an der Seele der Zeit versucht, leider jedoch ohne Erfolg. Das Schriftstück hatte nichts preisgegeben. Zunächst hatten sie angenommen, sie seien vielleicht zu erschöpft von dem langen Marsch. Somit war der Entschluss gefallen, es am Morgen erneut zu versuchen – vergeblich. Auch nachdem sie ausgeruht waren, schlugen alle Bemühungen, dem Papyrus etwas zu entlocken, fehl. Selbst Atemus Freunde aus der Zukunft hatten es auf einen Versuch ankommen lassen. Sie konnten das, was sich ihnen zeigte, zwar nicht lesen – Marik einmal ausgenommen – aber sie hatten die Symbole beschrieben, die sie sehen konnten. Meist hatten sie bereits nach ein oder zwei Zeilen damit aufhören können, da den anwesenden Ägyptern rasch klar wurde, dass die Worte keinerlei Sinn ergaben. Inzwischen waren sie weitergezogen. Sie grübelten dennoch weiterhin darüber nach, was das Problem sein könnte. Waren sie nicht konzentriert genug? Auf einige von ihnen konnte das vielleicht zutreffen, wie etwa auf Seto, der häufig an Kisara denken musste, aber ganz sicher nicht auf alle. Und selbst der Hohepriester war durchaus in der Lage, die quälenden Gedanken für kurze Zeit beiseite zu schieben. „Vielleicht waren wir auch alle zu nervös“, schlug Tea nun vor. „Ich meine, wir alle wissen inzwischen, dass es nicht so leicht ist, der Seele der Zeit Informationen zu entnehmen. Eventuell haben wir das nicht gut genug ausgeblendet.“ „Schon möglich“, meinte Joey. „Und wenn man dann noch zusieht, wie alle, die es vor einem probieren, scheitern, macht es das natürlich auch nicht besser.“ Atemu hingegen schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht recht. Irgendwie glaube ich, dass das Problem ein anderes ist. Beim letzten Mal funktionierte es auch und ich denke ehrlich gesagt nicht, dass ich heute weniger konzentriert war, als damals. Zumal ich ja nun weiß, wie der Papyrus für gewöhnlich funktioniert. Deshalb müsste meine Anspannung beim ersten Mal eigentlich deutlich größer gewesen sein.“ Während er sprach legte er die Stirn in Falten. Seine Gedanken wanderten zu der Begegnung mit Sachmet, von der er niemandem etwas erzählt hatte. Irgendetwas in ihm brachte ihn dazu, darüber zu schweigen. Vielleicht war es der Umstand, dass die Unterhaltung relativ persönlich war. Im Endeffekt spielte es ohnehin keine Rolle. Was er bei dieser Begegnung erfahren hatte, war, dass die Götter machtlos gegenüber dem waren, was in Ägypten vor sich ging, wollten sie diese Welt nicht noch weiter zerstören – etwas, das er lieber für sich behielt, denn das Wissen, dass selbst über den vermeintlich mächtigsten Wesen dieser Sphäre eine Kraft stand, die noch stärker und ihnen scheinbar nicht wohl gesonnen war, wäre zu demoralisierend. Zudem wusste er nun, wer ihm die Seele der Zeit geschickt hatte. Gewiss war ihm auch zuvor schon der Gedanke gekommen, dass der Traum, der ihn zu ihrem Fundort geführt hatte, von den Göttern gekommen war. Jetzt wusste er lediglich, wer genau es gewesen war – und, dass sie damit vorgehabt hatte, ihn zu unterstützen. Und exakt das war der Punkt, der Atemu zum Grübeln brachte. Wenn Sachmet ihnen hatte helfen wollen, warum hatte sie ihm dann eine Schrift zur Seite gestellt, du nur dann funktionierte, wenn ihr danach war – zumindest erschien es ihm allmählich so. Oder Tristans vermeintlich unkluge Idee von einem Einmalzauber war gar nicht so weit hergeholt … nein, das konnte nicht sein. Die Göttin hätte niemals riskiert, das Gefüge der Welt weiter zu beschädigen, damit sie eines von drei verschollenen Relikten fanden. Denn das hätte bedeutet, dass sich die Suche nach den verbleibenden beiden noch Mondläufe, vielleicht gar Jahre hinziehen konnte. Außerdem hatte die Seele der Zeit schon zweimal den Hinweis auf einen Fundort gegeben, warum also sollte sie nun beim letzten Artefakt streiken? Es ergab keinen Sinn. „Was auch immer passiert, wir müssen dran bleiben“, sagte Yugi schließlich. „Wir haben dank ihr schon ein Relikt gefunden und verfolgen die Spur zu einem anderen. Es muss irgendwann klappen. Wir dürfen nur nicht aufgeben.“ „Echt schade, dass Bakura nicht da ist. Jetzt hätte ich gerne mal gesehen, was er für eine schlaue Antwort parat hat, der Klugscheißer!“, kommentierte Tristan ins Blaue hinein und verschränkte die Arme vor der Brust. Atemu war, als habe man ihn geohrfeigt. Er blieb wie angewurzelt stehen. Seine Freunde gingen noch ein paar Schritte, ehe sie bemerkten, dass er zurückblieb. „Hey Pharao, alles in Ordnung bei dir?“, erkundigte sich Joey. „Das ist es …“, erwiderte der Angesprochene nur tonlos. „Was ist was?“, hakte Duke nach. Der Herr der beiden Länder sah auf und lächelte seine Freunde an. „Tristan hat das Rätsel um die Seele der Zeit vermutlich gerade gelöst.“ „Öhm … danke. Aber inwiefern?“, erkundigte sich Besagter und kratzte sich am Hinterkopf. „Überlegt doch mal. Wer war bislang in der Lage, etwas aus der Schriftrolle hervorzubringen?“ „Das ist nicht schwer. Das waren du und Marlic“, erwiderte Tea. „Richtig. Und was haben er und ich gemeinsam?“ „Ähm … eine etwas ungewöhnliche Frisur vielleicht?“, ließ Joey verlauten. „Aber nein!“, mischte sich Yugi mit einem Schmunzeln ein, ehe er sich an Atemu wandte. „Ich glaube, ich weiß, worauf du hinaus willst. Ihr wart beide einmal Seelen, die in einen Milleniumsgegenstand eingeschlossen waren.“ Es herrschte Schweigen. „Das stimmt schon“, meinte Marik schließlich zögerlich. „Aber bist du sicher, dass das damit zusammenhängt?“ „Allerdings“, bestätigte der Pharao. „Es erklärt auch, warum Bakura und Marlic gemeinsam mit mir aus dem Totenreich hierher geschickt wurden. Es gibt dem Ganzen einen Sinn. Anubis gab gegenüber Seto zwar an, es handle sich um eine nötige Bedingung, die an die Wiedergeburt eines Menschen geknüpft werden müsste, aber wenn ich ehrlich bin, klang das bereits von Anfang an etwas weit hergeholt. Ich denke, die Gottheit wusste genau, was sie tat.“ Yugi nickte zustimmend. „Das scheint einigermaßen logisch zu sein. Gut, dann stehen wir nun allerdings vor dem Problem, dass Bakura momentan nicht hier ist.“ „Was sich ändern lässt“, entgegnete Atemu und beschleunigte seine Schritte. „Was hast du vor?“ „Ein Pferd mit Proviant zu bepacken und ihn zu suchen. Ich weiß, Riell wird nicht begeistert sein, ihn zurückzuholen, ehe er Risha gefunden hat, aber ich fürchte, das lässt sich vorerst nicht ändern.“ „Das kann doch auch ebenso gut jemand von uns machen. Ich denke, es wäre besser, wenn du hier bleibst“, gab Yugi zu bedenken. „Nein. Ich werde das selbst in die Hand nehmen. Das ist mein letztes Wort. Ihr bleibt beim Tross. Ich werde in meiner Abwesenheit Seto und Riell die Befehlsgewalt übertragen – ich muss sie ohnehin von meinem Vorhaben in Kenntnis setzen.“ Damit machte er auf dem Absatz kehrt und eilte zum vorderen Teil des Zuges davon. „Hey, warte …“ „Lass ihn“, sagte sein Partner bestimmt und legte Joey beschwichtigend eine Hand auf den Arm. „Er muss das tun. Er braucht eine Aufgabe, verstehst du?“ Der Blonde überlegte. „Ja, schon“, gab er schließlich zu. „Aber ihn mit Bakura alleine lassen?“ Yugi schmunzelte. „Keine Sorge. Ich denke, Atemu weiß sich zu wehren.“ Der Tag ging rasch vorüber. Bald hatte Ra seine tägliche Reise über das Firmament beendet und begab sich der Unterwelt entgegen. Samira gähnte herzhaft. Noch bevor der Morgen überhaupt angebrochen war, hatten sie und Marlic sich mit Kiarnas Hilfe auf den Weg nach Gizeh gemacht. Seitdem kauerten beide in je einer der gewaltigen Pranken der Ka-Bestie. Die Rothaarige hatte versucht, noch ein wenig zu schlafen, da sie davon ausgingen, dass sie ihr Ziel noch vor Anbruch des nächsten Umlaufs erreichen würden – wo sich sogleich mit der Suche beginnen mussten. Doch bislang waren ihre Versuche erfolglos geblieben. Der kühler werdende Wind zerrte an ihrem Umhang und die metallenen Klauen ihres Monsters waren alles andere als bequem. Selbst wenn sie das dicke Tuch, das um ihren Hals geschlungen war, als Kopfkissen benutzte, wurde ihr das Liegen nicht angenehmer. Sie warf einen Blick zu Marlic, der sich gegen die Ballen von Kiarnas Pranke gelehnt und die Augen geschlossen hatte. Dass er schlief, bezweifelte sie zwar, aber die Haltung gab ihr zu verstehen, dass er seine Ruhe haben wollte. Obwohl … hatte sie das jemals interessiert? „Hey, Marlic!“ Keine Reaktion. „Marlic! Komm schon, ich weiß, dass du nicht schläfst!“ Noch immer nichts. Frustriert blies Samira die Backen auf. Ihr war langweilig und wenn sie nicht schleunigst etwas dagegen unternahm, dann würde die Reise noch eine gefühlte Ewigkeit dauern. Sie kramte in dem Beutel, der neben ihr lag, nach einem Stück Brot, riss etwas davon ab und knetete es in der Hand zusammen. Dann nahm sie Maß und warf. Der Brocken traf Marlic mitten im Gesicht. Langsam, schon beinahe bedrohlich, sah er an sich herunter und entdeckte das Stück in seinem Schoß. Er hob es an, musterte es und warf mit hochgezogener Augenbraue einen Blick zu der Schattentänzerin hinüber. „Hast du mich allen Ernstes gerade mit Brot beworfen?“ Sein Gegenüber zuckte mit den Schultern. „Hier oben gibt’s leider keine Steine.“ Nun zog er auch die zweite Braue nach oben, ehe er den Brocken davon warf. „Und hattest du dafür irgendeinen vernünftigen Grund außer dass du jemanden brauchst, der dich bespaßt?“ „Na jaaa …“ „Also nein. Dann gute Nacht.“ Marlic drehte sich so auf die Seite, dass sein Rücken zu ihr zeigte und schloss wieder die Augen. Er würde ganz bestimmt nicht die Amme für die kleine Kröte geben, oh nein, da hatte sie sich geschnitten. Allerdings vergingen nur wenige Augenblicke, bis er spürte, wie ihn wieder etwas traf. Und wieder, und wieder, und wieder … Wütend fuhr er herum, setzte sich auf und sah Samira mit drohendem Blick an. „Hat man dir nicht beigebracht, dass man mit Essen nicht spielt? Und jetzt lass das sein und hör auf, unseren Proviant zu verpulvern!“ Zur Antwort traf ihn eine weitere Krume Brot im Gesicht. „Erst, wenn du versprichst, nicht mehr zu schlafen. Das ist nämlich langweilig. Viel toller wäre es, wenn du mir beispielsweise endlich mal zeigen würdest, wie man Leute mit ihren Gedärmen erdrosselt.“ In Marlics Augen blitzte es auf. „Weißt du was? Das ist gar keine schlechte Idee …“ „Nicht an mir, du Dummerchen, da sehe ich ja kaum was.“ „Tja, dann muss ich leider passen. Wie du vielleicht erkennen kannst, befindet sich weit und breit nichts anderes als leblose Wüste um uns herum. Wenn du mich also entschuldigen würdest …“ „Nein, nein, nein! Bleib wach! Dann erzähl mir eben von anderen interessanten Mordtechniken oder so. Oder lass uns etwas spielen! Kennst du Ich sehe etwas, das du nicht siehst?“ „Ich sehe was, was du nicht siehst und das sind eine Wüste, der Himmel, ein zu groß geratenes Huhn und eine nervige kleine Göre, die mir den Schlaf raubt. Und jetzt lass mich zufrieden!“ Damit wandte er sich ein weiteres Mal ab – ein Fehler, wie er gleich darauf feststellen musste. Er hörte Samira noch „Ach man, du bist echt saudoof!“, rufen, dann traf ihn plötzlich der gesamte Brotlaib am Hinterkopf. Vollkommen perplex starrte er für einen Moment das Lebensmittel an, dann fuhr er hoch. „Hast du gerade tatsächlich einen verdammten Laib Brot nach mir geworfen? Du hast sie doch nicht mehr alle! Dafür dreh ich dir den Hals um, du Miststück!“ Ein warnendes Grollen drang aus Kiarnas Kehle, während Samira ihn nur mit verschränkten Armen beleidigt anschaute. Marlic überlegte schon, wie er am einfachsten zu ihr hinüber kommen konnte – als ihm eine Idee kam. Gut, er würde ein wenig Zeit und Ressourcen aufwenden müssen, aber dann hätte er mit Sicherheit seine Ruhe. Zuvor musste er sich aber einer Sache versichern. „Nun gut, weißt du was, du hast mich überredet. Wir spielen etwas.“ Sofort wich der beleidigte Blick aus ihren Augen. „Echt jetzt?“ „Ja, klar. Aber vorher muss ich dir zwei Fragen stellen. Die Erste lautet: Wie verhält sich das denn bei deinem Ka und dir? Ich meine, mal angenommen, du wärst sehr müde, wäre das dann bei deinem Phönix ebenso der Fall?“ „Ähm … ne. Also, es ist so, dass Kiarna ihre Verbindung zu mir bis zu einem gewissen Teil unterbrechen kann, aber ich kann sie nicht ausblenden oder so. Risha sagt, dafür bin ich noch nicht alt genug, außerdem sei mein Ka recht stark ausgeprägt für jemanden in meinem Alter und deswegen ist es mir in Sachen Fähigkeiten teilweise voraus. Das heißt, wenn sie müde wird, werde ich es auch, wenn es aber anders herum ist, dann bleibt sie davon eigentlich meistens unberührt. Wieso?“ Strike! „Och, ich war nur neugierig. Wobei jetzt ein guter Zeitpunkt wäre, diese Gegebenheit auszunutzen – aber das merkt die Gute schon von alleine“, fügte Marlic leise hinzu und tätschelte eine von Kiarnas Krallen. Dann wandte er sich um und zog einen halbgefüllten Schlauch aus seinem eigenen Proviantbeutel. Eigentlich war dessen Inhalt für den Rückweg bestimmt, wenn sie das Relikt gefunden hatten, aber er opferte ihn gerne zu seinem eigenen Wohl. Er nahm einen kräftigen Schluck, dann drehte er sich schließlich mit breitem Grinsen zu Samira um. „So, nun zu meiner zweiten Frage, Kleines: Hast du schon jemals Ich hab‘ noch nie gespielt?“ Es dauerte nicht lange und Marlics Plan ging auf. Die junge Schattentänzerin war rotzevoll und es würde wahrscheinlich nicht mehr lange dauern, bis sie einfach hinten überkippte und einschlief. Dann konnte er sich weiter ausmalen, wie genau er dem Pharao das nächste Relikt präsentierte, ebenso wie die verschiedenen Reaktionen seiner Majestät darauf. Das machte Spaß, auch wenn er irgendwie zweifelte, dass sein Wunschverhalten – dass Atemu vor ihm auf die Knie fiel und ihm unter Tränen dankte – eintreten würde. „Alscho jut, jetz‘ bin isch dran!“, grölte es plötzlich von Kiarnas anderer Kralle her und riss ihn somit aus den Gedanken. „Sam? Meinst du nicht, es genügt allmählich?“, ertönte daraufhin die leicht besorgte Stimme der besagten Ka-Bestie. „Du!“, erwiderte die Schattentänzerin und deutete auf das Gesicht ihres Monsters. „Du! Du hascht gar nischt zu sagen! Letztesch Mal hast nämlich du gesoffen als … als wärscht du ein … ein …“ „Alkoholiker?“, bot Marlic an. „Wasch er sagt, auch wenn isch nischt weiß, was das is‘! Genau! Jetze bin isch mal dran, ich darf dasch nämlich auch! Alscho, was wollte isch … jenau! Isch hab‘ noch niiie … geatmet! … Oh, Mist. Hab‘ isch doch. Na ja.“ Der ehemalige Milleniumsgeist musste sich ein Lachen verkneifen. Zwischendurch hatte er geglaubt, sie habe das Spiel verstanden, inzwischen war sich da jedoch nicht mehr so sicher. Zwar sorgte sie des Öfteren dafür, dass er trinken musste, meistens jedoch mit Aussagen, die genauso gut auf sie zutrafen und sie damit ebenfalls zu verdammten, ihrem Rausch Nachschub zu liefern. Sie nahm einen tiefen Schluck und warf ihm den Schlauch zu, woraufhin auch er trank. „Gut … dann lass mal sehen … Ich habe noch nie … jemanden mit einem Laib Brot beworfen.“ „Hey, das is‘ nisch …“ „Fang!“ Samira erhaschte den Schlauch und nahm einen kräftigen Zug. „Du hasch‘ bestimmt schon mal wen mit Brot beworfen! Das macht jeda mal!“ Sie sah zum Himmel auf, als suche sie etwas. „Isch hab‘ noch nie … versucht den Phar… Pharar… Phararao zu töten!“ Sie schmiss den Wein zurück. Marlic trank. „Na schön … ich habe noch nie einem Clan angehört.“ Dreiste Lüge. Er war in gewissem Maße Teil des Grabwächter-Clans gewesen. Aber das brauchte sie ja nicht wissen. Er übergab den Alkohol wieder an sie – wobei sie ihn jedoch nicht fing, sondern der Schlauch mit einem dumpfen Laut neben ihr landete. „Hups … da isser ja … jut … isch hab‘ noch nie … keine Freunde gehabt!“, rief’s und warf. Ein schmerzhafter Kommentar für jeden normalen Menschen, jedoch eine Lobpreisung für Marlic. Er trank. „Ich habe noch nie … jemanden bewundert, außer mich selbst.“ Und wieder wanderte der Wein. „Ach komm, jeda bewundert irgendjemand!“ „Sag‘ ich doch: mich selbst.“ „Argh, du bisch‘ doof!“ Und gluck, gluck, floss der Alkohol. „Isch hab‘ noch nie … man, das isch gar nisch‘ so leicht … Ha! Jetza! Isch hab‘ noch nie die Zukunft gesehn! Das hassu aber schon, weil du kennscht die alle, die wo von da kommen tun!“ Aufmerksamer als er dachte, die Kleine. Mal überlegen … wie alt war sie eigentlich? Musste doch schon fast heiratsfähig sein, oder? Dann hatte sie doch bestimmt … „Ich habe noch nie meine Tage gehabt.“ Und zack, da wanderte der Beutel wieder und wurde leerer und leerer. „Dasch is‘ auch nich‘ in Ordnung! Du bischt n Mann!“ „Ich weiß.“ „Na jut, dann … boha … irjendwie is‘ mir nich‘ so gut … bin voll müde und schwindlig …“ „Du bist voll müde und schwindlig?“, wiederholte Marlic mit süffisantem Grinsen. „Ja!“ „Ich weiß zufällig, was dagegen hilft.“ „Echt?“ „Aber sicher, und ich verrate dir sogar, was es ist. Es nennt sich schlafen und tut nach viel Wein ganz besonders gut. Na, was sagst …?“ Ehe er enden konnte, war Samira hinten über gekippt und begann zu schnarchen. Keiro ließ den Blick über die Wüste schweifen. Still und dunkel lag sie vor ihm wie ein nicht enden wollendes Meer. Und irgendwo in dieser Endlosigkeit war Risha. Er musste sie nur noch finden, dann würde sie endlich für das bezahlen, was sie über ihn und seine Familie gebracht hatte, das verfluchte Stück Dreck. Shadara erschien aus der Dunkelheit neben ihm. Man hatte ihn weder kommen sehen, noch dabei gehört. Seit dem Vorfall mit der Kugel hatte sich vieles verändert. Keiros Verstand war klarer als jemals zuvor. Und der Zerberus hatte ebenfalls einen Wandel durchlaufen. Das einst bunte Fell war pechschwarz geworden. Der ganze Körper der Kreatur war nun weitaus weniger bullig, sondern deutlich sehniger. Er war dadurch schneller geworden. Die drei Köpfe waren ebenfalls schlanker geworden, während die Länge der Reißzähne zugenommen hatte. Flammen von einem unnatürlichen rot flackerten als Kranz um die Hälse und an den Spitzen der drei Schweife. Sechs Augen von einem ähnlichen Ton loderten in der Dunkelheit. Auch die unterschiedlichen Persönlichkeiten des Wesens hatten sich verändert: Sie waren zu einer Einheit verschmolzen. „Irgendetwas gefunden?“, erkundigte sich Keiro, ohne seine Zwillingsseele anzusehen. Die schüttelte die Köpfe. „Noch nicht. Aber dazu wird es noch kommen.“ „Mit Sicherheit. Lass uns weiterziehen. Wir haben noch eine Menge vor, mein Guter.“ Damit ritt er in die Nacht hinaus. Shadara, der wieder mit der Dunkelheit verschmolz, folgte ihm. Kapitel 52: Am Anfang des Zenits -------------------------------- Am Anfang des Zenits Als die Sonne soeben dabei war, ihren täglichen Lauf am Firmament auf sich zu nehmen, erreichten sie Gizeh. Kiarna hatte aufgrund des Umweges, den sie genommen hatten, um Men-nefer auszuweichen, länger gebraucht als anfangs angenommen. Marlic hatte das nichts ausgemacht. Er hatte die Nacht damit verbracht, seine Gedanken spielen zu lassen, bis ihn der Schlaf übermannt hatte. Seine rothaarige Begleitung hatte ihn nicht mehr belästigt und schlief auch jetzt noch ihren Rausch aus. Er ging davon aus, dass sie verkatert sein und der Rückweg ebenso ruhig verlaufen würde, wie ihre Anreise. Kiarna landete ein Stück weit von den Pyramiden entfernt und ließ Samira im Schatten eines Felsens vorsichtig von ihren Klauen gleiten. Ein Grollen entwich ihrer Kehle, während sie ihre Trägerin betrachtete. „Dafür reiße ich dich irgendwann in Stücke“, knurrte sie an Marlic gewandt. Der war in der Zwischenzeit ebenfalls abgestiegen und sah sich um. „Wie du meinst, Schätzchen. Jetzt solltest du aber erst einmal ihrem Beispiel folgen, immerhin wollen wir irgendwann auch wieder zurück nach Theben.“ Damit wandte er sich ab und marschierte der Nekropole entgegen. Der Phönix brummte auf seine Aussage hin noch, dann zog sie sich in die Seele der Schattentänzerin zurück. Marlic beschwor in der Zwischenzeit seine eigene Ka-Bestie. „Behalte die Umgebung im Auge und gib Laut, wenn sich irgendetwas tut“, wies er sie an. „Hier sieht es zwar ziemlich tot aus, aber man kann nie wissen.“ Des Gardius ließ ein Kichern hören, das durch seine dunkle Stimme einen gruseligen Klang hatte. „Sieht tot aus … in einer Nekropole.“ „Ha, ha. Wortwitz. Los, lass uns anfangen, ich hab‘ keine Lust den ganzen Tag hier rumzuhängen.“ „Laut.“ „Was?“ „Laut! Da vorne kommt jemand.“ Marlic besah sich die Umgebung und tatsächlich. Von den Mastabas her, die die gewaltigen Pyramiden umgaben wie eine Totenstadt, eilte ihnen eine Person entgegen. Als sie näher gekommen war, bestand kein Zweifel mehr: Es musste sich um einen Priester handeln, der für die Durchführung des Totenkultes in der Nekropole verantwortlich war. Es war ein Mann mittleren Alters mit kahl geschorenem Kopf – ein typisches Zeichen für jemanden seines Standes. Die Haarlosigkeit war auf ein Reinheitsgebot zurückzuführen, das besonders von denen, die an heiligen Riten mitwirkten, beachtet werden musste. Er trug ein Schwert bei sich, nahm die Hand jedoch vom Knauf, als er Des Gardius erblickte. Gegen diese Bestie hätte er ohnehin keine Chance, wenn sie sich dazu entschied, ihn anzugreifen. „Seid gegrüßt“, sagte er schließlich, als er in gebührendem Abstand innegehalten hatte. „Seid Ihr Ägypter?“ „Nein, Vulkanier“, erwiderte Marlic trocken, während er näher trat. „Wie bitte?“ „Hier, ich hab‘ da was für dich“, fuhr der Andere jedoch schon fort, holte den Papyrus hervor, den Mana aufgesetzt hatte und drückte ihn dem überrumpelten Priester in die Hand. „Ich seh‘ mich mal ein bisschen um“, fügte er hinzu, während er an seinem Gegenüber vorbei ging und ihm die Schulter tätschelte. Der entrollte nach einem kurzen, perplexen Moment das Schreiben und überflog die Zeilen. „Ihr seid im Auftrag seiner Majestät hier?“, rief er Marlic schließlich hinterher und schloss zu ihm auf. „Den Göttern sei Dank, das bedeutet, der Krieg ist noch nicht verloren! Sagt, wie steht es im Süden? Seit Ausbruch der Kämpfe ist hier kaum jemand vorbei gekommen und keiner der Soldaten, die von hier abgezogen wurden, hat bislang seinen Weg zurück gefunden. Wer gewinnt? Und stimmen die Gerüchte, die besagen, Pharao Atemu sei wie durch ein Wunder wieder aufgetaucht? Kämpft Ihr an seiner Seite? Ich habe die Ka-Bestie gesehen, auf der ihr hierher kamt. Es war eine Andere, als die Eure, das heißt, Ihr seid nicht alleine, richtig? Bei den Göttern, steht uns etwa ein Angriff bevor?“, sprudelte es nur so aus dem Priester heraus. Der einstige Geist verdrehte die Augen. „Hör zu, ich hab‘ keine Zeit für eine Märchenstunde. Wenn dir langweilig ist, dann kannst du dich nützlich machen, indem du zu dem Stein da hinüber gehst und die Kleine, die dort ein Nickerchen hält, irgendwo hinbringst, wo es kühler ist.“ „Wieso, fehlt ihr irgendetwas?“ „Hat vermutlich eine Cephalgie.“ „Oh weh, ist das ansteckend?“ „Nein. Und jetzt verschwinde endlich, ich hab‘ zu tun! Ich komme sie holen, wenn ich fertig bin und bis dahin will ich dich weder sehen, noch hören, noch riechen – kapiert?“ Damit brachte Marlic den Priester endlich zum Schweigen und setzte seinen Weg alleine fort. Als sie außer Hörweite waren, warf Des Gardius seinem Träger einen fragenden Blick zu. „Cephalgie?“ „So nennt man Kopfschmerzen mal, wenn die Medizin etwas weiter fortgeschritten ist.“ „Ah, verstehe … Wo fangen wir nun eigentlich an? Das Gelände dieser Nekropole ist bedeutend größer, als ich vermutet hatte.“ „Keine Ahnung. Verschaffen wir uns erstmal einen Überblick. Vielleicht fallen uns irgendwelche Stellen auf, die verdächtig erscheinen. Wenn du etwas sehen solltest, zögere nicht, deine Krallen einzusetzen.“ „Geht klar.“ Damit machten sie sich an die Arbeit. Es hatte Atemu weniger Zeit gekostet, als angenommen, Bakura zu finden. Er hatte Slifer – in entsprechender Höhe, sodass er nicht entdeckt werden konnte – nach dem Grabräuber suchen lassen und war damit erfolgreich gewesen. Zunächst überraschte ihn die Tatsache, dass der Andere noch nicht weiter gekommen war. Er hatte damit gerechnet, deutlich länger zu brauchen, bis er ihn eingeholt hatte, immerhin war er bereits seit drei Umläufen unterwegs. Ja, Atemu hatte bis auf ein kurzes Nickerchen die ganze Nacht damit zugebracht, sein Pferd durch die Wüste zu treiben, aber dennoch hatte er nicht angenommen, dass er den Gesuchten so rasch finden würde. Als er Bakura schließlich im Schatten eines Sandfelsens entdeckte, wurde er bereits erwartet. Diabound, der sich an der Seite seine Trägers niedergelassen hatte, musste ihn gewittert haben. „Sieh mal einer an, seine Majestät“, wurde Atemu auch gleich mit diesem zynischen Unterton begrüßt, der ihn jedes Mal innerlich die Augen verdrehen ließ, während er von seinem Pferd stieg und zu dem Grabräuber hinüber ging. „Was willst du hier?“ „Schon irgendeine Spur von Risha?“ Sein Gegenüber zog eine Augenbraue nach oben. „Das ist alles? Deswegen bist du mir gefolgt?“ „Nein, der Grund ist ein anderer. Aber ich denke, die Antwort kannst du dir sparen, ich sehe sie nirgends. Ich bin zugegebenermaßen überrascht, dass du noch nicht weiter gekommen bist.“ „Liegt nicht an mir. Ich bin ihrer Spur gefolgt, aber die ist genauso wirr wie das, was in ihrem Kopf vor sich geht. Wenn Diabound Recht behält, dann rennt sie wohl die meiste Zeit im Zickzack herum. Scheint selbst nicht zu wissen, wohin sie will. Das überrascht mich aber nicht. Also, zurück zum Thema: Warum hast du mich verfolgt?“ „Du musst zurückkommen.“ „Oho, hör sich das mal einer an. Dass ich diese Worte je aus deinem Mund hören würde, hätte ich nicht gedacht.“ Nun gewann der Drang, die Augen zu verdrehen, die Überhand. „Du brauchst dir darauf nichts einzubilden. Der Grund dafür ist nämlich relativ pragmatisch.“ „Ach ja?“ „Allerdings. Wir brauchen dich, um herauszufinden, wo sich das nächste Relikt befindet.“ Der Grabräuber ließ sich die Antwort einen Moment lang durch den Kopf gehen. „Marlic hat das andere allen Ernstes gefunden?“ „Das wissen wir nicht. Noch nicht. Doch wir haben uns dazu entschieden, auch gleich nach dem letzten zu suchen, ehe Caesian vor Thebens Toren steht und uns die Zeit davonläuft“, entgegnete Atemu. „Ah, verstehe. Gar nicht mal dumm, das muss man dir lassen. Na schön, und welche Rolle spiele ich dabei?“ „Niemand von uns war in der Lage, die Seele der Zeit dazu zu bringen, den Fundort des letzten Artefakts preiszugeben …“ „… und nun bin ich eure letzte Hoffnung? Amüsant.“ Der Pharao fuhr sich genervt durch die Haare. „Wie wäre es, wenn du mich zumindest dieses eine Mal ausreden lassen würdest?“ Ein süffisantes Grinsen erschien auf den Zügen des Grabräubers, während er sich gegen den warmen Sandstein zurücklehnte und die Hände hinter dem Kopf verschränkte. „Deine Bitte sei dir gewährt.“ Atemu überging den Kommentar mit Mühe. „Wir denken, dass nur drei von uns überhaupt in der Lage sind, der Seele der Zeit etwas zu entlocken – und, dass jeder von uns es nur ein einziges Mal vermag.“ Bakura legte den Kopf schief. „Und du meinst, dass diese Personen ich, Marlic und du wären? Wieso?“ „Ich denke, dass dies der Grund ist, weswegen euch die Götter gemeinsam mit mir wieder in diese Sphäre zurückschickten.“ Die Miene des Grabräubers wurde säuerlich. „Ist das so? Du behauptest also unser einziger Zweck bestünde darin, dir zu verraten, wo ein göttliches Relikt verbuddelt ist? Du hingegen bist aber natürlich alleine deshalb wieder da, weil du ja der Retter aller Welten bist und diese hier dem Untergang geweiht wäre, wenn du nicht wärst? Tse, ich lach‘ mich tot.“ „Das habe ich so nicht gemeint“, widersprach Atemu bestimmt. „Ich denke nur, dass eure Wiedergeburt einen tieferen Sinn hatte als den, eine Bedingung an die meine zu knüpfen. Dass wir drei die Einzigen sind, die vermögen, etwas mit der Seele der Zeit anzufangen. Lass es uns einfach überprüfen“, schlug er schließlich vor. „Wenn ich Recht behalte, dann wirst du in der Lage sein, der Schriftrolle den Fundort des letzten Artefakts zu entlocken.“ „Woraufhin mein Schicksal damit erfüllt ist und ich wieder in die Unterwelt verschwinden kann oder was?“ „Nein, bei den Göttern! Bakura, hör auf mir jedes Wort im Mund herum zu drehen! Wer weiß schon, was genau das zu bedeuten hat! Ich habe auch keine Ahnung, ich weiß nur, dass es wahrscheinlich du bist, der herausfinden muss, wo wir als nächstes suchen sollen. Vielleicht hat es eine tiefere Bedeutung, wenn du es schaffst, vielleicht auch nicht. Alles, was ich weiß, ist, dass es entscheidend für diesen Krieg sein könnte, ob wir das Relikt vor Caesian finden oder nicht – und dafür brauchen wir deine Hilfe.“ Der Grabräuber taxierte ihn noch einige Augenblicke lang, dann nahm er die Hände vom Hinterkopf und erhob sich. „Wenn der große Pharao von Ägypten schon die Hilfe von meinesgleichen braucht, dann ist wohl wahrlich Not am Mann. Wie du willst, lass uns gehen. Diese ganze Sucherei hier führt sowie so zu nichts.“ Damit trottete er zu seinem Pferd hinüber. Atemu rieb sich noch einen Moment lang die Schläfen. Diese selbstverliebten, zynischen Sprüche … Er würde sie den ganzen Rückweg lang ertragen müssen. Es herrschte reges Treiben in der Stadt. Soldaten kamen auf der großen Straße zusammen, die aus Men-nefer herausführte und ritten durch das große Tor des Ortes hinaus. Offiziere brüllten Befehle, Waffen klirrten, Pferde wieherten. Überall wurden Reittiere beladen, an manche auch Wagen gespannt, um große Lasten transportieren zu können. Selbst ein Rammbock war darunter. Sand wurde durch die zahllosen Menschen und Tiere aufgewirbelt und verschmutzte die Luft mit einem körnigen Schleier, den selbst der Wind nicht davonzutreiben vermochte. Caesian stand im Schatten des großen Portals, das in den Palast von Men-nefer führte. Gemeinsam mit Taisan beobachtete er die Vorbereitungen, bis sich auch der letzte Teil des Trosses, der ihn nach Theben begleiten sollte, in Bewegung setzte. „Nun, ich fürchte, es wird Zeit für mich allmählich aufzubrechen, Bruder“, sprach Ersterer schließlich. „Es hat den Anschein. Sei unbesorgt, ich werde die Stadt in deiner Abwesenheit nach bestem Wissen verwalten“, erwiderte Taisan unter der Maske hervor, die wie immer auf seinem Gesicht saß. „Dessen bin ich mir sicher. Du wirst deine Sache gut machen. Denke daran, ich habe dir einige meiner fähigsten Berater zur Seite gestellt. Sie werden dich unterstützen, so gut sie nur können. Vorerst sollte jedoch nicht allzu viel zu tun sein. Noch sind nicht viele Ägypter hierher zurückgekehrt und ich denke, dass das auch erst nach einem endgültigen Ende dieser Konflikte der Fall sein wird“, entgegnete Caesian und legte seinem Gegenüber eine Hand auf die Schulter. Der Andere nickte. „Ich werde mich vorerst darauf konzentrieren, den Wiederaufbau dieser schönen Stadt voranzutreiben, auch wenn es mit der begrenzten Zahl an Männern wohl nicht allzu schnell gehen wird. Aber es ist ein Anfang.“ „Ganz richtig“, beteuerte der Tyrann. „Nun denn – es wird Zeit. Gehabe dich wohl, Bruder. Ich werde schon bald zurück sein und dann werden wir diesem Land mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln zum Glanz seiner alten Tage verhelfen.“ „Darauf hoffe ich. Gib auf dich Acht.“ Die Brüder schlossen sich kurz, jedoch freundlich in die Arme, dann wandte sich Caesian ab und schritt zu dem schwarzen Hengst hinüber, der in einiger Entfernung auf ihn wartete. Taisan sah ihm noch eine Weile lang hinterher, ehe ein Seufzen seine Kehle verließ. Hoffentlich behielt er Recht. Hoffentlich hatte all das Leid bald ein Ende. Die Mittagshitze ließ einen flackernden Schleier am Horizont über die Wüste tanzen. Unerbittlich stach sie auf das Land und alles, was darin lebte, hernieder. Marlic lehnte sich gegen eine Mauer, die ihm Schatten spendete, und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Prächtig. Absolut prächtig. Seit dem Morgen suchten er und Des Gardius nun schon die Umgebung ab, doch bislang hatten sie nichts gefunden. Allmählich begann er zu verstehen, weshalb Bakura diesen Ort als Versteck für ein göttliches Relikt ausgeschlossen hatte. Weit und breit nichts als Sand, und da, wo kein Sand war, standen irgendwelche Pyramiden oder Mastabas – die sie hätten einreißen müssen, um sich das, was sich darunter befand, näher ansehen zu können. Wovon Marlic sich allerdings auch nichts versprochen hätte. Wie gehabt hätte man auf ein Relikt stoßen müssen, während die Gräber angelegt worden waren, es sei denn, die Arbeiter wären blind gewesen – oder sie hatten es mitgehen lassen. Dann waren Hopfen und Malz ohnehin verloren, denn sie konnten ja nicht jeden Ägypter danach befragen. Und selbst wenn sie alte Listen von den besagten Steinmetzen gefunden hätten, wäre es dennoch schwer gewesen, sie in all dem Chaos aufzuspüren – sofern sie überhaupt noch am Leben waren. Es war zum Haare raufen. Er wurde aus den Gedanken gerissen, als er Schritte hörte, die sich langsam näherten. Kurz darauf kam Samira um die Ecke geschlurft. Ihr Gesicht war blass und ihre Augen rot, sowie von breiten Ringen untermalt. Eine Hand massierte die rechte Schläfe. „Na, Kleines? Wieder wach?“, fragte Marlic, wobei er sie schon nicht mehr ansah, sondern den Blick wieder über die Umgebung schweifen ließ. Zudem fehlte seiner Stimme der so übliche Spott. Er musste dieses Relikt finden, verdammt! „Ich hasse dich“, erklang es hinter ihm. Mit hochgezogener Augenbraue wandte er sich um und wartete auf eine Erklärung – die auch kam. „Mir platzt der Kopf und mir ist speiübel. Und das ist alles deine Schuld“, erwiderte die Schattentänzerin matt. Marlic schnaubte. „Wo wir neulich schon bei Lektionen für’s Leben waren, Schätzchen, hier eine weitere: Ich habe dich nicht dazu gezwungen, zu saufen, du hast das Spiel freiwillig mitgespielt. Also schieb die Schuld nicht auf mich. Dass es dir heute scheiße geht, liegt in deiner eigenen Verantwortung, nicht in meiner.“ Es folgte eine kurze Stille, die jedoch bald wieder von Samira unterbrochen wurde, nachdem sie sich im Schatten hingesetzt hatte. „Schon irgendetwas gefunden?“ „Nein. Und ich hab‘ den Verdacht, dass sich das auch nicht mehr ändern wird.“ „Du meinst, das Relikt ist auch hier nicht? Aber wenn das so ist, wo sollen wir denn dann suchen? Es gibt noch dutzende Nekropolen, die über ganz Ägypten verstreut sind.“ Marlic biss sich auf die Unterlippe. Es fiel nicht leicht, das einzugestehen, aber es war nun einmal so. „Ich weiß es nicht“, sprach er es schließlich aus. „Hätte nicht gedacht, dass ich das mal sagen würde, aber ich bin mit meinem Latein definitiv am Ende.“ Die Schattentänzerin wusste zwar nicht, was Latein war, verstand jedoch trotzdem, was er meinte. „Aber wir müssen es doch finden. Irgendwie …“ „Hör mal, Kleines, ich weiß, wann ein Spiel verloren ist – und das hier ist es mit Sicherheit. Immerhin können wir uns damit trösten, dass es Caesian ebenso schwer fallen dürfte, das Teil aufzuspüren und er hat keinen Hinweis von einer ollen Schriftrolle bekommen. Lass uns gehen, wir nutzen die Zeit, die deine Ka-Bestie noch brauchen wird, um sich zu erholen, und hauen uns nochmal auf’s Ohr.“ Samira stemmte sich mühsam auf die Beine. „Sollten wir nicht lieber gleich zurückkehren? Vielleicht haben die Anderen ja noch eine Idee, wo es sein könnte.“ „Jetzt ist nicht die richtige Zeit. Dein Monster muss sich, wie gesagt, erholen können. Außerdem steht die Sonne gerade im Zenit und es ist verdammt heiß. Nun komm endlich. Ich will irgendwo hin, wo es kühler ist.“ „Pft, als ob in diesem Krieg jemals die richtige Zeit für irgendetwas wäre“, schnaubte Samira, während sie zum Himmel hinauf sah und gegen die Sonne blinzelte. Mit einem Mal war es, als habe sie der Schlag getroffen. Ihre Gesichtszüge entgleisten, ihre Augen weiteten sich. Das … bei den Göttern, wie hatten sie nur so dermaßen dumm sein können? „Marlic!“, rief sie aus und eilte ihm hinterher. Der Alarm in ihrer Stimme ließ ihn augenblicklich stehen bleiben. „Was ist? Feinde?“ „Nein! Ich … wir haben uns total vertan! Das Relikt ist im Tal der Könige!“ „Was soll das heißen? Wie kommst jetzt darauf?“ „Pass auf … »Erlischt bei Nacht, erglimmt am Tag, zur rechten Zeit«. Wir sind davon ausgegangen, dass diese Zeilen eine Anspielung auf eine Nekropole sind – was auch stimmt. Aber wir haben sie nicht weit genug interpretiert! Sie bedeuten noch mehr als das!“ Ihr Gegenüber zog beide Augenbrauen in die Höhe. „Erklär dich bitte, ich versteh‘ nämlich kein Wort.“ „Na gut. Was, wenn das Artefakt sehr wohl direkt vor unserer Nase war, wir es aber nur nicht sehen konnten, weil wir nicht zum richtigen Zeitpunkt da waren? Was, wenn wir es hier mit einem Relikt zu tun haben, das in der Nacht verborgen ist, am Tag erglimmt und sich dabei ausschließlich zur richtigen Zeit zeigt?“ Marlic begriff sofort, was sie meinte. „Wir waren nur in der Dunkelheit und im Morgengrauen im Tal der Könige … die Sonnenscheibe des Ra, des Sonnengottes …“ Auch sein Blick wanderte nun zum Firmament. Dann verstand er. „Verdammter Mist, du hast mehr Grips, als ich dachte, Kleine. Das Artefakt zeigt sich nur dann, wenn sich das Element des ihr angehörenden Gottes voll entfaltet. Mit der rechten Zeit ist der Mittag gemeint!“ „Genau!“ Ein zufriedenes Grinsen schlich sich auf Marlics Züge, als er sie ansah. „Sehr schön. Lauf zurück zu dem Priester-Futzi und füll unsere Schläuche auf, dann brauchen wir auf dem Rückweg nicht nochmal am Nil zu landen. So schaffen wir es eventuell, vor der morgigen Mittagszeit das Tal der Könige zu erreichen“, wies er sie an, jeder Gedanke an einen Mittagsschlaf vergessen. Samiras riesiges Federvieh würde sich eben zusammenreißen müssen. „Wird gemacht! Aber was ist mit dir?“ „Ich muss nochmal eben wohin.“ „Oh, gut. Komm einfach nach, wenn du fertig bist.“ Damit eilte Samira davon. Marlic hingegen stieg eine Düne empor und wanderte gemütlich hinüber zu der Stelle, die ihm schon bei ihrer Ankunft ins Auge gefallen war. Schließlich stand er vor dem Sphinx von Gizeh. Er legte den Kopf leicht schief, während er die Statue musterte. Etwas störte ihn daran – und er wusste auch genau, was das war. „Kein Wunder, dass du Grabräuber abhalten sollst – und, dass man dir das Ding da nicht wieder drangemacht hat, nachdem es abgefallen ist. Was für ein riesiger Zinken.“ Einen Augenblick später war das Klirren scharfer Krallen und das Bröckeln und Krachen von Sandstein zu hören, der zu Boden fiel. Dann verschwand Marlics Ka-Bestie auch schon wieder. „So, viel besser. Mein Werk hier ist getan.“ Damit trottete er zu der Stelle, an der Samira auf ihn warten würde. Unruhig wälzte sie sich umher. Doch gleich wie sie sich hinlegte und wie viel Zeit auch vergehen mochte, es schien, als wolle sie der Schlaf heute einfach nicht überkommen. Risha schnaubte. Weit nach Einbruch der Nacht hatte sie in einem verlassenen Hof Schutz gesucht. Die Ansiedlung hatte gerade einmal vier kleinere Hütten und ein größeres Gebäude gemessen und war scheinbar schon vor mehreren Sommern aufgegeben worden. Dementsprechend war der Zustand der Behausungen, doch Risha hatte sich dennoch entschieden, die Nacht hier zu verbringen. Es war in jedem Fall angenehmer, als dem kühlen Wüstenwind ausgesetzt zu sein. Sie war vollkommen erschöpft und dennoch fand sie nicht zur Ruhe. Seit Tagen ging es nun schon so. Sie trug eine unbändige Wut in sich, die sie einfach nicht schlafen ließ – und diese galt größtenteils ihr selbst. Nachdem sie Abstand von der Gruppe gewonnen hatte, war ihr relativ schnell klar geworden, dass ihre Anschuldigungen gegenüber Atemu auf nichts anderem basierten, als ihrem Zorn darüber, dass Kipino gestorben war. Ja, sie glaubte, dass die Versprechungen des Pharao, mit dem Clan Frieden schließen zu wollen, allein diplomatische Köder waren und er – selbst, wenn er es wirklich gewollt hätte – niemals die Möglichkeit haben würde, sie umzusetzen. Sie waren leer, denn auch, wenn er den Schattentänzern gegenüber nun positiver eingestellt war, sein Hofstaat würde es zu verhindern wissen. Was sie allerdings nicht glaubte, war, dass Attribute wie etwa Verschlagenheit zu ihm passten. Und dennoch hatte sie sie ihm unterstellt. Weil der, der Kipino ermordet hatte, nicht da gewesen war, um ihren Hass zu spüren. Weil Atemu der Einzige Mensch sonst war, dem sie derartig die Pest an den Hals wünschte. Und obgleich ihr klar war, dass sie Unrecht hatte, brachte sie es nicht über sich, zum Rest des Widerstandes zurückzukehren. Zumal sie zumindest auf Riell tatsächlich eine ziemliche Wut hegte. Er war ihr wie ein Bruder, auch, wenn sie nur adoptiert war – er hätte zu ihr halten müssen, anstatt den Pharao ihr vorzuziehen! Denn wenn Risha irgendetwas wichtig war, dann war es Loyalität, aber die konnte sie heutzutage scheinbar noch nicht einmal mehr von ihrer eigenen Familie erwarten. Sie seufzte. Ungeachtet dessen, ob sie nun Recht gehabt hatte oder nicht, würde seine Majestät sterben müssen. Irgendjemand musste einfach für die Gräueltaten des Königshauses büßen, ansonsten würde es niemals Gerechtigkeit geben. Ein Geräusch riss sie aus den Gedanken. Einen Moment horchte sie angespannt, dann setzte sie sich auf. Sie spürte augenblicklich, wie sich ihre Zwillingsseele regte. Brauchst du mich? Nein. Ist wahrscheinlich nur ein Schakal. Ich werde das Biest eben verscheuchen, bevor es noch an unsere Vorräte geht. Ruh dich aus. Wie du wünscht. Sie legte sich ihren Umhang gegen die Kälte um die Schultern, ebenso wie ein Tuch, das ihr als Schal diente, und trat aus der Hütte. Sie sah sich um, konnte jedoch nichts entdecken. Dann hörte sie es wieder. Ein scharrender Laut, der hinter den Resten einer alten Mauer, nur wenige Schritte entfernt, hervordrang. Auf leisen Sohlen eilte sie hinüber und umrundete die Überbleibsel fein geschichteten Sandsteins, während sie einen Dolch zückte – doch da war nichts. Im nächsten Augenblick spürte sie einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf. Ihre Beine gaben nach und sie stürzte zu Boden. Sofort versuchte sie, sich wieder aufzurichten, doch da fühlte sie bereits, wie sie jemand an den Haaren packte und ihren Kopf zurückzog. Plötzlich erschien das Gesicht ihres Angreifers in ihrem Blickfeld. Ihr Blut gefror zu Eis. „Hallo Risha. Lange nicht gesehen“, säuselte Keiro. Er holte aus und schlug ihr ins Gesicht. Die Welt wurde schwarz. Kapitel 53: Von Gedeih und Verderb ---------------------------------- Hatte Atemu zu Beginn des Weges damit gerechnet, er würde andauernd das Gerede des Grabräubers ertragen müssen, so hatte er sich getäuscht. Sie waren gestern nicht mehr lange unterwegs gewesen, sondern hatten sich bald darauf eine Übernachtungsmöglichkeit gesucht. Nachdem sie unter dem überstehenden Felsen einer Sandsteinformation ein Feuer entfacht hatten, hatten sie sich rasch schlafen gelegt. Diabound hatte die Umgebung im Auge behalten, während sie ruhten. Atemu hatte dennoch kaum ein Auge zugetan – was eventuell an seiner Begleitung liegen konnte. Nach einer kargen Mahlzeit, bei der sie ohnehin schon nur das Nötigste gewechselt hatten, waren sie dann aufgebrochen. Seitdem hatten sie kein Wort miteinander gesprochen. Vielleicht war es besser so. Ihre letzten Unterhaltungen hatten gezeigt, dass dabei selten irgendetwas anderes herauskam, als Keifereien. Bakura würde die meiste Zeit diesen herablassenden Tonfall benutzen, Atemu würde das irgendwann auf den Nerv gehen und dann krachte es. So lief es immer ab. Dennoch war die Stille irgendwie unangenehm. Es lag eine gewisse Anspannung über Pharao und Grabräuber, die sich nicht abschütteln ließ, gleich, wie weit sie ritten. Vielleicht war es auch eher ein Misstrauen, da waren sich beide nicht so ganz sicher. Auf der anderen Seite bezweifelte jeder von ihnen, dass der Andere irgendetwas tun würde, um dem Gegenüber zu schaden. Wobei die Verlockung für Bakura zugegebenermaßen groß war. Alleine mit seiner Majestät – wären da nur nicht diese verdammten Göttermonster. So ging es noch eine Weile. Letzten Endes passierte aber dann das, was Atemu eigentlich für genau das Falsche hielt: Er durchbrach die drückende Stille. „Meinst du, Risha wird zurückkommen?“ Die fliedernen Augen des Grabräubers musterten ihn kurz, dann schnaubte er. „Keine Ahnung. Ist mir auch egal. Und was interessiert’s dich überhaupt? Dir kann es doch nur recht sein, wenn sie bleibt, wo immer sie ist.“ „Es ist dir wirklich vollkommen gleich, was mit ihr passiert?“ „Bei den Göttern, jetzt fang du nicht auch noch mit diesem Gequatsche an. Ich führe hiermit eine neue Regel ein: der Nächste, der mir irgendetwas von familiärer Gefühlsduselei erzählt, stirbt. Also halt die Klappe, wenn du heil in Theben ankommen willst. Außerdem geht es dich, und ganz besonders dich einen Scheißdreck an, was in meiner Familie passiert.“ Paradox. Anders wusste Atemu dieses Verhalten nicht zu beschreiben. Zum einen gab Bakura den völlig Unbeeindruckten, zum anderen war da doch irgendwie so etwas wie eine Verbindung zu seinem Bruder und seiner Base, wenn er von seiner Familie sprach. Er fragte sich, ob sich der Grabräuber dieses Widerspruchs überhaupt bewusst war. Sie schwiegen wieder, während ihre Pferde sie weiter trugen. Atemu beobachtete den Anderen jedoch noch eine ganze Weile aus dem Augenwinkel heraus. Was war er wohl für ein Mensch gewesen, bevor das Drama in Kul Elna geschehen war? Und was wäre aus ihm geworden, wenn all das niemals passiert wäre? Wäre er anders als heute? Der Pharao nahm es an. Keiro hatte sich zwar mit allen Informationen, die seine Vergangenheit und die seines Bruders betrafen ziemlich bedeckt gehalten, aber das Bisschen, was er preisgegeben hatte, ließ darauf schließen. Ja, wahrscheinlich wäre vieles anders gekommen. So sehr Atemu den Grabräuber auch für das verachtete, was er ihm Kampf um die Milleniumsgegenstände getan hatte, ein Teil von ihm wusste, dass das, was er erlebt hatte, Bakura zu dem hatte werden lassen, der er heute war – und dass er, Atemu, vielleicht genauso geworden wäre, hätte er etwas Vergleichbares durchleben müssen. Als er noch der Geist des Milleniumspuzzles gewesen war, hatte er sich häufig gefragt, wie sein Leben einmal gewesen sein mochte. Er hatte sich die abenteuerlichsten Dinge ausgemalt. Als er dann seine Erinnerungen zurück erlangt hatte, war das neu gewonnene Wissen ernüchternd, aber auch erleichternd gewesen. Bis auf die Tatsache, dass er Ägyptens zukünftiger Herrscher war, war an ihm nichts Besonderes gewesen. Er hatte eine relativ normale Kindheit verbracht, gemeinsam mit Mana und Mahad, und war später von seinem Vater in all den Dingen unterwiesen worden, die später einmal in seiner Position als Regent wichtig sein würden. Das Schicksal hatte sich erst in Gang gesetzt, als Bakura aufgetaucht war – ein Mann, der sich stets hatte durchschlagen müssen, wohingegen Atemu sich niemals darüber hatte sorgen müssen, wo er schlafen konnte oder genug zu essen herbekam. Ihre verschiedenen Geschichten hatten sie unterschiedlich wie Tag und Nacht werden lassen. Und dennoch waren sie jetzt hier, ritten Seite an Seite durch die Wüste Ägyptens, um sich in naher Zukunft einem gemeinsamen Feind zu stellen, ohne sich dabei gegenseitig so etwas wie Vertrauen entgegen zu bringen. Ja, manchmal ging das Schicksal komische Wege. „Hab‘ ich irgendwas im Gesicht oder warum glotzt du mich so an?“ Die Worte des Grabräubers rissen ihn aus den Gedanken. „Nichts“, erwiderte er. „Ich habe lediglich nachgedacht.“ Er erinnerte sich noch genau daran, wie er erst vor kurzem zu Yugi gesagt hatte, er habe es satt, sich andauernd Vorhaltungen wegen Kul Elna machen zu lassen. Ja, er hatte genug davon, wusste jedoch zugleich auch, dass er dem nicht entkommen konnte. Es war seine Verantwortung als Herrscher der beiden Länder, sich der Konflikte anzunehmen, die in seiner Heimat brodelten. Er durfte sie nicht beiseiteschieben, nur weil er es nicht mehr hören konnte. Denn genau das war seine Pflicht: Zuzuhören. Und das, was er hörte, zu beurteilen und daraus resultierend Entscheidungen zu treffen. Dabei durfte er nicht nur dem lauschen, was ihm gefiel, nein, er musste auch mit Kritik leben können, gleich wie heftig sie war, selbst wenn es ihn immer wieder einmal alle Nerven kostete. Die Anschuldigungen der Überlebenden der Tragödie von Kul Elna bildeten dabei keine Ausnahme, auch wenn sie sehr … drastischer Natur waren. Zumal ihm die besagten Personen scheinbar keine andere Art von Wiedergutmachung zu gewähren schienen, als seinen eigenen Tod. Doch wenn nie jemand diesen Kreis, nein, diese Abwärtsspirale von Feindseligkeit durchbrach, dann würde sich nichts ändern. Im Gegenteil, irgendwann würde der Punkt kommen, wo einer von ihnen endgültig brach. Spätestens wenn der Krieg vorüber und wieder Zeit und Luft war, sich dem alten Konflikt zu widmen, würden alte Wunden aufgerissen und noch tiefer geschnitten werden. Das hatte seine Heimat schon einmal beinahe in den Abgrund gerissen. Diesmal wollte, konnte, durfte er es nicht soweit kommen lassen. Auch wenn das bedeutete, dass er sich abermals mit einem Thema auseinandersetzen musste, dass schon zigmal ohne das Ergebnis einer Einigung durchgekaut worden war. Doch er musste es versuchen, wieder und wieder. Es war seine Aufgabe. „Bakura?“ „Was?“, giftete es sofort vom anderen Pferd her zurück. „Eines habe ich nie verstanden. Warum hast du Akunaden am Leben gelassen?“ Der Grabräuber warf ihm einen fragenden Blick zu. Atemu fuhr fort: „Mit jedem Priester, der sich dir in den Weg gestellt hat, hast du kurzen Prozess gemacht. Nur mit ihm nicht, obwohl er derjenige war, der den Angriff gegen dein Dorf geplant und ausgeführt hat. Wieso?“ Bakura schnaubte. „Ich bezweifle, dass dein nobles Herz so etwas nachvollziehen könnte.“ „Versuch es.“ Der Andere musterte ihn einen Augenblick lang, dann sah er wieder nach vorne. „Ihn zu töten wäre zu einfach gewesen. Er sollte leiden. Er sollte derjenige sein, der seinem eigenen Sohn das Leben nimmt, unfähig etwas dagegen zu tun. Außerstande es abzuwenden. Ich wollte, dass er hilflos dabei zusieht, wie sich seine Hände mit dem Blut seines eigenen Kindes rot färben. Und es hätte funktioniert, wäre dieses Weib nicht dazwischen gekommen.“ Er fixierte nun wieder Atemu. „Du hast dich nie gefragt, weswegen ich deine geliebten Priester-Freunde umgebracht habe?“ Der Pharao schloss kurz die Augen, um sich zu sammeln, ehe er antwortete. Er durfte in diesem Gespräch nicht die Kontrolle verlieren. „Nein. Du wolltest du Milleniumsgegenstände und ihre Aufgabe war es, diese zu beschützen. Und das taten sie selbst unter Aufopferung ihres Lebens.“ „Das alleine war es nicht.“ Atemu erwiderte den Blick nun. Dies genügte dem Grabräuber, um fortzufahren. „Mit ihnen verhielt es sich ganz ähnlich, wie mit meinem Plan für Akunaden, diesen Bastard. Ich wollte, dass du leidest. Dein eigenes Dasein bedeutet dir nichts, das war mir vom ersten Moment an klar. Es war dir gleich, ob du stirbst, solange du die, die dir wichtig sind, beschützen kannst. Das ließ mir nur eine Wahl: Dir die zu nehmen, die du liebst. Denn das ist die schlimmste Form von Schmerz, schlimmer als jede Folter oder jede Krankheit. Nichts ist zu vergleichen mit der Pein, wenn einem jemand Nahestehendes genommen wird. Es ist, als reiße dir jemand einen Teil deiner Seele bei lebendigem Leib heraus. Und daraus entsteht eine Wunde, die sich niemals schließen wird, bis zu dem Tag, da wir endlich in die Unterwelt einkehren dürfen.“ Atemu wusste, dass die Worte darauf ausgerichtet waren, ihn zu verletzen. Doch sie verfehlten ihre Intention. Sie waren mit abgrundtiefer Verachtung gesprochen worden und dennoch vermochte der Pharao noch mehr aus ihnen herauszulesen, als nur das: Schmerz. Das, was Bakura soeben beschrieben hatte, war das, was er selbst gespürt hatte, als Kul Elna in Flammen aufgegangen war, als man seine Familie vor seinen Augen auf die scheußlichste Art und Weise ermordet hatte. „Du meinst, du wolltest, dass ich das Gleiche fühle, wie du damals, als man dir die Deinen nahm? Deine Eltern … Keiro … Risha? Und dennoch tust du so, als habe dich all das nicht berührt, als sei es nur Machtgier, die dich antreibt?“ „Ich tue so, weil es so ist“, zischte der Grabräuber. „Auch wenn du einen Teil davon missverstanden hast. Alles, was ich will, ist, dass das Königshaus endlich bekommt, was es verdient. Ihr haltet euch für so unantastbar. Doch ich habe euch, und dir im Besonderen, den Spiegel vorgehalten. Ich habe euch, sowie allen anderen, die Fratze gezeigt, die sich unter der scheinenden Fassade verbirgt.“ „Und du hast uns Leid beschert. Unermesslich viel davon. Was auch immer du sagst, Bakura, ich denke nicht, dass dabei lediglich die Gründe, die du angibst, eine Rolle gespielt haben. Nein, ich glaube, ich habe Recht.“ „Einen Dreck hast du!“ „Ist das so? Wenn dem so ist, warum wolltest du mich dann unter Berufung auf das, was in diesem Dorf geschehen ist, leiden lassen? Warum hast du mich nicht einfach getötet?“ „Weil die Welt endlich die Wahrheit über das erfahren sollte, was passiert ist! Sie sollten sehen, wozu ihr fähig seid, wenn man euch an der Macht lässt!“ „Die Welt ist dir doch gleich – zumindest behauptest du das stets. Du widersprichst dir, Bakura.“ „Ach, halt einfach dein verdammtes Maul! Ich habe von Anfang angesagt, du würdest nicht in der Lage sein, es nachzuvollziehen. Und ich hatte Recht.“ Danach schwieg er zunächst. Es dauerte jedoch nicht lange, da fuhr er fort, nun eindeutig gereizt. „Außerdem: Ich soll mich in Widersprüche verstricken? Pah! Was tut Ihr denn bitte, Euer Majestät? Immerzu heißt es, die Verantwortung für all das hier“, begann er, wobei er eine ausschweifende Bewegung mit dem Arm machte, „liege auf deinen Schultern. Zugleich hältst du mir immer wieder vor, es sei dein Onkel gewesen, der für Kul Elnas Untergang verantwortlich sei und du hättest damit nichts zu tun gehabt. Was ist denn nun richtig? Trägst du die Verantwortung für das, was hier passiert oder nicht? Ich höre?“ Atemu seufzte. „Ich kann nur für das die Verantwortung übernehmen, auf das ich Einfluss habe. Das habe ich in diesem Fall aber nicht. Als sich diese Tragödie ereignet hat, war ich noch ein Kind, Bakura, und jünger, als du es damals warst. Ich hätte nichts dagegen tun können, auch wenn ich es noch so sehr gewollt hätte. Ich kann auch nicht ungeschehen machen, was Akunaden getan hat, denn das ist nicht möglich. Aber glaube mir, wenn ich sage, ich würde es tun, wenn es in meiner Macht stünde. Und dennoch – obgleich diese Angelegenheit eine ist, die ich, wie ich sagte, nicht zu verantworten habe, so versuche ich dennoch, genau das zu tun.“ „Ach ja? Wo denn? Was hast du getan, als ich dir von der Schöpfungsgeschichte der Milleniumsgegenstände berichtete, hm? Nichts! Du hättest diesen dreckigen Priester aufknüpfen lassen können, aber nein, du hast nichts dergleichen getan! Es kam noch nicht einmal eine lahme Entschuldigung – die nichts geändert, aber wenigstens guten Willen bewiesen hätte. Und dann bist du auf mich losgegangen, an der Seite deiner Priester – des einen Priesters, der das Leben von einhundert Menschen auf dem Gewissen hat!“ Bakura spuckte Wort für Wort aus, als lägen sie wie glühende Kohlen auf seiner Zunge. „Ist dir schon einmal der Gedanke gekommen, dass der von dir gewählte Weg nicht gerade der feinste war? Es hätte bessere Mittel gegeben, mir ein Anliegen vorzutragen, als meinen toten Vater aus seinem Grab heraus in den Palast zu schleifen.“ „Ich wollte kein Anliegen vortragen, ich wollte dich und Akunaden schlicht und ergreifend brennen sehen! Und das werde ich noch. An deinen Onkel kann ich keinen Finger mehr legen, da ist mir dein Vetter zuvor gekommen. Aber dich kriege ich noch, wenn dieser Krieg vorüber ist.“ „Und was dann? Sag mir, was geschieht dann, Bakura? Was glaubst du, wird es dir bringen? Wirst du deswegen besser schlafen können? Was willst du anschließend aus deinem Leben machen, wenn ich nicht mehr bin? Wohin wird dein Weg dich führen? Wirst du dich irgendwo niederlassen, eine Familie gründen und glücklich und zufrieden bis ans Ende deiner Tage leben? Du brauchst mir keine Antworten auf diese Fragen zu geben, denn ich kenne sie bereits. Und sie sind der Grund, weswegen ich nicht zulassen werde, dass du mich tötest. Gäbe es irgendeine Aussicht darauf, dass es dir helfen würde, ich wäre vielleicht gar bereit, mir das Herz von dir aus der Brust reißen zu lassen. Aber es wäre vergebens. Dann der Hass ist alles, was dich noch am Leben hält. Es gibt nichts und niemanden auf dieser Welt, der in der Lage wäre, ihn zu besänftigen – kein toter König, keine noch so schöne Frau, kein noch so erfülltes Leben. Dein Hass würde auch dann nicht enden, wenn ich das Zeitliche segne. Nein, du würdest nur immer weiter machen, weiter und weiter, zerstören, töten, vernichten, bis nichts mehr übrig ist. Dabei ist dir vollkommen gleich, wen diese unbändige Wut in deinem Innere trifft. Du würdest dir neue Opfer und neue Rechtfertigungen für ihren Tod suchen. Und das kann ich nicht zulassen.“ Bakuras Blick wäre kälter als Eis. Seine Hände, die er um die Zügel seines Pferdes gekrampft hatte, zitterten. Innerlich bereitete sich Atemu auf eine Auseinandersetzung vor, rechnete jeden Augenblick damit, dass sich Diabound auf ihn stürzen würde. Und dennoch fuhr er fort. „Nicht ich bin dein Problem. Mein Vater, mein Onkel mögen es einst gewesen sein, doch nachdem du an Ersteren keinen Finger mehr legen konntest, verzerrte sich all der Hass in dir und legte sich auf andere Menschen – Menschen, die mit dem, was in Kul Elna passiert ist, nichts, gar nichts zu tun haben. Wann begreifst du das endlich?“ Der Grabräuber zügelte abrupt sein Pferd. Die fliedernen Augen bohrten sich in die violetten des Pharao. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, als er zum Sprechen anhob, zugleich jedoch schneidend und kalt wie der nächtliche Wüstenwind. „Du glaubst mich zu kennen und weißt doch nichts. Du hast keine Ahnung, wer ich bin und maßt dir dennoch derlei an. Du widerst mich an, du dreckiges Stück Unrat. Aber nicht mehr lange. Bald ist dieser Krieg vorbei. Wenn du dann noch lebst, werde ich dich zerfetzen – und ich werde die kleine Magierfotze zwingen, dabei zuzusehen.“ Damit gab er seinem Pferd die Sporen und preschte voraus. Atemu verharrte noch eine ganze Weile dort, wo er war, mit der Wut kämpfend, die sich in seinem Inneren bemerkbar machte. Er durfte sie nicht hochkochen lassen, nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Zugleich gewann er eine Erkenntnis: Vielleicht bestand die Möglichkeit, dass es keinen Weg gab, Bakura zu retten. In diesem Fall hatte er keine andere Wahl – Atemu würde ihn abermals töten müssen. „Jetzt reiß dich gefälligst zusammen!“ „Das ist alles deine Schuld, du Hund!“ „Hat dich irgendjemand nach deiner Meinung gefragt? Ich rede mit ihr!“ „Ich bin ein Teil von ihr! Und ich habe Recht! Hättest du ihr nicht dieses scheußliche Zeug verabreicht …“ „Scheußliches Zeug? Wer hat sich denn mit mehreren Fässern davon abgeschossen, du oder ich?“ Kiarna meckerte weiter, doch Marlic schenkte ihr schon keine Beachtung mehr. Sein Blick wanderte wieder zu Samira hinüber, die in der anderen Klaue der Ka-Bestie hockte. Sie sah nicht gut aus. Ihr Kopf hing vorne über und ihre Lider sanken weiter und weiter herab. Der Vollsuff und der daraus resultierende schlechte Schlaf forderten allmählich ebenso ihren Tribut, wie die wochenlange Unruhe, die jeden von ihnen seit Ausbruch des Krieges ergriffen hatte. Die Schattentänzerin brauchte eine Auszeit, und das dringend. Doch gerade jetzt war dafür definitiv der falsche Zeitpunkt. Am gestrigen Mittag waren sie von Gizeh aus aufgebrochen. Nun, da die Sonne beinahe ihren Zenit erreicht hatte, waren sie fast an ihrem Ziel angelangt. In der Ferne zeichneten sich bereits die Umrisse Thebens und der dahinter liegenden Erhebung ab, die das Tal der Könige barg. Doch ausgerechnet nun schienen sie zu scheitern. Samira konnte nicht mehr. Wenn die Erschöpfung sie übermannte, dann würde Kiarna so schnell es ging landen müssen. Zwar war es dem Phönix möglich, die Gefühle und Gedanken ihrer Trägerin bis zu einem gewissen Grad ausblenden zu können, doch sie bezog ihre Kraft aus der Seele des Mädchens. Wenn diese aufgebraucht war, würde auch Kiarna nicht mehr lange in der Luft bleiben können. Sie drohten zu scheitern und das so kurz vor dem Ziel. Marlic biss sich auf die Unterlippe. Das durfte doch nicht wahr sein! Sie waren so nah dran. „Hey, Püppchen, Kopf hoch! Los, nicht einschlafen! Wir haben es bald geschafft, dann kannst du meinetwegen noch an Ort und Stelle pennen gehen. Ich trag‘ dich auch zurück in die Stadt, abgemacht?“ „Ich kann … kaum …“ Samira beendete den Satz nicht, sondern kämpfte darum, ihre Augenlider offen halten zu können. „Jetzt mach nicht schlapp! Wir sind jeden Moment da! Ihr Götter, sonst hast du doch auch immer so eine große Klappe!“ Das Mädchen ging gar nicht auf die Provokation ein. Stattdessen brabbelte sie vor sich hin. „Wir sollten landen … wenn ich nicht mehr kann, dann kann Kiarna auch nicht … zu gefährlich …“ „Oh nein, wir bleiben in der Luft, bis wir das Tal der Könige erreicht haben, hast du mich verstanden?“, entgegnete Marlic gereizt. „Was ist eigentlich dein Problem?“, grummelte es von der gegenüber liegenden Klaue zurück, während sich die Schattentänzerin erschöpft über das Gesicht fuhr. „Wir wissen ja jetzt, wo das Relikt ist … wir können es auch einfach morgen holen …“ „Vergiss es! Wir holen dieses Ding hier und heute! Sonst schwingst du doch immer große Reden von wegen wir dürften keine Zeit verlieren! Dann halt‘ dich jetzt gefälligst auch dran! Wenn ich etwas noch mehr hasse, als Moralapostel, dann Moralapostel, die sich nicht mal an ihr eigenes Wort halten können!“ „Caesian ist weit weg …“ „Noch! Hast du in den letzten paar Tagen etwas von den Anderen gehört, hm? Nein, ebenso wenig, wie ich. Wir wissen überhaupt nichts über die derzeitige Lage, denn wir haben die letzten paar Sonnenläufe damit zugebracht, durch den Dreck von zwei Nekropolen zu kriechen! Und jetzt da sich dieser ganze Scheiß endlich auszahlt, willst du kneifen? Wir sind außerdem noch nicht mal sicher, dass wir diesmal richtig liegen! Was, wenn wir uns wieder getäuscht haben und noch woanders hin müssen?“ „Dann brauch‘ ich trotzdem erstmal Ruhe …“ Marlic gingen die Ideen aus. Egal, was er tat, Samira sprang nicht darauf an. Es half kein nettes Bitten, kein Drohen und auch kein Beleidigen. Die Erschöpfung war scheinbar stärker als ihr hitziges Gemüt, da sie sich besonders die letzten beiden Varianten für gewöhnlich nie hätte gefallen lassen. Sonst war er ein vollkommener Meister darin, die Menschen in seiner Umgebung zu seinen Gunsten zu manipulieren, doch hier schien er kläglich zu scheitern. Eine leise, zischende Stimme meldete sich in seinem Kopf. Ich könnte ihr wehtun … Das könnte helfen, sie vom Land der Träume fern zu halten … Damit du sie am Ende komplett erledigst? Du bist nicht gerade für dein Feingefühl bekannt, Des‘. Außerdem kann ein Blinder sehen, dass wahrscheinlich schon der kleinste Blutverlust für ihren Körper zu viel wäre. Die Kleine ist durch. Also halt‘ gefälligst die Klappe, wenn du nichts Sinnvolles beizutragen hast und lass das wen machen, der weiß, was er tut! Tse … weil das bislang so wunderbar Früchte getragen hat … Schnauze jetzt! Marlics Denkvermögen arbeitete auf Hochtouren. Es musste einen Weg geben, sie zum Umdenken zu bewegen. Immer wieder wanderte sein Blick nervös zur Sonne hinauf. Wenn sie ihren Weg jetzt unterbrachen, dann würden sie frühestens morgen in der Lage sein, nach dem Relikt zu suchen – ein Umstand, den sie sich nicht leisten konnten. Erstens war noch nicht gesagt, dass sich das Artefakt wirklich dort befand, wo sie es vermuteten. Diese Gewissheit würden sie erst erlangen, wenn sie es mit eigenen Augen sahen. Zweitens wollte er dieses verdammte Teil jetzt haben, damit er sich dann guten Gewissens nochmal Entspannen konnte, ehe er in der entscheidenden Schlacht fit sein musste. Und das würde er nicht können, wenn er nicht sicher sein konnte, dieses blöde Ding aufgetrieben zu haben! Was, wenn der Pharao sie einholte, bevor sie einen Erfolg vorweisen konnten? Diese Schmach, nicht auszudenken! Dann kam ihm schlagartig eine Idee und er schlug sich die Hand gegen die Stirn. Dass er da nicht schon früher drauf gekommen war! „Hey, Weib! Huhu, hier drüben!“, versuchte er, die kümmerlichen Reste ihrer Aufmerksamkeit auf sich zu richten. Ihre matten Augen wandten sich ihm zu. „Lass mich in Ruhe … wir landen bei Theben, wenn du dich beeilst, kannst du es vielleicht noch ins Tal schaffen … mit einem Pferd vielleicht …“ „Nichts da! Bei den Göttern, hast du dich eigentlich schon einmal gefragt, was dein Clan von dir halten würde, würde er dich so sehen?“ „Die sind mir egal …“ Ein feixendes Grinsen schlich sich auf Marlics Züge. „Ist das so …? Risha etwa auch?“ In Samiras Augen blitzte es kurz auf, dann wandte sie sich ab. „Die ist nicht hier … kommt vielleicht nie wieder …“ „Gut möglich. Aber was, wenn doch? Was wenn sie zurückkommt und rausfindet, dass du versagt hast? Dass du deine Erholung über ein göttliches Relikt gestellt hast, hm? Meinst du, sie könnte es nachvollziehen? Oder würde sie vielmehr toben, weil du dich hast gehen lassen? Ich meine … glaubst du wirklich, sie würde so handeln wie du, wenn eure Rollen vertauscht wären?“ Es herrschte Stille. Drückende Stille. Marlic rang sich einen Moment Geduld ab. Wenn sie nicht gleich halbherzig zurückpampte, bedeutete das, dass sie sich seine Worte durch den Kopf gehen ließ. Diese Vermutung wurde nur kurz darauf bestätigt, als Kiarnas Stimme erklang. „Sam? Was ist nun? Soll ich vor Theben landen?“ Die Kleine war sich in ihrer Entscheidung also tatsächlich nicht mehr sicher! Die Sekunden zogen dahin, fühlten sich an wie eine Ewigkeit. Dann schüttelte Samira schwach den Kopf. „Flieg zum Tal der Könige … aber beeile dich …“ Marlic grinste breit und verkniff sich ein Jubeln. Samira rutschte matt von den Klauen ihrer Ka-Bestie, kaum da diese gelandet war. Das Monster verschwand nur einen Wimpernschlag später in ihrer Seele, um sie nicht noch weiter zu belasten. Marlic indessen wartete nicht, sondern sprintete sofort tiefer in das Tal der Könige hinein. Die Sonne würden jeden Moment ihren Zenit erreicht haben. Seine Augen wanderten unablässig über die gewaltigen Felshänge, die ihn zu beiden Seiten umgaben. Schließlich rief er seine Ka-Bestie herbei. „Mach dich nützlich“, wies er sie an. „Acht Augen sehen bekanntlich mehr als zwei. Die Sonne wird nicht lange an ihrem höchsten Punkt stehen. Wir haben nur ein kurzes Zeitfenster, um dieses verdammte Relikt zu finden und das Tal ist riesig. Du schreist sofort, wenn du irgendetwas siehst.“ Marlic gab es nur ungern zu, aber er war angespannt. Die Möglichkeit, dass sie falsch lagen, bestand weiterhin. Vielleicht waren sie vergeblich hierher zurückgekehrt. Ebenso war denkbar, dass sie das Artefakt schlicht und ergreifend übersehen würden. Es gab in den Felshängen hunderte, vielleicht gar tausende Plätze, die sich eignen würden, um etwas so Wichtiges vor den Augen der Menschheit zu verbergen. Immer wieder wanderte sein Blick zum Firmament. Es konnte nicht mehr lange dauern. Er war so fixiert, dass er nicht hörte, wie sich ihm schlurfende Schritte näherten. Samira hatte mit letzter Willenskraft beschlossen, dass ihr Körper noch auf seinen wohlverdienten Schlaf würde warten müssen, bis sich all die Strapazen endlich auszahlten – wenn sie es denn tun würden. Ansonsten hatte sie nur noch einen Grund mehr, sich unter einer Decke zu verkriechen. Dann war es so weit. Die Sonne erreichte ihren höchsten Punkt. Fast nirgendwo waren mehr Schatten zu sehen. Marlic drehte sich um sich selbst, blickte überall und nirgendwo hin. Sie durften nicht falsch liegen. Sie würden es niemals schaffen, das Relikt vor Caesians Eintreffen zu bergen, wenn sie sich geirrt hatten. Einmal, wenigstens einmal mussten ihm die Götter doch wohlgesonnen sein! Doch egal, wohin er auch sah, da war nichts. Kein verräterisches Funkeln, kein verdächtiges Schimmern. Nichts, das auf etwas hinwies, das nicht aus Staub oder Stein bestand. Er ballte die Hände zu Fäusten. Das durfte nicht wahr sein! Was hatten sie diesmal übersehen? Was falsch interpretiert? Oder war ihnen vielleicht gar jemand zuvor gekommen? Er wusste es nicht. Er war mit seinen Einfällen am Ende. Ihm war nicht klar, wie es von hier aus weitergehen sollte. Wenn die Sonnenscheibe des Ra nicht hier war, wo sollte sie sonst verborgen sein? Sie würden ihr halbes Leben brauchen, um die anderen Nekropolen in Ägypten zu durchsuchen! Verflucht, war das Glück denn nie mit ihm? Wo waren diese scheiß Götter, wenn man einmal ihren Segen brauchte? Hatte denn noch nicht einmal Ra, dessen Bestie er einst kontrolliert hatte, Erbarmen mit ihm? Es schien nicht so. Frustriert sank er in den Sand. Er wollte am liebsten etwas zerstören. Einen Felsen, dieses Tal, ach, dieses ganze beschissene Land! Seine Augen wanderten noch einmal zum Himmel. Er blinzelte gegen das Sonnenlicht. „Ich schwöre, sollte ich dich jemals in die Finger bekommen, du Drecksack, dann …“ Er brach ab, als er etwas im Augenwinkel wahrnahm. Sofort ruckte sein Kopf herum. Doch da war nichts. Scheinbar sah er jetzt schon Gespenster … Und dann war es plötzlich wieder da! Ein schwaches Glimmen am oberen Rand eines Felshanges. Marlic erstarrte, doch entkam seiner Trance ebenso rasch wieder, wie sie ihn ereilt hatte. Nein, er täuschte sich nicht! „Des‘! Da oben!“, rief er seiner Ka-Bestie zu, die ein Stück entfernt stand und deutete in die gemeinte Richtung. Das Biest folgte seinem Fingerzeig und erkannte sofort, was er entdeckt hatte. Es stürmte zu der steinigen Wand hinüber und sprang diese Stück für Stück mit Hilfe seiner kräftigen Beine empor. Um den Halt nicht verlieren, nutzte es seine rasiermesserscharfen Krallen. Schließlich erreichte es sein Ziel. Unter einem letzten Aufbieten seiner Kräfte, zog sich das Monster über den Rand der Klippe – und fand sich Auge in Auge mit der Sonnenscheibe des Ra wieder. Langsam schritt es auf das Artefakt zu und betrachtete es. Eine glatte, leicht gewölbte Platte aus Gold, die von zwei Schlangen eingerahmt war, deren Köpfe sich am oberen Ende kreuzten. Zwischen ihnen saß ein Skarabäus. In der Mitte des Relikts wiederum prangte die Darstellung eines Falken, umgeben von strahlenförmigen Mustern. Es bestand kein Zweifel. Sie hatten die Sonnenscheibe des Ra gefunden. Des Gardius entriss das Relikt seinem Platz zwischen den Felsen, wandte sich zu seinem Träger am unteren Ende der Felswand um und hob es triumphierend in die Höhe. Marlic vermochte kaum in Worte zu fassen, was in diesem Moment in ihm vorging. Sie hatten es geschafft, sie hatten das Artefakt gefunden! Neben ihm plumpste Samira erleichtert in den Sand. Kapitel 54: Kein Entkommen -------------------------- Kein Entkommen Langsam brach die Nacht über Men-nefer herein. Während sich der Himmel allmählich zu einem dunklen Blau verfärbte, malten die letzten Strahlen der untergehenden Sonne ein kräftiges Rot an den Rand des Firmaments. Kisara stand an dem kleinen, vergitterten Fenster, das zu ihrem Gefängnis gehörte. Die Arme hatte sie zum Schutz vor der kalten Luft, die herein drang, eng um den Körper geschlungen. Dennoch fröstelte sie. Am vorigen Tag hatte sie die zahllosen Soldaten auf den Straßen deutlich hören können. Es bestand kein Zweifel: Caesian hatte seine Truppen zusammengezogen und war aufgebrochen. Wohin wusste sie nicht. Doch ihr war klar, dass dies nichts Gutes zu bedeuten hatte. Sie seufzte und schloss die Augen. Es war, als hätten die Götter ihn zur Strafe geschickt. Wie vor langer Zeit einst die Göttin Hathor, die sich am Blut der Menschen gelabt hatte, nachdem diese Ra abtrünnig geworden waren. Ihre Gedanken wanderten zu Seto. Scheinbar hatte Caesians Plan keinen Erfolg gehabt. Der Hohepriester war bislang nicht in der Stadt erschienen, daran glaubte sie fest. Ansonsten hätte man sie in der Zwischenzeit aus diesem Zimmer geholt, beispielsweise um ihm zu zeigen, dass all dies nicht erlog war, dass sie wirklich lebte – oder um sie zu beseitigen, weil sie ihren Zweck erfüllt hatte. Da es bisher nicht dazu gekommen war, ging sie davon aus, dass sie richtig lag. Ein Gedanke, der sie mehr als beruhigte. Das bedeutete nämlich, dass er den Klauen dieses Monsters noch nicht zum Opfer gefallen war. Sie konnte nur hoffen, dass es dabei blieb und er sich nicht von seinen Gefühlen, sondern von seinem Pflichtbewusstsein treiben ließ. Wobei ... Wer sagte denn, dass er sie überhaupt noch liebte? Es war einige Zeit seit ihrem Tod vergangen. Wäre es da nicht möglich, dass er sein Herz inzwischen einer Anderen geschenkt hatte? Hatte er vielleicht gar Kinder? Kisara ängstigte der Gedanke. Zugleich würde sie es ihm um nichts in der Welt verübeln. Wenn er glücklich war, war das gut. Sie war tot gewesen, daran gab es nichts zu rütteln. Sie hätte nicht gewollt, dass er den Rest seines Lebens in Trauer verbrachte. Wenn ihre Überlegungen zutrafen, dann würde sie damit leben können. Doch im Augenblick wollte sie nichts mehr, als an seiner Seite sein, sich vergewissern, dass ihm niemand geschadet hatte. Darüber hinaus wollte sie ihn nicht in Schwierigkeiten bringen – etwas, das nach wie vor eintreten konnte. Ja, Kisara hatte nie viel Selbstvertrauen gehabt, doch irgendetwas sagte ihr, dass Seto – gleich ob inzwischen vermählt oder nicht – sie nicht länger als nötig in Caesians Händen lassen würde. Denn wenn sie schon nichts anderes waren, dann waren sie wenigstens Freunde. Sie war eine seiner Schwachstellen und diesen Umstand musste sie, so schnell es ihr möglich war, ändern. Deshalb hatte sie einen Entschluss gefasst. Sie würde das Wagnis eingehen und versuchen, in der heutigen Nacht zu fliehen. Ihr war bewusst, dass dieses Unterfangen ohne eine Ka-Bestie nicht leicht werden würde, doch sie musste es wenigstens probieren. Sie konnte nicht einfach nur tatenlos herumsitzen und darauf hoffen, dass jemand kam und sie befreite, wenn so viele andere Menschen da draußen waren und Caesian tapfer die Stirn boten. Sie hatte lange überlegt, wie sie es anstellen konnte und hatte schließlich entschieden, dass die wenigen Augenblicke, in denen sich abends die Türe öffnete, wenn ihr jemand Brot und Wasser brachte, die einzige Chance waren, die sie nutzen konnte. Was sich allerdings problematisch gestalten könnte, war der Umstand, dass die Wache, die ihr Nahrung brachte, zumeist nicht mehr als ein, zwei Schritte in den Raum hinein trat, ihr das Essen auf dem Boden abstellte und sofort wieder verschwand. Sie würde also schnell sein müssen, wenn sie ihn überlisten wollte. Doch das sollte zu schaffen sein. Was ihr an Kraft fehlte, glich sie durch Wendigkeit und schnelle Beine aus. Doch genau hier hatte das Problem zunächst gelegen. Ja, sie war flink, aber wie konnte sie einen geübten Soldaten überrumpeln? Sie hatte das Zimmer akribisch abgesucht, doch man hatte darauf geachtet, was man ihr hinein stellte. Es gab nichts, das sie als Waffe hätte benutzen können. Dann war ihr der Einfall gekommen, das einzig wirklich Gefährliche in diesem Raum zu gebrauchen: Auf dem kleinen Tisch neben dem Bett stand eine Kerze. Kisara hatte sie in den letzten Nächten so geformt, dass sich möglichst viel Wachs in ihrem Kelch sammeln würde. Sie hatte vor, die heiße Flüssigkeit auf den nichts ahnenden Wachmann zu schütten, sobald er hereinkam, und dann den Augenblick der Überraschung zu nutzen, um an ihm vorbei zu huschen. Anschließend würde sie einen Weg aus dem Palast herausfinden müssen, ohne gleich wieder aufgegriffen zu werden – was wohl den schwierigsten Teil ihres Unterfangens darstellte. Zum einen kannte sie die gewaltige Anlage nicht, zum anderen würden ihr dutzende Soldaten auf den Fersen sein. Sie wusste, dass sie Wahrscheinlichkeit, dass sie scheiterte, erdrückend hoch war. Und dennoch musste sie es versuchen. Schritte auf dem Flur vor dem Gemach, in dem sie eingeschlossen war, rissen sie aus den Gedanken. Es war Zeit. Eilig huschte Kisara zu der Kerze hinüber, die sie schon vor einiger Zeit mit zwei kleinen Feuersteinen entfacht hatte. Man hatte sie in ihrem Gefängnis belassen, damit sie nachts nicht im Dunkeln sitzen musste. Behutsam hob sie das lichtspendende Stück Wachs von dem Untersetzer, auf dem es steckte und tapste zur Tür hinüber. Sie drückte sich an die Wand direkt neben der Klinke und lauschte. Die Schritte kamen näher, dann hörte sie Stimmen. Es war immer die Wachablösung, die ihr Essen brachte. Gewöhnlich ließen sich der, der seine Schicht antrat, und jener, der sie bereits hinter sich hatte, einen Moment zum Plaudern, ehe sie sich trennten, einer seiner wohlverdienten Ruhe entgegen, der Andere nach dem Schlüssel kramend, um die Tür aufzuschließen, die sie gefangen hielt. Heute fühlten sich diese wenigen Augenblicke belanglosen Geplänkels an wie eine Ewigkeit. Kisaras Herz raste. Sie hatte nur diese eine Chance. Sie musste es schaffen. Sie musste diesem Ort entrinnen und Seto finden, um jeden Preis. Sie zwang sich zur Ruhe. Nervosität würde ihr nicht nützen – und dennoch vermochte sie nicht, sich gänzlich zu beruhigen. Es stand zu viel auf dem Spiel. Dann endlich hörte sie, wie sich die beiden Männer draußen voneinander verabschiedeten. Kurz darauf erklang das Klimpern von Schlüsseln an einem Bund, die gegeneinander schlugen. Jeden Moment würde das Schloss geöffnet, die Tür aus dem Rahmen gedrückt werden. Ein Mann würde im Durchgang erscheinen – und dann musste sie schnell sein. Dann geschah alles ganz plötzlich. Der Schlüssel drehte sich im Schloss, die Tür schwang auf und herein kam der Wachmann mit einem Tablett. Kisara zögerte nicht. Ehe er sie bemerkt hatte, hatte sie ihm bereits das heiße Wachs aus dem Kerzenstumpf ins Gesicht gespritzt. Der Mann jaulte vor Schmerzen auf, ein Teil der rasch erstarrenden Flüssigkeit verklebte seine Augen, während die junge Frau an ihm vorbeisprang und den Flur hinab hastete. Das Tapsen ihrer nackten Füße auf dem steinernen Boden hallte von den Wänden wieder. Nur für den Bruchteil eines Augenblicks hielt sie am Ende des Ganges inne, um sich zu orientieren, dann rannte sie nach links. Sie glaubte, aus dieser Richtung einen schwachen Luftzug gespürt zu haben – das bedeutete, irgendwo dort gab es einen Ausgang. Sie setzte ihren Weg fort, entschlossen, das Stechen in ihren Seiten ignorierend. Sie wusste, dass sie noch längst nicht in Sicherheit war, doch schob den Gedanken beiseite. Es musste funktionieren. Eine weitere Gabelung wartete am Ende des Korridors auf sie. Auch hier nahm sie sich einen Moment, um sich zurecht zu finden. Dann entdeckten ihre Augen, wonach sie gesucht hatte: Zur ihrer Rechten, an der Stirn eines langen Flures, war ein Fenster. Sie überlegte nicht lange und sprintete darauf zu. Noch war die Zeit auf ihrer Seite. Doch das würde sie nicht ewig so sein. Bald würde sich der Wachmann von ihrem Angriff erholt haben und andere Soldaten benachrichtigen. Dann würden die Besatzer ihr, und ihr allein auf den Fersen sein. Sie erreichte das Ende des Ganges und kam schlitternd zum Stehen. Als sie hinaus blickte, erstreckte sich nicht, wie erhofft, der Vorhof des Palastes unter ihr. Stattdessen wiegten sich dort die Palmen des Palastgartens in der abendlichen Brise. Ihr wurde klar, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie hier herauskommen sollte. Nie zuvor hatte sie die gewaltigen Anlagen, die dem Pharao, seinem engsten Kreis und seinen Bediensteten vorbehalten waren, je betreten. Aber sie konnte hoffen – hoffen, dass dieser Garten irgendwo an eine der Außenmauern des Geländes grenzte. Als sie laute Stimmen irgendwo in dem Labyrinth aus Korridoren hinter sich vernahm, überlegte sie nicht mehr länger. Sie befand sich gerade einmal einen Flur über dem Boden. Sie setzte sich auf die Fensterbank, schwang ihre Beine darüber und sprang hinab. Sie landete auf der satten, grünen Grasfläche darunter. Der Aufprall verletzte sie nicht, ließ sie aber dennoch kurz gequält aufkeuchen. Schnell rappelte sie sich auf und sah sich um. Nirgendwo war auch nur eine Menschenseele zu sehen. Doch die Stimmen aus dem Palast wurden lauter, zahlreicher. Die Palastwachen wussten von ihrer Flucht. Sie musste sich verstecken, ehe sie entdeckt wurde. Sie erspähte einen großen Hibiskusbusch, der im Schutz einer Dattelpalme deren Stamm umwucherte, und eilte hinüber. Schnell verschwand sie darin und kauerte sich gegen den Baum. Sie konnte nur beten, dass ihr weißes Haar sie im Licht des Mondes nicht verraten würde. Unruhig wanderten ihre Augen umher. Sie musste einen Weg finden, hier herauszukommen. Doch alles, was sie zu sehen vermochte, waren das Grün der Gartenanlagen und das Ocker der sie umgebenden Sandsteinmauern, deren Farben unter dem nächtlichen Himmel an Kraft verloren hatten. Ihr Blick fiel auf die Freigänge, die an den Rändern der Gärten verliefen. Sie mussten irgendwo hinführen. Doch sie würden ihr keinen Schutz bieten – wenn sie auf einen Wachtrupp stoßen sollte, war es aus. Sie zuckte zusammen, als zwei Stimmen ganz in ihrer Nähe erklangen. „Hast du sie?“, zischte eine von ihnen. „Nein. Es ist, als habe sie sich in Luft aufgelöst. Vielleicht stimmt, was man über sie sagt, dass sie kein normaler Mensch ist …“, erwiderte eine Zweite. Eilige sah sich Kisara um – und entdeckte die beiden Wachen. Sie standen in einem der Freigänge. Ihrer Aussprache nach zu urteilen, handelte es sich bei einem von ihnen um einen Ägypter, während der Andere denselben schweren und gänzlich fremden Akzent hatte, wie viele der Besatzer, wenn sie die Zunge dieses Landes verwendeten. „Hör auf Unsinn zu reden und mach dich gefälligst nützlich! Wir müssen sie finden, ehe seine Hoheit von ihr erfährt. Caesian wäre darüber alles andere als erfreut, er würde uns wahrscheinlich köpfen lassen! Setz‘ die Anderen am Haupttor in Kenntnis, sie sollen ihren Arsch hier rüber schwingen und uns helfen!“ „Aber wenn das Tor unbewacht ist, könnte sie entkommen.“ „Das Weib will ich sehen, das vermag, dieses Tor alleine zu öffnen. Lass meinetwegen zwei von ihnen zurück, aber setz‘ dich endlich in Bewegung, verdammt nochmal! Wir haben keine Zeit, begreifst du das nicht?“ Sie sah, wie der Erste seinem Kumpanen einen kräftigen Stoß gab, woraufhin dieser dann tat, wie ihm gesagt worden war. Er eilte davon, so schnell ihn seine Beine trugen – und offenbarte der im Gebüsch kauernden Kisara damit den Weg, den sie einschlagen musste, um aus der Palastanlage zu fliehen. Der Andere verschwand ebenfalls. Die junge Frau machte sich so klein wie möglich und überlegte. Zwei Wachen würden am Tor auf sie warten. Was hatte sie diesen entgegen zu setzen? Nichts. Doch je länger sie hier verweilte, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dass sie entdeckt wurde. Sie hatte gehört, wie einer der Männer gemeint hatte, es gäbe Gerüchte über sie, welche, die besagten, dass sie keine gewöhnliche Frau wäre. Vielleicht konnte sie sich die Angst dieser Leute irgendwie zu Nutze machen. Aber wie? Der weiße Drache hatte ihre Seele lange verlassen. Aber noch etwas beunruhigte sie. Das, was der erste Wachmann gesagt hatte. Wir müssen sie finden, ehe seine Hoheit von ihr erfährt. Caesian wäre darüber alles andere als erfreut, er würde uns wahrscheinlich köpfen lassen! Was hatte das zu bedeuten? Caesian hatte Kisara doch selbst einmal aufgesucht, er musste doch von ihr wissen? Hatte der Wachmann sich vielleicht nur undeutlich ausgedrückt, da das Ägyptische nicht seine Muttersprache war? Vor Schmerz und Schreck schrie sie auf, als sie plötzlich an den Haaren gepackt und aus ihrem Versteck gezogen wurde. Sie versuchte sich nach Leibeskräften zu wehren, konnte jedoch nicht verhindern, dass sie kurz darauf zu einem der Freigänge hinüber geschleift und zu Boden geworfen wurde. Als sie aufsah, stand ein Soldat über ihr, der seine Lanze drohend auf sie gerichtet hatte. Seiner guten Bekleidung nach zu urteilen, handelte es sich um ein hochrangigeres Mitglied der Armee. Es war aus. Sie hatte versagt. „Sieh mal einer an, wen wir da haben. Du dachtest wohl, du könntest entkommen, wie? Dreckige, kleine Schlampe …“ Kisara schenkte seinen Worten gar keine Beachtung. Ihr Blick war auf die Spitze seiner Waffe gerichtet. Es war aussichtslos. Sie würde niemals von hier fliehen können, ganz gleich, was sie auch tat. Nun bot sich ihr eine andere Möglichkeit. Sie brauchte sich nur nach vorne stürzen, sich in das Metall werfen. Dann würde sie in die Unterwelt, in dieses Leben, an das sie sich nicht mehr erinnern konnte, zurückkehren. Caesians Druckmittel wäre dahin … Und Seto würde leiden. Vielleicht, gewiss war sie sich dessen nicht. Doch alleine der Gedanke, dass sie der Grund dafür sein könnte, vertrieb die Gedanken an den Freitod augenblicklich. Nein, sie durfte nicht aufgeben. Sie mochten sie diesmal erwischt haben, doch sie würde ihren Klauen entrinnen. Irgendwie. Irgendwann. Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als der Soldat sie grob am Arm packte und auf die Beine zog. „Los jetzt, bringen wir dich dahin zurück, wo du hingehörst“, sagte er mit deutlicher Wut in der Stimme, die diesen allgegenwärtigen, fremden Akzent noch verstärke, der auch bei ihm deutlich herauszuhören war. Sie gehörte nicht in dieses Zimmer, diese Zelle! Sie wehrte sich, versuchte dem eisernen Griff des Wachmannes zu entkommen. Er wurde ihres Verhaltens bald müde. Abrupt ließ er sie los, holte aus und schlug ihr ins Gesicht. Erneut fand sie sich auf dem Boden wieder. Als die erste Benommenheit vorüber war, spürte sie, wie warmes Blut ihre Wange hinab rann. Er hatte ihr eine Platzwunde über dem rechten Auge zugefügt. An seinem Tonfall hörte sie, dass er nun erst recht wütend war. „Komm endlich, du abscheuliches …“ „Was geht hier vor sich?“ Der Soldat verstummte ob der neuen Stimme augenblicklich und fuhr herum. Kisara wusste nicht, weshalb. Sie hatte die Worte nicht verstanden, waren sie doch in dieser ihr fremden Sprache gesprochen worden, die Caesian mit ins Land gebracht hatte. Dennoch wandte auch sie sich nach dem Sprecher um – und erstarrte. Vom anderen Ende des Freiganges her kam eine Gestalt auf sie zugeschritten. Ihrer Stimmlage nach handelte es sich um einen Mann. Er trug lange, weiße Gewänder, die seinen gesamten Körper verbargen und aufwendig, jedoch nicht übertrieben bestickt waren. Auf seinem Gesicht saß eine metallene Maske. Die Augen waren das Einzige, was er von seinem Körper preisgab. Er wirkte wie ein Wesen aus einer anderen Sphäre. „Euer Hoheit? Was tut Ihr zu solch später Stunde noch hier?“, hörte sie den Soldaten in dieser ihr unbekannten Sprache fragen. „Ich gehe spazieren. Und was seid Ihr im Begriff zu tun, Hauptmann?“ Der Blick des Maskierten wanderte zu der zierlichen Gestalt Kisaras, die mit Angst in den Augen zurückblickte. „Majestät, es handelt sich bei ihr um eine Kriegsgefangene. Sie hat an der Seite der Ägypter Schreckliches in diesem Krieg getan.“ Taisans Augen verweilten noch eine Weile auf der jungen Frau, ehe er sich wieder dem Wachmann zuwandte. „Um welche Verfehlungen handelt es sich dabei?“ Sein Gegenüber reagierte schnell. Caesian hatte gewusst, weshalb er diesem Mann aufgetragen hatte, dafür zu sorgen, dass sein Bruder keinen Verdacht schöpfen würde. „Sie ist zur Wirkung von Magie fähig. Den besten Magiekundigen seiner Majestät ist es jedoch gelungen, sie zu bändigen. Sie hat versucht zu fliehen. Ich versichere Euch, ich bin lediglich so mit ihr verfahren, wie es die Situation gebot.“ „Und ihre Schuld ist erwiesen?“ „Gewiss, euer Hoheit.“ „Wer stellte sie fest?“ „Jene, die der Zauberei mächtig sind, euer Gnaden.“ „Und wer sind diese Magier, von denen Ihr sprecht?“ Der Soldat wurde unruhig. Er hatte nicht mit derart eindringlichen Fragen gerechnet. Taisan war gewiss für seine klugen, spezifischen Erkundigungen bekannt – dass er jedoch derartig neugierig sein würde, daran hatte er nicht geglaubt. Ach was, er hatte noch nicht einmal daran geglaubt, überhaupt in so eine Situation zu kommen! Dieses verfluchte Weibsbild! Er konnte keine Namen nennen, nicht wenn er nicht garantieren konnte, dass die betreffenden Personen noch rechtzeitig von einer solchen Lüge unterrichtet wurden, ehe der Maskierte sich direkt an sie wandte. „Das … ist mir nicht bekannt, mein König.“ Taisans Blick bohrte sich in den seinen. Nicht drohend, nicht gebietend, sondern forschend. „Wie könnt Ihr Euch dann sicher sein, dass die Wahrheit über sie gesprochen wurde? In dieser Welt sind die Menschen schnell mit ihren Urteilen. Glaubt nie etwas, das Ihr nicht mit eigenen Augen gesehen habt, mein Guter.“ Der Soldat schluckte – und spielte seine letzte Karte aus. „Das, was ich wiedergebe, Majestät, ist die Einschätzung Eures hochwohlgeborenen Bruders, seiner Hoheit König Caesians. Und dieser vertraue ich. Impliziert Ihr etwa, dass wir, die bereit sind für Seine Gnaden unser Leben zu lassen, seinem Urteil nicht vertrauen können? Denkt Ihr etwa, es geht hier nicht mit rechten Dingen zu?“ Es herrschte angespanntes Schweigen, während Taisans Augen noch einmal zu Kisara wanderten, die noch immer am Boden kauerte. Als er schließlich sprach, wirkten seine Worte in der Stille wie Fanfaren. „Nein. Verzeiht, ich gedachte nicht, Euch zu verunsichern, Hauptmann. Eure Loyalität ist lobenswert. Ihr habt natürlich Recht. Mein Bruder wird wissen, was er tut.“ Der Soldat verbeugte sich tief. „Ich danke Euch, mein Herr. Erlaubt Ihr mir, sie nun hinfort zu bringen?“ Taisan zögerte einen Augenblick, dann nickte er. „Gewiss.“ Er sah zu, wie der Hauptmann sich erneut verbeugte und die Frau auf die Füße zog, ehe er sie den Freigang hinab und um eine Ecke zerrte. Sie wehrte sich vergebens. Die Nacht war bereits weit fortgeschritten. Es würde nicht mehr lange dauern und der neue Tag würde sich erheben. Und dennoch fand er keine Ruhe. Seit geraumer Zeit wälzte sich Seto nun schon hin und her. Es gelang ihm nicht die Gedanken zu vertreiben, die ihn quälten. Immer wieder sah er ihr Gesicht, ihre großen, blauen Augen und ihr langes, weißes Haar, das sich stets so sanft in der kühlen Brise wiegte. Kisara … Er war über all die Jahre seines Lebens geübt darin geworden, seine Gefühle zu verbergen. Die Anderen, seien es nun der Pharao, dessen Freunde oder Riell, konnten lediglich vermuten, was ihn ihm vorging, denn er zeigte es nicht. Doch unter der ruhigen, beherrschten Oberfläche tobte ein Orkan aus Zweifeln, Wut – und Angst. Angst, die Frau, die einfach so in sein Leben getreten war und ihm auf unerklärliche Weise so viel bedeutete, erneut zu verlieren. Seit er von ihrer Auferstehung erfahren hatte, verging kein Moment, da er nicht an sie dachte. Sie war alleine, in den Klauen einer Bestie, die mit ihr tun würde, was immer es brauchte, um ihr Ziel zu erreichen. Wer wusste, was Caesian ihr bereits angetan hatte? Es bestand kein Zweifel, dieses Monster hatte erwartet, dass Seto kommen würde, um Kisara zu retten. Ansonsten hätte er ihn nicht explizit von ihrer Wiedergeburt unterrichtet. Doch welche Auswirkungen hatte es gehabt, dass er nicht nach Men-nefer zurückgekommen war? Behielt er sie vielleicht in der Hinterhand, um sich wenigstens gegen ihn abzusichern zu können, den Hohepriester, der bis vor kurzem noch auf dem Thron des Landes gesessen hatte und im Fall von Atemus Tod wieder sitzen würde? Oder hatte er sie entsorgt, wie ein Ding, das nicht mehr von Nutzen war? Lebte sie noch – oder war sie schon tot? Die Gedanken waren quälend, rannen wie Gift durch seine Adern und drohten, in seines Verstandes zu berauben. Mehr und mehr drängte etwas in seinem Inneren ihn dazu, auf der Stelle umzukehren. Mit jedem Schritt, den er sich von der Hauptstadt des Landes entfernte, wuchs der Drang, war schwerer und schwerer zu ignorieren. Bislang hatte er dem standgehalten, wusste jedoch nicht, wie lange er dazu noch in der Lage sein würde. Die Ungewissheit machte ihn wahnsinnig. Sein Pflichtbewusstsein, der Eid, Ägypten zu beschützen, war alles, was ihn noch hier hielt. Doch die Kraft dieses Schwurs ließ mit jedem Sonnenlauf weiter nach. Zunehmend gebot ihm eine Stimme, anfangs leise, dann immer lauter, seinen Ängsten nachzugeben – sich ein Pferd zu nehmen und den Rückweg anzutreten, so schnell er nur konnte. Es würde kein Problem sein. Riell war da, er würde die Anderen sicher nach Theben bringen. Er kannte den Weg und war ein fähiger Mann. Und sollte es zur finalen Schlacht zwischen Caesian und dem Land kommen, er würde ohnehin nichts ausrichten können. Das hatte er schon einmal einsehen müssen. Der Einzige, der das vermochte, war der Pharao. Warum also bleiben? Wozu sich der Qual aussetzen, sie durchleiden, wenn alles, was es zur Linderung dieses unsäglichen Schmerzes brauchte, Gewissheit war? Er kniff die Augen zusammen und schüttelte energisch den Kopf. Nein. Es stimmte, die Ungewissheit ließ ihn fast verrückt werden. Alles was er wollte, war zu erfahren, was die Wahrheit war und was nur die Ausgeburt seiner angsterfüllten Fantasien – oder ob es tatsächlich so grausam um Kisara stand, wie er sich ausmalte. Doch er durfte, er konnte nicht zurück. Er wäre vielleicht in der Lage, das Leben eines Menschen zu retten – aber eventuell opferte er damit im Gegenzug das ganze Land. Es wäre möglich, dass er für einen Genozid in Ägypten mitverantwortlich war, wenn er nun verschwand. Caesian würde ohne Gnade jeden töten, die Freiheit verbannen und das Volk versklaven. Jeder, der zur Verfügung stand, musste sich ihm mit allen Mitteln entgegensetzen. Hinzu kam der Umstand, dass es fatale Auswirkungen haben konnte, wenn Atemu ohne den ranghöchsten Priester und bisherigen Pharao in Theben erschien. Je stärker sie wirkten, desto mehr Menschen würden sich ihnen im Kampf um die Freiheit anschließen. Am liebsten hätte er geschrien. Die Zerrissenheit in seinem Inneren brachte ihn an den Rande des Wahnsinns. Das Einzige, was ihm noch ein wenig Ruhe bescherte, waren die Stunden, in denen er vor Erschöpfung einschlief. Doch auch sie waren geplagt von Alpträumen der schlimmsten Sorte. Sie waren da, seit er davon erfahren hatte, dass sich Kisara in den Klauen des Feindes befand – und immer waren sie bildlich, wirkten quälend real. So wie in dieser Nacht. Sein Blick lag auf dem nächtlichen Theben, über dem der Mond hell am Himmel stand. Ein zufriedenes Grinsen zierte seine Züge, wenn er nicht gerade einen Schluck aus dem Weinbecher nahm, den er in Händen hielt. Er hätte es wohl nicht zugegeben, hätte man ihn gefragt, doch er genoss den Moment der Ruhe. Wie er so hier stand, auf einem Balkon des Palastes von Theben, nach einer anständigen Mahlzeit und einem halben Krug vorzüglichen Weines, während der kühle Abendwind einen angenehmen Kontrast zu der Hitze des vergangenen Tages bildete … ja, es war erholsam. Nicht, dass er es sich nicht verdient hätte. Sein Blick wanderte zu dem göttlichen Relikt, das auf einem Beistelltisch lag. Das Licht des Mondes spiegelte sich schwach darin. Wozu dieses Ding wohl fähig war? Er grübelte darüber nach, während er einen weiteren Zug vom Alkohol nahm. Ra wurden zahlreiche Attribute und Fähigkeiten zugesprochen. Welche Fähigkeiten er wohl in diesem Gegenstand versiegelt haben mochte? „Gewöhne dich nicht zu sehr an den Anblick“, riss ihn plötzlich eine Stimme aus den Gedanken. Als er sich umwandte, erkannte er, dass Mana den Raum betreten hatte. Er schnaubte. „Hat man dir nicht beigebracht, dass man anklopft?“ „Das habe ich“, erwiderte die Magierin, während sie langsam näher trat. „Aber scheinbar warst du so in Gedanken versunken, dass du es nicht gehört hast – oder du hast mich ignoriert. Eines von beiden wird wohl zutreffen.“ Sie trat an den Tisch heran und musterte das göttliche Relikt einen Moment lang, ehe sie sich wieder an Marlic wandte. „Wir haben entschieden, was damit geschehen soll. Wir werden es in den Schatzkammern verbergen. Ich bezweifle zwar, dass wir Caesian etwas vormachen können, sollte es uns nicht gelingen, ihn vor der Stadt zu halten, doch vielleicht können wir wenigstens seine Schergen täuschen, sollten sie unsere Verteidigung durchbrechen. Ich werde die Eingänge zusätzlich mit Magie verstärken, das sollte uns im Zweifel Zeit verschaffen.“ Marlic gab ein abfälliges Geräusch von sich. „Du hast ein Vertrauen in deinen Pharao … Da bekommt man ja beinahe das Gefühl, wir könnten diesen Krieg tatsächlich gewinnen.“ „Ich halte mich lediglich an die Realität. Es hilft nichts, sich etwas vorzumachen. Caesian ist eine Bedrohung, die wir ernst nehmen müssen. Alles andere könnte fatale Folgen haben.“ Sie seufzte schwer, ehe sie in einem Stuhl Platz nahm. „Zumal es seit dem Fall Men-nefers alles andere als gut für uns aussieht.“ Der ehemalige Geist musterte sie kurz, ehe er den Blick wieder zum Tal der Könige hinüber schweifen ließ, das um diese Zeit in vollkommener Dunkelheit da lag. „Ruhig Blut, Kleines. Der Kerl kriegt, was er verdient. Niemand pisst mir ungestraft ans Bein.“ Mana fand die Redewendung seltsam, zudem überaus obszön, ging jedoch darüber hinweg. Sie schwieg einen Moment, ehe sie wieder zu sprechen anhob. „Es sieht aus, als müsse ich mich wohl bei dir entschuldigen“, sagte sie schließlich. Auf Marlics verdutzten Blick hin fuhr sie fort: „Ich hatte ehrlich gesagt nicht geglaubt, dass du das Relikt zurückbringen würdest. Ich hatte vielmehr vermutet, du würdest es dir unter den Nagel reißen und dann verschwinden. Immerhin hätte Samira dich nicht aufhalten können. Kiarna mag ein furchteinflößendes Monstrum für einen normalen Menschen sein, doch nicht für jemanden, dessen Ka weitaus älter und erfahrener ist. Aber du hast mich eines besseren belehrt. Scheinbar habe ich mich getäuscht, was meinen Eindruck von dir anging …“ „Hast du nicht“, unterbracht Marlic sie, ehe sie fortfahren konnte. Er nahm den letzten Schluck Wein und wandte sich dann gänzlich zu ihr um. „Ich bin ein Arschloch und verdammt stolz darauf. Aber ich bin nicht blöd. Das Ding“, meinte er mit einer Geste in Richtung des göttlichen Relikts, „verursacht vermutlich nichts als Ärger. Davon aber eine Menge. Man müsste schon gänzlich hirntot sein, um den Einsatz dieser Artefakte für eine gute Idee zu halten. Dass ich das Teil geholt habe, bevor es dieser Irre tun kann, hat nichts mit irgendeiner Sinneswandlung meinerseits zu tun. Dein Pharao steht weiterhin ganz oben auf meiner Liste zu beseitigender Personen – ebenso wie jeder, der sich mir dabei in den Weg stellt. Und selbst, wenn’s nicht so wäre, Kleines, würden wir keine Freunde werden. Dafür bin ich zu cool.“ Mana sah ihn einen Moment lang verdutzt an, dann schmunzelte sie. Kurz darauf erhob sie sich und nahm das Relikt. „Den Göttern sei Dank. Und ich hatte schon Angst, ich müsse mein Bild von dir ernsthaft überdenken. Nett, dass du mir die Mühe erspart hast.“ „Immer wieder gerne.“ Damit ging die Magierin und ließ Marlic alleine zurück, dessen Züge ebenfalls ein leichtes Schmunzeln zierte. Kapitel 55: Trachten -------------------- Überall war Schmerz. Das war die erste Wahrnehmung, die sich durch den Nebel der Ohnmacht bis an ihr Bewusstsein vorkämpfte. Dann Hitze. Unsägliche Hitze, die wie ein Nadelkissen auf sie niederstach. Ihr war übel. Ihre Kehle brannte und schrie nach Wasser. Ihre Lider waren schwer, so unglaublich schwer. Es kostete alle Kraft, sie nur ein Stück weit zu öffnen. Doch auch dann sah sie nichts als braun-gelbliche Schleier. Sie versuchte, den Kopf zu heben, doch scheiterte. Sofort begann sich alles zu drehen. Irgendwann realisierte sie am Rande ihres Bewusstseins, dass sie sich bewegte. Allerdings nicht sie selbst, irgendetwas bewegte sie. Was, bei den Göttern, war nur los mit ihr? Warum fühlte sie sich derartig seltsam? Woher kamen die Schmerzen, der Schwindel, ihr getrübtes Denk- und Sehvermögen? Kaum, da sie sich die Fragen gestellt hatte, entglitten sie ihr wieder. Sie bekam kaum mit, dass das Trampeln von Pferdehufen um sie herum plötzlich verstummte und jemand neben sie trat. Erst, als man in ihr Haar griff, ihren Kopf herumriss und ihr Flüssigkeit in den Mund kippte, bemerkte sie überhaupt, dass etwas geschah. Aus einem Reflex heraus trank sie, nur um im nächsten Moment zu würgen. Sie kannte diesen Geschmack, wusste jedoch nicht woher. Sie assoziierte nichts Gutes mit ihm, aber wieso? Doch noch ehe sie Anstalten machen konnte, das Zeug auszuspucken, hielt man ihr den Mund zu. Sie wollte sich wehren, doch hatte keine Kraft. Irgendwann konnte sie den brennenden Geschmack auf ihrer Zunge nicht mehr ertragen und schluckte. Der Griff in ihren Haaren lockerte sich und ihr Kopf sackte schlapp zurück. Verschwommen nahm sie noch eine Bewegung im Augenwinkel wahr, dann überkam die Ohnmacht sie erneut. Ein kollektives Aufatmen ging durch die Gruppe aus Menschen und Ka-Bestien, als sie in der Mittagshitze den Kamm einer Düne erklommen und endlich, nach einem langen und strapazierenden Marsch, die Umrisse einer Stadt am Horizont erkennen konnten. Sie hatten es bald geschafft – spätestens am Abend würden sie Theben erreichen. „Mein Gott, endlich! Und ich hatte schon befürchtet, wird würden die Stadt niemals erreichen, bevor wir in dieser verdammten Wüste davon geschmolzen sind!“, rief Joey freudig aus. „Wo du Recht hast …“, pflichtete Tea ihm mit einem erschöpften Lächeln bei. „Ein Glück.“ „Kein ewiges Gelatsche mehr, Schatten …“, führte Tristan weiter aus. „Und das Wichtigste: Endlich wieder etwas Anständiges zu essen!“, fügte sein blonder Kumpane hinzu. „Du denkst wirklich ausschließlich mit deinem Magen, oder?“, merkte Duke an. „Hey, jetzt tu nicht so, als würden dir Trockenobst und hartes Brot nicht auch langsam zum Hals raushängen!“, konterte Joey prompt. „Also ich freue mich ja vielmehr darauf, mal nicht auf Sandboden schlafen zu müssen – und wenn es stattdessen nur ein Lager aus Stroh ist“, warf Tea in die Runde und streckte sich. „Freut euch nicht zu früh“, erklang Riells Stimme hinter ihnen. „Noch liegt ein halber Tagesmarsch vor uns.“ „Das mag stimmen“, pflichtete ihm Yugi bei. „Aber es wird jetzt leichter sein, wo wir das Ziel klar vor Augen haben“, setzte er mit einem zuversichtlichen Lächeln hinzu, während er und die anderen sich wieder in Bewegung setzten. Der Tross folgte ihnen. „Was meint ihr, ob Atemu und Bakura schon dort sind?“, fragte Marik an niemanden Spezifischen gerichtet. „Möglich wäre es. Wenn nicht werden sie aber sicher bald zu uns stoßen“, entgegnete der Kleinste der Gruppe. „Du klingst so unbesorgt“, bemerkte Ryou zögernd. „Weswegen denn auch nicht? Was soll denn schief gehen? Caesians Armee ist ein gutes Stück hinter uns und Bakura ist in eine vollkommen andere Richtung davon geritten.“ „Ja … aber die Zwei? Alleine?“ „Sie werden sich schon nicht zerfleischt haben. Beide wissen, dass es im Augenblick andere Probleme gibt. Sie sind keine Kinder mehr – ob man es glauben mag oder nicht, das trifft auch auf Bakura zu“, erwiderte Yugi. „Dein Wort in Gottes Gehörgang …“, murmelte sein weißhaariger Kumpel zur Antwort und beendete das Thema damit. „Mich würde außerdem interessieren, ob Marlic und Sam schon wieder zurück sind – und wenn ja, ob ihre Suche erfolgreich gewesen ist. Meint ihr, sie haben das Relikt finden können?“, äußerte Tea. „Schwer zu sagen … wir können nur hoffen, dass es so ist“, entgegnete Marik. „Immerhin hätten wir dann eine Sorge weniger. Jedes Artefakt, das in unseren Händen und nicht in Caesians ist, verschafft uns einen Vorteil.“ „Gleichzeitig heißt es aber auch, dass wir unter keinen Umständen zulassen dürfen, dass sich das ändert. Wenn wir scheitern und er sich diese Relikte aneignet, bedeutet das unter Umständen das Aus für die gesamte Welt, wie wir sie kennen“, ermahnte Yugi nachdenklich. Er wurde aus den Gedanken gerissen, als Joey ihm auf die Schulter klopfte. „Keine Sorge, Alter! Wir werden Caesian in seinen Hintern treten, dass er freiwillig das Feld räumt! Und wenn alles geschafft ist, finden wir einen Weg, die Relikte sicher zu verstecken, damit nie wieder jemand auf die Idee kommt, die Teile zu benutzen.“ Yugi brauchte einen Moment, dann stahl sich ein zuversichtliches Lächeln auf seine Lippen. „So machen wir es. So und nicht anders.“ Ein gutes Stück vor der plaudernden Gruppe trieben Seto und Riell ihre Pferde gen Theben. Auch der Schattentänzer war sichtlich erleichtert ob der Aussicht, den weiten Weg endlich hinter sich gebracht zu haben. Es war lange her, dass er in einer richtigen Stadt oder einem anständigen Dorf gelebt hatte, sodass ihm die Reise mit ihren Nächten auf hartem Boden und in Kälte weniger ausgemacht hatte, als einigen anderen, aber er wusste die Vorzüge schützender Mauern dennoch zu schätzen. Zugleich war ihm bewusst, dass dieses kleine Glücksgefühl nur kurz währen würde. Caesian war ihnen auf den Fersen, die Relikte noch längst nicht in Sicherheit. Zumal ihn in Theben, sofern es die Zeit erlaubte, noch die traurige Aufgabe erwartete, zwei Begräbnisse in die Wege leiten zu lassen. Sein Blick glitt zu Seto hinüber, der in einigen Fuß Entfernung neben ihm ritt. Riell war aufgefallen, dass das Gesicht des Hohepriesters sich beim Anblick Thebens am Horizont kein bisschen aufgehellt hatte – im Gegenteil, er glaubte gar für einen kurzen Moment eine Grimasse zu sehen. Insgesamt erweckte die rechte Hand des Pharao nun bereits seit einiger Zeit den Eindruck, als sei er noch angespannter und verbissener als ohnehin schon. Schließlich traf Riell einen Entschluss und lenkte sein Pferd näher zu dem des Anderen heran, was Seto natürlich nicht entging. Mit hochgezogener Augenbraue betrachtete er sein Gegenüber und wartete auf eine Erklärung. „Ist alles in Ordnung bei Euch, Hohepriester?“, erkundigte sich der Schattentänzer schließlich frei heraus. Die Miene des zeitweiligen Pharao schien kurz zu zucken, dann richtete er den Blick wieder nach vorne. „Selbstverständlich. Wieso sollte es anders sein?“ „Nun, ich kam nicht umhin, eine gewisse … Anspannung bei Euch zu bemerken. Und das schon seit einigen Sonnenläufen.“ „Ich würde behaupten, alles andere wäre in der derzeitigen Lage eher als ungewöhnlich zu betrachten. Habt Ihr vergessen, dass uns eine Streitmacht im Rücken sitzt? Ganz zu Schweigen von dem Umstand, dass wir Ägypter hier Seite an Seite mit Leuten ziehen, die vor nicht allzu langer Zeit ihr erklärtes Ziel darin sahen, das Königshaus zu stürzen?“ Die Spitze traf, Riell überging sie jedoch, auch wenn es ihn einige Mühe kostete. Anstatt sein Gegenüber zu korrigieren oder ihm zu widersprechen, setzte er ein Lächeln auf. „Ich glaube nicht, dass das die Gründe sind.“ „Ach nein?“ „Nein. Ich denke vielmehr, dass es etwas mit der Frau zu tun hat, die Caesian gefangen hält.“ Ein Schnauben, das jedoch nicht so abfällig klang, wie Seto es gerne gewollt hätte, war die Antwort. „Ihr irrt.“ „Das denke ich nicht“, erwiderte der Schattentänzer. „Wenn sie Euch auch nur im Geringsten etwas bedeutet, dann täusche ich mich sicher nicht. Ich weiß, wie es ist, wenn ein geliebter Mensch in den Händen eines Monsters – dieses Monsters – ist. Ich kenne die Gefühle, die Ungewissheit und Angst, die einen plagen. Unterdrückt sie nicht, Hohepriester, denn sie werden Euch ansonsten von innen heraus aufzehren. Hört zu, wenn Ihr reden wollt, dann ...“ „Ihr irrt“, fuhr Seto plötzlich scharf dazwischen. „Also hört endlich auf, mich mit Euren falschen Annahmen zu belästigen. Und selbst wenn es jemals etwas geben sollte, das mich belastet, dann würde ich noch eher mit einem Straßenköter darüber sprechen, als mit Euch. Wenn etwas anliegt, das die Bedrohung durch Caesian betrifft, wendet Euch an mich, doch bis dahin kümmert Euch um Euch selbst, Schattentänzer.“ Er gab seinem Pferd die Sporen und trieb es an die Spitze des Zuges. Riell blieb, schwer seufzend, alleine zurück. Caesians Augen musterten den Fetzen Papyrus, den ein Falke gebracht hatte. In ihnen lagen Verachtung und Wut. Funktionierte denn gar nichts, wenn er nicht zugegen war? Sichtlich gereizt zerknüllte er die Notiz und warf sie zu Füßen seines Pferdes in den Sand. Unwirsch winkte er einen Soldaten zu sich heran und packte ihn am Kragen, sobald er in Reichweite war. „Schick Gladius zu mir – sofort!“ Damit stieß er den Mann in den Staub, der sich rasch aufrappelte und eilig entfernte. Es dauerte nicht lange, da vernahm Caesian das Trampeln eines herannahenden Reittieres. Kurz darauf zügelte Gladius sein Pferd neben ihm und verbeugte sich im Sattel. „Ihr habt nach mir gerufen, Euer Gnaden?“ „In der Tat, mein Guter“, erwiderte der Herrscher scheinbar freundlich, doch den geübten Augen und Ohren seines Gefolgsmannes entging die verärgerte Anspannung nicht. „Wie kann ich Euch zu Diensten sein?“ „Du wirst nach Men-nefer zurückreiten“, war die knappe, jedoch umso schärfere Anweisung. Überraschung machte sich auf den Zügen des hochrangigen Soldaten breit. „Nun, wenn Ihr dies wünscht, werde ich das selbstverständlich tun, Euer Hoheit. Erlaubt mir dennoch, meine Verwunderung zu äußern – Ihr schient mich bislang in der finalen Schlacht an Euer Seite haben zu wollen. Habe ich einen Fehler begangen, dass Ihr mich hinfort schickt?“ Gladius wusste, dass er nichts getan hatte, das seinen Gebieter hätte verärgern können. Nun, er war sich zumindest recht sicher, dass dem so war. Indem er jedoch einen Fehler bei sich suchte, vermied er es, seine Frage nach den Beweggründen zu diesem Zug so wirken zu lassen, als stelle er Caesians Entscheidung infrage. „Nicht du, Gladius. Dieser Idiot, den ich in Men-nefer zurückließ, um ein Auge auf meinen Bruder zu werfen.“ Er schnaubte abfällig, sichtlich um Fassung bemüht. „Der Kleinen, die wir aus dem Reich der Toten geholt haben, ist es gelungen, ihrer Kammer zu entfliehen. Und sie ist natürlich Taisan unter die Augen gekommen, ehe es diesen Maden gelungen ist, sie wieder einzufangen. Der Nachricht nach zu urteilen, die mich eben erreichte, muss mein Bruder einige sehr kritische Fragen zu ihrer Person gestellt haben. Er war eben neugierig, wie er es immer ist. Aber genau diese Neugier ist es, die unser kleines Theaterstück, das ich extra für Taisan inszeniert habe, zu ruinieren droht. Und der Idiot, der für all das verantwortlich ist, hatte noch nicht einmal den Mumm, mir selbst von seinem Verfehlen zu berichten, stattdessen musste ich es von einem Wachmann ohne Rang und Namen erfahren!“ Nachdem Caesian bislang stur geradeaus geblickt hatte, fixierte er nun Gladius. „Auch, wenn ich dich gerne an meiner Seite gehabt hätte, so musst du nach Men-nefer zurückkehren. Du bist der Einzige, dem ich zutraue, dass von nun an alles reibungslos vonstatten geht. Lass den alten Hauptmann verschwinden. Wenn mein Bruder fragen stellt, sage ihm, ich hätte ihn an deiner Stelle zu mir beordert und dich zurück geschickt, weil wir Hinweise auf eine Bedrohung aus dem Norden durch Verwandte des Pharao erhalten hätten. Übernimm die Führung in Men-nefer, bis ich wieder da bin und sorge dafür, dass Taisan nichts, aber auch gar nichts ungewöhnlich erscheint. Ich vertraue auf dich, Gladius.“ „Selbstverständlich, Herr. Ich werde umgehend aufbrechen.“ Damit verbeugte sich der Untergebene erneut, dann gab er seinem Pferd die Sporen. Caesian blieb alleine zurück, während er zutiefst bereute, dass er sich um diesen Versager von einem Hauptmann in Men-nefer nicht persönlich kümmern konnte. Tatsächlich sollte es noch den Rest des Sonnenlaufes dauern, bis sie Theben erreichten. Die Strapazen lohnten jedoch. Nicht nur, weil sie ein gemütliches Bett und frisches Essen erwarteten, sondern auch ob des Anblicks, der sich ihnen – für einige zum ersten Mal in ihrem Leben – bot. Theben wurde begrenzt von einer Stadtmauer, die zwar nicht so hoch, aber ebenso robust erschien wie jene in Men-nefer. Nachdem Seto mit den hier positionierten Wachen gesprochen hatte, wurden sie von einem Mann in Empfang genommen, der sie zum örtlichen Palast bringen sollte. Auf dem Weg dorthin waren es vor allem Yugi und seine Freunde aus dem 21. Jahrhundert, die sich mit Begeisterung umsahen. Die Stadt erstreckte sich schlauchartig entlang des Nils, schmiegte sich regelrecht an die lebenspendenden Fluten. Während an den äußeren Rändern, insbesondere dort, wo man am weitesten vom Wasser entfernt war, eher einfache Hütten mit flachen Dächern standen, wurden die Bauten zum Inneren und zum Wasser hin größer und prachtvoller. Dort, unweit der Fluten, erhoben sich auch die gewaltigen Tempelanlagen in den Himmel, die später einmal Millionen von Besuchern aus aller Welt anlocken sollten. Auch sie umgaben starke Mauern, die ihnen im Vorbeigehen einen Blick in das Innere des Tempelbezirks verwehrten. In den Straßen herrschte jetzt, da die Sonne untergegangen war, erst recht reges Treiben. Händler boten mit unvermindert starker Stimme weiter ihre Waren feil, Frauen schleppten Nahrungsmittel nach Hause, Kinder rannten umher und Handwerker arbeiteten in kleinen Häusernischen. Und dennoch fehlte alle dem die Heiterkeit, die man an einem solchen Ort erwartet hätte. Denn obgleich die Luft von Geräuschen erfüllt war, war es doch kein fröhliches Geplänkel, Gelächter oder Geschrei, das an ihre Ohren drang. Stattdessen dominierte ein angespanntes Gemurmel die Straßen und Gassen der Stadt. Die Menschen verbeugten sich höflich vor Seto, wenn er vorüber ritt und taten anschließend, als sei nichts gewesen – doch wenn Yugi einen Blick zurückwarf, nachdem sie vorübergezogen waren, sah er, wie dutzende Augenpaare ihnen hinterher sahen. Es wunderte ihn nicht. Dass sie hier waren, bedeutete zum einen, dass Men-nefer tatsächlich nicht mehr war. Zum anderen hieß es, dass Caesian ebenfalls nicht mehr fern sein konnte. Auch wurden die Schattentänzer misstrauisch beäugt, die an ihren Tätowierungen und Amuletten zweifelsfrei als jene zu identifizieren waren, die Gottheiten wie Apophis oder Seth huldigten. Das alles war der Grund, warum Yugi zugegebenermaßen aufatmete, als sie den Palast erreicht hatten, auch wenn die Stadt wunderschön anmutete und er gerne noch mehr davon gesehen hätte. Die örtliche Königsresidenz war um ein vielfaches kleiner als der große Palast in Men-nefer, jedoch ebenfalls prunkvoll. Auch sie wurde von einer Mauer umgeben, an der man zahlreiche Wachen aufgestellt hatte. Und dort, im Schatten des großen Torbogens, der in die Anlage hineinführte, stand Mana und wartete bereits auf sie. Als sie den Tross erblickte, eilte sie ihnen entgegen. „Den Göttern sei Dank, ihr habt es geschafft!“, rief sie ihnen schon von weitem entgegen, während sie sich Seto und dem restlichen harten Kern der Gruppe näherte. „Mana!“, rief Yugi freudig aus. „Es ist schön, dich zu sehen. Geht es dir gut?“ Die Hofmagierin nickte. „Ja, vielen Dank. Meine Verletzungen sind so gut wie verheilt. Wie geht es euch? Ist alles Ordnung?“ „Wir sind etwas erschöpft, aber ansonsten fehlt uns nichts“, schaltete sich Riell ein und stieg von seinem Pferd. Seto tat es ihm gleich. „Mana – wie steht es um das Relikt? Konnte es gefunden werden?“ Für einen bangen Augenblick war die Anspannung groß, dann löste die Angesprochene sie mit einem Nicken. „Ja, wir haben es. Marlic und Samira haben es gefunden.“ „Ein Glück!“, rief Tea aus. „Allerdings, das bedeutet ein Spielzeug weniger für Caesian, den Loser!“, fügte Joey mit erhobener Faust hinzu. „Das bedeutet, dass uns jetzt nur noch eines fehlt, richtig?“, fasste Yugi zusammen. „Sind Atemu und Bakura schon eingetroffen?“ Mana schüttelte den Kopf. „Nein, leider noch nicht. Ich hoffe jedoch, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis sich das ändert.“ „Mach dir keine Sorgen“, beschwichtigte der Kleinere. „Sie sind sicher schon auf dem Weg und stoßen bald zu uns.“ „Das hoffe ich“, bekräftigte die Magierin. „Doch nun kommt erst einmal herein. Man wird eure Pferde in die Stallungen bringen und euch zeigen, wo ihr unterkommt. Ich weiß, ihr habt einen anstrengenden Weg hinter euch, doch ich würde vorschlagen, dass wir uns beim Essen zusammensetzen und schon einmal unser weiteres Vorgehen besprechen, ehe ihr euch schlafen legt – sofern das keine allzu großen Strapazen für euch bedeutet.“ „So machen wir es“, nahm Seto der Gruppe die Entscheidung ab, ehe er die Zügel seines Pferdes an einen Bediensteten übergab und dem Palast entgegen eilte. Auch Yugi nickte ernst. „Keine Sorge, Mana. Eine Weile halten wir schon noch durch. Außerdem ist es wichtig, dass wir uns so schnell wie möglich überlegen, wie wir Caesian in Empfang nehmen wollen, sobald er hier eintrifft.“ „In Ordnung. Dann folgt mir bitte.“ Kühl strich der Abendwind durch die Winkel und Flure des Palastes. Irgendwo von den Gärten her erklang der Gesang eines Vogels, zu dem sich das Zirpen und Summen von Insekten gesellte, die in den letzten Sonnenstrahlen dieses Umlaufs umher schwirrten. Es gab nur eines, das Taisan ebenso bewunderte, wie den Blick über die unendlichen Weiten der Wüste – und das waren eben jene Palastgärten, in denen am Abend so viel Leben zu herrschen schien. Er hatte auf einer Bank platz genommen, die im Schatten einer großen Dattelpalme stand. Ursprünglich war es sein Plan gewesen, in dem Papyrus zu lesen, den er sich aus der Bibliothek geholt hatte, um etwas mehr über das Land zu erfahren, das von nun an seine Heimat sein würde. Doch dann hatten seine Gedanken begonnen, zu wandern – bis hin zu dem Mädchen, das er am vorigen Abend gesehen hatte. Seitdem bekam er sie nicht mehr aus dem Kopf, jedoch nicht etwa aus den Gründen, die man einem Mann hätte unterstellen können. Er hatte den Worten des Soldaten, der die junge Frau eingefangen hatte, aufmerksam gelauscht und sie verstanden. Er hatte ihn gewähren lassen, immerhin folgte er den Anweisungen Caesians. Und dennoch, etwas nagte seither an ihm, ließ ihn die Szene nicht vergessen. Diese klaren Augen, dieser erschrockene Blick sollten Attribute einer Hexe sein, die unsägliches Leid verursacht hatte? Sein Verstand sagte ihm, dass man einen Menschen nie von der äußeren Erscheinung her beurteilen durfte, dass ein unschuldiges Antlitz nur die Fassade einer schwarzen, verdorbenen Seele sein mochte – doch ein Teil von ihm blieb unüberzeugt. Er wusste nicht weshalb. Und genau dieser Umstand ließ ihn keine Ruhe finden. Lange schon überlegte er, was er tun sollte, doch er war zu keinem Ergebnis gekommen. Er hatte mit dem Gedanken gespielt, das Mädchen selbst aufzusuchen und mit ihr zu sprechen, sofern sein gebrochenes Ägyptisch es zuließ. Er würde sich nicht vor ihr zu fürchten brauchen, sollte der Hauptmann die Wahrheit gesprochen haben, denn er würde sich im Fall der Fälle zu wehren wissen. Aber das war es nicht, was ihn davon abhielt, diesen vermeintlich einfachen Schritt zu wagen: Wenn er nachgab und handelte, wie ihm sein Gefühl gebot, dann würde er die Order seines Bruders in Frage stellen. Welches Signal würde solches Tun an die Wachen senden? Caesian und er mussten sich in allen Belangen einig sein, wenn es um die Führung des Landes und seiner Bewohner ging – Taisan hatte gesehen, wozu Uneinigkeit führen konnte, wenn sie in hohen politischen Positionen auftrat. Zum anderen sträubte sich das tiefsitzende Vertrauen, das er seinem Bruder gegenüber empfand, dagegen. Wenn er noch nicht einmal davon ausgehen konnte, dass dieser in der Lage war, richtig zu urteilen, wem konnte er es dann zutrauen? Und wer war er, die Entscheidungen seines eigenen Blutes zu hinterfragen? Taisan war ein Mann, der stets an das Gute in den Menschen glaubte, zugleich aber nur den wenigsten von ihnen so etwas wie Vertrauen entgegen brachte. Wenn es jemand einmal erhalten hatte, war es unerschütterlich – und daran würde er sich halten. Seufzend erhob er sich von der Bank und schlenderte durch die Gärten des Palastes, den ungelesenen Papyrus in den Händen. Er würde nach dem Abendmahl noch einmal versuchen, sich mit ihm auseinander zu setzen. Vielleicht würden die nagenden Gedanken dann endlich verschwunden sein. Kapitel 56: Aussichtslos? ------------------------- Aussichtslos? Nachdem sich der harte Kern des angekommenen Trosses kurz zurückgezogen hatte, um sich wenigstens den gröbsten Schmutz vom Körper zu waschen und frische Kleider anzulegen, trafen sie sich im Speisesaal des Palastes von Theben. Sie alle waren zugegebenermaßen erfreut ob des Anblicks, der sich ihnen dort bot: Neben warmem Brot stapelten sich verschiedenste Sorten Fleisch, Obst, Gemüse, Fisch und gar einige süße Leckereien auf der Tafel. Kurz, nachdem sie Platz genommen und sich die Teller befüllt hatten, kam auch Marlic in den Raum stolziert, dicht gefolgt von Samira. Der ehemalige Milleniumsgeist lies den Blick feixend über die Runde gleiten, ehe sich der Ausdruck auf seinem Gesicht verfinsterte. „Wo ist der Pharao?“, erkundigte er sich schließlich knapp. „Er kommt nach“, entgegnete Yugi. „Wir haben herausgefunden, dass Bakura scheinbar der Einzige ist, der aus der Seele der Zeit herausbekommen kann, wo das nächste Relikt versteckt ist. Er ist los geritten, um ihn zu suchen und ist bestimmt schon auf dem Weg hierher“, erklärte er knapp. Marlic gab ein unzufriedenes Schnauben von sich. „Der Kerl soll sich beeilen, damit ich ihm das Artefakt unter die Nase halten kann“, grummelte er und begab sich zum gegenüberliegenden Ende des Tisches. Samira folgte ihm, ohne Riell dabei auch nur eines Blickes zu würdigen. Als sie ihn passierte, versuchte er, das Eis zu brechen, indem er sie für den Erfolg ihrer Suche lobte, doch sie ignorierte ihn gekonnt. „Sie ist sicher immer noch verletzt wegen dem, was mit Kipino passiert ist“, riss ihn Tea, die neben ihm saß, schließlich aus den Gedanken und lächelte ihn zuversichtlich an. „Gib ihr noch ein wenig Zeit, dann kriegt sie sich bestimmt wieder ein.“ Der Schattentänzer lächelte matt zurück. „Vielleicht habt Ihr recht. Zumindest hoffe ich darauf.“ Mana erhob sich schließlich und unterbrach die laufenden Gespräche am Tisch, indem sie mehrmals kräftig in die Hände klatschte. Augenblicklich wurde es still am Tisch. „Vielen Dank. Es ist mir durchaus bewusst, wozu ich euch, die ihr eben erst eingetroffen seid, hier nötige, doch ich fürchte, uns bleibt keine andere Möglichkeit, als so schnell es geht zu beraten, wie wir gegen Caesian vorgehen wollen, wenn er hier eintrifft. Deshalb sollten wir sofort damit beginnen“, erklärte die Hofmagierin. Zustimmendes Raunen folgte von allen Seiten. Dann meldete sich Yugi. „Verzeih, wenn ich einfach so das Wort ergreife, aber eine Frage, die wir vielleicht gleich zu Beginn klären sollten, brennt mir gerade auf der Zunge: Wie viel Zeit bleibt uns?“ Er bemerkte, wie Seto und Riell auf die Frage hin einen kurzen Blick tauschten, dann beugte sich der Hohepriester vor und stützte sich mit den Unterarmen auf der Tischplatte ab, während er die Hände faltete. „Ein Umstand, den ich ebenfalls gerade anzusprechen gedachte. Unsere Späher haben einen Falken mit einer Nachricht hierher geschickt, der uns kurz nach unserem Eintreffen erreichte. Sie berichten davon, dass Caesian Men-nefer verlassen hat. Es ist also nicht mehr nur ein Teil seiner Armee, der nun auf Theben zu marschiert, sondern auch der Kerl selbst samt dem Rest seines Heeres.“ Eine angespannte Stille machte sich im Raum breit, die schließlich von Seto selbst durchbrochen wurde. „Dieser Umstand“, begann er, „hat einen Vor- und einen Nachteil. Letzterer besteht darin, dass wir es nun mit noch mehr Männern werden aufnehmen müssen, samt einer Ka-Bestie und göttlichen Relikten, die nicht fern, sondern direkt am Ort des Geschehens sind und auf die Umstände der bevorstehenden Schlacht umgehend reagieren können. Der Vorteil, der sich uns bietet, ist jedoch, dass wir dadurch mehr Zeit gewinnen. Caesian ist noch nicht lange unterwegs und führt einen gewaltigen Tross mit sich, weshalb ich denke, dass es um die acht bis zehn Umläufe dauern wird, bis er hier eintrifft.“ „Können wir denn davon ausgehen, dass sie uns nicht angreifen, bevor er hier ist? Ein Teil seiner Leute ist ihm ja ein Stück voraus“, äußerte Tea ihre Bedenken. „Es würde nicht zu ihm passen, seine Männer schon einmal anfangen zu lassen. Bislang war er immer dabei, wenn er uns angegriffen hat. Außerdem hat Atemu ihm gehörige Kopfschmerzen bereitet, ich würde meinen, er will dabei sein, wenn es zur finalen Auseinandersetzung kommt. Von daher würde ich darauf setzen, dass uns die acht bis zehn Tage bleiben“, erwiderte Marik. Marlic schnaubte abfällig. „Und welchen Nutzen hat das? Ich bin noch nicht lange hier, aber was ich bislang von der Stadt gesehen habe, verrät mir, dass sie nicht annähernd so befestigt ist, wie Men-nefer. Und den Umstand kriegt man auch in zehn Tagen nicht geändert.“ „Hast du nicht immer groß rumgeprollt, dass wir Caesian fertig machen werden? Warum jetzt so negativ?“, erkundigte sich Joey, dem die Äußerung des Anderen sichtlich nicht zusagte. „Ich habe genau das immer noch zum Ziel, aber ich bin nicht dumm“, entgegnete Marlic. „Die Mauern sind nichts als Spielzeug für dieses Mistvieh von einer Ka-Bestie, das Caesian mit sich rumschleift. Auch sonst findet sich hier wenig, das Schutz bieten würde. Wir hocken in dieser Stadt regelrecht auf dem Präsentierteller. Und wo ist überhaupt das Heer, von dem es hieß, es sei hier stationiert? Bisher habe ich nur vereinzelt überhaupt Soldaten auf den Straßen gesehen.“ Er wandte sich an Mana. „Also, was ist damit?“ Die Hofmagierin, die soeben hatte trinken wollen, hielt inne, ehe sie den Becher zurück auf den Tisch stellte. Sie biss sich auf die Unterlippe. „Das ist etwas, das ich als nächstes anzusprechen gedachte.“ Augenblicklich schoss Setos Augenbraue alarmiert in die Höhe. „Was soll das heißen?“ Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und sah in die Runde. Ihr Blick verriet, dass die Antwort nicht gut ausfallen würde. „Die Schattentänzer sind nicht die Einzigen, in deren Reihen desertiert wurde“, sagte sie schließlich. Kurz herrschte Stille, bis sich der Hohepriester wieder gefangen hatte. „Wann?“ „Letzte Nacht.“ Ihr Gegenüber traute sich kaum, die nun folgende Frage auszusprechen. „Wie viele?“ Mana sah zu ihm hinüber und er glaubte, so etwas wie Verzweiflung in ihrem Gesicht lesen zu können. „Die Hälfte.“ Setos Gesichtszüge entgleisten. Totenstille senkte sich über den Raum, sodass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Der Hohepriester rang sichtlich um Fassung, während auf Riells Zügen blankes Entsetzen geschrieben stand, auch wenn er es zu verbergen suchte. Tristan war, ob der Unbedarftheit, die der Umstand mit sich brachte, dass er noch nicht lange hier war, der Erste, der wieder sprach: „Und wie viele Soldaten macht das? Ich meine, hey, Ägypten hat doch ein riesiges Heer, das müssen doch immer noch tausende sein!“ Mana seufzte. „Ich habe mich heute Morgen direkt daran gemacht, zu überschlagen, wie viele Schwerter uns bleiben. Stationiert waren in Theben ungefähr 50.000 Männer, hinzu kamen die Kämpfer, die den Angriff auf Men-nefer überlebt haben, womit wir bei etwa 80.000 Soldaten waren, von denen die Hälfte nun das Weite gesucht hat. Kurz um: Rechnen wir die ungefähr 200 Schattentänzer hinzu, die Riell mit hierher gebracht hat, sind wir bei etwas mehr als 40.000 einsatzfähigen Kriegern.“ „Na das hört sich doch gar nicht so schlecht an!“, meinte Tristan, doch die erhoffte Reaktion in der Runde blieb aus. „Oder etwa doch nicht?“ Riell, der sich mit einer Hand Stirn und Schläfen massierte schüttelte den Kopf. „Nein. Nicht, wenn man weiß, dass Caesians Heer nach den Schätzungen unserer Späher eine Stärke von etwa 100.000 Mann aufbringt.“ „Und dabei sprechen wir noch nicht einmal davon, dass ein Drittel seiner Armee untot und schwer auszuschalten ist, er mehrere Relikte in seinem Besitz hat und eine Ka-Bestie in sich trägt, die anders ist als alles, was wir bislang gesehen haben“, fügte Mana hinzu, um die Beschreibung der nahenden Katastrophe zu vervollständigen. „Das alles waren die Gründe, weswegen ich euch heute unbedingt noch zusammenrufen wollte – wir müssen uns beratschlagen, wie wir nun weiter verfahren sollen. Auch, wenn es in meinen Augen nicht viele Möglichkeiten gibt.“ „Und welche sind das?“, hakte Tea vorsichtig nach, deren Gänsehaut sich gar nicht mehr legen wollte. „Es sind zwei“, erwiderte die Hofmagierin, ohne ihr Gegenüber dabei anzusehen. „Wir kämpfen oder wir fliehen. Wir schauen dabei zu, wie das Volk stirbt oder wir versuchen, so viele wie möglich in Sicherheit zu bringen.“ „In Sicherheit? Wo soll das sein?“, mischte sich Joey plötzlich ein. „Wenn wir uns dem Kerl nicht entgegenstellen, dann ist es bald nirgendwo mehr sicher! Nicht hier und auch nicht im Rest der Welt – wenn diese dann überhaupt noch existiert!“ „Allerdings“, pflichtete Tristan ihm bei. „Mir leuchtet ein, dass das eine verdammt schlechte Ausgangsposition ist, aber ihr könnt jetzt nicht einfach alles hinschmeißen! Nach dem, was mir die Anderen erzählt haben, habt ihr schon einiges durchgestanden, da könnt ihr doch jetzt nicht einfach aufgeben!“ „Damit habt ihr recht“, meldete sich Riell zu Wort. „Aber ich glaube, ihr versteht nicht, was Mana damit sagen möchte. Ich denke, keinem von uns liegt es nahe, aufzugeben. Doch wir dürfen dabei nicht nur an uns denken. Wir können kein Heer von über 40.000 Seelen in die Schlacht führen in dem Wissen, dass kein einziger Mann den nächsten Sonnenaufgang erleben wird. Das hier ist kein Spiel, bei dem man es darauf ankommen lassen kann, weil man nicht mehr riskiert als ein paar Groschen. Es geht um Menschenleben, für die der Pharao, Seto, aber auch ich die Verantwortung haben.“ „Das sehe ich ja ein! Ehrlich, aber ...“, doch noch ehe Joey die passenden Worte finden konnte, wurde er von Samira unterbrochen. „Fassen wir das mal zusammen: Kämpfen wir, sterben wir. Fliehen wir, sterben wir wohl auch, nur etwas später und riskieren, dass Caesian die ganze Welt mit dem Gebrauch der Relikte in den Abgrund stürzt. Das heißt, es geht ohnehin alles vor die Hunde.“ Sie machte eine kurze Pause, bei der sie den Blick über die Runde schweifen ließ. „Dann können wir auch die Artefakte einsetzen, die uns zur Verfügung stehen, und wenigstens versuchen, Caesian mit uns in die Tiefe zu reißen.“ „Auf gar keinen Fall!“, widersprach ihr Riell sofort. „Das werden wir nicht tun!“ „Und warum nicht? Bislang hat diese Sphäre kaum etwas abbekommen, oder?“ „Nur, weil sich uns die Auswirkungen noch nicht zeigen, heißt das nicht, dass sie nicht existieren!“ „Wir haben zwei Möglichkeiten, bei denen wir sterben, und eine, bei der wir und die Welt vielleicht überleben! Diese Chance besteht, also sollten wir sie auch nutzen!“ „Aus dir spricht die Verzweiflung. Es ist nichts anderes als ein Schilfhalm, an den du dich klammerst, Sam!“ „Aber es ist wenigstens etwas!“ „Ja, etwas, das nicht geschehen wird, solange ich lebe! Wir Schattentänzer haben eine Aufgabe, eine Verantwortung! Das müsstest du von allen Personen hier am Tisch, abgesehen von mir, am besten wissen!“ „Erzähl' du mir nichts von Verantwortung!“ War Samira zuvor bereits laut geworden, schrie sie nun. „Für dich steht immer nur deine Überzeugung an erster Stelle, nicht das Wohlergehen des Clans oder des Landes, also wag' es nicht, mich zu belehren! Anstatt darüber nachzudenken, was für uns alle das Beste wäre, bist du doch immer nur stur deinen Prinzipien und denen deines Vaters gefolgt! Ist dir vielleicht schon mal der Gedanke gekommen, dass Risha Recht hatte und es eine beschissene Idee war, gemeinsame Sache mit dem Königshaus zu machen? Kam dir auch nur einen Moment lang in den Sinn, dass es vielleicht besser gewesen wäre, Caesian Atemus Kopf auf einem Silbertablett zu präsentieren? Dann müsste keiner von uns jetzt die Tage zählen, bis wir ins Jenseits übergehen!“ „Und wofür, Samira? Wofür? Für ein Leben in Knechtschaft? Was meinst du, wäre dann aus dir, aus mir, aus Risha, dem Clan geworden? Du und meine Schwester wärt längst Teil seines Harems, ich und die anderen Männer wahrscheinlich untote Seelen, verdammt auf ewig hier zu wandeln, ohne Frieden, ohne Ruhe! Der Tod ist immer noch besser als das! Außerdem hast du gesehen, was dabei herauskommt, wenn man mit diesem Mann Geschäfte macht!“ „Das mag stimmen, aber wir hätten die Möglichkeit gehabt, ihn von innen heraus zu vernichten! Ebenso hätten wir auch einfach parteilos bleiben und zusehen können, wir sich das ägyptische Heer und Caesians Armee die Köpfe einschlagen, ehe wir unseren Zug machen! Vielleicht hätten wir auch gar nichts tun müssen, vielleicht wären dabei einfach alle draufgegangen und wir hätten umso leichteres Spiel gehabt! Aber nein, deine Entscheidung stand fest! Und anstatt nun mit den Konsequenzen zu leben und etwas zu unternehmen hockst du bloß hier rum und redest! Ich habe es satt! Wenn du nicht in der Lage bist, zu handeln – und das schnell – dann werde eben ich es tun.“ Damit sprang sie regelrecht von ihrem Stuhl auf und rauschte hinaus. Kaum, da die Tür krachend hinter ihr ins Schloss gefallen war, wandte sich Seto an Riell. „Die Relikte sind sicher weggesperrt?“ Der Schattentänzer brauchte einen Moment, dann nickte er. „Ja, sie kommt nicht heran. Wenn sie es dennoch versuchen sollte, werden wir es mitbekommen.“ „Gut. Nach dieser kleinen Ablenkung, entstanden aufgrund Eurer fabelhaften Führungsweise, zurück zu wichtigen Dingen – ich denke, es steht außer Frage, die Artefakte zu gebrauchen.“ Zustimmendes Nicken folgte von allen Seiten. „Schön. Dann schlage ich vor, wir machen es wie folgt: Mana, Riell und ich werden die Aufstellung des Heeres besprechen, für den Fall, dass wir in die Schlacht ziehen. Wir werden außerdem, gleich was geschieht, die Order herausgeben, dass sämtliche Zivilisten, die nicht bereit sind, sich der Armee anzuschließen, die Stadt in Richtung Süden verlassen sollen und das umgehend. Ob wir letztendlich bleiben oder nicht, können wir nun zwar lange diskutieren, doch die Entscheidung darüber obliegt einzig und alleine dem Pharao, der derzeit jedoch nicht zugegen ist. Daher werden wir so verfahren, als würden wir uns siegesgewiss auf eine Auseinandersetzung vorbereiten, bis er hier eintrifft, um keinen weiteren Unmut unter den Soldaten zu schüren. Kein Wort des Zweifels, das heute gefallen ist, verlässt dieses Zimmer – verstanden?“ Erneut folgte einstimmiges Nicken. „Gut. Wir sprechen uns, sobald seine Majestät hier ist. Bis dahin sind alle bis auf die genannten Personen entlassen.“ Die Gruppe um Yugi hatte nach der Nerven aufreibenden Besprechung nicht an Schlaf denken können. Stattdessen hatten sie sich dazu entschlossen, einen Spaziergang durch die Stadt und hinab zum Nil zu machen. Inzwischen waren sie an den Ufern des Flusses angekommen, wo sie sich niedergelassen hatten. Nach einem langen, einvernehmlichen Schweigen war Joey schließlich derjenige, der die Stille als erstes durchbrach. „Man … ich hätte nicht gedacht, dass es so schlecht für uns aussieht“, meinte er seufzend. „Allerdings“, pflichtete ihm Marik nach einem kurzen Moment bei. „Ich meine, dass unsere Situation nicht gerade rosig ist, war uns allen bewusst, aber dass wir dermaßen im Nachteil sind ...“ „Was, wenn sie sich wirklich dazu entschließen, Caesian nicht entgegen zu treten?“, warf Duke in die Runde. „Ich meine, wenn man dem Kerl freie Hand lässt, dann steht nicht nur dieses Land auf dem Spiel – soweit ich das verstanden habe, steht dann die ganze Welt samt aller Zeiten auf der Kippe, das bedeutet, es wird auch Auswirkungen auf unser Leben in der Zukunft haben, oder nicht?“ „Atemu wird das nicht zulassen. Er wird nicht kampflos aufgeben, das weiß ich, auch wenn die Umstände noch so widrig sind“, erwiderte Yugi mit Nachdruck. „Aber Riell hat nicht unrecht“, gab Ryou zu bedenken. „Es geht hier nicht alleine um das, was diejenigen wollen, die die Entscheidungen treffen. Es stehen viele Menschenleben auf dem Spiel, wenn sie in die Schlacht ziehen.“ „Ja, und gleich noch vielmehr, wenn sie nur tatenlos rumsitzen! Wenn der Typ die Welt gegen die Wand fährt, dann betrifft das nicht nur Ägypten, sondern alle Menschen, die jetzt leben und die, die da noch kommen werden. Die ganze Geschichte würde vermutlich einen völlig anderen Lauf nehmen – wenn es dann überhaupt noch irgendetwas gibt, das seinen Lauf überhaupt nehmen kann“, widersprach Tristan. „Wir reden hier also nicht nur von 40.000 Mann, sondern von Milliarden von Menschenleben in verschiedensten Abschnitten der Zeit!“ „Das wissen Seto, Riell und die anderen ebenfalls“, pflichtete Ryou ihm zunächst bei. „Aber ich bezweifle, dass es die Ägypter großartig interessieren wird, was in dreitausend Jahren ist.“ „Das würde ich nicht einmal sagen, wenn man bedenkt, dass ihr gesamter Totenkult auf den Fortbestand in Ewigkeit ausgerichtet ist – wofür es korrekt vollzogene Riten von Seiten der Lebenden braucht, die nicht mehr da wären, würde Caesian alles vernichten“, überlegte Marik. „Und warum tun sie dann nichts?“, echauffierte sich Tristan. „Weil auch sie nur Menschen sind, die Angst haben“, entgegnete Tea. „Außerdem, überlegt doch mal: Caesian bringt diese Tragödie mit Gegenständen über das Land, die die Götter einst selbst erschaffen haben. Ich kann mir gut vorstellen, dass es für einige der Einheimischen wirken muss, als hätten sie einen Fehler begangen und würden nun dafür bestraft.“ „Und wenn du Recht hast, dann riskiert man als Empfänger der Bestrafung nicht eine noch größere, indem man sich widersetzt“, folgerte Ryou weiter. „Ist durchaus möglich, dass die Gedanken der Ägypter darauf hinauslaufen.“ „Aber die Götter selbst sind doch bedroht von allem, was hier abgeht!“, widersprach Joey. „Klar sind sie das – aber das weiß das einfache Volk nicht. In dieser Religion offenbart sich der Wille der Götter einzig dem Pharao“, erklärte Marik. „Wenn das so ist, dann muss er es ihnen eben sagen! Dass es definitiv nicht der Wille der Götter ist, das Volk so leiden zu sehen!“, meinte Joey weiter. „Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass das an diesem Punkt noch etwas bringen wird. Dass die Hälfte des Heeres desertiert ist, zeigt, dass ein großer Teil bereits seinen Glauben in die Götter, Atemu und einen glimpflichen Ausgang dieses Konflikts verloren hat“, gab Ryou zu bedenken. Yugi, der bislang schweigend dabei gesessen hatte, erhob sich mit einem Mal ruckartig und entfernte sich dann von der Gruppe. „Hey Alter! Ist alles in Ordnung?“, rief sein blonder Kumpane ihm hinterher, als er sich bereits ein Stück weit entfernt hatte. Der Angesprochene hielt kurz inne, ohne jedoch den Blick umzuwenden. „Ja. Ich muss nur nachdenken, das ist alles“, erklärte er knapp, ehe er sich wieder in Bewegung setzte. Die Anderen blieben schweigend zurück, bis sich Joey einen Stein griff und ihn mit Wucht in das Wasser zu seinen Füßen schleuderte. „So eine Scheiße!“ Zunächst wanderte Yugi ziellos durch die Stadt. Immer wieder kreisten seine Gedanken um die Lage, in der sie sich befanden, doch gleich, wie er es drehte und wendete, er fand keinen Ausweg aus der Misere, die sie ereilt hatte. Auch, wenn er es sich anfangs nicht hatte eingestehen wollen, ja, Setos und Riells Bedenken waren gerechtfertigt. Das Volk Ägyptens lag in ihrer Verantwortung, nicht die aberhundert Generationen, die noch folgen sollten und daher für sie ad hoc keine Rolle spielten. Und dennoch fand er es egoistisch. Er hoffte inständig, dass Atemu eine andere Entscheidung fällen würde, als sie. In seinen Gedanken versunken, hatte Yugi irgendwann jegliches Zeitgefühl verloren. Er merkte erst, wie lange er sich bereits herumtrieb, als das erste Licht des neuen Tages hinter dem Horizont hervorbrach. Kurz hielt er inne und beobachtete, wie sich die Sonnenscheibe langsam erhob, ehe er entschied, zum Palast zurückzukehren. Auch, wenn er bezweifelte, dass der Schlaf ihn so einfach überkommen würde, brauchte er die Ruhe dringend. Er musste seinen Kopf freibekommen und anschließend seine Gedanken ordnen. Wenn Atemu eintraf, musste er ihn dabei unterstützen, die Anderen davon zu überzeugen, dass sie nicht einfach aufgeben durften. Er hielt auf seinem Weg abermals inne, als sein Blick nach links schweifte und er die Tempelmauer erkannte, die sie bei ihrer Ankunft passiert hatten. Er wusste nicht, woher sie kam, doch er folgte einer inneren Eingebung, die ihn auf das Gelände des Heiligtums führte. Nirgendwo war auch nur eine Menschenseele zu sehen. Der Duft von Räucherwerk lag in der Luft und verbreitete einen wohligen, beruhigenden Geruch in der Umgebung. Für eine Weile wanderte Yugi ziellos zwischen den nicht enden wollenden Säulengängen des Tempels umher, während er sich mit Begeisterung umsah. All die Malereien, die architektonischen Details, das Wissen, das an den Wänden aufbewahrt wurde – das alles wollten die Anderen einfach aufgeben? Schließlich hielt er in einem Hof inne, der von Säulengängen gesäumt wurde. Noch lag er im Schatten, doch es würde nicht mehr lange dauern, bis sich die Sonne erhoben hatte und ihn ausleuchtete. Kein Geräusch störte die heilige Stille, die über dem Ort lag. Den Blick auf die Hieroglyphen-Inschriften fixiert, ging er weiter – nur, um im nächsten Moment mit einem Priester zusammenzustoßen, der plötzlich zwischen den Säulen hervortrat. „Verzeiht bitte!“, entschuldigte er sich sofort. „Das wollte ich nicht. Habt Ihr Euch wehgetan?“ Der Würdenträger schien einen Moment lang verdutzt, dann zeigte sein Gesicht, dass er zu einer scharfen Erwiderung ansetzen wollte. Als sein Blick jedoch auf Yugi fiel, entglitten im die Züge und er verbeugte sich tief. „Bei Amun-Re, verzeiht mir meine Tollpatschigkeit, Euer Majestät! Es war nicht meine Absicht! Seid Ihr unversehrt?“ Yugi war verwirrt. „Ja, das schon … aber, ich glaube, Ihr ...“ „Ein Glück, Euer Hoheit! Wirklich, Ihr müsst mir glauben, es war nicht meine Absicht, Euch durch meine Unachtsamkeit zu stören oder zu verletzen!“ „Das … das macht wirklich nichts, ehrlich. Es geht mir gut …“ „Ihr verzeiht mir meinen Fehler?“ „Na… natürlich ...“ „Gepriesen seien die Götter und gepriesen seid Ihr, mein König! Bitte, bitte tretet nur ein! Ich werde dafür sorgen, dass niemand Euch stört, wenn Ihr Euren heiligen Vater besucht!“ Dann machte sich der Priester eilig und noch immer in gebeugter Haltung daran, das Weite zu suchen, bis er schließlich in einem Säulengang verschwand. Yugi blieb verdutzt zurück – scheinbar hatte man ihn soeben mit Atemu verwechselt. Sein Blick wanderte dorthin, wo der Geistliche hin gestikuliert hatte – zu einem Portal, das im Schatten einiger Säulen in das Innere einer Tempelanlage führte. Yugi überlegte einen Moment, ließ den Blick nochmal durch den Innenhof wandern. Schließlich gewann jedoch seine Neugier und er näherte sich dem Eingang. Kaum, da er über die Schwelle getreten war, verebbte der allgegenwärtige Wind. Stattdessen umfing ihn stehende Luft, die durch die Schwaden von Weihrauch, die umherzogen, beinahe stickig war. Die Hitze staute sich unter dem hohen Steindach. Das gleißende Licht, das in draußen umfangen hatte, zog sich mit jedem Schritt, den er tiefer in das Innere des Tempels tat, weiter zurück und überließ ihn mehr und mehr der Dunkelheit. Seine Augen brauchten einen Moment, um sich an die Schatten zu gewöhnen. Dennoch setzte er seinen Weg vorsichtig, aber unbeirrt fort, bis er schließlich in einen kleinen Raum gelangte. Darin befand sich eine Barke, die ein Kultbild trug: Das Kultbild des Gottes Amun. Dargestellt wurde das göttliche Wesen in derselben Position wie Sphingen, seine Gestalt war jedoch die eines Widders. Yugi verharrte regungslos am Eingang des Raumes, ließ lediglich den Blick umher wandern, hinweg über die in der Dunkelheit kaum erkennbaren Wandbemalungen, bis er wieder auf dem Kultbild ruhte. Es war fein gearbeitet und schien aus purem Gold zu bestehen. Eine Heiligkeit ging von diesem Ort aus, die sich fast drückend über all jene legte, die hier her kamen. Yugi wusste von dem her, was er sich angelesen hatte, dass die Ägypter glaubten, die Götter würden sich in einer anderen Sphäre aufhalten, als die Menschen – gelegentlich stiegen sie jedoch auf Erden herab und wohnten ihrem Kultbild ein. Dieses war es daher, das bei den Ritualen mit Speisen, Trank, Räucherwerk und Salbungen versorgt wurde. Das gemeine Volk bekam die Kultbilder in der Regel nur bei Prozessionen zu Gesicht, ansonsten war der Kontakt jenen vorbehalten, die der Pharao als seine Vertreter im Götterkult auserwählt hatte. Unweigerlich kam Yugi der Gedanke, dass er kein Recht hatte, hier zu sein. Die Ägypter waren einst fest davon überzeugt, dass jene, die sich unbefugt in die Gegenwart eines Gottes begaben, sich in höchster Gefahr befanden, ob der gewaltigen Mächte, die von ihnen ausgingen. Und dennoch wollte er diesen Ort nicht verlassen – noch nicht. Langsam trat Yugi ein wenig näher an das Kultbild heran, ehe er sich vorsichtig auf die Knie herabließ, die Hände auf den Boden und den Kopf darauf legte. So verharrte er einen Moment lang schweigend, eher er zu sprechen begann. „Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, ob ich es auf diese Weise richtig mache, denn dafür kenne ich die hiesigen Gebräuche nicht gut genug – doch ich würde gerne deinen Beistand ersuchen, Amun, und zu dir beten“, begann er langsam. Er richtete sich auf, blieb jedoch auf den Knien und hielt den Blick demütig gesenkt. „Es wird den Göttern nicht entgangen sein, was hier vor sich geht. Nein, das ist es sicher nicht, sonst hättet ihr uns nicht die Seele der Zeit geschickt. Ebenso wird es seine Gründe haben, dass ihr Caesian nicht einfach vom Angesicht dieser Welt gefegt habt, wie Joey jetzt wahrscheinlich sagen würde. Ich weiß um das, was die Relikte anrichten können, gleich zu welchem Zweck man sie nutzt – und das ist bereits verheerend. Ich kann mir also nur vorstellen, wie es wäre, würdet ihr selbst in diesen Konflikt eingreifen und deshalb verstehe ich, dass ihr stumm bleibt. Doch ihr seid da, das weiß ich ebenso. Und auch, wenn euch die Hände gebunden sein mögen, so seid ihr dennoch in der Lage, etwas zu tun. Darum bitte ich dich, Amun, schenke meinen Freunden und Weggefährten, ebenso wie dem Volk Ägyptens, die Kraft und Zuversicht, die sie in dieser dunklen Stunde brauchen, um sich Caesian mit Mut und Entschlossenheit entgegen zu stellen, auf dass uns noch eine Chance bleibt. Denn wenn wir jetzt aufgeben, ehe wir überhaupt versucht haben, ihn aufzuhalten, so sind wir schon verloren. Viele Menschen scheinen zu glauben, sie stünden einer von euch geschickten Strafe gegenüber und sie vom Gegenteil zu überzeugen wird nicht leicht sein. Doch wir wissen, dass sie irren, dass ihr nicht die Geißel der Menschen, sondern Caesian die eure ist. Ich weiß, dass viele Menschen verzweifelt ob der Ereignisse sind, aber bitte, Amun, wecke die Hoffnung in ihnen und lass sie erkennen, dass wir erst dann wirklich verloren haben, wenn wir uns selbst und die Zuversicht auf eine friedliche Zukunft aufgegeben haben. Lass Atemu so schnell wie möglich zu uns zurückkehren und gib ihm die Kraft, das scheinbar Unmögliche möglich zu machen. Gib uns Hoffnung und wir werden im Gegenzug alles tun, um dieses Land, das ihr geschaffen habt, zu beschützen. Ich bitte euch …“ Dann verstummte er. Flehend richtete er den Blick auf das Kultbild, das unbeweglich und teilnahmslos zurückblickte. Ein lang gezogener Seufzer entwich ihm. „Nun, es scheint, als habe Amun immerhin einen deiner Wünsche bereits erhört.“ Augenblicklich wirbelte Yugi herum, nur um Atemu am Eingang des Sanktuars zu sehen. „Dem Himmel sei Dank, du bist zurück!“, rief er aus und kam auf die Beine.“Mit Bakura?“ „Ja, ich habe ihn finden und nach Theben bringen können … auch, wenn es zeitweise nicht leicht mit ihm war.“ „Ich habe ehrlich gesagt nichts anderes erwartet … Geht es dir gut?“ „Das tut es. Doch was ist mit dir? Ich kam nicht umhin, einen Teil deiner Unterredung mit Amun mitanzuhören. Geht es um das, was bei der Besprechung nach eurer Ankunft gesagt wurde?“ Yugi war verdutzt. „Du weißt davon?“ Der Pharao nickte. „Tea und Ryou haben mir davon erzählt. Sie waren noch wach, als ich vor kurzem hier eingetroffen bin. Sie haben mir auch gesagt, dass du dich alleine auf den Weg gemacht hast und noch nicht zurückgekommen bist. Ich habe eine Weile suchen müssen, aber nachdem ich einem Priester begegnet bin, der mich ganz aufgeregt fragte, ob im Tempel alles zu meiner Zufriedenheit wäre, und ob ich denke, dass Amun uns seine Gnade erweisen wird, hatte ich eine Ahnung, dass du hier sein würdest.“ „Ja, er hatte mich wohl mit dir verwechselt“, erwiderte Yugi. Sein Blick schweifte zurück zu dem Kultbild. „Es tut mir leid, ich weiß, dass ich eigentlich nicht hier sein sollte.“ Doch Atemu winkte gutmütig ab. „Das Sanktuar ist Menschen mit einer reinen Seele und einem reinen Herzen vorbehalten. Wer, wenn nicht du, hätte also das Recht, sich hierher zu begeben?“ Yugi musste lächeln. „Ich danke dir.“ „Dazu gibt es keinen Grund, Partner. Die Wahrheit darf offen ausgesprochen werden. Doch nun zurück zu dem Grund, weshalb du überhaupt hierher gefunden hast.“ Der Kleinere seufzte erneut. „Ich weiß nicht, was genau Ryou und Tea erzählt haben, aber es wird wahrscheinlich das Wichtigste gewesen sein. Zusammenfassend kann man jedenfalls sagen, dass Seto, Mana und Riell im Augenblick dazu tendieren, sich Caesian nicht entgegen zu stellen, sondern die Bevölkerung in Sicherheit zu bringen und anschließend ebenfalls zu fliehen. Anlass dazu hat ihnen wohl gegeben, dass ein großer Teil des ägyptischen Heeres desertiert ist und unser Feind nun mehr als doppelt so viele Leute auf seiner Seite hat, wie wir. Ich verstehe ihre Zweifel, das tue ich wirklich. Aber es fühlt sich einfach falsch an, kampflos aufzugeben. Wie können wir wissen, dass es tatsächlich nicht funktioniert hätte, wenn wir es nie versucht haben? Ich weiß, es geht um Menschenleben und sehr viele davon. Aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass es im Sinne dieses Landes und seiner Bewohner wäre, den Ort, an dem man fest verwurzelt ist, zu verlassen und ihn ohne Widerstand jemand anderem zu überlassen, der ihn haben will, nur damit man überlebt. Denn was ist ein Leben dort, wo man gar nicht sein will, fern von allem, das man liebt, noch wert? Ich kann nicht für die Ägypter sprechen, aber ich persönlich wäre bereit alles zu riskieren, um das zu verhindern – mein Leben eingeschlossen. Zumal es um noch viel mehr geht, als Ägypten. Es geht um die Welt und alle Generationen, die da noch kommen! Selbst, wenn die Verwurzelung vieler Ägypter vielleicht nicht so stark ist, wie ich glaube, und ich weiß, dass sich die meisten Menschen selbst die nächsten sind, ist es einfach nur falsch, sich selbst retten zu wollen ohne daran zu denken, was all das für die Anderen zu bedeuten hat! Das Volk mag davon nichts wissen, aber Seto, Mana und auch Riell sind im Bilde und wollen dennoch einer Konfrontation aus dem Weg gehen. Ich kann ihre Argumente verstehen, sie sind ebenso wie du mitverantwortlich für alles, was die Ägypter betrifft aber dennoch … Es ist einfach zum Haare raufen, weißt du? Ich verstehe sie auf der einen Seite, aber auf der anderen nicht und es scheint sich alles im Kreis zu drehen! Das Einzige, worin ich mir sicher bin, ist, dass aufgeben niemals der richtige Weg sein kann!“ Für einige Augenblicke breitete sich Stille in der Kammer aus. Kein Ton, außer ihre regelmäßigen Atemzüge, war zu hören. Dann spürte Yugi plötzlich eine Hand auf seiner Schulter. Er sah auf und blickte in Atemus Gesicht, das ein leichtes Lächeln zierte. „Mir scheint, als war es nun an der Zeit für dich, all das herauszulassen, was dich belastet. Und ich bin froh, dass du es getan hast.“ Der Kleinere nickte matt. „Ja, vielleicht. Aber das bringt uns der Lösung des Problems nach wie vor nicht näher.“ Der Ältere ließ die Hand sinken. „Doch, das hat es. Denn das, was du gesagt hast, hat mich in der Entscheidung bestärkt, die in dieser Angelegenheit getroffen habe. Nun lass uns gehen. Ich werde erwartet und muss zuvor noch mit Riell, Seto und Mana sprechen.“ „Du wirst erwartet? Von wem?“ Atemu wandte sich noch einmal um. „Ich werde tun, was ich längst hätte tun sollen – ich werde zu meinem Volk sprechen.“ Kapitel 57: Auftakt ------------------- Eine angespannte Stille herrschte auf dem weiten Wüstenfeld, das sich vor Theben erstreckte. Zehntausende Zivilisten und Soldaten hatten sich hier, vor der Stadtmauer, eingefunden, um den Worten des Pharao zu lauschen, den sie mit angespannten Mienen erwarteten. Reiter waren am frühen Morgen durch die Stadt geritten und hatten die Botschaft verkündet, dass sie alle hierher kommen sollten, an den einzigen Platz, wo es genügend Raum für sie alle gab. Ihr König selbst wollte zu ihnen sprechen, auf dass jeder Einzelne, der sich noch in der Stadt befand, seine Worte hören sollte. Atemu war angespannt, als er durch das Stadttor hinausschritt, sich einen Weg durch die Menge bahnte und anschließend eine Düne erklomm, von der aus er das Volk, die ihm anvertrauten Seelen sehen konnte. In der Menge konnte er auch die wenigen Schattentänzer ausmachen, die schon in Men-nefer an seiner Seite gekämpft hatten. Auf den Stadtmauern erkannte er seine Freunde und Gefährten. Seto und Riell hatten ihn begleiten wollen, doch er hatte darauf bestanden, dass sie dort blieben. Das hier musste er alleine tun. Diese Entscheidung durfte nicht auf ihren Schultern ruhen. Er war es, der sie tragen musste. Er, der Auserwählte der Götter, der zeitlose König. Noch immer hallten die Worte der Anderen durch seine Gedanken, die verschiedenen Ansichten, mit denen er noch kurz bevor er hierher kam, konfrontiert worden war. “Wie könnt ihr dabei bleiben? Meint ihr wirklich, ihr schlaft dadurch ruhiger? Dadurch, dass ihr alles hinschmeißt? Wo ist euer Vertrauen in euch und in Atemu hin?“ - Joey “Im Endeffekt liegt die Entscheidung bei euch, Majestät. Doch nach langer und eingehender Überlegung kann ich Euch nicht guten Gewissens empfehlen, Caesian anzugreifen.“ - Seto “Ihr alle seid nichts als feige, dreckige Ratten!“ - Bakura “Aber es geht hier doch nicht nur um Ägypten oder um die Welt, aus der wir kommen. Es geht um Generationen von Menschen, die in Knechtschaft heranwachsen werden, in einer Welt, die von den Relikten zerrissen ist! Das könnt ihr doch nicht einfach ignorieren ...“ - Tea “Risha hätte vielleicht die Kraft gehabt, eine Entscheidung zu treffen – ich habe sie nicht. Es tut mir leid, Euer Hoheit.“ - Riell “Ich möchte, dass du weißt, dass ich nicht an dir zweifle und es niemals tun werde, gleich wie du entscheidest. Ich folge dir bis an das Ende der Welt, gleich wie steinig der Weg auch sein mag.“ - Mana “Ich habe gesagt, ihr sollt realistisch bleiben – nicht, dass ihr den Schwanz einziehen sollt wie räudige Schakale. Ihr seid erbärmlich!“ - Marlic “Ich verstehe eure Angst, eure Verzweiflung und eure Ohnmacht. Aber das kann und darf nicht die Lösung sein!“ - Yugi “Ich weiß nicht, wie ich entscheiden würde. Zumal ich nicht glaube, dass es eine richtige und eine falsche Entscheidung gibt …“ - Ryou “Als ich damals glaubte, es sei mein Schicksal, mich der Dunkelheit zu hinzugeben, habe ich aufgegeben. Aber dann kamst du und hast mir gezeigt, dass es niemals richtig sein kann, einfach aufzugeben. Wärst du nicht gewesen, ich wäre heute nicht hier.“ - Marik “Wie oft sah es schon so aus, als würde die Welt untergehen? Ich erinnere mich noch an das Siegel von Orichalcos, das die Welt, aus der wir kommen, vor noch gar nicht allzu langer Zeit bedroht hat. Da hat Atemu auch nicht aufgegeben – und er hat gesiegt.“ - Duke “Konflikte müssen ausgefochten werden. Durch Weglaufen löst man sich nicht, man zögert das unweigerliche nur immer weiter hinaus!“ - Tristan Er hatte sie alle gehört, sich jeden einzelnen Punkt der zahlreichen Argumentationen durch den Kopf gehen lassen. Dann stand seine Entscheidung fest. Nun war er hier, um sie zu verkünden. Es war ihm nicht leicht gefallen. Gleich, wie sehr er auch hinter seinem Entschluss stand, war er ebenso richtig wie falsch. Es würde Gegenstimmen geben, dessen war er sich bewusst. Doch diese hätten auch existiert, würde er anders handeln. Als er den Kamm des mächtigen Sandhügels erreichte, war das allgegenwärtige Gemurmel, das ihn bei seinem Erscheinen begrüßt hatte, längst verstummt. Tausende von Augen waren auf ihn gerichtet, erwartungsvoll und zugleich bangend. Atemu schluckte. Es ging um alles oder nichts. Er sandte ein Stoßgebet zu den Göttern, dann hob er zu sprechen an. „Volk Thebens, hohe Mitglieder der Armee, Kinder Ägyptens! Ich trete in dieser dunklen Stunde vor euch, um zu verkünden, wie ich entschieden habe – über unser künftiges Verhalten in einem Konflikt, der das Leben, das Land und die Religion, die wir seit tausenden von Jahren pflegen, bedroht. Doch zunächst erscheint es mir von höchster Wichtigkeit, eine Befürchtung aus dem Weg zu räumen, die die Herzen vieler Ägypter ergriffen zu haben scheint – jene, dass wir in Caesian einer Strafe der Götter selbst gegenüber stehen.“ Gemurmel war in der Menge zu hören, hier und da konnte der Pharao sehen, wie verhalten genickt wurde. „Ich, Atemu, Stellvertreter der Götter auf Erden, ihr demütiger Diener, ihr gewähltes Sprachrohr versichere euch allen, dass dem nicht so ist. Kein einziger Gott hat gewollt, dass dieses Unheil über uns kommt. Das weiß ich gewiss, denn sie waren es, die uns in die Lage versetzten, einen Teil der Relikte zu erlangen, ehe dies unserem gemeinsamen Feind gelingen konnte. Das taten sie mit ihren Weisungen, mit ihrem guten Willen und indem sie uns die Kraft gaben, bis hierhin auszuhalten. Dadurch bewahrten sie Ägypten vor weiterem Schaden. Doch auch sie sind nicht unbetroffen von den Dingen, die dieser Mann, dieses Monster über unsere Heimat gebracht hat. Auch sie leiden, mit ihren Kindern, die sie einst aus sich selbst heraus schufen. Doch ihre Mächte sind gewaltig, so gewaltig, dass es fatal wäre, würden sie in das sich immer drehende Rad des Schicksals eingreifen. Und deshalb bitte ich euch, verzagt nicht! Die Götter sind bei uns, jetzt und an jedem weiteren Sonnenlauf, der kommen wird. Ich spüre ihre Gegenwart, und auch, wenn sie sich uns nicht zeigen, wenn sie stumm bleiben mögen, so weiß ich doch, was ihr Wille ist: dass Caesian aufgehalten wird. Und genau das, Volk von Ägypten, werden wir tun!“ Das Gemurmel, zuvor verhalten, schwoll mit einem Mal an. Der skeptische Ton, der darin mitschwang, war ganz klar herauszuhören. „Ich kenne eure Bedenken, eure Zweifel und eure Angst. Meine Augen und Ohren sind nicht verschlossen, sondern weit geöffnet. Doch ich sage euch, dass wir nicht verzagen dürfen! Dieser Mann, der einfach so in unser Land kam und glaubt, er könnte es sich nehmen, wie er wolle, irrt! Wir werden ihm zeigen, dass niemand den Willen unserer Götter und unseres Volkes brechen kann! Wir werden ihm die Stirn bieten, auf dass er es sein wird, der verängstigt im Staub kauert, während wir triumphieren! Ja, wir sind zahlenmäßig unterlegen. Ja, Caesian ist im Besitz göttlicher Relikte und nennt eine unheimlich machtvolle Ka-Bestie sein eigen. Ja, er befehligt ein Heer Untoter. Doch seht euch doch nur einmal um, was wir ihm entgegenzusetzen haben!“ Atemu machte eine ausschweifende Handbewegung, als wolle er um sich zeigen. Tatsächlich wurde die Menge ruhiger, hier und da wurden verstohlene Blicke getauscht. „Ein Volk, das es bislang noch niemals nötig hatte, sich zu verstecken, das im Glauben fest ist und in der Herkunft vereint. Wir haben den Willen der Götter auf unserer Seite, die stets auf uns herabblicken, uns begleiten und uns, sollten wir sterben, in die Ewigkeit führen. Dieselben Götter, die mir ihre eigenen Geschöpfe sandten, die göttlichen Kreaturen Obelisk, Slifer und Ra! Wir haben Pyramiden erbaut, da hausten andere Völker noch in Lehmhütten. Wir zählen die klügsten Köpfe dieser Welt mitunter zu den unseren. Ägypten ist die Wiege des Ka, nirgendwo sonst gibt es ein Heer, das mehr Bestien in seinen Reihen hat. Wir haben gut ausgebildete Kämpfer. Wir haben die beste Hofmagierin und den stärksten Hohepriester, die dieses Land je gesehen hat auf unserer Seite. Ja wir haben es in den Wogen dieses Krieges gar geschafft, uns mit den Schattentänzern auszusöhnen, und so wertvolle und wichtige Verbündete gewonnen. Auch andere, mit denen ein gemeinsames Ziel vor noch wenigen Mondläufen undenkbar gewesen wäre, haben sich uns angeschlossen. Wir haben im Lauf unserer Geschichte zahllose Konflikte überwunden, im Inneren wie auch von außen kommend, und wir haben niemals aufgegeben.“ Erneut hob das Gemurmel an, doch diesmal hatte sich sein Klang verändert – er war von Zustimmung geprägt. „Nicht einmal sind wir zurückgewichen – und das, Volk Ägyptens, werden wir auch jetzt nicht tun. Ich beschwöre euch, lasst euch nicht von den Schatten, die über uns hängen mögen, verunsichern, denn wir können sie vertreiben, wenn wir uns ihnen nur vereint und entschlossen gegenüberstellen! Wir können diese Bedrohung bezwingen, wie wir jede andere bezwungen haben! Für uns, aber auch für unsere Kinder und alle Generationen, die noch folgen mögen!“ Rufe wurden laut. Einige Angehörige der ägyptischen Armee reckten zustimmend ihre Waffen, die das Sonnenlicht reflektierten, in die Höhe. „Gewiss wäre es verblendet zu behaupten, dass diese Tat keine Opfer fordern wird, denn das wird sie mit Sicherheit. Doch wenn wir unseren Mut nicht verlieren, uns unseren Problemen stellen und die Feigheit aus unseren Herzen verbannen, so haben wir nichts zu befürchten, denn dann werden uns die Götter in ihren Schoß aufnehmen, in die ewigen Gefilde des Jenseits. Erkämpfen wir uns unseren Platz dort, für jetzt oder in der Zukunft! Ich in jedem Fall werde kämpfen, ohne Furcht und ohne Bedauern, sollten mich die Götter zu sich rufen – denn ich weiß, dass ich mein Land, euch und alle, die da noch kommen werden, verteidigt habe, mit allen Mitteln, und nicht kampflos aufgegeben habe, was unsere Vorfahren und die Götter selbst einst erschaffen haben, um es uns anzuvertrauen. Ich werde sie nicht enttäuschen und alles in meiner Macht stehende tun, um zu verhindern, dass ein Wahnsinniger all das zu Nichte macht – denn dies ist unsere Bestimmung.“ Die Masse wurde laut, die Rufe zahlreicher. Fäuste wurden in die Höhe gestreckt, irgendwo wurde ein Lied angestimmt. In Atemu machte sich unendliche Erleichterung breit, denn er wusste, was die Worte zu bedeuten hatten, die ob der schieren Menge nur vereinzelt an sein Ohr drangen: Er hatte es geschafft. Das Volk war mit ihm. „Für die Freiheit! Für Ägypten!“, rief er schließlich und reckte ebenfalls die Faust in die Höhe. Die Menge brach in Toben aus. Lobpreisungen und Versprechen der Unterstützung, traditionelle Gesänge und Mutmachungen, Gebete und Beschwörungen des Zusammenhalts brandeten über ihn hinweg. Sein Blick glitt über die ungeheure Menge von Seelen, die ihre ganze Zuversicht in ihn setzten. Er durfte sie nicht enttäuschen. Nur langsam fand sie den Weg aus den Nebeln, die ihr Bewusstsein umfingen. Dann endlich gelang es ihr, sie beiseite zu schieben und aus dem regelrechten Koma zu entkommen, in dem sie gefangen war – wie lange, wusste sie nicht. Alles, was sie wusste, war, dass sie aufwachen musste. Nur mit Mühe gelang es Risha die Augen ein Stück weit zu öffnen. Doch das grelle Licht der Sonne blendete sie, sodass sie sie gleich wieder schloss. Ihr Kopf fühlte sich an, als wolle er zerspringen. Ihre Haut schmerzte bei jeder noch so winzigen Bewegung. Als sie nach einer Weile noch einmal die Lider öffnete, sah sie den Sonnenbrand, der sie ob ihrer schon immer blassen Haut heimgesucht hatte. Auch ihr rechtes Auge peinigte sie. Als sie es vorsichtig mit den Händen betastete, wurde ihr klar, dass es leicht geschwollen war. Aber warum? Und wieso war sie an Händen und Füßen gefesselt? Nur schleppend kamen die Erinnerungen zurück, gleich wie sehr sie sich anstrengte, den Prozess zu beschleunigen. Als ihr jedoch klar wurde, was geschehen war, brandete die Erkenntnis wie eine kalte Flut über sie herein. Hektisch richtete sie sich ein Stück weit auf und sah sich um – nur um Keiro zu erblicken, der in einiger Entfernung mit dem Rücken zu ihr auf dem Boden saß und zu essen schien. Sie selbst lag im Schatten eines Sandfelsens am Boden. Ihr kamen Bilder in den Kopf, von dem Abend, da sie mit Cheron in dem verfallenen Gehöft übernachtet hatte und noch einmal hinausgegangen war, um einem vermeintlichen Schakallaut nachzugehen. Jemand hatte sie niedergeschlagen. Dann noch eine Szene, irgendwo in der Wüste, jemand, der ihr eine widerliche Flüssigkeit eingeflößt hatte. Beides musste Keiro getan haben, ansonsten läge sie hier nicht gefesselt. Hätte er sie aus irgendeiner Misere befreit – die Götter mögen sie davor bewahren, ihm je etwas schuldig zu sein – dann hätte er sie losgemacht. Augenblicklich drängte sich die Frage auf, was das Ganze sollte, denn obgleich sie ihrem Vetter einiges zutrauen würde, ergab das hier schlicht und ergreifend keinen Sinn. Doch sie schob den Gedanken zunächst beiseite. Er hatte ihr Erwachen noch nicht bemerkt, wenn sie jetzt nicht zuschlug, konnte sie nicht dafür garantieren, dass sich eine solche Gelegenheit in naher Zukunft wieder bieten würde. Sie konzentrierte sich, ignorierte die Schmerzen und sammelte ihre Kräfte, um Cheron freizusetzen – vergeblich. Augenblicklich kroch ihr eine Gänsehaut über den Körper. Was hatte das zu bedeuten? Sie versuchte es erneut, doch auch diesmal zeigte sich der Pegasus nicht. Je mehr sie sich darauf konzentrierte, desto stärker wurde der Eindruck, als kämpfe sie gegen eine Barriere an, die sie von ihrem Ka trennte. Sie konnte spüren, dass Cheron da war, doch sie konnte ihn einfach nicht erreichen. Seit langer Zeit machte sich in Risha zum ersten Mal wieder so etwas wie Angst breit. Sie war wehrlos und alleine. Doch die Furcht hatte, ebenso wie alle anderen Emotionen, bei der Schattentänzerin schon immer eigenartige Wege genommen. Sie richtete sich ein Stück weiter auf und taxierte Keiros Rücken mit Blicken, in denen die Wut nur so kochte. „Was hast du mit Cheron gemacht?“ Der Andere zuckte bei den Worten, die die Stille der Wüste so plötzlich durchdrangen, nicht einmal zusammen. Stattdessen warf er einen flüchtigen Blick über die Schulter und lachte leise. „Sieh einer an – ich dachte schon, ich hätte es mit der Arznei übertrieben.“ Langsam rappelte er sich auf, wandte sich um und kam zu ihr herüber. „Ich habe dich gefragt, was du mit Cheron gemacht hast, du widerliche Ausgeburt eines …!“ Ansatzlos schlug er ihr mit der Faust ins Gesicht. Nur knapp konnte sie sich abfangen, damit sie nicht mit der anderen Seite ihres Kopfes auf den Boden prallte. Voller Verachtung sah sie ihn an, rechnete damit, dass seine Augen vor Zorn sprühten – doch das taten sie nicht. Er betrachtete sie abschätzig mit einem irren Grinsen und einem noch wahnsinnigeren Funkeln in den Augen. „Also wirklich … da war Resham immer so besorgt um dich und hat es doch versäumt, dir Manieren beizubringen. Aber keine Sorge, ich bin ja da.“ Er kniete sich vor sie. „Ich kriege das schon hin – und werde gar noch meinen Spaß dabei haben, so wie es derzeit aussieht.“ Risha wusste nicht, warum, doch ein Instinkt veranlasste sie dazu, bei diesen Worten ein Stück weit von ihm wegzurutschen. „Was bei allen Götter ist los mit dir? Bist du jetzt endgültig übergeschnappt?“, schoss sie zurück, wobei die übliche Schärfe in ihrem Ton fehlte. Ebenso gelang es ihr nicht, die Besorgnis gänzlich aus ihrer Stimme zu verbannen. Irgendetwas stimmte nicht. Sie kannte Keiro und das war nicht der Kerl, mit dem sie seit ewigen Nilüberschwemmungen einen nicht enden wollenden Konflikt ausfocht. Nein, der Mann hatte mehr eine Ähnlichkeit mit Caesian, als mit dem verhassten Vetter, der sich stets bemüht hatte, ihr aus dem Weg zu gehen. Dass er so rabiat vorging und gar die Konfrontation suchte, passte nicht zu ihm. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht. „Übergeschnappt? Oh nein. Ich habe vielmehr endlich verstanden. Aber bis ich dieses Wissen mit dir teile, wird es noch etwas dauern. Das hier“, er gestikulierte um sich, „ist nicht der passende Ort dafür.“ „Was hat das nun wieder zu bedeuten? Wohin bringst du mich?“ Risha ließ den Blick umherschweifen, doch konnte unmöglich feststellen, wo sie sich befand. Das einzige, was sie mit Sicherheit sagen konnte, war, dass sie sich östlich des Nils befinden mussten, da das Land hier steiniger und weniger flach war, als im Westen. „Alles zu seiner Zeit. Ich würde doch der ganzen Sache die Überraschung nehmen, würde ich dir das schon jetzt verraten“, erwiderte Keiro nur feixend und erhob sich. „Wag‘ es nicht, mich hier einfach so hocken zu lassen! Ich frage dich ein letztes Mal: Was ist mit Cheron?“ Ein Glucksen war die Antwort. „Und was willst du tun, wenn ich es dir nicht verrate? Hm? Es ist ganz einfach, du kannst gar nichts tun, denn ich habe die vollständige Kontrolle über dich. Aber ich will nicht so sein: Du kannst dir die Mühe ersparen, deinen Ka rufen zu wollen. Ich habe ihn gebannt.“ „Dazu bist du gar nicht in der Lage! Du hast keine Ahnung von Magie!“ „Und das weißt du woher? Es ist viel Zeit vergangen, wir haben uns verändert. Haben Dinge dazugelernt … Auf deinem Rücken befindet sich ein Bannsymbol, geschrieben mit meinem Blut.“ Zum Beweis zeigte er ihr seine Handfläche, deren Haut von einem Schnitt gespalten wurde. „Für gewöhnlich sind diese Dinger recht unpraktisch, da sie sich leicht entfernen lassen. Nur leider kannst du das in deiner derzeitigen Lage nicht … zu traurig aber auch.“ Er ging zu seinem Pferd hinüber, wühlte in der Satteltasche herum und förderte schließlich einen Brocken Brot zutage, den er Risha vor die Füße warf. „Iss. Für den Augenblick brauche ich dich noch.“ Damit wandte er sich ab. Seiner Base jedoch war der Appetit vollständig vergangen. Ein Bannsymbol – Blutmagie. Keiro hatte sie immer verabscheut, hatte die Schattentänzer unter anderem für die gelegentliche und begrenzte Ausübung eben jener Zauberkunst verachtet. Wann hatte sich das geändert? Woher der plötzliche Sinneswandel? Er war für gewöhnlich niemand, der sein Fähnchen nach dem Wind richtete, sondern stand zu den verqueren Ansichten, die er hegte. Irgendetwas war falsch … Und das beunruhigte sie mehr, als ihr lieb war. „Dir ist bewusst, dass die Schattentänzer nach mir suchen werden, oder? Was glaubst du passiert, wenn sie herausfinden, dass ausgerechnet du mich verschleppen wolltest?“, versuchte sie erneut, ihm zu drohen. Er wusste nicht, dass sie die Gruppe verlassen hatte, weil es einen Konflikt mit Riell gegeben hatte, dachte eventuell, sie sei aus bestimmten Gründen alleine unterwegs gewesen. Doch auch diesmal schienen ihre Bemühungen keine Früchte zu tragen. Keiro wandte sich zu ihr um, während noch immer dieses überhebliche Grinsen wie gepflastert auf seinen Zügen saß. „Oh, ich bezweifle, dass das passieren wird. Immerhin hat sich der liebe Riell doch ganz klar gegen dich gestellt, als du den Pharao töten wolltest, woraufhin ein ziemlich böser Streit zwischen euch entbrannte, den du zum Anlass genommen hast, zu verschwinden – oder irre ich mich da? Nein, Risha, ich denke nicht, dass irgendjemand in naher Zukunft nach dir suchen wird. Sie alle werden denken, dass du lediglich zu stur bist, um zurück zu kommen.“ Die Gesichtszüge der Schattentänzerin entgleisten, während sämtliche Farbe aus ihrem Gesicht wich. „Das … woher …?“ „Ach, weißt du“, entgegnete Keiro im Plauderton. „Caesian ist und bleibt ein Bastard … was aber nicht heißt, dass es nicht seine Vorteile hätte, mit ihm Geschäfte zu machen.“ War Risha bislang nur überrumpelt gewesen, kroch nun so etwas wie Panik in ihr hoch. „Du hast mit ihm Geschäfte gemacht?“, wiederholte sie fassungslos. Ihr Blick wanderte zu dem Tuch, das noch immer um seinen Hals drapiert war und verweilte dort. Das Grinsen ihres Gegenübers wurde noch breiter, als er den Stoff beiseiteschob. „Allerdings. Und ich muss sagen, es hat sich gelohnt.“ Sonnengebräunte Haut, wie sie bei Ägyptern üblich war. Das war alles, was unter dem Halstuch zum Vorschein kam. Augenblicklich kochte der Hass in Risha hoch. „Du hast diesem Monster das Amulett überlassen?“, schrie sie außer sich vor Wut. „Ganz genau“, war die simple Antwort. „Ich muss sagen, ich bereue es nicht. Das Ding mag zwar imposant anzusehen sein, aber es trägt sich sehr unbequem.“ „Bist du des Wahnsinns? Dieser Kerl hat mit denen, die er bereits sein eigen nennt, schon genug Schaden angerichtet – und du gießt noch Öl in die Flammen?“, brüllte sein Gegenüber indes weiter. „Was hat er dir dafür gegeben, das es wert war, die Macht dieses Tyrannen noch zu mehren?“ „Dich.“ Die Erwiderung kam so unerwartet, dass Risha die Worte im Hals stecken blieben. Mit einem Mal schoss Keiros Hand vor, packte sie am Kiefer und zog ihr Gesicht gefährlich nah an das seine heran. „Und ja, das war jeden einzelnen Toten, den es nun geben wird, wert. Denn endlich habe ich dich da, wo ich dich haben will – auf den Knien, zu meinen Füßen. Und das ist nur ein Teil einer sehr langen Liste von Dingen, die ich mir ganz alleine für dich ausgedacht habe, Dinge, die mir große Freude bereiten werden. Dir hingegen …“ Weiter kam er nicht, da spuckte sie ihm ins Gesicht. Augenblicklich schlug er ihr mit der Faust auf das bereits geschwollene Auge und verpasste ihr somit eine Platzwunde, aus der sich Blut einen Weg über ihre rechte Gesichtshälfte bahnte. „Sieht so aus, als wäre es Zeit, schlafen zu gehen.“ Er kehrte zu der Satteltasche zurück und holte diesmal ein kleines Tongefäß hervor. Er hatte es bereits geöffnet, als er sie erreichte, riss ihren Kopf an den Haaren hoch und versuchte, ihr den Inhalt einzuflößen. Sie wehrte sich, doch Keiro hatte diese Mischung mit Bedacht gewählt. Schon kleinste Mengen, die sich unweigerlich mit ihrem Speichel vermengen und beim Schlucken einen Weg in den Magen finden würden, reichten aus, um sie für einen halben Tag außer Gefecht zu setzen. Und so kam es, dass ihre Gegenwehr bald abnahm und ihr Körper schließlich erschlaffte. „Du widerliches kleines Biest …“, murmelte er vor sich hin, während er sie betrachtete. „Ich werde sicherstellen, dass du so langsam und qualvoll stirbst, wie nur möglich …“ In Theben herrschte geschäftiges Treiben. Die Ansprache Atemus an Armee und Bevölkerung hatte Früchte getragen. Während Frauen und Kinder, Alte und Kranke ihre Habseligkeiten zusammensuchten und gen Süden aufbrachen, wurde die Stadt auf den bevorstehenden Angriff vorbereitet. An der Nordseite der Stadtmauer hatte man begonnen, die Umgrenzung aufzustocken. Da der Angriff mit großer Sicherheit aus dieser Himmelsrichtung erfolgen würde, hatte man beschlossen, hier anzusetzen. Zudem wurden an der Innenseite der Mauer zusätzliche Stützbalken angebracht. Man grub sie tief in die Erde, um dem Wall möglichst viel Halt zu geben. Schmiede schliffen indes im Akkord Schwerter, sowie die Spitzen von Lanzen nach, sie fertigten Pfeilköpfe an, besserten Rüstungsteile aus und beschlugen Schilde neu. Überall erklang das Schlagen von Hämmern auf Metall, während die Zivilisten, die sich entschlossen hatten, Theben nicht kampflos aufzugeben, schnelle Unterweisungen im Umgang mit Waffen erhielten. Man verließ sich jedoch nicht darauf, den Feind vor den Toren halten zu können und widmete sich somit auch den Gassen und Straßen. Einige von ihnen wurden mithilfe von Steinblöcken blockiert, um dem Gegner kein Labyrinth zu bieten, das dieser womöglich zu seinem Vorteil nutzen konnte – die Ägypter selbst achteten bei der Wahl der zu schließenden Wege jedoch darauf, selbst einen Nutzen daraus ziehen zu können. In anderen Teilen legten sie gezielt Fallen – eine Idee, die von der Gruppe um Yugi stammte. Gräben wurden ausgehoben, mit spitz zulaufenden Pflöcken gespickt und anschließend von einer Konstruktion aus dünnem Holz, Stroh und Sand verdeckt. An anderen Stellen befestigten sie zahlreiche Speere so in den Nebengassen, dass sie aus ihrem Versteck heraus auf den Hauptweg hinausschwenken würden, wenn man ihre Halterung durchschnitt – sollten sie einige feindliche Soldaten in diesen Hinterhalt locken können, würden sie mehrere auf einmal erledigen. Zugleich hatte diese Falle, ebenso wie die Gruben, den angenehmen Nebeneffekt, dass die Untoten sich nicht so leicht daraus würden befreien können. Ein ungemeiner Vorteil, wenn man bedachte, was es brauchte, um sich ihrer zu entledigen. Darüber hinaus wurden an mehreren Stellen auch Haufen von möglichst runden Felsen in Seitengassen errichtet und abgestützt, die man bei Bedarf loslösen konnte, um Wege zu blockieren oder einige Widersacher auszuschalten. Mana hatte zudem zwei magische Gemische gebraut und in kleine Gefäße aus Glas gefüllt. Diese baumelten nun an Vorrichtungen über einigen Straßen Thebens. Leinentücher verhinderten, dass man sie von unten sehen konnte. Kappte man nun ein Seil am Ende des Weges, rauschte das ganze Gebilde nach unten, die Behältnisse zerplatzten und die Flüssigkeiten vermischten sich – etwas, das zu vermeiden war, es sei denn, man wollte irgendetwas oder irgendwen in die Luft jagen. Das traf in diesem Fall durchaus zu. Zudem hatte sie einige verstecke Bannkreise an verschiedenen Stellen in der Stadt gezogen, die jeden, der hineintrat, einschließen würden. Für Zauberkundige bewährte sich das nicht, diese würden dem unsichtbaren Gefängnis rasch entfliehen können, doch für die Fußsoldaten Caesians sollte es reichen. Das alles und noch weitere Vorrichtungen wurden in den folgenden Tagen nach und nach errichtet. Nach drei Sonnenläufen waren die meisten Fallen bereits fertig aufgestellt und bereit zum Einsatz – etwas, das sie der Hilfe der Ka-Bestien zu verdanken hatten, denen es so viel leichter fiel, schwere Gegenstände zu bewegen, große Löcher auszuheben oder hochliegende Orte zu erreichen. Und trotzdem waren sie noch lange nicht fertig. Noch blieben ihnen etwa fünf bis sieben Umläufe ehe Caesian vor den Toren stehen würde und sie waren fest entschlossen, sämtliche ihnen zur Verfügung stehende Zeit auszunutzen, um sich weitere Überraschungen einfallen zu lassen und die Stadt bestmöglich gegen den Feind zu sichern. Am Abend des dritten Umlaufs betrachtete Atemu die Stadt von einem Balkon des kleinen Palastes aus. Auch nach Einbruch der Dunkelheit waren die Tätigkeiten in den Straßen nicht zum Erliegen gekommen. Er war erleichtert. Die Menschen arbeiteten mit Feuereifer daran, etwas zu schaffen, das sich mit der Macht ihres wahnsinnigen Widersachers messen konnte. Es war ihm gelungen, die Zuversicht und den Mut in ihnen neu zu entfachen – etwas, das wichtig war, wollten sie auch nur den Hauch einer Chance gegen Caesian haben. Er war nicht überrascht, als sich die Tür zu dem Zimmer, an das der Balkon grenzte, ohne ein Anklopfen öffnete. Als er sich umwandte, erblickte er wie erwartet Bakura. Ihre Blicke trafen sich kurz, dann bewegte sich der Grabräuber zu dem Tisch hinüber, auf dem frische Becher und eine Karaffe Wein standen. Ohne zu fragen goss er sich etwas von der dunkelroten Flüssigkeit ein. Erst, als er einen Schluck genommen hatte, widmete er seine Aufmerksamkeit wirklich dem Pharao. „Seine Majestät wollten mich sprechen?“ Atemu überging den Sarkasmus, der in dieser Frage mitschwang. Zur Antwort nickte er nur. Er hatte nach ihm schicken lassen – immerhin gab es noch etwas, das erledigt werden musste. Er hatte sein Gegenüber aus einem bestimmten Grund in der Wüste abgefangen. Dieses eigentliche Vorhaben war in den letzten Tagen jedoch in den Hintergrund gerückt, zumal sich die Erfahrung des Grabräubers, was Fallen anging, als überaus nützlich erwiesen hatte. Der Pharao hatte jedoch schließlich entschieden, dass es an der Zeit war, endlich den Fundort des letzten Relikts aufzudecken. Zwar glaubte er nach wie vor, dass es derzeit Caesians oberste Priorität war, sie zu vernichten, doch sie durften nicht riskieren, dass sie sich vielleicht irrten und er das Artefakt der Göttin Sachmet vor ihnen fand. Atemu holte die Seele der Zeit aus einem verschlossenen Schrank und breitete sie vor Bakura auf einem Tisch aus. Der Papyrus war unleserlich wie eh und je. „Wenn ich mit meiner Annahme richtig liege, dann wirst du in der Lage sein, einen vielleicht kryptischen, aber zusammenhängenden Text zu sehen. Konzentriere dich alleine auf den Wunsch, das zu schaffen und es sollte funktionieren.“ Der Grabräuber musterte ihn einen Moment abschätzig, dann zuckte er mit den Schultern und trat näher. „Was auch immer“, kommentierte er dabei. Die linke Hand hielt den Becher mit Wein, die andere legte er auf den spröden Beschreibstoff. Er brauchte einen Moment, bis er unter den Augen des Pharao die nötige Ruhe fand, um sich auf die Seele der Zeit zu fokussieren. Er versuchte, sich das letzte Artefakt vor seinem inneren Auge vorzustellen, so bildlich es nur ging, malte sich aus, wie es wohl aussehen mochte. Ein gewisses Verlangen danach, es finden zu wollen, brauchte er nicht erzwingen. Er war ein Grabräuber und es handelte sich nicht nur um einen mächtigen, sondern auch wertvollen Gegenstand. Zugleich war ihm klar, dass Caesian Sachmets Relikt niemals in die Hände bekommen durfte, gleich wie sehr der Pharao dadurch bedroht werden mochte. Er allein würde es sein, der ihn tötete, und sonst niemand. Als er die Lider, die er zwischenzeitlich geschlossen hatte, wieder aufschlug, blinzelte er – nicht überrascht, aber doch ein wenig verdutzt. Tatsächlich offenbarten sich vor ihm einige Zeilen Text, die einen Zusammenhang zu haben schienen. „Was siehst du?“, ließ die Frage von Seiten des Königs nicht lange auf sich warten. Bakura warf ihm einen kurzen Blick zu, wobei er die Augen verdrehte. Dann las er vor, was auf der rauen Oberfläche geschrieben stand. Vom Firmament gestoßen, auf Erden verborgen, der Schlächterglanz. Der Menschen Heil, Der Menschen Geißel, niemandes wahrer Feind. Vergessen im Staub, an goldenen Fluten, gespeist von Blut. Als er geendet hatte, zog er die Hand vom Papyrus und nahm einen Schluck Wein aus seinem Becher. „Dann streng mal deine grauen Zellen an, Hoheit“, sagte er, nachdem beide eine Weile lang geschwiegen hatten. „Irgendwelche Ideen?“ Atemu hatte die Stirn in Falten gelegt und die Arme vor der Brust verschränkt. „Die ersten drei Zeilen sollten wir wie gewöhnlich außer Acht lassen können. Der nächste Teil scheint, wie schon beim letzten Artefakt, Eigenschaften der Göttin Sachmet zu verbildlichen. Konzentrieren wir uns also auf den letzten Absatz. Vergessen im Staub ist eindeutig, darüber müssen wir uns keine Gedanken machen. Demnach sind einzig und allein die letzten beiden Zeilen das, was wir entschlüsseln müssen, um herauszufinden, wo das Relikt verborgen ist.“ „Welche Beobachtungsgabe“, stichelte Bakura, während seine Augen immer wieder über den letzten Teil des Textes flogen. „Der Nil wird wohl kaum gemeint sein“, überlegte er schließlich laut. „Er wird aus zwei Quellen samt Zuflüssen im Süden gespeist, nicht aus Blut – oder aus irgendetwas, das man im übertragenen Sinne als solches bezeichnen könnte.“ „Dem stimme ich zu“, erwiderte Atemu und überging den Sarkasmus seines Gegenübers wieder einmal gekonnt. „Allerdings haben wir dann ein Problem. Es gibt keine Flüsse in der Gegend, die nicht vom Nil abzweigen – das heißt, alles Wasser in Ägypten fällt schon einmal aus der Liste der Versteckmöglichkeiten heraus.“ „Richtig. Das heißt, man muss es als Umschreibung von etwas betrachten.“ „Ja. Das Einzige, was mir im Augenblick jedoch einfällt, wäre das allgegenwärtige Sandmeer, die Wüste also. Das würde auch zu dem Hinweis passen, dass es im Staub vergessen wurde. Ich denke, wir können ziemlich sicher sein, dass damit tatsächlich die Wüste gemeint ist. Aber wo?“ „Ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber mir fällt kein Ort ein, an dem Blut zu Sand wird“, kommentierte der Grabräuber und nahm erneut einen Schluck aus dem Becher. „Wenn das der einzige Hinweis ist, können wir einpacken. Ich glaube, ich brauche dich nicht extra daran zu erinnern, wie riesig die beiden Wüsten sind, oder? Wahrscheinlich bist du auf dem Holzweg.“ „Das glaube ich nicht“, entgegnete Atemu überzeugt. „Das Relikt wurde im Staub vergessen und es liegt an goldenen Fluten – was sonst könnte gemeint sein, als der Wüstensand? Auf ihn trifft die Beschreibung von Staub ebenso zu, wie die goldene Farbe. Und die goldenen Fluten der Wüste, die sich tagtäglich verändern, können sehr wohl den Wellen eines Meeres gleichen.“ Goldene Fluten? „Das Einzige, was einfach in keinen Zusammenhang passen will, ist das Blut, das die Fluten speist. Es ist klar, dass wir diese Zeile nicht wörtlich nehmen dürfen, aber wie ist sie zu übertragen? Das Blut ist die Kraft, der Lebenssaft des Menschen. Dort, wo er einem abhandenkommt, wartet der Tod. Was, wenn hier abermals von einer Nekropole die Rede ist … doch von welcher?“, fuhr Atemu fort. Gespeist von Blut? „Auch ein Schlachtfeld würde vielleicht in Frage kommen – doch davon gibt es ebenfalls zu viele in diesem Land … Oder vielleicht …“ Der Pharao beendete seinen Satz nicht, sondern schreckte aus seinen Gedanken, als der Weinbecher Bakuras Fingern entglitt und scheppert auf den Boden schlug, wo sich der Inhalt rasch verteilte. Zunächst wollte der Regent die Sache einfach übergehen und zurück zum Thema kommen – dann jedoch sah er die Gesichtszüge des Grabräubers. Bakura starrte auf die Seele der Zeit, mit einem Ausdruck als habe er soeben einen Geist gesehen. Er bemerkte, dass die Hände des Diebes zitterten, während er die Zeilen wieder und wieder las. „Was ist los?“, hakte er schließlich nach. Eine Antwort sollte er zunächst nicht bekommen. Stattdessen wiederholte der Andere ein paar Mal die letzten beiden Zeilen, ehe er kurz die Augen schloss und energisch den Kopf schüttelte. Als er sie wieder öffnete, huschte sein Blick sofort wieder zu dem Papyrus. „Goldene Fluten, gespeist von Blut …“, murmelte er. „Die Milleniumsgegenstände, erschaffen durch einhundert Opfer …“ Seine Hände ballten sich zu Fäusten. „Kul-Elna …“ Kapitel 58: Endlos ------------------ Endlos „Kul-Elna …“ Bakura starrte hinab auf den Papyrus, der ausgebreitet auf dem Tisch lag. Wie konnte das sein? Warum war das letzte Relikt, der letzte göttliche Gegenstand, ausgerechnet in seinem Heimatdorf versteckt? Irrte er sich vielleicht? Nein. Nein, das tat er nicht. Es konnte nichts anderes gemeint sein, als der Ort, an dem die Milleniumsgegenstände einst ihren Ursprung hatten. Dort waren sie gegossen worden, dort hatte man sie aus den Seelen von einhundert Menschen erschaffen. „Bist du dir absolut sicher?“, riss ihn die Stimme des Pharao schließlich aus den Gedanken. Der Grabräuber fand seine Fassung daraufhin erstaunlich schnell wieder. „Oh nein, ich habe das einfach mal so in den Raum geworfen – natürlich bin ich mir sicher, was denkst du denn?“ Atemu sah ihn einen Moment lang forschend an, dann nickte er. „Gut. Ich werde die Anderen zusammenrufen, dann sehen wir, wer von uns dorthin gehen wird.“ Er wollte sich bereits abwenden, da hielt Bakura ihn harsch zurück. „Vergiss es. Ich gehe.“ Der Regent legte die Stirn in Falten, offenbar skeptisch ob dieser Entscheidung. „Bist du sicher?“ „Allerdings. Keine von diesen Maden wird auch nur einen Fuß in das Dorf setzen, geschweige denn darin herumschnüffeln. Ich breche umgehend auf.“ Einen Moment lang schien Atemu nicht überzeugt, dann jedoch nickte er. „Gut. Ich werde ein Pferd satteln und mit Proviant versehen lassen. Denk daran, dass du Caesian praktisch entgegen reitest. Am besten machst du einen Bogen um das Heer.“ „Deine Ratschläge kannst du dir sparen. Ich kann auf mich selbst aufpassen.“ Damit rauschte der Grabräuber an ihm vorbei und aus dem Raum hinaus. Als die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, wanderte der Blick des Pharao zurück zu der Seele der Zeit. Er musste zugeben, der Gedanke, Bakura auf das letzte Artefakt anzusetzen, behagte ihm ganz und gar nicht. In diesem Fall weniger, weil er befürchtete, dass er sich mit dem Speer der Sachmet aus dem Staub machen könnte, sondern aus zwei anderen Gründen. Zum einen kam er, so sehr er den Anderen auch verabscheute, nicht umhin zuzugeben, dass Diabound eine mächtige Ka-Bestie war. Ihre Kraft würde in der bevorstehenden Schlacht fehlen. Zum anderen gefiel ihm nicht, dass Bakura ausgerechnet nach Kul-Elna ging. Der Ort hatte eine Geschichte, eine, die Dreh- und Angelpunkt im Leben des Grabräubers war. Er hatte bereits mehrfach deutlich gemacht, dass er sich Atemus annehmen wollte, sobald dieser Krieg vorbei war – ein Konflikt, den der Regent nach Möglichkeit nach wie vor vermeiden wollte. Die Rückkehr an den Platz seiner Geburt und einer unfassbaren Tragödie zugleich würde den Hass, der in Bakuras Herz brannte wie eine nicht zu sättigende Glut, noch weiter befeuern. Er verdrängte die Gedanken. Das alles lag noch in der Zukunft. Hier und jetzt musste er sich auf Caesian konzentrieren, allem anderen würde er seine Aufmerksamkeit widmen, wenn es akut wurde. Eine Frage blieb jedoch. „Was hast du dir dabei gedacht, als du das Relikt an diesem Ort versteckt hast?“, murmelte er in die Dunkelheit hinein. Es war nun bereits einige Umläufe her, dass Caesian Men-nefer hinter sich gelassen hatte. Seitdem hatte Taisan seine Zeit damit verbracht, den Wiederaufbau der Stadt zu überwachen und sich mit der neuen Umgebung vertraut zu machen. Dabei beschränkte er sich allerdings nicht nur darauf, sich im Palast und der Stadt umzusehen. Auch hatte er die Tempel besucht und zahllose Stunden in der Bibliothek zugebracht, um sich mit Geschichte und Kultur Ägyptens tiefer auseinanderzusetzen. Und doch fand er keine Ruhe. Immer wieder kehrte die Frau mit dem weißen Haar in seine Gedanken zurück. Er hatte seit diesem Abend, da er sie zum ersten und bislang einzigen Mal gesehen hatte, nichts mehr von ihr gehört. Die Wachen hatten auf Nachfrage gesagt, dass sie wieder weggesperrt worden war und sich seitdem ruhig verhielt. Und dennoch musste er immer wieder an diese Begegnung zurückdenken, an ihr unscheinbares Äußeres, ihren verängstigten Blick. Er wurde dieses unbestimmte Gefühl nicht mehr los, jenes, das ihm zuflüsterte, irgendetwas stimme hier nicht. Es drängte sich ihm wieder und wieder auf, unnachgiebig, unerbittlich, verfolgte ihn selbst des Nachts und raubte ihm den Schlaf. So hatte er schließlich eine Entscheidung getroffen. Mit entschlossenen Schritten wanderte er durch den Palast, dem Ort entgegen, wo man die Frau eingesperrt hatte. Der Wachmann, der ihn begleitete, hatte anfangs versucht, ihn davon abzuhalten, doch alle Bemühungen waren vergebens gewesen. Nachdem er das eingesehen hatte, hatte er begonnen, seinem Herren eindringlich zu predigen, dass den Worten dieses Weibes kein Glauben geschenkt werden durfte. Erst, als Taisan ihm mit einer für seine Verhältnisse harschen Geste zu schweigen geboten hatte, war er endlich verstummt. Er würde selbst entscheiden, wem er Gehör schenkte und wem nicht – zumal er zu diesem Zeitpunkt nicht vorhatte, Caesians Entschluss in irgendeiner Art und Weise in Frage zu stellen. Er würde seine Gründe gehabt haben, diese Frau einzusperren. Doch auch sein Bruder war nicht unfehlbar, auch der jetzige Herrscher Ägyptens war nur ein Mensch – ebenso wie die junge Frau, die wie jeder andere auch ein Recht darauf hatte, dass man der Sache gebührend nachging, ehe man sie verurteilte. Und genau das würde er tun. Sollte er an der Seite Caesians herrschen, konnte er nicht immerzu alle Verantwortung, alle Entscheidungen auf seinen Bruder abwälzen. Er musste eigene Schlüsse ziehen und dementsprechend handeln. So erreichten sie schließlich den Flur, auf dem die Kammer der Weißhaarigen lag. Der Hauptmann setzte sich einige Schritte vor ihn und gab Anweisung, die Türe zu öffnen. Die Schlüssel des dicken Bundes, den eine der Wachen bei sich trug, klirrten laut, während nach dem richtigen Öffner gesucht wurde. Taisan konnte schließlich hören, wie der Riegel zurückschnappte und das Holz knarrend aus dem Rahmen schwang. „Euer Hoheit, lasst mich Euch begleiten. Sie ist wirklich …“ „Davon werde ich mich selbst überzeugen, Hauptmann. Nun geht.“ Damit wandte sich Taisan um und verschwand in dem Zimmer, ehe die Tür leise ins Schloss fiel. Yugi ließ sich erschöpft im Schatten nieder und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Er griff nach dem Wasserschlauch und trank gierig daraus. Joey, Tristan und Duke begutachteten derweil ihr Werk. Gerade hatten sie gemeinsam eine weitere Fallgrube fertiggestellt. Wusste man nicht, dass sie existierte, war es ein leichtes, sie zu übersehen. Genau aus diesem Grund waren die Gassen Thebens, die mit Hinterhalten gespickt waren, auch mit kleinen Wimpeln und anderen Dingen kenntlich gemacht worden. Nicht, dass am Ende noch einer der ihren in die Falle tappte. Sie hatten sich bei den Markierungen allerhand einfallen lassen müssen, um kein eindeutiges Muster zu hinterlassen, das dem Feind eventuelle Hinweis auf die Dinge gaben, die ihn erwarteten. Eine Lösung war jedoch mit gewöhnlichen Alltagsgegenständen schnell gefunden worden. Neben den bereits genannten Wimpeln waren auch Töpfe, Steine und andere Dinge des täglichen Gebrauchs, die in den Straßen einer großen Stadt nicht weiter auffallen würden, genutzt worden. Heute war bereits der vierte Tag, an dem sie eine Falle nach der anderen installierten. Allmählich mussten sie immer genauer darauf achten, wo sie hinliefen, doch bislang hatte ihr Makierungssystem einwandfrei funktioniert. Joey kam schließlich zu ihm herüber und setzte sich neben ihn, ehe er ebenfalls nach dem Wasserschlauch griff. Auch Duke und Tristan gesellten sich zu ihnen. „Wieder eine fertig. Wohin geht’s als nächstes?“, äußerte der Braunhaarige, nachdem auch er sich erfrischt hatte. „Ich hab‘ da vorne noch eine Seitenstraße gesehen, die könnte ebenfalls eine Fallgrube vertragen“, schlug Joey vor. „Klingt gut. Machen wir das“, stimmte Yugi zu und erhob sich. Gerade, als sie auf die Hauptstraße hinausgetreten waren, hielten sie jedoch inne. Jemand rief nach ihnen. Als sie sich umsahen, entdeckten sie Mana, die ihnen entgegen eilte. Yugi erkannte die beiden Gegenstände, die sie mit sich führte, sofort. Es handelte sich dabei um zwei Diadiankhs. „Hallo“, grüßte er sie freundlich, als sie sie erreicht hatte. „Alles in Ordnung bei dir? Wie kommen Tea und du mit der Arbeit voran?“ „Ach, danke, alles gut. Wenn du mich fragst, wäre Tea definitiv Magierin geworden, wäre sie in diesem Zeitalter aufgewachsen. Ich habe ihr jetzt allerdings erst einmal eine kleine Pause gegönnt, nachdem es da ohnehin noch etwas gab, um das ich mich kümmern musste“, erklärte die Hofmagierin. Dann wandte sie sich an Tristan und Duke. „Ihr beide seid ja erst recht spät zu unserer kleinen Gruppe gestoßen und leider auch genau dann, als wir keine Möglichkeit hatten, euch mit entsprechender Unterstützung für die bevorstehenden Auseinandersetzungen auszustatten. Das möchte ich jetzt gerne nachholen“, sagte sie und hielt den beiden die mitgebrachten Diadiankhs entgegen. „Hier bitte, diese beiden sind für euch.“ Die Angesprochenen tauschten einen verdutzten Blick, ehe sie nach den goldenen Apparaten griffen. „Die sehen aus wie altertümliche Dueldisks“, kommentiere Duke. „Das sind die gleichen, wie ihr sie an den Armen habt, oder?“, erkundigte er sich anschließend bei Yugi. Der nickte zur Bestätigung. „Moment mal, heißt das, da sind Monster drin, die wir rufen können?“, hakte Tristan derweil bei Mana nach. „Ganz recht. Sie wurden versiegelt, weil ihre Träger ihrer unwürdig waren. Dass sie an keinen Menschen mehr gebunden sind, hat also rein gar nichts mit den Ka zu tun, ihr könnt ganz unbesorgt sein. Wenn ihr sie rufen wollt, legte einfach den Diadiankh an und konzentriert euch auf ihn. Manchmal klappt es nicht beim ersten Anlauf, aber eigentlich sollte es nach kurzer Zeit gelingen.“ Darum ließen sich die beiden nicht zweimal bitten. In Windeseile saßen die goldenen Gestelle an ihren Unterarmen. Duke gelang es schließlich als erstes, das darin versiegelte Wesen heraufzubeschwören. Vor ihm erschien ein Wolf, der jedoch starke mechanische Züge aufwies. Drei Schweife, die metallenen Peitschen ähnelten, lange, scharfe Eckzähne und im Sonnenlicht glänzende Klauen machten den bedrohlichen Anblick des Wesens aus. Seine Schulterhöhe entsprach etwa der seines Trägers. „Das ist ein Gigatech-Wolf, oder?“, meinte Duke nach kurzem Zögern. Er kannte die dazugehörige Karte und wusste, dass sie nicht gerade zu den stärksten zählte – jetzt, wo er dieses Wesen allerdings in Lebensgröße vor sich sah, verstand er gar nicht, warum sie im Spiel nicht einen deutlich höheren Stellenwert erreicht hatte. „Ich glaube schon. Worauf ich vielleicht noch hinweisen sollte, ist, dass die Kraft der Monster in dieser Sphäre von der ihres Trägers abhängt. Die Angriffspunkte, die die Karten aus unserer Zeit tragen, spielen hier also gar keine Rolle“, erklärte Yugi, während nun auch Tristan seinen neuen Begleiter herbeirief. Kurz durchzuckte ein greller Schein die Straße, dann materialisierte es sich vor ihm: eine Gestalt, die ihrem Träger gerade einmal bis zur Hüfte reichte und in der Luft schwebte. Ein bläuliches, jedoch scheinbar nicht formfestes Gesicht mit zwei tiefblauen Augen lugte unter der Kapuze eines dunkelvioletten Umhangs hervor. Darüber trug es einen mit Stickereien verzierten, roten Überwurf. Ein halbkreisförmiges Gebilde schwebte knapp über seinem Kopf. Die Arme waren nicht mit dem Körper verwachsen, sondern schienen sich frei in der Luft zu bewegen. Eine Handvoll Irrlichter folgte jeder Bewegung des Wesens, das sich neugierig und hohe, summende Laute ausstoßend umsah. „Ähm … was … ist das?“, fragte Tristan schließlich in die Runde, wahrlich bemüht darum, das ihm anvertraute Ding nicht zu verärgern. „Das ist Qi“, erklärte Mana. „Hierbei handelt es sich um einen Spezialfall. Dieses Monster stammt von einem jungen Mann, der dem Wahnsinn nach einer Krankheit anheimgefallen ist, sodass man ihm die Ka-Bestie nehmen musste. Er hätte in seiner Verwirrung ansonsten großen Schaden anrichten können. Da sein ursprünglicher Träger nichts dafür konnte, haben wir uns entschieden, ihm den Namen zu lassen – sofern dir das nichts ausmacht.“ Tristan wirkte sichtlich überfordert. „Nein, der ist wenigstens leicht zu merken, aber … irgendwie …“ Yugi war indes näher getreten. „Ich glaube, ich weiß, was das für ein Monster ist. In unserer Zeit heißt es ‚Die Phantomritter des Uralten Schleiers‘. Finsternis, Typ Krieger, drei Sterne, Effekt. Angriff 800, Defensive 1000.“ Joey sah ihn entgeistert an. „Woher zum Teufel weißt du das?“ Der Kleinere zuckte nur mit den Schultern. „Na ja, Duelmonsters war schon immer meine Passion. Und da ich irgendwann einmal Opas Spieleladen übernehmen will, versuche ich mich immer über die aktuellsten Karten auf dem Laufen zu halten.“ Tristan wandte sich indes an Mana. „Du hast nicht zufällig eine Ahnung, was der alles kann, oder?“ Die Hofmagierin schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich. Darüber fehlen leider die Angaben. Am besten ihr lernt euch einfach ein wenig kennen und probiert seine Fähigkeiten mal in einem abgelegenen Teil der Stadt aus, dann findest du es mit Sicherheit heraus.“ Duke war diesem Rat derweil schon zuvor gekommen. Er hatte sich frei heraus einfach einmal an den mechanischen Wolf vor sich gewandt und sich vorgestellt. Dieser schien einen Augenblick lang gar nicht darauf zu reagieren, ehe er mit vorsichtigen Schritten näher kam und begann, den ihm unbekannten Menschen zu beschnüffeln. Dem Schwarzhaarigen lief ob der langen Reißzähne, die sich ihm bedrohlich näherten, zwar ein Schauer über den Rücken, aber er vermied, dies offen zu zeigen. Anschließend umrundete ihn das Monstrum einmal, ehe es wieder vor ihm zum Stehen kam und sich hinsetzte. Mit der nächsten Reaktion hatte Duke dann allerdings nicht gerechnet: Der Wolf hielt ihm mit einem Mal die Pfote hin. Sein neuer Träger zögerte einen kurzen Augenblick, ergriff sie schließlich jedoch trotz der scharfen Krallen und schüttelte sie vorsichtig. „Hat er auch schon einen Namen?“, erkundigte er sich bei Mana. „Nein. Du wirst einen aussuchen müssen.“ „Okay … hm, wie könnte ich dich nennen?“, überlegte er laut, während er das Wesen vor sich eingehend musterte. „Einige von uns haben sich auch einfach an die Namen aus dem 21. Jahrhundert gehalten“, warf Yugi helfend ein. „Richtig. Rotauge ist und bleibt bei mir immer Rotauge, egal in welcher Zeit wir uns befinden.“ „Aber auch das ist ein Name, den du ihm gegeben hast. Bei uns heißt er immerhin ‚Rotäugiger schwarzer Drache‘, oder nicht?“, entgegnete Duke. „Dann nenn ihn doch einfach Giga. Oder Wolfi oder so …“, schlug Tristan vor. „Nein, das ist nichts“, widersprach der Schwarzhaarige. Das Wesen vor ihm war bedrohlich, wendig, zum Rennen gebaut … Irgendetwas, das diesen Eindruck wiedergab musste es sein. Dann kam ihm eine Idee. „Ich hab’s!“, proklamierte er. „Was hältst du davon, wenn ich dich Strike nenne?“ Der Wolf legte zur Antwort den Kopf schief. „Nun … das ist Englisch und bedeutet so viel wie ‚Schlag‘ oder ‚Angriff‘. Bist du damit einverstanden?“ Ein banger Moment verging, indem der Wolf ihn nur mit seinen roten Augen anstarrte, dann setzte er den Kopf wieder gerade und nickte einmal knapp. Duke fiel indes ein Stein von Herzen. Dennoch wandte er sich noch einmal an Mana. „Eine Frage habe ich aber noch: Die Anderen sind in der Lage mit ihren Monstern zu sprechen. Irgendwie kommt es mir aber nicht so vor, als wären die beiden hier recht mitteilsam.“ „Das wird sich noch ändern“, versicherte die Magierin. „Zwischen euch muss erst ein Band entstehen, aber dann wird das schon klappen. Allerdings dürft ihr nicht zu viel erwarten. Euer Bund wird nie dem gleichkommen, der zwischen einem Träger und seinem Ka besteht, wenn sie von Geburt an miteinander vereint sind. Eine solche Einheit kann nicht künstlich hergestellt werden, gleich wie lange und gut man sich kennt.“ „Verstehe … aber das kriegen wir schon hin, nicht wahr, Strike?“ Der Wolf starrte nur teilnahmslos zurück. Indes versuchte Tristan nun das, was sein Kumpane zuvor bereits getan hatte: Er nahm sich ein Herz, schritt auf Qi zu und streckte ihm die Hand hin. „Hi, ich bin Tristan. Und du bist, Qi, richtig? Freut mich dich kennenzulernen!“ Ein Wimpernschlag verging, dann schwebte einer der beiden Arme heran und schüttelte die dargebotene Hand. Tristan setzte ein zuversichtliches Lächeln auf. „Na also, scheint ja wunderbar zu funktionieren mit uns. Wir geben bestimmt ein super Team ab!“ Das Gesicht des Monsters blieb bei diesen Worten ausdruckslos wie eh und je. Sein neuer Träger war sich aber dennoch seiner Worte sicher. Bis … „Also gut, ich muss wieder an die Arbeit. Eines aber noch, bevor ich gehe: Tristan?“ Als sie die Aufmerksamkeit des Angesprochenen hatte, fuhr sie fort: „Hör zu, nach dem Bisschen, was wir über Qi wissen, gibt es genau eine Sache, auf die du achten solltest: Qi ist besonders bedacht auf Manieren. Indem du ihn begrüßt und seine Hand geschüttelt hast, hast du dich mit Sicherheit schon beliebt gemacht, aber du solltest auch in Zukunft darauf aufpassen, wie du mit ihm umgehst. Er kann wohl sehr … ungehalten werden, wenn man gegen die gängige Etikette verstößt.“ Sie warf einen Blick zum Himmel, um sich des Sonnenstandes zu vergewissern. „Oh je, nun muss ich aber wirklich los. Wenn ihr Fragen habt, wendet euch jederzeit an mich. Ansonsten sehen wir uns heute Abend!“ Damit eilte sie davon – und ließ einen Tristan zurück, dem in der Gegenwart Qis nicht mehr ganz so gut zumute war. Eilig trieb Samira ihr Pferd durch die Wüste südlich von Theben. Seit zwei Tagen war sie nun unterwegs und schien ihrem Ziel endlich näher zu kommen. Nachdem sich das rothaarige Nervenbündel einmal mehr über Riell und sein Verhalten aufgeregt hatte, hatte es eine Weile gedauert, bis sie zur Ruhe gekommen war und wieder klar denken konnte. Nur am Rande hatte sie Atemus Eintreffen und seinen Entschluss, sich gegen Caesian zu stellen, mitbekommen – dennoch hatte sie diese Entwicklung ungemein beruhigt. Nichts hatte ihr mehr Unwohlsein bereitet, als der Gedanke, dem Tyrannen nachzugeben. Wenn sie von Risha in all den Jahren eines gelernt hatte, dann war es, dass Aufgeben niemals eine Option war. Daraufhin hatte sich dann die Frage gestellt, was sie beitragen konnte, um ihre Chancen auf einen Sieg zu erhöhen. Sich an der Absicherung Thebens zu beteiligen, schien ihr nicht gut genug. Es gab ausreichend Hände, die mitanpackten. Es musste noch etwas anderes, etwas sinnvolleres geben. Und dann war ihr eine Idee gekommen. Heimlich, still und leise war sie des Nachts in die Ställe geschlichen, hatte sich ein Pferd genommen und die Stadt verlassen. Es hatte einige Zeit in Anspruch genommen, ihr Ziel in den ewigen Weiten aus Sand ausfindig zu machen, doch zu ihrem Glück hatten die Gesuchten hier und da eindeutige Spuren hinterlassen. Sie gab ihrem Pferd einen leichten Tritt in die Seiten, um es eine Düne hinaufzutreiben. Langsam stemmte sich das Tier die Verwehung hinauf, bis es schließlich deren Kamm erreichte und Samira freien Blick auf die Wüste dahinter hatte. Sie brauchte sich nicht lange umzusehen, um zu entdecken, wonach sie gesucht hatte. Dort, am Horizont, hob sich etwas gegen die Sonne ab. Das mussten sie sein. Diesmal gab sie dem Pferd die Sporen, sodass das Reittier die Düne hinabpreschte und dabei deutlich an Geschwindigkeit gewann. Sand wirbelte auf, als es voran galoppierte, näher und näher an den Tross Menschen heran, der seines Weges zog. Sie bemerkten die Schattentänzerin allerdings noch lange, bevor sie sie erreicht hatte. Augenblicklich ging ein Ruck durch die Reihen und sie konnte sehen, wie sie zum Stehen kamen. Mehrfach blitzte etwas im Sonnenlicht auf, woraus Samira schloss, dass einige ihre Waffen zogen, um sich für einen eventuellen Angriff zu wappnen. So zügelte sie ihr Pferd in gebührendem Abstand, gut ein Dutzend Schritt von den Leuten entfernt. „Haltet ein! Ich bedeute keine Gefahr für euch!“, rief sie ihnen entgegen und streifte sich die Kapuze vom Kopf. Sie konnte sehen, wie einige ihre Bogen senkten und andere ihre Schwerter herunternahmen. Offenbar vermuteten sie nicht, dass ein Mädchen, kaum im Erwachsenenalter, ihnen etwas anhaben konnte. Wenn sie nur wüssten … doch Samira verkniff sich eine derartige Bemerkung und wartete stattdessen darauf, dass sie den ersten Zug machen würden. Und dieser kam auch. Für einen Augenblick schien Verwirrung in den Reihen zu herrschen, die beinahe ausschließlich aus Männern zu bestehen schienen, dann teilte sich die Menge plötzlich und machte einem Kerl Platz, dessen Kleidung ihn als einen Hauptmann der thebanischen Armee auswies – einen desertierten Hauptmann der thebanischen Armee, um genau zu sein. „Wer bist du und was willst du von uns?“, kam dieser auch ohne Umschweife zum Punkt, kaum da er freien Blick auf das Mädchen hatte, das noch immer auf seinem Reittier saß. Sie wusste, dass sie hier ein Risiko einging, und wollte sich alle Fluchtmöglichkeiten offen halten. „Mein Name ist Samira. Ich bin ein Mitglied der Schattentänzer und war an der Front, als …“ „Hexe!“ Sie saß den Pfeil, der auf sie zuraste, gerade noch rechtzeitig, und rollte sich vom Rücken des Pferdes herunter. Der Aufprall war unangenehm, verletzte sie jedoch nicht. Eilig kam sie auf die Beine, nur um dem zweiten Geschoss auszuweichen, das auf sie abgefeuert wurde. „Ich bin nicht hier, um eine Auseinandersetzung mit euch anzufangen! Ich bin gekommen, um …“ Sie konnte sich gerade noch hinter eine Düne flüchten, da hörte sie, wie sich ein weiterer Pfeil in den Sand bohrte. So hatte das keinen Zweck. Gegen die aufgebrachte Meute kam sie mit ihrer Stimme nicht an, sie würde sich kein Gehör verschaffen können. Außer … Sie sprang hinter der Düne hervor und beschwor die Kräfte herauf, die in ihr schlummerten. Es dauerte nur einen Wimpernschlag, dann war sie von Flammen umhüllt, aus denen sich langsam eine monströse Gestalt mit gigantischen Schwingen erhob. Ein kräftiger Schlag der Flügel entfachte eine starke, heiße Böe, die die Männer von den Füßen riss und zu Boden warf. Kaum, da sich Kiarna vollständig materialisiert hatte, stieß sie ein wütendes Brüllen aus. Samira sah indes mehr als zufrieden aus. „Habe ich nun eure Aufmerksamkeit, Hauptmann?“, richtete sie sich mit einem verschmitzten Grinsen an den scheinbaren Anführer des Trosses. Der antwortete ihr nur mit einem verdatterten Nicken. „Wunderbar! Also, worauf ich hinaus wollte, ehe ich so unhöflich unterbrochen wurde, ist folgendes“, begann sie, bevor sie ihren Blick eindringlich über die Menschen schweifen ließ. „Wie feige seid ihr eigentlich?“ Kurze Zeit herrschte betretenes Schweigen, dann ging ein Raunen durch die Menge. „Was willst du damit sagen?“, äußerte schließlich der Hauptmann, der als Erster seine Stimme wiedergefunden hatte, obgleich Kiarna in nur wenigen Schritten Entfernung vor ihm aufragte. Seine Augen wanderten jedoch immer wieder unsicher zu dem gewaltigen Biest. „Ganz einfach: Während ihr hier davonlauft, stellen sich der Pharao und seine Verbündeten dem Feind, bereit ihr Leben für das Wohl Ägyptens zu geben. Ihr erscheint mir weder verwundert, noch alt, noch kindlich. Sagt mir also, was tut ihr hier, während andere den Mut finden, sich Caesian zu stellen?“ „Das ist kein Mut, das ist Wahnsinn!“, erklang es von irgendwo her. „Genau! Wir haben gehört, was in Men-nefer passiert ist! Die Stadt wurde dem Erdboden gleichgemacht!“, stimmte irgendjemand zu. „Wenn die verrecken wollen, bitte, aber ich opfere mich nicht für den Pharao!“ „Ihr habt also gehört, was in Men-nefer geschehen ist, ja?“, wiederholte Samira noch einmal lauter und verschaffte sich erneut Gehör. „Ich bin beeindruckt, ehrlich“, fuhr sie dann mit Sarkasmus in der Stimme fort. „Soll ich euch etwas sagen? Ich war dort und ja, es war bestimmt eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte dieses Landes. Aber ich habe überlebt – und was noch viel wichtiger ist: Ich bin weiterhin bereit zu kämpfen, denn Caesian darf nicht einfach ungestraft bleiben! Und noch weniger dürfen wir ihn einfach so nach Theben hereinspazieren lassen!“ „Natürlich lebst du noch! Hast du zufällig mal hinter dich gesehen?“ „Eben! Mit so einem riesigen Federvieh wäre jeder sicher!“ Kiarnas Kehle entstieg ein Grollen, Samira gebot ihr jedoch gedanklich zu schweigen. „Ach, ist das so? Dafür, dass ihr scheinbar keine Träger eines Ka-Wesens seid, wisst ihr aber gut Bescheid“, entgegnete sie schnippisch. „Hunderte Angehörige meines Clans haben in diesem Krieg ihr Leben gelassen, für einen König gekämpft, der nicht der ihre ist, um dieses Land, dessen Kinder wir alle sind, zu beschützen! Sie haben nie einen Eid geschworen, und dennoch haben sie sich vereint gegen Caesian gestellt. Ihr hingegen habt genau das getan: Einen Schwur geleistet. Und dennoch seid ihr nun dabei, euch wie feige Ratten aus dem Staub zu machen!“ „Wir erkennen immerhin, wann wir verloren haben!“ „Ja, genau! Der Pharao ist blind!“ „Allerdings! Und selbst, wenn es ihm gelingt, diesen Feind zu besiegen, so hat er sich doch schon einen neuen in die eigenen Reihen geholt!“ „Wir lassen uns nicht als Opfer für einen Wahnsinnigen missbrauchen, die, sollten sie überleben, anschließend im Schlaf erdrosselt werden! Wir haben genug!“ Samira entging die Anspielung auf ihren Clan nicht. Sie waren also immer noch überall – die Vorurteile, mit denen sie kämpften, schon lange bevor die Rothaarige überhaupt zu den Schattentänzern gestoßen war. Dass Atemu sich bereitwillig mit ihnen verbündet hatte, schien für mehr Skepsis zu sorgen, als sie zunächst angenommen hatte. „Was spielen denn Zugehörigkeiten jetzt noch für eine Rolle?“, rief sie schließlich aus, sichtlich wütend. „Wir haben einen gemeinsamen Feind, der dabei ist, sich dieses Land zu unterwerfen, es seiner Geschichte, seiner Kultur und seiner Götter zu berauben! Und ihr wollte wie feige Hunde den Schwanz einziehen und davonlaufen, ihn einfach machen lassen, anstatt euch dagegen zu wehren, dass er sich eure, unsere Heimat nimmt?“ „Das ist nicht deine Heimat, du Flittchen! Die Götter verachten Hexen wie dich!“ „Wir dienen keinem König, der einen Feind besiegen will, indem er sich mit einem anderen verbündet!“ Sie benötigte alle Kraft, um ihre Wut im Zaum zu halten, auf dass Kiarna sich nicht einfach auf die Männer stürzte. Die allmählich aufkommende Verzweiflung in ihrem Herzen bahnte sich jedoch einen Weg und drängte nach außen. „Habt ihr eigentlich alle den Verstand verloren?“, brüllte sie schließlich über die zahllosen Stimmen hinweg, die sich nach und nach erhoben hatten. „Ich kann einfach nicht glauben, dass ich, dreizehn verfluchte Sommer alt, hier hunderte von erwachsenen Männern vor mir habe, die sich weigern ihr Land zu verteidigen, während ich an vorderster Front stehen werde, bereit mein Leben zu geben! Was, bei allen Göttern, ist aus dieser Welt geworden? Was ist aus der Menschheit geworden, dass sich derartige Furcht in euren Herzen breit machen konnte? Schämt ihr euch nicht? Wie blind, wie taub, wie stumm, wie verbittert müsst ihr sein, um einen verdammten Glaubenskonflikt vor die Zukunft des ganzen Reiches zu stellen?“ Betretenes Schweigen hallte ihr entgegen. Zwar waren die Widerworte für den Augenblick verstummt, doch sie erhielt auch keine Form der Zustimmung. Sie schüttelte niedergeschlagen den Kopf. Das hier hatte keinen Sinn. Was hatte sie sich eigentlich erhofft? „Geht eurer Wege“, schrie sie schließlich weiter. „Verschwindet wo immer ihr hin wollt! Aber wagt es nie wieder auch nur einen Fuß in dieses Land, das ihr im Stich gelassen habt, zu setzen! Ansonsten werde ich euch jagen und euch zur Strecke bringen!“ Damit wirbelte sie auf dem Absatz herum, schwang sich auf ihr Pferd und gab ihm die Sporen. Kiarna folgte ihr erst, als sie eine sichere Distanz zwischen sich und die fliehende Meute gebracht hatte. Ist alles in Ordnung, Samira?, streiften die Gedanken der Ka-Bestie nach einer Weile die ihren. Doch sie antwortete nicht. Es war nicht nur die abgrundtiefe Wut über die Feigheit dieser Männer, die sie stumm hielt. Nein, es war auch eine Erkenntnis, die sie soeben ereilt hatte. Das Volk hasste ihren Clan, das war ihr wieder einmal klar geworden. Aber Atemu hatte das ignoriert. Er hatte mit der Wut, der Verachtung seiner eigenen Leute rechnen müssen und dennoch hatte er den Schattentänzern in ihrer schwersten Stunde Zuflucht geboten und mit ihnen auch danach zusammengearbeitet. Sie würden auch in Zukunft keinen Platz in Ägypten finden, aber das war nicht Atemus Schuld – und diese Erkenntnis war es, die schwerer wog, als all das, was sie heute gehört hatte. Kapitel 59: Hinter der Maske ---------------------------- Hinter der Maske Taisans Blick ruhte auf der Frau, die bei seinem Eintreten rasch auf die Beine gekommen war. Sie stand nun am anderen Ende des karg eingerichteten Raumes, ihm direkt gegenüber, und musterte ihn. Was genau es war, das sich in ihren Augen spiegelte, konnte er nicht sagen. Alles, was er erkennen konnte, war, dass es sich dabei nicht um Furcht handelte. Er war es schließlich, der die angespannte Stille durchbrach. „Ich grüße dich, mein Kind“, begann er. „Ich weiß, dass mein Ägyptisch nicht das Beste ist. Doch ich hoffe, du bist in der Lage, mich zu verstehen.“ Kisara war zugegebenermaßen überrascht. Sie hatte ihre Gegenüber bei ihrem bislang einzigen Zusammentreffen nur seine Muttersprache sprechen hören, derer sie nicht mächtig war. Noch dazu war sein Ägyptisch vielleicht nicht akzentfrei, aber doch sehr gut. Es fiel ihr leicht, die Worte zu verstehen, die er an sie gerichtet hatte. „Das bin ich“, bestätigte sie schließlich, zögernd. „Was wollt ihr von mir?“ „Ich möchte Antworten.“ Antworten? Worauf? Sie wusste ja selbst nicht einmal, was genau in dieser Sphäre vor sich ging. Ehe sie jedoch nachhaken konnte, fuhr er bereits fort. „Mein Name, Mädchen mit den weißen Haaren, ist Taisan. Ich bin Statthalter Men-nefers während der Abwesenheit meines Bruders Caesian. Ich möchte betonen, dass ich nicht hierhergekommen bin, um dir in irgendeiner Weise zu schaden, Tochter Ägyptens. Alles, was ich möchte, ist, mich mit dir zu unterhalten, um Antworten auf meine Fragen zu finden.“ Caesians Bruder? Augenblicklich zog sich in Kisara alles zusammen und sie wich unterbewusst einen Schritt zurück. Wie sollte sie sich jetzt verhalten? Sie befand sich in einem Raum mit dem Blut des größten Monsters, das sie jemals getroffen hatte. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, doch eines war ihr vollkommen klar: Sie würde ihm nichts, rein gar nichts verraten. „Ich fürchte, dann seid Ihr umsonst gekommen. Von mir werdet ihr nichts erfahren, dass Euch Eure Tyrannei erleichtern wird. Eher sterbe ich.“ Die Reaktion ihres Gegenübers zu deuten, fiel ihr ob der Maske, die wie schon bei ihrer ersten Begegnung fest auf seinem Gesicht saß, schwer. Alles, was sie erkennen konnte, war, dass er den Kopf ob ihrer Worte kaum merklich schief gelegt hatte. „Was bringt dich zu der Annahme, dass es solche Antworten sind, nach denen ich suche?“ Was für ein Spiel spielte er mit ihr? „Weswegen sonst solltet Ihr zu mir kommen? Ihr seid hier, um Dinge zu erfahren – über den Pharao und über seinen engsten Kreis, damit Ihr sie gegen ihn verwenden könnt. Das ist alles, wofür mich Euer Bruder in diese Sphäre zurückgezerrt hat – und um im Fall der Fälle etwas in der Hinterhand zu haben, mit dem er ihn erpressen kann. Doch das werde ich nicht zulassen. Caesian macht mir keine Angst – und Ihr ebenso wenig, auch wenn Ihr Euer Gesicht hinter einer Maske verbergt.“ Taisans Augen ruhten eine ganze Weile auf ihr, während sich Stille in der kleinen Kammer ausbreitete. Dann setzte er sich plötzlich in Bewegung und ließ sich auf einem Sessel nieder, der unweit des Fensters stand. Währenddessen ließ er sie nicht einen Wimpernschlag lang aus den Augen. „Wie mir scheint“, sagte er schließlich, „sind da noch mehr Fragen, die nach Antworten verlangen, als nur jene, mit denen ich zu dir kam.“ Kisara legte die Stirn in Falten. „Was meint Ihr?“ „Nun, beispielsweise ist mir nicht klar, von welcher Sphäre du so eben gesprochen hast. Gibt es denn noch eine andere als jene, in der wir uns hier befinden?“ Die Weißhaarige war verwirrt. Was ging hier vor sich? Was für einen Plan verfolgte dieser Mann? Was erhoffte er sich von diesem Besuch? „Ihr wisst genau, wovon ich spreche“, entgegnete sie schließlich. „Wahrscheinlich ward Ihr sogar zugegen, als man meine Seele aus dem Totenreich riss. Im Tausch für …“ Sie brach ab, brauchte einen Augenblick, um sich wieder zu sammeln. „Ihr sollt wissen, dass ich Euch für all das verachte, was ihr diesem unschuldigen Kind und ganz Ägypten angetan habt! Ich weiß noch immer nicht, was alles geschehen ist, seitdem ich in das Jenseits eingegangen war, aber wenn Atemu gestürzt wurde, dann kann das nichts Gutes bedeuten.“ Kisara spürte plötzlich etwas, das sie bislang nur selten gefühlt hatte. Wut. Unbändige Wut. „Was gab Euch und Eurem Bruder das Recht, in dieses Land, in dieses friedliche Land zu kommen und uns all dessen zu berauben, was wir uns aufgebaut hatten?“ Sie konnte es hinter der versilberten Maske nicht sehen, doch nun war es an Taisan, die Stirn in leichte Falten zu legen. Zum einen, weil er nicht schlau aus diesem Mädchen wurde – wovon sprach sie? Und zum anderen: Wer war nur dem Irrglauben erlegen, dass es sich bei diesem Frauenzimmer um eine Hexe handeln sollte? Ja, ihr Äußeres war ungewöhnlich anzusehen in diesen Landen, doch weder ging irgendeine Form magischer Schwingungen von ihr aus, noch mutete sie wie eine Kennerin dunkler Zauberkünste an – das verriet ihm seine Menschenkenntnis, auf die er sich schon immer hatte verlassen können. Er hatte also Recht gehabt, wie er mit zugegebenem Bedauern feststellte: Irgendetwas stimmte hier nicht. „Ich fürchte, ich weiß noch immer nicht, wovon du redest, Mädchen. Ich bin verwundert ob deiner Worte. War es nicht erst mein Bruder, der diesem Land den Frieden brachte, indem er die Könige Atemu und Sethos von einem Thron stieß, den sie nicht verdient hatten?“ Kisara glaubte, der Schlag treffe sie. „Das ist nicht wahr“, sagte sie schließlich, als sie ihre Stimme wiedergefunden hatte. „Ich kannte beide Pharaonen und ein jeder von ihnen würde dieses Land ausschließlich gerecht und weise regieren. Es gäbe weder einen Grund für Unzufriedenheit im Volk, noch für einen Umsturz. Nein, mit Sicherheit nicht! Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen! König Atemu und Seto würden nie etwas tun, das den Ihren schadet! Im Gegenteil: Sie wären jederzeit bereit, ihr Leben für das der Menschen, die ihnen von den Göttern anvertraut wurden, zu geben! Und nach dem Bisschen, das ich aufgeschnappt habe, sind sie das auch jetzt noch! Nein, es kann nicht anders sein! Hätte sich ein solcher Wandel in Ägypten vollzogen, hätte sich dieser bis in die tiefsten Winkel aller Sphären, auch die des Totenreiches bemerkbar gemacht! Was auch immer Caesian hier will, er will uns ganz bestimmt nicht den Frieden bringen. Was für ein König ist er, dass er versucht, dies zu erreichen, indem er Kinder opfert, Seelen ihrer letzten Ruhe entreißt und Götter schlachtet? Sagt mir, sind das Eigenschaften, die einen weisen, zuverlässigen, gütigen Herrscher ausmachen?“ Taisans Blick ruhte weiterhin unnachgiebig auf ihr. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht. „Je mehr Worte du verlierst, desto mehr Fragen tun sich vor mir auf – welche, auf die ich selbst niemals gekommen wäre und von denen ich befürchte, dass mir die Antwort auf sie nicht behagen wird. Und dennoch kann und darf ich nicht davor zurückschrecken, sie zu suchen, doch es wird in kleinen Schritten geschehen müssen. Darum beantworte mir, Kind, zunächst die Folgende: Nicht zum ersten Mal vernehme ich aus deinem Mund Worte über eine andere Sphäre und über das Reich der Toten. Es klingt, als seist du dort gewesen, doch du stehst vor mir. Wie kann das sein?“ „Ihr wisst genau, was …“ „Das tue ich nicht.“ Kisara stand kurz vor der absoluten Verwirrung. Was, bei den Göttern, wollte er von ihr hören? Er musste doch wissen, was passiert war, er war Caesians Bruder und Statthalter! Und dennoch … irgendetwas in seinem Blick, in seinen Worten, ließ sie daran zweifeln. „Ich war tot. Ich bin in einem Krieg gestorben, den ein Dämon namens Zorc über uns brachte. Doch Atemu konnte ihn in die Knie zwingen. Er hat dieses Land und sein Volk vor einem Leben in Dunkelheit bewahrt“, erklärte sie schließlich knapp. Taisan schien kurz über die Worte nachzugrübeln. Er hatte davon gehört, das Ägypten vor einiger Zeit von einem großen Übel heimgesucht worden war, das der Regent hatte abwenden können. War dies womöglich, wovon sie sprach? „Du sagst, du seist verstorben und bist doch hier. Wie?“ „Euer Bruder hat mich des Totenreiches entrissen“, erwiderte Kisara ohne zu Zögern. „Caesian ist der Magie nicht kundig. Zu so etwas wäre er nicht fähig. Du musst dich irren.“ „Das tue ich nicht“, widersprach sie. „Ich weiß selbst nicht, wie genau er es vollbracht hat, aber er hat es getan. Ich war tot, das weiß ich. Kurz nach meiner Auferstehung ist er hierhergekommen. Er sagte, dass für das Ritual ein Kind …“ Sie stockte, musste hart schlucken. Dieses Wissen belastete sie noch immer. Als sie sich gefasst hatte, fuhr sie fort: „Er sagte, dass er für das Ritual ein Kind geopfert und einen Gott vom Firmament gerissen hätte. Und er erwähnte einen Gegenstand … ein Relikt.“ Taisan musterte sie noch eindringlicher, als zuvor. „Ein Relikt?“, wiederholte er. „Ja … ich glaube, er sagte, es sei göttlich. Ich weiß nicht, wovon er genau gesprochen hat, aber ich bin sicher, dass dieses Ding etwas damit zu tun hat, dass ich jetzt wieder hier bin.“ Ihr Gegenüber starrte sie noch einen Moment länger an, dann schüttelte er leicht den Kopf. „Mein armes Kind. Ich befürchte, du weißt selbst nicht, wovon du sprichst.“ Er stemmte sich aus dem Sessel hoch, in dem er zuvor Platz genommen hatte, und wandte sich der Tür zu. Kisara wurde augenblicklich klar, dass sie ihn nicht einfach so gehen lassen durfte, dass sie ihn von dem überzeugen musste, was mit ihr passiert war – allmählich hatte sie den Verdacht, dass er tatsächlich keine Ahnung von Caesians wahrem Gesicht hatte. „Das weiß ich sehr wohl! Dass ich wieder in dieser Sphäre bin, ist nicht das einzig Ungewöhnliche, das hier vor sich geht! Noch vor wenigen Tagen haben ägyptische Sklaven die Mauer repariert, die von diesem Fenster aus zu sehen ist! Dann waren sie plötzlich verschwunden! Genauso wie all die verunstalteten Männer, die Verletzungen trugen, bei denen ich mir sicher bin, dass sie eigentlich gar nicht mehr am Leben sein dürften! Hier ist Magie im Spiel, dessen bin ich mir sicher!“ Taisan hielt abrupt inne. Lebendige Männer mit Verletzungen, die sie hätten töten sollen? Eine Erinnerung schoss ihm durch den Kopf. Eine Erinnerung, die nur zu gut zu dem passte, was diese Frau soeben gesagt hatte. Eine Erinnerung, die nun dazu führte, dass sich sein Magen unangenehm zusammenzog. „Wann soll das gewesen sein?“, fragte er knapp. „Es ist nicht lange her. Der Vollmond war gerade vorüber. Bitte, Ihr müsst mir glauben! Atemu und Seto sind nicht diejenigen, die dieses Land in Angst stürzen, es ist Caesian!“ Taisan verharrte noch einen Moment lang, wo er war, dann setzte er sich in Bewegung und verließ das Zimmer. „Ich werde wiederkommen“, ließ er sie noch wissen, dann fiel die Tür krachend hinter ihm ins Schloss. Taisan stand an einem der großen Fenster im Thronsaal und blickte auf das Land hinaus, das allmählich im Rot der untergehenden Sonne versank. Der Wind war zum Abend hin stärker geworden und trieb kleine Sandschwaden vor sich her. Von den Palastgärten her wehte der Gesang der Vögel herüber. So ein schönes Tagesende … und ein vollkommener Kontrast zu dem, was er im Begriff war, zu erfahren – dessen war er sich sicher. Taisan wandelte durch die Gänge des alten Palastes seiner Heimatstadt. Die dunklen, von der Zeit gefärbten Wände wurden nur vereinzelt von kleinen Öllampen erhellt. Doch er brauchte ihr Licht nicht. Er kannte dieses Gebäude, kannte es seit er ein kleiner Junge gewesen war. Hier war er aufgewachsen, hatte gespielt, gelernt – und endloses Leid erlebt. Als er sein Ziel erreichte, stand die Tür zu dem dahinterliegenden Raum offen. Schon von Gang aus konnte er deshalb seinen Bruder erspähen, der bei dem Schein einer einsamen Kerze in der kleinen Kammer saß und in ein Schriftstück vertieft schien. Taisan klopfte daher leicht an den Türrahmen, um ihn nicht zu erschrecken. Caesian sah daraufhin auf, mit einem ungehaltenen Ausdruck auf den Zügen, der sich jedoch sogleich veränderte, als er sah, wer gekommen war. „Sei gegrüßt. Was führt dich zu so später Stunde zu mir?“, erkundigte er sich auch sogleich und legte die Papyrusrolle, die er studiert hatte, beiseite. „Nichts bestimmtes“, erwiderte Taisan und trat näher. Er ließ sich in einem Stuhl zur Linken seines Blutes nieder. „Worin liest du?“ „Ach, das ist nichts Besonderes, es ist gar gänzlich unwichtig. Ich hatte diese Schrift hier nur mit einer anderen verwechselt, doch als ich meinen Irrtum bemerkte, hatte mich diese kleine Geschichte hier bereits gefesselt.“ „Eine Geschichte? Ich dachte, derlei seien für dich nichts anderes als eine Verschwendung von Lebenszeit.“ „Glaube mir, ich bin selbst überrascht, dass ich mich dazu habe hinreißen lassen, meine Zeit mit Legenden zu vergeuden.“ Taisan, der schon immer eine gewisse Neugier in sich trug, langte nach dem Papyrus und studierte ihn kurz. „Ägyptischen Legenden noch dazu. Ich muss zugeben, die Kultur dieses Landes ist für mich faszinierend, dass sie dir jedoch gefallen könnte … wie ist das hier überhaupt auf deinen Schreibtisch gekommen?“ Noch während er fragte, flogen seine Augen bereits über die Zeilen. „Erinnerst du dich daran, dass es hieß, in Ägypten habe es vor kurzem Auseinandersetzungen gegeben? Ich habe mir Berichte darüber bringen lassen, ebenso wie einige Einführungen in kulturelle Eigenheiten des Landes, um bestimmte Bezeichnungen besser verstehen zu können. Du glaubst gar nicht, wie viele Götternamen und Synonyme dieser in einem einzigen Text aus ägyptischer Hand vorkommen können! Der, den du in Händen hältst, war ebenfalls dabei, auch wenn ich nicht weiß, welcher Tölpel ihn dazugelegt hat.“ Der Text war zwar in poetisch anmutender Sprache verfasst, jedoch nicht allzu lang, sodass Taisan ihn überflogen hatte, noch bevor sein Bruder seine Ausführungen beendet hatte. „Und, wie sieht es in Ägypten aus?“ „Beunruhigend“, erwiderte Caesian. „Scheinbar hat es eine Revolte gegen das Königshaus gegeben, die jedoch vom Pharao zurückgeschlagen werden konnte. Derzeit scheint es keine akuten Auseinandersetzungen zu geben, doch wir sollten die Sache im Auge behalten – immerhin ist es nur einen Mondlauf entfernt.“ „Das klingt vernünftig“, entgegnete Taisan und erhob sich. „Das bedeutet aber auch, dass es derzeit keine gute Entscheidung wäre, sie wegen einer Allianz aufzusuchen, habe ich Recht?“ „Leider ist dem so, ja.“ „Nun gut, ich möchte dich nicht weiter aufhalten. Wir sprechen uns morgen.“ „Das werden wir.“ Damit wandte sich der Jüngere zum Gehen, während ihm noch immer die Legende von der Versiegelung der göttlichen Mächte im Hinterkopf herumspukte … Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als er hörte, wie sich die Flügeltüren zum Thronsaal öffneten und jemand den Raum betrat. Er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, wer hereingekommen war. „Gladuis“, begrüßte er ihn, ohne den Anderen anzusehen. „Tretet näher.“ Er konnte hören, wie die Schritte näher kamen, dann das Rascheln von Gewändern und das Klirren einer Rüstung, als der Mann in seinem Rücken niederkniete. „Ich grüße Euch, Euer Hoheit.“ „Ich grüße Euch ebenfalls. Ich muss sagen, Eure Rückkunft hat mich überrascht. Ich dachte, Caesian hätte Euch mit sich genommen, um sich Eurer Unterstützung im Kampf gegen den Pharao sicher sein zu können?“ „Dem war so, mein Herr. Doch es gab Hinweise auf einen bevorstehenden Angriff auf Men-nefer. Es besteht kein Grund zur Sorge, das versichere ich Euch, doch wie Ihr wisst, ist Euer Bruder stets auf alles bedacht. Zur Sicherheit hat er mich zurückgeschickt. Doch auch wenn mein Schwert an der Front fehlt, so wird es ein Leichtes für ihn sein, den Feind in die Knie zu zwingen.“ Der offizielle Statthalter schwieg einen Moment. „Ich verstehe. Es ist gut, dass Ihr hier seid, Gladius.“ „Ich danke Euch, Herr.“ „Jedoch nicht nur aus den von Euch genannten Gründen …“ Erst jetzt wandte sich Taisan um und fixierte sein Gegenüber. „Wie darf ich das verstehen, Euer Hoheit?“ „Ich habe Fragen. Und du wirst sie mir beantworten.“ Gladius fiel der Wechsel in der Form, mit der Gegenüber ihn ansprach, augenblicklich auf. Ein ungutes Gefühl machte sich in seiner Magengegend breit, das von dem stechenden Blick, der unter der Maske hervor auf ihn eindrang, nur noch verstärkt wurde. „Ich … wovon sprecht Ihr, Herr?“ Taisan trat sich mit langsamen Schritten, die an jene eines lauernden Raubtieres erinnerten, vom Fenster weg und auf den Mann zu, der noch immer kniete. „Ich denke, das weißt du. Du bist meines Bruders rechte Hand, sein zweites Paar Augen, sein zweites Paar Ohren.“ Er hielt erst wieder inne, als er direkt vor Gladius stand. „Was“, sagte er langsam, „hat Caesian mit den Relikten der Götter Ägyptens zu schaffen?“ Dem Untergebenen war, als habe man ihn mit eiskaltem Wasser übergossen. Perplex starrte er zu dem Statthalter und Bruder seines Gebieters auf, unfähig auch nur ein Wort über die Lippen zu bringen. Woher wusste er davon? Wie hatte das passieren können? Und wie, beim Schwerte seines Vaters, sollte er diese Entwicklung der Dinge aufhalten? „Ich habe dich etwas gefragt“, fuhr Taisan fort, da war ihm noch längst nicht ein Wort eingefallen, das in dieser Situation irgendetwas ausrichten konnte. „Welcher Zusammenhang besteht zwischen meinem Bruder und den göttlichen Relikten? Was ist während meiner Abwesenheit hier geschehen?“ Er brauchte nicht laut zu werden, um Gladius einen Schauer über den Rücken zu jagen. Er kannte Taisan, seit dieser ein kleines Kind gewesen war – und wenn er und Caesian irgendetwas gemeinsam hatten, dann war es die Fähigkeit, einem Mann nackte Angst einzuflößen, ohne dafür die Stimme auch nur im mindesten erheben zu müssen. „Euer Hoheit … Ihr müsst irren, es gibt keine …“ „Lüg mich nicht an.“ Der Soldat zuckte merklich zusammen. „Was hat er mit Men-nefer gemacht? Was hat er diesem Mädchen angetan? Und was ist er im Begriff in Theben zu tun?“ Gladius brauchte einen Augenblick, bis er seine Stimme wiederfand. „Mein Herr, ich versichere Euch, all dies ist nur zu Eurem Besten geschehen!“ „Was soll zu meinem Besten geschehen sein?“ Der enge Vertraute Caesians war der Verzweiflung nahe. Das hier konnte er nicht mehr retten. Wenn er jetzt nicht das sagte, was Taisan hören wollte, dann hatte er keine Gnade zu erwarten. So unscheinbar, so gebrechlich der Andere wirken mochte, Gladius kannte die Mächte, die in dem gezeichneten Mann schlummerten – und er fürchtete sie. Das Einzige, was ihm jetzt noch blieb, war sich selbst zu retten. „Als wir nach Ägypten kamen, haben wir Men-nefer angegriffen und schließlich eingenommen – im Kampf gegen den Pharao und gegen den Willen des ägyptischen Volkes. Der Regent ist aus der Stadt geflohen und hatte sich eine Weile in der Wüste verschanzt, ehe er weiter nach Theben gezogen ist, wo Seine Majestät gedenkt, ihn ein für alle Mal unschädlich zu machen.“ Taisan hatte diese Worte kommen sehen und sie dennoch gefürchtet. Seine schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten sich in diesem Augenblick. Und doch hatte er noch nicht genug gehört. „Es bestand also keine Unterdrückung in diesem Land, als mein Bruder hier eintraf?“ „Nein“, erwiderte Gladius. „Nein, das tat es nicht. Es herrschte Frieden.“ „Was habt ihr mit den Menschen getan?“ „Ein Teil ist geflohen, einige sind geblieben. Die, die noch am Leben waren, als wir Men-nefer einnahmen, wurden zunächst für den Wiederaufbau versklavt. Bis …“ „Bis was?“ „… bis Euer Eintreffen kurz bevorstand. Seine Majestät hielt es für sicherer, sie verschwinden zu lassen …“ „… kurz nach dem letzten Vollmond … die Zeit, als ich hier eintraf …“, wiederholte Taisan die Worte des weißhaarigen Mädchens. Mit jedem Moment, der verstrich, schien sein Blick stechender zu werden. „Um nicht zu riskieren, dass einer von ihnen irgendwann die Wahrheit spricht“, äußerte er das, was Gladius noch nicht gesagt hatte. Er fand keine Worte dafür, wie sehr ihn jede einzelne Information, die er bislang erhalten hatte, erschütterte. Zugleich hatte er es die ganze Zeit geahnt, hatte einen Verdacht gehegt, es jedoch nicht wahr haben wollen. Er war blind und taub gewesen, hätte die Zeichen früher deuten müssen, beispielsweise dann, als er nicht einen Ägypter in Men-nefer gesehen hatte, oder als man ihn davon hatte abhalten wollen, das Mädchen aufzusuchen. Deswegen hatte man sie so eilig wieder einfangen wollen – sie war tatsächlich eine Bedrohung für Caesian gewesen, jedoch in ganz anderem Sinne, als sein Bruder zunächst angenommen hatte. Und auch, wenn sein Herz blutete, war das, was er jetzt wusste, noch immer nicht genug. „Vier Fragen, Gladius. Beantworte sie mir“, forderte er schließlich, ohne seinen Blick in der Zwischenzeit auch nur einmal von dem knienden Soldaten vor sich genommen zu haben. „Wie viele?“ Der Andere biss sich auf die Unterlippe. „Mehrere hundert …“, murmelte er schließlich. Taisan schloss für einen kurzen Moment die Augen. „Als Caesian danach verlangte, ihm den Rest des Heeres nachzusenden, war es dem Ägyptens noch immer bei Weitem unterlegen. Wie konnte mein Bruder das ändern?“ „Mit … mit Hilfe der Relikte, die einst die Gottheiten Ägyptens erschaffen haben.“ „Die Menschen die Fähigkeit zu sterben nahmen? Die Götter schlachteten? Und die ein unschuldiges Mädchen im Tausch für ein noch unschuldigeres Kind aus dem Totenreich rissen?“ „Ja …“ Die Maske verbarg die Gefühle, die in Taisans Innerem durcheinandertobten. Er hatte immer Befürchtungen gehegt, Befürchtungen, dass Caesian eines Tages den Weg einschlagen würde, den seine Vorgänger in ihrer Heimat gegangen waren – einen Pfad getränkt mit Blut, gepflastert mit Leichen und erfüllt von Machtgier. Doch er hatte es nicht früher sehen wollen, hatte nicht begreifen wollen. Nun stand er hier, Angesicht zu Angesicht mit der brutalen, kalten Wahrheit. Sie waren schon immer unterschiedlich gewesen. Der Eine der große Feldherr, der Aktive, derjenige, der zum Herrschen geboren schien, der Andere der Geheimnisvolle, der Wissbegierige, der Passive. Doch er hätte nie geglaubt, dass Caesian zu solchen Handlungen fähig war. Taisan wusste um Kriege und auch darum, dass sie manchmal nicht zu vermeiden waren. Manchmal musste ein Opfer zum Wohle des großen Ganzen gebracht werden. Doch das war hier nicht der Fall. Das hier war reine Willkür, sinnlose, rohe Gewalt. Und auch, wenn sie noch so sinnlos war, blieb eine letzte Frage, die er stellen musste. „Warum?“ In Gladius keimte Hoffnung. „Mein Herr, ich versichere Euch, seine Majestät hat dies wahrhaftig nur für Euch getan! Er leidet unter dem Wissen, dass Ihr erkrankt seid und er konnte nicht ertragen, dass ihr verdammt schient, Eure Tage in einem Land zu fristen, das nach und nach zerfällt. Er hat immer wieder von Eurem Traum gesprochen, eine blühende, gerechte Welt zu errichten und genau das wollte er hier verwirklichen, indem er sie vom Übel reinigt, um sie dann umso schöner wiederaufbauen zu können – für Euch! Zudem hoffte er darauf, mit den Relikten der Götter einen Schlüssel zu Eurer Heilung zu finden! Ich bitte Euch, mein Herr, seht es ein: Caesian hat all dies einzig und alleine für Euch und Euer Wohl getan!“ Taisan schüttelte unterbewusst den Kopf. Ihm war schlecht. Welche kranke Logik steckte hinter diesem Denken? Wer war Caesian, dass er entschied, wer gut und wer böse war, wer leben durfte und wer sterben musste? Mit welchem Recht hatte er all diese Menschen getötet, selbst Gott gespielt? Glaubte er wahrlich, er könne seine Taten auf diese Weise rechtfertigen? Wie verblendet war er? Und wie blind war er selbst gewesen, all das nicht früher vorhergesehen zu haben? Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte Taisan etwas, das Wut glich. „Geh mir aus den Augen, Gladius. Verlasse dieses Land und wage es nie wieder, einen Fuß hierher zu setzen oder ich werde dich aufhängen lassen. Hinaus. Und nimm sämtliche Männer meines Bruders, die noch in dieser Stadt weilen, mit dir. Für sie gilt das Gleiche.“ Er brauchte es nicht zweimal zu sagen. Kaum, da er geendet hatte, sprang sein Gegenüber auf und eilte aus dem Thronsaal. Taisan blieb alleine in dem Raum zurück, der inzwischen ganz in das Rot der untergehenden Sonne getaucht wurde – ein Rot, das ihn an Blut erinnerte. „Caesian … was hast du getan?“ Kisara schreckte aus ihrem leichten Schlaf hoch, als die Tür zu ihrem Gemacht geöffnet wurde. In der Finsternis – man hatte ihr nach dem Fluchtversuch die Kerze genommen – erkannte sie zunächst nicht, wer hereingekommen war, bis er kurz vor ihrem Bett stand. Eilig fuhr sie hoch, als sie den Mann erkannte, der heute schon einmal bei ihr gewesen war – Taisan. „Steh auf und folge mir.“ Sie war zunächst zu verdutzt, um in irgendeiner Weise zu antworten oder zu widersprechen. Erst, als sie draußen auf dem Flur stand und sah, dass nicht eine einzige Wache anwesend war, fand sie ihre Stimme wieder. „Was geht hier vor sich? Wo bringt Ihr mich hin?“ „Ich bringe dich nirgendwo hin, Mädchen. Du bist es, die mich leiten wird.“ „Wohin?“ „Nach Theben.“ Kisara lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. „Wozu?“ Taisan sah sie nicht an, als er antwortete. „Um Gerechtigkeit zu üben.“ Kapitel 60: Echo ---------------- Echo Gemäßigten Schrittes ging Atemu die Säulenreihen entlang, die die Tempel säumten. Es war früh am Morgen und die Hitze des Tages noch fern. Größtenteils lagen die prächtigen Bauten, von denen der Pharao umgeben war, im Schatten. Der Wind blies sanft und wandelte sich hier und da zu einem leisen Heulen, wenn er durch die verwinkelten Anlagen des Tempelbezirks streifte. Eine feierliche Ruhe lag über dem Ort, wie man sie außerhalb seiner Umgrenzungen vergeblich suchte. Doch Atemu wusste, dass es damit bald vorbei sein würde. Auch die Tempel der Götter Ägyptens würden vom Kampfeslärm erfüllt sein, die Schreie Sterbender und Verwundeter würden selbst bis hier hin zu hören sein und von den Wänden widerhallen. Sie hatten schwer gearbeitet in den vergangenen Umläufen und zwischenzeitlich hatte es sich angefühlt, als sei Caesian noch weit entfernt. Doch die Realität hatte sie rasch wieder eingeholt. Den neusten Berichten der Späher zufolge war der Feind noch etwas mehr als einen Tagesritt entfernt, spätestens morgen würde er vor ihren Toren stehen. Und dann gab es kein Zurück mehr. Sie waren bereit, hatten alles in ihrer Macht stehende getan, um sich auf dieses Zusammentreffen vorzubereiten. Und dennoch fühlte es sich nicht danach an, trotzdem war es, als hätten sie mehr tun können. Auch wenn ihr Verstand die Wahrheit kannte, ihre Herzen wollten nicht rasten, suchten weiterhin nach Wegen, um Caesian so viele Steine wie möglich in den Weg zu legen. Auch Atemu war da keine Ausnahme, obgleich er wusste, dass dem nicht so war. Und doch hatten ihm die kreisenden Gedanken bei Zeiten den Schlaf geraubt, seine ruhelose Seele ihn aus dem Bett getrieben und hierher geführt, bis in den Hof, den er soeben erreichte. Er war an sein Ziel gekommen. Langsam näherte er sich zwei Statuen, die kaum größer als ein hochgewachsener Mann waren. Sie beide zeigten eine sitzende Frau, die ein Ankh in der linken Hand hielt. Ihr Kopf war jedoch nicht der eines Menschen. Stattdessen blickte Atemu auf die Züge einer Löwin, auf deren Stirn die Uräusschlange thronte. Ihre steinernen Augen starrten leblos zurück – und dennoch fühlte der Pharao in ihrer Gegenwart eine Präsenz, ganz so, als würde er von jemandem beobachtet. Nachdem er noch einen Augenblick länger in eines der bewegungslosen Antlitze gesehen hatte, neigte er das Haupt und ging auf die Knie. So verharrte er einen Moment, ehe er sich wieder erhob. „Ich grüße Euch, Sachmet. Ich bin gekommen, um in dieser uns bevorstehenden schwersten Stunde ein letztes Mal um Euer Gehör zu bitten.“ Er hielt kurz inne, das Flüstern des Windes das einzige Geräusch, das an seine Ohren drang. „Ich habe Fragen. So viele Fragen … und auf keine weiß ich die Antwort. Ich bin nicht einmal sicher, ob Ihr und die Euren in der Lage wärt, sie zu beantworten. Doch an wen, wenn nicht an Euch, soll ich sie richten? Vielleicht seid Ihr in der Lage, mir wenigstens ein Zeichen zu geben, auch wenn es noch so unscheinbar sein mag.“ Seine Augen ruhten auf dem kunstvoll geschliffenen Fels, während der Wind sein Gesicht umspielte. Was erhoffte er sich hiervon? Er wusste es nicht. Die Wahrscheinlichkeit, dass das hier zu nichts führen würde, war hoch. Doch selbst, wenn es zu nichts anderem führte, als sich den Ballast von der Seele zu reden, so würde es schon helfen. In diesen Stunden, da sie im Begriff waren, ihrer größten Herausforderung entgegen zu treten, durfte er die Anderen nicht verunsichern. Er wusste, auf Yugi und seine Freunde konnte er sich verlassen, sich jederzeit an sie wenden – doch wollte er sie nicht belasten. Sie alle hatten ihre ganz eigenen Ängste, ihre eigenen Fragen, die er ebenso wenig würde beantworten können, wie sie die seinen. Er musste ihnen nicht noch eine weitere Bürde auferlegen. Und doch würden sie es dir übel nehmen, wüssten sie, dass du deine Bedenken eher bei einem Felsbrocken ablädst, als bei ihnen. Atemu fuhr auf dem Absatz herum, nur um sich Angesicht in Angesicht mit einer gewaltigen schwarzen Löwin zu finden. Die goldenen Ornamente, mit denen sie geschmückt war, verursachten kein Geräusch, während sie sich bei jedem ihrer Schritte wiegten. „Sachmet“, äußerte er verwundert, ehe er sich rasch eines besseren besann und noch einmal auf die Knie ging. „Ich grüße Euch und danke Euch für Eure Anwesenheit. Ich hatte nicht damit gerechnet, Euch noch einmal zu begegnen.“ Die Göttin ließ ein amüsiertes Schnauben vernehmen. Wie ich sehe, sind deine Manieren verlässlicher, als bei unserem letzten Zusammentreffen. Erhebe dich, Götterkind. Atemu tat, wie ihm geheißen, während Sachmet begann, ihn langsam zu umkreisen. Wie schon bei unserer letzten Begegnung, ist meine Zeit in dieser Sphäre auch diesmal begrenzt, Mensch. So sprich: was ist es, das du zu erfahren wünscht? Ich spüre Unsicherheit in dir … und Fragen … noch immer so viele Fragen in so einer jungen Seele. Sie hielt inne, nachdem sie ihn einmal umrundet hatte. Doch sei gewarnt: Ich werde sie dir nicht alle beantworten können. Vielleicht auch keine einzige … Der Pharao nickte. „Wie ich bereits sagte, ich hatte nicht mit Eurem Erscheinen gerechnet. Eigentlich war es mein Vorhaben, mich an Eurem Abbild auszusprechen.“ Weswegen ausgerechnet an dem meinen?, drang die Frage an sein Bewusstsein. Wieder schwang dieser amüsierte Unterton mit. „Ich weiß es selbst nicht. Vielleicht, weil Ihr die einzige Gottheit seid, der ich schon einmal persönlich begegnet bin.“ Ich verstehe. Doch nun sprich endlich, Götterkind. Was ist es, das du mir anvertrauen wolltest? Atemu schien einen Moment zu überlegen. „Eine Menge. Doch Ihr wärt nicht in der Lage, auch nur eine dieser Fragen zu beantworten oder ein einziges meiner Bedenken, was die Auseinandersetzung mit Caesian angeht, aus dem Weg zu räumen, ohne in das Schicksal einzugreifen. Ich erinnere mich an Eure Worte.“ Das ist löblich, Mensch. Deinesgleichen neigt zum Vergessen. Doch ich spüre, dass da dennoch etwas ist, das du an mich richten möchtest. „Da habt Ihr Recht. Es wäre töricht, diese Chance verstreichen zu lassen, auch wenn diese Frage nur am Rande mit dem zu tun hat, was uns bevorsteht – doch eine Antwort würde mir vielleicht bei dem helfen, was danach kommt, sollte es ein Danach geben.“ Sprich. Er zögerte nur einen Wimpernschlag, dann äußerte er die Worte, die ihm auf der Zunge brannten. „Was geht in Kul-Elna vor sich? Und welche Rolle spielen die Überlebenden des Massakers?“ Überraschten Sachmet diese Worte, so zeigte sie es nicht. Atemu glaubte jedoch, erkennen zu können, dass sich ihre Miene verfinsterte. Sein Eindruck wurde kurz darauf bestätigt, als sie sprach. Was implizierst du mit deiner Wortwahl, Geschöpf? „Was ich impliziere, ist, dass Ihr in irgendeiner Weise etwas mit den Lebenswegen von Bakura, Risha und Keiro zu tun haben müsst.“ Und was gibt dir diesen Eindruck?, fragte die Stimme in seinen Gedanken, lauernd. „Ich weiß es nicht“, erwiderte er ehrlich. „Ich kann nicht sagen, was mich dazu treibt, diese Vermutung aufzustellen. Es ist lediglich ein Gefühl, dafür jedoch ein beharrliches.“ Zwischen Göttin und Geschöpf herrschte Schweigen. Sachmet musterte ihn eindringlich. Du irrst, Menschlein. Scheinbar ist dein Gedächtnis doch nicht so gut, wie du mich hast hoffen lassen. Erinnerst du dich nicht mehr daran, dass es mir, ebenso wie allen anderen Göttern, verboten ist in das Schicksal des Einzelnen einzugreifen? Erklärte ich dir nicht gar die Konsequenzen, die solches Handeln nach sich ziehen könnte? „Das tatet Ihr. Genauso wie Ihr meintet, Ihr dürftet Euch noch nicht einmal in dieser Sphäre aufhalten – und doch seid Ihr hier. Ihr seid hier, schon ein zweites Mal erscheint Ihr mir. Ihr schicktet mir den Hinweis, der mich zur Seele der Zeit führte, einem Dokument, das hätte verborgen bleiben sollen. Ihr habt meinen allergrößten Respekt, Sachmet – doch, mit Verlaub, es wäre nicht das erste Mal, dass Ihr die Regeln brecht.“ Ein Knurren entstieg der Kehle der schwarzen Löwin. Ich verstehe … deswegen bist du also Horus‘ kleiner Liebling … Sie begann, ihn erneut zu umkreisen. Du zeigst keine Angst, noch nicht einmal vor denen, die dich und deinesgleichen einst geschaffen haben. Du bist mutig, ohne Zweifel … doch ebenso anmaßend. Du und Horus, ihr ähnelt euch wahrlich – auch darin, das ihr beide scheinbar unwissend um die natürliche Rangordnung seid, fauchte sie, ehe sie abrupt vor ihm stehen blieb. Ich könnte dich hier und jetzt vernichten, Menschlein. Doch leider brauchen wir dich noch. „Wie ich bereits sagte, war es nicht meine Intention, Euch zu beleidigen, Sachmet. Ich bitte um Verzeihung, sollte genau das dennoch passiert sein. Alles, was ich möchte, sind Antworten. Die Zusammenhänge sind zu eng, als dass es sich dabei um einen Zufall handeln könnte. Und nebenbei verrät Euch Euer Verhalten. Wären meine Vermutungen aus der Luft gegriffen, gänzlich haltlos, so hättet Ihr anders reagiert.“ Die Gottheit musterte ihn einen Moment lang eindringlich. Glaube, was du willst, Geschöpf, denke, was du willst. Doch du tätest gut daran, dich auf deine eigentliche Aufgabe zu konzentrieren. Caesian ist nicht gezwungen, dich ungeschoren davonkommen zu lassen, so wie ich es bin. Damit wandte sie sich zum Gehen. Atemu versuchte nicht, sie zurückzuhalten. Er wusste instinktiv, dass es keinen Sinn haben würde, sie weiter zu löchern. Sachmet hatte die Schatten, denen sie entstiegen war, beinahe erreicht, da hielt sie doch noch einmal inne. Wo du gerade von Regeln sprachst, Mensch – hatte ich bei unserem letzten Zusammentreffen bereits erwähnt, dass die von mir beschriebenen Gesetze, was das Schicksal anbelangt, nur für diese Sphäre gelten? Atemu legte die Stirn in Falten. „Nein, das habt Ihr nicht. Aber wenn dem so ist, wieso betrifft das, was hier vorgeht, dann die Götter Ägyptens? Wäre es nicht ein Leichtes für euch, euch einfach in eine andere Sphäre zu begeben und diese hier sich selbst zu überlassen?“ Oh, glaube mir, der Gedanke ist mehr als verlockend. Doch mit unseren Relikten ist ein Teil unserer Selbst in dieser Sphäre verwurzelt – ansonsten hätte ich all dem hier schon längst den Rücken gekehrt. Was ich jedoch eigentlich zu sagen gedachte … Sie wandte den Blick nicht um, als sich der Ton der Stimme, die in Atemus Gedanken widerhallte, verfinsterte. Du hast Recht, in dieser Sphäre sind meine Handlungsmöglichkeiten begrenzt. Doch du solltest beim nächsten Mal besser darauf achten, wie du dich an mich wendest, Geschöpf – denn wie ich schon sagte, das Schicksal ist nur hier die oberste Macht. Was das Totenreich angeht, so herrschen dort andere Regeln. Unsere Regeln. Damit war sie nach einem Wimpernschlag verschwunden, als habe sie nie vor ihm gestanden. Und doch war sie da gewesen – und hatte Atemu, ohne auf seine Frage auch nur im Geringsten einzugehen, doch mehr Antworten gegeben, als er erwartet hatte, zu finden. Warum? Seitdem er Theben verlassen hatte, stellte er sich stets ein und dieselbe Frage, war nicht im Stande, sie aus seinen Gedanken zu vertreiben. Er vermochte kaum zu schlafen. Eine lange nicht mehr verspürte Unruhe hatte von ihm Besitz ergriffen und trieb ihn weiter und weiter. Warum Kul-Elna? Für ihn war selbstverständlich gewesen, dass er als Einziger den Fundort des letzten Reliktes aufsuchen würde. Und doch hatte es ihn ungekannte Überwindung gekostet, sich dafür zu entscheiden. Es war keineswegs so, dass Bakura das Dorf – oder viel mehr das, was davon übrig war – fürchtete. Noch viele Jahre nach den schrecklichen Ereignissen war er dort gewesen, hatte dort gelebt. Unzählige Nächte hatte er an dem Ort zugebracht, wo seine Familie auseinander gerissen worden war, hatte dort geruht, wo sie gestorben waren. Doch damals war es anders gewesen. Er hatte eine Zukunft vor Augen gehabt. Er und die rastlosen Seelen Kul-Elnas. Sonnenlauf für Sonnenlauf, Nacht für Nacht hatte er ihren flüsternden Stimmen gelauscht, bis sie ihn in den Schlaf getragen hatten. Aber nun war es dort still. Sie waren fort, das Dorf endgültig verwaist, tot. Wegen ihm. Er hatte versagt. Er hatte ihnen die Rache versprochen, die ihnen gebührte nach all dem, was sie erlitten hatten. Er hatte sie herbeiführen sollen – und es nicht vermocht. Bakura hatte nicht vorgehabt, nach Kul-Elna zurückzukehren. Das Schicksal hatte es scheinbar ohnehin nicht für ihn vorgesehen, sonst wäre er nicht im Kampf gegen Atemu ums Leben gekommen und in die Unterwelt eingezogen. Doch der Schein hatte getrogen. Man hatte ihn wieder in diese Sphäre geschickt, aber er hatte nie das Verlangen verspürt, an den Ort seiner Geburt, seinen Ursprung, an dem so viel Blut klebte, zurückzukehren. Und nun war er hier, in den Weiten der Wüste, auf dem Weg dorthin, wo alles begonnen hatte. Sein Leben, seine gescheiterte Rache. Und wieder tat er dies mit leeren Händen. Kein Kopf eines Pharao, kein Blut eines Königs, das er auf dem Boden vergießen konnte, wo so unglaublich viele Seelen ihren letzten Atemzug getan hatten. Warum? Warum wieder einmal Kul-Elna? Abrupt zügelte er das Pferd und brachte es schließlich zum Stehen. Für einen Moment starrte er nur ins Leere, dann stieg er ab. Kurz sammelte er seine Kräfte, dann erschien Diabound neben ihm. Er musste herausfinden, was in dem Dorf vor sich ging, warum dieses Relikt ausgerechnet dort verborgen war. Er hatte keine Geduld mehr. Auch sein Ka spürte das. Ohne, dass auch nur ein Wort zwischen ihnen gewechselt wurde, hielt ihm das Monster die geöffnete, klauenbewehrte Hand hin. Der Grabräuber zögerte nicht und stieg auf. Das Biest hatte genügend Kraft. Sie würden Kul-Elna in etwa einem Sonnenlauf erreicht haben. „Du weißt, wohin du musst“, murmelte er und die mächtigen Schwingen begannen zu schlagen, trugen Wesen und Träger hoch in die Lüfte und dem einen Ort entgegen, der ihr Schicksal war. Als Atemu in den Palast zurückkehrte, lag die Stille wie ein Leichentuch über dem Ort. Ein Eindruck, der von der Dunkelheit, die sich längst über die Stadt gesenkt hatte, noch verstärkt wurde. Kaum ein Geräusch drang aus den unzähligen Zimmern hervor. Dennoch führte ihn sein Weg nicht in seine Gemächer, sondern zum Speisesaal. Er wusste, dass sie dort sein würden und tatsächlich sollte er sie in dem Raum vorfinden. An der langen Tafel in der Mitte des Zimmers saßen die Personen, die über all die Zeit, die er mit ihnen verbracht hatte, zu aufrichtigen Begleitern und guten Freunden geworden waren. Keiner von ihnen sagte ein Wort, während sie so da saßen. Auch, als er eintrat, wurde zunächst nicht gesprochen. Es war schließlich Yugi, der die Stille als Erster durchbrach. „Du bist zurück.“ Der Pharao nickte zur Antwort, während er sich bei ihnen niederließ. „Ja. Es gab noch einiges zu tun.“ Schweigen senkte sich wieder über sie, bis es dann schließlich Ryou war, der eine Frage in die Runde warf. „Wir werden es schaffen, nicht wahr? Ich meine … jetzt, nach allem was wir getan haben, müssen wir es einfach schaffen, oder?“ „Und ob wir das werden“, gab Joey mit entschlossener, aber ebenso müder Stimme zurück. „Caesian wird sich wünschen, er wäre nie geboren worden, wenn wir mit ihm fertig sind.“ „So ist es. Wir machen ihn fertig“, pflichtete ihm Tristan bei, der genauso erschöpft klang. Auch sie alle hatten einen anstrengenden Tag hinter sich gebracht. Neben der Anlage weiterer Fallen hatten sie sich noch einmal einen leeren Platz in der Stadt gesucht und mit ihren Waffen geübt. Duke und Tristan hatten sich darüber hinaus in den letzten Umläufen mit ihren Ka-Bestien vertraut machen müssen, eine Aufgabe, die nicht zu unterschätzen war. Gerade Qi hatte hierbei eine Herausforderung dargestellt. Mehr als einmal hatte sich Tristan in den Augen der Zwillingsseele unmanierlich ausgedrückt und dafür die eine oder andere Retourkutsche bekommen. Duke hatte nicht schlecht gestaunt, als sein braunhaariger Kumpane plötzlich knapp zehn Meter hoch in der Luft schwebte. „Wir werden ihm alles entgegensetzen, was wir zu bieten haben“, stimmte nun auch Tea nach kurzer Stille zu. „Aber wir dürfen uns keinesfalls überschätzen. Caesian ist und bleibt gefährlich. Ihn nicht ernst zu nehmen, wäre ein fataler Fehler.“ „Damit hast du Recht“, pflichtete Marik ihr bei. „Doch ich denke nicht, dass du dich darum sorgen musst. Nach allem, was passiert ist, würde ein hohes Maß an Ignoranz dazu gehören, um ihn nicht für das zu halten, was er ist: eine ernstzunehmende Bedrohung.“ „Richtig. Aber auch er ist nur ein Mensch. Wir können ihn bezwingen, wenn wir nur an uns glauben und zusammenhalten“, fügte Yugi hinzu, woraufhin er zustimmendes Murmeln von allen Seiten erhielt. Auf Atemus Züge stahl sich bei diesen Worten ein leichtes Schmunzeln. Es war Mal um Mal faszinierend zu sehen, wie sich der Kleinere im Laufe ihrer Freundschaft weiterentwickelt hatte. Aus dem einst schüchternen Jungen ohne einen Funken Selbstbewusstsein war eine tapfere, starke Seele geworden. „Habt ihr die Anderen gesehen?“, fragte er schließlich in die Runde. „Mana hat sich bereits zurückgezogen“, antwortete Tea. „Die letzten Tage haben ihre magischen Kräfte sehr beansprucht. Sie muss sich ausreichend erholen, ehe wir auf Caesian treffen.“ „Allerdings. Marlic und Seto sind noch nicht zurück. Riell wollte noch einmal nach den Schattentänzern sehen, sich dann aber auch bald hinlegen“, führte Yugi weiter aus. „Ich weiß nicht, ob du es schon gehört hast, aber Sam ist seit heute Mittag wieder zurück.“ „Ist sie das?“ „Ja. Scheinbar hatte sie versucht, die desertierten Soldaten zum Umkehren zu bewegen. Leider hatte sie jedoch keinen Erfolg.“ „Verstehe …“, erwiderte Atemu und schwenkte das Wasser, das er sich soeben eingegossen hatte, nachdenklich im Becher umher. Dann ließ er den Blick noch einmal umher schweifen. „Es gibt noch etwas, das ich euch sagen möchte, ehe wir Caesian morgen gegenübertreten.“ „Das da wäre?“, erkundigte sich Joey mit hochgezogener Augenbraue. „Ich möchte euch danken – für alles, war ihr getan habt, um Ägypten zu beschützen. Wie schon so oft zuvor seid ihr tapfer an meiner Seite gestanden, habt der Gefahr furchtlos ins Auge gesehen und dabei keinerlei Bedingungen gestellt. Ihr habt aber nicht nur das getan, nein, sondern noch viel mehr. Nicht nur habt ihr euch dieser Bedrohung, mit der wir uns konfrontiert sehen, gestellt, auch habt ihr dafür gesorgt, dass es weitergeht. Dann, wenn ich geglaubt habe, es ginge nicht mehr, als hätten wir bereits alles in unserer Macht stehende getan, kamt ihr und habt mich daran erinnert, dass das noch längst nicht der Fall war, dass ich aufstehen und weitermachen musste, weil das Ende noch fern war. In den dunkelsten Stunden meines Lebens seid ihr für mich da gewesen und habt mir gezeigt, dass Aufgeben niemals eine Option sein darf, wenn man die beschützen möchte, die man liebt. Und dafür meine Freunde, bin ich euch auf ewig dankbar, gleich was morgen geschehen wird. Ohne euch wäre dieser Krieg längst verloren und keiner von uns mehr hier. Und auch, wenn in der Zeit, aus der ihr kommt, nie jemand erfahren wird, was ihr hier geleistet habt, so will ich doch, dass ihr wisst, dass das, was ihr für Ägypten bereit wart zu tun, mich mit größter Dankbarkeit erfüllt. Ich stehe auf ewig in eurer Schuld, meine Freunde. Auf euch!“ Atemu hob den Becher und die Anderen taten es ihm nach, während sich ihre Gesichter ein wenig aufhellten. Sie alle tranken den Inhalt ihrer Behältnisse auf einen Zug aus. Joey knallte sein Gefäß daraufhin auf die Tischplatte, um sich die Aufmerksamkeit seiner Kameraden zu sichern. „Das können wir nur zurückgeben, Alter“, sagte er und erntete Zustimmung von allen Seiten. „Und du hast unser Versprechen, dass wir Caesian morgen dermaßen eins überziehen werden, dass er nicht mehr weiß, wo oben und wo unten ist. Den Kerl machen wir platt!“ Riell wandelte durch die Gänge des Palastes. Eigentlich hatte er sich längst zurückziehen wollen, doch er hatte keine Ruhe gefunden. Es gab da noch etwas, das er tun musste, ehe der morgige Tag anbrach. Nach einer Weile erreichte er sein Ziel, eine einfache, geschlossene Holztür. Er zögerte einen Moment, atmete kurz durch, ehe er klopfte. Er erhielt keine Antwort. Auch beim zweiten Mal nicht. Für einen Augenblick dachte er darüber nach, es dabei zu belassen, entschied sich dann jedoch dagegen. Sobald sich die Sonne erhob, würden sie Caesian gegenüberstehen. Und dann musste er sich allen Rückhalts sicher sein, den er haben konnte. Vorsichtig legte er also die Hand auf die Klinke und öffnete die Tür. Der dahinterliegende Raum lag weitestgehend im Dunkeln. Lediglich durch das Fenster fielen ein paar vereinzelte Mondstrahlen herein und verdrängten die Finsternis. Doch das wenige Licht genügte, um zu finden, wonach er gesucht hatte. Auf dem Fenstersims saß eine Gestalt, den Umhang fest um die Schultern gezogen. Die Beine hatte sie an den Körper gepresst, den Kopf darauf gelegt, während ihr Blick auf die dunkle Stadt gerichtet war. Er konnte erkennen, dass sie sich eilig mit einem Zipfel ihrer Kleidung über das Gesicht rieb, als er näher kam. Sie hatte geweint. „Was plagt dich?“, durchbrach er die Stille schließlich, während er sich in einem Sessel nahe dem Fenster niederließ. Zunächst antwortete sie nicht, lediglich ein Schniefen war zu hören. Er gab ihr die Zeit. Was immer dort draußen in der Wüste geschehen war, es hatte sie erschüttert, so viel stand fest. „Ich …“, setzte sie schließlich an und brach wieder ab. Sie wollte darüber sprechen, wusste jedoch nicht wie – nicht nach allem, was sie Riell erst kürzlich an den Kopf geworfen hatte. Der Schattentänzer bemerkte dies und entschied sich, ihr Hilfestellung zu geben. „Ich habe gehört, du hättest versucht, die desertierten Soldaten zum Umkehren zu bewegen. Da du alleine zurückgekommen bist … es hat nicht funktioniert?“ „Hat es nicht“, brachte sie schließlich mit erstickter Stimme hervor. „So feige …“ Riell seufzte. „Nicht jeder ist mit Mut gesegnet. Aber … ich glaube nicht, dass es das ist, was dir solchen Kummer bereitet.“ Sie zögerte, schüttelte schließlich aber zur Antwort den Kopf. „Was ist es dann?“ Er konnte ihr ansehen, dass sie mit sich selbst rang. Letztendlich kamen die Tränen erneut. Das Clanoberhaupt gab ihr einen Moment, um sich selbst zu fangen. Als dies jedoch ausblieb, stand er auf und ging zu ihr hinüber. Riell legte ihr einen Arm um die Schulter und Samira ließ sich bereitwillig gegen ihn sinken. Ihr Schluchzen wurde stärker, während sich ihre aufgewühlten Gefühle einen Weg bahnten. Er strich ihr fürsorglich über den Oberarm, bis sie sich ein wenig beruhigt hatte. Erst dann wagte er, sie erneut nach dem Grund für ihrem Kummer zu fragen. Diesmal ließ die Antwort nicht lange auf sich warten. „Ich will ihn hassen!“, stieß sie hervor. „Ich will ihn hassen, weil es das Einzige ist, was ich kann, was ich kenne! Aber ich kann es nicht mehr! Weil … weil … es ist nicht seine Schuld! Nicht …“ Sie brach erneut ab. Doch Riell hatte genug gehört. Und obgleich sie bitterlich weinte, war ein kleines Lächeln versucht, sich auf seine Züge zu stehlen. Vater … es gibt noch Hoffnung. Es war eine Wohltat, das kühle Wasser des Nils auf ihrer Haut zu spüren. Ohne zu zögern tauchte Kisara ihre Hände ein weiteres Mal in die Fluten und benetzte sich noch einmal das Gesicht. Wie so oft stand auch am heutigen Tag die Sonne hell am Himmel und warf ihre sengenden Strahlen erbarmungslos auf das Land nieder. Lediglich die Kapuze eines dünnen, grauen Mantels schützte ihre bleiche Haut vor Schaden. Kaum, da sie sich erfrischt hatte, wanderte ihr Blick zu der Gestalt hinüber, die bei den Pferden zurückgeblieben war und auf die endlosen Weiten der Wüste hinaussah. Seitdem sie und Taisan Men-nefer verlassen hatten, hatten sie kaum ein Wort miteinander gewechselt. Und doch fühlte sie sich in seiner Gegenwart inzwischen wesentlich sicherer, als bei ihrer ersten Begegnung. Er behandelte sie gut, sorgte dafür, dass sie genug zu essen und zu trinken bekam, auch wenn er ihnen kaum eine Rast gönnte. Sie ruhten immer nur für wenige Stunden in der größten Mittagshitze oder hielten an, um ihre Wasservorräte aufzufüllen, ehe sie ihren Weg schleunigst fortsetzten. Er wirkte unruhig, rastlos. Es war offensichtlich, dass er so schnell wie möglich zu Caesian aufschließen wollte. Aber warum? Alles, was er immer wieder erwiderte hatte, wenn sie ihm diese Frage stellte, war, dass er dorthin wolle, um Antworten zu finden. Doch worauf? Immer wieder sagte ihr eine innere Stimme, dass sie vorsichtig sein musste, dass sie vielleicht gerade jemanden nach Theben führte, der am Ende nur noch größere Probleme für Ägypten bedeuten würde. Ihre Eingebung jedoch hielt dagegen. Irgendetwas sagte ihr, dass dem nicht so war, dass sie ihn dorthin bringen musste. Und trotzdem wollte sie sich sicher sein, ehe es kein Zurück mehr gab. Langsam erhob sie sich und ging zu ihm hinüber. Er wandte sich nicht um, als sie ihn erreichte, bemerkte sie aber dennoch. „Können wir weiterziehen?“, drang seine Stimme unter der versilberten Maske hervor. Kisara kaute kurz auf ihrer Unterlippe herum, überlegte, wie sie ihre Frage am besten formulierte, ohne direkt einen Verdacht zu implizieren. Schließlich entschied sie sich, dass sie nicht darum herum kam. „Das können wir – aber erst, wenn Ihr bereit seid, mir zu sagen, weswegen Ihr so plötzlich nach Theben wollt.“ Taisan schwieg einen Moment. „Du kennst meine Antwort bereits.“ „Das mag sein. Doch sie genügt mir nicht.“ Erst jetzt drehte er sich zu ihr um, sah sie unter der Maske hervor forschend an. Als er nichts sagte, fügte sie hinzu: „Ihr sucht nach Antworten. Das tue ich ebenfalls. Warum soll ich Euch dorthin bringen? Was habt Ihr vor?“ Auch diesmal antwortete er nicht sofort. „Du bist besorgt. Um den König und die seinen?“ „So ist es.“ Taisan nickte. „Ich verstehe. Doch ich vermag nicht, dir mehr zu sagen, als dass sie nichts vor mir zu befürchten haben – sofern sie die Menschen sind, von denen du berichtet hast.“ Sie verstand nicht gänzlich, was er damit meinte. Doch das Gefühl, dass sie ihm vertrauen konnte, wurde stärker. Dennoch kam sie nicht umhin, eine weitere Frage an ihn zu richten. „Und wer garantiert mir, dass Ihr die Wahrheit sagt?“ „Das tut niemand. Ich fürchte, du wirst dich auf dein Gefühl verlassen müssen. Doch ich denke, ich brauche mich, was das betrifft, nicht zu sorgen.“ Damit wandte er sich ab und schritt zu einem der Pferde hinüber. „Können wir?“ Kisara zögerte nur einen Wimpernschlag lang, dann folgte sie ihm. Sie wusste selbst nicht, weshalb sie es tat. Das Einzige, worauf sie sich in diesem Augenblick verließ, war ihre Eingebung – doch diese war in vielen Fällen schon die höchste Kraft gewesen, die sie besessen hatte. Kisara war nicht stark, sehr gebildet oder besonders schön. Das wusste sie. Es gab stärkere, klügere und hübschere Menschen als sie. Doch mit all den Jahren als Ausgestoßene hatte sie gelernt, auf ihren Instinkt zu vertrauen – und der sagte ihr, dass von Taisan keine Gefahr ausging. Darauf musste sie vertrauen. Schließlich ließen sie die schattenspendenden Ufer des Nils hinter sich und trieben ihre Pferde weiter nach Süden. Nach einer Weile bemerkte Kisara, dass die Augen des Anderen immer wieder auf ihr ruhten. Anfangs versuchte sie noch, den forschenden Blick zu ignorieren, doch irgendwann vermochte sie es nicht mehr. „Ist irgendetwas?“, richtete sie die Frage so unverfänglich wie möglich an ihn. Als habe sie ihn ertappt, schloss er kurz die Augen und richtete sie dann nach vorne. „Verzeih mir, es war unhöflich, dich so anzustarren. Doch ich kam nicht umhin. Ich bin schon lange keiner so … ungewöhnlichen Seele wie der deinen mehr begegnet.“ Neugierig legte Kisara die Stirn in Falten. „Ungewöhnlich? Inwiefern ist meine Seele denn ungewöhnlich?“ „Sie ist rein.“ Er sah sie kurz an, hielt den Blickkontakt diesmal jedoch nicht lange. „Alles, wovon du bislang gesprochen hast, richtete sich alleine darauf, dass du deine Freunde, die, die dir etwas bedeuten, in Sicherheit wissen willst. Nicht ein einziges Mal hat du um dein eigenes Leben gebangt, wärst gar bereit, es zu opfern, solltest du ihnen damit helfen. Außerdem … spüre ich etwas in dir.“ Er sah sie wieder an, eindringlich, ganz so, als würde er in ihre Seele selbst hineinblicken. „Da ist großes Leid. Du hast hart kämpfen müssen, doch hast nie aufgegeben. Und du hast nie deinen Glauben an das Gute in der Welt verloren, gleich wie oft dich das Schicksal zu Boden warf. Du bist selbstlos, gütig, nach allem, was man dir angetan hat. Du bist … aufopferungsvoll, hast gar einen Teil deiner Seele aufgegeben, um die zu retten, die du liebst.“ Kisara stockte, doch ehe sie etwas sagen konnte, fuhr er bereits fort. „Diese Welt, die so schön und doch so gnadenlos ist, hat dir in deinem kurzen Leben kaum etwas anderes bereitet, als Leid. Doch deine Seele ist rein geblieben, ist unverdorben. Dir ist egal, ob die Menschen um dich herum arm oder reich, hässlich oder schön, dumm oder klug sind. Alles, was für dich zählt, ist die Reinheit ihrer Herzen. Und das ist in der heutigen Zeit eine wahre Seltenheit. Bewahre dir dies gut, Kisara.“ Sie schüttelte fassungslos den Kopf, als er geendet hatte. „Wer hat Euch so viel über mich erzählt?“ „Deine Gesten, deine Worte, deine Augen. Menschen sind leicht zu lesen, wenn man weiß, wie.“ „Aber … wie könnt Ihr so viel alleine dadurch herausgefunden haben, dass Ihr mich beobachtet habt? Wir haben kaum drei Sonnenläufe miteinander verbracht!“ „Wie ich sagte, du hast es mir selbst verraten. Beispielsweise zeigte sich darin, dass du nie von deinem eigenen Schicksal sprachst, sondern lediglich um deine Freunde bangtest, deine Selbstlosigkeit. Darin, dass du mich noch nicht einmal gefragt hast, weshalb ich diese Maske trage, dass dir Äußerlichkeiten nicht wichtig sind, dass es dir alleine um meine Intentionen ging. Anfangs dachte ich, ich würde mich täuschen, dass es unmöglich noch so reine Herzen wie das deine geben könnte. Doch scheinbar habe ich mich geirrt.“ Er sah sie ein letztes Mal eindringlich an. „Bewahre dir dies gut, Kisara. Es mag der Tag kommen, da wird dieses reine Herz alles sein, was dir noch bleibt.“ Schlagartig wurde sie dem Delirium entrissen, das sie umfangen hatte. Noch vollkommen benebelt von dem Mittel, das man ihr eingeflößt hatte, begann Risha zu husten. Für einen kurzen Augenblick war sie zu benommen, um die Situation zu begreifen, erst dann gewahrte sie langsam, dass irgendeine Flüssigkeit in ihre Atemwege gelangt sein musste. Der Anfall dauerte nicht lange. Bald spürte sie, wie das störende Gefühl, das sie überhaupt erst zum Husten gebracht hatte, zurückwich und schließlich fast gänzlich verschwand. Schon von dieser geringen Anstrengung erschöpft, sackte sie in sich zusammen. Oder sie hatte es zumindest vorgehabt. Ihre Arme bewegten sich kein Stück, stießen auf irgendeinen Widerstand. Sie vermochte den Grund dafür jedoch erst nach einigen weiteren Augenblicken zu begreifen, als der Nebel um ihre Gedanken langsam verschwand. Erst da realisierte sie, dass irgendetwas ihre Arme über ihrem Kopf hielt, etwas, das ihre Handgelenke umschlungen hatte. Unter Anstrengung schob sie die Lider auf, doch den Kopf konnte sie vorerst nicht heben. Alles, was sie aus diesem Winkel sehen konnte, war ein mit Platten belegter Boden. Sie versuchte sich zu konzentrieren. Eine Eingebung sagte ihr, dass sie hier nicht sicher, dass sie in Gefahr war. Sie musste sich zusammenreißen. Erst nach mehreren Anläufen gelang es ihr, den Kopf ein Stück weit anzuheben. Ihr Blick, der sich noch kaum zu fokussieren vermochte, glitt durch einen dunklen, leeren Raum, der lediglich von zwei Fackeln erhellt wurde. Der Ort wirkte alt, aufgegeben. Wo, bei Seth, war sie? Erst jetzt bemerkte sie überhaupt, dass sie weder ab Boden lag, noch kauerte. Ganz im Gegenteil, sie stand auf ihren eigenen Zehenspitzen, jedoch nicht aus eigener Kraft. Schwerfällig schweifte ihr Blick nach oben. Von einer metallenen Öse in der Wand hinter ihr hingen Ketten herab, die ihre Handgelenke fest umschlungen hielten. Warum? Was war passiert? Was ging hier vor sich? „Na also, langsam scheinst du zu dir zu kommen. Hallo, hier bin!“ War diese Stimme schon vorher da gewesen? Langsam wandte sie den Kopf in ihre Richtung. Keine Ohrfeige der Welt hätte sie schneller ins Hier und Jetzt zurückholen können. Der Anblick Keiros brachte die Erinnerungen mit einem Mal zurück und verdeutlichte ihr das ganze katastrophale Ausmaß der Situation, in der sie sich befand. Hektisch schweifte ihr Blick noch einmal hin und her. Er hatte sie irgendwo hinbringen wollen. Scheinbar hatte er das geschafft, sonst wäre sie noch auf einem Pferderücken und hinge nicht an einer Wand. Instinktiv wollte sie Cheron rufen, nur um sich im nächsten Moment der Blutmagie zu entsinnen, die ihr Gegenüber angewandt hatte. So sehr sie auch hasste, es zugeben zu müssen, doch augenblicklich stieg Panik in ihr auf. Erst, als er ihr tatsächlich mit der flachen Hand eine verpasste, war sie wieder in der Lage, ihre Aufmerksamkeit auf ihn zu richten, anstatt nach einem Ausweg aus dieser Situation zu suchen. „Ich sagte ‚hier bin ich‘, Miststück“, zischte er sich an, ehe sich seine Miene so schlagartig zu einem Lächeln wandelte, als habe man einen Schalter umgelegt. „Hast du gut geschlafen, Base? Ich denke schon, immerhin habe ich deinen Kopf in eine Schale mit Wasser tauchen müssen, damit du aufwachst. Hattest du süße Träume, hm?“ So angeschlagen sie auch war, den Unterton in seiner Stimme registrierte Risha – und er bereitete ihr ungemeines Unbehagen. „Wo sind wir hier? Was ist das für ein Ort?“, presste sie über die gesprungenen Lippen hervor, ihre Stimme aufgrund ihrer trockenen Kehle kaum hörbar. Keiro grinste leicht, sichtlich erheitert. „Du bist ziemlich langweilig, weißt du das? Du stellst immerzu die gleichen Fragen. Aber ich will nicht so sein – immerhin hatte ich ja versprochen, dich einzuweihen, sobald wir mein Ziel erreicht haben.“ Er setzte sich in Bewegung, ging ein Stück weit von ihr weg und machte eine ausschweifende Bewegung mit dem Arm. „Wobei ich zugeben muss, dass du mich enttäuscht. Ich hätte eigentlich gedacht, dass du es erkennen würdest.“ Risha legte die Stirn in Falten und ließ den Blick noch einmal umherschweifen. „Und was soll ich bitte erkennen? Hier ist nichts außer Staub und Dreck“, krächzte sie zurück. Keiro wandte sich wieder zu ihr um, noch immer dieses leichte Grinsen auf den Lippen, der Ausdruck auf seinem Gesicht nun jedoch merklich dunkler. „Du hast Recht, Risha. Du hast vollkommen Recht. Und weißt du wer dafür verantwortlich ist?“ Er kam langsam näher, hielt erst inne, als er mit seinem Gesicht direkt vor dem ihren war. „Du.“ Wäre ihr Mund nicht so trocken gewesen, sie hätte die Gelegenheit genutzt und ihm ins Antlitz gespuckt. Doch sie musste sich mit einem kargen Schnauben begnügen. „Aber natürlich. Genauso wie ich schuld an Echnatons Wahnsinn war oder der Grund dafür bin, dass die Sonne im Osten und nicht im Westen aufgeht – nicht zu vergessen, dass ich ja Ursache all deiner Probleme bin“, erwiderte sie zynisch. So war es gut. Er sollte ruhig weiterreden. Je mehr blödes Gefasel über seine Zunge kam, desto mehr kochte die Wut wieder in ihr hoch und erstickte die Angst. Die Ohrfeige, mit der sie fest gerechnet hatte, blieb zu ihrer Überraschung jedoch aus. Stattdessen seufzte Keiro nur theatralisch und schüttelte mitleidig den Kopf. „Du dummes Stück erkennst es tatsächlich nicht.“ „Dann sag mir einfach, wo wir hier sind und dann ist es gut“, fauchte sie zur Antwort. „Ich muss es dir also wirklich sagen? Nach allem, was du hier angerichtet hast?“ „Ich habe überhaupt nichts getan! Wovon sprichst du über…“ Sie brach ab, als er sie plötzlich in den Haaren packte und ihren Kopf schmerzhaft zurückriss. „Natürlich hast du das! Und du weißt ganz genau wovon ich spreche, Risha!“, schrie er sie an. Dann wurde seine Stimme mit einem Mal zu einem Flüstern. „Ja, du weißt ganz genau, wo wir sind und weswegen wir hier sind. Du willst es dir nur nicht eingestehen, willst nur nicht wahrhaben, dass ausgerechnet dies der Ort deines Niedergangs sein soll, nachdem du es warst, die hier so viele Menschen um ihr Leben gebracht hat. Dann lass mich deinem sturen kleinen Köpfchen ein wenig auf die Sprünge helfen, meine Liebe“, fuhr er fort, während er sein Gesicht noch näher an das ihre brachte, bis seine Lippen sich kurz vor ihrem Ohr befanden. Seine Stimme war kaum mehr als ein Hauch, als er die darauffolgenden Worte sprach, doch sie genügten, um Risha das Blut in den Adern gefrieren zu lassen. „Willkommen in Kul-Elna.“ Kapitel 61: Ungewiss -------------------- Mit einem sanften Violett begann die Sonne, die Finsternis der Nacht zu durchbrechen. Langsam, beinahe zärtlich, mischte sie ihre Farben unter das dunkle Blau, löste es nach und nach auf. Auch, wenn es jetzt noch nicht so erschien, würden die Sterne bald vom Firmament weichen und dem glühenden Gestirn des Tages Platz machen. Der Wind hatte aufgefrischt und trieb Sandkörner vor sich her, die in kleinen Schwaden durch die Straßen Thebens tanzten. In der Ferne schob sich eine schwache Windhose am Horizont entlang, lediglich an all dem Staub zu erkennen, den sie mit auf ihre Reise nahm. Bald würde sie ebenso vergangen sein, wie die Nacht selbst. Unterhalb des kleinen Balkons, auf dem Tea stand, spielte der Wind mit den Blättern der Dattelpalmen und den Zweigen der Feuerbäume. Ihr Rauschen war das einzige Geräusch, das die nächtliche Stille störte. Doch die Ruhe trog. Irgendwo dort draußen war er, trieb sein Gefolge vor sich her, wie der Wind den Sand. Ihnen entgegen, immer weiter vorwärts, nach Theben. Hinein in die Schlacht, die wohl die letzte sein würde. Gedankenverloren strich sich Tea eine Strähne ihres braunen Haares aus dem Gesicht. Sie schlang die Arme fest um den Körper, um das Frösteln zu vertreiben, das sie ergriffen hatte. Fragen über Fragen schossen ihr durch den Kopf, schrien nach Antworten, die sie nicht erhalten würde. Noch nicht. Der Einzige, der sie kannte, war die Zeit selbst, jene Zukunft, die ihnen direkt bevorstand – und die sie mehr fürchtete, als alles andere in dieser Sphäre. Was plante Caesian? Was hatte er sich in seinem kranken Hirn für sie ausgedacht? Was lauerte in seinen Reihen, dem sie sich würden stellen müssen? Wie gut vermochte er sie inzwischen einzuschätzen, ihre Züge vorherzusagen? Und das wären noch nicht einmal die quälendsten Gedanken. Nein, es waren noch andere Dinge, die sie beunruhigten, die sie versuchte, zu verdrängen. Letzten Endes ließen sie sich jedoch nicht vertreiben, gleich wie sehr sie sich bemühte. Einem Echo gleich hallten sie Mal um Mal in ihrem Inneren wider. Hatten sie wirklich alles getan, was in ihrer Macht stand? War es genug? Hatten sie überhaupt eine Chance? Gab es überhaupt eine Möglichkeit, Caesian zu schlagen? Hatten sie eigentlich je eine Chance gehabt oder war all dies ohnehin von vorne herein zum Scheitern verurteilt gewesen? War alles umsonst gewesen? Würden sie diese Auseinandersetzung überstehen? Würden sie leben? Würden sie alle leben? Tea seufzte energisch und schüttelte den Kopf. Nein. Auch, wenn sie diese Gedanken nicht loswerden konnte, sie durfte ihnen kein Gehör schenken, sich nicht auf sie einlassen. Und genau das war es, was sie vorhatte. Sie war stark, stärker, als sie manchmal selbst glaubte. Das hatte sie in all der Zeit mit ihren Freunden, bei all den Dingen, die sie gemeinsam erlebt hatten, gelernt. Sie konnte über sich hinauswachsen – und das musste sie auch diesmal tun. Sie durfte diesen finsteren Befürchtungen keinen Nährboden bieten. Nicht um alles in der Welt. „Tea?“ Sie fuhr überrascht herum, nur um sich Tristan gegenüber zu sehen. Die Braunhaarige hatte kurz innegehalten, als er sie entdeckt hatte, schlurfte nun aber den Gang entlang, bis er sie erreicht hatte. „Kannst du auch nicht schlafen?“, fragte er. Die junge Frau zwang sich ein leichtes Lächeln auf die Lippen und schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich. Eine Weile ging es, aber ich habe lauter wirres Zeug geträumt. Schließlich bin ich aufgewacht und konnte nicht mehr einschlafen. Ich dachte, ein wenig Bewegung würde helfen, aber leider habe ich mich da wohl geirrt.“ „Hm, mir geht’s ähnlich. Ich bin einfach zu unruhig, um lange schlafen zu können. Aber gut, man zieht auch nicht jeden Tag in einen Krieg …“ „Allerdings …“ Für eine Weile standen beide einfach nur schweigend da und ließen den Blick über die Stadt und die dahinter liegenden Felshänge des Tals der Könige schweifen, hinter denen sich das Violett der aufgehenden Sonne allmählich zu einem kräftigen Rosa wandelte. „Weißt du, ich hätte auch nach allem, was wir schon erlebt haben, nie geglaubt, dass es einmal so weit kommen würde. Dass wir in einen Krieg hinein geraten … Vielleicht liegt es daran, dass wir in der Zeit, aus der wir kommen, nie direkt damit konfrontiert wurden. Natürlich haben wir in Zeitungen, im Fernsehen von Kriegen gelesen und gehört. Aber sie waren immer so weit weg …“, sagte sie schließlich. „Ja, ich weiß was du meinst. Aber genau genommen haben wir bereits unsere Kriege ausgefochten. Denk‘ doch nur mal an all die Auseinandersetzungen, die wir hinter uns haben. Die Sache mit Pegasus, die Konfrontationen mit Marlic, den Big Five, dem Orichalcos, Bakura … Auch, wenn vielleicht nicht so viele Personen direkt involviert waren, standen jedes Mal zahllose Menschenleben auf dem Spiel. Es hat nur außer uns niemand mitbekommen“, entgegnete der Braunhaarige. Tea ließ sich den Gedanken einen Moment lang durch den Kopf gehen. „Wahrscheinlich hast du Recht. Und dennoch …“ Sie schwiegen eine Weile, ehe die Brünette die Stille wieder durchbrach. „Tristan?“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, als der Name über ihre Lippen kam. Sie sah ihn nicht an, spürte jedoch seinen Blick auf sich. „Ja?“ „Ich habe Angst …“ Es verging ein Augenblick, dann spürte sie, wie sich ein Arm um ihre Schultern legte und sie zu sich zog. „Ich auch, Tea. Wir alle haben Angst. Das ist normal. Mach dir deswegen keine Gedanken.“ „Meinst du, wir können es schaffen?“ Tristan zögerte. „Ob wir es können, weiß ich nicht. Was ich allerdings weiß, ist, dass wir es müssen. Jemandem wie Caesian muss das Handwerk gelegt werden. Und genau das werden wir tun.“ Tea nickte Gedanken verloren, während die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne ihre Haut erwärmten. Kurze Zeit später fanden sie sich in einem der großen Empfangssäle des Gebäudes wieder. Außer den eingefleischten Mitgliedern des Widerstandes waren auch sämtliche Generäle und Truppenführer anwesend. Kaum, da sie alle versammelt waren, übergab Atemu das Wort an Seto. „Ich danke Euch, Majestät. Vergeuden wir keine Zeit – Caesian wird unseren Spähern zufolge hier eintreffen weit bevor die Sonne im Zenit steht. Allen sollten ihre Positionen und unsere Taktik inzwischen klar sein, zur Sicherheit will ich sie jedoch nicht ein letztes Mal durchgehen. Also hört aufmerksam zu.“ Er ließ seine Worte kurz wirken, ehe fortfuhr. „Anders als bei der Konfrontation in Men-nefer werden wir diesmal keine Truppen vor den Mauern der Stadt positionieren. Wir werden den Feind von der Umgrenzung aus in Schach halten, solange es uns möglich ist. Auch, wenn unsere Verteidigung an dieser Stelle fallen sollte, werden wir die Stadt nicht verlassen. Wir werden warten, bis der Gegner zu uns kommt und ihn auf ihm unbekanntes Gebiet locken. Wir warten, bis er in die Stadt einfällt und gehen erst dann zu einem direkten Angriff über. Damit gleichen wir auch den Unterschied in der Truppenstärke aus, da es Caesians Männern nicht möglich sein wird, uns mit geballter Kraft zu attackieren, stattdessen werden sie diese in den Gassen und Straßen aufteilen müssen. Selbst, wenn er seine Ka-Bestie zur Hilfe ruft, verlieren wir diesen Vorteil nicht – sollte sie in Theben angreifen, werden ohne Zweifel Gebäude zerstört werden, womit er seine eigenen Truppen aufgrund ihrer Vielzahl ebenfalls behindern wird. Sobald er in der Stadt ist, bedenkt die Fallen, die wir für seine Leute gelegt haben, und lockt sie gezielt dorthin. Je mehr wir auf einmal ausschalten, desto besser. Viele von uns wissen, wie schnell man in der Situation eines Kampfes die Orientierung verlieren kann – passt also besonders darauf auf, nicht selbst in die Hinterhalte zu tappen. Doch nun genug der allgemeinen Hinweise: Die Bogenschützen und Ka-Träger werden zu Beginn unseres Aufeinandertreffens mit Caesian an der Mauer Stellung beziehen und versuchen, seine Truppen solange wie möglich auf Abstand zu der Stadt zu halten. Bei diesem Unterfangen wird es uns nützen, dass wir den Boden um die Stadt herum mit Teer getränkt haben. Sobald sich Caesians Männer zum Angriff begeben, werden wir diesen entzünden, nachdem sich Feuer in der Vergangenheit als nützlich gegenüber den Untoten in seinen Reihen bewährt hat. Sollte die Mauer durchbrochen werden, so werden sich die Bogenschützen umgehend hinter die Fußtruppen in der Stadt zurückziehen und diese aus der Distanz so gut es geht unterstützen. Bei den Ka-Trägern richtet sich ihre Stellung nach der Art des ihnen eigenen Monsters. Tea, die Feuerprinzessin und du werden unter allen Umständen Abstand halten. Aufgrund ihres Elements ist sie besonders wertvoll und darf auf keinen Fall Schaden nehmen.“ Als die Brünette genickt hatte, wandte er sich an Samira. „Was deinen Phönix angeht, habe ich weniger Bedenken. Die Panzerung und die Körpergröße deiner Bestie machen sie auch im Nahkampf zu einem ernstzunehmenden Gegner, hüte dich jedoch davor, deine Kräfte zu überanspruchen. Für den Rest gilt: Bringt euch oder eure Kas nicht unnötig in Gefahr. Neben den Fallen und unserer Ortskenntnis sind sie der entscheidende Trumpf, den wir gegenüber Caesian im Ärmel haben. Wir werden sie vor allem dann benötigen, wenn sich sein eigenes Monster zeigt.“ Er ließ den Blick durch die Reihen schweifen. „Nun gut, damit sollten alle auf dem gleichen Stand sein. Gibt es noch irgendwelche Fragen, so stellt sie nun.“ Es vergingen einige Augenblicke, in denen niemand ein Wort äußerte. Seto nickte zufrieden. „Hervorragend. Nun denn, damit seid ihr entlassen. Für Ägypten!“ „Für Ägypten!“ Das Knattern von Stühlen auf Steinboden erfüllte den Raum, als sich alle Anwesenden erhoben. Die Truppenführer verließen als erste den Raum. Riell folgte ihnen sogleich mit Samira an seiner Seite, um sich zu den an der Stadtmauer wartenden Schattentänzern zu begeben. Auch Marlic hielt sich nicht länger als nötig in dem Raum auf und war bald verschwunden. Zurück blieben der Pharao und seine engsten Vertrauen. „Du solltest dich ebenfalls auf den Weg machen, mein König“, wandte sich Mana schließlich an Atemu. „Ich bin sicher, die Soldaten erwarten noch das eine oder andere Wort von dir zu hören, ehe wir in die Schlacht ziehen.“ Der Pharao nickte. „Wahrscheinlich, ja.“ Er atmete einmal tief durch, dann wandte er sich nach seinen Freunden aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert um. „Seid ihr bereit?“ Yugi, der am nächsten bei ihm stand, nickte stellvertretend. „Bereit wenn du es bist.“ Ein kurzes Schmunzeln stahl sich auf die Züge des Regenten. „Nun denn, um es mit Joeys Worten zu sagen: Zeigen wir Caesian, was eine Harke ist.“ Kisara trieb ihr Pferd durch die Weiten der Wüste, ein Tuch über Mund und Nase gezogen, um sich vor den feinen Sandkörnern zu schützen, die im Wind tanzten. Ab und an nahm sie eine Hand von den Zügeln, wischte sich über die leicht tränenden Augen. Seit der vergangenen Nacht waren sie beinahe pausenlos unterwegs. Nun war bereits der Tag herangebrochen und die Sonne schob sich unbarmherzig am Himmel empor, während sie die Reisenden mit ihren Strahlen malträtierte. Ihr Blick wanderte zu Taisan. In der vergangenen Nacht hatte sich etwas an ihm verändert. Es war kaum wahrnehmbar, bedurfte genauster Beobachtung, doch dann erkannte man, dass er von einer bislang nicht da gewesenen Unruhe gepackt worden war. Ab und an schien er mit seinen Gedanken weit entfernt zu sein, zudem trieb er das Pferd etwas zügiger voran, als in den vergangenen Tagen. Auch umklammerten seine Hände die Zügel fester, beinahe verkrampft. Es war nicht viel, was auf seine Nervosität hindeutete, doch diese wenigen Anzeichen genügten Kisara, um es zu erkennen. „Ist alles in Ordnung mit Euch?“, fasste sie ihre Bedenken schließlich in Worte. Vielleicht war es falsch gewesen, so wenig zu rasten. Eventuell hatte ihm die Hitze zugesetzt. Taisan sah sie einen Wimpernschlag lang an, als habe er sie nicht verstanden, dann schüttelte er den Kopf. „Ich danke dir für deine Fürsorge, doch mir fehlt nichts.“ Kisara war wenig überzeugt. „Seid Ihr sicher? Ihr wirkt, als ginge es Euch nicht gut.“ Ihr Gegenüber sah bereits wieder in die Wüste hinaus, als er antwortete. „Es plagt mich nichts, das ich nicht bereits gewohnt wäre. Sorge dich nicht, ich kenne meine Grenzen. Und noch habe ich sie nicht erreicht.“ Kisara überlegte einen Moment, entschied sich aber dann, die Frage, die ihr auf der Zunge brannte, zu äußern. „Was ist das für eine Krankheit, an der Ihr leidet?“ Taisan antwortete nicht sofort, als sei er mit den Gedanken schon wieder an einem weit entfernten Ort. „Sie hat viele Namen. Manche nennen sie den schleichenden Tod, was ich als unzutreffend erachte. Wir alle gehen dem Tod entgegen, manche langsam, manche schneller. Wieder andere bezeichnen sie als die lebendige Zersetzung.“ Kisara schauderte bei beiden Bezeichnungen. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, woher sie kamen. „Davon habe ich noch nie gehört“, erwiderte sie dennoch, denn es interessierte sie aufrichtig, was es war, das ihr Gegenüber zu quälen schien. „Aber … es ist der Grund für Eure Maske, nicht wahr?“ Taisan musterte sie kurz, dann nickte er. „Ich war nicht von Geburt an das, was die Menschen als unansehnlich bezeichnen, nein. Ich war einst gar recht attraktiv, musst du wissen.“ Ein schelmisches Funkeln in seinen Augen verriet Kisara, dass es als Scherz gemeint war. „Ich habe auch nicht das Gegenteil behaupten wollen“, entgegnete sie dennoch. „Das wollte ich dir auch nicht unterstellen.“ Er schwieg einen Moment, als denke er an alte, längst vergangene Zeiten. „Ich mag nie so ansehnlich wie mein Bruder gewesen sein – so kräftig, hochgewachsen, majestätisch … doch das, was ich war, war schöner anzuschauen, als das hier.“ Er umfasste den Handschuh, der die linke Hand bedeckte, und zog ihn von den Fingern – oder vielmehr dem, was davon übrig war. Kisara musste ein erschrockenes Keuchen unterdrücken. Mit dem Anblick, der sich ihr bot, hatte sie nicht gerechnet. An kleinem und Ringfinger fehlte jeweils das oberste Glied. Der Rest der Hand war hier und da bräunlich, an anderen Stellen gar grau bis schwarz verfärbt. An manchen Stellen ragten Knoten auf. Ebenso plötzlich, wie Taisan ihr den Anblick offenbart hatte, verbarg er ihn wieder unter dem Handschuh. „Es frisst mich bei lebendigem Leib. Kein Heiler vermag etwas dagegen zu unternehmen. Einst fing es an einem Bein an, doch das genügte ihm nicht. Inzwischen gibt es an meiner sterblichen Hülle keinen Fleck mehr, von dem es nicht bereits Besitz ergriffen hat.“ Sein Gegenüber wirkte verdattert. „Es … tut mir leid, dass Ihr das ertragen müsst.“ Doch der Andere schüttelte nur den Kopf. „Das muss es nicht. Dies ist der Lauf der Dinge. Einige gehen später, manche früher. Ich gehöre zu …“ Sie war noch so überrumpelt von dem Anblick der verstümmelten Hand, dass sie regelrecht aufschrak, als Taisan aus heiterem Himmel sein Pferd zum Stehen brachte. Die Weißhaarige brauchte einen Moment, bis sie reagierte und ihr Tier ebenfalls in einigen Schritt Entfernung zügeln konnte. Verwundert wandte sie sich um. „Was ist mit Euch?“, erkundigte sie sich – ohne jedoch eine Antwort zu erhalten. Verunsichert musterte sie ihr Gegenüber. Er starrte vor sich hin, fixierte etwas, das ihr verborgen blieb. Langsam trieb sie ihr Pferd zurück, bis es sich neben dem seinen befand. „Taisan? Ist euch nicht wohl?“ Ein ungutes Gefühl machte sich in Kisara breit. Vorsichtig legte sie ihm eine Hand auf die Schulter und rüttelte ihn leicht. „Taisan?“ Erst das riss ihn aus seiner Starre. Ruckartig wandte er sich zu ihr um, sah sie einen Moment lang an, als würde er sie nicht erkennen. Dann schloss er kurz die Augen und schüttelte den Kopf, als wolle er irgendeinen Gedanken vertreiben. „Verzeih“, sprach er schließlich. „Es war nicht meine Absicht, dich zu erschrecken.“ Kisara musterte ihn aufmerksam. „Seid Ihr sicher, dass es Euch gut geht?“ „Mir fehlt nichts.“ „Was war es dann?“ Taisan richtete seinen Blick wieder in die Ferne. „Ich habe gesehen“, erwiderte er kryptisch, dann machte er sich daran, von seinem Pferd zu steigen. Die junge Frau legte die Stirn in Falten. „Was habt Ihr gesehen? Und was tut Ihr da?“ „Die Pferde werden uns nichts nützen. Wir werden mit ihnen nicht rechtzeitig nach Theben gelangen.“ Kisara verstand nicht. „Wovon sprecht Ihr?“ Taisan sah ihr eindringlich in die Augen. Seine Stimme war gefasst wie eh und je. „Wie ich dir sagte, habe ich gesehen. Caesian … er hat Theben beinahe erreicht. Gleich wie sehr sich diese treuen Tiere bemühen, sie werden uns nicht rechtzeitig dorthin bringen. Steige ab.“ Die Weißhaarige traute ihren Ohren nicht. „Ihr … Ihr wollt aufgeben? Was hat das zu bedeuten, Ihr wart doch fest entschlossen, zu ihm aufzuschließen! Und nun wollt Ihr einfach …“ „Ich will nichts dergleichen“, unterbrach er sie bestimmt, ohne jedoch die Stimme zu heben. „Du missverstehst mich, Mädchen. Ich sagte, die Pferde seien ungeeignet, uns rechtzeitig an unser Ziel zu bringen. Ich habe nie verlauten lassen, dass wir nicht dennoch nach Theben gehen werden. Und nun komm von dem Pferderücken herab. Ich will nicht, dass es dich abwirft, wenn es scheut.“ Kisaras Verwirrung wuchs mit jedem Augenblick, der verstrich, doch diesmal kam sie der Aufforderung nach. Kaum, da sie Sand unter ihren Füßen spürte, bahnte sich die nächste Frage einen Weg über ihre Lippen. „Scheuen? Weshalb sollten sie …?“ Panisches Wiehern gellte durch die Wüste, als ein gleisendes Leuchten die Umgebung in weißes Licht tauchte. Risha zitterte. Sie bemühte sich, es zu unterdrücken, doch ihr fehlte die Kraft dazu. Ihre Augen wanderten ruhelos durch den Raum, in dem sie gefangen gehalten wurde. Ein Pfeifen dröhnte in ihren Ohren, ihre Sicht verschwamm. In all den Jahren, die sie mit den Schattentänzern verbracht hatte, hatte sie eines nie gewollt: An diesen Ort zurückzukehren. Ab und an war es ihr in den Sinn gekommen, doch sie hatte nie den Mut, die Willenskraft aufbringen können, es zu tun. Zu viel war hier geschehen. Wann immer sie an das Dorf gedacht hatte, hatte sie die Kälte gepackt. Nun, da sie tatsächlich hier, in Kul-Elna war, war es jedoch nackte Angst, die ihr in die Glieder kroch. Sie wollte nicht hier sein, sie musste weg, sie ertrug es nicht. Erinnerungen brandeten auf sie ein, Bilder, die sie hatte vergessen wollen und die mit einem Mal doch wieder so nah waren, als wäre sie gerade einmal ein paar Sommer alt, auf der Flucht vor dem Tod. „Deine Eltern haben es gewusst.“ Keiros Stimme riss sie für einen Augenblick zurück in die Gegenwart. Wie durch einen Schleier richtete sie den Blick auf ihn und seine vor Abscheu verzerrten Züge. „Als sie dich damals zu uns brachten, haben sie es bereits geahnt“, sprach er weiter. „Dass deine Existenz nichts Gutes mit sich bringen würde. Doch wir waren dumm genug, ihnen nicht zu glauben.“ Er begann, langsam vor ihr auf und ab zu gehen, ohne sie auch nur einen Wimpernschlag lang aus den Augen zu lassen. „Wärst du nicht gewesen, Risha, die Geschichte wäre anders verlaufen. Meine Eltern würden noch leben. All die Menschen dieses Dorfes würden noch leben. Niemand wäre in dieser Nacht gestorben. Alles, was dazu hätte geschehen müssen, wäre, dass Vater und Mutter dich davon gejagt hätten. Doch leider vermochten weder sie noch ich zum damaligen Zeitpunkt zu erkennen, was du wirklich bist.“ Risha schüttelte langsam, benommen den Kopf. Seine Worte wirkten, als spräche er aus weiter Entfernung zu ihr. „Ich habe … nichts getan.“ Ein freudloses Lachen. „Weißt du, Risha, je öfter du diesen Satz aussprichst, desto mehr bekomme ich den Eindruck, du glaubst diese Worte tatsächlich selbst. Hast du dich vielleicht in all den Sommern so erfolgreich selbst belogen, dass dir selbst nicht mehr klar ist, was du bist?“ Er schwenkte plötzlich herum, packte sie unter dem Kinn und zwang sie dazu, ihn anzusehen. „Dann lass mich deinem Köpfchen auf die Sprünge helfen. Risha, gleich was du tust, gleich warum du es tust, alles, was du hervorbringst, ist Asche. Wohin auch immer dich dein Weg führt, gehen Städte in Flammen auf; was immer du auf berührst, es zerfällt zu Sand. Ich habe dich lange genug beobachtet, um mir darüber klar zu werden. Es ist so und es wird immer so sein. Das ist dein Schicksal.“ „Kul-Elna war nicht meine Schuld! Ich habe nichts getan! Was hier geschehen ist, ist schrecklich, aber ich kann nichts dafür! Und was soll dieses Gerede, es sei mein Schicksal, zu zerstören? Was habe ich getan, um dir diesen Eindruck zu geben? Von Kul-Elnas Tragödie lässt du dich scheinbar nicht abbringen, aber dann nenne mir eine weitere Begebenheit, die deine Ansichten stützt!“ Rishas Stimme brach hier und da, ließ die sonstige Schärfe vermissen. Sie wusste, dass es keine Rolle mehr spielte, ob sie ihr Gesicht wahrte oder nicht. Eine Stimme in ihr säuselte, dass sie aus dieser Situation nicht lebendig hervorgehen würde. Keiros Blick war schon beinahe mitleidig, als sie geendet hatte. „Du armes Ding. Hat Resham dir das all die Zeit eingebläut? Wie viele Beweise willst du noch? Alleine schon dein Hass ist Zeichen genug dafür, dass du nichts als Verwüstung auf dieser Welt hinterlassen wirst. Er hat sogar schon auf deinen Ka übergegriffen. Du hast dieses Dorf vernichtet. Und um deine Hände reinzuwaschen, willst du es einem anderen, dem Königshaus in die Schuhe schieben, samt einem Regenten, der noch ein Kind war, als all dies passierte. Und dennoch verfolgst du deinen Plan, so unlogisch er auch sein mag. Du hast vor, ihn zu vernichten, wie du alles vernichtest, das in deinem Weg ist, denn eine andere Lösung kennst du nicht. Wenn ich dich nicht aufhalte, Risha, dann wirst du ein neues Zeitalter der Finsternis über Ägypten bringen – und wer weiß, wohin dich die Reise dann führt? Was als nächstes deinen Zorn auf sich ziehen und in Flammen aufgehen wird? Nein, das kann ich nicht zulassen.“ Er ließ von ihr ab, strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Für einen knappen Moment schien er mit den Gedanken weit weg zu sein. Gedankenverloren wanderten seine Hände immer weiter durch ihr Haar, jagten Schauer über ihren Rücken. „Weißt du, eigentlich wollte ich dich leiden lassen, für alles, was du uns angetan hast. Aber das war, bevor ich soeben erkannt habe, dass du es nicht verstehst. Du weißt wirklich nicht, was du bist und wozu du vorherbestimmt bist, was du schon angerichtet hast. Es ist dir einfach nicht bewusst.“ Mit jedem Wort, das über seine Lippen kam, schien ihr Blut allmählich zu gefrieren. Das Säuseln ihrer inneren Stimme wurde lauter. Am Rande nahm sie wahr, wie sich die Schatten in einer der Ecken zu verdichten schienen. Als sie genauer hinsah, setzte ihr Herzschlag einen Moment lang aus. Nach und nach formte sie aus den Schatten eine Gestalt – ein Zerberus. Shadara. Jedoch nicht der Shadara, den sie kannte. „Das ändert all dies zwar grundlegend, jedoch nicht entscheidend“, fuhr Keiro derweil fort. „Es besteht kein Sinn darin, dich für etwas du bestrafen, das du selbst nicht als Unrecht erkennst – das du gar nicht verstehst. Inzwischen glaube ich dir, wenn du sagst, du hättest nichts getan, denn du hast es nicht willentlich heraufbeschworen. Es ist einfach passiert. Das ist dein Fluch. Was sich in deiner Nähe befindet, ist verdammt dazu, zu zerfallen, ohne, dass du es wünscht. Du magst diesen Zusammenhang nicht sehen, vielleicht auch nur zu deinem eigenen Schutz verdrängen“, sinnierte er weiter, während die Hand, die nicht über ihren Kopf fuhr, zu seiner Hüfte wanderte – dorthin, wo sich sein Dolch befand. Schweigend sah sie zu, wie er die Klinge aus der Scheide löste und sie fest umklammerte. Sie war unfähig, auch nur ein Wort des Protestes über ihre Lippen zu bringen. Es hätte ohnehin nichts genützt. Es war offensichtlich, dass Keiro vollkommen von dem überzeugt war, was er von sich gab. Gleich, wie oft sie es noch versuchte, er würde sich nicht von seinem Vorhaben abbringen lassen. „Weißt du, Risha … einmal, vor langer Zeit, da habe ich dich geliebt. Nicht nur wie eine Base. Da war mehr. Doch auch das war zum Scheitern verurteilt. Dein Fluch hätte es niemals zugelassen, musste auch das im Keim ersticken. Es hat ebenso wenig sein sollen, wie der Fortbestand dieses Dorfes.“ Sie wusste nicht, warum, doch sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Wider besseren Wissens zwang sie den Kloß in ihrem Hals nieder und versuchte es ein letztes Mal. „Keiro, bitte … tu das nicht …“ Er lächelte sie traurig an. „Lass mich dich erlösen.“ Er nahm die Hand aus ihren Haaren, ging einen Schritt zurück. Shadara fletschte die Zähne, leckte sich über die schwarzen Lippen. „Es wird nicht lange dauern.“ Atemu und seine Freunde umrundeten die letzte Straßenecke, die sie von der Stadtmauer und dem dazugehörigen Vorplatz trennte. Das weitläufige Fleckchen Thebens war bis zum Anschlag mit Soldaten gefüllt, einige von ihnen beritten, andere zu Fuß. Hier blitzten Schwerter im noch jungen Sonnenlicht auf, dort Lanzen. Obgleich sich hier so viele Seelen befanden, war es beinahe totenstill. Hätten nicht gelegentlich Rüstungen geklappert, Pferde mit den Hufen gescharrt, Menschen gehustet, man hätte glauben können, man befände sich auf einem Friedhof. Gemeinsam machten sie sich an die Überquerung des Platzes, hinüber zur Stadtmauer, auf welcher Bogenschützen und Schattentänzer bereits Stellung bezogen hatten. Seto und Riell befanden sich ebenfalls dort, den Blick auf die Wüste im Süden gerichtet, von wo aus Caesians Heer, als schmaler Schemen am Horizont erkennbar, unaufhaltsam vorrückte. Es würde nicht mehr lange dauern, dann würde er vor den Toren stehen. Schließlich erreichten sie die Stufen, die auf die Umrundung hinaufführten, und stiegen sie empor. Oben angekommen, löste sich Seto von seinem Platz und kam zu ihnen herüber, den Blick weiterhin in die Ferne gerichtet. „Ich hätte nicht gedacht, dass es diesem Bastard so schnell gelingt, den Fluss zu überqueren.“ „Er musste keine Rücksicht auf Verluste nehmen. Er wusste, dass er uns, was die Anzahl an Soldaten anbelangt, weit überlegen ist“, warf Riell ein, während er ebenfalls herüberkam. „Umso besser für uns. Je weniger Feinden wir uns gegenüber sehen, desto besser – und wenn es nur einhundert sind, die er verloren hat, zum Vorteil gereicht es uns mit Sicherheit“, entgegnete Atemu und wandte sich ab, musterte die Soldaten unter sich. 40.000 … 40.000 die hier auf dem Platz und in der gesamten Stadt verteilt Aufstellung bezogen hatten, um als letzte Bastion dem Feind Widerstand zu leisten. Ihre Blicke ruhten auf ihm, erwartungsvoll und angespannt. Ihr Götter … seid mit uns … Er trat an den Rand der Mauer, blickte eindringlich auf sie nieder, ehe er zu sprechen begann. „Soldaten Ägyptens. Die Zeit ist gekommen. Heute stellen wir uns unserer vielleicht schwersten Prüfung. Wir werden in die Schlacht ziehen, gegen einen Mann, der glaubt, sich unser Land nehmen und uns unserer Freiheit berauben zu können. Das werden wir nicht zulassen. Wir werden kämpfen und uns mit aller Macht gegen das Schicksal stemmen, das er für uns vorgesehen hat.“ Seine Stimme hallte von den Gebäuden der Stadt wider, während die Truppen aufmerksam lauschten. Er ließ seinen Blick über die Reihen schweifen. „Ich könnte noch mehr sagen. Euch weiterhin beschwören. Doch das ist nicht nötig. Der Worte sind genug gewechselt worden. Nun wird es Zeit für Taten. Zeigen wir Caesian, aus welchem Holz Ägypten geschnitzt ist. Für die Freiheit – für Ägypten!“, rief er abschließend und reckte, wie schon beim letzten Mal, die Faust gen Himmel. Auch diesmal brandeten ihm zustimmende Rufe entgegen, zahllose Hände erhoben sich aus der Masse und imitierten seine Geste. Erst nach einer scheinbaren Ewigkeit senkten sie sich wieder und Atemu wandte sich von seinen Untertanen ab. Sein Blick glitt wieder in die Weiten der Wüste hinaus, wo sich Caesians Heer wie ein Sturm näherte. „Leute?“ Teas Stimme riss ihn aus den Gedanken. „Könnt ihr vielleicht alle mal herkommen?“ Er kam der Aufforderung ebenso nach, wie seine Freunde aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert. „Was ist denn Tea?“, erkundigte sich Yugi, als sie alle versammelt waren. Zur Antwort hielt die Brünette ein Stück Kohle in die Höhe. „Und was genau soll uns das jetzt sagen?“, hakte Duke verdutzt nach. „Das wirst du gleich sehen – ihr dürft euch übrigens auch angesprochen fühlen“, fuhr die junge Frau fort und forderte damit auch Seto, Mana, Riell, Marlic und Samira auf, sich ihnen anzuschließen. Die kamen der Aufforderung mehr oder minder begeistert nach. „Was hast du vor?“ erkundigte sich der Schattentänzer. Tea lächelte zur Antwort. „Haltet bitte alle mal eure Hände die Mitte, so in etwa.“ Man tat, wie geheißen, nicht jedoch ohne sich weiterhin zu wundern, worauf sie hinaus wollte. Dann begann Tea, mit dem Kohlestück einen Kreis über ihre Handrücken zu ziehen. Marlic zog eine Augenbraue in die Höhe. „Hast du der Kleinen etwa irgendwelchen Hokuspokus beigebracht?“, fragte er an Mana gewandt. Die schüttelte den Kopf. „Nein …“ Während Tristan, Joey, Yugi und Atemu allmählich dämmerte, worauf Teas Tun hinaus lief, blieb dem Rest die Antwort verborgen, bis sie fertig war. Schließlich prangte jedoch ein lachendes Gesicht auf ihren zusammengesteckten Händen. „Ah … ha“, kommentierte Marlics. „Und jetzt?“ „Dieses Zeichen hat für mich eine besondere Bedeutung“, erklärte Tea schließlich aufgrund der zahlreichen fragenden Gesichter. „Damals, als Yugi, Joey, Tristan und ich unser allererstes Abenteuer an Atemus Seite bestritten, sah es nicht gut aus. Es schien, als könnten wir unseren Gegner nicht bezwingen.“ „Kaiba …“, murmelte Joey nickend. „Genau. Doch wir haben zusammengehalten und alle Hürden gemeistert, damals und auch danach. Dieses Symbol steht für unseren Zusammenhalt und unsere Freundschaft. Ich weiß, dass es wahrscheinlich bald wieder verblasst sein wird, doch das ist egal. Es wird immer da bleiben, ob wir es sehen oder nicht.“ Sie überlegte einen Augenblick. „Was ich damit sagen möchte: Ganz egal, was heute mit uns passieren wird, keiner von uns ist alleine.“ Sie lösten ihre Hände voneinander, betrachteten die Abschnitte, die sich über ihre Hände zogen. Marik lächelte „Eine schöne Geste, Tea. Danke dafür.“ „Tse“, machte sein dunkles Gegenstück. „Weichgespülter Weiberkram …“, sprach’s und wandte sich ab – ohne jedoch Anstalten zu machen, die Kohlereste zu entfernen. Kapitel 62: Am Abgrund - Teil I ------------------------------- Am Abgrund – Teil I Langsam, beinahe träge, löste sich Bakura aus den Klauen Diabounds. Die große Bestie war soeben gelandet und hatte die Pranke gesenkt, um ihren Träger abzusetzen. Kaum, da er sich ein Stück weit von ihr entfernt hatte, rief er sie zurück. Ein kurzes Flackern, dann war das Monstrum wie in Bakuras Seele verschwunden. Sein Blick wanderte dorthin, wo sich zwischen sandigen Felsen ein Weg dahin schlängelte, der plötzlich nach unten abknickte und somit aus seiner Sicht verschwand. Der Pfad, der nach Kul-Elna hineinführte. Langsam setzte er sich in Bewegung, folgte dem kaum noch erkennbaren Weg bis zu dessen höchstem Punkt. Dort angekommen, hielt er einen Moment lang inne. Unter ihm erstreckte sich die verlassene Siedlung. Still und seit langer Zeit unberührt lag sie da. Außer einigen Sandkörnern, die der Wind aufscheuchte, bewegte sich nichts zwischen den kleinen, heruntergekommenen Hütten. Sie waren inzwischen noch verfallener, als Bakura sie in Erinnerung gehabt hatte. Einige hatten sich endgültig den Elementen ergeben müssen und waren in sich zusammengefallen, während andere weiterhin Wind und Wetter trotzten. Hier und da erklang ein gespenstisches Pfeifen, wenn eine Böe durch die Risse und Löcher in den Mauern streifte. Allmählich machte er sich daran, dem Pfad in das Dorf hinein zu folgen. Wider aller Erwartungen war Bakura nie davor zurückgeschreckt, Kul-Elna nach der Tragödie aufzusuchen. Anfangs hatte er die Siedlung verlassen, doch es hatte nicht lange gedauert, bis ihn sein Weg wieder dorthin geführt hatte. So wie auch diesmal … Er hatte damals gar beschlossen, sein Lager hier aufzuschlagen. Wenn er sich nicht gerade in den Weiten der Wüste oder den Straßen von Men-nefer herumtrieb, war er zumeist hier anzutreffen gewesen. Damals war es hier nicht so still, so verlassen gewesen wie heute. Die Seelen der Verdammten waren umhergestreift, hatten diesen Ort heimgesucht und zu Bakura geflüstert. Nun jedoch war Kul-Elna endgültig seinem Schicksal erlegen. Es war tot, ebenso, wie die meisten seiner Bewohner. Und dennoch schien die Geschichte des Dorfes noch immer nicht an ihrem Ende angelangt zu sein. Der Grabräuber hielt inne und sah sich um. Er kannte jeden Winkel, jedes Fleckchen dieser Siedlung auswendig. Doch auf Anhieb wollte ihm kein Ort einfallen, an dem ein göttliches Relikt so gut versteckt sein könnte, dass es ihm bislang nie aufgefallen wäre. In all den Jahren, die er hier zugebracht hatte, hätte ihm etwas ins Auge stechen müssen, irgendeine Auffälligkeit, die nun Sinn ergab. „Wenn ich ein Artefakt verbergen müsste … wo würde ich es tun?“, murmelte er. Doch so lange er auch überlegte, ihm fiel kein bestimmter Platz ein. Die Kammer, in welcher die Milleniumsgegenstände ihren Ursprung hatten, schloss er aus. Wäre ein göttliches Relikt so nah bei anderen ebenfalls mächtigen Artefakten gewesen, es wäre aufgefallen – wenn nicht ihm, dann Zorc. Er konnte nur hoffen, dass er damit richtig lag. Nachdem der unterirdische Komplex durch die Kämpfe, die hier stattgefunden hatten, beschädigt worden war, würde es Tage dauern, in den Trümmern ein Relikt zu finden – selbst für Diabound. Aber was blieb dann noch? Außer der besagten Kammer hatte es in Kul-Elna keine besonderen Einrichtungen gegeben. Hütte hatte sich an Hütte gereiht. Das war es. Theoretisch konnte das Relikt überall und nirgendwo sein. Er fuhr sich durch die Haare. Gleich, wie lange er hier herumstand und grübelte, er kam nicht um eine banale Begehung des Dorfes herum, um sein Gedächtnis aufzufrischen. Vielleicht gab es doch die eine oder andere auffällige Stelle, die ihm gerade nur nicht in den Sinn kommen wollte. Zügig machte er sich an die Arbeit. Keiro! Die Klinge kam wenige Finger breit vor der Stelle auf Rishas Haut zum Stehen, unter der sich ihr Herz verbarg. Der alarmierte Ton im Gedankenruf der Ka-Bestie hatte ihn innehalten lassen, kurz bevor er sein selbstauferlegtes Werk verrichten konnte. Was ist? Dort draußen ist jemand … Das Monstrum, das bislang lauernd, beobachtend in der Ecke gehockt war, richtete sich auf, stellte die großen Ohren nach vorne und witterte. Keiro legte die Stirn in Falten. Du kennst diesen Geruch. Es war keine Frage. Der Zerberus grollte. Bakura … Sein Träger ließ den Dolch sinken, umklammerte ihn jedoch weiterhin so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Verdammter Mist … was will er hier? Mit seinem Auftauchen drohte sein Bruder, den ganzen Plan zu torpedieren. Er konnte Risha nicht töten, wenn er hier herumschnüffelte. Sein Ziel war es, sie ohne eine Spur verschwinden zu lassen. Sie hatte sich, ehe er sie gefangen hatte, eigenwillig von der Gruppe abgesetzt und war verschwunden – das gedachte er zu seinem Vorteil zu nutzen. Wenn er jetzt keinen noch so kleinen Hinweis auf ihr Ableben hinterließ, dann würde man denken, sie sei einfach untergetaucht, habe vielleicht gar das Land verlassen. Das wäre das Beste für alle. Er würde sich nicht mit den Schattentänzern anlegen müssen und vermied einen eventuellen Konflikt mit seinem Bruder. Aber dazu brauchte er mehr Zeit. Er musste eventuelle Rückstände beseitigen, ihren Leichnam fortschaffen. Er hatte geglaubt, dass Kul-Elna – von seiner Geschichtsträchtigkeit einmal abgesehen – der perfekte Ort für sein Unterfangen war. Kaum jemand kam hier her – außer Bakura vielleicht und mit diesem hatte er beim besten Willen nicht gerechnet. Komm, gab er einen stummen Befehl an seine Ka-Bestie, die sich in seine Seele zurückzog. Er griff nach einem Lumpen, der am Boden lag und stopfte ihn der noch vollkommen verstörten Risha in den Mund. Mit einem Tuch zurrte er ihn fest, sodass sie ihn nicht ausspucken konnte. Wir müssen sehen, ob sich diese unerfreuliche Wendung gerade biegen lässt. Mit entschlossenen Schritten ging er dem Ausgang des ehemaligen Vorratskellers entgegen. Er würde sein Möglichtest tun, um seine eigenes Fleisch und Blut aus dieser Sache herauszuhalten. Bakura war sein Bruder. Aber auch diese Liebe hatte inzwischen ihre Grenzen. Es ging nicht mehr nur um ihn und sein Wohlergehen. Die Erkenntnisse, die Keiro seit dem Erlebnis in der Wüste gewonnen hatte, waren beunruhigend. Risha stellte nicht nur eine Gefahr für das dar, was von seiner Familie übrig war, sondern für alle, auf die sie traf. Er musste dem Einhalt gebieten, ehe es zu spät war. Sollte Bakura sich ihm dabei in den Weg stellen, nun … Es gab schönere Szenarien. Gebannt starrten sie alle zu dem Punkt in der Wüste, an welchem Caesian sein Heer hatte anhalten lassen. Inzwischen befand er sich im unmittelbaren Umkreis der Stadt, lediglich einige hundert Schritt von ihnen entfernt. Es war soweit. Das feindliche Heer war einer schwarzen Welle gleich an seinem Ziel angelangt, bereit, alles, was in seinem Weg stand, zu vernichten. Sie nahmen die gesamte, umliegende Dünenkette ein, es gab keinem Fleck, an welchem nicht ein Mann stand. „Ich wünschte, Risha wäre hier …“, hörte Riell Samira murmeln, die sich neben ihm befand. Er legte ihr aufmunternd eine Hand auf die Schulter. „Sobald das hier vorüber ist, werden wir sie suchen. Versprochen.“ Die kleine Schattentänzerin sah ihn nicht an, nickte jedoch. Der Ältere konnte nicht leugnen, dass es ihm ähnlich ging, wie dem kleinen Clanmitglied. Seine Schwester wäre besser geeignet gewesen, die Truppen zu führen. Es lag ihr mehr im Blut als ihm. Schon des Öfteren hatten sie es so gemacht, dass sich Risha um die Organisation der kampffähigen Schattentänzer kümmerte, während Riell die allgemeine Strukturierung des Clans leitete. Doch sie war nicht hier. Er würde an die Stelle treten müssen, die er ansonsten nur zu gerne abgegeben hatte. Wo auch immer du bist … jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, um hier zu erscheinen. Er zwang sich, seine Aufmerksamkeit wieder auf die Bedrohung vor sich zu richten. Caesians Heer war trotzdem sie nicht mehr marschierten weiterhin in Bewegung. Menschen liefen durcheinander, positionierten sich neu. „Er lässt sie in Stellung bringen“, stellte Seto fest. Atemu nickte zustimmend. „Es scheint so, als würde er diesmal auf ein vorgeschobenes Friedensangebot verzichten.“ „Gut. Je weniger Worte wir aus dem Mund dieses Kerls ertragen müssen, desto besser“, befand sein Vetter. „Eben. Da kommt eh nichts Anständiges bei raus“, stimmte Joey zu. „Eine andere Frage bleibt aber: Wo ist er? Ich sehe ihn nirgends“, gab Riell schließlich zu bedenken, dessen Blick suchend über die schier endlos wirkenden Reihen von Feinden wanderte, die allmählich Formation annahmen. Das Gewusel legte sich allmählich. „Die feige Sau versteckt sich wahrscheinlich“, mutmaßte Tristan. „Das würde nicht zu ihm passen. Er war bislang immer an vorderster Front dabei, wenn wir ihm begegnet sind“, entgegnete Mana. „Ich stimme ihr zu“, äußerte Atemu. „Und da ist er auch.“ Tatsächlich tat sich wie auf Geheiß eine Schneise zwischen den Reihen von Soldaten auf, die geradewegs durch die Mitte des Heeres verlief. Diesen Weg kam Caesian entlang geritten, gemächlich, als befände er sich auf einem erholsamen Ausritt. Dass dem nicht so war verriet jedoch sogleich die schwarze Rüstung mit goldenen Ornamenten, die er angelegt hatte. Ein Umhang von gleicher Farbkombination, besetzt mit Stickereien, wehte ebenso wie seine langen, dunklen Haare im Wind. Ein Schwert war um seine Hüfte gegurtet, die andere trug das Zepter des Gottes Seth. „Und schon mit einem Relikt im Anschlag … verdammter Mist“, murmelte Duke. Er fasste nach der Scheide seiner eigenen Waffe, ganz so, als wolle er prüfen, ob sie noch da war. Wie allen anderen, die in Schlacht zogen, hatte man auch Yugi und seinen Freunden leichte Rüstungen und Waffen verschafft. Es konnte nicht ausgeschlossen werden, dass sie in eine direkte Konfrontation mit dem Feind gerieten, in welcher sie sich nicht auf den Beistand ihrer Ka-Bestien verlassen konnten. Anfangs waren sie zögerlich gewesen. Die ungewohnten Rüstungsteile schränkten an manchen Stellen ihre Bewegungsfreiheit ein. Zudem hatte keiner von ihnen Erfahrung im Umgang mit Waffen. Ryou hatte sie jedoch schließlich beruhigen können, was das anging: Langatmige Kämpfe mit zahlreichen Schlagabtäuschen, wie man sie aus Hollywood kannte, entsprangen lediglich der Fantasie von Regisseuren. Die Forschung war sich in ihrem Jahrhundert weitgehend einig, dass die meisten Auseinandersetzungen mit Schwertern, Äxten und anderen Waffen nur einige Sekunden gedauert hatten. Man schlug zu und hoffte darauf, dass der Gegner die Attacke nicht abwehren oder ihr ausweichen konnte. Und wenn man traf, dann meistens mit bösen Folgen, dafür brauchte eine Klinge noch nicht einmal scharf sein. Ihr Gewicht und die Geschwindigkeit, mit der sie heransauste, stellten oftmals eine ebenso verheerende Kombination verschiedener Faktoren dar. Die Einzige, die keine Rüstung und auch keine größere Waffe als einen Langdolch mit sich führte, war Samira. Es gab einfach keine Rüstungsplatten in ihrer Körpergröße, zudem brachte sie noch nicht die Körperkraft auf, derer es bedurfte, ein Schwert zu führen. Im Zweifel würde sie sich auf Kiarnas Schulter zurückziehen und dort ausharren müssen. Caesian erreichte die Front und verharrte einen Moment lang mit Blick auf die Stadt, als würde er sie mustern. Dann gab er seinen umstehenden Feldherren ein Zeichen, woraufhin sich diese über die gesamte Breite des Heeres verteilten. Er selbst begann langsam vor seinen Truppen dahin zu reiten. Der Wind trug seine Stimme als undefinierte Fetzen zu ihnen herüber. „Er adressiert die Truppen“, stellte Seto fest. „Ja, sieht aus, als fackelt er diesmal wirklich nicht lange“, ergänzte Tristan. Der Hohepriester zog kurz eine Augenbraue ob der für ihn eigenartigen Formulierung in die Höhe, dann wandte er sich ab. „Bogenschützen in Bereitschaft!“, rief er der genannten Gruppe zu, welche daraufhin Pfeile an die Sehnen ihrer Schusswaffen legten. Einige von ihnen positionierten sich vor aufgestellten Fackeln, um den ausgegossenen Teer vor den Mauern auf Geheiß hin entzünden zu können. „Damit beginnt es also …“, murmelte Mana, während sie unterbewusst ihrem Stab fester umklammerte. Atemu nickte stumm. Jetzt würde sich zeigen, ob sich ihre Vorbereitungen, all die Strapazen und Verluste, die sie in der vergangenen Zeit erlitten hatten, auszahlen würden. Resham, Kipino … all die Soldaten unseres Landes … das ist für euch, schoss es Atemu durch den Kopf. Eure Tode werden nicht ungesühnt bleiben. Gebannt beobachtete er Caesian, wartete darauf, dass er seine Ansprache beendete und das Signal zum Angriff gab. Doch es kam nicht. Mehrmals wurden laute, zustimmende Rufe auf den feindlichen Reihen laut, Waffen wurden gen Himmel gereckt, doch mehr geschah nicht. Auch, als der Tyrann sich von den Seinen abwandte und den Blick wieder gen Theben richtete, tat sich für eine ganze, bange Weile nichts. Nach einer gefühlten Ewigkeit dann schälte sich ein berittener Soldat aus dem Heer und kam zu Caesian hinüber. Auf dem Arm trug er allem Anschein nach einen Vogel, welchen er an seinen Herren übergab. Der behielt das Tier einen Moment lang bei sich, ehe er es davonscheuchte. Es kreiste einmal, dann hielt er direkt auf Theben zu. Augenblicklich spannten die Bogenschützen auf den Mauern die Sehnen. „Was hat das nun wieder zu bedeuten? Soll das ein Angriff sein?“, wunderte sich Riell laut. Doch Mana schüttelte den Kopf, ihren Stab erhoben, der am vorderen Ende leicht glühte. „Es scheint ein gewöhnliches Tier zu sein. Es geht nichts von ihm aus, das auf einen Ka oder Magie hindeuten würde.“ Verdutzt beobachteten sie, wie der Vogel – ein Falke – sich zügig näherte und schließlich auf der Stadtmauer, nur wenige Schritte von Atemu entfernt, landete. An seinem Bein befand sich ein zusammengerolltes Stück Papyrus. „Du bist sicher, dass es kein Trick ist?“, erkundigte sich der Pharao an die Hofmagierin gewandt, die bestätigend nickte. Dann näherte er sich dem Tier, welches sich die Botschaft bereitwillig abnehmen ließ, ehe es wieder davonflog. Er konnte die angespannten Blicke der Anderen auf sich spüren, als er den Zettel aufrollte. Schließlich lag die Nachricht ausgebreitet zwischen seinen Fingern. All die Umstände, die du mir beschert hast, sollen nicht unvergolten bleiben. Deshalb sollst du durch die Hand derer sterben, die du zu beschützen versucht hast. Seto, der herüber gekommen war und den Text ebenfalls gelesen hatte, ballte die Fäuste. „Wir haben Verräter in unseren Reihen? Mana!“ Die Hofmagierin brauchte nicht zweimal aufgefordert zu werden. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich. Erneut begann ihr Stab zu glimmen. Nach einigen Wimpernschlägen schüttelte sie den Kopf. „Nein, da ist nichts. Es befindet sich, von Caesians Truppen einmal angesehen, niemand in unmittelbarer Nähe, dessen Intentionen falsch sind.“ „Aber was soll die Nachricht dann bedeuten?“, warf Yugi in die Runde. „Was, wenn sich die desertierten Soldaten ihm angeschlossen haben?“, mutmaßte Marik. „Nein, die waren schon viel zu weit im Süden. Bis jetzt hätten sie es niemals hierher zurück geschafft, zumal die meisten von ihnen ohne Pferde reisten“, widersprach Samira. „Vielleicht will er einfach nur Verwirrung streuen“, überlegte Ryou. „Uns glauben lassen, dass da noch etwas ist, auf das wir achten müssen.“ „Das glaube ich nicht“, entgegnete Yugi. „Caesian ist hinterlistig und grausam, aber eines hat er bislang noch nie getan: gelogen. Im Gegenteil, er hat uns immer sehr direkt gesagt, was er vorhat. In seiner Welt ist es für ihn absolut sicher, dass er Ägypten einnehmen wird, weswegen er seine Ziele nie verschleiert hat.“ „Damit hat er Recht. Aber was soll das Ganze dann?“, stimmte Riell zu. „Leute, seht mal. Da tut sich was.“ Mariks Stimme ließ sie alle wieder den Blick auf die feindliche Armee richten. Diese hatte ihre Aufstellung abermals leicht verändert. Hier und da hatten sich zwischen den Reihen Wege aufgetan, durch welche Truppen aus dem hinteren Teil des Heeres nach vorne wechselten. Als die ersten von ihnen an die Front kamen, legte Marlic die Stirn in Falten. „Was soll das denn? Die sind weder gerüstet noch bewaffnet.“ Mehr und mehr Menschen stellten sich in vorderster Reihe auf – einige von ihnen bedeutend kleiner als die anderen. „Was, bei Horus, geht da drüben vor sich?“, machte auch Seto seiner Verwirrung Luft. Atemu verstand ebenso wenig, was das sollte. Gedankenverloren rieb er mit dem Daumen über den Papyrusfetzen in seiner Hand – bis er spürte, dass er unter dem Druck nachgab. Überrasch blickte er nach unten und erkannte, dass sich hinter der ersten Schicht der Mitteilung noch eine zweite befand. Auch auf dieser stand etwas geschrieben. Vermisst du zufällig die Zivilisten, die du aus Theben weggeschickt hast? Atemus Augen weiteten sich, sein Magen überschlug sich. Ruckartig fuhr er herum und trat näher an die Außenwand der Mauer heran, um besser sehen zu können. Seine Fingernägel schabten über den Sandstein, als er die Hände zu Fäusten ballte, die unkontrollierbar zitterten. Nein … ihr Götter, bitte nicht! „Atemu? Atemu, was ist?“ Die besorgte Stimme Yugis nahm er kaum wahr. Wortlos reichte er den zweiten Papyrus an Seto und Riell weiter, die ihn ebenfalls beunruhigt musterten. Der Hohepriester überflog ihn als erstes, mehrmals, bis ihm das ganze Ausmaß dieser einen Zeile bewusst wurde. Langsam wanderten seine Augen zurück zu Caesians Heer, ehe er die Finger so fest in seine Handflächen presste, dass das Blut daraus hervortrat. „Dieses dreckige Schwein!“, schrie er, während er Riell die Nachricht an die Brust drückte. „Was zum Geier ist denn los? Klärt uns vielleicht mal einer auf?“, verschaffte sich Joey schließlich lautstark Gehör. Der Schattentänzer war es schließlich, der ihm antwortete. „Es scheint, als handle es sich bei diesen Menschen dort um unsere Zivilisten …“ Er schluckte. „Die, die wir zur Sicherheit fort geschickt haben.“ „Was bitte?“, rief Tristan aus, während Tea sich eine Hand vor den Mund schlug. Mana indes schüttelt geistesabwesend den Kopf, den Tränen nahe. „Was … was soll das? Was verspricht er sich davon? Da sind Kinder unter ihnen!“, brachte sie schließlich hervor. „Das, was er geschrieben hat. Er will den Pharao durch seine eigenen Leute umbringen“, schlussfolgerte Marlic und biss sich auf die Unterlippe. „Das wird keine Auseinandersetzung in einem Krieg, das wird ein Schlachtfest. Entweder wir töten die eigenen Leute oder wir kommen nicht an ihn ran. Mistkerl.“ Seto war indes noch immer in Rage. „Wie? Bei den Göttern, wie? Womit hat er ihnen gedroht, dass sie sich ihm ergeben haben? Es muss schlimmer sein als der Tod, wenn sie sich bereitwillig an die vorderste Front stellen lassen!“ „Er hat ihnen nicht gedroht. Seht.“ Atemus Stimme war tonlos, als er ihnen bedeutete, zu Caesian hinüber zu schauen. Von diesem ging ein gelegentliches Aufblitzen aus. Er schwenkte irgendetwas zwischen seinen Fingern hin und her, das an einem Band um seinen Hals lag und die Sonne reflektierte. Riells Knie wurden weich. „Das Amulett der Bastet …“ Beobachtend, beinahe lauernd ruhten die Augen der göttlichen Wesenheit auf der spiegelglatten Oberfläche, durch welche sie zu sehen vermochte, was dort, im Reich der Menschen vor sich ging. Ein Seufzen, einem Grollen gleich, entwich der Kehle der pechschwarzen Löwin. „Wer hätte gedacht, dass es dein Relikt sein würde, das die Waagschale noch einmal zum Kippen bringt – Schwester?“ Aus den ewigen Schatten der heiligen Sphäre schälte sich langsam ein weiterer Tierkörper – der einer Katze. Ihre Tatzen, deutlich kleiner als die Sachmets, verursachten kein Geräusch, als sie sich bewegte, ebenso wenig wie der zahlreiche Goldschmuck, den sie trug. Ihr Fell hatte die gleiche Farbe wie das der anderen Gottheit, auch in der Größe ihrer Erscheinungsform stand sie der Löwin in nichts nach. Die goldfarbenen Augen blickten erschöpft drein. Sie richtete sie auf das, was sich in Ägypten zutrug. Der schlanke Schweif zuckte bei den Bildern unruhig. „Ich hatte darauf gehofft, dass es eine Erschütterung der Sphären sei, die ich spürte. Es scheint, als sei dem nicht so gewesen“, sagte sie schließlich. Sachmet schnaubte. „Hoffnung ist etwas für Sterbliche, Bastet.“ „Du scheinst zu vergessen, dass wir genau das sind, solange unsere Relikte in den Händen dieser dunklen Seele sind.“ Die Blicke der beiden trafen sich. „Auch, wenn es nicht sein Ziel sein mag – wenn ihm niemand Einhalt gebietet, wird er uns töten, so wie er es mit Sokar getan hat. Es ist nur eine Frage der Zeit.“ Die Löwin grollte erneut. „Widerwärtiger Schweinepriester …“ Bastet musterte sie noch einen Moment lang, dann ließ sie sich neben der anderen Göttin nieder. „Denkst du, es kann dem Pharao gelingen?“ „Besser wäre es für ihn. Sollte er Caesian weiterhin walten lassen und alles, was wir kennen, somit ohnehin verdammt sein, werde ich nicht zögern, ihn den Preis für seine Unverschämtheit einer Göttin gegenüber zahlen zu lassen. Die direkte Tötung eines Sterblichen durch mich würde dann auch keine Rolle mehr spielen. Die Menschen haben ihren Platz vergessen, Schwester. Was sind wir noch für sie? Sie mögen uns opfern, uns preisen. Doch sie fürchten uns nicht mehr. Stattdessen suhlen sie sich in der eigenen Arroganz, schimpfen sich Könige. Dabei sind die einzig wahren Herrscher, die es je gegeben hat, wir. Ohne unser Wohlwollen wäre Ägypten längst verrottet.“ „Und doch sind es wir, die nun ihrer Hilfe bedürfen.“ Als Sachmet den Kopf umwandte, fixierte sie die Andere bereits eindringlich. „Nicht wir sind es, die sie vor dieser Bedrohung schützen. Im Gegenteil, sie schützen sich selbst – vor unseren Dämonen, die wir nicht zu bändigen vermochten.“ Die Löwin schnaubte abermals. „Ist dem so?“ „Das ist es. Wir waren feige und unfähig. Anstatt uns dem zu stellen, was wir zu entfesseln im Stande waren, den schwierigen Pfad zu gehen, haben wir es uns leicht gemacht und jene, die wir einst hervorbrachten, einer mächtigen Bedrohung ausgesetzt. Wir haben damals keine Lösung für das Problem gefunden, wir haben es lediglich verscharrt in der Hoffnung, nicht noch einmal darüber zu stolpern. Wir haben vollkommen fahrlässig gehandelt und sie müssen nun ebenso dafür büßen wie wir, die eigentlichen Schuldigen. Wenn sie sich für etwas Besseres halten, nicht mehr auf unseren Beistand vertrauen, so ist dies nur verständlich. Zumal der Pharao mit seiner Unverschämtheit, wie du es nennst, nicht ganz falsch gelegen zu haben scheint.“ Sachmet musste nicht fragen, um zu wissen, was sie meinte. Ihr Blick wanderte zu dem zweiten spiegelgleichen Gebilde hinüber, das sich in unmittelbarer Nähe zum ersten befand. Auf diesem zeigte sich jedoch nicht Theben, sondern ein altes, verlassenes Dorf in Mitten der Wüste. Kul-Elna. „Unsinn. Sie jagen mein Relikt, Bastet. Gewiss interessiert mich, ob sie in der Lage sind, es zu finden.“ Die Katze beobachtete sie einen Moment lang, dann erhob sie sich mit einer Bewegung, die an ein Schulterzucken erinnerte. „Ich habe nie verstanden, was in dir vor sich geht, Schwester. Deshalb werde ich mir ersparen, dich auszufragen. Aber was auch immer es ist, das du mit diesen Seelen planst …“ Sie sah noch einmal zu dem Abbild Kul-Elnas hinüber. „… sie haben genug gelitten.“ Damit verschwand sie in den Schatten und ließ Sachmet alleine mit ihren Gedanken zurück. „Wo zum Teufel hat er das verdammte Ding her? Argh, das darf nicht wahr sein! Jedes Mal, wenn es aussieht, als hätten wir auch nur eine winzige Chance, taucht der Kerl plötzlich mit einem weiteren von den Teilen auf!“ Joey fuhr sich vollkommen entnervt durch die Haare. „Das gibt’s doch einfach nicht!“ „Keiro hatte das Relikt zuletzt …“, knurrte Riell und biss sich beinahe die Unterlippe blutig. „Dieser Abschaum … wenn ich ihn in die Finger kriege … Wahrscheinlich hat er sich mit dem Artefakt freies Geleit erkauft und sich aus dem Staub gemacht, während wir hier um unser Leben kämpfen!“ „Die Frage, woher er es hat, können wir später noch klären. Wichtiger wäre zu wissen, wozu dieses Relikt in der Lage ist“, warf Atemu ein. „Was weißt du darüber?“ „Nicht viel mehr, als über die anderen. Das meiste sind Legenden. In Bezug auf Bastets Amulett heißt es, es wäre geeignet, die Herzen und Gemüter der Menschen zu manipulieren.“ „Womit geklärt wäre, wie er sie dazu bewegt hat, sich ihm anzuschließen. Das Relikt verleitet sie dazu, ihm aus freien Stücken zu folgen“, schlussfolgerte Yugi. „Und sie werden ihm nicht nur folgen“, fuhr Riell fort. „Es steht zu befürchten, dass sie alles tun werden, was er von ihnen verlangt.“ „Wirklich alles?“, hakte Tristan nach. „Das bedeutet, sie würden uns auch angreifen?“, fügte Ryou hinzu. „Beispielsweise. Sie würden vermutlich aber auch über glühende Kohlen laufen oder schlimmeres, sollte er es von ihnen verlangen. Sie sind ihm vollkommen gefügig.“ „Passiert das mit jedem, auf den er das Artefakt richtet?“, sprach Tea schließlich die Frage aus, die ihnen allen auf der Zunge lag. Riell sah sie nicht an. „Höchstwahrscheinlich … die Schriften erwähnen, dass die Stimme des Trägers dazu gehört werden müsse. Stimmt das, bedeutet es, dass er uns auf diese Entfernung – vorerst – nichts anhaben kann. Das wird sich jedoch ändern, wenn er beschließt, die Stadt zu stürmen“, antwortete er leise. „Vergiss es – mich kontrolliert niemand“, proklamierte Marlic. „Soll er’s doch versuchen! Er wird schon sehen, was er davon hat.“ „Ob du es glaubst oder nicht, auch du bist wahrscheinlich nicht vor diesem Effekt sicher“, kommentierte seine bessere Hälfte trocken. „Was zu beweisen wäre.“ „Können wir uns nichts einfach die Ohren zuhalten?“, schlug Joey vor. „So funktioniert das nicht, befürchte ich …“ „Leute, ganz ruhig! Riell, gibt es irgendeine Möglichkeit, diese Auswirkungen abzuwehren oder gar zu unterbinden? Mana, fällt dir vielleicht ein Zauber ein?“, versuchte sich Atemu an einer Lösung. Noch ehe die Hofmagierin jedoch etwas sagen konnte, ergriff bereits wieder der Schattentänzer das Wort. „Magie wird hierbei nicht behilflich sein. Wir sehen uns mit überirdischen Mächten konfrontiert, Majestät.“ Er kaute erneut auf seiner Unterlippe, die allmählich anschwoll. „Es gäbe eine einzige Möglichkeit … aber sie ist riskant.“ „Und die wäre?“, hakte Seto ungeduldig nach. „Der Reif der Isis.“ Betretenes Schweigen folgte. „Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, die Relikte aus dem Spiel zu lassen“, entgegnete Mana verwirrt. „Das haben wir. Aber der Reif wäre unsere einzige Chance. Isis hat vor allem eine Funktion als Schutzgöttin. Wenn irgendetwas die direkten Auswirkungen von Bastets Artefakt von uns abhalten kann, dann ist es ihr Gegenstand.“ Niemand sonst wagte etwas zu sagen. Seto war es schließlich, der sich nach einer gefühlten Ewigkeit an Atemu wandte, der den Blick auf das feindliche Heer gerichtet hatte. „Majestät? Was meint Ihr?“ Atemus Augen glitten über die unzähligen Reihen von unschuldigen Menschen, die Caesian wie lebendige Schilde vor sich aufgestellt hatte. Er schloss die Lider, fuhr sich durch die Haare. Diese Entscheidung war keine leichte, doch er musste sie treffen. „Wenn wir es nicht tun, haben wir bereits verloren. Wir müssten sie alle töten, um überhaupt an seine Truppen heranzukommen – etwas, das ich mich weigere zu tun. Und ehe wir ihn erreicht hätten, hätte er uns ohnehin längst der Macht des Relikts unterworfen. Harren wir hingegen hier aus, braucht er nur zu uns kommen, den Gegenstand zu nutzen und er erhält Theben auf dem Silbertablett, nur um uns alle zu versklaven oder zu töten. Es scheint keinen anderen Ausweg zu geben, weshalb wir diesen gehen müssen, so gefährlich er auch sein mag. Wenn wir überhaupt noch eine Chance haben wollen, ihm das Handwerk zu legen, dann müssen wir Gebrauch vom Reif der Isis machen und das Risiko eingehen, dieser Sphäre Schaden zuzufügen. Ansonsten existiert sie bald vielleicht gar nicht mehr.“ Er wandte sich an Yugi. „Es tut mir leid, dass ich dich schon wieder um etwas bitten muss …“ Ehe er jedoch enden konnte, nickte der Angesprochene bereits. „Ist in Ordnung. Ich gehe den Reif holen.“ „Und Sam wird dich begleiten“, warf Riell ein. „Sie wird gegenüber den Wachen meines Clans bestätigen, dass alles mit rechten Dingen zugeht.“ „Worauf warten wir dann noch? Lass uns gehen!“ Schon wuselte die Rothaarige an ihm vorbei und die Stufen der Mauer hinab. Ehe Yugi ihr folgte, warf er noch einmal einen letzten Blick in die Runde. „Passt auf euch auf, bis ich zurück bin.“ Dann verschwand auch er. Atemus Blick wanderte ein weiteres Mal dorthin, wo der Feind lauerte, einem Raubtier gleich. Das Dröhnen eines Horns erklang. Jeden Moment würde der Befehl zum Angriff erfolgen. Das wirst du tausendfach büßen, Caesian … Kapitel 63: Am Abgrund - Teil II -------------------------------- Der Sand knirschte unter seinen Füßen, während er durch die verwinkelten Gassen des verlassenen Dorfes streifte. Ab und an hielt er kurz inne, musterte eine Stelle oder Hütte genauer, ehe er jedoch weiterzog. Wo auch immer sich das Relikt befinden mochte, es verbarg sich gut. Nichts, rein gar nichts gab einen Hinweis darauf, wo es sich versteckte. Diabound war mindestens ebenso ratlos wie er, das konnte er spüren. „Verfluchter Mist …“, knurrte Bakura leise. Was sollte er als nächstes tun? Hatte er sich vielleicht getäuscht? War mit dem Vers der Seele der Zeit vielleicht gar nicht das Räuberdorf gemeint gewesen? Nein. Er war sich absolut sicher, die Zeilen richtig gedeutet zu haben. Das Artefakt musste hier sein. Aber wie sollte er es finden, wenn es praktisch überall sein konnte? Er konnte ja schlecht alles niederreißen, um es aufzuspüren … Gut, er hätte es vielleicht gekonnt, doch irgendetwas in ihm sträubte sich dagegen. Vielleicht war genau das der Test, dem er sich hier würde stellen müssen, doch es war ihm egal. Er würde nicht noch seinen Beitrag zu Kul-Elnas tragischem Zerfall leisten. Er hielt plötzlich inne, als er um eine weitere Ecke bog. Seine fliederfarbenen Augen fixierten eines der vielen Gebäude, die vor ihm lagen. Es stach nicht sonderlich heraus, war es doch eine kleine, verfallene Lehmhütte wie all die anderen in dieser Siedlung. Doch für ihn hatte sie eine besondere Bedeutung. Langsam näherte sich Bakura dem Haus, in welchem er aufgewachsen war und die ersten Sommer seines Lebens verbracht hatte. Trotzdem es starke Spuren der Verwahrlosung zeichneten, hätte er es unter tausend anderen wiedererkannt. Einen Moment lang zögerte er, dann trat er näher. Die Tür, welche in kühlen Nächten einst die Kälte abgehalten hatte, hatte sich der Zeit ergeben und sich aus den Angeln gelöst. Verrottende Dielen kleideten den Boden der kleinen Stube aus. Weiter hinten markierten die zerfetzten Reste eines Tuches den Durchgang in ein weiteres Zimmer – jenes, das er sich mit Keiro und später auch Risha geteilt hatte, während seine Eltern im Wohnraum geschlafen hatten. Erhellt wurde das Innere der Hütte durch zahlreiche Löcher, die sich in das Lehmdach der Behausung gefressen hatten. Der Gedanke, hineinzugehen und zu sehen, ob sich seit seinem letzten Besuch vieles verändert hatte, schoss ihm durch den Kopf … „In der Vergangenheit zu leben, ist ungesund.“ Schlagartig fuhr er herum und zog dabei den Dolch vom Gürtel. Ebenso abrupt, wie die Bewegung begonnen hatte, endete sie, als er gewahrte, wen er vor sich hatte. Er blinzelte zweimal, um sich sicher zu sein, dann ließ er die Waffe sinken. Seine Stirn legte sich in Falten. „Was tust du hier?“, knurrte er. Vor ihm stand niemand anderes als sein Bruder, den er bereits seit einigen Umläufen nicht mehr gesehen hatte. Er kam langsam näher. „Das Gleiche wie du, nehme ich an“, erwiderte er. Aha …, war der simple, trotzige Gedanke, der ihm bei diesen Worten kam. Er unterdrückte jedoch den Reflex, ihn laut zu äußern. „Um das Relikt zu suchen? Das bezweifle ich“, sagte er stattdessen. Sein Gegenüber legte den Kopf leicht schief. „Und weshalb?“ Bakura steckte den Dolch wieder ein, an seiner abweisenden Haltung änderte sich dadurch jedoch wenig. „Wo warst du die ganze Zeit?“, fauchte er schon beinahe. Der Andere unterbrach daraufhin den Blickkontakt, ganz so, als müsse er überlegen, wie er die folgenden Worte formulierte. „Ich habe eine Auszeit gebraucht. Ich habe einfach eine Weile auf Abstand gehen müssen. Aber jetzt bin ich ja hier, nicht?“ Es war so unglaublich typisch. Erst verschwand er einfach, ohne einen Ton von sich zu geben, nur um dann urplötzlich wieder aufzutauchen und so zu tun, als sei nichts gewesen. Der Kerl hatte vielleicht Nerven! Der Grabräuber musterte ihn eindringlich. „Allerdings … Woher der plötzliche Sinneswandel, Keiro? Hm? Hat der Herr etwa entschieden, dass es genug ‚Auszeit‘ war, die er sich genommen hat?“ Sein Gegenüber seufzte. „Es wäre nicht länger gut gegangen, wäre ich geblieben.“ „Aber natürlich. Vollkommen verständlich. In einem Krieg hat es gewiss oberste Priorität auf die Befindlichkeiten des Einzelnen Rücksicht zu nehmen. Am Ende hättest du noch Erschöpfungszustände bekommen!“ „Ich kenne eben meine Grenzen“, erwiderte Keiro sichtlich ungerührt – etwas, das Bakura bislang fremd gewesen war. „Hör zu, ich bin wieder zu den Anderen gestoßen kurz, nachdem du aufgebrochen warst. Man hat mir gesagt, wohin du gegangen bist und ich habe entschieden, dir zu folgen und dich bei deiner Suche zu unterstützen.“ Der Grabräuber ging die Worte seines Bruders mehrmals im Kopf durch. Ein Gefühl beschlich ihn – eines, das er nicht recht zu deuten vermochte, welches ihn jedoch packte und nicht mehr losließ. Und es hatte mit dem Anderen zu tun. Er versuchte, diese Vorgänge in seinem Inneren genauer zu deuten, während er Keiro im Auge behielt. Vielleicht hing es damit zusammen, dass die kleine Geschichte, die er soeben gehört hatte, keinen Sinn ergab? „Ach ehrlich? Interessant. Weißt du, ich wusste gar nicht, dass es Pferde gibt, die sich genauso schnell fortbewegen können wie Diabound.“ Keiro setzte ein enttäuschtes Lächeln auf. „Bakura, was soll das Misstrauen? Shadara hat mich hier her gebracht, wird sind fast pausenlos unterwegs gewesen, um dich einzuholen. Hör zu, ich verstehe, dass du wütend bist. Ich hätte nicht einfach so verschwinden sollen. Es tut mir leid – auch, dass wir beim letzten Mal so schlecht auseinander gegangen sind.“ Er kam noch ein paar Schritte näher, bis sie sich direkt gegenüberstanden. „Du bist mein Bruder, ich hätte offen zu dir sein sollen. Auch hätte ich mich nicht so in unsere Streitereien hineinsteigern sollen. Geschwister zanken sich nun einmal, nicht? Gleich in welchem Alter. Ich verstehe, wenn du mir nicht sofort vergeben kannst, das liegt nicht in deiner Natur, wie ich inzwischen gelernt habe. Aber können wir uns vielleicht wenigstens darauf einigen, dass du mich nicht wie irgendjemanden behandelst, der dir schaden möchte?“ Nein, es war nicht alleine die Geschichte. Die hätte aus diesem Blickwinkel betrachtet durchaus Sinn ergeben. Dafür zeigte sich nun ein anderes Detail, das nicht ins Bild passte. Die Entschuldigung, die Keiro soeben von sich gegeben hatte, wirkte herunter gespult, unehrlich. Das war nicht seine Art. Wenn er etwas sagte, dann meinte er es für gewöhnlich auch so. Reiß dich zusammen, ermahnte sich der Grabräuber schließlich selbst. Er hat Recht, warum sollte er dir schaden wollen? Du wirst allmählich paranoid. „Was auch immer …“, murmelte er schließlich und setzte sich wieder in Bewegung. Das ungute Gefühl, dass hier irgendetwas nicht stimmte, blieb jedoch. Sein Bruder folgte ihm zunächst schweigend. „Es ist nicht viel von dem Ort übrig, an dem wir aufgewachsen sind, nicht wahr?“, sprach er dann schließlich in die Stille hinein. Der Grabräuber antwortete nicht sofort. „Nein. Und das ist alleine die Schuld dieses vermaledeiten Königshauses.“ Keiro verstand den Wink mit dem Zaunpfahl und ließ das Thema fallen. „Hast du schon irgendwelche Hinweise auf das Relikt finden können?“ Sein Gegenüber schüttelte den Kopf. „Nichts als Verfall und Staub“, erwiderte er knapp. Während sie ihren Weg fortsetzten, war Bakura einfach nicht in der Lage, dieses nagende Gefühl zu verdrängen. Es blieb beharrlich. Und er wusste, dass er es schon einmal in einer ähnlichen Form wahrgenommen hatte. Aber wann? Er konnte sich nicht erinnern. Schließlich gab er nach und ging Keiros Geschichte ein weiteres Mal durch. Wenn er tatsächlich nur kurz hinter ihnen unterwegs gewesen war, wie konnte es dann sein, dass sie es nicht bemerkt hatten? Diabounds Geruchsinn war ausgezeichnet, er hatte auch Risha über eine Entfernung hinweg wittern können, die weit genug war, um sie nicht finden zu können. Alleine ihr Geruch hatte ihnen verraten, dass sie irgendwo in der Umgebung war. Das Gleiche hätte auch bei Zerberus und Träger der Fall sein müssen, wenn der Wind nicht gänzlich unglücklich stand. Außerdem hätte Keiro sie weit früher einholen müssen, wäre er von Anfang an mit Shadara unterwegs gewesen, hatte es für Bakura doch eine Weile gedauert, bis er sich entschieden hatte, den Weg in der Luft fortzusetzen. Und noch etwas störte ihn. „Wieso bist du nicht bei den Anderen geblieben? Nach meinem letzten Stand wird jeder, der ein Schwert halten kann, in Theben gebraucht.“ „Wie gesagt, es war meine eigene Entscheidung.“ „Aber weshalb? Wäre es nicht wichtiger gewesen, Caesian daran zu hindern, die Stadt zu zermalmen, als mit mir durch den Dreck zu kriechen?“ „Na ja … du weißt doch, dass ich mit unserer Truppe so meine Probleme habe. Riell und ich kommen einfach nicht miteinander aus – und das wird sich wohl auch nie ändern.“ Bakura hielt bei den Worten inne. „Seit wann ist Riell die Quelle deiner Probleme? Ich dachte, das sei Risha.“ Keiro zuckte mit den Schultern. „Sie war nicht da, als ich zurückkam. Deshalb kann ich sie schlecht als Grund für mein Gehen anführen, nicht?“ Bakura legte die Stirn abermals in Falten. „Sie ist immer noch weg?“ „Das ist mein letzter Stand.“ Wie verbohrt konnte das Weib eigentlich sein? Er konnte fast froh sein, dass nicht noch mehr davon aus seiner Blutlinie hervorgegangen waren … „Was ist mit Marlic und Samira?“ „Was soll mit ihnen sein?“ Bakuras Misstrauen wuchs schlagartig, als er endlich einen Finger auf eines der Details legen konnte, die ihn störten. Weshalb andauernd diese Gegenfragen? Gleichzeitig gab ihm sein Inneres jedoch zu verstehen, dass das längst nicht alles war. „Waren sie erfolgreich?“, konterte er daher, anstatt die Frage zu beantworten. Keiro warf ihm einen verwirrten Blick zu. „Ich weiß nicht wovon du sprichst.“ „Du willst mir also erzählen, man hätte dir gesagt, dass man mich hier findet, aber ob die beiden das nächste Relikt gefunden haben, hat man dir verschwiegen?“ Was verbirgst du vor mir? Warum bist du wirklich hier? Die innere Eingebung, die ihn dazu anhielt, auf der Hut zu sein, war nun stärker als je zuvor. Irgendetwas stimmte hier nicht … zumindest war er dieser Überzeugung. Sein Gegenüber verdrehte derweil die Augen und fuhr sich durch die Haare. „Bakura, was soll das? Ich war nicht lange dort. Ich habe nur sehr kurz mit dem Pharao gesprochen, habe meinen Proviant aufgefüllt und bin wieder aufgebrochen. Von dem Relikt hat niemand etwas gesagt.“ Für einen Moment lang schienen sich die Zweifel in seinem Inneren zurückzuziehen wie geprügelte Hunde. Vielleicht war er über all die Zeit doch ein wenig zu misstrauisch geworden, immerhin … Nein. Ich spüre es auch. Irgendetwas ist falsch mit ihm. Diabounds Gedankenruf hätte ihn beinahe zusammenzucken lassen, er konnte sich jedoch beherrschen. Die Überzeugung kehrte auf die Worte hin zurück, entschlossen, herauszufinden, was hier gespielt wurde. „Ist das so?“, erwiderte er schließlich langsam auf den nächsten Teil der Geschichte hin. „Ja, bei den Göttern nochmal! Was soll das werden, ´Kura? Ein Verhör?“, stellte Keiro abermals eine Gegenfrage, der jedoch die Empörung fehlte, die sein Bruder erwartet hätte. Du lügst. Und ich werde es beweisen. Irgendwie. „Vielleicht“, erwiderte er schnippisch, setzte sich jedoch vorerst wieder in Bewegung. Der Andere folgte ihm. „Wie lange werde ich mir das jetzt anhören dürfen? Sonnenläufe? Oder doch Mondläufe?“, erklang es gespielt genervt von Seiten seines Bruders, als sie ein Stück weit gegangen waren. Bakura blieb ebenso plötzlich wieder stehen, wie er losgelaufen war. Das war, worauf er gewartet hatte. „Apropos Sonne … weißt du, Keiro, ich glaube, ich habe auf meinem Weg hier her etwas zu viel davon abbekommen. Kannst du mir zufällig sagen …“, fing er an und wandte sich dann langsam zu dem Anderen um, „nach welchen Relikt wir nochmal suchen?“ Es war, als habe man die Hölle entfesselt. Das Stampfen tausender Füße dröhnte in ihren Ohren, als sich Caesians Armee in Bewegung setzte, die Zivilisten noch immer an vorderster Front. Langsam, bedrohlich näherten sie sich, bereit, Verderben über die letzte Bastion des ägyptischen Reiches zu bringen. Caesian verblieb mit einigen Männern vorerst auf dem Kamm einer Düne, von wo aus er das Geschehen verfolgen konnte. „Majestät? Wie sind Eure Befehle?“ Atemus Augen schweiften rastlos über die Reihen, suchten nach einer Schwäche. „Wir werden den Teer nicht entzünden. Er würde unsere eigenen Leute geradewegs hineinjagen. Wir gehen es anders an.“ Er wandte sich auf der Mauer hin und her, als er die Bogenschützen adressierte. „Schießt so weit in das Innere der Aufstellung hinein, wie möglich und versucht, die Unseren nicht zu verletzten! Gebt auf keinen Fall Pfeile auf die vorderen Reihen ab!“ „Ihr habt seine Majestät gehört! Bogenschützen bereit!“, griff Seto die Anweisung auf und hob einen Arm. Die mit Bogen bewaffneten Soldaten legten Pfeile an die Sehnen und richteten sie aus, dem Himmel entgegen. Schließlich senkte der Hohepriester den erhobenen Arm ruckartig. „Schießt!“ Zeitweise fiel ein Schatten über das Land, als mehrere tausend Geschosse gleichzeitig abgegeben wurden, sich einen Weg am Firmament entlang suchten und schließlich an Höhe verloren, nur um ihre Ziele – wenn sie denn trafen – mit beachtlicher Durchschlagkraft niederzustrecken. Dennoch entpuppte sich das Unterfangen bereits nach der ersten Salve als reichlich uneffektiv. Die Soldaten, die durch die Pfeile den Tod fanden, erhoben sich wieder, um sich auf’s Neue ihren Kameraden anzuschließen. Wer hingegen bereits untot war, reagierte auf die Verletzungen kaum mehr, als eine lebendige Seele auf einen Mückenstich. „Wir müssen die Pfeile entzünden. Nur dann haben wir eine Chance, sie wirklich zu vernichten“, stellte Seto fest und war bereits darauf und dran, den passenden Befehl zu geben, als Atemu ihn zurückhielt. „Nein! Wenn sie es bis zu dem Bereich schaffen, den wir mit Teer getränkt haben, dann entzünden sie ihn – und all die Ägypter dort unten werden mit ihnen in Flammen aufgehen!“ Der Hohepriester biss sich sichtlich auf die Unterlippe, nickte jedoch. „Verfluchter Mistkerl!“ „Dann bleiben uns nicht viele andere Möglichkeiten – wir brauchen die Ka-Bestien!“, erwiderte Riell derweil überzeugt. „Das sehe ich ebenso“, stimmte Atemu zu. „Nun gut, Freunde, es ist so weit. Lassen wir Caesian von der Macht kosten, die unseren Herzen und Seelen inne wohnt. Erscheine, Slifer, Himmelsdrache des Osiris und leihe mir deine unbegrenzte Macht!“ Schlagartig verfinsterte sich der Himmel. Gewaltige Wolkenfelder schienen aus dem Nichts zu entstehen, während Blitze begannen über das Firmament zu zucken. Hier und da schlugen sie in den Sand ein und brachten ihn zum Glühen. Der Donner grollte drohend über ihren Köpfen. Dann begann sich langsam ein schlangenartiger Leib aus den Wolken zu schälen. Die roten Schuppen glänzten im Schein der Blitze, Zacken zogen sich über den Rücken des gewaltigen Monsters, zu zahlreich, um sie zählen zu können. Als sich die Kreatur vollständig materialisiert hatte, entschied sie, dass es an der Zeit war, sich den Augen des Feindes zu offenbaren. Mit einem markerschütternden Schrei, dem eines Falken nicht unähnlich, verließ Slifer den Schutz der Wolken und zeigte sich in seiner gesamten, bedrohlichen Herrlichkeit. Nur wenige, andächtige Herzschläge später war er nicht mehr das einzige transzendente Wesen. Auch die anderen Ka-Bestien erschienen, einige von ihnen an der Seite Slifers in der Luft, andere auf den Mauern Thebens. „Tea!“, machte Atemu seine Freundin auf sich aufmerksam, „Halte dich bitte vorerst zurück. Wir dürfen nicht riskieren, dass sich der Teer entzündet, bis wir die Ägypter aus Caesians Bann befreit haben!“ „Verstanden!“, gab die Angesprochene knapp zurück und bezog etwas abseits Stellung, um den Anderen, kampffähigen Ka-Trägern mehr Platz zu geben. „Konzentriert eure Attacken auf die Reihen hinter den Zivilisten!“, wies der Pharao sie an. Ein kurzer Blick in beide Richtungen sagte ihm, dass alle es verstanden hatten. „Und nun – zum Angriff!“ Das Rauschen von Flügelschlägen erfüllte die Luft und verband sich mit dem Stampfen der gegnerischen Soldaten zu einer Kakophonie. Die Ka-Bestien, die sich zu Land fortbewegten, verließen ihre Positionen auf der Mauer wenn nötig, um in den Nahkampf überzugehen. Slifer feuerte ebenso wie Darla, Rotauge, der blauäugige weiße Drache, Anwaar und Qi eine Salve in die Mitte der feindlichen Truppen. Ihr konzentrierter Angriff führte eine Explosion herbei, die ein Loch in die Reihen Caesians riss, welches jedoch bei weitem nicht so ausschlaggebend war, wie sie sich erhofft hatten. Kurz darauf war die Lücke bereits wieder geschlossen. Es genügte jedoch, um einer beachtlichen Anzahl von Soldaten den Gar endgültig auszumachen, nahmen sie doch zu viel Schaden, um als rastlose Seelen unter dem Kommando des Tyrannen zurückzukehren. Strike, Shiruba, Anubis und Des Gardius stürmten derweil unaufhaltsam vorwärts, dem drohenden Unheil mutig entgegen. Mit kräftigen Sätzen übergingen sie die vorderen Reihen und pflügten anschließend mit übermenschlicher Stärke durch die gegnerischen Krieger. Schreie des Feindes gellten durch die Weiten der Wüste, als ihre Klauen Leiber zerfetzten und ihre Mäuler Köpfe von Körpern rissen, um den feindlichen Kämpfern die Wiederauferstehung so schwer wie möglich zu machen. Die Seelenwesen setzten ihre todbringenden Angriffe fort, während ihre Träger rastlos die Szenerie beobachteten. Ohne auch nur ein Wort zu wechseln, wussten sie alle, wonach sie suchten: jene Kreatur, die Caesian untertan war. Sie waren sich absolut sicher, dass sie auftauchen würde – es war lediglich eine Frage der Zeit. Und gerade das war es, was sie zu höchster Unruhe trieb. Jeden Augenblick konnte eine oder mehrere ihrer Bestien niedergeworfen werden, von einer der verheerenden Attacken, die das unheimliche Monster auszuteilen vermochte. Und dann war es soweit. Aus dem Nichts sauste plötzlich ein greller Lichtball vom Firmament herab und traf den weißen Drachen mit voller Wucht. Ein kreischender Schrei entstieg der Kehle des getroffenen Ungetüms, welches das Gleichgewicht verlor und auf die Erde hinunter geschleudert wurde. Als es aufkam, begrub es zahlreiche feindliche Soldaten unter sich. Während Riell und Mana zu Seto eilten, um den Hohepriester zu stützen, der sich an der Mauer festgekrallt hatte, um nicht in die Knie zu gehen, suchte der Rest nach dem Ursprung der hinterlistigen Attacke und entdeckten ihn auf der gegenüberliegenden Seite des Schlachtfeldes. Dort, unweit ihrer eigenen Bestien, schwebte die bereits vertraute Kuttengestalt weit über dem Boden. Die Finger, einem Skelett nicht unähnlich, formten bereits die nächste Kugel. „Slifer, erledige es!“, schallte Atemus Stimme über das allgegenwärtige Getöse hinweg. Der Drache hätte ihn jedoch auch verstanden, wäre nicht ein Laut über seine Lippen gekommen. Beide Mäuler des göttlichen Wesens öffneten sich und beschworen ihrerseits die Energie für einen Angriff herauf. Es dauerte nur einen Wimpernschlag, bis Slifer eine Salve gleisenden Lichtes auf den Gegner abgab – der jedoch urplötzlich verschwand. „Verdammte Scheiße, nicht schon …“ Weiter kam Joey nicht. Die Beine sackten ihm weg, als der nächste Angriff der verhüllten Kreatur Rotauge niederstreckte, den das gleiche Schicksal ereilte wie den weißen Drachen. Einem Stein gleich ging er zu Boden. Es dauerte kaum einen Herzschlag, dann war Atemu an Joeys Seite und half ihm auf die Beine. Dieser Bastard … er will mich zusehen lassen, wie sie leiden. Deshalb greift er nicht mich direkt an. Sein Blick wanderte dorthin, wo sich der Tyrann nach wie vor befand und das Geschehen beobachtete. Wenn du nicht von alleine bereit bist, dich mir in einem Kampf zu stellen, dann werde ich dich dazu zwingen. „Konzentriert eure Attacken weiterhin auf die Soldaten!“, rief er den Anderen zu. „Ich gebe euch Deckung!“ „Und wie willst du das anstellen, wenn das Monster andauernd verschwindet und urplötzlich woanders auftaucht?“, erkundigte sich Mana zwischen einigen stummen Befehlen an Darla. „Ich schnappe mir Caesian.“ Mehr brauchte es nicht, damit sich Slifer in Bewegung setzte. Nur wenige Flügelschläge waren für ihn nötig, um das Schlachtfeld zu überqueren, dann türmte sich die gewaltige Bestie direkt vor dem fremdländischen Chaosbringer auf. Das Maul öffnete sich, um einen verheerenden Blitz auf ihn abzugeben. Doch zu diesem kam es nie. Urplötzlich war es, als sei die Wüste zum Leben erwacht. Der Sand stob zum Himmel auf, zog sich zusammen und bildete eine regelrechte Wand, die den gigantischen Drachen in sich aufnahm und zurück auf die andere Seite des Schlachtfeldes stieß. Slifer konnte sich gerade noch fangen, ehe er in Stadtmauer einschlug. Verwirrung stand Bestie und Träger ins Gesicht geschrieben, ehe Atemu sah, woher der plötzliche Gegenangriff gekommen war. Caesian verweilte noch immer auf der Düne, das Zepter des Gottes Seth zum Himmel gereckt. „Der Kerl benutzt schon wieder die Artefakte! Wenn das so weiter geht endet dieser Kampf durch den Zusammenbruch unserer Sphäre!“, rief Riell wütend aus. Als Reaktion auf seine negativen Gedanken stieß Anwaar eine weitere Salve in die feindlichen Reihen. Atemu gingen derweil anderes durch den Kopf. Caesians Plan war eindeutig. Er hatte vor, den Pharao zu schonen, während er Zug um Zug den Rest des Widerstandes ausschaltete. Und es gab nichts, das er dagegen tun konnte, solange die Relikte im Spiel waren. Er ballte die Hände zu Fäusten, dass das Blut aus seinen Handinnenflächen sickerte. Yugi, beeil dich … Vielleicht gibt uns der Reif eine Chance, schoss es ihm im gleichen Moment durch den Kopf, als Darla von Caesians Ka-Bestie angegriffen wurde. Yugi und Samira schafften es, den Weg bis zum Palast in Rekordzeit zurück zu legen. Bald verließen sie das Gebäude wieder, den Reif der Isis in Händen. „Und jetzt?“, erkundigte sich Yugi. „Wie funktioniert das?“ Von der anderen Seite der Stadt her konnten sie deutlich hören, dass die Auseinandersetzung begonnen hatte. Schreie von Bestien wurden vom Wind bis zu ihnen herüber getragen. Das Donnern von Angriffen, die ausgetauscht wurden, untermalte sie. „Ich … ich weiß nicht …“, überlegte die Rothaarige laut, während sie das Artefakt in den Händen wog. „Ich habe das noch nie gemacht.“ „Klar, darauf hätte ich auch selbst kommen können“, entgegnete der Andere. „Meinst du, Riell kennt sich damit aus?“ „Ich bezweifle es. Aber wenn es Caesian geschafft hat, mit den Relikten umzugehen, dann kann es ja nicht so schwer sein, oder?“ „Auch wieder wahr … bringen wir es am besten zu Atemu. Wir wissen nicht, welche Strategie er verfolgt. Selbst wenn wir wüssten, wie man es aktiviert, wäre das vielleicht keine gute Idee. Sollte es uns gelingen, den Bann zu lösen, der die Ägypter dazu bringt, an der Seite von Caesians Truppen zu stehen, wären sie diesen vor den Mauern schutzlos ausgeliefert …“, spann Yugi seinen Gedanken zu Ende, als eine weitere Explosion die Erde zum Beben brachte. „Beeilen wir uns!“ „Ich habe eine bessere Idee“, hielt Samira ihn zurück. „Deine Ka-Bestie – ruf sie herbei.“ „Wieso?“ „Sie kann sich in der Luft fortbewegen, nicht? Sie wird den Reif schneller zu den Anderen bringen, als wir. Wir könnten auch Kiarna nehmen, aber sie ist riesig – Caesian würde uns kommen sehen und wittern, dass wir irgendetwas vorhaben.“ „Eine gute Idee! Chaosmagier!“ Der Diadiankh klappte aus und begann zu glühen. Kurz darauf erschien das Monster neben seinem provisorischen Träger. Der nahm das Artefakt an sich, um es an die Kreatur weiterzureichen. „Bring das hier zu Atemu. Bitte pass gut darauf auf, es ist wirklich wichtig!“ Das Seelenwesen nickte zur Antwort, dann schwebte es davon. „Gut. Verlieren wir keine Zeit, so wie es sich anhört, brauchen uns die Anderen dringend“, entschied Samira, atmete noch einmal tief durch und rannte los. Yugi folgte ihr auf dem Fuß. „Mana!“ Darla hatte die volle Wucht der Attacke abbekommen und war in die Stadtmauer geschleudert worden – mit Auswirkungen, die die Hofmagierin bitter zu spüren bekam. Eine Platzwunde an ihrer linken Schläfe tränkte ihre Gesichtszüge in Blut. Benommen ließ sie sich von Atemu und Tristan zurück auf die Beine helfen. „Es geht mir gut, es ist nur ein Kratzer“, versicherte sie schnell – zu schnell für den Geschmack des Pharao. „Zieh dich zurück und sammle deine Kräfte. Lass die Wunde heilen.“ „Meine Fähigkeiten sind anderweitig vonnöten. Wenn ich mich die ganze Zeit selbst regeneriere, ist bald nichts mehr davon –“ Tristan stieß sie und den Regenten zu Boden, als Anwaar einem Angriff des gegnerischen Monsters auswich und der Energieball so direkt auf sie zuhielt. Durch seinen beherzten Einsatz verfehlte sie die Bedrohung knapp und legte stattdessen ein Gebäude nahe der Stadtmauer in Schutt und Asche. Einige der im Stadtinneren stationierten Soldaten wurden von Trümmerteilen getroffen und teils schwer verletzt. Qi hatte das alles beobachtet – und es brachte das seltsame Ka-Wesen zur Weißglut. Seinem neuen Träger war es in diesem Augenblick wohl kaum bewusst, doch die Bestie, die so viel Wert auf anständiges Benehmen legte, empfand das von Caesians Ka als reichlich rüpelhaft. Wütend setzte es sich in Bewegung, nur um sich schließlich unweit des feindlichen Monsters aufzubauen. Offenbar wurde Qi jedoch nicht als ernstzunehmender Gegner empfunden, denn die andere Kreatur führte ihre Angriffe gegen die restlichen Monster ungerührt fort, attackierte gar jene, die sich mitten in den eigenen Reihen befanden ohne Rücksicht auf Verluste. So blieb dem kleinen Phantomritter genügend Zeit, seine Kraft zu sammeln, zu konzentrierten – und schließlich ein Irrlicht abzufeuern. Caesians Monster war derartig auf sein Tun fixiert, dass es die herannahende Gefahr zu spät bemerkte und von der flammenden Kugel direkt in die Seite getroffen und einige Meter weit durch die Luft geworfen wurde – nur um dann plötzlich zu verschwinden und ebenso überraschend direkt hinter Qi wieder aufzutauchen. Doch die kleinere Kreatur war darauf vorbereitet und hatte bereits die nächste Attacke formt, der der Gegner diesmal jedoch ausweichen konnte, um anschließend mit einem Energieball zu kontern. Der Phantomritter war aber nicht nur stärker, als er glauben machte, sondern auch überaus wendig, wodurch er der Bedrohung entgehen konnte. Caesians Ka-Bestie war jedoch ebenfalls alles andere als langsam, sodass es nicht lange dauerte, bis die nächste gleißende Kugel sich ihren Weg durch die Luft bahnte. Diesmal ging Qi nicht in die Defensive, sondern erwiderte das Ganze mit einem weiteren Irrlicht. Die beiden Angriffe trafen sich zwischen ihnen und verpufften in einer gewaltigen Explosion. Es schien, als entspanne sich ein Zweikampf zwischen den Kontrahenten – Caesians Ungetüm hatte vorerst nur noch Augen für Qi. „Ist ja der Hammer, was der kleine Kerl alles drauf hat!“, äußerte Tristan sich sichtlich verwundert. „Allerdings. Er verschafft uns vor allem einen Moment, um uns wieder zu sammeln“, pflichtete Mana ihm bei, die mit einem Fetzen ihres Untergewandes das Blut vom Gesicht wischte. „Nicht, dass ich es ihm übel nehmen würde, aber wieso lässt sich dieses Ding auf so einen Schlagabtausch ein?“, warf Marik in die Runde. „ Die einzige Erklärung, die ich dafür habe, dass es derartig versessen auf Qi ist, ist, dass es ihm bislang als Einzigem gelungen ist, dem Gegner zu schaden. Sollte Caesians Ka auch nur ein halb so großes Ego haben, wie sein Träger, wird er das nicht auf sich sitzen lassen“, erklärte die Hofmagierin. „Ka-Bestien könnten den Moment nutzen, um dieses Ding ein für alle Mal zu erledigen“, überlegte Joey laut. „Damit würden wir seine Aufmerksamkeit nur wieder auf uns richten. Nutzen wir die Zeit lieber, um so viele von seinen Soldaten zu beseitigen wie möglich!“, entschied Seto und gab dem weißen Drachen einen stummen Befehl, woraufhin sich dieser wieder den feindlichen Truppen widmete. „Atemu, da!“, ließ Ryous Ruf den Regenten herumfahren. Er rechnete bereits mit einer Finte Caesians, war jedoch überrascht zu sehen, dass der Weißhaarige nach Theben hineindeutete. Als er seinem Fingerzeig folgte, entdeckte er den Chaosmagier, der mit dem Reif der Isis über die Köpfe der ägyptischen Soldaten hinweg zu ihnen herüber geschwebt kam. Ohne ein Wort zu verlieren, glitt er zu Atemu und ließ das Relikt in dessen Hände fallen. „Riell, was jetzt?“, wandte er sich an den Schattentänzer, ohne einen Wimpernschlag zu warten. „Ich weiß es nicht!“, rief ihm Riell zwischen zwei Explosionen über ihren Köpfen zu. Qi und der gegnerische Ka lieferten sich weiterhin einen Zweikampf. „Was soll das heißen, du weißt es nicht?“, brüllte Seto ihn schon beinahe an, um sich Gehör zu verschaffen. „Wir haben die Relikte nie benutzt – darum wissen wir auch nicht, wie genau sie funktionieren!“ „Na großartig! Was könnt ihr eigent…“ „Schluss! Ich werde herausfinden, wie es geht“, beendete Atemu die Auseinandersetzung, ehe sie richtig beginnen konnte. „Pharao“, hörte er auf einmal eine Stimme hinter sich. Als er sich umwandte, sah er sich dem Chaosmagier gegenüber. „Yugi hatte Bedenken, das Relikt zu aktivieren, solange sich die Unseren außerhalb der Mauer befinden. Sie wären leichte Beute für Caesians Soldaten, sobald sie aus ihrem Schlaf erwachen.“ Der Regent blickte auf das Schlachtfeld hinab. Sein Partner hatte vollkommen Recht. Dort unten befand sich nicht ein Soldat aus ihren Truppen. Sie alle waren Zivilisten, teils alt, teil noch Kinder. Keiner von ihnen würde sich wehren können, sollten ihnen die Krieger des Feindes in den Rücken fallen. Dass er das bislang nicht selbst gesehen hatte … Er biss sich auf die Unterlippe. Er musste eine Entscheidung treffen und das schnell. „Wir ziehen uns in die Stadt zurück!“, verkündete er seinen Entschluss schließlich laut. „Wie bitte? Majestät, dann überlassen wir ihm die Mauer praktisch freiwillig! Wir können diesen strategischen Vorteil nicht einfach aufgeben!“, sprach sich Seto entschieden dagegen aus. „Wir müssen es tun. Nur in den Straßen und Gassen kann es uns gelingen, die Unseren so von seinen Truppen zu trennen, dass sie eine Chance haben zu entkommen. Wenn wir das Relikt jetzt einsetzen und den Bann lösen, dann wird man sie einfach von hinten niedermähen!“ „Wir könnten eine Schneise schlagen!“ „Dazu bleibt keine Zeit! Unsere Bestien können keine Schneise in eine Armee schlagen, die von einem Ende des Horizonts bis zum nächsten reicht! Kaum, dass wir an einem Ende geendet hätten, müssten wir am anderen erneut beginnen! Es kann nicht gelingen! Gebt das Signal zum Rückzug, wir beziehen Stellung in der Stadt, ehe wir das Artefakt nutzen!“ „Und wie sieht dann unser Plan aus?“, erkundigte sich nun Riell. „Wir machen es so: Die Front wird nicht auf einmal durch die Stadtmauer passen, ganz gleich, ob sie sie errichtet lassen oder sie einreißen. Sobald die Ägypter in der Stadt sind, trennen wir sie vom Feind ab, indem wir eine Schneise schaffen, wie Seto bereits vorschlug – auf die zu erwartende Frontlänge sollte es klappen. Tea wird außerdem den ausgeschütteten Teer anstecken, sobald unsere Leute außer Gefahr sind, um so viele Kämpfer wie möglich am Nachrücken zu hindern. Dann setzten wir das Relikt in Gang. Sobald die Zivilisten außer Gefahr sind, können wir mit geballter Macht gegen den Rest vorgehen. Ihr widmet euch dann den Soldaten und ich –“, Atemus Blick wanderte zur der Düne hinüber, von wo aus ihr eigentlicher Gegner die Schlacht verfolgte, „kümmere mich um Caesian.“ Kapitel 64: Am Abgrund - Teil III --------------------------------- „Wie bitte?“ „Ich habe dich gefragt, nach welchem wir Relikt nochmal suchen. Also, wie lautet deine Antwort?“ Keiro und Bakura standen sich gegenüber, während Sandschwaden zwischen ihnen dahintrieben. Die Anspannung, welche in der Luft lag, war regelrecht greifbar. Jetzt würde sich zeigen, was es mit der Anwesenheit seines Bruders wirklich auf sich hatte. „Sei nicht albern. Wir wissen beide, wonach wir suchen.“ „Tun wir das? Nun, ich bin mir sicher, dass ich im Bilde bin. Bei dir bezweifle ich das allerdings. Komm schon Keiro, sag es mir – welches Relikt ist es, das wir jagen?“ Tu es und zerstreu‘ meine Zweifel, verdammt! Inzwischen krampfte sich Bakuras Magen regelrecht zusammen. Eine ungewohnte Unruhe stieg in ihm auf, so, als müsse er jeden Augenblick mit einem Angriff rechnen. Diabound spürte die undefinierte Bedrohung ebenfalls, die von dem Anderen auszugehen schien. Und dennoch klammerte sich ein kleiner Teil des Grabräubers an die illusionäre Hoffnung, er bilde sich all dies nur ein, auch wenn ihm sein Ka versicherte, dass dem nicht so war. Keiro seufzte und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Na gut, wenn es unbedingt sein muss, dann spiele ich deine Spielchen eben mit. Wir suchen …“ Gib mir die Antwort, die ich brauche … „… die Sonnenscheibe des Ra. Na, zufrieden?“ Bakura wurde kalt und heiß zugleich. Sein Bruder hatte nicht den blassesten Schimmer, was in den letzten Sonnenläufen vor sich gegangen war. Er konnte den Pharao ergo nie getroffen haben. Er hatte gelogen – und dafür musste es einen Grund geben, einen, den er vor dem Grabräuber zu verbergen suchte. „Können wir dann weitergehen? Soweit ich unterrichtet bin, läuft uns die Zeit davon.“ Keiro wollte sich in Bewegung setzen, bemerkte jedoch, dass Bakura vor ihm zurückwich. „Ist was?“, fragte er daher. „Keinen Schritt weiter oder ich hetze dir Diabound auf den Leib!“ Der Angesprochene verharrte auf der Stelle und musterte sein Gegenüber eindringlich. Dann stahl sich plötzlich ein bitteres Lächeln auf seine Lippen, die Augen funkelten. „Ich sehe schon … ich habe das falsche der beiden Artefakte genannt, nicht wahr? Das Glück scheint mir nicht hold zu sein.“ „Ganz im Gegenteil“, zischte Bakura zur Antwort. „Du bist seit meinem Aufbruch nie auf die Anderen getroffen, habe ich Recht? Du hast nicht ein Wort mit ihnen gewechselt und hast keine Ahnung, was wir in der letzten Zeit getan haben.“ Ein Glucksen entwich Keiro. „Ich fürchte, du hast mich ertappt. Du liegst vollkommen richtig, Bruderherz.“ „Dann rück endlich mit der Sprache raus – weswegen treibst du dich wirklich hier rum?“ „Das kann ich dir nicht sagen.“ „Und warum nicht?“ „ … Weil ich befürchte, dass ich dich dann töten müsste.“ Bakura spürte, wie Diabound irgendwo in seiner Seele grollte. Das Wesen machte sich bereit, jederzeit eingreifen zu können. „Was soll das? Willst du mir etwa drohen?“ „Ich will es nicht, ich muss. Zu deinem eigenen Schutz.“ „Dir ist klar, dass du ziemlich paradoxen Unfug von dir gibst, nicht?“ „Ich werde nicht weiter mit dir diskutieren, Bakura. Vergiss, dass du mich hier gesehen hast und verlasse diesen Ort. Komm niemals hierher zurück. Dies ist die erste und einzige Warnung, die ich dir gebe.“ „Wenn du glaubst, ich lasse mich von dir einschüchtern, dann liegst du falsch“, knurrte der Grabräuber zur Antwort. „Ich werde mich nicht von meinem eigenen Bruder bedrohen und die Sache anschließend auf sich beruhen lassen – was geht hier vor sich Keiro? Antworte mir oder ich presse es zur Not aus dir heraus!“ Was auch immer sein Bruder verbarg, es musste wichtig sein. Noch nie hatte er ihn Drohungen aussprechen hören, zumindest nicht seinem nächsten Verwandten gegenüber. Was auch immer er plante, für ihn musste es ungeheuerlich bedeutend sein. Da ist noch mehr, flüsterte Diabound in seinem Inneren. Er ist regelrecht getrieben – von etwas, das ich spüre, jedoch nicht zu definieren vermag. Ich spüre es auch … „Nun gut, aber dies ist deine letzte Chance, Bakura“, riss ihn die Stimme Keiros plötzlich aus den Gedanken. „Ich werde dir erklären, was ich hier tue. Und du wirst es verstehen müssen, es akzeptieren. Solltest du dich meinem Ratschlag zu verschwinden daraufhin weiter widersetzen, dich mir vielleicht gar in den Weg stellen, bleibt mir keine andere Wahl, als dich auf deine nächste Reise zu schicken.“ Was ist so bedeutend, dass er mich dafür töten würde? Und was gibt es, das ich versuchen würde, aufzuhalten? „Dann lass mal hören, damit ich meine Entscheidung treffen kann“, entgegnete der Grabräuber schnippisch. Was auch immer dabei herauskommt und was immer er dann tut, ich brauche mich nicht zu sorgen – Diabound ist bedeutend stärker, als es Shadara jemals sein wird. „Wie du willst. Weißt du, als ich unsere kleine Truppe verlassen habe, hat man mir kurze Zeit später die Augen geöffnet. Seitdem vermag ich die Dinge zu sehen, wie sie wirklich sind.“ „Jemand hat dir die Augen geöffnet? Wer soll das gewesen sein?“ „Das spielt keine Rolle. Wichtig ist lediglich, dass meine Gedanken von da an klarer und geordneter Waren, als jemals zuvor. Endlich sehe ich die Welt, wie sie wirklich ist. Sie wird permanent bedroht, Bakura. Von Individuen, die dazu auserkoren, allein dazu geboren wurden, Unheil über sie zu bringen. Und diese Einzelnen müssen wir aufhalten, gleich was es kosten mag, ehe aufgrund ihres Schicksals, das sie selbst nicht zu kontrollieren vermögen, alles vergeht. Sie mögen es nicht beabsichtigen, doch gleich wohin sie gehen, sie verbreiten nichts als Leid. Das muss enden.“ Bakura legte die Stirn in Falten. „Ich habe keine Ahnung, was du da von dir gibst – aber es klingt krank.“ „Oh, das ist es keineswegs. Es ist vollkommen logisch. Mir hat sich eine Logik offenbart, die vielen leider verborgen bleibt. Deshalb ist es meine Aufgabe, zu tun, was andere nicht zu tun vermögen, Bruderherz. Verstehst du das?“ Der Grabräuber schnaubte. „Hast du den Verstand verloren?“ Keiro lächelte enttäuscht und schüttelte den Kopf. „Ich hatte befürchtet, dass du mir nicht glauben würdest.“ „Du müsstest dir mal selbst zuhören! Und was zum Geier hat all das mit Kul-Elna zu tun? Warum bist du hier, Keiro?“ Sein Gegenüber begann, langsam auf und ab zu gehen. „Nun, unsere Blutlinie hat leider das Schicksal ereilt, dass eine dieser verirrten Seelen in sie hineingeboren wurde. Dieser Fehler muss korrigiert werden. Ich habe vor, diese Seele von ihrem Leid, das sie über sich und andere bringt, zu erlösen.“ Bakura machte instinktiv noch einen Schritt rückwärts. „Du bist scheinbar völlig durchgeknallt! Lass mich meinerseits eine Warnung an dich aussprechen, Keiro: Wenn du glaubst, ich lasse dich deinen Wahn an mir ausleben, dann hast du dich geschnitten. Ich werde nicht zögern, Diabound gegen dich einzusetzen.“ Was bei allen Göttern ging hier vor sich? Wann hatte sein Bruder den Verstand verloren? Was war passiert, dass er einen derartigen Mist von sich gab? Kein Mensch, der noch bei Sinnen war, würde so ein Geschwafel glauben, geschweige denn versuchen, es zu rechtfertigen. War er auf einen Stein geknallt? Hatte ihm die Sonne einen Stich versetzt? Nein. Hier sind übermenschliche Kräfte am Werk, grollte Diabound. Der Grabräuber wurde aus seinen Gedanken gerissen, als dem Anderen ein kurzes, freudloses Lachen entwich. „Bakura, du solltest es unterlassen, immer alles auf dich zu beziehen.“ „Was soll das heißen? Wen meinst du …?“ Mit einem Mal fanden all die Teile ihren Platz in dem Mosaik, das ihm Keiro vor die Füße geworfen hatte, und fügten sich zu einem Bild zusammen. Ein ungutes Gefühl stieg in ihm auf. „Was hast du mit ihr gemacht?“, zischte er. „Noch nichts. Du hast mich unterbrochen. Aber keine Sorge, ich werde mich darum kümmern, dass das, was hier passiert ist, sich nicht wiederholen wird – in Ägypten oder sonst wo auf der Welt.“ Sie ist nicht zurückgekommen, weil sie nicht zurückkommen konnte. „Wo ist sie?“, verlangte Bakura mit mehr Nachdruck zu wissen. „Das braucht dich nicht zu kümmern. Alles, was du wissen musst, ist, dass ihr Leid bald vorbei sein wird. Ihres und unseres. Und nun geh und komm mir nicht in die Quere, Bruder. Es ist zu ihrem eigenen Besten.“ „Für wen hältst du dich? Einen Gott? Wer bist du, um zu wissen, was das Beste für einen anderen ist? Ich habe keine Ahnung, was dir auf den Kopf gefallen ist, Keiro, aber dieser hysterische Wahn endet hier und jetzt. Du bringst mich dorthin, wo sie ist und lässt sie gehen. Und anschließend reißt du dich zusammen und verbannst diesen fanatischen Schicksalskram aus deinem Leben, oder ich prügle ihn aus dir heraus. Ich werde nicht zulassen, dass die Einzigen, die Kul-Elna überlebt haben, sich jetzt gegenseitig zerfleischen. Hört mit eurem kindischen Gezanke auf und werdet endlich erwachsen!“ Die Gesichtszüge seines Bruders verrieten Enttäuschung. „Ich hatte befürchtet, dass du es nicht verstehen wirst. Aber das musst du auch nicht unbedingt, solange du verschwindest. Geh jetzt Bakura – oder lebe mit den Konsequenzen.“ „Du denkst, du kannst mir drohen? Diabound zerreißt dich in der Luft, wenn es sein muss. Zwing mich nicht dazu.“ Keiro lächelte kalt. „Zwing du mich nicht dazu, eben das mit dir zu tun, Bruderherz.“ Kaum, da die Worte über seine Lippen gekommen waren, begannen sich Schatten um ihn herum auszubreiten, aus deren Tiefen sich nach und nach eine Kreatur schälte. „Dein Ka mag sich mit Göttermonstern messen können. Aber hiergegen hat er keine Chance.“ Bakuras Augen weiteten sich, als er erkannte, dass es sich bei dem dämonisch anmutenden Wesen um Shadara handelte. Nichts mehr erinnerte an die vorige Form des Zerberus. Das Fell war pechschwarz, während weiße, lange Krallen die Pfoten zierten. Bläuliche Flammen gingen von der Kreatur aus, deren zahlreiche Schweife angriffslustig umherpeitschten. Reißzähne, lang wie ein Unterarm, ragten aus dem Maul hervor. Sechs Augen, dunkler als jede Nacht, waren auf den Grabräuber gerichtet. „Was hast du mit ihm gemacht?“ „Er ist ebenso gereift, wie ich es bin. Auch er sieht die Dinge jetzt, wie sie wirklich sind.“ Ich spüre es jetzt deutlicher denn je … es sind finstere Mächte am Werk. Diabound hatte nicht Unrecht, traf es zugleich jedoch nicht ganz. Ja, dass sie es hier mit Kräften der Dunkelheit zu tun hatten, war unbestritten. Doch diese übertrafen von der Intensität her bei Weitem alles, was er bislang erlebt hatte – selbst Zorcs Gegenwart hatte nicht diesen Grad von Bedrohung gehabt. Es gab nur eine Erklärung dafür. Die Veränderung musste irgendetwas mit göttlichen Mächten zu tun haben. „Das ist deine letzte Chance Bakura. Geh mir aus dem Weg – oder stirb.“ „Wir ziehen uns in die Stadt zurück! Alle weg von der Mauer und rein in die Straßen! Für weitere Befehle bereithalten!“ Der Klang eines ägyptischen Horns dröhnte über der Stadt, als zum Rückzug geblasen wurde. In Windeseile entfernten sich die Truppen und nahmen die ihnen zugewiesenen Positionen ein. Die Ka-Träger verblieben indes auf der Mauer und hielten die feindlichen Krieger weiter zurück. Yugi und Samira waren in der Zwischenzeit wieder zu ihnen gestoßen und auf den neusten Stand gebracht worden. Erst, als sich niemand mehr in direktem Umkreis der Mauer aufhielt, entschied auch der Kern des Widerstandes, den Rückzug anzutreten. „Es ist soweit! Ruft eure Ka-Bestien und dann nichts wie weg hier!“, verkündete Atemu, der Slifer einen stummen Befehl zum Aufbruch gab. Die Seelenwesen gaben ihre letzten Angriffe ab, Qi stieß den Ka Caesians mit einem Irrlicht von sich, dann zogen auch sie sich zurück. Gemeinsam eilte die Gruppe die Stufen an der Mauer hinab, überquerte den großen Vorplatz am Stadttor und teilte sich auf, um Plätze an verschiedenen Straßen einzunehmen, die nach Theben hineinführten. Ihre Monster stießen nur kurze Zeit später zu ihnen. „Jetzt heißt es abwarten“, murmelte Atemu, der sich gemeinsam mit Yugi und Tea verschanzt hatte. „Hoffen wir, dass es klappt“, entgegnete sein Partner. „Caesian wird sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, die Mauer widerstandslos zu Fall bringen zu können. Darauf vertraue ich“, gab der Pharao zurück. Eine ganze Zeit lang, die sich hinzog wie eine zähe Masse, geschah gar nichts. Vor den Toren konnten sie das Stapfen, Klirren und Brüllen der feindlichen Armee deutlich hören, das verheißungsvoll zu ihnen herüber wehte. Und dann war es plötzlich, als habe man die Ketten einer wilden Bestie gelöst. Ohne Vorwarnung traf eine der Energiekugeln, die Caesians Ka hervorzubringen vermochte, die Stadtmauer und riss einen Teil davon in Stücke. Trümmer wurden durch die Luft geschleudert und flogen bis weit nach Theben hinein. Bei einem Angriff blieb es jedoch nicht. Der Boden unter ihren Füßen bebte, als schätzungsweise fünf, sechs weitere Attacken die Mauer nach und nach zu Staub zermalmten, Stein von Stein rissen und begannen, den Weg in die Stadt freizumachen. Sand und Dreck wirbelten auf und behinderten die Sicht. „Wir müssen sie kommen sehen – Slifer!“ Auf den Befehl hin begann der Drache mit den Flügeln zu schlagen, um die Körner davon zu wehen. Der weiße Drache, Rotauge und Anwaar trugen bald ihren Teil zu seinem Tun bei und so gelang es ihnen in kürzester Zeit, nachdem der letzte Angriff des feindlichen Kas vorüber war, wieder klare Sicht zu haben. Der Anblick, der sich ihnen dann bot, wäre jedoch lieber verborgen geblieben. Atemus Augen weiteten sich, während Tea eine Hand vor den Mund schlug und Yugi scharf die Luft einsog. Auf der gesamten Länge der Mauertrümmer waren Caesians Truppen zum Stehen gekommen und mit ihnen die ägyptischen Zivilisten. Ein jeder von diesen stand vor einem gegnerischen Krieger, der ihm von hinten ein Messer an die Kehle drückte – bereit, ihnen allen das Leben auszuhauchen. Erst jetzt, viel zu spät, durchschaute Atemu den Plan des Feindes. Zunächst hatte er versucht, den Pharao dazu zu verleiten, dass er seine eigenen Leute abschlachtete – doch dies war misslungen. Jetzt, da die Mauer, der wichtigste Punkt in dieser Auseinandersetzung, eingenommen war, hatte er keine Verwendung mehr für sie. Sie würden seine Truppen in den Straßen nur behindern. Das Aufblitzen aberhunderter Messer ließ sein Blut in den Adern gefrieren. Er stieß einen Schrei aus, hörte ihn jedoch über das laute Pfeifen in seinen Ohren selbst nicht. Vor seinen Augen ergoss sich derweil Blut über den Boden Ägyptens, der Lebenssaft der eigenen Bevölkerung, die es vollkommen widerstandslos mit sich geschehen ließ. Ein Leib nach dem anderen fiel zuckend und sich windend in sich zusammen, die von Alten neben denen von jungen Seelen, die noch ihr ganzes Leben vor sich gehabt hätten. Atemu fühlte sich taub. Ungläubig schüttelte er kaum merklich den Kopf. Es reicht … Er hatte sie beschützen wollen, doch er hatte es nicht vermocht, hatte den Feind falsch eingeschätzt. Und nun waren sie tot. Es reicht … Zivilisten … alles unschuldige Menschen, die keinen Anteil an diesem Krieg gehabt hatten. Einfach niedergemetzelt, Mastvieh gleich. Es reicht! „Dafür wirst du büßen!“ Unbändiger Hass bahnte sich einen Weg in seine Seele und übertrug sich auf Slifer. Ohne einen Befehl zu erhalten, sammelte der rote Drache seine Kräfte und stieß eine Salve gleißender Blitze in die gegnerische Armee hinein. Dass der Rest des Widerstandes das Gleiche empfand wie ihr Anführer, zeigte sich in den Angriffen der anderen Ka-Bestien, der keinen Wimpernschlag später erfolgte und ein beachtliches Loch in die vordersten Reihen des Gegners riss. Dabei entzündete sich der Teer vor den Mauern und verwandelte die Wüste in einem gewissen Abschnitt um sie herum in ein Flammenmeer. Kaum, dass der Schlag vorüber war, stürmten andere Kreaturen vor und stürzten sich auf die Soldaten, die versuchten, die entstandene Lücke zu schließen. Vielen von ihnen gelang es aber dennoch, sich unbehelligt an den tobenden Bestien vorbei zu drängen und in die Stadt hinein zu gelangen. „Lasst die Monster die Arbeit machen, bis sie zu den Straßen vordringen!“, schallte Setos Befehl über die sich entfesselnde Schlacht hinweg. „Atemu!“ Yugis Ruf riss den Pharao aus seinen Gedanken. Er schloss kurz die Augen, um sich nach den Geschehnissen von eben zu sammeln. „Ja, Partner?“ „Wir müssen noch immer das Relikt dazu bringen, uns vor den Auswirkungen von Bastets Amulett zu schützen.“ Der Regent nickte. „Du hast Recht.“ Und danach werde ich Caesian zeigen, was mit jenen geschieht, die meinem Volk derart Schreckliches antun. Er holte den Reif der Isis hervor, den er unter seiner Rüstung verborgen hatte. Er packte das Artefakt fest, schloss die Augen und konzentrierte sich. Isis, Gemahlin des Osiris, Mutter des Horus und Schützerin Ägyptens. Bitte vergib mir meine Anmaßung und meinen Verrat. Doch es gibt keinen anderen Weg als diesen. Leihe mir deine Kraft dieses einzige Mal und schütze uns gegen Kräfte, derer wir uns ohne deine Hilfe nicht erwehren können. Die Gedanken waren noch nicht gänzlich geformt, da spürte Atemu bereits, wie sich das Relikt erwärmte. Als er auf es hinabblickte, sah er, dass es zu leuchten begonnen hatte. Dann schoss plötzlich eines Aura, der eines Polarlichts nicht unähnlich, aus dem Artefakt heraus dem Himmel entgegen und fing an, sich am Firmament auszubreiten. Es dauerte nicht lange, dann lag das kaum sichtbare, farbig schillernde Licht wie ein Tuch über der Stadt und hüllte sie ein. „Es hat funktioniert!“, rief Tea freudig aus. „Ein …“ Weiter kam Yugi nicht. Mit einem Mal erschütterte ein Beben den Grund unter ihnen und drohte, sie von den Füßen zu holen. Ebenso plötzlich, wie es gekommen war, verschwand es jedoch wieder und ließ lediglich ein dumpfes Grollen, wie jenes von Donner, in der Luft zurück. „Was war das?“, fragte die Braunhaarige an ihre beiden Begleiter gewandt. „Eine Erschütterung unserer Sphäre“, erklärte Atemu knapp. „Wir benutzen ein einziges Mal ein Relikt und es hat direkt Auswirkungen?“, sagte Yugi ungläubig. „Ich denke, die Artefakte sind insgesamt bereits zu oft gebraucht worden. Wir müssen dem ein Ende setzen“, erwiderte der Pharao entschlossen. „Slifer, komm zurück.“ Ein kurzes Leuchten am Firmament, dann verschwand das Seelenwesen. „Was hast du vor?“, erkundigte sich sein Partner ernst. „Ich werde mich um Caesian kümmern. Bis ich ihn erreicht habe, muss ich meine Kräfte schonen. Ich werde jeden Funken davon brauchen, wenn ich ihm gegenüberstehe.“ Er wandte sich nach seinen beiden Freunden um. „Schafft ihr es, die Truppen solange in Schach zu halten, bis ich der Schlange den Kopf abgeschlagen habe?“ „Du kannst dich auf uns verlassen“, versicherte ihm Yugi. „Und wir verlassen uns auf dich.“ Atemu nickte. „Am Ende dieses Tages wird all das hier vorbei sein.“ Ein Befehl Setos ließ sie hochschrecken. Dem Feind gelang es, ihre Verteidigung weiter und weiter zurückzudrängen. Es wurde Zeit, sich endgültig in die verwinkelten Straßen und Gassen der Stadt zu begeben, um den strategischen Vorteil nutzen zu können, den Theben ihnen bot. Die drei Freunde sahen sich noch einmal eindringlich an, dann sprangen sie auf und hasteten den Weg hinab, an dessen Mündung sie bis jetzt ausgeharrt hatten. Während Tea und Yugi noch ein Stück weit auf diesem zurückzulegen hatten, bog Atemu nach einigen Schritten in eine winzige, unscheinbare Nebengasse ein, bereit, sich Caesian zu stellen. Kapitel 65: Am Abgrund - Teil IV -------------------------------- Der Boden bebte leicht, als Anubis die Straße hinab sprintete. Auf seinem Rücken trug er Marik und Samira, die gemeinsam vom Vorplatz Thebens entkommen waren. Erst, als die Bestie sicher war, einen gebührenden Abstand zwischen ihre Schützlinge und die feindliche Bedrohung gebracht zu haben, hielt sie an und ließ ihre Passagiere absteigen. „Es wird nicht lange dauern, bis sie uns eingeholt haben“, stellte Mariks fest. Eine Staubwolke an dem Ende des Weges, von welchem sie gekommen waren, kündigte die Soldaten ebenso an, wie der Lärm, den sie verursachten. „Sollen sie. Kiarna kümmert sich darum!“, meinte Samira entschlossen und beschwor zur Verdeutlichung ihrer Worte das besagte Monster herauf, dessen Flammen angriffslustig loderten. „Wir werden unsere Attacke gut koordinieren müssen. Wenn Anubis in eine Feuersbrunst deines Phönix hineingerät, ist es aus mit ihm“, gab Marik zu bedenken. „Da hast du nicht Unrecht … dafür hat dein Ka den Vorteil, dass es sich in den engen Straßen freier bewegen kann als Kiarna. Aber das wird schon … sie kann ja fliegen“, entgegnete die Rothaarige. „Weißt du was? Ich habe eine Idee. Machen wir es doch so: Deine Zwillingsseele kann die Soldaten vom Himmel aus ein Stück weiter vorne auf der Straße angreifen. Sollten irgendwelche Feinde trotzdem durchkommen, kann sich Anubis um sie kümmern. Dann kommen sich die beiden nicht in die Quere und wir kriegen den Weg effektiv frei“, schlug der Ältere schließlich vor. „Und Kiarna kann von dort oben aus gleichzeitig die Umgebung um Auge behalten, falls irgendwelche Matschbirnen die Barrikaden überwinden, die wir in den Seitengassen errichtet haben. Guter Vorschlag“, stimmte Samira zu. „Okay, dann machen wir es so.“ Für einen Moment lang herrschte schweigen. „Du, ähm … wie heißt du nochmal?“ „Marik.“ „Ah ja, genau. Weißt heißt denn dieses ‚okay‘? Ich höre das ständig von euch, verstehe den Sinn aber nicht ganz.“ Der Ägypter sah sie einen Moment lang überrascht an, entschied dann aber, dass die Frage eigentlich ganz legitim war. „Nun, das Wort drückt Zustimmung oder Verständnis aus. Wenn ich beispielsweise einen Vorschlag mache, dann kannst du dem zustimmen, indem du ‚okay‘ sagst. Oder ich erzähle von irgendetwas und um mir zu zeigen, dass die meine Erklärungen nachvollziehen oder verstehen kannst, kannst du ‚okay‘ sagen.“ „Hm … okay“, entschied die Jüngere schließlich schulterzuckend und grinsend, ehe sie sich plötzlich auf die Knie sinken ließ, die Finger ineinander verschränkte und die Augen schloss. Marik musterte sie verdutzt. „Sam, was machst du da?“ „Ich will noch kurz beten. Kann nicht schaden. Vielleicht rammt Seth sein Zepter dann in Caesians Hintern.“ Der angehängte Kommentar vermochte nicht ganz zu kaschieren, wie wichtig es der jungen Schattentänzerin war, noch ein Gebet an die Götter zu schicken. Kurz darauf war sie auch schon in tiefes Schweigen verfallen. Der Ältere kam nicht umhin zu schmunzeln. Ob Samiras extrem extrovertierter Natur vergaß er manchmal, dass sie einem religiösen Clan angehörte. Clan … Seine Gedanken wanderten unaufhaltsam zu seiner Familie, zu Odeon und Ishizu, die sich irgendwo im 21. Jahrhundert wahrscheinlich unglaubliche Sorgen um Mariks Verbleib machten. Energisch schüttelte er den Kopf. Er tat das hier nicht nur für den Pharao, sondern für all jene, die eine Zukunft haben sollten – und somit auch für seine Geschwister. Und er würde sie nicht enttäuschen. Ebenso wenig wie Ryou. Sie würden am Jahresende gemeinsam nach Ägypten fliegen, komme was wolle. Davon würde ihn niemand abhalten – und schon gar nicht Caesian. Wenn ich nur daran denke, dass ich einmal genau so machtversessen gewesen bin, wie er es ist … aber diese Zeiten sind vorbei. Und seine werden es bald ebenso sein. Als der Lärm, den die herannahenden Truppen verursachten, lauter wurde und das leichte Zittern unter ihnen ob der zahllosen Dutzend Füße, die sich näherten, zunahm, erhob sich die Schattentänzerin wieder. „Na dann wollen wir mal“, sagte sie entschlossen und zog ihren Langdolch. Auch Marik griff zur Sicherheit nach seinem Schwert, während sich Kiarna brüllend in die Lüfte erhob und sich Anubis zum Angriff bereit machte. Lasst sie kommen. Wir sind bereit. Joey und Duke hasteten die Straße hinab, während Rotauge ihnen in einigem Abstand folgte und immer wieder Attacken in Richtung ihrer Verfolger feuerte, um sie auf Abstand zu halten. Strike rannte derweil hinter ihnen her, um vom Boden aus für Deckung sorgen zu können, sollte es nötig sein. „Weit kann es bis zur ersten Falle nicht mehr sein, oder?“, erkundigte sich der Schwarzhaarige bei seinem Mitstreiter. „Nein. Bislang habe ich aber auch noch keine Markierungen gesehen, wir müssen also noch weiter“, erwiderte der Blonde. „Schon klar … Bin mal gespannt, was wir hier aufgestellt haben, ich kann mich nämlich beim besten Willen nicht erinnern.“ „Geht mir nicht anders. Aber sieh mal da – da ist unser Zeichen.“ Tatsächlich befand sich an einer Hausecke, an der sie vorbeieilten, eine Vase mit einem Symbol, das darauf hindeutete, dass sie hier eine der beweglichen Speerfallen in den Seitengassen versteckt hatten. „Das heißt wir müssen auf die Häuser hinauf, um die Seile zu kappen, während unsere Monster sie langsam näher heran lassen“, fasste Duke zusammen. „Richtig. Rotauge, gibt uns Deckung, damit wir ungesehen in die Hütten verschwinden können!“, gab Joey auch umgehend den nötigen Befehl. Sofort stach der schwarze Drache vom Himmel herab und baute sich hinter ihnen in der Gasse auf, um sie vor den Augen des Feindes abzuschirmen. Ein roter Feuerball folgte, der eine Lücke in die herannahenden Truppen riss. Die beiden Ka-Träger nutzten die Gelegenheit, um sich nach links und rechts aufzuteilen, damit sie auf das Dach zweier sich gegenüber liegender Behausungen steigen konnten. Dort waren die Seile angebracht, die zwei Gestelle in den Seitengassen gespannt hielten, die sie mit spitzen Holzpflöcken bestückt hatten. Sobald sie die Halterungen lösten, würden sich die beiden Teile der Falle ruckartig aufeinander zu bewegen und alles, was sich zwischen ihnen auf der Straße befand aufspießen. Die Idee behagte nach wie vor keinem von beiden. Die moralischen Vorstellungen ihrer Zeit waren nicht mit dem vereinbar, was sie im Begriff waren, zu tun. Doch sie wussten, dass sie es nicht zu vermeiden war und sie ihre Bedenken schleunigst verdrängen mussten. Hier in Ägypten, so viele Jahre vor dem Zeitalter, das sie kannten, waren die Spielregeln anders. Wenn sie nicht taten, was sie tun mussten, würden Menschen – Freunde – sterben. Joey eilte schnellen Schrittes durch die verlassene Behausung und stieg eine schmale Leiter an einer Wand empor, nur um sich kurz darauf auf dem Flachdach wiederzufinden, wo er die gesuchte Vorrichtung direkt erblickte. Er zückte sein Messer, hockte sich neben die Halterung und wartete, während er Rotauge und Strike dabei beobachtete, wie sie dem Feind langsam erlaubten vorzurücken. Es würde nur noch wenige Sekunden dauern, dann … „Joey, pass auf!“ Dukes Ruf riss ihn gerade noch rechtzeitig aus seiner Konzentration. Überrascht wandte er sich um – und rollte im letzten Moment beiseite, um einer Schwertklinge zu entgehen, die direkt auf seinen Kopf niedergesaust wäre. Drei Soldaten waren plötzlich auf dem Dach erschienen. Scheiße, wo kommen die plötzlich her? Kaum, da die Frage in seinen Gedanken verhallt war, fand er die Antwort durch einen Blick in die Seitengasse auf der anderen Seite des Hauses, die keine Falle barg. Die dort errichtete Barrikade war niedergerissen worden, etwa drei Dutzend Soldaten strömten nun auf den Hauptweg, wo sie die Ka-Bestien von beiden Seiten aus angingen. Rotauge war schließlich gezwungen, sich vom Boden abzustoßen und dabei Strike zu packen, um ihn ebenfalls aus dem Fadenkreuz der Soldaten zu schaffen. „Dachtest wohl, ihr hättet leichtes Spiel mit uns, was?“ Die Stimme des Feindes ließ ihn die Augen wieder auf die Bedrohung vor sich richten. Die drei Krieger waren noch keine Untoten, also nach wie vor in der Lage, sich zu äußern. „Ich wüsste nicht, wann sich das geändert hätte“, gab Joey schlagfertig zurück. Dann waren der Worte genug gewechselt. Der erste Gegner stürmte heran, sein Schwert erhoben. Dem Blonden gelang es, unter dem Hieb wegzutauchen und seinem Opponenten einen kräftigen Hieb in die Magengegend zu verpassen, ehe er ihm das Knie ins Gesicht rammte und ihn so mit heftig blutender Nase zu Boden schickte. All die Jahre, die er vor allem damit zugebracht hatte, sich bei der erstbesten Gelegenheit zu prügeln, zahlten sich just in diesem Moment aus. Kaum, da er sich des ersten Feindes entledigt hatte, kam der Zweite auf ihn zu, eine Axt schwingend. Joey fing den Schlag ab, indem er den Waffenarm des Anderen packte und zur Seite wegdrückte. Anschließend versenkte er eine Faust in der Wange seines Gegners, der daraufhin zur Seite taumelte und über den Rand des Hausdaches stürzte. Im gleichen Moment stürmte der letzte Soldat vor, ebenfalls mit einem Schwert bewaffnet. Der Blonde entging dem Angriff diesmal nicht unbeschadet. Als er ausweichen wollte, erwischte ihn die Klinge an der rechten Schulter und hinterließ einen glatten, jedoch im ersten Moment kräftig blutenden Schnitt. Scharf sog er die Luft ein, während er nach hinten sprang, um einem erneuten Schlag zu entgehen. Kaum, da er seine Balance wiedergefunden hatte, musste er jedoch feststellen, dass es nun er war, der drohte, vom Dach zu stürzen. Er suchte hektisch nach einem Ausweg, um wieder mehr Platz zwischen sich und den Abgrund zu bringen, fand ihn jedoch nicht. Egal wohin er sich bewegte, der Soldat hätte jedes Mal eine Gelegenheit, ihn aufzuspießen. Sein Gegner kam derweil grinsend auf ihn zu und legte ihm schließlich die Spitze seines Schwertes an die Brust. „Na, bist du jetzt immer noch so vorlaut?“, fragte er gehässig. Joeys Augen wanderten kurz zum Himmel, ehe sie sich wieder auf ihn richteten. Er grinste. „Klar. Ich habe ja auch allen Grund dazu.“ „Ach ja? Was für ein Grund soll das …?“ Weiter kam der Mann nicht, als sich plötzlich ein Schatten auf ihn herab senkte und sich mächtige Kiefer mit rasiermesserscharfen Zähnen um seinen Körper schlossen. Kaum, da Rotauge ihn zu fassen bekommen hatte, bewegte er den Kopf ruckartig hin und her, um dem Feind das Rückgrat zu brechen und ihn anschließend hinab in die Gasse zu schleudern, wo sein Leichnam einige Männer von den Füßen riss. Ein Blick zu Duke verriet Joey, dass auch dieser angegriffen worden war, Strike kümmerte sich jedoch bereits um die Bedrohung. Kaum, da beide Blickkontakt hergestellt hatten, nickten sie sich zu, sprangen vor und lösten die Halterungen der versteckten Falle. Synchron schossen die beiden Gestelle auf die Straße hinaus und spießten mit einem ekelerregenden Laut mehrere Dutzend Männer zwischen sich auf. Gleichzeitig behinderte die neuentstandene Barriere das weitere Vorrücken der Soldaten auf der einen Seite der Konstruktion. Jene auf der verbliebenen Seite sahen sich derweil mit Rotauge und Strike konfrontiert, die ihre Anzahl in kürzester Zeit auf null brachten. Joey und Duke stiegen derweil von den Dächern herab und eilten voraus, um die nächste Falle vorzubereiten. „Lass den Scheiß und komm zur Besinnung. Es ist absoluter Unsinn, den du da von dir gibst, das musst du doch merken!“ „Ich werde nicht weiter mit dir diskutieren. Verschwinde. Das ist meine allerletzte Warnung.“ Bakura ballte die Hände zu Fäusten. Was auch immer mit Keiro passiert war, es hatte ihn offensichtlich den Verstand gekostet. Er war vollkommen von dem überzeugt, was er da sagte und ließ sich unter keinen Umständen mehr davon abbringen. Aber was war geschehen? Was hatte ihn verändert? Was hatte ihn derartig beeinflusst, dass es sich in seinem Ka niederschlug? War es tatsächlich allein der Hass auf Risha, der sich so ins Unermessliche gesteigert hatte, dass er solche Früchte hervorbrachte? Nein, das konnte nicht sein. Bakura wusste, welchen Formen einer Seele negative Emotionen hervor zu bringen vermochten. Er hatte es bei sich selbst beobachten können, aber auch bei seiner Base, deren Ka sich nach Reshams und Kipinos Tod gewandelt hatte. Es war ein Prozess, der in Schritten vorwärts ging, nicht in Sätzen. Obgleich Keiro eine Weile verschwunden war, hätte die Zeit nicht ausgereicht, um derartige Veränderungen an Shadara hervorzurufen. Es sei denn es hätte ein einschlägiges Ereignis gegeben. Und dieses musste mit der dunklen Energie in Verbindung stehen, die von seinem Bruder ausging. Schlagartig stieg ein Verdacht in ihm auf, der ihm Bauchschmerzen bereitete. „Weißt du was, Keiro? Ich glaube du schleppst dieses Relikt bereits zu lange mit dir herum. Nimm es ab, es vernebelt offenbar deine Sinne“, wies er den Anderen schließlich an. Er wusste nicht, ob es tatsächlich möglich war, doch eine andere Erklärung gab es nicht. Außerdem würde es sehr wohl ins Bild passen. Die Götter hatten ihre Kräfte gebändigt, die so mächtig waren, dass sie bei missbräuchlicher Anwendung erheblichen Schaden in dieser Sphäre anrichten konnten. Vielleicht hatten sie damit auch einen Teil ihrer dunklen Seite eingesperrt, der sich auf Menschen jedoch verheerend auswirken würde, kamen sie länger in Kontakt mit den Gegenständen. „Du meinst das Amulett der Bastet?“, meinte Keiro. „Ich fürchte, ich muss dich enttäuschen …“, er löste den Schal von seinem Hals, unter welchem nur nackte Haut zum Vorschein kam, „… ich habe es nicht mehr.“ Zum einen war der König der Diebe froh, das Artefakt nicht zu erblicken. Hätte sich sein Bruder entschlossen, es in seinem Wahn gegen ihn zu richten, hätte er dem nichts Effektives entgegenzusetzen gehabt. Dafür tat sich nun eine andere Frage auf. Und je nachdem, wie die Antwort auf sie ausfiel, wäre es vielleicht gar besser gewesen, sich mit einem Relikt konfrontiert zu sehen. „Was soll das heißen, du hast es nicht mehr? Wo ist es?“ Keiro zuckte mit den Schultern. „Caesian hat es.“ Die Worte wurden in einem Tonfall gesprochen, als sei dies selbstverständlich. Bakura hingegen biss sich beinahe die Zunge blutig. „Dieser Psychopath hat was?“, schrie er schon beinahe. „Wie konnte das passieren?“ „Ich habe es ihm gegeben.“ Der Grabräuber spürte, wie er vor Wut zu zittern begann. Das durfte nicht wahr sein. Was zum Geier war in Keiro gefahren? „Auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole – bist du jetzt vollkommen übergeschnappt? Du hast diesem Irren das Amulett einfach so überlassen?“ „So ist es. Ich hatte keine Verwendung dafür und habe im Gegenzug etwas bekommen, das ich brauchte. Eine Gelegenheit.“ „Ach, du hattest keine Verwendung dafür, ja? Wie bescheuert kannst du eigentlich noch sein? Du hast diesem Drecksack die Möglichkeit gegeben, seine Sammlung tödlicher Spielzeuge um noch eines zu erweitern, kapierst du das nicht? Welche Gelegenheit ist so wertvoll, dass man dafür die gesamte Sphäre in Gefahr bringt?“, brüllte der Grabräuber sein Gegenüber an. „Sollte es das Schicksal wollen, werde ich auch ihn töten“, erwiderte Keiro ungerührt. „Ihn töten? Du willst alleine vollbringen, was eine gottverdammte Armee nicht geschafft hat, samt einem Pharao, der drei Göttermonster kontrolliert? Du hast den Knall nicht gehört, oder? Du laberst davon, dass Risha bekloppt wäre, dabei bist es offensichtlich du, der nicht mehr alle …“ Er stoppte mitten im Satz, als es ihm dämmerte. „Das war die Gelegenheit, habe ich Recht? Er hat sie dir ausgeliefert.“ Wieder dieses gleichgültige Schulterzucken. „Mir war von vorne herein bewusst, dass ich anderweitig nicht an sie herankommen würde, da Caesian euch bereits dicht auf den Fersen war. Und so, wie wir ihn bislang kennengelernt haben, wissen wir, dass er keine Gefangenen macht. Ich musste also sicherstellen, dass Caesian das Interesse an ihr verliert – und wie wäre das eher möglich gewesen, als ihm etwas anzubieten, das er noch mehr begehrt als Rache? Ich habe ihm das Relikt überlassen und mit ihm vereinbart, dass sie mir gehören würde, gleich was geschieht. Sollte sie in Theben anwesend sein, sollten seine Soldaten sie gefangen nehmen und an mich übergeben, statt sie zu töten. Das war der eigentliche Plan. Dann ist sie nach dem Tod dieses Trottels jedoch verschwunden. Also haben Caesian und ich unsere Abmachung angepasst – er hat sie ziehen lassen und mir überlassen, anstatt ihr seine Schergen hinterher zu schicken.“ Bakura schüttelte langsam den Kopf. „Du bist vollkommen bescheuert. Und feige noch dazu. Anstatt die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, wirfst du dich vor einem Bastard in den Staub.“ „Was hätte ich sonst machen sollen? Solange sie an eurer Seite war, hatte ich keine Chance an sie heranzukommen, das war mir sofort bewusst. Selbst der Pharao hätte sie in Schutz genommen, hätte ich versucht, sie anzugreifen. Ich habe damit gerechnet, dass mir niemand Glauben schenken würde, ihr seid einfach zu verblendet und seht nicht, was ich sehe. Also brauchte ich Hilfe. Ob meine Würde darunter leiden würde, war mir einerlei – meine Aufgabe ist wichtiger als mein Selbstwertgefühl.“ „Frag dich mal, warum dir niemand glaubt – könnte daran liegen, dass du fanatischen Kram von dir gibst!“ „Ich werde nicht länger mit dir diskutieren. Ich habe schon genügend Zeit auf diese sinnlose Unterhaltung verschwendet und dir mehr als genug Chancen gegeben, zu gehen. Wenn du meinem Rat jetzt nicht nachkommst, werde ich Shadara nicht länger zurückhalten“, war die knappe, deutlich unterkühlte Antwort. „Vergiss es. Wenn du glaubst, ich lasse dich mit deinem Aberglauben frei gewähren, hast du dich geschnitten“, gab Bakura zurück. „Ganz davon abgesehen, dass ich ein Relikt zu finden habe.“ Kaum waren die Worte über seine Lippen gekommen, erschien Diabound in einem gleißenden Blitz und baute sich vor ihm auf, ein Brüllen ausstoßend. Mal sehen, ob er wirklich angreift. Er hat bis jetzt gezögert, etwas zu tun – er hat eindeutig Zweifel, schoss es dem Grabräuber durch den Kopf. Seine Hoffnungen wurden jedoch ebenso schnell erstickt, wie sie aufgekommen waren. Keiro ließ das Haupt hängen, als er einmal tief durchatmete. „Wie du willst. Du magst mein Bruder sein, aber ich muss zu Ende bringen, was ich begonnen habe. Shadara – erledige ihn!“ Der schwarze Zerberus ließ sich nicht zweimal bitten. Sofort preschte die gewaltige Bestie vor und stürzte sich auf Diabound, dem es jedoch gelang, den Gegner mit Hilfe seines Schweifes von den Füßen zu reißen und in eine naheliegende Ansammlung von Hütten zu befördern. Das Raubtier kam jedoch zügig wieder auf die Beine und startete eine erneute Attacke, indem drei blaue Feuerbälle aus den Mäulern des Ungetüms schossen. Bakuras Ka vermochte, den ersten beiden zu entgehen, wurde jedoch von dem letzten in die Brust getroffen und zu Boden geschleudert. Shadara nutzte die Gelegenheit und sprang auf ihn zu, bereit, die zahlreichen scharfen Zähne in das Fleisch seines Opponenten zu rammen. Keuchend erreichten Seto und Riell die Position, die sie sich selbst zugeteilt hatten. Mit schnellen Schritten waren die letzten Stufen genommen, die zum Eingang des Hauses hinaufführten, in welchem die Relikte der Götter verborgen waren. Ihre Aufgabe würde es sein, die Artefakte wenn nötig mit ihrem Leben zu beschützen. In einiger Entfernung konnten sie bereits eine Front von Soldaten auf sich zukommen sehen. Hohe Staubschwaden, bestehend aus aufgewirbeltem Sand, lagen überall über der Stadt, ob des regen Treibens, das in den Straßen herrschte. „Was auch immer geschieht, wir dürfen sie auf keinen Fall durchlassen“, schwor Seto den Schattentänzer noch einmal ein. Der nickte zustimmend. „Gewiss. Würde Caesian auch noch die Gegenstände in die Hände bekommen, die wir haben, wäre es endgültig aus mit uns. Dann könnte ihn nichts mehr aufhalten.“ Die Horde Soldaten, die jene Straße herunterkam, die geradewegs auf sie zu führte, kam näher. Allmählich konnten sie das Klirren von Waffen und Rüstungen, das Geräusch zahlreicher Atemzüge und Schritte hören. Doch dann geschah etwas Unerwartetes: Anstatt den Weg fortzusetzen, drehte der feindliche Trupp plötzlich ab und bog in eine große Seitenstraße ein, woraufhin er in der Distanz aus ihrem Blickfeld verschwand. Riell kniff die Augen zusammen, um auf die Entfernung besser sehen zu können. „Was soll das denn?“ „Vielleicht wollen sie versuchen, von der Seite auf uns einzudringen. Aber daraus wird nichts, das dort ist der einzige Weg, der noch ungehindert hierher führt. Die Anderen haben wir blockiert“, erinnerte ihn Seto. „Trotzdem. Es ergibt keinen Sinn. Egal von wo sie kommen, ihnen müsste klar sein, dass sie uns nicht aus dem Hinterhalt angreifen können. Nicht mit zwei Drachen an unserer Seite, die besser hören und riechen, als es jedes menschliche Wesen vermag.“ „Sie sind eben dumm. Caesian mag ein ernst zu nehmender Gegner sein, aber das“, meinte er mit Nicken in jene Richtung, wo die Soldaten abgebogen waren, „sind nichts weiter als Sklaven. Um ihr erbärmliches Leben zu behalten, tun sie alles, was er von ihnen verlangt. Das sagt genug über sie aus.“ Einen Moment lang standen sie schweigend nebeneinander, den Blick auf die breite Straße vor sich gerichtet, die kein einziger Krieger entlang kam. Dann erschien plötzlich und vollkommen unvermittelt Anwaar hinter Riell. „Was hat das zu bedeuten?“, erkundigte sich der Hohepriester sogleich. „Schone deine Kräfte, du wirst sie noch brauchen!“ „Irgendetwas stimmt hier nicht. Ich will vorbereitet sein, wenn …“ Weiter kam er nicht. Anwaar wurde unvermittelt von einer gleißenden Energiekugel getroffen und durch die Luft geschleudert, nur um mit einem überraschten, kreischenden Laut in die umliegenden Gebäude zu krachen. Während Riell sich vor Schmerz die Brust hielt, wirbelte Seto überrascht herum – und entdeckte Caesians Ka-Bestie, die ein Stück weit über ihnen in der Luft schwebte. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, während er den weißen Drachen herbei rief. Es ist gekommen, um die Relikte zu holen … Darla schoss unablässig Angriffe in die Reihen ihrer Verfolger, während sich Des Gardius derer annahm, denen es gelang, an ihr vorbei zu huschen. Je näher die Kämpfer kamen, desto weiter waren sie gezwungen, in die Stadt zurück zu weichen. „Wenn das so weiter geht, haben wir bald die halbe Wegstrecke hinter uns gebracht“, rief die Hofmagierin dem Anderen zu, nachdem sie einen prüfenden Blick über die Schulter geworfen hatte. „Dann pfeif‘ dein Ka zurück und lass meins die Arbeit machen“, gab Marlic zurück, ohne die Augen von der Front zu nehmen. „Das würde auch nicht mehr bezwecken – im Gegenteil, Des Gardius kann mit seinen Attacken nicht so viele Gegner auf einmal treffen, wie Darla.“ „Wollen wir wetten?“ „Jetzt ist nicht die Zeit für Spielchen“, gab Mana gereizt zurück. „Spar dir das für deinen nächsten Kneipenbesuch auf – wenn es denn einen geben sollte.“ „Oh, das wird es Schätzchen. Und weißt du was? Ich nehm dich mit und dann machen wir ordentlich einen drauf. Alleine schon, um deinen König zu ärgern.“ „Ich trinke nicht. Also vergiss es.“ „Zier‘ dich nicht so. Die Unschuldsmasche mag vielleicht bei deinem Pharao ziehen, aber ich hab‘ dich durchschaut. Du bist nicht mal ansatzweise so zuckersüß, wie du einem glauben machen willst.“ Er warf ihr einen knappen, prüfenden Blick zu. „Mal sehen, wie viel du verträgst.“ „Mehr als du in jedem Fall.“ Marlic musste grinsen. „Das wird sich zeigen.“ Inzwischen strömten auch Soldaten aus den Nebenstraßen herbei, sodass Des Gardius gezwungen war, immer weiter zurückzuweichen, um die Angreifer von den Ka-Trägern abzuhalten. „Verdammt, es sind einfach zu viele“, rief Mana über den Kampflärm hinweg. „So kriegen wir die Situation niemals unter Kontrolle.“ „Dann tu irgendetwas – du bist doch zu Hokuspokus fähig, oder etwa nicht?“ Die Hofmagierin kaute einen Moment lang auf ihrer Unterlippe und überlegte. Dann nickte sie langsam. „In Ordnung. Halte sie mir vom Leib, es wird einen Moment brauchen, bis ich den Zauber wirken kann – und wenn es soweit ist, muss sich Des Gardius schnell zurückziehen.“ „Geht klar.“ Mana nahm die Beine in die Hand und sprintete die Straße ein Stück weiter hinab, um sich genügend Zeit und Distanz zu verschaffen. Dann sank sie auf ein Knie hinab, umfasste ihren Stab mit beiden Händen und schloss die Augen, ehe sie begann, alte, rituelle Formeln zu rezitieren. Marlic gab Des Gardius noch einige Anweisungen, dann schloss er zu ihr auf und positionierte sich ein Stück weit vor ihr. Sollten seinem Ka irgendwelche Gegner entwischen, würden sie so kein leichtes Spiel mit der Magierin haben. Langsam begann Manas Zepter zu glühen. Das Leuchten wurde mit jedem Teil des Spruchs stärker und breitete sich weiter aus. Das Licht schien an den Stellen, wo es den Boden traf, in diesem zu versinken, ihn regelrecht zu durchdringen. Marlic warf gelegentlich einen Blick hinter sich, um ihr Tun zu verfolgen. Hoffentlich wusste die Kleine, was sie da tat … Dann war es soweit. In einer fließenden Bewegung stach sie hoch und rammte ihren Stab in den Boden. „Marlic, jetzt!“ „Des Gardius, zieh dich zurück!“ Mit einem kräftigen Sprung beförderte sich die Ka-Bestie gute zwanzig Schritt nach hinten und direkt vor ihren Träger – gerade rechtzeitig. Keinen Wimpernschlag, nachdem ihre Beine den Untergrund verlassen hatten, begann dieser, sich aufzuspalten. Ein Riss zog sich durch die Straße, breitete sich aus und beförderte Soldaten wie Häuser in den Abgrund. Schreie und das Krachen von Trümmern hallten durch die Stadt. Dann ebbte das leichte Beben, das den Zauber begleitet hatte, langsam ab und zurück blieb nur ein gigantisches klaffendes Loch dort, wo soeben noch ein Teil der feindlichen Armee gestanden hatte. Marlic, der seine Überraschung zügig überwand, näherte sich vorsichtig der Kante, die in die Tiefe führte. Ein Blick hinab verriet ihm, dass er mit bloßen Auge nicht vermochte, den Boden des Schlundes zu sehen. Er stieß ein anerkennendes Pfeifen aus. „Nicht übel für ein Magier-Prinzesschen.“ Mana kam um ein leichtes Schmunzeln nicht herum. „Ich fasse das mal als Kompliment auf. Komm, wir müssen weiter. Wir sind noch längst nicht fertig.“ Ryou und Tristan hasteten die Straße entlang des Tempelareals hinab. Ihre Verfolger waren ihnen dicht auf den Fersen. Shiruba und Qi sorgten jedoch dafür, dass sie dennoch unbehelligt blieben. „Es ist nicht mehr weit. Irgendwo da vorne müssen wir die Fallgrube versteckt haben!“, rief der Braunhaarige dem Anderen zu. „Jetzt bloß nicht schlapp machen!“ Ryou, dessen Atem keuchend ging, nickte. „Keine Angst, ich schaff‘ das schon“, gab er japsend zurück. Er mochte nicht die beste Kondition haben, aber dafür war sein Wille umso stärker. Weiter und weiter rannten sie, bis endlich die gesuchte Markierung in Sichtweite kam. „Dort drüben müssen wir Anlauf nehmen und springen! Du schaffst das?“ „Klar!“ Sie beschleunigten ihre Schritte noch einmal. Die Gruben, die sie ausgehoben hatten, waren nicht so breit, dass ein Sprung nicht zu schaffen wäre – es durfte jedoch auch nichts schief gehen. Unterhalb der dünnen Schicht aus Schilfrohr, Tuch und Sand lauerten dutzende Pflöcke darauf, jemanden aufzuspießen. Ryou schloss kurz die Augen, dann hatten sie die Stelle auch schon erreicht. Er gab noch einmal alles und stieß sich schließlich vom Boden ab, glitt durch die Luft – und landete wohlbehalten auf der anderen Seite. Er wurde vom Schwung nach vorne geworfen und landete auf den Knien. Einen Moment lang verharrte er in dieser Position und rang nach Atem. „Was habe ich gesagt? Gar kein … Problem“, schnaufte er. Doch eine Antwort blieb aus. Verwundert blickte er auf. „Trist…?“ „Ryou, hilf mir!“ Sofort war der Angesprochene auf den Beinen und wirbelte herum. Tristan hing an der Kante ihrer Falle, nur einen knappen Meter über ihren todbringenden Spitzen, und versuchte, irgendwo auf dem sandigen Boden Halt zu finden. Der Weißhaarige fackelte nicht lange, stürzte zu ihm hin und ergriff seinen Arm gerade dann, als er im Begriff war, abzurutschen. „Zieh mich hoch!“, rief Tristan zu ihm hinauf, die Angst in seiner Stimme hörbar. „Ich versuche es ja!“, gab Ryou zurück. Auch ihm fiel es schwer, auf dem von feinsten Sandkörnern übersäten Untergrund Halt zu finden, um zu verhindern, dass er samt seinem Kumpanen in die Tiefe schlitterte. Just in dem Moment, als er glaubte, sich nicht mehr halten zu können, fegte ein Schatten über sie hinweg, packte sie und riss sie nach hinten. Sie schlugen unsanft auf der festgetretenen Straße auf und brauchten einen Moment, um zu begreifen, dass sie wieder festen Boden unter sich hatten. Langsam und quält setzten sie sich auf, nur um in Shirubas blaue Augen zu sehen, die sie besorgt musterten. „Danke Alter, das war Rettung in letzter Sekunde!“, fügte Tristan als erster eins und eins zusammen. Ryou strich dem Seelenwesen dankbar über die Schnauze. „Vielen Dank, ohne dich wären wir abgestürzt.“ Der Dämon gab zur Antwort nur ein zufriedenes Schnauben von sich. Dann ertönten plötzlich Schreie hinter ihnen, die sie herumfahren ließen. Ungeachtet der Tatsache, dass Tristan die Falle bereits aufgedeckt hatte, waren die Soldaten, geblendet von all dem Staub, den ihre schiere Masse aufwirbelte, dennoch hineingetrappt. Gute drei Dutzend von ihnen fanden einen plötzlichen Tod in den zahlreichen Spießen, während der Rest zunächst zögerlich am gegenüber liegenden Rand der Falle stehen blieb. Dann begann eine Rangelei unter den Vordersten, die sich gegenseitig in den Abgrund zu stoßen begannen. Tristan dämmerte, worauf das hinauslaufen sollte. „Diese Psychos wollen die Grube mit Körpern füllen, damit sie hier rüber kommen können!“ Ryou schüttelte kaum merklich den Kopf, während er das Szenario beobachtete, dann wandte er sich ab. „Nutzen wir den Vorsprung und laufen zur nächsten Falle. Viel Zeit werden sie uns nicht la…“ Ein schmerzerfülltes Heulen peinigte ihre Ohren aus heiterem Himmel. Erschrocken fuhren sie nach allen Seiten herum – nur um die Quelle des Schmerzensschreies zu entdecken. Ryou wurde bleich. „Shiruba!“ Es verging kaum ein Wimpernschlag, da befand er sich an der Seite der Bestie, in deren rechtes Vorderbein sich auf Höhe des Fußgelenkes ein Speer gebohrt hatte. In seiner Panik packte das Ka den schmerzbringenden Gegenstand und versuchte, ihn herauszureißen. Dabei brach Shiruba ihn jedoch ab, sodass die Spitze stecken blieb und weiterhin Schmerzen verursachte. Unsicher versuchte er immer wieder, die Tatze aufzusetzen, zog sie jedoch gleich wieder hoch. Silbrig durchscheinendes Blut quoll aus der Verletzung und verteilte sich auf dem Boden, wo der Sand es gierig aufsog. „Halt still!“, beschwor Ryou das Wesen. „Ich muss das rausziehen, ansonsten hört es nicht auf, wehzutun! Lass mich dir helfen! Ich verspreche, dass ich mich bemühen werde, dir nicht noch mehr Schmerzen zuzufügen, in Ordnung?“ Die einfühlsamen, aber bestimmten Worte seines vorübergehenden Trägers brachten Shiruba dazu, ihm die Pfote hinzuhalten. Der Weißhaarige begann sogleich, sie zu untersuchen. Er konnte die Speerspitze sehen, die tief durch die silberne Haut eingedrungen war. Er würde sie nicht entfernen können, ohne sie ordentlich zu fassen zu kriegen – und das würde schmerzen. „Ich kann es nicht rausholen, ohne dir wehzutun. Aber danach wird es besser, das verspreche ich dir. Ich mache, so schnell es geht. Bereit?“ Der Ka nickte knapp, dann wandte er den Blick ab. Ryou schob seine schlanken Finger vorsichtig an der Klinge entlang, bis zu dem Punkt, da er sie in das Fleisch des Monster bohren musste, um seinen Fingerspitzen den nötigen Halt zu verschaffen. Shiruba entwich ein schmerzerfülltes Brüllen, den Fuß verzog er jedoch nicht. Dann schließlich glaubte Ryou, den Fremdkörper fest genug zu fassen bekommen zu haben, um ihn herauszuziehen. Mit einem Ruck riss er seine Hand nach hinten, während sein Ka ein weiteres Mal aufschrie – und die Speerspitze klirrend neben ihnen zu Boden fiel. Qi hatte all dies beobachtet – und befand sich an der Grenze zu Rage. Eine Wut, die der Feind sogleich zu spüren bekam. Während Ryou damit beschäftigt war, Shirubas Qualen zu mindern, ließ er eine Salve von Attacken auf die feindlichen Soldaten niederregnen, die eine gewaltige Schneise in ihre Reihen riss. Von vielen blieb nicht mehr übrig als ein Haufen blutiger Fetzen. Die, die nachrückten, ereilte alsbald das gleiche Schicksal. Binnen kürzester Zeit war Qi dermaßen in Tobsucht verfallen, dass es mehrere Rufen Tristans brauchte, um ihn wieder ins Hier und Jetzt zurück zu bringen. „Qi! Danke dafür, dass du uns Zeit verschaffst, aber so erschöpfst du deine Kräfte zu schnell! Komm, wir müssen weiter zur nächsten Falle!“ Qi wandte sich kurz zu ihm um, dann zu den Feinden. Er ließ einen letzten Angriff auf sie niedergehen, dann schwebte er herum und folgte Shiruba, der so gut es ging mit seiner verwundeten Pfote die Straße hinabhetzte. Yugi und Tea hatten sich der ersten Welle ihrer Verfolger bereits entledigt. Jetzt nutzten sie den gewonnenen Abstand, um sich an einer der Fallen, die vor ihnen lagen, in Position zu bringen. „Bislang läuft es ganz gut“, meinte die Brünette, deren Atem vom Rennen stoßweise ging. „Ja. Hoffen wir, dass Atemu einen ähnlichen Erfolg gegen Caesian vorweisen kann“, entgegnete ihr Begleiter. „Es muss einfach klappen.“ „Das wird es. So wie …“ Beide kamen ruckartig zum Stehen, als in ihrer unmittelbaren Nähe zunächst ein Krachen und dann der Schrei einer Bestie ertönten. „Was war das?“, sprach Tea umgehend die Frage aus, die ihnen beiden auf der Zunge lag. „Da drüben!“, entgegnete Yugi und deutete auf eine Stelle über den Häusern, wo Staub aufstieg. „Es kommt von dort, wo wir die Relikte versteckt haben!“ „Aber wie kann das sein? Seto und Riell sollten sie doch bewachen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihre Kas nicht gegen die Soldaten ankommen.“ „Keine Ahnung. Lass uns nachsehen, schnell.“ Gemeinsam setzten sie sich wieder in Bewegung, bis sie eine Querstraße erreichten, die direkt zum Versteck der Artefakte führte. Als sie deren Mündung erreichten, kauerten sie sich hinter eine Hausecke und lugten vorsichtig hervor. Zunächst sahen sie ob des aufgewirbelten Sandes wenig. Bald legte sich dieser jedoch und gab den Blick auf Anwaar und den weißen Drachen frei, die vergeblich versuchten, sich mit Caesians Ka-Bestie zu messen. Beide hatten bereits eine Reihe von Blessuren davongetragen. „Wie kann Caesian schon bis hierhergekommen sein? Wo ist Atemu?“, flüsterte Tea. Besorgnis zeichnete ihre Stimme. „Er muss nicht zwingend in der Nähe sein. So wie es aussieht, hat er vielmehr sein Monster geschickt, um die verbliebenen Relikte zu holen. Ich sehe ihn nirgends. So selbstsicher, wie er ist, würde er sich zeigen, befände er sich hier“, erwiderte der Kleinere. „Wir müssen ihnen helfen, ansonsten schaffen sie es nicht.“ „Sie sind beide Ka-Träger von Geburt an. Glaubst du wirklich, unsere Kreaturen könnten mehr erreichen, als ihre?“ Das war tatsächlich ein Punkt, den sie bedenken mussten. Ihre Wesen waren stark, jedoch lange nicht so stark wie jene, die eine natürliche, angeborene Verbindung zu ihren Seelenzwillingen aufwiesen. Anwaar und der weiße Drache waren beide beeindruckende, furchteinflößende Bestien, doch sie vermochten allem Anschein nach kaum etwas gegen die Tricks und Kräfte ihres Gegners auszurichten. Bislang hatte es lediglich ein Monster gegeben, das sich mit ihm messen konnte. „Chaosmagier“, wandte sich Yugi an das Wesen, das hinter ihm Aufstellung bezogen hatte. „Suchen wir Qi. Wir brauchen ihn hier. Dringend. Ich werde mit Tristan die Positionen tauschen und Ryou unterstützen, während sie sich um das hier kümmern.“ Er erhob sich, darauf bedacht, nicht entdeckt zu werden. „Bleib du hier, Tea, und pass auf, dass es dich nicht wahrnimmt. Wir machen, so schnell wir können.“ „Kommt nicht in Frage“, erwiderte die Brünette. „Ich habe eine Idee, wie wir es vielleicht in einen Hinterhalt locken können. Ich muss kurz zurück, bin aber so schnell es geht wieder da.“ „Was hast du vor?“ Tea lächelte auf eine Weise, die man sonst nicht von ihr kannte. „Lass dich überraschen.“ Atemu hatte das Pferd genau dort vorgefunden, wo er es zurückgelassen hatte. Das Schwert in einer Hand, die Zügel in der anderen, trieb er es zielsicher durch die Straßen Thebens, dem Durchlass entgegen, den die Angriffe von Caesians Ka geschaffen hatten. Nur noch wenige Soldaten befanden sich in diesem Teil der Stadt, die meisten waren bereits weiter vorgedrungen. So stellten sich ihm nur einige wenige Krieger in den Weg, die er jedoch, wenn nötig, mit einem Hieb der Klinge niederstreckte oder zumindest abwehrte. Schließlich gelang es ihm, über die Trümmerteile der Mauer hinweg zu kommen und in die dahinterliegende Wüste hinaus zu reiten. Sand wirbelte unter den Hufen seines Reittieres auf, als es sich einen Weg dorthin bahnte, wo Caesian ihn mit Sicherheit erwarten würde. Entschlossen trieb er das Pferd die erste größere Düne hinauf – nur um es schlagartig zum Stehen zu bringen. Seine weit aufgerissenen Augen wanderten nach links und rechts, während er versuchte zu verstehen, welches Bild sich ihm dort draußen in den Weiten der Wüste bot. Unzählige schwarze Kugeln, die alles Licht zu verschlucken schienen und so groß waren, wie ein ausgewachsener Mann, tanzten über das Staubmeer. Wann immer sie den Boden berührten, schienen sie sich abzustoßen, einige Schritt handbreit über dem Sand durch die Luft zu schweben und schließlich wieder aufzukommen, ehe sich das Spiel wiederholte. Sie waren unentwegt in Bewegung, manche schneller als andere. „Was hat es damit auf sich? Was sind das für Dinger?“, murmelte er leise zu sich selbst, während er die Kugeln wachsam im Blick behielt. Ihm war, als habe er sie schon einmal gesehen … Plötzlich fiel es ihm wieder ein. Sein Traum. Kuriboh, das von einem schwarzen Ball getroffen wurde und sich anschließend in ein Monstrum verwandelt hatte. Aber was genau hatte das alles zu bedeuten gehabt? Wo kamen diese Kugeln her? Auch in seinem Traum waren sie wie aus dem Nichts erschienen. Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen – die Relikte! Sachmet hatte ihn gewarnt, dass der Gebrauch der Artefakte mit der Zeit Spuren in dieser Sphäre hinterlassen würde. Ganz offenbar war es nun soweit. Was auch immer diese lichtschluckenden Dinger waren, sie mussten von den Gegenständen hervorgebracht worden sein. Und wenn sein Traum Recht behielt, dann geschah dem, der sie berührte, nichts Gutes. Jetzt gab es noch einen Faktor, auf den er würde achten müssen, wenn er Caesian gegenüber trat. Bringen wir es hinter uns, ehe noch mehr Schaden angerichtet wird. Entschlossen wie eh und je gab er seinem Pferd die Sporen und trieb es weiter durch die Wüste, dem Feind entgegen. Es dauerte auch nicht lange, bis er die gesuchte Person in den Weiten aus Staub entdeckte. Dort drüben, in wenigen hundert Schritt Entfernung war er, alleine, hoch zu Ross und schien nur auf Atemu gewartet zu haben. Sein Ka war nirgendwo zu sehen. Der Pharao zögerte nicht, als er seinem Opponenten entgegenritt, hielt sich jedoch bereit. Es konnte sein, dass er jeden Moment eines seiner Monster beschwören musste, um einen Überraschungsangriff abzuwehren. Doch dieser kam nicht. Stattdessen ließ ihn Caesian bis auf ein Dutzend Schritte herankommen, ehe der Pharao entschied, dass der Abstand zwischen ihnen kurz genug war. Der feindliche Herrscher bewegte sich bei seiner Ankunft nicht vom Fleck, veränderte auch seine Haltung nicht. Lediglich sein Mund verzog sich zu einem selbstsicheren Grinsen. „Euer Hoheit“, grüßte er schließlich gespielt freundlich. „Willkommen. Ich habe Euch bereits erwartet. Schön, dass Ihr Zeit gefunden habt.“ „Mir blieb nun einmal nichts anderes übrig, nachdem Ihr zu feige wart, um uns mit dem Rest Eurer Truppen gegenüber zu treten“, gab Atemu zurück. „Oh, Ihr versteht das falsch. Mit Feigheit hat es nun gar nichts zu tun. Nein, vielmehr wollte ich unser Zusammentreffen in einem privateren, gebührenderen Rahmen abhalten. Immerhin habt Ihr mir mehr Kopfzerbrechen bereitet, als es bislang sonst ein Mensch auf dieser Welt geschafft hat. Dafür bewundere ich Euch, ehrlich – aber meine Verachtung habt Ihr dadurch ebenfalls erlangt.“ „Dieses Gefühl kann ich nur zurückgeben, Caesian. Seht Euch um, seht, was Ihr angerichtet habt!“, forderte der Pharao ihn auf und wies mit dem ausgestreckten Arm in die Wüste hinaus, die sie umgab. „All das ist auf Euren Missbrauch der göttlichen Relikte meines Landes zurückzuführen.“ Sein Gegenüber zuckte nur mit den Schultern. „Und wenn schon. Es wird sich schon wieder geben. Diese Welt hat schon vieles verdaut, auch das wird sie überstehen.“ „Seid Ihr wahrlich so leichtsinnig? Ach, was frage ich überhaupt – Mal um Mal haben wir Euch vor den Auswirkungen gewarnt, doch Ihr wolltet nicht hören und wollt es auch jetzt noch nicht. Man könnte meinen, Ihr seid blind. Anders kann man sich Eure Ignoranz kaum erklären.“ „Oh, ich versichere Euch, meinem Augenlicht geht es bestens. Aber mir scheint es, als solltet Ihr Euch an die eigene Nase fassen, Pharao. Ihr seid derjenige, der feige ist. Oder weswegen sonst habt Ihr solche Angst vor diesen netten Kleinoden?“, erwiderte Caesian und drehte das Zepter Seths in der Rechten. „Das hat mit Feigheit nichts zu tun, sondern mit Respekt und Ehrfurcht.“ „Sieht Ihr, da haben wir es wieder. Ehrfurcht. Wenn ich Euch dazu gebracht habe, vor mir zu knien, werdet Ihr es noch bereuen, nicht früher an den Gebrauch der Relikte gedacht zu haben, das versichere ich Euch. Nun ist es zu spät. Sie alle gehören so gut wie mir. Es wird nicht mehr lange dauern, dann ist meine Sammlung komplett.“ „Mögen die Götter verhüten, dass es jemals dazu kommt, dass auch die restlichen Gegenstände dem Wahnsinnigen in die Hände fallen, der mir gegenübersteht.“ Ein amüsiertes Lachen war die Antwort. „Eure Götter können mir nichts anhaben, sie sind machtlos. Einen von ihnen habe ich gar getötet. Mit den anderen könnte ich ebenso leichtes Spiel haben.“ „Sie mögen nicht in der Lage sein, sich selbst gegen Euch zu wenden. Doch seid versichert, dass ihr Zorn, ihre Verachtung und ihr Hass einzig und alleine auf Euch gerichtet sind. Und ich, der Abgesandte der Götter auf Erden, werde ihrer Wut ein Gesicht geben.“ Er riss eine Faust in die Höhe. „Genug geredet. Euer Weg endet hier Caesian! Nie wieder werdet Ihr diesem Land und seinen Bewohnern Schaden zufügen! Slifer, Obelisk, Ra – zeigt euch!“ Kapitel 66: Am Abgrund - Teil V ------------------------------- Diabound gelang es in letzter Sekunde, seinen Gegner an den äußeren Hälsen zu packen und von sich zu schleudern, ehe sich dessen Kiefer in sein Fleisch bohren konnten. Shadara fing den bevorstehenden Sturz ab, landete auf allen Vieren und schlitterte ein Stück weit über den sandigen Boden, nur um augenblicklich zu einer erneuten Attacke vorzupreschen. „Keiro, krieg dich wieder ein! Das ist doch Wahnsinn!“, versuchte Bakura derweil, sein Gegenüber endlich zum Einlenken zu bewegen. „Wahnsinn? Und das soll ich mir von jemandem anhören, der versucht hat, das ägyptische Königshaus zu stürzen?“, konterte sein Bruder. „Wenigstens hab’ ich mich nie an meinem eigenen Blut vergriffen!“ „Es gibt Dinge, die sind bedeutender als Blutsbande“, war die abgeklärte, kalte Antwort. Diabound fuhr in der Zwischenzeit härtere Geschütze auf und attackierte den Gegner nun mit den Kräften, die in ihm schlummerten. Gleich wie mächtig die von ihm geschleuderten Angriffe jedoch waren, Shadara war schnell. Es gelang ihm, jeder einzelnen Gefahr beinahe mühelos zu entgehen und sich immer weiter in Richtung seines Widersachers vorzuarbeiten, bis er sich abermals auf diesen stürzen konnte. „Die Lösung ist einfach, Bakura“, ließ in Keiro derweil wissen. „Verschwinde und ich lasse von dir ab.“ „Oh nein. Das würde dir so passen. Irgendjemand muss diesen krankhaften Unsinn aus dir herausprügeln. Und dieser Jemand werde ich sein!“ Der Grabräuber versuchte, so gut es ging den Blickkontakt zu seinem Bruder zu halten. Ab und an kam er jedoch nicht umhin, sich einen knappen Überblick über die Lage seiner Ka-Bestie zu verschaffen. Er biss sich auf die Unterlippe. Es war heller Tag, ansonsten hätte Diabound den entscheidenden Vorteil gehabt, sich in den Schatten der Nacht verstecken zu können. Dann wäre diese Scharade binnen kürzester Zeit vorbei. So jedoch musste er einen anderen Weg finden, Keiros Monster außer Gefecht zu setzen. Mit einem Mal zog es ihm die Beine weg, als ein gleißender Schmerz durch seine rechte Schulter fuhr. Im gleichen Moment ertönte Diabounds gellender Schrei, als Shadara aus nächster Nähe eine Feuersalve auf die gegnerische Kreatur abgab und sie unterhalb des Halses traf. In seiner Wut umwickelte der verletzte Dämon seinen Opponenten mit dem Schweif und warf ihn von sich. Der Grabräuber riss seinen Umhang von der Schulter, um den Schaden zu betrachten. Tatsächlich war die Haut verbrannt, rauchte gar leicht. Er biss die Zähne zusammen, als er den Stoff energisch an die vorgesehene Stelle zurückzog. Dieser Dreckskerl … Was immer ihm widerfahren ist, es hat ganze Arbeit geleistet. Und ihn mehr verändert, als ich dachte. Shadara sollte gar nicht in der Lage sein, Diabound auch nur einen Kratzer zuzufügen. „Das war nur ein Warnschuss“, kommentierte Keiro derweil. „Wenn du nicht gehst, wird Schlimmeres folgen. Ich möchte das nicht, Bakura. Aber wenn du mir keine andere Wahl lässt, werde ich es tun.“ „Krieg es endlich in deinen dicken Schädel: Ich gehe nicht, ehe du zur Besinnung gekommen bist!“ Der Ka des Grabräubers entging dem nächsten Satz seines Widersachers, indem er rasch durch die Wände eines Hauses verschwand. Shadara rasselte ungebremst in diese hinein und gab ein schmerzliches Heulen von sich, während er sich wütend aus den Trümmern schälte. Staub wirbelte umher. Nutz‘ die Gelegenheit und schnapp ihn dir! Diabound zögerte nicht. Geschützt von dem Schleier aus Sand erschien er plötzlich direkt vor dem Zerberus und umwickelte dessen Köpfe mit seinem Schweif, warf ihn zu Boden und fixierte zuletzt die Pranken mit seinen mächtigen Klauen. Das hundeähnliche Biest strampelte mit den Hinterläufen, war jedoch nicht in der Lage, sich zu befreien. Feuerbälle schossen aus seinem Maul, trafen aber nur den Boden und umstehende Häuser. Bakura grinste zufrieden. „Sieht so aus, als hätte ich dich.“ Keiro beobachtete derweil die Situation, in der sich die Zwillingsseelen befanden. Dann zuckte er mit den Schultern. „Sieht nach einem Pat aus. Aber gut. Wenn unsere Monster das nicht entscheiden können, dann werden wir es eben tun müssen.“ „Was soll das …?“ Bakura drehte sich ruckartig zur Seite weg, als plötzlich ein Dolch an ihm vorbei schoss und zitternd in der Wand hinter ihm stecken blieb. Als er die Augen wieder auf seinen Bruder richtete, hatte der bereits den nächsten in der Hand. „Bist du jetzt völlig bescheuert? Was soll das?“, brüllte der Grabräuber sein Gegenüber an. „Ich dachte, ich hätte von vorne herein klargemacht, dass ich nicht zulassen würde, dass du mir im Weg stehst. Du bist sehr stur, Bakura, ich kenne dich. Die einzige Möglichkeit, dich dazu zu bringen, von deinem Plan abzulassen, ist, dich zu töten“, erklärte Keiro tonlos, als sei dies vollkommen logisch. „Siehst du? All dieses Chaos, nur wegen Risha. Auch das hier ist ihre Schuld.“ „Oh nein“, gab der Grabräuber zurück. „Das hier ist auf deinem Mist gewachsen! Einzig und alleine auf dem, was deinem kranken Hirn entsprungen ist!“ „Denk, was du willst. Aber sei dir versichert, auch wenn ich dich wohl werde umbringen müssen, Bruder – ich werde für ein ordentliches Begräbnis deiner und unserer Base sorgen, sobald ihr erlöst seid. Vielleicht werdet ihr im Nachleben erkennen, dass ich Recht hatte.“ Keiro drehte den Dolch in den Fingern und kam langsam nähert, bereit zum Angriff. Ich kann Shadara den Rest geben. Etwas mehr Druck auf die Hälse und … Nein, gab Bakura entschieden zurück und zückte den Langdolch, den er mit sich führte. Halte ihn ruhig. Ich beende das. Der Schrei, der durch das verlassene Dorf hallte, drang bis in den Keller vor, in welchem Risha erfolglos an ihren Ketten zerrte. Sie erkannte ihn augenblicklich. Diabound! Was bei allen Göttern machte das Monster hier? Wenn es sich an diesem Fleck Ägyptens aufhielt, musste das bedeuten, dass Bakura nicht weit war. Aber wie? Und warum? Was taten sie hier? Auch die wütend klingelnden Laute Shadaras drangen durch die Mauern gedämpft an ihre Ohren. Was ging dort draußen vor sich? Wurden sie angegriffen? Angespannt lauschte sie, konnte jedoch außer den Schreien der beiden Bestien und einem gelegentlichen Krachen keine anderen Laute ausmachen. Kein Waffenklirren, keine Töne, die auf andere Kas hindeuteten. Irgendetwas stimmte nicht. Mit noch mehr Elan versuchte sie, sich aus den Ketten zu befreien, die sie hielten, scheiterte jedoch. Gleich, wie schwer sie sich machte, der Ring, der in die Decke getrieben worden war, lockerte sich nicht. Verfluchter … Es gab nur einen Weg, um sich aus dieser Misere zu befreien. Cheron. Doch solange das Blutmal auf ihrem Rücken war, wäre sie nicht in der Lage, ihn zu rufen. Sie musste es loswerden. Aber wie? Selbst, wenn sie die Hände frei hätte, wäre es schwer, heranzukommen. So war es fast unmöglich. Es sei denn … Sie warf einen Blick über die Schulter, zu der Wand, an welcher sie hing, dann hinauf zu dem Metallring. Noch immer leicht benommen von dem Zeug, das Keiro ihr eingeflößt hatte, zog sie sich ein Stück daran hinauf, beugte den Rücken durch und ließ sich dann wieder fallen. Die Haut auf der Rückseite ihres Leibes schabte brennend über den Sandstein. Sofort wiederholte sie ihr Tun, dann noch einmal. Zahllose weitere Male folgten, die Haut über ihrem Rückgrat riss mit jedem einzelnen Zug mehr und mehr auf, bis Risha spüren konnte, wie ihr Blut bis zur Hüfte hinabrann. Sie stöhnte gequält, der Knebel in ihrem Mund dämpfte die Laute jedoch. Sie durfte jetzt nicht zögern. Die Verletzung würde heilen. Wenn sie es jedoch nicht schaffte, sich zu befreien und den Bann zu brechen, ehe Keiro zurückkam, würde sie vielleicht nie wieder das Tageslicht sehen. Mit jedem Schaben konnte sie fühlen, wie sich die Zwinge um ihre Seele zu lösen begann. Mit jedem Stück des Bannkreises, das sie von ihrer Haut riss, brachen die Fesseln, die Cheron versiegelten. Während ihr das Eine unbeschreibliche Schmerzen bereitete, fühlte sich der daraus resultierende Effekt an wie Balsam. Dann war es endlich soweit. Mit einem grellen Blitz und einem Kreischen, das die letzten Schwaden der Benommenheit aus ihren Körper trieb, erschien der Pegasus, umfasste ihre Ketten mit dem Maul und riss sie aus der Verankerung. Erschöpft sackte Risha in sich zusammen und riss sich den Knebel aus dem Mund. Einen Moment lang blieb sie liegen, rang nach Atem und gewährten ihren brennenden Muskeln einen Augenblick der Entspannung. Dann rappelte sie sich auf und kam zitternd auf die Beine. In einem Nebenraum fand sie die Sachen, die sie bei sich getragen hatte, als Keiro sie überfallen hatte. Auch ihre Dolche befanden sich darunter. Rasch öffnete sie damit die Fesseln an ihren Handgelenken. Die Haut darunter war wund, eiterte hier und da bereits. Gegen die Erschöpfung ankämpfend, schleppte sie sich zu Cheron zurück, während sie ihren Umhang überwarf. Anschließend nahm sie mehrere kräftige Schlucke aus einem ebenfalls gefundenen Wasserschlauch, ehe sie ihn beiseite warf. „Lass uns nachsehen, was dort draußen vor sich geht. Wir erteilen Keiro eine Lektion und dann nichts wie weg hier.“ Der Pegasus nickte und zog sich in ihre Seele zurück, um sie nicht unnötig zu belasten, bis er gebraucht wurde. Zügig verließ Risha den Keller und folgte den Lauten, die noch immer durch das Dorf hallten. Anwaar und der weiße Drache kamen nicht zum Zug. Die meiste Zeit waren sie damit beschäftigt, dem feindlichen Ka auszuweichen. Gegenangriffe waren von vorne herein zum Scheitern verurteilt, wich der Opponent doch viel zu rasch aus, als dass ihn die großen Echsen treffen konnten. So beschränkten sie sich darauf, ihn beschäftigt zu halten, sodass es ihm nicht möglich war, zu den Relikten vorzudringen. Bald änderte das Wesen jedoch seine Taktik. Statt die Drachen ins Visier zu nehmen, konzentrierte es sein Feuer plötzlich auf die beiden Ka-Träger, die unentwegt in Bewegung bleiben mussten, um den Energiebällen zu entgehen. Ihre Monster taten ihr Möglichstes, um sie zu schützen. Doch durch die Fähigkeit des gegnerischen Monstrums, an einem Ort zu verschwinden und an einem anderen unverhofft wieder auftauchen zu können, war dies leichter gesagt als getan. Bald spürten die Menschen, wie ihre Kräfte schwanden. Zum Glück waren sie und ihre Kreaturen lange genug miteinander vertraut, um einen Wall zwischen ihren Empfindungen schaffen zu können. Dieser hielt zwar nicht alles ab und würde bröckeln, je länger sie Belastungen ausgesetzt waren, doch für den Moment genügte es noch. „Wir brauchen Verstärkung!“, entschied Riell schließlich zwischen zwei Angriffen, ehe er eilig zur Seite hechtete, um einer Energiekugel zu entgehen, die Anwaar nicht hatte abfangen können. „Und wie sollen wir das machen? Keiner von uns kann diesen Ort verlassen, um die Anderen zu holen, oder die Relikte fallen an Caesian! Ganz davon abgesehen, dass wir ohnehin schon zu Wenige sind, wir können andere taktische Stützpunkte nicht einfach aufgeben!“, gab Seto zurück, der kaum, da die Worte über seine Lippen gekommen waren, ebenfalls beiseite springen musste. „Was willst du schützen? Die Stadt oder die Artefakte?“, erwiderte Riell gereizt. „Wenn er sie bekommt, ist es aus! Theben kann man wieder aufbauen, die ganze Welt nicht!“ „Das löst das erstgenannte Problem trotzdem nicht. Weder du noch ich können …“ Der Hohepriester hielt plötzlich inne, als er eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahrnahm. Als er sich verstohlen umblickte, konnte er Tea entdecken, die hinter einer eingerissenen Hauswand kauerte und ihm zuwinkte, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen. Als er sie schließlich ansah, hielt sie eine Amphore in die Höhe, an deren Hals eine zähe, dunkle Flüssigkeit hinabrann. Teer? Was will sie …? Die Braunhaarige duckte sich eilig hinter Mauerreste, als Caesians Monster wenige Meter von ihr entfernt auftauchte und eine erneute Salve gegen Anwaar sandte, der die Bestie jedoch mitsamt Riell entgehen konnte. Als es sich wieder entfernte erschien sie erneut und deutete auf die andere Seite des Platzes hinüber. Dort konnte Seto kurz den Stab der Feuerprinzessin aufblitzen sehen, ehe sich diese rasch wieder verbarg. Verstehe. Sie will es mit Teer übergießen und den Ka den Rest machen lassen. Gar nicht einmal dumm … und unsere einzige Chance. Seto wartete noch einen Moment, bis der nächste Angriff von Seiten ihres Gegners erfolgt war, dann sprang er die Stufen des Gebäudes hinab und eilte über den Vorplatz. Riells überraschte und entsetzte Rufe drangen über das Geschrei der Kreaturen nur gedämpft zu ihm heran. Zielstrebig steuerte er den Punkt an, wo sich Tea versteckte. Komm schon. Nutze die Gelegenheit! Wie auf Kommando erschien plötzlich Caesians Ka vor ihm, die Hände formten bereits eine weiß glühende Kugel. Dann ging alles ganz schnell. Tea sprang vor und zertrümmerte die Amphore auf dem Rücken des Biests, welches einen überraschten Laut von sich gab und den Angriff, der Seto gegolten hätte, an ihm vorbei feuerte. Augenblicklich fuhr es herum, um sich des Störenfriedes anzunehmen, doch da sauste unbemerkt von dem Seelenmonster bereits ein Feuerball heran und entzündete den Teer, der sich über seinen Körper ergossen hatte. Unmenschliche Schreie hallten durch die Gassen, als es zum Himmel empor stob, sich um sich selbst wand und wahllos Kugeln in alle Richtungen schoss. „Das ist unsere Gelegenheit! Erledigen wir es!“, brüllte Seto über den Lärm hinweg. Keinen Wimpernschlag später gingen die gesammelten Salven von Anwaar, dem weißen Drachen und der Feuerprinzessin auf das Wesen nieder und schleuderten es in eine Häuserreihe. Der von Trümmerteilen aufgewirbelte Staub verschluckte es. Als er sich wieder legte, war nirgendwo auch nur die Spur eines Monsters zu finden. Riell schluckte. „Haben wir es geschafft …?“ „Du meinst, wir haben es vernichtet? Und damit auch Caesian?“, hakte Tea nach. Seto biss sich auf die Unterlippe. „Beten wir zu den Göttern, dass …“ Ihre Hoffnungen wurden mit einem Mal zerschlagen, als das eigenartige Monster plötzlich wieder vor ihnen auftauchte. Die Fetzen, die seine Gestalt verbargen, waren durchnässt. Tropfen fielen in unregelmäßigen Abständen zu Boden, während es bedrohlich über ihnen schwebte. „Es hat die Flammen im Nil gelöscht!“, schlussfolgerte Riell, während sich Anwaar brüllend in Position begab. Tea suchte gemeinsam mit Seto hinter dem weißen Drachen Schutz. Der Hohepriester hatte die Hände zu Fäusten geballt. „Dann auf ein Neues …“ Am Horizont konnten sie erkennen, wie Wolkenfelder aufzogen und sich zu einem dunklen Band zusammendrängten. Es hat also begonnen … Blitze zuckten um Atemu herum in den Sand und schmolzen ihn zu einer gläsernen Masse. Hier und da wurden die schwarzen Kugeln, die um sie herum tanzten, von den himmlischen Boten der Zerstörung getroffen und zerbarsten in dunklen Staub, der im Boden versickerte. Kreischen und Grollen erfüllten die Luft, als sich die göttlichen Kreaturen Ra, Obelisk und Slifer materialisierten. Drohend umzingelten sie Caesian, der jedoch keine Regung ob der Monster zeigte. Lediglich ein kleines Schmunzeln lag auf seinen Lippen. „Ich muss sagen, Pharao, das sind wirklich beeindruckende Kreaturen, die Ihr da habt. Imposant, anmutig, tödlich … Es ist schade, dass ich sie werde ausradieren müssen“, ließ er schließlich verlauten, während er die Bestien der Reihe nach musterte. „Ich gebe Euch hier und jetzt ein letztes Mal die Gelegenheit, Euch zu ergeben, Caesian“, verkündete Atemu ungerührt. „Solltet Ihr dem zustimmen und mir die Relikte übergeben, wird Euch eine gerechte Verhandlung nach göttlichem Recht erwarten. Wenn nicht, so werdet Ihr hier und heute sterben.“ Der Gegner gluckste nur, sichtlich amüsiert. „Ihr könnt es gerne versuchen, Majestät. Aber ich versichere Euch, Ihr werdet es sein, der stirbt.“ Wie um seine Worte zu verdeutlichen, stob plötzlich eine Welle aus Sand und Staub um ihn herum auf, die die göttlichen Monster unvorbereitet traf und ein Stück weit zurück schleuderte, sodass nun ein größerer Abstand zwischen ihnen und dem feindlichen Tyrann bestand. Die dadurch gewonnene Zeit nutzte Caesian, um mit dem Zepter des Seth auszuholen und eine Woge dunkler Energie gegen sie zu schicken. Während es den wendigen Bestien Slifer und Ra gelang, sich gerade noch in Sicherheit zu bringen, wurde Obelisk von der Kraft des Angriffs getroffen. Schmerz durchzuckte Atemu, während Caesians schallendes Gelächter durch die Wüste hallte. „Ich sehe, Ihr bereitet Euch bereits darauf vor, vor mir zu knien“, kommentierte er die Reaktion des Pharaos auf den Treffer. „Nie… mals!“ Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, reagierten Ra und Slifer auf einen stummen Befehl und feuerten ihrerseits Salven auf den Gegner ab. Diesem gelang es jedoch, sie mit einer einfachen Bewegung des Zepters umzulenken, sodass sie eine Düne trafen. Der aufgewirbelte Sand und Staub vermischte sich mit dem Wind, der zunehmend auffrischte, und behinderte die Sicht. Während Caesian von den beiden Drachen abgelenkt war, hatte sich Obelisk an einem Angriff aus dem Hinterhalt versucht, doch auch dieser lief ins Leere. Gerade als seine Faust auf Caesian niedersausen wollte, bildete sich zwischen ihr und dem Gegner eine Barriere aus Sand, die sich der Attacke entgegenstemmte und das gigantische Monstrum schließlich mit einem Ruck von den Füßen riss. Dieses Spiel schien erschreckend schnell einen gewissen Rhythmus anzunehmen: Wann immer die drei Bestien versuchten, Caesian Schaden zuzufügen, lenkte er ihre Angriffe entweder ab oder zu ihnen zurück. Sie mochten mächtig sein, doch die Salven des göttlichen Relikts übertrafen ihre Kräfte bei Weitem. Es dauerte nicht lange, dann machte sich in Atemu allmählich Erschöpfung breit – er hatte gleich drei Kreaturen herbeigerufen, die jetzt alle unter den Attacken litten und deren sinkende Kraft sich zunehmend in seiner Seele niederschlug. Es schien aussichtslos. Gleich welche Befehle er den Ka-Bestien gab, gleich welche Manöver sie selbst versuchten, nichts davon drang bis zu Caesian vor. Der ungleiche Kampf zog sich, bis es Atemu erschien, als sei er dem Feind vor Stunden gegenübergetreten. Dieser hatte noch nicht einen Kratzer. Der Pharao machte sich immer wieder bewusst, dass dies ihre letzte Chance war, dass er unter keinen Umständen scheitern durfte und versuchte, daraus neue Kraft für sich und die drei Monster zu ziehen – doch es genügte nicht. Während seine Seele sich weigerte, das Offensichtliche zu akzeptieren, hatte sein Kopf längst verstanden, was im Begriff war zu geschehen: Er würde unterliegen. Immer wieder brüllte er in seinen Gedanken Befehle, versuchte neue Strategien, doch nichts davon schien Caesian auch nur zu jucken. Sie alle verliefen im Sand. Und dann war es soweit: Der Spielchen müde geworden entschied der Feind, dass es Zeit wurde, die Angelegenheit zu beenden. Er bündelte die Kraft des Zepters, bis es in einem schwarzen Licht zu glühen begann, dann schleuderte er jeder der göttlichen Bestien einen letzten Angriff entgegen, dem sie nicht entkommen konnten. Schreie gellten durch die Wüste, als Ra, Slifer und Obelisk zu Boden gingen, unfähig, sich wieder zu erheben. Auch Atemu sank auf die Knie. Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, rang er nach Luft. Alles, was in seinem Kopf vor sich ging, war, dass es nicht vorbei sein durfte. Er versuchte, die Monster dazu zu bringen, sich wieder zu erheben, doch nichts geschah. Panisch sah er sich um. Slifer, der unweit seiner Position im Sand lag, blickte ihm aus einem Auge an. Dessen Farbe war fahl und dunkel geworden, ganz so, als habe das Leben selbst begonnen, aus dem gewaltigen Drachen zu weichen. Nein … nein!, schrie Atemu in Gedanken. Ihr müsst euch erheben! Ihr müsst weiterkämpfen! Bitte! Es folgte keine Reaktion auf sein Rufen, sein Flehen. Die Kreaturen waren am Ende ihrer Kräfte angelangt. Schwärze breitete sich in seinen Gedanken aus. Ich habe versagt … Ägypten ist dem Untergang geweiht und es ist allein meine Schuld! Er bemerkte nicht, wie sich Schritte näherten, bis Caesian direkt vor ihm stand. Selbstgefällig grinste er auf den Pharao hinab. „Wie ich es sagte: Ihr werdet vor mir im Staub knien. Nun ist der Zeitpunkt gekommen – doch so sehr ich ihn genieße, ich bin ein viel beschäftigter Mann. Ich würde mich gerne noch länger an Euren vor Angst geweiteten Augen und an dem Zittern Eurer Glieder laben. Doch ich habe Dinge zu erledigen. Zum Beispiel muss ich diese Stadt dort einnehmen und Eure erbärmlichen Mitstreiter hinrichten lassen. All diese Göttertempel müssen abgerissen oder zu meinen Ehren umgestaltet werden, ich muss noch weitere Länder erobern … Deshalb befürchte ich, dass mir die Zeit davonrennt und ich Euch nun, so einen Spaß Ihr mir hier und da auch bereitet haben mögt, töten muss. So sehr ich Euch gerne als meinen persönlichen Narren behalten würde, mit den Monstern an Eurer Seite wärt Ihr doch zu lästig. Nun bleibt nur die Frage: Wie? Wie genau soll ich dir das Leben aushauchen, letzter Pharao von Ägypten?“ Er begann, um Atemu herum zu gehen, während er ihn eindringlich musterte. Dieser versuchte, sich aufzurappeln, doch die zahlreichen Treffer, die seine Monster hatten einstecken müssen, hatten ihn zu sehr geschwächt. Er konnte sich gerade einmal auf einem Knie halten. „Hm, weißt du …“, überlegte Caesian laut, „es gibt so viele verschiedene Wege. Ich könnte dich mit meinem Schwert durchbohren oder das Zepter in deinen Schädel rammen. Aber irgendwie erscheint mir das nicht angemessen. Mein Ka ist gerade anderweitig beschäftigt, von daher fällt auch das weg. Und, sind wir doch einmal ehrlich, auch das wäre sehr unspektakulär. Was stelle ich bloß mit dir an …“ Plötzlich hielt er inne und begann zu grinsen – ein diabolisches, herzloses Grinsen. „Ah, ich weiß – was wäre angemessener für dich, als durch die Macht aus dem Leben zu scheiden, die du gegen mich gerichtet hast? Na, wie hört sich das an?“ Er wandte den Blick ab, sah hinüber zu den drei Kreaturen, die noch immer darum kämpften, in dieser Sphäre zu bleiben und sich nicht zu dematerialisieren. „Sag mir, Pharao, welches deiner Kinder ist dir das liebste?“ Er wandte sich abrupt ab, ließ Atemu zurück und schritt auf die Bestien zu. Kaum, da er in Slifers Reichweite gelangte, bäumte sich die Bestie auf und versuchte, ihn mit ihren Fängen zu schnappen. Ein kurzes Zucken des göttlichen Zepters schickte sie prompt zurück in den Staub, wo sie grollend liegen blieb. „Irgendetwas sagt mir, dass es diese Kreatur ist. Sie ist genau so störrisch wie du, selbst im Angesicht der Niederlage weigert sie sich noch, ihr Schicksal zu akzeptieren. Nun denn … so soll es sein.“ Atemu nahm sich zusammen, versuchte erneut, wieder aufzustehen. „Was auch immer du vor hast, Slifers Macht wird nie die deine sein! Kein einziges der Relikte könnte dir dies ermöglichen!“ „Wer sagt denn, dass ich sie mir einverleiben will? Ich bin mit meinem Askalon ganz zufrieden, weißt du? Nein, nein, ich gedenke lediglich, sie mir auszuborgen. Es wird spannend sein, dabei zu zu sehen, wie eine Ka-Bestie denjenigen zerfleischt, an den ihre Existenz gebunden ist“, entgegnete Caesian. „Er wird dir niemals gehorchen!“ „Ach, wirklich. Nun …“ Caesians Hand verschwand unter seinem Umhang brachte etwas hervor. Das Amulett der Bastet baumelte zwischen seinen Fingern. „Das werden wir ja sehen.“ Ehe Atemu auch nur einen Laut des Protestes hervorbringen oder irgendetwas anderes unternehmen konnte, riss er das Relikt in die Höhe. Es begann verheißungsvoll zu glühen und hüllte Slifer nach und nach in eine dunkle Aura. Der Drache wehrte sich, das konnte der Pharao spüren, doch seine Kräfte reichten nicht aus. Diese Gegenstände hatten einen Gott getötet. Eine göttliche Bestie vermochte sich ihnen nicht einmal ansatzweise zu widersetzen. Es dauerte nicht lange, dann konnte Atemu fühlen, wie der Wille des mächtigen Geschöpfes gebrochen wurde und die Verbindung zwischen ihnen auf merkwürdige Art und Weise taub wurde. „Dann wollen wir mal sehen – Slifer, erhebe dich!“, befahl Caesian, das Amulett ausgestreckt vor sich haltend. Der Drache gehorchte augenblicklich. Unter Schmerzen, die der Pharao nach wie vor deutlich spüren konnte, richtete er sich zur vollen Größe auf, bis er wie ein Damokles Schwert über seinem eigentlichen Gebieter thronte. Der Feind lächelte zufrieden. „Was sagtest du noch eben? Ich fürchte, deine Hoffnung hat sich als trügerisch herausgestellt.“ Er grinste Atemu ein letztes Mal an. „Nun denn, letzter Pharao von Ägypten. Grüße deine Götter von mir. Auf dass du ewig in eurer Unterwelt verrotten mögest! Slifer – töte ihn!“ Atemu sah die Fänge des Drachen augenblicklich nach vorne schnellen. Kapitel 67: Am Abgrund - Teil VI -------------------------------- Während Diabound sich bemühte, Shadara nicht wieder aus seinem Griff entkommen zu lassen, versuchte Bakura, einen möglichst großen Abstand zwischen sich und seinem Bruder zu halten. Dieser hatte den zweiten Dolch bislang nicht nach ihm geworfen. Das heißt, er hat keine andere Waffe. Gut … Sollte sich Keiro dazu entscheiden, anzugreifen, so hoffte der Grabräuber, leichtes Spiel mit ihm zu haben. Er besaß einen Langdolch, wohingegen der Andere ein deutlich kürzeres Exemplar mit sich führte. Einen Faktor musste er dabei jedoch im Hinterkopf behalten – Keiros Kampferfahrung, von der er nichts wusste. Er hatte keine Ahnung, ob er in seinem Leben oft genug in Situationen gekommen war, in denen er sich hatte verteidigen müssen, um daraus zu lernen. Der erste Dolch war jedenfalls erschreckend akkurat geworfen worden. Und noch etwas musste er bedenken: Er hatte Risha in Aktion gesehen und wusste, dass sie zumindest nicht vollkommen unfähig war, wenn es darum ging, es mit einem Widersacher aufzunehmen – wenigstens, solange sie ihre Waffen bei sich hatte. Keiro hatte sie jedoch scheinbar überwältigen können. Er musste auf der Hut sein. Als sein Bruder begann, sich ihm zu nähern, wich der Grabräuber vorerst zurück. So unausweichlich diese Konfrontation sein mochte und ja, so laut eine Stimme in ihm auch behauptete, dass dieser Idiot eine ordentliche Tracht Prügel verdient hatte, so wenig wollte er doch, dass es tatsächlich dazu kam. „Leg den verdammten Dolch weg und komm zur Besinnung“, knurrte er noch einmal, obgleich er sich sicher war, auch diesmal nichts bei seinem Gegenüber bewirken zu können. Die Antwort fiel entsprechend aus. Keiro stürzte mit einem Mal nach vorne, den Dolch fest umklammert. Bakura wich zur Seite aus und verpasste ihm einen kräftigen Stoß in den Rücken, wodurch er gegen eine Hauswand stolperte. Lange sollte dies seinen Bruder jedoch nicht aufhalten. Er fing sich rasch, fuhr herum und schlug mit der Klinge nach dem Grabräuber, die dessen rechten Arm nur knapp verfehlte. Den direkt darauffolgenden Hieb wehrte er schließlich mit seinem Langdolch ab, wobei er Keiro an einem Finger eine tiefe Schnittwunde verpasste. Diese schien ihn jedoch wenig zu kümmern. Immer weiter drang er auf seinen Bruder ein, versuchte, nah genug an ihn heranzukommen, um ihn tödlich verletzen zu können. Doch Bakura erkannte bald, dass sein Gegenüber nicht ansatzweise so schnell war, wie er selbst. Dies machte er sich zunutze. Immer wieder ließ er Angriffe des Anderen ins Leere laufen, um ihn so nach und nach zu ermüden. Es dauerte nicht lange, dann bot sich dem Grabräuber eine Möglichkeit. Während Keiro den Dolch abermals zurückzog, um eine weitere Attacke auszuführen, sprang er vor, ließ seine eigene Waffe fallen, um beide Hände frei zu haben und riss sein Gegenüber beinahe von den Füßen. In einer fließenden Bewegung ergriff er dessen rechtes Handgelenk und drehte es ruckartig, sodass sich der Griff des Widersachers um den Dolch lockerte. Es klirrte, als die Waffe zu Boden fiel. Gleichzeitig packte er Keiros linke Schulter und stieß ihn von sich, mit dem Ziel, ihn zu Boden zu schleudern. Ehe dies jedoch passieren konnte, kollidierte die linke Faust seines Bruders mit seinem Unterkiefer, woraufhin Bakura den Halt verlor und seinerseits rückwärts taumelte. Der kurze Moment, den er von dem Schlag benommen war, reichte Keiro aus, um den Langdolch an sich zu bringen und ihn zu Boden zu reißen. Der Grabräuber wollte sich zur Wehr setzen, hielt jedoch augenblicklich inne, als er der scharfen Klinge gewahr wurde, die nur wenige Finger breit vor seinem Gesicht schwebte. Langsam wanderte sein Blick von der Klingenspitze zu seinem Verwandten, der ihn mit kalten Augen ansah. „Schluss mit den Spielchen“, zischte Keiro. „Ich werde nicht zulassen, dass du meine Pläne weiter hinauszögerst, Bruder.“ Bakura! Lass mich … Wage es nicht, fuhr der Grabräuber in Gedanken seinen Ka an. Sein Opponent zog derweil den Dolch über die rechte Schulter zurück, bereit, die Klinge auf ihn niedersausen zu lassen. Er wird dich töten! Ich finde einen Weg! Der einzige Weg ist, Shadara den Gar auszumachen, siehst du das nicht? … verletze ihn. Das wird Keiro lange genug aus der Bahn werfen, um die Situation zu meinen Gunsten zu wenden. Was denkst du, tue ich schon die ganze Zeit? Bakura stockte und wandte den Blick dorthin, wo die beiden Ka-Bestien noch immer miteinander rangen. Tatsächlich machte es den Eindruck, als bekäme Shadara kaum noch Luft. Er bewegte sich fast nicht mehr, schien erschöpft und rang nach Atem. Diabound hatte mit seinen Klauen vor allem in die Schultern des Feindes tiefe Wunden gegraben. Keiro ließ dies jedoch vollkommen kalt. Er zeigte keinerlei Reaktion auf die Schmerzen seines Monsters, obgleich sich seine Kleidung an den entsprechenden Stellen rot gefärbt hatte. Es war normal, das Menschen, die ein Ka von Geburt an in sich trugen, irgendwann die Fähigkeit entwickelten, eine gewisse Barriere zwischen sich und dem Seelenwesen zu errichten. Eine, die so weit reichte, dass Träger oder Bestie von den Schmerzen des Anderen gänzlich unbeeinträchtigt blieben, gab es jedoch nicht. Das, was Bakura hier vor sich sah, war schier unmöglich. „Nun denn …“ Die Worte Keiros ließen ihn den Kopf wieder herumreißen. „Mögest du in den ewigen Gefilden der Unterwelt endlich die Ruhe finden, die dir auf Erden nie vergönnt war, Bruder. Es tut mir leid, dass es hierzu kommen muss, doch es gibt keinen anderen Weg, diese Welt, dich und Risha zu heilen.“ Bakura! Nein! „Auf dass Osiris deiner Seele gnädig sein möge. Lebe wohl, Bakura.“ Der Dolch sauste ruckartig hinab. Bakura hätte schwören können, die Zeit hätte sich verlangsamt, als er die Klinge näher und näher kommen sah. Dann ging alles ganz schnell: Die Spitze der Waffe bohrte sich gerade einmal durch seine Haut, ehe sie samt dem, der sie hielt, zur Seite weggerissen wurde. Klirrend fiel der Langdolch zu Boden, während ein überraschter Aufschrei Keiros zu vernehmen war. Der Grabräuber brauchte einen Augenblick, um das, was soeben geschehen war, zu realisieren. Dann warf er eilig einen Blick auf die Wunde, nur um festzustellen, dass sie lediglich oberflächlich war und keinen weiteren Schaden angerichtet hatte. Dann wälzte er sich herum, um zu sehen, was mit Keiro geschehen war. Dort, einige Schritte entfernt, rangen sein Bruder und Risha miteinander um die Oberhand. Scheinbar hatte auch sie eine Waffe bei sich gehabt, diese jedoch im Eifer des Gefechts bereits fallen lassen. Nun versuchte sie, sich mit bloßen Händen gegen den Anderen zu wehren, was ihr jedoch sichtlich schwer fiel. Sie mochte keine schlechte Kämpferin sein, doch ein ausgewachsener Mann wie Keiro war ihr von physischer Seite her schlichtweg überlegen. Es dauerte nicht lange, dann hatte er sie niedergerungen, die Hände um ihren Hals gelegt und begonnen, zuzudrücken. Bakura war gerade dabei, auf die Beine zu kommen, um sie auseinanderzubringen, da erhellte ein greller Blitz bereits das verlassene Dorf und Cheron riss Keiro mit einem kreischenden Laut von seiner Trägerin herunter. Diese blieb nach Luft ringend im Sand liegen, während das Monster schützend zwischen ihr und ihrem Vetter Position bezog. Der wirkte einen Moment lang vollkommen überrumpelt, fing sich jedoch ob der Wut, die augenblicklich von ihm Besitz ergriff, schnell wieder. „Du dreckiges Miststück! Wie hast du es geschafft, dich zu befreien?“ Risha gab ihm keine Antwort darauf, sondern sah lieber zu, dass sie auf die Beine kam. Sie war erschöpfter, als sie gedacht hatte. Eilig langte sie nach dem Dolch und stellte sicher, dass sie ihn fest im Griff hatte, ehe sie sich ihrem Widersacher zuwandte. Sie warf einen kurzen, flüchtigen Blick zu Bakura, der ihr knapp zunickte, ehe er vortrat. „Es ist vorbei, Keiro. Shadara kann keine Tatze mehr rühren und du wirst wohl kaum so dämlich sein und dich mit einem ungehaltenen Pegasus anlegen. Ruf dein Monster zurück und gib auf. Dann vergessen wir diese Episode einfach und helfen dir, wieder klar im Kopf zu werden.“ Seine Base warf ihm einen eindringlichen Blick zu. „Der Kerl versucht, mich zu töten und ich soll es dabei belassen? Wozu? Damit er es bei der nächstbesten Gelegenheit wieder versucht? Und ganz nebenbei wollte er dich ebenso umbringen! Er ist gefährlich, Bakura!“ „Das hätte er nicht getan“, entgegnete der Grabräuber knapp. „Nein, natürlich nicht. Was war das dann? Eine optische Täuschung?“ „Er ist nicht bei Sinnen.“ „Schnallst du das auch endlich mal, ja?“ „Nicht in der Form, die du dir vorstellst. Irgendetwas an ihm ist anders, fällt dir das nicht auf?“ „Alles was ich sehe, ist ein Kerl, der, nachdem er schon lange Zeit an der Grenze zum Wahnsinn wandelte, endgültig das letzte bisschen Verstand verloren hat.“ „Bist du blind?“, keifte Bakura zurück. „Es ist etwas mit ihm! Spürst du das denn nicht?“ „Ich habe keine Ahnung, was du meinst. Dafür weiß ich aber zu gut, dass er Cheron mit einem Blutmal bannte, mich in einem Gewölbe gefangen hielt und mich regelrecht rituell hinrichten wollte! Dabei faselte er die ganze Zeit davon, dass ich Schuld an der Tragödie von Kul Elna sei, weil ein Fluch auf mir liegen würde!“, brüllte Risha zur Antwort. Der Grabräuber zögerte, war jedoch bemüht, es sich nicht anmerken zu lassen. In Keiros Erklärungen hatte ein ähnlicher Ton bereits mitgeschwungen, sich jedoch nicht so kristallklar gezeigt, wie jetzt. Das brachte eine positive und eine negative Seite mit sich: Risha würde sich nur schwer davon überzeugen lassen, ihren Vetter nicht an Ort und Stelle umzubringen – aus Wut oder um einem erneuten Konflikt zuvorzukommen, sei dahingestellt. Das – wenn man so wollte – Positive war jedoch, dass sich Bakura nun absolut sicher war, dass Keiro in diesem Moment nicht er selbst war. Irgendetwas beeinflusste ihn, schien regelrecht Besitz von ihm ergriffen zu haben. Auf solch aberwitzige Gedanken kam niemand einfach so. Sein Bruder hatte aber nie zuvor etwas derartiges geäußert. Ja, er war der Ansicht, dass Risha von den Schattentänzern verdorben, manipuliert worden war. Aber die Sache mit dem Fluch war neu, kam aus dem Nichts. Irgendetwas steckte dahinter und er musste herausfinden, was es war. Sein Gefühl sagte ihm, dass hier höhere Mächte am Werk waren. Diese Eingebung war jedoch zu ungenau, um damit arbeiten zu können. Es gab hunderte von Möglichkeiten, einem Menschen den Kopf zu verdrehen, sowohl auf weltlicher, als auch auf magischer Ebene. Er musste seinen Bruder aus der Reserve locken, um herauszubekommen, was ihm zugestoßen war. Nur dann würde sich zeigen, wie man ihn wieder zur Besinnung bringen konnte. Aber wie? Keiro hatte sämtliche Unterredungen mit ihm bislang emotionslos abgetan, sich beständig in die Annahme geflüchtet, Bakura habe nicht die gleichen Verständnissphären erreicht, wie er selbst. Davon würde er wohl auch weiterhin ausgehen. Aber er musste einen Weg finden, ihn irgendwie dazu zu bringen, seinen wahren Antrieb preiszugeben. Er wandte den Blick zu Keiro, der sowohl ihn als auch seine Base bislang schweigend beobachtet hatte. Lediglich die geballten Fäuste an seinen Seiten verrieten, dass es in ihm brodelte. „Ist das, was sie sagt, wahr?“, verlangte der Grabräuber schließlich in beherrschtem Tonfall von ihm zu wissen. Als er hörte, wie Risha bereits Luft holte, um sich einzumischen, warf er ihr einen vielsagenden Blick zu, der sie augenblicklich zum Schweigen brachte. Ein freudloses Glucksen seines Gegenübers ließ seine Aufmerksamkeit zurückschwenken. „Du würdest mir ohnehin nicht glauben, gleich was ich dir antworte.“ Bakura fixierte ihn eisern. „Wenn du mir erzählen willst, dass ein kleines Mädchen für den Massenmord in diesem Dorf die Schuld trägt, weil es verflucht ist, dann hast du wohl Recht. Das nehme ich dir wirklich nicht ab.“ „Sie war nicht irgendein Mädchen“, erwiderte der Andere gelassen, als sei diese Erkenntnis ganz offensichtlich. „Selbst ihre eigenen Eltern haben erkannt, was sie ist – erinnerst du dich nicht an das, was sie sagten, als sie sie Vaters Gnade überließen? Sie haben ihn gewarnt, doch er wollte ebenso wenig hören wie Mutter. Ebenso wenig wie wir. Wir haben uns geirrt, wir alle. Mutter und Vater haben diesen Irrtum mit ihrem Leben bezahlt, Bakura. Wegen ihr sind sie tot. Ich werde nicht zulassen, dass sie und ihre verdorbene Seele noch mehr Menschen ins Verderben stürzen.“ Ein knapper Blick zu Risha verriet dem Grabräuber, dass sie nur schwer an sich halten konnte. Sie lief ob der Worte Gefahr, sich die Unterlippe blutig zu beißen, während sich ihre Finger um den Langdolch krampften. Seine Anschuldigungen mochten noch soweit hergeholt sein, kalt ließen sie sie jedoch nicht. Gleichzeitig bemerkte Bakura, dass sich Keiros Wahn beständig zu steigern schien und immer konkretere Formen annahm. Das zeigte ihm jedoch noch immer nicht, was er sehen wollte. „Man, man, man. Ich glaube, ich muss meine Ansichten über den Pharao wirklich revidieren. Ich dachte ja, der Kerl hätte sie nicht mehr alle. Aber du sprengst alle bekannten Grenzen. Wovon erzählst du mir als nächstes? Dass unser Hund in Wahrheit eine Reinkarnation von Anubis war? Ich muss sagen, du hast eine wirklich blühende Fantasie, Bruderherz. Du solltest dich als Geschichtenerzähler an Men-nefers Hof versuchen – oder wie auch immer Caesian die Stadt nennen wird, wenn ihm keiner das Handwerk legt.“ Er machte eine ausschweifende Geste in Richtung seiner Base. „Sie ist also dein größtes Problem, ja? Wie wäre es, wenn du dich mal unserem eigentlichen Problem zuwendest und die Energie, die du hier nur verschwendest, dafür einsetzt, diesen Irren zu Fall zu bringen?“ „Es sind keine Märchen, die ich erzähle. Es ist die Wahrheit“, entgegnete Keiro. „Sie hat deinen Verstand vernebelt, nicht wahr? Ihr Fluch hat bereits auf dich übergegriffen.“ „… wenn du mir jetzt noch verrätst, wie sie das gemacht haben soll, obwohl sie die letzten Tage verschwunden war, höre ich dir vielleicht weiter zu. Ansonsten wird mir das Ganze allmählich zu blöd, Keiro. Du führst dich auf wie ein kleines Kind, dass sich darüber wundert, dass man seine widersprüchlichen Lügengeschichten nicht glaubt.“ „Es sind keine Lügen.“ „Ach nein? Dir ist klar, worauf die Aussage von Rishas Eltern bezogen war, oder? Warum sie überhaupt hier gelandet ist? Weil sie Cheron in sich trug. Deiner Logik zufolge sind wir also genau so verflucht, wie sie es ist.“ „Vielleicht haben ihre Eltern gedacht, dass dies der Grund sei, ja. Aber hast du schon einmal daran gedacht, dass die Kraft, die sie dazu gebracht hat, ihre eigene Tochter zu verstoßen, viel mächtiger sein könnte? Dass sie nur glaubten, dass dies die Begründung sei, während sie eigentlich tief im Inneren wussten, dass es nicht das ist, was mit ihr falsch ist?“ Keiros Stimme klang allmählich gereizt. Bakura konnte spüren, wie sich etwas veränderte. Aber es ist immer noch nicht genug … „Ganz davon abgesehen, Bruder, schließe ich nicht aus, dass sie unseren Geist verpestet hat. Wir haben lange genug in ihrer unmittelbaren Nähe gelebt. Vielleicht ist dabei tatsächlich ein Teil des Fluchs auf uns übergegangen – nur ein weiterer Grund, warum sie sterben muss, denn erst dann können wir alle wieder rein werden.“ „Bei den Göttern, halt dein Maul!“, schrie Risha dazwischen. „Ich bin nicht verflucht, kapier’ das endlich! Ich habe nichts mit dem Unglück, das dieses Dorf ereilt hat, zu tun!“ Bakura jedoch beherrschte sich, ruhig zu bleiben. „Du verrennst dich in wirre Ausreden. Nichts von dem, was du sagst, passt zusammen. Erst ist Risha schuld, dann ist sie eigentlich gar nicht selbst schuld, weil ein Fluch auf ihr lastet, von dem ihre Eltern wussten, obgleich sie nicht davon wussten. Hörst du dir überhaupt selbst zu? Also so wird das nichts mit dem Geschichtenerzähler, Keiro.“ „Du nimmst es nicht ernst – sie wird die Welt in den Abgrund reißen und du schreibst mir den Wahnsinn zu?“ … zu ruhig. Er ist zu ruhig. Wie nur soll ich ihn dazu bringen, Farbe zu bekennen? Die Gedanken des Grabräubers rasten, suchten nach einer Lösung. Dann fiel ihm plötzlich eine Möglichkeit ein. Ein gewagter Schritt, der ihm nicht leicht über die Lippen kommen würde, doch es half alles nichts. Sie werden es mir verzeihen, wenn ich ihn dadurch zur Besinnung bringen kann. „Jep. Genau das tue ich. Und soll ich dir sagen, was ich noch von dir denke?“ Bakura trat einen Schritt nach vorne, um sich die ungeteilte Aufmerksamkeit seines Gegenübers zu sichern. Wenn es nicht klappte, ihn damit aus der Reserve zu locken, wusste er auch nicht. „Ich denke, Keiro, dass sich unsere Eltern in ihrem Grabe umdrehen würden, könnten sie sehen, was aus dir geworden ist. Das glaube ich!“ Vollkommen perplex richtete Risha ihren Blick in Bakuras Richtung. Der fixierte weiterhin seinen Bruder, dessen teilnahmslose Miene schlagartig fiel. Seine Augen weiteten sich, er grub die Finger in die Handflächen, bis Blut zu Boden tropfte. Langsam begann er zu zittern. „Was hast du soeben gesagt?“, zischte er drohend. Eine unwirkliche Kälte schien sich um sie herum auszubreiten. „Irgendetwas stimmt hier nicht …“, murmelte Risha, während sie einige Schritte zurückwich. „Hast du das also auch endlich gemerkt?“, knurrte Bakura zurück, der Keiro nicht aus den Augen ließ. Atemu gelang es in letzter Sekunde, sich beiseite zu werfen. Mit einem Grollen krachten Slifers mächtige Kiefer in den Sand und verfehlten ihr Ziel. Der Pharao versuchte mit aller ihm verbliebenen Kraft, die Barriere zu brechen, die sich zwischen ihn und das Monster geschoben hatte. Doch das Unterfangen blieb fruchtlos. „Slifer, du darfst ihm nicht gehorchen! Er ist nicht dein Herr! Das Relikt trübt deine Sinne!“ Der gewaltige Drache richtete sich auf. Atemu sah das Leuchten, dass sich in seinem oberen Maul sammelte und nahm die Beine in die Hand. Er schaffte es gerade noch hinter eine Düne, ehe die Attacke auf ihn niederging. Der Wall aus Sand bremste den Angriff zwar aus, schleuderte jedoch sowohl die unzähligen Sandkörner als auch den ägyptischen Regenten durch die Luft. Unsanft landete er ein Stück weiter im Staubmeer. „Obelisk! Ra!“, versuchte er, zumindest die anderen beiden Kreaturen zu befehligen, doch diese waren noch zu erschöpft von der Auseinandersetzung mit den göttlichen Relikten. Slifer hatte vermutlich aus dem Amulett der Bastet neue Kraft geschöpft – oder der Bann war so stark, dass er gehorchen musste, gleich wie ausgelaugt er war. „Lauf, Pharao, so lange du noch kannst!“, rief Caesian ihm amüsiert zu. „Das hättest du von Anfang an tun sollen! Aber was rede ich denn da? Du hast in diesem Krieg bislang ja nichts anderes getan, als vor mir zu flüchten – vergeblich zu flüchten!“ „Es ist noch nicht vorbei!“, hielt Atemu trotzig dagegen, auch wenn er tief in seinem Inneren wusste, dass die Worte nicht der Wahrheit entsprachen. Er hatte sich noch nie in seinem Leben so machtlos gefühlt. Bislang hatte er immer ein Ass im Ärmel gehabt, irgendetwas, auf das er in Situationen wie dieser hatte zurückgreifen können. Diesmal war es anders. Er hatte kein Milleniumspuzzle; keine Göttermonster, die noch kampfbereit waren; noch nicht einmal sein Deck besaß er noch. Außer seinem eisernen Willen und seinen bloßen Händen hatte er Caesian absolut nichts mehr entgegen zu setzen. Und nichts davon würde ausreichen, um den Feind zu bezwingen. Schleichend wurde ihm bewusst, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis Slifer einen vernichtenden Treffer landete und ihn auslöschte. Yugi … Freunde … Gefährten … ich habe versagt. Der rote Drache schnellte abermals nach vorne, direkt auf Atemu zu. Der hechtete zur Seite, war diesmal jedoch nicht schnell genug. Slifers Kiefer schlossen sich um das Bein des Pharao und rissen ihn in die Höhe. Während er vor Schmerzen schrie, schleuderte das Monster ihn von sich. Unsanft landete er ihn einer Düne. Irgendwo in seinem linken Oberkörper brachen Rippen. Die Pein betäubte ihn, versuchte, sich seines Verstandes zu bemächtigen. Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen, gleich der dunklen Bälle, die über der Wüste schwebten. Er fühlte, wie sich die Ohnmacht näherte, drängte sie allerdings mit letzten Kräften zurück und setzte sich, so gut es ging, auf. Sein Unterschenkel blutete, war jedoch nicht so schlimm verletzt, wie es sich anfühlte. Scheinbar war sein Bein zwischen zwei von Slifers gewaltigen Reißzähnen geraten und somit nicht zwischen Ober- und Unterkiefer zermalmt worden. Er versuchte, aufzustehen, sackte jedoch augenblicklich mit schmerzverzerrtem Gesicht zurück in den Staub. Sobald er das Bein auch nur im Geringsten belastete, gab es nach, während ein gleißender Schmerz seinen gesamten Körper durchzuckte. Nur am Rande seiner Wahrnehmung realisierte er, wie sich Slifer zu einem letzten Angriff vor ihm aufbäumte. Es ist aus … Er konnte weder fliehen noch sich dem Feind entgegenstellen. Selbst das Zurückrufen der anderen Göttermonster gab ihm nicht genug Kraft, als dass er hätte aufstehen können. Er war Caesians Willen und dem nächsten Angriff des Himmelsdrachen wehrlos ausgeliefert. „Wirklich schade“, hörte er die Stimme des Gegners wie durch einen Schleier. „Ich muss sagen, deine Kreatur gefällt mir. Ein Jammer, dass ich sie nicht werde behalten können. Aber wie dem auch sei – es wird Zeit, dieses Trauerspiel zu beenden.“ Er riss das Amulett in die Höhe. „Slifer! Töte den Pharao!“ Der Drache stieß ein Brüllen aus, ehe er begann, Energie in seinem Maul zu sammeln. Slifer, bitte! Du darfst ihm nicht folgen! Er wird uns beide vernichten! Doch auch dieser letzte Gedankenruf des Pharao blieb unerhört. Der Himmelsdrache vollendete die Energiekugel, bereit, sie gegen den eigenen Träger zu senden. Es war soweit. Dies war der Moment, in dem er sterben würde. Der Lichtblitz verließ die Fänge des Monsters und hielt auf Atemu zu. Er konnte die Hitze bereits spüren, wappnete sich für den kommenden Schmerz – Als plötzlich ein Feuerball den Kopf des Monsters traf und ihn zur Seite warf, sodass der Angriff den Pharao um wenige handbreit verfehlte. Von der Kraft der daraus resultierenden Explosion wurde er mitgerissen und einige Fuß weit durch den Sand geworfen. Der Schmerz in seiner Seite und dem Bein flammte erneut auf, benebelte ihn abermals. Was er jedoch sofort realisierte, war, dass er noch lebte. So schnell er konnte, rappelte er sich in eine sitzende Position auf. Slifer war brüllend in den Himmel gestiegen, wo er kommende Befehle abzuwarten schien. Diese ließen jedoch auf sich warten. Als Atemu Caesian erblickte, musste er feststellen, dass dieser ebenso wie das Göttermonster eine Kreatur fixierte, die sich in einiger Entfernung über dem Wüstensand erhob. Dabei handelte es sich um einen metallenen Phönix, dessen Panzerung silbrig-weiß schimmerte. Rote und orangene Ornamente zierten den Körper und die vier Schwingen des Wesens. Ein Schweif, besetzt mit drei langen Dornen, peitschte angriffslustig durch die Luft. Die bernsteinfarbenen Augen waren auf Caesian gerichtet. Ich habe dieses Monster noch nie gesehen … zu wem gehört es? Sein Blick wanderte wieder zu seinem Opponenten – und diesmal sah er einen Ausdruck auf dessen Gesichtszügen, den er bislang noch kein einziges Mal erblickt hatte. Die Augen des Tyrannen waren vor Schreck geweitet, während sie unablässig das metallene Ungeheuer fixierten. Nur langsam senkte er den Blick wieder auf Höhe des Horizonts hinab, wo eine verhüllte Gestalt bedächtig über den Wüstensand hinweg auf ihn zuschritt. Atemu erkannte sie nicht. Gehört das Wesen zu ihm? Wer ist er? Und weshalb hat er eingegriffen? Er beobachtete weiterhin den überrumpelt wirkenden Caesian. Fürchtet er sich etwa vor dem Mann? Trotz der göttlichen Relikte? Der Pharao wurde plötzlich aus seinen Überlegungen gerissen, als er Finger auf seiner Schulter spürte. Ruckartig fuhr er herum, bereit, sich nach Möglichkeit zu verteidigen. Er hielt jedoch ebenso rasch inne, als er gewahrte, wer da vor ihm im Staub hockte. „Kisara?“ Die Weißhaarige hatte ein leichtes Lächeln auf den Lippen und nickte. „Ja, ich bin es wirklich. Caesian hat nicht gelogen, als er behauptete, mich zurückgeholt zu haben.“ „Aber was tust du hier? Wie kommst du hierher? Wir dachten, er hielte dich in Men-nefer gefangen!“ „Das hat er. Doch Taisan hat mich befreit.“ Sie wandte den Blick ab und ließ ihn zur der unbekannten, vermummten Person hinüber schweifen. Atemu folgte ihrem Blick. „Dieser Mann heißt also Taisan? Wer ist er?“ „Er ist Caesians Bruder“, erklärte Kisara, ohne den verblüfften Blick des Regenten zu erwidern. „Und der Einzige, der ihn jetzt noch aufhalten kann.“ Ryou und Tristan hatten soeben die nächste Falle ausgelöst und hasteten nun weiter in Richtung Nil. Dort befand sich die letzte, die auf ihrem Weg errichtet worden war. Anschließend würden sie sich den übrigen Feinden mit ihren Kas entgegen stellen müssen. Die Bilanz war bislang jedoch schlechter, als erhofft. Noch immer zeichnete sich keine eindeutige Schwächung der gegnerischen Reihen ab. Es schien, als würden die Truppen aus einer nimmer versiegenden Quelle gespeist werden. „Es hört einfach nicht auf“, japste Ryou, während er versuchte, sich die aufkeimende Müdigkeit nicht anmerken zu lassen. Immer wieder warf er einen besorgten Blick zu Shiruba, der ob seiner verwundeten Tatze nicht mehr so wendig und schnell war wie zuvor. „Wir werden das schon schaffen. Nur nicht aufgeben!“, entgegnete Tristan. „Irgendwann muss auch bei denen mal Feierabend sein.“ „Das schon … aber es ist wohl eher die Frage, wer zuerst in den Feierabend geht – wir oder sie.“ „Lass den Kopf nicht hängen. Wir haben soviel getan, es muss einfach alles klappen.“ „Tristan! Ryou!“ Die beiden richteten den Blick nach vorne und sahen ein Stück weiter entlang des Weges Yugi auf sie warten. Sobald sie ihn erreicht hatten, schloss er sich ihnen an und rannte an ihrer Seite weiter. „Yugi, was gibt‘s?“ „Hör zu, wir brauchen Qi und dich unbedingt dort, wo wir die Relikte gelagert haben. Es eilt – Caesians Ka-Bestie lässt die Anderen überhaupt nicht zum Zug kommen und lange werden sie sich nicht mehr halten können. Qi ist das einzige Monster, das etwas gegen dieses Ding ausrichten kann. Ich nehme deinen Platz hier ein, dann kannst du …“ „Leute, wartet mal!“, riss sie Ryous Stimme auf der Unterredung. „Bleibt stehen!“ „Nein, nicht stehenbleiben, wir müssen weiter!“, erwiderte Tristan bissig. „Doch! Seht doch nur! Wir werden nicht mehr verfolgt!“ Schlitternd kamen Yugi und Tristan zum Stehen und wandten sich um. Ihr Kumpane hatte Recht – die feindlichen Truppen verfolgten sie nicht länger. Stattdessen waren sie ein Stück von ihnen entfernt geschlossen in eine Seitengasse abgebogen, in der sich keine Barriere befand. Noch immer ergoss sich der Strom aus Soldaten dort hinein. „Was soll das? Wo wollen sie hin?“, äußerte Tristan verwundert. „Verdammt“, rief Yugi aus. „Sie wollen zum Versteck der Relikte!“ „Wieso das denn auf einmal?“, entgegnete der Braunhaarige verwirrt. „Ganz einfach – von je mehr Seiten die Verteidiger angegriffen werden, desto schneller werden sie in die Knie gezwungen. Caesian geht es nicht um Theben, sondern ausschließlich um die Relikte. Riell und Seto können es unmöglich mit dieser Ka-Bestie und einem Heer aufnehmen“, überlegte Ryou laut. „Wir müssen sofort zurück und sie unterstützen wo wir können! Los, lasst uns keine Zeit verlieren!“, forderte Yugi seine Gefährten auf. Gemeinsam setzten sie sich in Bewegung, eine Gasse hinab, die parallel zu jener verlief, die die gegnerischen Soldaten genommen haben. Atemu … bitte, beeil dich!, bat der Kleinste von ihnen dabei in Gedanken. Der Pharao spürte deutlich, wie die Barriere zwischen ihm und Slifer an Kraft verlor. Schließlich war er gar in der Lage, den Drachen zurückzurufen ohne, dass Caesian davon Notiz zu nehmen schien. Seine Züge waren noch immer wie versteinert. Was tat Taisan hier? Warum war er gekommen? Aus dem Augenwinkel warf er einen Blick zu der weißhaarigen Frau, die neben dem ägyptischen Regenten kauerte. Sie hat ihm erzählt, was hier vor sich geht … die spärlichen Hintergründe, die sie kannte, haben genügt, um sein Misstrauen zu wecken … Dafür wird sie sterben, beschloss er für sich, ehe er seine volle Aufmerksamkeit wieder dem zuwandte, der ihm gegenüberstand. Er wird mich hassen, für das, was ich vorhabe. Das darf nicht sein. Er muss verstehen, weshalb ich all dies tue. Es ist nötig, es muss sein. „Bruder“, adressierte ihn Taisan plötzlich, kam jedoch nicht mehr näher. Sein Ka schwebte nach wie vor drohend über ihm. „Was tust du hier? Was ist es, das du im Begriff bist, anzurichten?“ Caesian wusste zunächst nicht, wie er darauf reagieren sollte. Anklage schwang im Ton des Anderen mit. Doch er hatte in all den Jahren, die er ihm sein wahres Vorhaben verheimlicht hatte, gelernt von jetzt auf gleich passende Antworten auf die Bedenken Taisans zu finden. „Es freut mich, dich zu sehen, auch wenn mich dein Erscheinen überrascht. Was bringt dich zu mir?“ „Ich habe dir eine Frage gestellt.“ Nach Nettigkeiten war ihm eindeutig nicht zumute, das realisierte der Ältere sofort. Scheinbar war ein Umstand eingetreten, der selten vorkam: Sein Bruder war wütend. Doch weshalb? Was hatte ihm dieses Waschweib erzählt? Und noch viel wichtiger: Warum glaubte er ihr? „Ich bin dabei, die Schlange ihres Kopfes zu berauben, Taisan. Dies“, entgegnete er mit einer Geste in Atemus Richtung, „ist der Pharao, der drohte, Ägypten in den Abgrund zu stürzen. Doch ich habe es so gut wie gereinigt. Alles, was noch getan werden muss, ist ihn zu seinen Göttern zu schicken, auf dass sie über seine Seele urteilen mögen.“ „Das ist nicht wahr!“, mischte sich augenblicklich Kisara ein. „Sowohl Atemu als auch Sethos sind gütige und rechtschaffene Herrscher!“ Caesian ließ ein Schmunzeln auf seinen Lippen spielen. „Ist es das, was dich durcheinander gebracht hat, Bruder? Ihre wirren, verblendeten Aussagen? Sie ist eine Hexe, ebenso durchtrieben wie jene, denen sie dient. Nicht ein Wort, das aus ihrem Munde kommt, entspricht der Wahrheit. Aber du wirst selbst wissen, dass man jemandem, der nachweislich eine Beziehung zu den in Frage stehenden Personen hat, nicht blind trauen darf.“ „Das tue ich“, war die knappe Antwort. „Was tust du dann hier, Taisan? Weshalb bringst du dich aufgrund der Worte eines ägyptischen Weibes in Gefahr?“ Er bemühte sich, möglichst verletzt und zugleich vorwurfsvoll zu klingen. „Weil sie nicht die Einzige ist, die mir eine andere Form der Ereignisse vor Augen hielt.“ Caesian kam nicht umhin, die Stirn in Falten zu legen. „Nein? Gleich wie viele Ägypter du fragst, sie alle werden dir dasselbe sagen. Sie sind eingeschüchtert, kennen nichts anderes mehr als ein Leben in Knechtschaft. Sie fürchten um ihr Leben, sollten sie ihn verraten!“ „Dafür haben sie gar keinen Anlass“, rief Atemu dazwischen. „Das ägyptische Volk lebte in Frieden und Gerechtigkeit unter der Herrschaft meines Vetters, bis ihr aufgetaucht seid und unsere Heimat in Chaos stürztet!“ „Hörst du das? Wahrscheinlich kam die Lüge bereits so oft über seine Lippen, dass sogar er selbst daran glaubt. Man versucht dich gegen mich aufzubringen, Taisan, siehst du das denn nicht? Kehre zurück nach Men-nefer und wir werden all dies besprechen, sobald ich zurück bin.“ „Nein“, war die kurze, aber umso entschlossenere Antwort. „Ich werde nicht gehen und dich weiterhin walten lassen, wie es dir beliebt.“ „Was ist in dich gefahren, Bruder? Bist du so leicht zu blenden?“ „Ich fürchte, das bin ich. Doch waren es jene aus den eigenen Reihen, deren Lügen ich aufgesessen bin. Du hast Recht, das Mädchen ist eine meiner Quellen, die andere jedoch ist nicht ägyptischen Ursprungs.“ Die Falten auf Caesians Stirn wurden tiefer. „Was soll das heißen? Wer hat dir noch solche Märchen erzählt?“ „Märchen? Du möchtest mir sagen, dass selbst dein treuer Gefolgsmann Gladius sich in eine Lügenkonstruktion verrannt hat?“ Das Blut in den Adern des Älteren schien zu erstarren. Gladius … Gladius, dieser erbärmliche Schweinehund! „Das Weib hat ihn wahrscheinlich verhext, Taisan – oder er hat mich verraten, um uns gegeneinander aufzubringen!“ „Sie hat keinen Bann auf ihn gelegt. Das hätte ich gespürt. Und Gladius wäre zu solcher einer Intrige nicht fähig. Alles, worauf sein Wesen fußt, sind die Furcht vor dem Stärkeren und die Geringschätzung, die er für jene von niederem Rang übrig hat. Er hätte es niemals gewagt, einen Mann gegen sich aufzubringen, der die göttlichen Relikte führt. Davon abgesehen scheinst du vergessen zu haben, dass ich Dinge zu sehen vermag, die anderen verborgen bleiben, Bruder. Die Seele dieser Frau ist rein und auch Gladius log nicht, als ich ihm befahl, mir die Wahrheit zu sagen. Ich habe es in ihren Augen gesehen – sie sprachen wahre Worte und enttarnten die Lüge, die du mir Mondläufe lang vorgegaukelt hast.“ Caesians Hände begannen kaum merklich zu zittern. Wie sollte er jetzt verfahren? Sollte er weiterhin versuchen, Taisan davon zu überzeugen, dass man ihm Lügen aufgetischt hatte? Oder sollte er die Flucht nach vorne wagen, in der Hoffnung, dass sein Bruder ihn endlich verstand? Beides konnte fehlschlagen. Doch er musste es wenigstens versuchen. „Ich habe all das nur für dich getan, Taisan. Sieh dir unsere Heimat an! Sie ist verdorben, dem Verfall hingegeben. Sie kann nicht gerettet werden. Seit du klein warst, hast du immerzu von einer gerechten, friedlichen Welt, einem blühenden Paradies geträumt – vielmehr noch, du hast fest an die Existenz eines solchen Ortes geglaubt. Ganz gleich was das Schicksal dir entgegenwarf, du hast niemals daran gezweifelt, diese Welt irgendwann zu finden. Doch du irrst dich. Sie existiert nicht – noch nicht. Doch ich werde ihr Schöpfer sein und sie dir zum Geschenk machen. Ich werde sie hervorbringen, damit du endlich das Paradies, nach dem du trachtest, mit eigenen Augen sehen kannst, Taisan!“ Für eine Weile lag Schweigen über der Wüste. Atemu hatte den Blick auf Caesian gerichtet. Das waren also seine Beweggründe? Er wollte einen Ort schaffen, nach dem sich sein Bruder bereits lange Zeit sehnte? Es entschuldigte nichts von dem, das er Ägypten und seinem Volk angetan hatte, doch es setzte die Sache in ein gänzlich anderes Licht. Nach wie vor waren seine Taten größenwahnsinnig, doch zugleich schienen sie der Verzweiflung einer armen, verlorenen Seele entsprungen zu sein. Er musste unwillkürlich an Dartz zurückdenken, schalt sich aber sofort für den Vergleich. Dartz war besessen. Er ist es nicht. Oder etwa doch? War er vielleicht von dem Wunsch besessen, die Träume seines Bruders zu erfüllen? „Du hast dich in eine Illusion verrannt, Bruder“, entgegnete Taisan schließlich, was Caesian einen bestürzten Gesichtsausdruck zeigen ließ. „Ja, ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass diese Welt eines Tages zu dem Paradies werden möge, von dem ich träume. Doch das wird wahrscheinlich niemals passieren.“ Er fixierte den anderen unerbittlich, während er weitersprach. „Die Welt, Caesian, ist nicht perfekt. Alles, was wir tun können ist, unseren Teil dazu zu leisten, dass sie beständig besser wird. Doch selbst in tausenden Sonnenläufen wird sie niemals einen Zustand der Perfektion erreicht haben. Sie wandelt sich stetig, die Definition eines vollkommenen Zustandes ist dadurch unmöglich. Wir alle können nur hoffen, dass das, was wir als perfekt erachten auch wahrlich vollkommen ist. Ja, ich träume von einem Paradies, das auf Frieden, Gerechtigkeit und Ordnung fußt – doch es sind zu viele Kräfte im Spiel, als dass es so einfach errichtet werden könnte. Diese Welt, von der ich träume, kann nicht gemacht werden, Caesian. Sie muss aus sich heraus entstehen.“ Schließlich richteten sich Taisans Augen auf Theben. „Deine Motive mögen dich ehren, Bruder. Doch sieh, was du getan hast. Du hast Menschen getötet, hast ihnen ihre Heimat genommen und zerstört, was sie über hunderte, tausende von Zyklen erbaut haben. Du hast ihre Götter, ihre höchste Instanz verhöhnt und dir unterworfen. Einen von ihnen kostete dein Tun gar das Leben. Sieh dich um. All diese schwarzen Gespinste, die durch die Wüste tanzen, sind Tränen dieser Welt, die an deinem Handeln und Denken beinahe zugrunde gegangen wäre. Man kann Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden nicht auf unschuldig vergossenem Blut errichten.“ „Nein, du irrst dich! Dieses Paradies kann Wirklichkeit werden. Mithilfe der göttlichen Relikte wird es mir gelingen, es endlich wahr werden zu lassen! Du wirst sehen, Taisan, es wird so sein! Und nicht nur diese neue Welt werde ich für dich erschaffen – ich werde dich auf von dem Übel heilen, das durch deine Adern fließt! Du wirst gesund werden, ein vollkommenes Leben ohne Schmerz und Pein führen können. Wir beide werden alt und grau werden und dann unseren Enkeln und Urenkeln dabei zusehen, wie sie durch gewaltige Gärten tollen. Doch dafür muss ich das hier zu einem Ende bringen, verstehst du nicht?“ Atemu warf einen Seitenblick zu Kisara, die den Wortwechsel ebenso angespannte verfolgte, wie er selbst. „Woran leidet er?“ Die junge Frau schüttelte knapp den Kopf. „Ich weiß es nicht genau. Aber es scheint seinen Körper bei lebendigem Leibe zu zersetzen. Deshalb trägt er auch diese Maske auf dem Gesicht.“ Atemu biss sich auf die Unterlippe. Es entschuldigt nichts … und dennoch komme ich nicht umhin, zumindest im Ansatz zu verstehen, was Caesian zu seinem abscheulichen Handeln trieb. Taisans Blick glitt langsam wieder zu seinem Bruder zurück. Er sah ihn entschlossen an. Doch da war noch etwas. Eine Kälte, eine Abscheu, die er so noch nie im Augenlicht des anderen wahrgenommen hatte. „Nein“, sprach der Verhüllte schließlich. „Du wirst nichts beenden, Caesian. Ich werde es tun. Gib auf und verlasse Ägypten. Setze niemals wieder einen Fuß auf die Dünen dieses Landes, Bruder, auf dass sich seine geschundene Seele von den Qualen, die du über es gebracht hast, erholen kann. Gib die Männer frei, denen du den Eintritt in das nächste Leben verwehrst und gewähre denen freies Geleit, die zu verängstigt sind, um es selbst von dir zu verlangen. Gehe fort und lass mich zurück, auf dass ich sehe, ob ich die Wunden salben kann, die du verursacht hast.“ Er schloss kurz die Augen, um sie daraufhin nur entschlossener wieder zu öffnen. „Du magst mein Bruder sein, Caesian, doch ich kann nicht länger zusehen – und ich kenne dich zu gut, als dass ich glauben könnte, freundliche Bitten brächten mich an dieser Stelle weiter. Du wirst das, was du Errungenschaft schimpfst, nicht so einfach aufgeben. Daher ist dies deine einzige Warnung. Wende dich von dem Pfad ab, den du eingeschlagen hast oder ich werde gezwungen sein, dich mit Gewalt dazu zu bringen.“ Kapitel 68: Brüder - Teil I --------------------------- Brüder – Teil I Die Kälte, die von Keiro ausging, schien um sich zu greifen, ihre Leiber zu durchdringen und die Schatten tiefer werden zu lassen. Bakura konnte nicht verhindern, dass ihm ein Schauer durch den Körper lief. Eine Gänsehaut bildete sich auf seinen Armen. Irgendetwas muss sich in ihm festgesetzt haben … Magie? Keiro war, soweit er wusste, nicht magisch begabt. Sicher, er trug eine Ka-Bestie, aber das war auch schon alles. Es floss kein magisches Blut in seiner Familie, darauf vertraute er. Doch wie hatte sich sein Bruder dann derartige Fähigkeiten angeeignet? Und warum hat er sie bislang nicht benutzt? Es wäre ihm, sollte ich mich irren, ein Leichtes gewesen, mich außer Gefecht zu setzen. Und das, ohne mir großen Schaden zufügen zu müssen. Ein Bann hätte genügt. Dann hätte er schalten und walten können, wie er wollte … Es sei denn … Was, wenn sich Keiro der Mächte, die in ihm ruhten, nicht bewusst war? Wenn sie ihn ereilt hatten, ohne, dass er sich der Veränderung bewusst wäre? Es wäre denkbar, dass er die Zeichen zunächst nicht erkannte hatte oder für Hirngespinste hielt. Dann fiel es ihm etwas ein, dass die Wandlung zu erklären vermochte. Er war bei Caesian. Was, wenn er die Relikte gegen Keiro verwendet hat, um ihn gegen uns aufzuhetzen? Sein Wille mag stark sein, doch einer göttlichen Macht könnte er sich niemals widersetzen. Keiner von uns könnte das. Er biss sich auf die Unterlippe. Es scheint, als seist es du, Keiro, auf dem ein Fluch lastet. „Hör auf mit dem Unsinn und reiß dich zusammen!“, rief er seinem Gegenüber zu, der noch immer am ganzen Leib zitterte und dessen Nägel sich weiter und weiter in die Handflächen gruben. „Das bist nicht du, Keiro! Irgendetwas hat Caesian mit dir gemacht! Du bist es, dem ein Fluch auferlegt wurde und dem man die Sinne verblendete. Kämpf‘ dagegen an!“ „Dieser unfähige Tor hat damit nichts zu tun!“, presste sein Bruder hervor. Risha warf dem Grabräuber einen knappen Blick zu. „Du glaubst, die Relikte sind im Spiel?“ „Fällt dir sonst eine Erklärung ein?“, gab der zurück. „Ich dachte, du wärst eine von denen, die so viel über die Relikte wissen – sag du mir, ob es möglich ist.“ „Ihr Narren!“, mischte sich Keiro plötzlich mit einem manischen Lachen ein. „Dieser Sohn eines Schakals hat keinerlei Anteil an dem, was ihr vor euch seht! Nicht durch ihn erhielt ich die Klarheit, die Erkenntnis! Es waren die Götter selbst, die sie mir gaben! Sie schenkten mir ihre Berührung, wollten mich umfangen, mich erhöhen – und ich erlaubte es!“ „Was soll das jetzt wieder heißen?“, äußerte Risha. „Er muss irgendeinem Relikt zu nahe gekommen sein. Eine andere Erklärung gibt es nicht“, schlussfolgerte Bakura. „Ich fasse es nicht!“, rief Keiro aus. „Seid ihr taub, blind und dumm, dass es euch entgangen ist? Oder einfach nur verblendet? Die Götter sind zu uns herabgestiegen! Sie stehen uns in den dunkelsten Stunden bei, indem sie unter uns wandeln! Sie sind zum Greifen nah und doch vermögen nur die Sehenden in ihrem Glanz zu baden, während der Tölpel sie fürchtet!“ Bakura fiel es wie Schuppen von den Augen. „Die dunklen Kugeln in der Wüste – du bist mit einer davon in Berührung gekommen!“ Risha warf ihm nur einen ungläubigen Blick zu, während Keiro wieder schallend lachte. „Ich bin gesegnet, denn ich empfing ihr Geschenk! Ihre Macht!“ „Wenn es stimmt, was du sagst“, entgegnete die Schattentänzerin, „dann hat er damit einen Teil der dunkelsten Abgründe der Götter in sich aufgenommen.“ Und es könnte erklären, weshalb er plötzlich mit Blutmagie umzugehen weiß … Wie dem Bannsymbol, das er an mir angebracht hat, schoss es ihr durch den Kopf. „Es ist mehr, als der einfache Verstand eines Menschen verkraften kann.“ „… wie wir eindeutig vor uns sehen. Bleibt nur die Frage, wie wir es rückgängig machen“, ergänzte Bakura. „Hast du mir nicht zugehört? Es ist zu viel für ihn! Sein Verstand ist überlastet und zerbricht nach und nach unter dem Gewicht. Selbst, wenn wir ihn irgendwie davon befreien könnten, wären die bereits entstandenen Schäden nicht rückgängig zu machen“, entgegnete Risha. „Woher willst du das wissen? Ist es schon einmal passiert, dass jemand mit diesen Dingern in Kontakt kam?“, konterte der Grabräuber. „Nicht, dass wir wüssten, aber …“ „Das genügt mir. Wir werden es versuchen.“ „Ich glaube es einfach nicht!“, riss sie Keiros ungläubiger Ausruf aus der Diskussion. „Ihr seid blind, so blind! Stets seht ihr nur das Negative! Aber was wunder ich mich – so wart ihr ja schon immer!“ „Wenn du mir jetzt nicht erklären würdest, welche positiven Seiten deine Wandlung hat – abgesehen von der proklamierten ‚Klarheit‘, die sich in meinen Ohren mehr nach einem Wahn anhört?“, schoss Bakura zurück. Keiro verfiel in ein aufgeregtes Kichern. „Das, mein lieber Bruder, werde ich dir gerne demonstrieren!“ Im nächsten Augenblick ging eine Druckwelle von ihm aus, die sowohl den Grabräuber als auch die Schattentänzerin von den Füßen holte. Anschließend erfasste sie Cheron und warf ihn in die Ruinen eines Gebäudes, bevor sie Shadara und Diabound erreichte. Beide wurden durch die Luft geschleudert, wobei Bakuras Monster den Halt verlor und den Zerberus nicht länger fixieren konnte. Kaum, da die Druckwelle vergangen war, nutzte das dreiköpfige Biest die Gelegenheit und stürzte sich mit neu entfachter Wut auf die andere Kreatur. Einer der Köpfe bekam Diabound an der rechten Schulter zu fassen, ein weiterer verbiss sich auf der gleichen Körperseite in den Flügel. Augenblicklich schoss der Schweif des Angegriffenen nach oben und wollte sich des Angreifers entledigen – ehe dies jedoch geschehen konnte, zuckte der dritte Schädel Shadaras nach vorne und packte die Kobra unterhalb des Kiefers. Zwar blieb Bakuras Ka somit eine Klaue, mit der er angreifen konnte, doch er hatte nach wie vor die Anweisung, seinen Gegner nicht entscheidend zu verwunden. Dadurch vermochte er kaum etwas zu tun. Er versuchte, den mittleren Kopf von sich zu schieben, die Kiefer gaben jedoch nicht nach. Stattdessen bohrten sie sich zur Antwort tiefer in das Fleisch Diabounds. Der Grabräuber vermochte nur mit Mühe, den Schmerz zu unterdrücken, der durch die Verbindung auf seinen Körper übergriff. Cheron und seine Trägerin waren in der Zwischenzeit wieder auf die Beine gekommen. Nachdem sich Risha einen kurzen Überblick über die Situation verschafft hatte, entschied sie sich, dass ein Ringen der drei Ka-Bestien keine Erfolge erzielen würde. Wir müssen uns eingestehen, dass wir gegen Shadara in dieser Form nicht bestehen werden … also müssen wir das Übel an der Wurzel packen – gleich, was Bakura davon hält. Ich werde nicht sterben, damit Keiro leben kann. Auf einen stummen Befehl hin wirbelte der Pegasus herum und galoppierte auf Keiro zu, das Maul mit den Fängen aufgerissen und bereit, zu zu schnappen. Doch auch dieser Zug brachte lediglich ein irres Grinsen auf die Züge des Attackierten. „Glaubst du wirklich, ich bin so einfach zu bezwingen?“, rief er dem Monster zu, das unbeirrt auf ihn zu stürmte. Gerade, als Cheron zu einem Sprung ansetzte, um sich auf den Menschen zu werfen, schoss plötzlich Sand in die Höhe und umschloss Rishas Vetter in einem reißenden Strom. Das Maul des Pegasus bekam somit lediglich Staub zu fassen. Röchelnd und von den unzähligen Körnern geblendet, stolperte Cheron rückwärts. Derweil stellte Shadara seine Pranke auf Diabounds Arm, um ihn weiterhin fixiert zu halten. So konnte er die Kiefer des mittleren Kopfes lange genug aus dem Fleisch lösen, um einen Feuerball abzugeben. Das Geschoss zischte über den Köpfen von Grabräuber und Schattentänzerin dahin und traf den Pegasus mittig in den Rücken, sodass er zur Seite gefegt wurde. Risha ging stöhnend in die Knie, während der Geruch von verbranntem Fell in der Luft lag. „Findest du es nicht feige, deinen Ka die Sache ausbaden zu lassen, Risha? Wenn du mein Leben unbedingt haben willst, Base, dann hole es dir selbst – und ertrage die Konsequenzen!“, forderte Keiro seine Opponentin auf, sobald sich der Sand wieder gelegt hatte. Nach dem soeben vereitelten Angriff genügten derlei Worte, um sie zu reizen. „Ganz wie du willst!“, zischte sie, umklammerte den einen Langdolch fester und riss zugleich den zweiten aus der Scheide. „Risha, nicht!“, brüllte Bakura sie noch an, doch da war sie bereits aufgesprungen. Bald hatte sie die wenigen Fuß, die sie trennten, überwunden und ging auf Keiro los. Während die eine Waffe gegen seine Körpermitte gerichtete war, galt der zweite Schlag seinem Hals. Ihr Gegner riss plötzlich eine längere, gekrümmte Klinge unter seinem Mantel hervor. Er parierte zunächst den Schlag, den Risha gegen seine Kehle führte und fälschte durch das dabei entstehende Momentum auch die zweite Schneide ab. Anschließend schlug er ihre zweite Waffe nach unten weg, drehte sich einmal um die eigene Achse und versuchte seinerseits ihre Schulter zu treffen. Der Schattentänzerin gelang es jedoch im letzten Augenblick, sich unter dem Hieb weg zu ducken. Dabei ließ sie sich seitlich fallen und nutzte ihren entlasteten Fuß, um ihm die Beine weg zu ziehen. Mit einem überraschten Laut ging Keiro zu Boden. Binnen eines Wimpernschlags war Risha über ihm, wirbelte die Langdolche herum und ließ sie nach unten sausen, bereit, sie in seinem Leib zu stoßen. Der Zug endete abrupt. Keiros freie Hand schoss nach oben und umfasste ihre beiden Handgelenke. Augenblick erlahmte ihre Bewegung – er war zu stark, sie zu erschöpft. Er hielt die beiden Waffen, die etwa drei Hand breit über seiner Brust schwebten, problemlos auf Abstand. Es half auch nichts, dass sie ihr gesamtes Gewicht in den Schlag gelegt hatte. Vor Anstrengung zitternd versuchte sie, die Klingen dennoch in seinen Leib gleiten zu lassen. Bald musste sie jedoch einsehen, dass es vergebens war. Als sie zurückspringen wollte, hielt sein eiserner Griff ebenfalls stand und ließ sie nicht mehr los. Keiro schenkte ihr ein kaltes Lächeln. „Wohin des Weges? Noch bin ich nicht mit dir fertig, Risha.“ Die Schattentänzerin sah es noch im Augenwinkel blitzen, dann schoss ein gleißender Schmerz unterhalb ihrer Hüfte durch den Oberschenkel. Während ein gellender Schrei ihrer Kehle entfloh, wurde sie von Keiro nach hinten gestoßen. Ihr Leib glitt von der Waffe, die sich in das Fleisch gebohrt und eine klaffende Wunde hinterlassen hatte. Es kostete sie alle verbliebene Beherrschung, sich aus dem Fall heraus abzurollen und auf einem Knie zu landen, anstatt einfach rücklings in den Staub zu plumpsen. Tränen rannen ihr vor Schmerz über die Wangen, während sie eine Hand auf die Wunde presste, ohne den Dolch dabei los zu lassen. Sofort fühlte sie ihr warmes Blut aus der Verletzung rinnen. Viel Zeit um den Treffer zu verkraften, blieb ihr jedoch nicht. Keiro rappelte sich in der Zwischenzeit gemütlich auf. An seinem Gewand haftete Blut. Ihr Blut. Er drehte den Krummsäbel locker in der Hand, während er feixend näher kam. Durch einen flüchtigen Blick zur Seite bekam Risha mit, wie sich Cheron mit den Hufen scharrend darauf vorbereitete, ihren Opponenten erneut anzugreifen. „Lass es!“, rief sie dem Ka zu. „Kümmere dich um Shadara!“ In einer Sache hat Keiro recht – das ist nicht sein Kampf. Es ist meiner. Und ich werde ihn zu Ende bringen. Pochend schien sich der Schmerz der Verletzung mit jedem Herzschlag weiter in ihren Körper auszubreiten. Irgendwie … „Das ist nicht klug von dir, weißt du? Nicht, dass es etwas am Ausgang des heutigen Tages ändern würde, aber du hast Hilfe bitter nötig, werte Base“, stichelte ihr Gegenüber derweil. Während sie kurz abgelenkt war, hatte er sich ihr weiter genähert, als ihr lieb war. Einen Laut unterdrückend kam sie auf die Beine und versuchte, Abstand zwischen sich und ihren Widersacher zu bringen. Bakura versuchte derweil einen Ausweg für Diabound zu finden. Inzwischen hatte er die Verbindung zwischen sich und der Ka-Bestie soweit unterdrückt, dass deren Schmerzempfinden nicht ungefiltert in seinen Körper floss. Wir brauchen unsere Monster. Ohne sie können wir das hier nicht schaffen. Seine Gedanken arbeiteten auf Hochtouren. Rishas Ansatz war nicht schlecht … Ein Monster muss sich Keiro widmen und eines muss Shadara beschäftigt halten … Aber wie kriege ich Diabound aus den Fängen dieses Scheusals? Er ballte die Hände zu Fäusten, als eine erneute Welle aus Schmerz bis zu ihm durchdrang. Diabound wurde langsam aber stetig schwächer. Ein knapper Blick wanderte erst dorthin, wo seine Kreatur zu Boden gepresst wurde, dann zu Risha, die von Keiro so eben in die Ecke getrieben wurde. Es geht nicht anders … Diabound, du musst dich befreien – unter allen Umständen! Der Befehl war kaum gegeben, da sackte die freie Pranke des Kas kraftlos zu Boden. Für einen Moment lang herrschte in Bakura helle Aufregung – bis er bemerkte, dass es noch nicht so schlecht um seinen Seelenzwilling stand, dass er würde aufgeben müssen. Eine Finte. Im nächsten Moment schoss eben dieselbe Klaue plötzlich nach oben und bohrte sich in die Augen des mittleren Zerberusschädels. Mit einem kreischenden Schrei, wie ihn der Grabräuber noch nie vernommen hatte, zog das Wesen die dolchartigen Zähne aus dem Fleisch des geflügelten Ungeheuers und machte einen Satz zurück. Der betroffene Kopf schwankte wild hin und her. Eine Vorderpfote fuhr immer wieder über die zerstörten Augen, ganz so, als könnten sie auf diese Weise geheilt werden. Das Blut des Ungetüms tränkte das Fell. Den Moment des Aufruhrs nutzte Diabound, um sich in den Himmel zu schwingen, und somit außerhalb der Reichweite des gegnerischen Kas zu gelangen. Ein knapper Schrei in seinem Rücken verriet ihm, dass die Pein des Zerberus bei Keiro angelangt war. Als Bakura sich umwandte, sah er Cheron an sich vorüber preschen. Dem Befehl seiner Trägerin folgend warf er sich auf die angeschlagene, hundeähnliche Kreatur. Währenddessen setzte Risha zu einer erneuten Attacke gegen ihren Vetter an. „Ich verfluchten Maden!“, brüllte Keiro und fing sich gerade noch rechtzeitig, um die überkreuzten Dolche seiner Base zu blocken. „Dafür werdet ihr büßen!“ Er stieß seine Gegnerin von sich und holte direkt zu einem Schlag gegen sie aus, dem sie nur knapp entgehen konnte. Ihr verletztes Bein schränkte ihre Bewegungen ein. Nach einem weiteren Angriff Keiros wich sie zurück und stolperte dabei. Bakura schnappte sich den Langdolch, den sein Bruder bei der anfänglichen Rangelei verloren hatte, und stürmte seinen Verwandten entgegen. Gerade noch rechtzeitig erreichte er die beiden, um Keiros Waffe mit einem Hieb abzufälschen. So sauste sie in den Stein neben Rishas Kopf, anstatt ihr Haupt zu durchbohren. Noch aus der Bewegung heraus wirbelte Keiro herum und führte den nächsten Schlag gegen den Grabräuber. Der fing den Angriff mit der kurzen Parierstange seiner eigenen Waffe ab. „Du nimmst sie tatsächlich in Schutz!“, lachte Keiro verächtlich. Purer Hass stand auf seinen Zügen geschrieben. „Das wirst du bereuen, Bakura! Niemand stellt sich zwischen mich und meine Beute!“ Er entfesselte eine erneute Druckwelle, sodass der Grabräuber ebenso von den Füßen geholt wurde, wie seine Base, die sich gerade erst aufgerichtet hatte. Während Risha mit dem Kopf voran auf den Boden schlug und benommen liegen blieb, landete Bakura unglücklich auf seiner linken Körperseite. Er vernahm ein leises Knacken, als Rippenbögen von unbestimmter Anzahl brachen. Ein heißer Schmerz schoss durch seinen Brustkorb. Für einige Augenblicke fühlte es sich an, als bekäme er keine Luft mehr. Nur mühsam gelang es ihm, sich auf die Knie zu stemmen. Erst, als er beim Husten kein Blut spuckte, war er sicher, sich nicht die Lunge punktiert zu haben. Ein kurzer Rundumblick verriet ihm, dass Cheron und Diabound gemeinsam auf Shadara eindrangen, während Risha scheinbar orientierungslos versuchte, auf die Beine zu kommen. Blut rann ihre linke Gesichtshälfte in einem breiten Streifen hinab. Keiro unterdessen hatte für den Moment von ihr abgelassen und hielt auf seinen Bruder zu, den Krummsäbel fest umklammert. Eilig tastete Bakura um sich, um seine eigene Waffen zu ergreifen, bekam sie jedoch nicht zu fassen. Hektisch sah er sich um, nur um festzustellen, dass er den Langdolch nicht finden konnte. Verfluchter Dreck! Diabound erkannte die Gefahr, stieß den linken Schädel Shadaras von sich und wollte seinem Träger zur Hilfe eilen. Weit kam er jedoch nicht. Als Keiro erkannte, was das Monster vor hatte, sandte er eine erneute Druckwelle aus, die das Ungetüm aus der Luft holte und mit Wucht in Cheron hinein rasseln ließ. Beide Bestien krachten in einem Gewirr aus Gliedmaßen und Flügeln in eine Ruine, wo sie im Staub verschwanden. Bakura fluchte erneut und grub die Finger in den Sand. Das darf nicht wahr sein! Gleich was wir tun und wie wir es tun, wir kommen nicht vorwärts! Shadara müsste bei seinen Verletzungen ein leichter Gegner für unsere Monster sein, doch es scheint, als nähme seine Stärke mit jeder Verletzung zu, anstatt zu schwinden. Selbiges gilt für Keiro. Er verliert keine Kraft, gleich was wir ihm entgegensetzen! Den Plan, eine Kreatur gegen seinen Bruder und eine gegen dessen Monster zu hetzen, konnte er nun vergessen. Sie konnten froh sein, wenn ihre Bestien überhaupt noch einmal aufstanden. Bislang war es weder Diabound noch Cheron gelungen. Wenn Bakura den Gefühlen trauen konnte, die über die Verbindung gegen seine Seele brandeten, würde es vermutlich auch dabei bleiben. Seine Bestie war beinahe am Ende ihrer Kräfte angekommen, die Verletzungen einfach zu groß. Nur mit Mühe vermochte das Wesen noch, sich zu materialisieren. Was sollen wir bloß … Er konnte den Gedanken nicht zu Ende führen. Ein Tritt in die unversehrte Seite drehte ihn auf den Rücken. Über ihm stand Keiro. Angespannte Stille lag über der Wüste, während die dunklen Gespinste um sie herum tanzten. Atemu hielt sich bereit, seine verbliebenen Kraftreserven in einer letzten Attacke zu bündeln, sollte sich der Tyrann nicht erweichen lassen. Vorerst hoffte er allerdings darauf, dass Taisan in der Lage sein würde, seinen Bruder zum Umdenken zu bewegen. Gewiss, der Gedanke, Caesian einfach so ziehen zu lassen, als sei nichts gewesen, behagte ihm nicht. Er hatte eine Strafe für all das verdient, was er Ägypten und seinen Bewohnern angetan hatte, gehörte dafür zur Verantwortung gezogen. Und dennoch – ein Teil von ihm wäre selbst darüber froh, wenn er einfach gehen und nie wieder in das Land des Nils zurückkehren würde. Zumal er bedenken musste, dass er etwas derartiges nicht verhindern konnte, wenn sich die Brüder einig wurden. Er war zu schwach, um Caesians Kopf einzufordern und sich mit ihm sowie Taisan anzulegen. Irgendetwas sagte Atemu, dass Letzterer nicht parteilos bleiben würde, sähe er sein Fleisch und Blut in Gefahr – gleich, was der Ältere angerichtet hatte. Doch was, wenn es dem Maskierten nicht gelang, und der Okkupator an seiner Herrschaft über Ägypten festhielt? Was würde sein Bruder dann tun? „Glaubst du, er würde sich Caesian wirklich in den Weg stellen?“, äußerte er seine Bedenken schließlich an Kisara gewandt. Die biss sich auf die Unterlippe. „Ich weiß es nicht, mein Pharao. Sie sind Brüder … und doch scheint Taisan ein empfindliches Gespür für Gerechtigkeit zu haben. Er macht auf mich nicht den Eindruck, als ließe er Dinge wie die, die Caesian plant, einfach tatenlos geschehen.“ „Darauf können wir nur hoffen …“ In einigen Schritt Entfernung standen sich die Geschwister noch immer gegenüber. Als von dem Älteren auch nach längerer Zeit keine Antwort kam, legte Taisan den Kopf leicht schief. „Wie lautet nun deine Entscheidung, Bruder?“, fragte er. „Sie ist nicht schwer. Es gibt nur eine richtige Wahl.“ „Du irrst“, gab sein Gegenüber knapp zurück. „Denn du stellst mich vor eine harte Wahl – entweder ich zerstöre deinen Traum, der bereits Formen angenommen hat, oder ich gestalte ihn zu Ende, wenn auch gegen deinen Willen. Denn vielleicht wirst du erst später die Herrlichkeit daran erkennen – ebenso wie du eventuell einsehen wirst, dass dir all dies zusteht! Du warst schon immer zu gut für diese Welt, Taisan. Du hast immer nur gegeben und diese Welt hat dir gnadenlos alles aus der Hand gerissen, was du ihr angeboten hast, ohne dir jemals etwas zurückzugeben! Es wird Zeit, dass du dir einmal etwas nimmst!“ „Ich will Ägypten nichts nehmen, denn nichts in diesem Land gehört mir.“ „Aber es könnte dir gehören! Es könnte zu dem Paradies werden, das wir uns immer erträumt haben!“ „Und zu welchem Preis, Caesian? Ich will kein Paradies, das auf Blut und Tyrannei errichtet wurde – gleich, welche verkehrten noblen Absichten dahinter stecken mögen. Und gleich, wer es ist, der es mir gibt.“ Taisan schüttelte den Kopf. „Erkennst du denn nicht deine Fehler? Du hast unrecht gehandelt. Die Schuld, die du auf dich geladen hast, ist unmöglich zu begleichen. Und indem du sie für mich auf dich genommen hast, hast du sie auch auf meine Schultern geladen.“ „Das ist nicht wahr! Ich habe es getan und werde eines Tages die Konsequenzen dafür tragen! Nicht du! Ich bin dazu bereit!“ „So funktioniert es nicht, Caesian. Du tatest all dies in meinem Namen, um meinetwillen. Ich trage ebenso Schuld am Schicksal dieses Landes, wie du, denn ich war der Grund für dein Handeln.“ „Taisan, nein …“ „Doch, Bruder. So ist es. Mache die Schuld nicht noch größer, als sie ohnehin schon ist. Lade nicht noch weitere Tode auf unser beider Schultern. Rufe deine Soldaten zurück, geh fort und versuche zu verstehen, was du getan hast. Lass mich die Zeit, die mir noch bleibt, damit verbringen, so viel zu heilen, wie ich vermag. Das ist mein Wunsch, Caesian, und nichts anderes. Ich will kein Königreich. Ich will kein Paradies. Alles was ich will – und immer wollte – ist Frieden. Kein Blutvergießen, keine Machtkämpfe. Doch nun sind wir beide damit beladen. Wir beide waten im Blut, das du aus falsch verstandener Liebe heraus vergossen hast.“ Taisan löste sich von seinem Platz und schritt auf Caesian zu, der das Zepter des Seth nur noch lose in der Rechten hielt. Als er ihn erreicht hatte, legte er seinem Bruder eine Hand auf die Schulter. „Lass es nicht noch mehr werden, als es ohnehin schon ist. Ich bitte dich, beende diese Tragödie. Hier und jetzt.“ Für einige Wimpernschläge sahen sich beide einfach nur an, ehe der Ältere mit gebrochener Stimme wieder das Wort ergriff. „Ich wollte doch nur …“ „Ich weiß. Doch es war falsch. Und das, Bruder, müssen wir beide akzeptieren.“ Caesian presste die Lippen aufeinander, nickte jedoch schwach. „Dein Wille geschehe“, erwiderte er erstickt und rammte das Zepter des Seth in den Boden. Atemu traute seinen Augen nicht. Es ist vorbei … einfach so … All dieser Wahnsinn, das Unheil, gestoppt von einem einzigen Mann. Ohne einen Kampf, ohne die Anwendung von Gewalt. Er schluckte. Wäre er doch nur früher … „Pharao!“ Kaum, dass Kisara seinen Namen gerufen hatte, stieß sie ihn zur Seite, gerade noch rechtzeitig, um einer schwarzen Kugel zu entgehen, die nun an ihnen vorbei rauschte. Mit unglaublicher Geschwindigkeit schoss das Gespinst dahin – und direkt auf Caesian zu. Diesem gelang es gerade noch, Taisan von sich zu stoßen, dann wurde er von dem Gebilde getroffen. Augenblick umschloss die Schwärze den Mann, schien durch seine Haut in den Körper einzudringen. Ein markerschütternder Schrei drang aus seiner Kehle, während er seinen Kopf umklammerte, als drohe er zu platzen. Taisan stand regungslos daneben, schockiert von dem, was sich vor ihm abspielte. Plötzlich stach seine Ka-Bestie vom Himmel herab, umschloss ihn mit einem klauenbewehrten Fuß und zog ihn außer Reichweite seines Bruders. Erst in gebührendem Abstand setzte das Monster seinen Träger auf die Erde zurück. Hilflos mussten er, Kisara und der Pharao mit ansehen, wie Caesian mit der Finsternis rang, die sich einen Weg in sein Herz, seine Seele fraß. Yugi und seine Begleiter erreichten den Vorplatz des Gebäudes, in dem sie die Relikte verborgen hatten – und das gerade zum rechten Zeitpunkt. Anwaar und der weiße Drachen waren sichtlich angeschlagen, ebenso die Feuerprinzessin. Während die Kreaturen als zahlreichen Verletzungen bluteten, hatten auch ihre Träger den einen oder anderen Schlag einstecken müssen. Gerade Seto und Riell machten den Eindruck, als fiele es ihnen schwer, sich auf den Beinen zu halten. Der Chaosmagier, Qi und Shiruba zögerten nicht lange und warfen sich ebenfalls in den Kampf gegen Caesians Ka. Yugi, Ryou und Tristan eilten derweil zu ihren Mitstreitern. „Ein Glück das ihr hier seid“, wurden sie erleichtert von Tea begrüßt. „Wir haben Verstärkung bitter nötig.“ „Was tut ihr hier?“, wurden sie jedoch von Seto angefahren, Verwundungen hin oder her. „Ihr solltet auf euren Wegen bleiben!“ „Da waren wir auch – bis uns plötzlich niemand mehr folgte und sie Soldaten allesamt abgedreht sind. Sie halten jetzt genau auf diesen Platz zu“, entgegnete Tristan knapp. In den blauen Augen des Hohepriesters blitzte es. „Er will die Relikt um jeden Preis.“ „Es scheint so. Und wir werden das um jeden Preis verhindern“, gab Yugi zurück, der den Kampf beobachtete, der vor ihnen auf dem Platz tobte. Kaum, da Qi eingetroffen war, hatte die Auseinandersetzung an Einseitigkeit verloren. Die Kreatur war wie schon bei ihrem letzten Zusammentreffen in der Lage, Caesians Bestie Parole zu bieten. „Das ist gut“, kommentierte Ryou die Geschehnisse. „Riell, Seto und Tea können etwas zurückstecken, während sich Tristans Monster um den Gegner kümmert und wir die Soldaten im Schach halten, sobald sie eintreffen“, meinte er an Yugi gewandt. „Prinzipiell stimme ich dir zu – aber wir beide alleine werden mit unseren Kreaturen nicht lange gegen die Masse bestehen, die auf dem Weg hierher ist“, erwiderte der Kleinere. „Zumal dieses Ding sich zwar hauptsächlich, aber nicht ausschließlich auf Qi konzentriert. Wir müssen weiterhin zwei Fronten im Auge behalten, wenn wir nicht wollen, dass unsere Kas einen Überraschungsangriff einstecken müssen.“ Die über das Krachen von ausgetauschten Attacken hinweg lauter werdenden Geräusche aus zwei Seitengassen verrieten ihnen, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis eine erste Welle von Soldaten auf den Platz schwappte. Aufgeregte Rufe, die aus einer anderen Richtung an ihr Ohr drangen, ließen Ryou und Yugi schlagartig herumfahren. Ihnen eilte der Rest ihrer Verbündeten entgehen. Außer Atem kamen sie bald bei ihnen an. „Die Soldaten“, japste Mana, „sie kommen hierher.“ „Unsere ebenfalls. Von einem Augenblick auf den nächsten sind sie plötzlich abgebogen. Von da an hielten sie zielstrebig auf den Platz zu“, erklärte Marik. Auch Duke und Joey gaben eine ähnliche Schilderung wieder. „Dann erging es euch genau so wie uns“, entgegnete Yugi. „Sieht aus, als will Caesian diesen Krieg zu einer Entscheidung bringen.“ „Die kann er haben“, erwiderte Marlic mit geballert Faust. „Wenn er glaubt, sein Schoßhündchen von einer Ka-Bestie kommt an uns vorbei, so hat er sich geirrt.“ „Der Ka ist gar nicht unser Hauptproblem“, warf Ryou ein. „Sieh selbst – Qi hält ihn ganz gut in Schach. Er versucht zwar noch ab und an, auch unsere Monster anzugreifen, aber am meisten hat er mit Tristans‘ zu tun. Die Menge an Soldaten wird eher ein Problem.“ „Folgender Vorschlag“, verschaffte sich Mana Gehör. „Darla und ich werden Qi dabei unterstützen, dieses Biest in die Knie zu zwingen. Unsere magischen Fähigkeiten können vielleicht diesmal etwas ausrichten, wenn es geschwächt sein sollte. Der Rest verfährt wie folgt: Die Träger behalten Caesians Monster im Auge, während sich ihre Wesen den Soldaten widmen. Wenn ihr merkt, dass das Ding einen Angriff auf eine andere Zwillingsseele als Darla oder Qi unternimmt, warnt ihr eure Kreaturen. Alle einverstanden?“ Allgemeines Nicken folgte. Marlic musste schmunzeln. „Wusste gar nicht, dass du so gebieterisch drauf sein kannst, Püppchen.“ „Das ist noch gar nichts“, erwiderte sich mit einem kurzen Zwinkern, dann wandte sie sich dem Vorplatz und den darauf kämpfenden Monstren zu. Sie wartete auf eine günstige Gelegenheit, um Darla ins Gefecht zu schicken. Samiras Blick schweifte kurz zwischen Mana und Marlic hin und her, dann rempelte sie Letzteren mit dem Ellenbogen an. Der sah sie nur mit hochgezogener Augenbraue an. „Ja?“ Die Rothaarige schüttelte den Kopf. „Die gehört zum Königshaus. Die passt nicht zu dir.“ Der Angesprochene konnte gerade noch verhindern, dass seine Gesichtszüge entgleisten. Was hatte die Kleine gerade gemutmaßt? Und was war das für ein Unterton gewesen? Sie klang beinahe beleidigt! Ehe er jedoch zu einer passenden Erwiderung ansetzen oder sich weitere Gedanken machen konnte, brachen aus sämtlichen Seitengassen die vordersten Reihen der Soldaten Caesians hervor. Binnen kürzester Zeit schob sich eine Wand aus gerüsteten Leibern auf sie zu. „Dann zeigen wir den Kerlen mal, was eine Harke ist!“, rief Joey über das Getöse hinweg, während sich der Schwarze Rotaugendrache brüllend in den Himmel erhob. Die Verletzung an seiner Schulter hatte er in der Zwischenzeit notdürftig mit einem Fetzen seines Untergewandes verbunden. Gerade, als die Ka-Bestien jedoch zu einem ersten Schlag ausholen wollten, gellte ein kreischender Schrei über den Vorplatz, der sowohl Angreifer als auch Verteidiger innehalten ließ. Nach kurzem Suchen stellten sie fest, dass die unnatürlichen Laute von Caesians Monster kamen, das sich wie toll gebärdete. Unter seltsamsten Verrenkungen schwebte es über ihnen, huschte mal hier hin, mal dort hin. „Habt ihr es etwa erledigt?“, rief Duke hoffnungsvoll. „Nein. Wir haben nichts gemacht“, gab Mana zur Antwort. „Vielleicht ist es Atemu gelungen, Caesian in die Knie zu zwingen!“, meinte Tristan begeistert. „Ich fürchte, das ist nicht der Fall. Denn ansonsten wären die untoten Soldaten nicht mehr auf den Beinen und endlich ins Jenseits eingegangen“, erklärte Riell. „Aber was …“ Noch ehe Tea ihre Frage formulieren konnte, flackerte die Erscheinung des Monsters, bis es plötzlich verschwand. Zunächst herrschte Ratlosigkeit auf beiden Seiten, die von Caesians Untergebenen jedoch bald überwunden wurde. Was auch immer mit der Kreatur geschehen war – solange sich niemand sicher war, dass ihr Herr verloren hatte, würden sie weiterkämpfen, aus Angst vor den Konsequenzen. Einen gemeinsamen Schlachtruf ausstoßend stoben sie voran. Die Finsternis, die von Caesian ausging, war deutlich zu spüren. Atemu war schon häufig mit der Dunkelheit in Kontakt gekommen, doch in solcher Stärke hatte er sie bislang nie erlebt. Sie brandete in regelrechten Wellen gegen ihn, brachte ihn zum Frösteln und schien die Schatten unter dem bewölkten Firmament regelrecht lebendig werden zu lassen. Der Wind frischte auf und erreichte binnen kürzester Zeit die Stärke eines Sturms, sodass er und Kisara sich hinter eine Düne kauern mussten. „Was geschieht mit ihm?“, rief die Weißhaarige über die tosenden Böen hinweg. „Ich weiß es nicht. Diese Dinger sind aufgetaucht, nachdem er abermals die Relikte benutzt hatte. Ich vermute, dass es sich dabei um eine der Auswirkungen handelt, vor der uns die Schattentänzer gewarnt haben. Es kann also nichts Gutes sein. Die Finsternis, die von ihm ausgeht, ist gewaltig.“ Atemus Kiefer mahlten aufeinander, während er überlegte. Was immer gerade mit ihm geschieht, er verändert sich. Die Finsternis scheint von ihm Besitz ergreifen zu wollen. Ich darf das nicht zulassen. Wenn es dazu kommt und er die Relikte nochmals einsetzt, könnte alles vorbei sein. Ich muss handeln. Jetzt! Ohne Vorwarnung sprang er auf und bündelte seine verbliebenen Kräfte. Ich habe euch schon viel abverlangt … aber bitte, schenkt mir eure Unterstützung noch dieses eine Mal. Es muss gelingen! „Slifer, erscheine!“ Er musste die Fingernägel in die Handballen pressen, um nicht zu schreien, als sich das Monster ein weiteres Mal materialisierte. Die Erschöpfung drohte übermächtig zu werden, die erlittenen Verletzungen protestierten gegen die erneute Belastung seines Körpers, seine Seele schien in Flammen zu stehen. Doch sein Wille war stärker. So erschien der sichtlich angeschlagene Drache kreischend am Himmel. Atemu zögerte keine Sekunde. „Vernichte ihn!“ Eine gewaltige Energiekugel formte sich im unteren Kiefer des Ungetüms. Noch während sich die Attacke aufbaute, erschien plötzlich Caesians Monster über ihm, das eine ebenso verkrampfte, gepeinigte Körperhaltung aufwies, wie sein Träger. Beide schienen ungeahnte Qualen zu erleiden. Dann löste sich Slifers Lichtblitz und schoss dorthin, wo der Okkupator noch immer gegen die Mächte ankämpfte, die sich seines Körpers und Geistes bemächtigen wollten. Rasch näherte sie sich ihrem Ziel, weiter und weiter … Da verließen plötzlich zahllose schwarze Kugeln ihre bisherigen tänzelnden Bahnen und schossen ebenfalls auf Caesian zu. Einer Wand gleich formierten sie sich um ihn. Seine Schreie wurden lauter, animalisch, vermischten sich mit den unnatürlichen Lauten seines Kas. Dann traf der Lichtblitz. Funken sprühend und die Wüste in grelles Licht tauchend zerbarst der Angriff. Atemu war gezwungen, die Hand schützend vor das Gesicht zu halten, um keine bleibenden Schäden an den Augen davon zu tragen. Als das Glühen nachließ, ruckte sein Kopf nach oben. Die Kugeln waren verschwunden – doch Caesian blieb. Aufrecht, das Zepter des Seth erneut in den Händen, stand er da, während sich eine bestialische Kreatur über ihm erhob. Das Ungetüm mutete wie ein grotesker Skorpion an. Die ledrige, graue Haut spannte sich über eine Vorderkörper und einen zweigeteilten Hinterleib, der in einen gewaltigen Stachel mündete. Acht spinnenartige Beine und zwei gigantische Scheren ragten aus den Seiten hervor. Der Kopf schien eine Mischung aus menschlichem Gesicht und den Zügen eines Skorpions zu sein, was der Kreatur etwas abstoßendes verlieh. Atemu schüttelte ungläubig den Kopf. Ich war bereits zu spät … Um Caesian selbst hatte sich eine Aura aus reiner Finsternis gelegt, die regelrecht um sich greifen zu schien. Atemu hätte schwören können, dass das Blut in seinen Adern an Temperatur verlor, je länger er in der Nähe des Anderen weilte. Die tiefschwarzen Augenhöhlen des Okkupators richteten den Blick langsam auf den Pharao, dann schließlich auf Taisan. Ein blutrünstiges Grinsen schlich sich auf seine Züge. Als er den Mund öffnete, drang eine Stimme aus seiner Kehle, die nicht von dieser Welt zu sein schien. „Zeit zu sterben.“ Kapitel 69: Brüder - Teil II ---------------------------- Brüder – Teil II „Du bist ganz schön lästig, hat dir das schon einmal jemand gesagt?“ Keiros Blick war kalt. Den Krummsäbel in der Hand, stand er über Bakura und betrachtete ihn abschätzend. „Da wärst du nicht der Erste“, presste der Grabräuber hervor, dessen eine Hand auf der Seite mit den gebrochenen Rippen ruhte. Ein abfälliger Laut war die Antwort. „Dein Mundwerk ist scheinbar ebenso schwierig tot zu kriegen, wie du selbst. Aber das ist jetzt vorbei.“ Keiro beugte sich herab, ergriff den Mantel seines Bruders auf Schulterhöhe und zerrte ihn auf die Beine. Bakura taumelte mehr, als dass er lief, unfähig, sich des Griffs zu entwenden. Der Andere führte ihn dorthin, wo Risha lag. Sie hatte es nicht mehr geschafft sich zu erheben. Einige Schritte weit von ihr entfernt, wurde der Grabräuber schließlich wieder zu Boden gestoßen. „Das hätten wir … bleibt nur die Frage, wen von euch beiden ich zuerst töte.“ Ein flüchtiger Blick über die Schulter verriet Bakura, dass Cheron verschwunden war. Offenbar hatte sich der Pegasus nicht länger halten können. Diabound lag noch immer schwer atmend im Sand, während Shadara lauernd um ihn herumschlich. Keiro bückte sie abermals und las einen kleinen, flachen Stein auf. Auf eine Seite ritzte er ein Kreuz, die andere ließ er, wie sie war. „Die Einkerbung steht für dich, die andere Fläche für sie“, erklärte er seinem Bruder. „Mal sehen, wer von euch beiden dem Anderen beim Sterben zuschauen darf.“ Er warf den Stein senkrecht in die Höhe, wo er sich ein paar Mal um die eigene Achse drehte. Dann wurde er von der Schwerkraft wieder nach unten gezogen. Keiro fing ihn auf und legte ihn auf seinen Handrücken. „Dann wollen wir mal …“ Er zog die Finger zurück und ein zufriedener Ausdruck spielte auf seinen Zügen. „Tja, Bruderherz. Sieht so aus als seien dir noch ein paar Atemzüge mehr vergönnt. Bei Risha gestaltet sich die Sache allerdings anders.“ Er wirbelte den Krummsäbel locker in der Rechten, während er sich in Bewegung setzte und die wenigen Schritt überwand, die ihn von seiner Base trennten. Die war zwar am Ende ihrer Kräfte, der Ohnmacht jedoch noch nicht anheim gefallen. In einem letzten Aufbäumen stemmte sie sich auf die Unterarme und sah zu ihrem Vetter auf, der feixend auf sie herab schaute. „Lass Bakura da raus“, versuchte sie an den Anderen zu appellieren. „Alles, was du wolltest, bin ich. Jetzt hast du mich. Sei damit zufrieden und lass ihn gehen.“ Die Aussage wurde mit einem Glucksen quittiert. „Was soll das nun wieder? Wir wissen beide, dass dir niemand etwas bedeutet – außer du selbst.“ Er trat ihr in die Seite, wie er es zuvor schon bei dem Grabräuber getan hatte, um sie auf den Rücken zu drehen. Dann begab er sich neben sie auf ein Knie. „Nach all der Zeit ist es endlich soweit“, sinnierte er. „Möge Ammit dein Herz verschlingen!“ Der Säbel ruckte nach oben, ehe er niedersauste. Er traf sein Ziel jedoch nicht sofort. So schwach sie auch war, Risha war zu stur, um ihren Tod einfach so zu akzeptieren. Sie packte den Waffenarm mit beiden Händen und versuchte, ihn von sich zu schieben. Es fiel ihr allerdings sichtlich schwer. Mit jedem Wimpernschlag senkte sich das Metall weiter ihrem Hals entgegen. „Du zögerst es nur hinaus – ändern wirst du nichts!“, zischte Keiro über ihr, während er sein ganzes Gewicht auf den Arm mit der Waffe verlagerte. Für Bakura war in diesem Moment klar, dass sein Bruder nicht mehr zur Besinnung zu bringen war. Wenn er jetzt nicht handelte, dann würde wenigstens Risha sterben. Er rief Diabound zurück, um so zumindest einen verschwindend geringen Teil seiner Kräfte zurückzubekommen. Dieser reichte gerade aus, damit sich der Grabräuber auf die Beine stemmen konnte. Dann rannte er vorwärts, warf sich gegen Keiro und riss ihn somit von seiner Base herunter. Kaum, da beide im Staub gelandet waren, verpasste ihm sein Bruder einen Kinnhaken und stieß ihn von sich. Benommen fiel Bakura zur Seite. Die Rippen protestierten unter der Belastung, der sie ausgesetzt waren. Eine heiße Schmerzwelle rollte durch seinen Körper, Sterne tanzten vor seinen Augen. Er versuchte noch immer, sich zu orientieren, als plötzlich ein Fuß gegen seine Brust gestellt wurde und ihn zu Boden drückte. „Dass du einfach nicht erkennst, wann es vorbei ist“, murmelte Keiro verächtlich, während er sich herunter beugte. Er packte den Grabräuber an den Haaren und zog seinen Kopf nach hinten, sodass die Kehle schutzlos dalag. „Aber solltest du unbedingt darauf bestehen, zuerst zu sterben, erfülle ich dir diesen Wunsch natürlich gerne – alles für mein liebes Brüderchen.“ „Fahr zur Hölle!“, gab Bakura unbeirrt zurück. Er hatte keine Angst vor dem Tod, denn er hatte ihn schon einmal erlebt. Zu sterben war längst nicht so schlimm, wie wenigstens im 21. Jahrhundert häufig geglaubt wurde. Die Schmerzen der hiesigen Welt hatten dort keine Bedeutung, vergingen in dem erlösenden Licht, das die befreiten Seelen umfing. Alles, was einen auf der anderen Seite erwartete, waren Ruhe und Frieden. Selbst sein Geist, so aufgewühlt und von Hass erfüllt er auch war, hatte dort endlich angefangen, sich von den Qualen dieser Welt zu erholen. Deshalb hatte er die Götter anfangs dafür verflucht, dass sie ihn zurückgeholt hatten. Sein Plan, seine Aufgabe – sie waren gescheitert. Nichts war davon übrig geblieben. Es gab nichts mehr, das ihn noch im Diesseits gehalten hätte. Er hatte geglaubt nie mehr zurückkehren zu müssen, endlich seinen Frieden in der Unterwelt gefunden zu haben. Und dennoch weigerte sich alles in ihm, jetzt wieder dorthin gehen. Es fühlte sich falsch an, zu verschwinden, kaum da er zurückgekehrt war. Hatte er nach der Niederlage gegen den Pharao geglaubt, sein Leben hätte keinen Sinn mehr, so waren in diesem zweiten Leben sein Trotz und sein Wille erneut erstarkt. Er würde immer einen Weg finden. Vielleicht mochte der neue gänzlich von dem alten abweichen, aber er war überzeugt, dass es noch etwas gab, das das Schicksal für ihn vorhergesehen hatte. Aber vielleicht irre ich mich auch. Vielleicht wurde ich wirklich nur wiedergeboren, um jetzt durch die Hand meines eigenen Bruders zu sterben, schoss der bittere Zweifel durch seine Gedanken. Ehe er jedoch weiter darüber sinnieren konnte, blitzte die Klinge im Sonnenlicht auf und stach hernieder. Es war eine Lüge, dass sich das Leben langsam vor einem abspielte, wenn der Tod nahe war. Er gewährte keinen Aufschub, ereilte seine Opfer erbarmungslos und mit einer Klarheit, die den menschlichen Verstand überforderte. Doch der Schmerz, den er erwartete, blieb aus. Nur wenige Finger breit vor Bakuras Kehle verharrte die Waffe. Keiros Arm zitterte sichtlich, als würde er mit sich ringen, ob er den Schlag nun ausführen sollten oder nicht. Der Grabräuber überwand seine Überraschung zügig und blickte in das Gesicht seines Bruders – nur um auf den Zügen verschiedene Emotionen zu sehen, die miteinander um die Oberhand zu kämpfen schienen. „Ba… kura …“ Dem Angesprochenen wurde schlagartig klar, was hier vor sich ging. Er begehrt gegen die dunklen Mächte auf, die von ihm Besitz ergriffen haben! „Wehre dich dagegen!“, spornte er Keiro an. „Du kannst es schaffen!“ „Nein …“, presste der Andere hervor. „Kann nicht … bestehen … zu mächtig …“ Ein gepeinigter Laut entwich seiner Kehle. „Es zerfrisst mich … meinen Verstand … wird … immer schlimmer … Schmerzen … diese Schmerzen!“ Blut rann zwischen den geschlossenen Augenlidern Keiros hervor und tropfte auf die Brust seines Bruders. Bald ergoss sich der Lebenssaft auch aus seinen Ohren und der Nase sowie dem Mund. „Es bricht mich … damit es mich wieder benutzen kann …“ „Wir werden eine Lösung finden! Wenn wir Caesian besiegt haben, sind uns die Götter etwas schuldig! Sie werden dir helfen!“ „Keine Hilfe … niemand kann helfen … auch keine Götter … es … es sind sie, die mich lenken … ihre … ihre schwarzen Seelen.“ Keiro schrie auf, die Klinge bewegte sich ein gefährliches Stück näher an die Kehle des Grabräubers heran. „Es ist … deine letzte Chance … rette dich!“ „Nein, so läuft das nicht!“ „Es gibt keinen anderen Ausweg!“, schrie Keiro. „Sie haben … ihren Sporn in mein Herz getrieben! Ihre Abgründe … sind nun die meinen, ich kann sie nicht länger zurückhalten … sie werden mich verschlingen! Diese Dunkelheit, ich ertrage sie nicht!“ Ein Keuchen. „Bitte, Bakura – rette euch … und befreie mich!“ „Nein!“, hielt der Angesprochene stur dagegen. „Doch!“, brüllte sein Bruder. „Selbst wenn es einen Weg gibt … sieh mich an … es zerstört meinen Körper, meine Seele … ich werde brechen … es wird mir … seinen Willen aufzuzwingen! Niemand … niemand verwehrt den Göttern eine Seele!“ Keiro packte den Arm, der die Klinge hielt, mit der freien Hand, denn er arbeitete sich stückweise näher an Bakuras Hals heran. „Ich will nicht so enden! Ich will, dass es aufhört!“ Im Kopf des Grabräubers rasten die Gedanken durcheinander, wanderten immer wieder zurück zu dem Tag, als er selbst gestorben war. Ich habe mich damals nicht gegen Zorcs Einfluss wehren können und verlange nun von ihm, dass er sich den Göttern widersetzt … „Verdammt, Risha! Tu du es! Du kannst es!“, schrie Keiro schließlich außer sich, in der Hoffnung, wenigstens sie dazu bewegen zu können. Doch wider jeder Erwartung verharrte sie genau dort, wo sie war. „Tu mir wenigstens diesen einen Gefallen! Nur diesen einen! Ich flehe dich an!“, versuchte er es weiter. Blutige Tränen liefen seine Wangen hinab. Ist es gerecht? Rishas Unterlippe zitterte, während sie langsam den Kopf schüttelte. „Ich kann es nicht“, brachte sie undeutlich und sichtlich um Fassung bemüht hervor. Das, was gerade vor sich ging, überforderte sie. Sie hatte Keiro so lange verachtet, an manchen Tagen gar abgrundtief gehasst. Sie hatte ihm immer wieder gesagt, wie gerne sie ihn töten würde. Sie hatte ihn sogar das eine oder andere Mal angegriffen, um sich und ihn glauben zu machen, dass sie es ernst meinte. Doch in diesem einen Moment erkannte sie, dass dem nie so gewesen war. Ist es gerecht, ihn leiden zu lassen, nur um meine Hände in Unschuld waschen zu können? Keiro wand sich derweil über ihm, schrie weiter auf Risha ein, um sich zum Handeln zu bewegen. Doch die Schattentänzerin verharrte, wo sie war. Ein einziger Blick verriet dem Grabräuber, dass es auch so bleiben würde. Was auch immer sie für ihren Vetter empfunden haben mochte, es war nicht so stark, dass es sie dazu brachte, ihn zu töten. Nicht mehr. „Sie kann es nicht …“, sagte er schließlich zu Keiro. Abgrundtiefe Verzweiflung stand in den Augen geschrieben, die sich auf ihn richteten. Für einen Moment sahen sie sich einfach nur an. „… aber ich kann es.“ Bakuras Hand zuckte nach vorne und verdrehte das Handgelenk seines Bruders, bis er die Waffe freigeben musste. Kaum fiel sie aus seinem Griff, packte er zu und stieß die Klinge bis zum Heft in Keiros Brust, sodass sie am Rücken wieder austrat. Der Grabräuber musste feststellen, dass sich die Zeit nicht verlangsamen mochte, wenn man selbst starb – doch sah man jemanden gehen, der einem nahestand, lag die Sache gänzlich anders. Während er Shadara wie aus weiter Entfernung vor Schmerz brüllen hörte, gab sein Träger keinen einzigen Laut von sich. Nur am Rande realisierte Bakura, wie schwarze Schlieren aus der Wunde aufstiegen, die er seinem eigenen Fleisch und Blut beigebracht hatte. Wie Rauch stoben sie dem Himmel entgegen und verflüchtigten sich im Wind. Keiros Glieder erschlafften eines nach dem anderen. Bald rutschte er zur Seite Weg. So gut es ging, fing der Grabräuber den Fall ab und bettete den Sterbenden neben sich in den Sand. Er strich ihm einige Haarsträhnen aus dem Gesicht, die in die blutigen Augen hingen, und erkannte, dass ein leichtes Lächeln auf den Lippen seines Bruders lag. „Du … hast mich erlöst …“, flüsterte Keiro und legte eine Hand auf Bakuras Unterarm. „Ich habe dich nicht erlöst“, erwiderte der Grabräuber tonlos. „Ich habe dich getötet.“ „Was diesmal ein … und dasselbe ist.“ Er hustete. „Es tut mir leid … ich …“ Keiros Worte versiegten, ehe er sie vollenden konnte. Seine Augen brachen, während er ein letztes Mal nach Luft schnappte, die schließlich in einem einzigen Zug aus seinen Lungen strömte. Der Kopf kippte zur Seite weg. Seine Finger glitten von Bakuras Arm. Rishas von Tränen verschleierter Blick wanderte dorthin, wo Shadara lag. Die Augen des Zerberus waren bereits ohne jeglichen Glanz, als sein Körper begann, sich aufzulösen. Funken stoben, als der Leib nach und nach in winzige Partikel zerfiel, die von einer Brise davon getragen wurden. Keiner von ihnen war in der Lage, sich zu bewegen oder auch nur ein einziges Geräusch von sich zu geben. Still verharrten sie beide. Das Säuseln des Windes was das einzige Geräusch, das an ihre Ohren drang, brach sich an den zerstörten Fassaden des Ortes, in dem sie herangewachsen waren – und an dem goldenen Speer, der zwischen den frischen Trümmern im Staub lag. „Was ist mit ihm?“, rief Kisara aus, während sie einige Schritte zurück machte. Ihre vor Schreck geweiteten Augen waren auf das Monstrum gerichtet, das über Caesian stand. „Ich weiß es nicht“, gab Atemu zurück. „Aber die Dunkelheit, die von ihm ausgeht, kann nichts Gutes bedeuten.“ Ein Blick zu Taisan verriet ihm, dass es dieser nicht anders sah. Seine Körperhaltung wirkte angespannt. „Pharao“, rief der Maskierte schließlich. „Was auch immer von meinem Bruder Besitz ergriffen hat – wir müssen es austreiben. Oder ich befürchte, dass das, was Eurem Land bislang widerfahren ist, nur der Anfang war.“ Taisan kam zu ihnen herüber, die Augen unablässig auf Caesian gerichtet. Der beäugte sie gleich einem Raubtier, das seine Beute musterte, tat jedoch vorerst nichts. Seine Züge wirkten angestrengt. „Er ringt mit dem, was ihn ereilt hat“, schlussfolgerte sein Bruder. „Uns bleibt nicht viel Zeit – Kisara“, wandte er sich an das Mädchen, „Ich benötige meine Kräfte selbst, um etwas gegen ihn ausrichten zu können. Doch dein Pharao braucht neue Energie, um mir beistehen zu können. Lass mich einen Teil deiner Kraft auf ihn übertragen“, sagte er und streckte die Hand in ihre Richtung aus. Atemu wollte zu einem Protest ansetzen, doch die Weißhaarige zögerte keine Sekunde. „Was muss ich tun?“ „Gib mir deine Hand.“ Kaum, da sich seine Finger um ihre geschlossen hatten, wurden beide in einen sanften Schimmer getaucht. Eine silbrige Kugel formte sich langsam über ihren Händen und wuchs stetig, bis Taisan die Verbindung unterbrach. Erschöpft sank Kisara auf die Knie. „Was hast du mit ihr gemacht?“, verlangte Atemu alarmiert zu wissen. „Sie wird sich erholen, das verspreche ich dir. Du brauchst diese Kraft im Augenblick mehr als sie“, entgegnete der Andere, während er das Gebilde aus der Luft fischte und dem Regenten darbot. Der zögerte jedoch und warf einen zweifelnden Blick zu der jungen Frau hinab. Die nickte bestärkend. „Es geht mir gut. Nehmt sie. Für Ägypten.“ Es ist vielleicht der einzige Weg … Noch immer widerwillig streckte er die Finger nach der Kugel aus und umfasste sie. Augenblicklich sprang die Lebenskraft Kisaras auf ihn über, brachte seine Wunden dazu, sich zu schließen und verlieh ihm neue Kraft. Auch Slifer wurde in einen kaum merklichen Schimmer gehüllt, als die Kräfte des Drachen analog zu denen seines Trägers aufgefrischt wurden. Atemu wollte gerade fragen, wie weit Taisans offensichtliche magische Fähigkeiten reichten, da ließ sie ein irres Lachen herumfahren. Caesian hatte den Kampf gegen die Finsternis in seinem Inneren bereits verloren. „Ihr Narren! Glaubt ihr wirklich, das Bisschen wird ausreichen, um es mit mir aufzunehmen? Ich befehlige die Relikte der Götter!“ Er riss das Zepter in die Höhe und der Sand schien dem Relikt zu folgen. Einer Welle gleich bäumte er sich vor dem Okkupator auf. Tosend schoss er auf die drei Menschen und die Ka-Bestien zu. Taisans Monster fackelte nicht lange. Es packte das Trio und erhob sich in die Luft. Slifer folgte ihm, bereitete dabei eine Attacke vor und sandte schließlich einen Lichtblitz gegen die sandige Flut. Krachend trafen die beiden Mächte aufeinander. Die Körner stoben wild umher, flogen in alle Richtungen. Dann sprang plötzlich etwas aus dem Staub hervor. Der groteske Skorpion erschien aus dem Wirbel und stürzte sich mit seinen beiden Scheren gegen den roten Drachen. Slifer vermochte nicht, den überraschenden Angriff zu blocken. Die Greifarme gruben sich in die kurzen Vorderläufer des Göttermonsters, während es die Kieferzangen in der schwarz geschuppten Brust versenkte. Ein kreischendes Brüllen entwich der Himmelsechse. Trotz des Schmerzes erkannte sie in der Attacke jedoch auch ihre Chance. Ehe der Skorpion seinen Stachel zum Einsatz bringen konnte, schoss der Schweif Slifers heran und umklammerte den Hinterleib des Wesens. So vereitelte nicht nur den Angriff des Gegners, sondern hinderte ihn auch an der Flucht. Dann strebte der rote Drache plötzlich dem Himmel entgegen und somit außer Reichweite Caesians. Der erkannte den Fehler in seinem Tun sofort. „Was soll das? Was hast du vor?“, schrie er aufgebracht, obgleich er bereits ahnte, worauf der Zug des Göttermonsters hinauslaufen würde. „Vergiss es! Du bist es, der ins Jenseits eingeht, Pharao! Nicht ich!“ Er wirbelte das Zepter herum. Mit einem Mal schossen um Taisans metallenen Phönix herum spitze Felsformationen aus dem Boden. Gerade noch rechtzeitig konnte er einer davon entgehen. Die Menschen klammerten sich an seinen Füßen fest. „Was hat dein Wesen vor?“, rief Taisan über das Rumpeln unter ihnen hinweg. „Etwas, das Euch nicht gefallen wird. Doch es geht nicht anders“, gab Atemu kryptisch zurück. Zu seiner Überraschung schüttelte der Maskierte den Kopf. „Das weiß ich. Es ist nötig. Das dort ist nicht mehr mein Bruder. Ich darf nicht erlauben, dass die Macht, die seine sterbliche Hülle missbraucht, triumphiert.“ Sein entschlossener Blick traf den Atemus. „Tut, was immer getan werden muss und haltet Euch nicht zurück.“ Sie mussten sich abermals festhalten, als Taisans Ungetüm weiteren Spitzen auswich, die ohne Vorwarnung unter ihnen aus dem Boden schossen. Auch, dass das geflügelte Monster zunehmend an Höhe gewann, brachte sie nicht in Sicherheit. Der Fels schien auf sie fixiert, ihnen zu folgen, wo immer sie sich hinbewegten. Je weiter sie in die Luft aufstiegen, desto höher wurden auch die Nadeln, die nach ihren Leben trachteten. Dann erklang plötzlich ein gellender Schrei aus der Kehle des Ungeheuers. Drei spitze Enden waren zeitgleich aus dem Grund gerauscht, sodass er nicht allen rechtzeitig hatte entgehen können. Eines davon hatte sich durch die Seite der Bestie gebohrt und dort einen tiefen Schnitt hinterlassen. Orange-gelbes Blut schoss aus der Verletzung. Zu überrumpelt von dem plötzlichen Schmerz verlor das Wesen an Höhe und flatterte mehr, als dass es flog. Gerade noch rechtzeitig gelang es ihm, sich knapp über dem Boden wieder zu fangen und unsanft aber sicher im Sand zu landen, ohne seine Passagiere zu zerquetschen. „Da seid ihr ja wieder“, feixte Caesian, kaum da sie wieder Sand unter ihren Füßen spürten. „Dann wollen wir anfangen. Du stirbst zuerst, Phara…!“ Die Worte blieben ihm im Hals stecken. Am Horizont sah er seinen eigenen Ka ungebremst der Erde entgegen rauschen. Slifer hatte ihn aus unbekannter Höhe fallen lassen. Es war jedoch sicher, dass der Drache die Folgen seines Tuns genau abgeschätzt hatte. Wenn Askalon nun aufschlug, war es aus mit ihm – und damit auch mit seinem Träger. „Ich werde nicht sterben, Caesian – du bist es, der ins Jenseits gehen wird“, kommentierte Atemu die erschrockene Miene seines Opponenten. „Nein!“, kreischte der und riss panisch das Zepter herum. Eine neue Sandwelle formierte sich, die auf seine Kreatur zustob und dabei beständig größer wurde. Es war klar, was Caesian beabsichtigte: Er wollte den Sturz seiner Zwillingsseele abfangen. Doch sein Handeln kam zu spät. Mit der Wucht eines kleinen Meteoriten und zusätzlich von einem Lichtblitz Slifers getroffen, schlug Askalon auf, ehe ihn das rettende Bett aus Sand erreichen konnte. „NEIN!“ Der Okkupator sank auf die Knie, mit schmerzverzerrtem Gesicht packte er sich an die Brust. Das Herz schien ihm bei lebendigen Leib herausgerissen zu werden. Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen. Das Atmen fiel ihm schwer – es war, als seien seine Lungen mit Wasser gefüllt. Jeder einzelne Muskel in seinem Körper verkrampfte sich, jeder Abschnitt seines Leibes schien in Flammen zu stehen. Die entstandenen Spitzen zogen sich allmählich in den Boden zurück. Taisan, der die Verletzung seiner Ka-Bestie besorgt inspiziert hatte, richtete seine Aufmerksamkeit ebenso wie Atemu und Kisara auf seinen Bruder. „Stirbt … er?“, äußerte die Weißhaarige, unsicher, wie sie sich verhalten sollte. „Niemand kann den Tod des Kas überstehen. Er zerreißt die Seele, verstümmelt sie, lässt sie unvollkommen werden und vergehen“, entgegnete der Pharao. „Es ist aus“, fügte er mit hörbarer Erleichterung in der Stimme hinzu. Taisan schritt derweil schweigend an ihnen vorbei und dorthin, wo sein Bruder mit dem Tod rang. Als er ihn erreicht hatte, sank er neben ihm auf die Knie. Er nahm das Gesicht des Anderen in beide Hände und suchte seinen Blick. Doch die Augen Caesian wanderten wild über das maskierte Antlitz, ganz so, als erkenne der Okkupator sein Gegenüber nicht. Die Schwärze war aus ihnen gewichen. „Es ist gut, Bruder“, sprach der Jüngere sanft. „Folge dem Ruf, der dich zu sich bittet. Quäle dich nicht länger und lasse den Schmerz, der deinen Geist peinigt, hinter dir. Du bist jetzt frei.“ Er legte seine verdeckte Stirn gegen die des Anderen. „Ich werde versuchen, die Wunden zu heilen, die du geschlagen hast. Wenn diese meine Aufgabe erfüllt ist, werden wir uns wiedersehen. Das verspreche ich dir.“ Caesians Blick glitt noch einen Moment lang ziellos umher, bis er ihn zu fokussieren vermochte und Taisan in die Augen sehen konnte. Für eine gefühlte Ewigkeit verharrten beide so, es schien, als seien sie zu Statuen geworden. Sand wirbelte um sie herum, der Wind strich um ihre Gewänder und Haare. Ansonsten war es still über der Wüste. Dann plötzlich verfinsterten sich die Augäpfel des Okkupators abermals, schienen zu dunklen, bodenlosen Löchern zu werden. Sein Gesicht verzog sich zu einer Fratze, die von abgrundtiefem Hass zeugte. Adern pochten an seinen Schläfen, seine Hände ballten sich zu Fäusten, die derart fest zupackten, dass Blut aus der Haut trat. Rasselnd sog er die Luft ein, artikulierte einen Laut, den Taisan nicht verstand. „Es ist gut. Du brauchst nicht zu sprechen, Bruder, denn unsere letzten Worte aneinander sind noch nicht gefallen. Wir werden im Jenseits alle Zeit der Welt haben.“ Caesian schien sich aufrichten zu wollen, doch Taisan hielt ihn an den Schultern zurück. Wieder drang ein Laut aus seiner Kehle, den sein Bruder nicht zu deuten vermochte. Doch er hatte den Eindruck, dass es dem Älteren wichtig war, die Worte zu äußern, ehe er ging. „Was ist da noch, das du mir sagen möchtest, Bruder?“ Den nächsten Versuch sollte der Maskierte schließlich klar und deutlich vernehmen. „Verräter!“ Mit dem folgenden Wimpernschlag spürte Taisan einen gleißenden Schmerz in seiner Brust. Augenblicklich schien sämtliche Luft aus seinen Lungen zu weichen, während seine Gliedmaßen taub wurden. Im Hintergrund hörte er Kisara aufschreien. Sein Blick glitt nach unten – in seinem Oberkörper steckte das Zepter des Seth, das Caesian noch immer fest umklammert hielt. Als er die schreckgeweiteten Augen gerade wieder auf seinen älteren Bruder richten wollte, stieß dieser das Zepter samt des aufgespießten Körpers von sich, sodass Taisan rücklings in den Sand fiel und sich nicht mehr zu rühren vermochte. Trotz der Schmerzen bemerkte er, wie Kisara schlitternd neben ihm zum Stehen kam und auf die Knie sank. Währenddessen positionierte sich Slifer, einer lebendigen Mauer gleich, zwischen den Brüdern. Auch Atemu rannte herbei. „Taisan! Taisan, kannst du mich hören?“, drang die sorgenvolle Stimme der jungen Frau an sein Ohr. Mehr als ein knappes Nicken brachte er jedoch nicht zustande. Etwas anderes zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Die schwarzen Kugeln, die in der Wüste getanzt hatten, schlugen plötzlich eine gemeinsame Richtung ein – sie alle strebten Caesian entgegen, vereinten sich um ihn und drangen nach und nach in seinen Körper ein, während er mit ausgebreiteten Armen dastand und es geschehen ließ. „Sieh, was du angerichtet hast!“, brüllte Atemu ihn derweil an. „War es das wert? War es wert, das Leben deines eigenen Bruders zu opfern?“, verlangte er zu wissen, obgleich er daran zweifelte, dass auch nur ein verschwindend geringer Rest von Caesians eigentlichem Wesen übrig war. Im nächsten Moment wurde er beinahe von den Füßen geholt, als ein Beben die Erde erschütterte. Was geht hier vor sich? Warum ist er nicht tot? „Ihr erbärmlichen Kreaturen!“ Caesians Stimme war nicht mehr die gleiche. Unnatürlich tönte sie über das Tosen hinweg, das um sie herum eingesetzt hatte. Es war, als sprächen mehrere Wesenheiten zugleich durch seinen Mund. „Ihr könnt uns nicht vernichten! Niemand kann uns vernichten!“ „Noch ist nichts entschieden! Ich werde jedenfalls nicht kampflos aufgeben!“, gab Atemu entschieden zurück. „Wer sagt, dass wir uns mit dir befassen, du armselige Made? Wer glaubst du zu sein, dass du unserer Aufmerksamkeit würdig wärst? Ihr Menschen seid so jämmerlich – und haltet euch doch für so unersetzlich. Dabei seid ihr nichts als Staubkörner unter unseren Füßen!“ Atemu verstand schlagartig, was hier vor sich ging. Die dunklen Seiten der Götter haben sich in ihm manifestiert! „Viel zu lange schon haben wir euch davon kommen lassen, euch geduldet! Das hat nun ein Ende! Diese Welt hat nun ein Ende!“ Caesian riss die Arme nach oben. Finstere Strahlen, die an Rauchsäulen erinnerten, schossen daraus hervor und dem Himmel entgegen. Dort bündelten sie sich und schufen einen dunklen, reißenden Strudel. Atemu fühlte sich augenblicklich an ein Schwarzes Loch erinnert – eine Theorie, die er aus dem 21. Jahrhundert kannte. Der Wind wurde zunehmend stärker, am Firmament grollte der Donner, Blitze zuckten nieder. Ich darf nicht zulassen, dass sie die Welt vernichten! „Pharao!“ Überrascht fuhr er herum. Taisan hatte sich trotz seiner Verletzungen noch ein letztes Mal auf die Beine gestemmt. Kisara musste ihn stützen. Blut rann unter der Maske hervor, vermutlich aus seinem Mund. Weiterer Lebenssaft ergoss sich über sein weiß-silbernes Gewand. Als er sich sicher war, die Aufmerksamkeit des Regenten zu haben, kam ein einzelnes Wort über seine Lippen. „Geht.“ „Was?“, erwiderte Atemu entgeistert. „Geht und bring Euch und das Mädchen in Sicherheit. Dies ist meine Aufgabe.“ „Ihr seid schwer verletzt …“ „… und ich werde diesen Tag nicht überleben. Doch es ist mir überlassen, wie ich die wenige Kraft und die begrenzte Zeit, die mir noch bleiben, einsetze. Ich bin als Einziger in der Lage, ihm noch zu schaden, denn sein Blut ist mein Blut, sein Fleisch ist mein Fleisch. Keiner von euch vermag ihn noch zu stoppen – außer mir.“ Atemus Blick wanderte dorthin zurück, wo Caesian nach wie vor die Hände erhob. Das Loch im Firmament schien mit jedem Wimpernschlag gewaltiger zu werden. Sand wurde bereits von einer unsichtbaren Strömung hinauf gezogen. Regen setzte ein. „Ihr müsst euch beeilen!“, insistierte Taisan. „Rasch!“ Atemu zögerte. Es war nicht seine Art, einer Konfrontation aus dem Weg zu gehen. Er war Ägyptens Pharao, er war für die Zukunft dieses Landes verantwortlich. Diese Aufgabe abzugeben, noch dazu an jemanden, den er kaum kannte, widerstrebte ihm. Und doch vermutete er, dass Taisan recht behielt. Er hatte bislang fast gar nichts gegen den Feind aufrichten können, obgleich ihm die Göttermonster unterstanden. Vielleicht war wirklich einzig und allein jemand, der aus dem gleichen Mutterleib hervorgegangen war, in der Lage, zu brechen, was von Caesian Besitz ergriffen hatte. Freundschaft, Liebe … ich habe selbst stets daran geglaubt, dass sie die größten Mächte auf dieser Welt sind. Gewaltiger als Hass, stärker als Niedertracht und größer als jede Angst. Er schloss für einen Moment die Augen, atmete tief durch. Dann fällt er eine Entscheidung. „Slifer!“ Der Drache wandte sich augenblicklich um und kam herüber geglitten, bereit, sie auf seinen Rücken steigen zu lassen. Doch Kisara zögerte. „Aber … Ihr werdet …“ „Es ist mein Schicksal, reine Seele. Und meine gerechte Strafe nach allem, was ich ihn habe tun lassen. Ich hätte es früher bemerken müssen, doch meine Loyalität, meine Liebe zu ihm verschleierte meinen Blick. Hätte ich früher gehandelt, wäre es niemals so weit gekommen.“ Der Weißhaarigen rannen Tränen über die Wangen, während Atemu sie behutsam am Oberarm ergriff und von Taisan wegzog. Ehe sie sich jedoch abwandten, sah der Pharao dem Maskierten noch einmal in die Augen. „Euch trifft keine Schuld. Ich danke Euch. Ägypten dankt Euch. Mögen die Götter mit Euch sein.“ Ein knappes Nicken des Anderen folgte, dann breitete er die Hände aus. Für Atemu war dies das Zeichen zu gehen. Gemeinsam eilten er und Kisara zu Slifer, wo sie hastig auf eine der beiden Vorderpranken stiegen. Kaum, dass dies geschehen war, erhob sich der Drache in die Luft und schoss Theben entgegen. Taisan hatte in der Zwischenzeit begonnen, alte Verse zu rezitieren. Während er sie in einem gleichmäßigen, melodischen Takt sprach, schritt er Caesian entgegen. Im Hintergrund begann der Körper seiner Ka-Bestie nach und nach zu glühen. Der Glanz wurde immer stärker, bis der Phönix schließlich wieder in der Lage war, sich zu erheben. Ein Schrei entfloh der Kehle, als das Monster in die Höhe schoss. Dabei zog es einen glühenden, goldenen Schweif hinter sich her. Während sich das Wesen so unaufhörlich dem Firmament näherte, ging Taisan weiterhin unbeirrt auf seinen Bruder zu. Schließlich standen sie sich direkt gegenüber. Die schwarzen Augen richteten sich auf den Maskierten. „Du vermagst nichts zu tun, Sterblicher“, dröhnte die übernatürliche Stimme. „Dein Bruder ist nicht mehr.“ „Ich weiß“, gab Taisan zurück. „Dann weißt du auch, dass du gegen unsere vereinte Macht nichts auszurichten vermagst! Warum stirbst du nicht endlich, solange es noch ein Reich der Toten gibt?“ „Weil ich noch eine Aufgabe habe.“ „Und die soll wie aussehen?“ „Ich muss euch Einhalt gebieten.“ Schallendes Gelächter war die Antwort. „Du erbärmlicher Narr!“ Taisans Hände schossen vor und packten den besessenen Körper seines Bruders bei den Schultern. „Der Narr ist derjenige, der die Macht der Liebe nicht erkennt!“ Wie auf Gehieß begann der Körper des Maskierten, sich langsam in goldenen Flimmer aufzulösen, der dem Weg seiner Ka-Bestie folgte und zum Himmel aufstieg. „Caesian wird euren Klauen entrissen werden und ihr werdet dorthin zurückkehren, wo man euch weggeschlossen hat. Denn ich bin sein Bruder und ich erlaube nicht, dass ihr die Welt mit seinen Händen vernichtet.“ Kaum, da das letzte Wort über seine Lippen gekommen war, verschwand der Rest seines Leibes gänzlich. Die vereinte Dunkelheit aus den Seelenteilen verschiedener Götter schien zunächst dazu angehalten, sich erneut lustig zu machen – bis sie gewahrte, was vor sich ging. Ein gleißendes, grelles Licht am Firmament blendete die schwarzen Augen, während ein Gebilde aus reiner Energie, gewaltiger als die Sonne selbst, vom Himmel zu fallen schien. Die verzerrten Züge des Wirtskörpers erstarrten, als sie erkannten, dass Taisan sein Ziel erreichen würde. Lass uns gemeinsam ins Licht gehen, Bruder. Ich werde deine Hand halten, wenn wir die Schwelle übertreten. Ein letzter, infernalischer Schrei entfuhr Caesians Leib, ehe ihn das Licht erreichte. Das letzte, was die toten Augen sahen, war eine Welt, die in Flammen zu stehen schien. Aus der Ferne beobachtete Atemu das Schauspiel, das er schon einmal gesehen hatte. Blutmagie … er tut das Gleiche wie Resham damals in Men-nefer. Ihm war jedoch sofort bewusst, dass der Angriff des alten Clanoberhauptes nicht annähernd die Ausmaße erreicht hatte, wie sie sich nun vor ihm abspielten. Eine gewaltiger Ball aus Licht, so groß wie drei Tagesgestirne, fiel einem Kometen gleich vom Himmel herab. Er stürzte direkt dorthin, wo sich Caesian noch immer befinden musste. Dann war es soweit. Die Ansammlung aus reiner Energie traf ihr Ziel. Ein ohrenbetäubendes Rumoren folgte, der helle Schein wurde zu intensiv, um länger hinsehen zu können. Trotzdem der Pharao eine Hand vor die Augen schlug, schmerzten diese ob der Helligkeit noch immer. Schließlich wurde mit einem fürchterlichen Knall eine Druckwelle freigesetzt, die über die Wüste dahin und direkt auf sie zu rollte. „Slifer, runter!“, rief Atemu noch, doch da war es schon zu spät. Der Drache umschloss sie schützend mit den Krallen und presste sie an seine geschuppte Brust, dann wurde er von der gewaltigen Kraft erfasst und einem Spielzeug gleich herum geschleudert. Eine gefühlte Ewigkeit lang schienen sich oben und unten abzuwechseln, bis die Kreatur schließlich unsanft zu Boden ging. Der ersten Druckwelle folgten noch zwei weitere, die den massigen Leib weiter über den Sand trieben, als wiege er nicht mehr als ein Sack voll Federn. Erst danach beruhigte sich die Welt wieder. Die Wüste lag unter einem Schleier aus aufgewirbelten Sandkörnern verborgen. Nur schwer ließ sich erahnen, dass sich die Wolken am Firmament verzogen hatten und die Sonne wieder ihre Strahlen auf das Land des Nils hinabzuwerfen vermochte. Im Umkreis von mehreren tausend Fuß war das Sandmeer zu glatt und ebenmäßig wie seit Anbeginn der Zeit nicht mehr. Atemu und Kisara, die wie durch ein Wunder nicht mehr als ein paar Schrammen erlitten hatten, husteten, als sie sich aus Slifers Klauen befreiten. Der Pharao gönnte sich jedoch nur einen kurzen Augenblick, dann war er bereits wieder auf den Beinen. Sein Blick glitt dorthin zurück, wo er Caesian und Taisan zuletzt gesehen hatte. Die schwarzen Kugeln waren nirgendwo mehr zu sehen, soweit er das bei den eingeschränkten Sichtverhältnissen beurteilen konnte. Kann es wirklich vorüber sein? Haben wir es tatsächlich überstanden? „Du wartest hier“, wies er Kisara an, während er zu dem Göttermonster zurückkehrte, das sich in der Zwischenzeit aufgerichtet hatte. „Was habt ihr vor, Majestät?“, erkundigte sie sich, während sie ebenfalls auf die Beine kam. „Mir Gewissheit verschaffen. Es darf keine Zweifel daran geben, dass die Gefahr gebannt ist.“ Damit erhob sich der Drache in die Lüfte, während sein Träger auf alles gefasst war. Kisara blieb alleine inmitten der Wüste zurück. Es muss geglückt sein. Taisans Opfer darf nicht umsonst gewesen sein … Der Kampf war nach und nach erlahmt, sobald sich das schwarze Loch am Firmament gebildet hatte. Caesians Soldaten war anzumerken, dass sich die Angst ob des eigentümlichen Spektakels in ihre Herzen fraß und sie zunehmend daran hinderte, sich auf ihre eigentliche Aufgabe zu konzentrieren. Als dann neben dem dunklen Schlund auch noch eine neue Sonne heranzuwachsen schien, hatten zumindest die hintersten Reihen gänzlich inne gehalten und ihre volle Aufmerksamkeit dem Naturschauspiel am Himmel gewidmet. Mit dem Fall des vermeintlichen Tagesgestirns hatte schließlich kopflose Furcht Besitz von den Soldaten ergriffen. Während die Verteidiger Ägyptens das Schauspiel ebenso gebannt und besorgt beobachteten wie ihre Monster, wandten sich die Feinde zur Flucht. Zahllose Männer wurden von ihren Waffenbrüdern niedergetrampelt, Leiber fielen übereinander, jeder wollte als erster aus der Stadt herauskommen und sich so weit von den Vorgängen entfernen, wie es nur möglich war. Dann waren die Druckwellen heran. Gebäude wurden eingerissen, Trümmerteile flogen umher. Nicht einer von ihnen hätte die Auswirkungen überlebt, wären nicht die größeren Ka-Bestien gewesen, die sich schützend vor sie geworfen hatten. Das Tosen und Krachen war allgegenwärtig, dröhnte in ihren Ohren und schien sie taub werden zu lassen. Sandkörner prasselten gleich winzigen Geschossen auf sie nieder, fraßen sich in die Atemwege und erschwerten ihnen das Luftholen. Dann war alles ebenso schnell vorbei, wie es begonnen hatte. Zunächst noch vom Staub geblendet, brauchten sie alle einen Moment, bis sie auf die Beine kamen und ihre Orientierung wiederfanden. Ihre Ohren dröhnten, die Stellen an ihren Leibern, die nicht von Kleidung bedeckt gewesen waren, waren zum Teil von den Sandkörnern verletzt worden. „Was war das?“, fand Joey als Erster seine Sprache wieder. „Ich habe keine Ahnung. Es sah fast so aus, als sei Blutmagie zum Einsatz gekommen“, erwiderte Mana, die die Besorgnis in ihrer Stimme kaum zu unterdrücken vermochte. „Atemu … glaubt ihr, er …“ Weiter kam Tea nicht. Die Vorstellung, was dem Pharao widerfahren sein mochte, schnürte ihr die Kehle zu. „Nein. Soweit ich weiß, besitzt er keine Begabung zur Magie“, erwiderte Seto. „Es muss etwas anderes gewesen sein.“ „Er hat es geschafft!“, riss sie Yugis begeisterter Ruf plötzlich aus den Gedanken. „Seht nur!“ Ein Teil der Soldaten hatte rechtzeitig Schutz gefunden, um der Druckwelle zu entgehen. Vielen gelang es aber noch nicht einmal, vollständig auf die Beine zu kommen, da gingen sie plötzlich leblos zu Boden und lösten sich in Staub auf. Dieser Effekt setzte sich umfallenden Dominosteinen gleich fort und erwischte erbarmungslos jeden, der schon längst in die Unterwelt hätte eingehen sollen. Binnen kürzester Zeit sahen sie kaum noch feindliche Soldaten auf dem Platz oder in den Gassen dahinter. Auch die Leiber derer, die die Druckwelle nicht überlebt hatten, vergingen. Die, die verblieben waren, suchten ihr Heil in der Flucht. „Es ist vorbei! Es ist endlich vorbei!“, rief Riell erleichtert aus. „Die Kraft des Relikts ist gebrochen – das bedeutet, Atemu muss Caesian in die Knie gezwungen haben!“ „Freuen wir uns nicht zu früh. Die Anzeichen mögen vielversprechend sein, aber noch hat keiner von uns seine Leiche gesehen“, schalt Seto ihn. „Du und Sam, ihr bleibt hier und bewacht weiterhin die Relikte. Der Rest folgt mir – wir sehen nach, was passiert ist.“ Sie hatten kaum die wenigen Reste der Stadtmauer hinter sich gelassen, da gewahrten sie durch den Dunst eine Gestalt, die zu ihrer Rechten auf einer Düne saß. Erst, als sie näher kamen, konnten sie allmählich ausmachen, dass es sich dabei um eine junge Frau mit hellem Haar handeln musste. Sie hatte offenbar gehört, dass man sich ihr näherte, und sich erhoben. Als sie schließlich nah genug an die Unbekannte herangekommen waren, stockte Seto augenblicklich der Atem. „Ist das nicht …“, wollte Tea gerade sagen, da rauschte der Hohepriester bereits an ihr vorbei. Als Kisara erkannte, wer sich ihr näherte, zögerte sie keine Sekunde länger und lief ihm entgegen. Schließlich fielen sich der Hohepriester und die Weißhaarige in die Arme. Der Rest der Gruppe begab sich in langsamerem Tempo zu ihnen hinüber, um ihnen einen knappen Moment der Zweisamkeit zu geben. Als sie der Schritte gewahr wurden, die auf sie zuhielten, lösten sie sich zunächst wieder von einander. Setos Blick sprach jedoch Bände. Nichts hätte ihn in diesem Augenblick glücklicher machen können. Zugleich schienen zahllose Fragen darauf zu warten, beantwortet zu werden. „Was tust du hier? Geht es dir gut, Kisara? Weißt du, was soeben geschehen ist? Wo ist Atemu?“, fragte er sie schließlich mit einer Sanftheit in der Stimme, die der Truppe völlig fremd war. „Er ist dort, wo wir Caesian zuletzt gesehen haben. Er will sich vergewissern, ob er wirklich tot ist“, entgegnete sie. „Dann hat er es also geschafft und ihn bezwungen!“, freute sich Joey mit erhobener Faust. „Nein“, widersprach Kisara. „Nun … was ich damit sagen will, ist, dass es nicht sein alleiniger Verdienst war. Das Licht, das ihr gesehen habt – es stammte von Caesians Bruder.“ „Der Typ hatte einen Bruder?“, rief Tristan entgeistert aus. „Ja. Taisan. Er wusste nicht, was Caesian hier tut – er dachte, Ägypten würde von seinem Bruder aus der Unterdrückung befreit. Ich habe während meiner Gefangenschaft lange mit ihm gesprochen nachdem Caesian die Hauptstadt verlassen hat. Schließlich habe ich in ihm Zweifel an den Motiven seines Bruders geweckt. Er wollte sich ein eigenes Bild machen und Caesian gegebenenfalls zur Rede stellen. Also sind wir vor einigen Umläufen gemeinsam von Men-nefer aus aufgebrochen. Wir trafen gerade noch rechtzeitig ein. Es ist ihm sogar gelungen, Caesian davon zu überzeugen, dass es nicht rechtens ist, was er hier tut – da ist plötzlich eine dieser schwarzen Kugeln in ihn gefahren.“ „Schwarze Kugeln? Wovon redest du?“, hakte Seto nach. „Sie waren überall. Ich weiß nicht, woher sie kamen oder was sie waren, aber sie waren angefüllt mit Finsternis. Caesian hat sich daraufhin gegen uns und Taisan gewandt. Und er würde übermächtig stark. Selbst als Atemu seinen Ka vernichtete, verging er nicht. Erst, als Taisan sich geopfert hat, hat es ein Ende genommen – wenigstens hoffen wir das.“ Wie auf‘s Stichwort erhob sich Slifer vom Rand des Kraters, den der Einschlag verursacht hatte, und schwebte zu ihnen herüber. Yugi und seine Freunde waren schon ob der Tatsache, dass Atemu am Leben war, einem Freudentaumel nahe, hielten sich aber noch zurück. Erst musste geklärt werden, ob es endgültig vorüber war. Der rote Drache landete schließlich in einigem Abstand und ließ seinen Träger absteigen. Langsam trat der Pharao näher. „Und, wie sieht es aus?“, erkundigte sich Ryou nervös. Atemu nickte ihnen zu und streckte ihnen die Recht entgegen. Erst jetzt sahen sie, dass er das Zepter des Seth und die anderen Relikte, die der Okkupator bei sich getragen hatte, in der Hand hielt. „Caesian ist nicht mehr. Der Krieg ist vorbei.“ Die Erleichterung, die sie alle in diesem Moment befiel, war unbeschreiblich. Einige sackten einfach nur erschöpft in den Staub, während sich andere um den Hals fielen. Hier flossen Tränen der Erleichterung, dort erklangen Freudenschreie. Sie hatten es geschafft. Caesian war bezwungen, Ägypten war gerettet. Zu lange hatten sie gebangt und gehofft. Zu viele Leben waren ausgelöscht worden. Es hatte Momente gegeben, da waren sie kurz davor gewesen, aufzugeben. Doch nun war es überstanden. Während die Anderen ihren Gefühlen freien Lauf ließen, wandte sich Atemu um. Sein Blick glitt zum Firmament, an dem nach und nach ein leuchtender Abendhimmel zum Vorschein kam. Er erstrahlte in den verschiedensten Rot-, Orange- und Gelbtönen. Die unterschiedlichen Spektren spiegelten seine Gefühle wieder. Wir haben gewonnen … und auf dem Weg zum Sieg doch so viel verloren. Dennoch erlaubte er sich für den Moment ein kurzes Lächeln. Es war vorbei. Endlich. Kapitel 70: Nach dem Sturm - Teil I ----------------------------------- Nach dem Sturm – Teil I Der Gesang von Vögeln drang an sein Ohr. Schwerfällig drehte er sich herum und schob die Augen auf. Das Tageslicht schien schwach durch Lücken in den geschlossenen Vorhängen herein. Eine leichte Brise schaukelte den Stoff. Wie spät ist es? Atemu blieb noch einen Moment lang liegen, während die Schläfrigkeit versuchte, ihn in das Reich der Träume zurück zu locken. Dann ergriff jedoch das Pflichtbewusstsein Besitz von ihm und brachte ihn dazu, sich aufzusetzen und aus dem Bett zu steigen. Er ging zum Fenster hinüber, um die Vorhänge beiseite zu ziehen. Die Sonne am Firmament verriet ihm, dass es bereits Nachmittag sein musste. Vor ihm erstreckte sich Theben unter einem Schleier aus Sand und Rauch. Es würde wahrscheinlich noch ein, zwei Umläufe dauern, ehe sie sich gelegt und verflüchtigt hatten. Erst dann würde die Luft wieder rein und klar sein. Doch selbst danach würden noch lange nicht alle Spuren von Caesians kurzer, tyrannischer Herrschaft beseitigt sein. Der Usurpator mochte vernichtet sein, doch er hatte Narben in Ägypten hinterlassen, die Zeit brauchen würden, um zu heilen. Einige davon würden Atemu und Seto unter großem Aufwand schließen müssen, wieder andere konnten nur dadurch verblassen, dass sie mehr und mehr in die Vergangenheit rückten. Er wandte sich vom Fenster ab und ging in ein Nebenzimmer, wo ein mit Wasser gefüllter Bottich bereits auf ihn wartete. Scheinbar hatten ihn die Bediensteten bereits am Morgen vorbereitet, in der Erwartung, dass sich ihr Regent wie üblich während der ersten Sonnenstunden erheben würde. Das Wasser war inzwischen kalt geworden. Atemu entschied sich jedoch dagegen, nach warmem Nass zu verlangen. Er entkleidete sich und stieg in den großen Trog. Die Kühle war angenehm auf seiner Haut. Er nahm sich dennoch nicht mehr Zeit als nötig, um sich zu waschen, ehe er wieder aus der Wanne stieg und sich abtrocknete. Anschließend legte er frische Gewänder an. Kurz überprüfte er in einem Spiegel den Sitz der Kleidungsstücke. Ernst blickte sein Spiegelbild dabei zurück. Caesians Schreckensherrschaft mag vorüber sein – doch meine Arbeit endet noch lange nicht. Schließlich verließ er das Zimmer und machte sich auf den Weg in den Haupttrakt der königlichen Residenz. Als er den Speisesaal erreichte, erwartete ihn dort lediglich ein Marlic, der genüsslich auf einer Hühnerkeule herumkaute. Als er den Pharao gewahrte, legte er sie jedoch beiseite und wischte sich den Mund ab. Atemu grüßte ihn mit einem kurzen Nicken und ließ sich ihm gegenüber am Tisch nieder, um ebenfalls zu essen. Offensichtlich war der Andere auch noch nicht lange hier – die wenigen warmen Speisen auf dem Tisch hatten noch Temperatur. Sie reihten sich neben Obst, Gemüse und Brot verschiedenster Sorten auf der Tischplatte auf. Marlic wartete, bis Atemu sich einen Teller gefüllt hatte und ein Bediensteter einen Becher mit heißem Tee abgestellt hatte, dann ergriff er das Wort. „Da hat seine königliche Majestät also auch ausgeschlafen“, fing er an. Der Pharao nickte nur, während er auf einem Stück Brot kaute. „Gut erkannt. Ich denke aber, diese Feststellung alleine wolltest du nicht mit mir teilen?“ Marlic lächelte zuckersüß. „Darf man denn noch nicht mal auf ein nettes, belangloses Gespräch mit dir hoffen, Pharao?“, fragte er und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Bei deiner Persönlichkeit ist ein ‚nettes, belangloses Gespräch‘ ehrlich gesagt nicht das, was ich erwarte“, gab der ägyptische Regent offen zurück. Der Andere grinste. „Meine Persönlichkeit? Was soll damit sein?“ Atemu legte das Stück Apfel beiseite, von dem er eben abgebissen hatte, und faltete sie Hände auf dem Tisch. „Du gehst selten auf jemanden zu. Du tust dies in der Regel nur, um eine Person zu reizen oder zu schikanieren – oder aber, es gibt etwas, das du von dieser Person willst. Also sag schon, Marlic: Was ist es?“ „Du kommst immer direkt zum Punkt, Pharao. Ich weiß nicht, ob mir das gefallen soll – aber schwamm drüber. Die Frage, die durch mein kluges Köpfchen geistert, ist eigentlich ganz simpel: Wie geht es jetzt weiter?“, erwiderte der Andere und lehnte sich ebenfalls nach vorne, um sich auf die Ellenbogen zu stützen. Atemu war sofort klar, worauf er hinaus wollte. „Du willst wissen, ob ich dich gehen lasse.“ Es war keine Frage. „Na, na, nicht so großspurig. Ich könnte jederzeit gehen, wenn ich wollte. Immerhin ist Caesian nicht mehr – von dem du mir im Übrigen nichts übrig gelassen hast, was ich sehr missbillige. Alles was mich in deiner Nähe gehalten hat, ist also Geschichte. Das Einzige, was mich nun interessiert, ist: Kann ich hier einfach hinaus spazieren oder muss ich noch ein paar mehr Tote auf die Leichenberge schlichten, die sich in den Gassen dieser Stadt bereits türmen?“ Atemu ließ sich den Gedanken einen Moment lang durch den Kopf gehen, dann zuckte er mit den Schultern. „Geh wohin du willst. Versuch lediglich, dich aus allem herauszuhalten, was gegen das Gesetz verstößt – zumindest ist das mein Rat, dass du dich nicht daran halten wirst, ist mir klar.“ „Und warum lässt du mich dann einfach ziehen?“ „Soll ich dich in den Kerker sperren? Wäre dir das wirklich lieber? Wenn ja, lässt es sich einrichten.“ Marlic musste glucksen. „Oh, du weißt doch, einer guten Herausforderung gehe ich niemals aus dem Weg. Allerdings wäre es in Anbetracht der aktuellen Umstände wohl wahrlich einfacher, wenn du mir freies Geleit gewährst. Ich bin kein Narr – mir ist vollauf bewusst, dass du mir mit deinen Göttermonstern haushoch überlegen bist.“ Er wandte sich auf dem Stuhl um und sah zum Fenster hinaus. „Ich will wissen, was dieses Zeitalter zu bieten hat. Und wer weiß, was sich ergibt? Vielleicht werde ich dieses neue Leben einfach in vollen Zügen genießen – mir einen Harmen anschaffen, dazu ein großes Stadthaus mit Dienern, einem gut gefüllten Wein- und Bierkeller, um dort die wildesten Feiern zu schmeißen, die Ägypten je gesehen hat …“ Er wandte sich zurück und fixierte Atemu mit einem feixenden Grinsen. „Oder ich werde so lange suchen, bis ich einen Weg finde, die Oberhand gegen dich zu gewinnen. Alles ist möglich.“ Atemu musterte sein Gegenüber für einen Moment. Er war nicht unbekümmert genug, um die Worte des Anderen einfach abzutun. Marlic war eine der gefährlichsten Persönlichkeiten, der er sich je hatte stellen müssen. Und dennoch glaubte er nicht, dass es noch einmal zu einer Auseinandersetzung zwischen ihnen kommen würde – zumindest sein Bauchgefühl vermutete das. Und wenn doch, so lag dieser Konflikt vermutlich in einer weit entfernten Zukunft. Schließlich zuckte der Regent abermals mit den Schultern. „Ich denke nicht, dass ich dich über die Konsequenzen aufklären muss, die dich erwarten, solltest du gegen die Gesetze verstoßen.“ Der Andere grinste weiter. „Kommst du dann mit deinen großen, bösen Göttermonstern und holst mich?“ „Wenn es nötig ist. Bevor du jedoch weiter redest, lass mich dir einen kleinen Hinweis geben: Ich würde ein wenig mehr auf meine Wortwahl achten, Marlic. Wir sind nicht im 21. Jahrhundert. Ein Verdacht meinerseits würde genügen, um dich wegzusperren. Bedenke das. Wenn man es genau nimmt, bräuchte ich noch nicht einmal einen solchen Verdacht oder überhaupt einen Anlass, um deine Gefangennahme in die Wege zu leiten. Ein Befehl allein würde ausreichen und niemand würde ihn hinterfragen. Ich will jedoch fair sein und dir eine Chance in diesem zweiten Leben lassen. Verspiele sie nicht, kaum da du sie erhalten hast.“ Marlic lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Unser Pharao, immer so großzügig und gnädig.“ „Ich gebe mir Mühe. Aber das ändert sich, sollte ich merken, dass eine Person nichts anderes im Sinn hat, als Leid und Chaos zu verbreiten“, schärfte er seinem Gegenüber noch einmal ein. „Das habe ich nicht vergessen, keine Sorge“, erwiderte der süffisant. „Wie gesagt, ich weiß noch nicht, was ich jetzt machen werde. Vielleicht piesacke ich auch erst einmal Bakura eine Weile. Er geht einfach schöner an die Decke als du.“ „Nur zu. Von mir aus schlagt euch die Köpfe ein.“ „Was? Gilt das Gesetz etwa nicht für mich? Müssten ihn nicht Repressalien treffen, wenn er mich angreift oder umbringt?“, hakte Marlic gespielt schockiert nach, ohne, dass das Grinsen von seinem Gesicht wich. „Nicht, wenn du es provozierst. Zudem weiß ich, dass ihr beide euch nicht viel nehmt.“ „Sieh einer an, du brichst ja sogar eine Lanze für unser Grabräuberchen! Weißt du, wenn ich mir das so durch den Kopf gehen lasse, würden wir drei eigentlich eine schöne Clique angeben, meinst du nicht? Drei Seelen der Milleniumsgegenstände, vereint in einem ewigen Kampf um die Oberhand.“ „Das wird niemals passieren, Marlic. Und das ist dir ebenso bewusst wie mir.“ „Was hast du dann mit Kuralein vor? Ich meine, meine ‚Verbrechen‘ beschränkten sich auf das 21. Jahrhundert. Die kannst du mir schwer zur Last legen, immerhin sind sie genau genommen noch gar nicht passiert und liegen außerhalb deines zeitlichen Herrschaftsgebietes. Bakuras Untaten hingegen …“ „Lass das meine Sorge sein“, entgegnete Atemu und entschied, die Unterhaltung an dieser Stelle zu beenden. Er schob seinen Teller von sich und stand auf. „Hast du eine Ahnung, wo ich Riell und Seto finde?“ „Nö. Wahrscheinlich sind die fleißigen Bienchen längst an der Arbeit, während sich ihr großer König einen gemütlichen Morgen gegönnt hat.“ Der Pharao überging die Spitze und verließ den Raum. Es gab Momente, da würde er Marlic am liebsten für sein loses Mundwerk allein in einen Kerker sperren lassen. Doch jetzt war kein solcher Moment. Die Kommentare des Anderen verblassten ob dessen, was geschehen war und endlich ein Ende gefunden hatte. Wie lange ging es? Atemu vermochte nicht zu bestimmen, wie lange sie gebraucht hatten, um Caesian in die Knie zu zwingen. Er vermutete, dass die Fremdherrschaft des Usurpators alles in allem nicht mehr als etwa ein bis zwei Mondläufe angehalten hatte. Doch sie hatte sich angefühlt wie eine Ewigkeit. Der Pharao fühlte sich ausgelaugt – zugleich aber auch von neuer Kraft erfüllt. Die Gefahr war gebannt. Nun mussten sie wiederaufbauen, was zerstört worden war und zugleich die Dinge ordnen, die aus den Fugen geraten waren. Sein Weg führte ihn vom Palast zur Stadtmauer, wo er Seto vermutete. Dies war der Punkt, an dem sie ansetzen wollten. Sobald die Mauer halbwegs hergerichtet und das größte Chaos beseitigt war, wollten sie die weiteren Arbeiten den Statthaltern übertragen und nach Men-nefer aufbrechen, um dort wieder das Zepter in die Hand zu nehmen. Die Hauptstadt brauchte einen Regenten, der die Geschicke des Landes lenkte. Der Wiederaufbau Thebens und Men-nefers sowie der Ausbau des angeschlagenen Heeres würden in den kommenden Mondläufen absolute Priorität haben. Denn mit Caesian waren nicht automatisch alle Gefahren für das Reich gebannt. Sollte sich herumsprechen, dass Ägypten schwere Verluste erlitten hatte, mussten sie mit weiteren Usurpationsversuchen rechnen. Und dann gab es noch Dinge zu klären, die sich eher auf die inneren Belange des Reiches bezogen. Er musste mit Riell eine Einigung im Bezug auf die Schattentänzer finden. Sie mussten ein geeignetes Versteck für die Relikte der Götter suchen, auf dass sie nie mehr das Tageslicht erblickten. Er musste klären, wo Bakura abgeblieben war und ob er den Speer der Sachmet gefunden hatte. Hinzu kam, dass er sich ein Bild von den künftigen Plänen des Grabräubers machen musste, um abzuschätzen, ob er eine Gefahr für Ägypten darstellte. Gleiches galt für Risha, die bis auf weiteres verschwunden blieb. Ihre Motive waren unklar, sie selbst unberechenbar. Zwar fühlte sich Atemu beiden gewachsen, sollte es je zu einer Auseinandersetzung kommen, doch er traute ihnen neben Angriffen aus dem Hinterhalt auch Schläge gegen die Zivilbevölkerung zu. Zuletzt stand noch Keiros Verbleib auf seiner Liste, dessen Schicksal ungeklärt blieb. Er wurde aus den Gedanken gerissen, als er einen großen Platz in der Stadtmitte passierte und hörte, wie jemand seinen Namen rief. Als er sich umsah, entdeckte er zu seiner Überraschung seine Freunde aus dem 21. Jahrhundert und ihre Ka-Bestien. Er hatte angenommen, sie würden sich noch ausruhen. Dabei fand er sie hier vor, wie sie gemeinsam mit den Kreaturen Trümmerteile beiseite räumten, Glutnester löschten und ihre aufgestellten Fallen demontierten. Mit einem Lächeln auf den Lippen ging er auf sie zu. Joey kam ihm als Erster entgegen. „Seid gegrüßt Euer Majestät! Na, alles fit?“, erkundigte er sich keck, während er sich den Schweiß von der Stirn wischte. „Die Frage gebe ich direkt zurück“, erwiderte der Pharao. „Ich hatte erwartet, dass ihr euch noch von den Strapazen erholt.“ „Alle sind am Aufräumen – da können wir doch nicht bis in die Puppen liegen bleiben“, gab Tristan zurück, der mit Marik soeben ein Stück einer Hauswand beiseite hievte. „Genau. Und wenn alle mit anpacken, dann geht es auch schneller. Du wirst sehen, bald ist die Stadt wieder so gut wie neu“, meinte Tea mit einer Fröhlichkeit, die er bei ihr bereits vermisst hatte. „Um so mehr beschämt es mich, dass ausgerechnet ich nicht eurem Beispiel gefolgt bin“, antwortete Atemu ehrlich. „Ach was“, winkte Yugi ab. „Du hattest von uns allen die schwerste Bürde zu tragen: All die Verantwortung, dann die direkte Konfrontation mit Caesian … Wenn sich jemand eine Auszeit verdient hat, dann bist es du.“ Der Ältere lächelte. „Danke für deine Worte, Yugi. Aber all das haben wir nur gemeinsam durchstehen können. Ohne euch wäre dieser Krieg vielleicht nicht gewonnen worden.“ Ein kurzer Moment des einträchtigen Schweigens folgte, ehe Marik das Wort ergriff. „Atemu? Wie genau geht es jetzt eigentlich weiter? Ich meine, was passiert als nächstes? Wirst du bleiben, bis Theben wieder aufgebaut ist und dich anschließend um Men-nefer kümmern? Oder wie sieht der Plan aus?“ Der Angesprochene schüttelte den Kopf. „Nein. Wir werden zusehen, dass hier alle nötigen Arbeiten in die Wege geleitet werden und anschließend eine Bestandsaufnahme der Soldaten machen. Sobald wir berechnet haben, wie viele hier verbleiben um die Stadt zu sichern und den Wiederaufbau voranzutreiben, werden wir mit dem Rest zurück nach Men-nefer gehen. Theben ist eine wichtige Stadt“, erklärte er, „doch in diesem Zeitalter ist Men-nefer noch wichtiger. Wir hoffen, dass die Instandsetzung dort zügiger voranschreiten wird, nachdem Caesian vielleicht schon einige Vorarbeit geleistet hat. Er hat sich immerhin dort nieder gelassen. Bleibt nur die Frage, wie viel von seiner Fremdherrschaft zu sehen ist, das beseitigt werden muss. In jedem Fall aber möchte ich, dass die geflohenen Zivilisten so rasch wie möglich in ihr altes Leben zurückkehren können. Und dafür müssen beide Städte ihr altes Gesicht zurück erhalten. Aber dafür brauchen wir qualifizierte Handwerker – wir können nur hoffen, dass sich solche bald wieder in ihrer Heimat einfinden.“ „Es wird alles irgendwie funktionieren. Das Schlimmste ist überstanden, Atemu. Alles weitere wird zwar noch jede Menge Zeit in Anspruch nehmen und mit Sicherheit ebenfalls nervenaufreibend sein, aber von hier an geht es bergauf“, munterte Yugi ihn auf. „Ich hoffe es, Freunde“, sagte der Regent lächelnd. „Und dennoch sollten wir hier so schnell wie möglich voran kommen, um uns auf den Weg machen zu können – wisst ihr zufällig, wo ich Seto finde? Mit Riell müsste ich ebenfalls beizeiten sprechen.“ „Riell haben wir seit gestern nicht mehr gesehen. Aber Seto soll sich an der Stadtmauer befinden. Dort, wo sie eingerissen wurde“, erwiderte Ryou. „Danke, dann habe ich richtig vermutet. Entschuldigt mich für den Moment – wir sehen uns später. Und überanstrengt euch nicht.“ Damit wandte er sich ab und begab sich dorthin, wo sich der Hohepriester aufhalten würde. Hier und da passierte er Straßen, die kaum Schaden genommen hatten. Aber er kam auch an Straßenzügen vorbei, in denen kein Stein mehr auf dem anderen stand. Überall lagen noch die Leichen der gefallenen ägyptischen Soldaten umher. Mannschaften, die Tücher vor den Gesichtern trugen, waren bereits dabei, die Toten zu verladen und zur Balsamierung in die Tempel zu bringen. Atemu hatte das Nötigste noch am Vorabend mit Seto geklärt – darunter auch, dass die Krieger, die ihr Leben für die Zukunft der Heimat gelassen hatten, die Mumifizierung erhalten sollten. Die Tempelpriester würden Tage, vielleicht Wochen brauchen, um all die Überreste zu konservieren. Doch das war nicht von Belang. Diese Männer waren bereit gewesen, das ultimative Opfer zu bringen. Sie hatten einen ehrenvollen Übergang in das nächste Leben verdient. Es war das Mindeste und Einzige, das er noch für sie tun konnte. Noch immer nagte die Frage nach dem Warum an ihm. Doch er wusste, dass er darauf niemals eine Antwort finden würde. Zu viele Stränge des Schicksals waren in den Geschehnissen zusammen gelaufen. Es hatte keinen Sinn, die Ereignisse auf dieser Ebene zu hinterfragen. Ja, vielleicht hätte es ausgereicht, wenn einer dieser Schicksalsstränge anders verlaufen wäre, damit sich die vergangenen Umläufe nie ereignet hätten. Doch letztlich waren sie gekommen, wie sie gekommen waren. Und das würde sich durch nichts auf dieser Welt rückgängig machen lassen, ganz gleich wie oft Atemu die Frage nach dem ‚Was wäre, wenn?‘ stellte. Er erreichte den Rand der Stadt und sah sich um. Er brauchte nicht lange, um Seto ausfindig zu machen. Er hatte gemeinsam mit Mana auf einem Brocken der Stadtmauer Stellung bezogen, um die Lage überblicken zu können. Beide waren in einen Papyrus vertieft, den sie zu besprechen schienen. Er ging zu ihnen hinüber und stieg ebenfalls auf den Mauerrest hinauf. Erst als er praktisch neben ihnen stand, bemerkten sie ihn. „Atemu!“, grüßte ihn die Hofmagierin sofort freundlich. „Schön dich zu sehen! Wie fühlst du dich?“ „Danke, Mana, alles bestens. Wie ist es mit euch?“, gab er zurück. „Noch ein wenig erschöpft, aber ansonsten gut und voller Tatendrang“, erwiderte sie und ballte eine Hand zu Faust. Der Hohepriester nickte bestätigend. „Danke der Nachfrage, Euer Majestät.“ Seine Zügen waren ernst und er schien auf die Aufgaben fixiert, die vor ihm lagen. Ein Funkeln in seinen Augen verriet Atemu jedoch auch einen seltenen Anflug von Freude. Dass Kisara zurückgekehrt ist, erfüllt ihn mit Glück. Auch, wenn er es nicht zeigt. „Ich nehme an, bei diesem Papyrus handelt es sich um eine Auflistung der Dinge, die getan werden müssen?“, äußerte der Regent schließlich. „Richtig. Wir besprachen soeben, was in Gang gebracht werden muss, ehe wir nach Men-nefer zurückkehren können. Es geht schon jetzt gut voran“, erwiderte Mana. „Um euch auf den neusten Stand der Dinge zu bringen, Majestät“, setzte Seto an. „Wie ihr sehen könnt, wird bereits daran gearbeitet, die Mauer wieder zu errichten. Das sollte nicht lange dauern, drei bis vier Umläufe vielleicht. Gewiss wird sie anfangs nicht die Qualität haben, die unsere Steinmetze herzustellen vermögen, aber es sollte genügen, bis wieder ausreichend Handwerker in der Stadt sind. Riell ist vorhin mit einem Kontingent an Schattentänzern zur anderen Seite der Stadt gezogen, um von dort mit den Aufräumarbeiten zu beginnen. Oberste Priorität haben wir der Verlegung der Toten in die Tempel eingeräumt, da ansonsten die Gefahr von Seuchen besteht.“ Atemu nickte, während er sich das Gesagte durch den Kopf gehen ließ. „Gut. Wie steht es um die Versorgung mit Wasser und Nahrung?“ „Sehr gut sogar“, erklärte Mana. „Dadurch, dass es Caesians Truppen nicht gelang, die Stadt zu übernehmen, ist das Meiste unversehrt geblieben.“ „Wunderbar. Wurden bereits Reiter ausgeschickt, um die geflüchteten Zivilisten zurück zu holen?“ „Jawohl, Euer Hoheit. Wir haben sie bereits kurz nach Sonnenaufgang entsandt. Sobald die Bürger Thebens eintreffen, wird der Wiederaufbau noch schneller vorangehen. Unter ihnen sollten sich auch die Statthalter befinden, sie sonst die Geschicke der Stadt lenken. Wenn wir also nach Men-nefer aufbrechen, kann das Kommando wieder in fähige Hände gelegt werden“, gab Seto zu Protokoll. „Genau. Alles in allem sieht es also ganz gut aus. Zumindest in Anbetracht der Gesamtsituation. Das Einzige, was uns noch Bauchschmerzen bereitet, sind die zahllosen Verwundeten. Die Heiler tun ihr Bestes und auch ich habe mich schon darum bemüht zu helfen, aber es sind sehr viele. Es werden wahrscheinlich nicht alle, die an der Schwelle zum Jenseits stehen, wieder umkehren können.“ „Ich bin sicher, die Heiler tun ihr möglichstes. Sind sie mit allem versorgt, was sie für ihre Arbeit benötigen?“ „Ja, das sind sie.“ „Dann müssen wir auf ihr Geschick und das Wohlwollen der Götter vertrauen. Letztlich entscheiden sie, wen sie in das Jenseits rufen“, erwiderte er. Es fiel ihm schwer, sich einzugestehen, dass er nichts weiter tun konnte, als auf die Künste der ägyptischen Mediziner zu vertrauen. Das Einzige, was er für sie tun konnte, war sicherzustellen, dass genügend Werkzeug, Material und Heilmittel vorhanden waren. „Das nächste, das geklärt werden muss“, ergriff Seto schließlich wieder das Wort, „ist, was mit den göttlichen Relikten geschehen soll. Ich frage mich, ob es klug wäre, sie zu verwahren.“ „Uns mangelt es aber an Alternativen“, gab Mana zu bedenken. „Soweit wir wissen sind diese Gegenstände unzerstörbar. Und selbst, wenn es uns gelingt sie zu vernichten, wissen wir nicht, was wir dadurch freisetzen.“ „Eine Zerstörung der Gegenstände steht nicht zur Debatte. Ich habe gesehen, was sie anrichten, wenn sie einem Menschen in die Hände fallen und von ihm Besitz ergreifen können. Ich mag mir gar nicht ausmalen, was geschieht, sollte die Dunkelheit, die sich in diesen Artefakten manifestiert hat, jemals entkommen“, entschied Atemu. „Dementsprechend werden wir sie an einen sicheren, unbekannten Ort bringen müssen, und das bald. Bis dahin werden sie unter höchsten Sicherheitsmaßnahmen in Men-nefer verwahrt.“ Apropos Relikte … „Gibt es irgendeine Nachricht von Bakura?“ „Nein. Aber Riell meinte, eine der Schattentänzerinnen wäre heute Nachmittag vielleicht wieder kräftig genug, um ihren Ka auszuschicken. Er kann fliegen und ist dazu noch schnell. Er könnte Kul Elna vielleicht schon in ein, zwei Umläufen erreichen“, antwortete Mana. „Das klingt nach einem Plan. Ich wollte ohnehin mit Riell sprechen, dann werde ich ihn direkt darum bitten. Ich nehme an, mit Keiro und Risha verhält es sich ähnlich?“ Seto schüttelte den Kopf. „Kein Wort von ihnen, Euer Hoheit.“ „In Ordnung. Das hat Zeit, bis wir wieder in Men-nefer sind. Doch dann möchte ich vor allem herausfinden, was mit Keiro geschehen ist. Caesian hatte das Relikt bei sich, das sonst immer Keiro mit sich führte. Daher erscheint es mir nicht unwahrscheinlich, dass ihm etwas zugestoßen ist.“ „Denkbar wäre es“, stimmte die Hofmagierin zu. „Wenn du aber mit Riell sprechen möchtest, dann gibt es noch etwas, das du wissen solltest: Scheinbar war er heute morgen im Tempelareal und hat um Balsamierungsessenzen für die Überreste seines Vaters und Kipinos gebeten. Er wollte die Mittel an seine eigenen Leute übergeben, damit sie die Zeremonie durchführen können. Die Priester haben es ihm jedoch verwehrt. Ich habe bereits versucht, das zu klären, aber auf mich hören sie nicht. Seto wiederum kam noch nicht dazu, ihnen ins Gewissen zu reden. Aber solltest du wirklich beabsichtigen, Frieden mit dem Clan zu schließen, wäre das vielleicht die Chance auf ein Exempel. Wenn du die benötigten Mittel für die Balsamierer der Schattentänzer freigibst und nicht wir, so wird das nach außen hin eine ganz andere Wirkung haben.“ „Weswegen verweigern sie ihm das, was er braucht?“, erkundigte sich Atemu, auch wenn er einen Verdacht hatte. „Sie vertreten die Ansicht, dass sich die Schattentänzer in ihrer Verehrung dunkler Götter vom Licht abgewandt hätten. Ihren Toten soll der Zugang in das nächste Leben unter allen Umständen verwehrt bleiben. Ansonsten, so befürchten unsere Priester, könnten sich ihre Seelen Apophis im Kampf gegen Ra anschließen. Hinzu kommt, dass man sie nach wie vor für zahlreiche Verbrechen gegen das Königreich verantwortlich macht“, erklärte Mana. „Das verstehe ich ehrlich gesagt immer noch nicht – auch bei uns finden Götter wie Seth eine gewisse Anerkennung in Riten und Kulten. Was hat es außerdem mit diesen Straftaten auf sich?“, erkundigte sich Atemu an Seto gewandt. „Nun“, begann der Hohepriester, „es mag sein, dass Seth auch bei uns eine gewisse Stellung inne hat. Die Schattentänzer verehren aber auch Apophis. Dabei ist es für die Priester nicht von Bedeutung, ob Riell im Speziellen diesem Gott huldigt oder ob es nur zwei, drei Clanmitglieder tun. Wenn die Gruppe das duldet, ist sie mitschuldig. Was Eure zweite Frage anbelangt, mein Pharao, so ereigneten sich, wie Ihr Euch vielleicht erinnern könnt, einige Morde an ägyptischen Soldaten, ehe Caesian hier einfiel. Sie konnten bislang nicht aufgeklärt werden. Stimmen aus der Bevölkerung machten jedoch bald die Schattentänzer dafür verantwortlich, wodurch sich die allgemeine Stimmung gegen sie weiter aufheizte.“ Atemu überlegte einen Moment. „Und was ist deine persönliche Meinung dazu?“, fragte er schließlich. Sein Vetter schien einen Augenblick zu überlegen. „Ich als Hohepriester und Eure rechte Hand finde, es ist Vorsicht geboten. Wir sprechen von einer Gruppierung, die einen Gott des Chaos und der Finsternis anbetet – wenn auch nur in Teilen. Was die Morde angeht, so werden sie sich nach all dem Durcheinander nur noch schwer aufklären lassen. Doch ich würde nicht ausschließen, dass die Schattentänzer ihre Finger im Spiel hatten. Selbst wenn wir davon ausgehen können, dass weder Resham noch Riell zu irgendeiner Zeit böse Absichten hegten, bleibt da noch eine dritte Persönlichkeit. Dieser hängt auch ein nicht geringer Teil des Clans an. Daher wäre ich an Eurer Stelle vorsichtig, welche Privilegien ich ihnen gewähre, mein Pharao.“ „Du sprichst von Risha“, stellte Atemu fest. „So ist es. Als sie euch angriff, hat sie abermals bewiesen, dass sie nichts von einer friedlichen Einigung zwischen dem Clan und uns hält. Da Resham nicht mehr ist, fehlt in Zukunft eine Kraft, die ihrem Denken und Handeln entgegen wirken kann. Die Schattentänzer mögen uns in diesem Krieg zur Seite gestanden haben. Aber vielleicht taten es einige auch nur, weil sie es als notwendig ansahen – nicht, weil sie ernsthaft an einem Frieden interessiert sind. Jetzt, da sich die Wogen legen, schließe ich nicht aus, dass dieser Teil erneut versuchen könnte, seine Ziele umzusetzen – so etwa den Sturz des Königshauses, was sie oft genug proklamiert haben. Ihre genaue Zahl können wir jedoch kaum bemessen. Wenn Risha dann auch noch Öl ins Feuer gießen sollte, könnten sie zu einer Bedrohung werden. Deshalb wäre ich vorsichtig, wenn ich eine Entscheidung treffe, Euer Hoheit.“ Der Pharao ließ sich die Worte durch den Kopf gehen. „Ich werde deinen Rat bedenken, wenn ich mit Riell spreche. Danke, Seto. Gibt es irgendetwas, das gerade meine Aufmerksamkeit erfordert? Ansonsten würde ich ihn direkt aufsuchen.“ Mana schüttelte den Kopf. „Nein, geh nur. Wir haben hier alles unter Kontrolle.“ So verabschiedete er sich von den Mitgliedern seines Hofstaats und machte sich auf den Weg zum anderen Ende der Stadt. Er schlug einen anderen Weg ein als den, den er gekommen war, um sich ein genaueres Bild der Schäden und Verluste zu machen. Ungewollt musste er dabei Schmunzeln, als ihm etwas auffiel. Es hatte nicht lange gedauert, bis sein Vetter wieder dazu übergegangen war, ihn mit seinen Herrschertiteln anzusprechen, anstatt ein einfaches Du anzuwenden. Und das, obgleich ihn Atemu mehr als einmal dazu ermuntert hatte. Manche Dinge ändern sich eben nie, schoss es ihm durch den Kopf. Dann hing er seinen Gedanken im Bezug auf die Schattentänzer nach, legte sich zurecht, wie er das Gespräch mit Riell führen wollte. Trotz aller Bedenken von Seiten des Hohepriesters würde er versuchen, einen Kompromiss mit dem Clan zu finden. Es war das Beste für alle, wenn diese Auseinandersetzung aus der Welt geschafft wurde. Er brauchte eine Weile, bis er das andere Ende Thebens erreicht hatte. Dort, nahe des Nils, brauchte er nicht lange suchen, bis er die Schattentänzer entdeckte, die Leichen auf mehrere Wagen luden. Sobald einer von ihnen mit Leibern gefüllt war, wurde er in Richtung der Tempel abtransportiert. Was Atemu aber noch auffiel, war, dass es sich um eine recht kleine Gruppe handelte, die sich an der Arbeit beteiligte. Außer dem jungen Oberhaupt zählte er lediglich sechs weitere Clanmitglieder. Hatten viele von ihnen in der Schlacht das Leben verloren? Ebenso gewahrte er einen Wagen, der etwas abseits stand und auf dem bislang nur zwei in schwarze Gewänder gehüllte Körper zu sehen waren. Tote der Schattentänzer. Sie separieren sie von den anderen Gefallenen – ein besonderes Zeichen? Oder hängt es damit zusammen, dass sie im Tempel nicht erwünscht sind? „In Ordnung, wir sind hier fertig. Legt die letzten Körper ebenfalls vor den Tempeln ab. Anschließend rücken wir weiter Richtung Zentrum vor und machen dort weiter. Die Unseren bringt ihr zu Katira“, schallte Riells Stimme zu ihm herüber, während er sich näherte. Scheinbar hatte er einen günstigen Zeitpunkt abgepasst, um mit dem Oberhaupt alleine zu sprechen. Schließlich wurde er auch bemerkt. Riell hob rasch die Hand zum Gruß, wischte sich mit einem Stoffstück den Schweiß vom Gesicht und kam dann auf ihn zu. „Pharao. Es freut mich, Euch zu sehen.“ „Die Freude ist ganz meinerseits. Wie ich sehe, gebührt Euch mein Dank. Die Schattentänzer scheinen große Hilfe bei der Wiedererrichtung der Stadt zu sein“, erwiderte Atemu, ohne seine Bedenken direkt zu äußern. Er wollte abwarten, ob Riell das ansprach, was ihm aufgefallen war. Und er musste nicht lange warten. „Die Zahl derer, die mit anpacken, könnte größer sein“, erwiderte der Andere Zähnen knirschend. „Waren Eure Verlust derart groß?“ „Nein, das nicht. Aber ein Teil ist vergangene Nacht verschwunden, ohne eine Nachricht oder auch nur eine Spur zu hinterlassen. Ich denke nicht, dass wir sie wiedersehen werden.“ Atemu legte die Stirn in Falten. „Ist Euch bekannt, weshalb?“ „Ist es nicht offensichtlich?“, gab Riell zurück. Er wandte sich ab und schritt zu einer Mauer hinüber, um sich in ihrem Schatten niederzulassen. Atemu tat es ihm nach. „Sie sind nicht einverstanden damit, dass ich mit Euch kooperiere. Deshalb sind sie verschwunden, sobald sie das geleistet haben, was sie als ihre Pflicht ansahen.“ Der Pharao schwieg einen Moment. „Riell. Was genau ist es, dass Euch und den Clan davon abhält, eins mit dem Rest des Landes zu werden? Wir haben all diese Zeit Seite an Seite gekämpft und doch weiß ich nicht, was uns eigentlich entzweit. Bei Risha ist es offensichtlich. Doch bei Euch ...“ „Es sind die Götter, die wir anbeten. Allen voran ist die Verehrung des Apophis etwas, das die meisten Ägypter zurückschrecken lässt. Ich selbst gehöre nicht zu seinen Dienern. Ich habe mein Leben Seth gewidmet, der ja auch in einigen Landesteilen seinen Kult erfährt. Aber der Apophis-Kult ist stark in unserem Clan. Und selbst, wenn ich mein Leben nicht dieser Gottheit gewidmet habe, so unterstütze ich jene, die es tun, in der Ausübung ihres Glaubens. Jeder sollte das anbeten dürfen, was er für richtig hält.“ „Und wie genau äußert sich dieser Kult?“ „Verschieden. Manche opfern ihm und beten ihn an, auf dass er die Welt verschonen möge. Andere hingegen glauben daran, dass der Tag kommen wir, da er es schafft, die Sonnenbarke des Ra zu verschlingen und mit ihr das Leben – auf dass die Welt von allem Schändlichen und Sündhaften gereinigt wird und aus den Schatten des Untergangs neu erstehen kann. Letztere gehören zu dem Teil des Clans, den ich als radikal bezeichnen würde.“ Atemu musterte ihn einen Moment lang. Auf seltsame Art und Weise erinnerte ihn dieses Gedankenkonstrukt an damals, als er gegen Dartz gekämpft hatte. „Risha …?“ „Nein. Sie glaubt zwar an die Existenz der Götter und respektiert sie, allen voran Sachmet. Doch Verehrung erfährt kein Gott von ihr.“ „Sachmet … die Göttin des Krieges.“ Und die Göttin, die irgendetwas mit Kul Elna zu tun hat … welch Zufall, fügte er in Gedanken hinzu. „Überrascht Euch das?“ „Nicht wirklich ...“, erwiderte Atemu nachdenklich. „Sagt, wie geht Ihr mit den radikalen Mitgliedern Eures Clans um? Beziehungsweise wie tat es Euer Vater? Welchen Gott verehrte er?“ Riells Blick schweifte in die Ferne. „Alle und keinen. Mein Vater war der festen Überzeugung, dass jeder Gott, gleich ob mit guten Attributen versehen oder mit schlechten, seinen festen Platz im göttlichen Gefüge hat. Wenn auch nur einer von ihnen fehlen würde, wäre die Welt nicht mehr vollständig. Deshalb unterstützte er auch die Apophis-Anbeter in ihrem Kult. Und so werde ich es ebenfalls halten. Denn auch, wenn die Idee viele verstören mag, ich finde den Gedanken, dass die Welt vielleicht eines Tages bereinigt werden mag, keineswegs angsteinflößend. Im Gegenteil – ein jedes Ende bedeutet auch einen neuen Anfang. Manchmal muss etwas Kränkliches sterben, um in seiner vollen Pracht wiedergeboren werden zu können.“ Er richtete den Blick wieder auf Atemu. „Auch mit diesem Krieg verhält es sich so. Er schlimme Wunden in das Land geschlagen, das wir lieben, und zahllose Opfer gefordert. Doch er ist vorüber und aus ihm entstehen neue Dinge. Vielleicht gar ein Pakt zwischen uns und Euch, Majestät.“ Der Pharao lächelte. „Daran wäre mir sehr gelegen, Riell. Doch ich fürchte, es gibt noch vieles, das geklärt werden muss.“ „Das wäre?“ „Zum einen frage ich mich, ob uns von Eurem Clan her irgendeine Gefahr droht. Wie radikal sind die Verehrer des Apophis? Könnten sie versuchen, den gewünschten Untergang selbst herbeizuführen?“ Er machte eine kurze Pause und ordnete seine Gedanken. „Zum anderen sorge ich mich um die geteilte Führung der Schattentänzer. Eure Führungsweise hat mehr als einmal gezeigt, dass Ihr nichts böses im Sinn habt, Riell – bei Risha hingegen kann ich das nicht sagen. Versteht mich nicht falsch. Es geht mir hier nicht um mein Leben, sondern um das Wohl und die Sicherheit meines Volkes, für die ich Verantwortung trage. Es muss sicher sein, dass ich ihnen kein Leid bereite, das hätte vermieden werden können.“ Der Andere nickte. „Ich verstehe Euch und würde es nicht anders halten. Was den Clan als Ganzes betrifft, so denke ich nicht, dass sich noch Seelen unter uns befinden, die einen ausgeprägten Groll gegen Euch hegen oder dieser Welt den Untergang wünschen – soweit ich weiß, sind sie alle verschwunden. Daher glaube ich tatsächlich, dass nur noch die hier weilen, die sich nach Frieden sehnen.“ „Das ist gut zuhören.“ Riells Blick schweifte nach einem knappen Nicken wieder in die Ferne. „Ich werde diese Vermutung jedoch noch einer genauen Prüfung unterziehen. Sollten wir einen Pakt mit Euch eingehen, so liegt es auch in meiner Verantwortung, dafür zu sorgen, dass dieser Frieden gewahrt wird.“ Er schien einen Moment nachzudenken. „Was Risha anbelangt, so ist fraglich, ob sie überhaupt zurückkehren wird. Und selbst wenn sie es tut, so werde ich ihr die Führerschaft aberkennen.“ Atemu zog verwundert die Augenbrauen in die Höhe. „Ehrlich gesagt verwundert mich Eure Entschiedenheit.“ Sein Gegenüber schüttelte den Kopf. „Sie hat bewiesen, dass sie nicht in der Lage ist, das Wohl aller über ihr eigenes zu stellen. Sie hat Euch angegriffen und damit unser Bündnis gefährdet. Ich bin sicher, in ihren Augen mag sie es getan haben, um den Clan zu beschützen. Und wenn ich all das, was sie erlebt hat, bedenke, kann ich ihre Reaktion, so sehr ich sie auch verurteile, sogar verstehen. Nicht nachvollziehen, aber verstehen. Aber das alleine ist nicht der Grund, warum ich sie für ungeeignet halte.“ Er sah sein Gegenüber eindringlich an. „Wäre es ihr wirklich um den Clan gegangen, so wäre sie an unserer Seite gestanden, als wir in die letzte Schlacht gegen Caesian zogen. Doch sie war nicht einmal in der dunkelsten Stunde in der Lage, über ihren Schatten zu springen. Nein. Es schmerzt mich, doch ich habe in diesem Krieg erkannt, dass Keiro nicht mit allem, was er von sich gab, unrecht hatte. Einige Teile von Rishas Seele sind von Hass zerfressen. Und das macht sie ungeeignet für die Führung des Clans. Ich darf nicht zulassen, dass sie diejenigen, die zu uns aufblicken in Gefahr bringt – oder sie vielleicht sogar in nächsten Konflikt treibt.“ Riell schüttelte den Kopf. Es war offensichtlich, dass ihm diese Entscheidung nicht leicht gefallen war. „Ich versichere Euch, spätestens mit dieser Entscheidung werden die Letzten Radikalen unsere Reihen verlassen. Risha war bei ihnen ob ihrer Entschiedenheit und Kompromisslosigkeit immer besonders beliebt.“ Sie schwiegen eine Weile, bis Atemu wieder das Wort ergriff. „Seid Ihr Euch der Tragweite dieser Entscheidung bewusst? Sie ist immerhin nicht nur das zweite Clanoberhaupt, sondern auch Eure Schwester.“ „Das mag sein. Doch allem voran trage ich die Verantwortung für die Schattentänzer. Persönliche Belange dürfen keinen Vorrang haben“, er sah dem Pharao mit einem undeutbaren Lächeln in die Augen. „Habe ich nicht recht?“ „Das habt Ihr“, erwiderte Atemu, dann streckte er Riell die Hand hin. „Auf dass die Schattentänzer wieder ein Teil des großen Ganzen werden. Lasst uns darauf hin arbeiten. Gemeinsam.“ Das Clanoberhaupt überlegte nicht lange, dann schlug er ein und drückte die Hand des Anderen fest. „Auf eine Zukunft im Glanz und Wohlwollen der Götter.“ „Apropos Götter“, meinte der ägyptische Herrscher und erhob sich. „Kommt mit mir. Wir werden die nötigen Materialien für die Balsamierung der Euren besorgen. Außerdem erzählten mir Mana und Seto, dass ihr vielleicht eine Möglichkeit hättet, nach Bakura suchen zu lassen.“ Die Sonne senkte sich in gleißendem Rot hinab zum Horizont. Die Farbe erinnerte den Grabräuber an das Blut, das vor zwei Umläufen vergossen worden war. Unterbewusst wanderte sein Blick dorthin, wo Keiros in Tücher eingeschlagener Leichnam auf einem Felsen ruhte. Er lag hoch genug, um des nachts nicht von Aasfressern angegangen werden zu können. Risha und er hatten trotz ihrer Verletzungen nicht mehr Zeit in Kul Elna verbracht als nötig gewesen war. Noch bevor sich die Nacht über das Land gesenkt hatte, waren sie auf dem Rücken zweier Pferde aufgebrochen. Keiro hatte sie mit sich geführt, als er mit der Schattentänzerin in das Räuberdorf gekommen war. Erst, als sie den Ort ein gutes Stück hinter sich gelassen hatten, hatten sie sich einen Unterschlupf für die dunklen Stunden des Umlaufs gesucht. Der gleiche Ablauf hatte sich am heutigen Tag wiederholt. Sie waren aufgestanden, geritten, bis die Pferde sie nicht mehr tragen wollten, und hatten sich letztendlich im Schutz eines Sandfelsens niedergelassen. Das Gestein besaß eine Ausbuchtung, die sie als Nachtlager nutzen konnten. Ein genaues Ziel besaßen sie nicht. Sie hatten sich zunächst einfach von Kul Elna in Richtung Süden entfernt. Was nun folgte, war ungewiss, zumal er und Risha kaum ein Wort gewechselt hatten, seitdem sie aufgebrochen waren. Die Schattentänzerin schwieg sich, entgegen ihrer sonst so mitteilsamen Art, aus. Der Grabräuber vermutete, dass sie versuchte, Keiros Tod zu verarbeiten oder ihn wenigstens in einen Zusammenhang in ihrer Welt einzuordnen. Offenbar gelang es ihr bislang nicht. Doch Bakura war keinen Schritt voraus. Er wusste selbst nicht, wie er mit dem Ableben seines Bruder umgehen sollte. Dass sein Tod plötzlich eingetreten war, spielte dabei eine untergeordnete Rolle. Der Grabräuber stammte aus dieser Zeit, in der wenige Menschen ein hohes Alter erreichten. Ägypten mochte verglichen mit anderen Großreichen und Ländern fortgeschritten sein, was Hygiene, Medizin und Recht anging, doch auch hier wurde vor der eigentlichen Zeit gestorben. Das, was es Bakura schwer machte, war, dass er nicht damit gerechnet hatte, nochmal irgendeinem Verwandten lebendig gegenüber zu treten. Dieser unerwartete Umstand war dennoch eingetreten – nur damit Keiro kurze Zeit später starb. Risha hingegen ging es anders. Ihre Wegen schienen sich nach Kul Elna noch des Öfteren mit Keiros gekreuzt zu haben. Dabei hatten sie offensichtlich einen Verlauf eingeschlagen, der beständig abwärts führte. Er wusste nach wie vor nicht, was zwischen ihnen vorgefallen war, wenigstens nicht genau. Es hatte ihn bislang auch nicht interessiert. Das hatte sich nach den Vorfällen, die zu Keiros Tod geführt hatten, geändert. Was war passiert, dass beide so eine Abscheu füreinander hegten? Warum wollte sein Bruder sie tot sehen? Weshalb hatte er sich am Ende dennoch dagegen gewehrt, ihr das Leben zu nehmen? Und wie tief ging der gegenseitige Hass wirklich? So sehr die Fragen auch an ihm nagten, er wusste, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, um sie auszusprechen. Die Schattentänzerin würde unter Garantie dicht machen oder nur die halbe Wahrheit erzählen. Er musste abwarten, bis ihr die Zeit erlaubt hatte, Keiros Ableben einzuordnen und gegebenenfalls zu verarbeiten. Auch konnte er aktuell nicht abschätzen, wie stark sie die Rückkehr in nach Kul Elna belastet hatte. Er wusste nicht, ob sie nach der verhängnisvollen Nacht je wieder einen Fuß in das Dorf gesetzt hatte, bezweifelte es jedoch. Ansonsten wären er ihr wahrscheinlich schon früher begegnet, wenn man bedachte, dass er das verfallene Räuberdorf zu seiner ersten Lebzeit als Unterschlupf genutzt hatte. Bakura wurde unvermittelt aus seinen Gedanken gerissen, als der Schrei eines Vogels die Nacht durchbrach. Bezeichnend war dabei, dass es sich nicht anhörte wie der Laut eines gewöhnlichen Tieres. Er brauchte sich nicht lange umzusehen, um einen Schemen am Himmel zu entdecken, der sich rasch näherte. Er ließ die Kreatur nicht aus den Augen, während er sich bereit hielt, Diabound zu beschwören, sollte es nötig sein. Es zeigte sich jedoch bald, dass das Monster keine feindlichen Absichten zu hegen schien. Es landete in einigen Schritt Entfernung auf einem Felsen und faltete die Flügel. Bakura erkannte die Bestie. Im 21. Jahrhundert trug ihre Karte den Titel Rallis, der Sternenvogel. Er hatte den Ka bisher nirgends wahrgenommen, glaubte aber auch nicht, dass es zu Caesians Schergen gehörte. Dieser Verdacht bestätigte sich auch wenige Wimpernschläge später, als er Rishas überraschte Stimme hinter sich vernahm. „Rallis? Was tust du hier?“ Der Kopf des Vogels ruckte herum und fixierte die Schattentänzerin, die soeben hinzugekommen war. Dann flatterte das Monster zu einem Stein hinüber, der sich näher bei ihr befand. „Du kennst den Ka also?“, hakte Bakura trotzdem nach. „Ja. Er gehört Katira, unserer Heilerin“, entgegnete sie knapp. „Was führt dich zu uns?“, wiederholte sie dann noch einmal an den Vogel gewandt. „Euch suchen. Wobei ich genau genommen nach ihm suchte, Herrin“, erwiderte das Wesen mit Nicken in Bakuras Richtung. Die Stimme klang männlich. „Lass mich raten: Der werte Pharao kann es nicht erwarten, das Relikt in Händen zu halten?“, mutmaßte der Grabräuber und verdrehte die Augen. „Du kannst ihm ausrichten, dass ich es habe. Ich werde zusehen, dass ich ein sicheres Versteck finde und dann nach Men-nefer komme. Ich habe Caesian nicht vergessen, auch wenn Atemu das anzunehmen scheint.“ „Das ist nicht der Fall“, versicherte Rallis. „Ich komme mit guten Neuigkeiten aus dem Süden. Der Feind ist gefallen und die Artefakte, die sich in seinem Besitz befanden, sind in sicherer Verwahrung. Der Krieg ist vorüber.“ Für einen kurzen Moment herrschte überraschtes Schweigen. „Sie haben Caesian besiegt? Wie?“, hakte Risha schließlich nach. „Ich war selbst nicht an der Front, doch es heißt, es gelang mit Hilfe aus Caesians eigenen Reihen.“ „Irgendwelche erwähnenswerten Verluste?“, erkundigte sich Bakura anschließend, ohne die Beiläufigkeit aus seiner Stimme zu verbannen. Vielleicht hatte es wenigstens den Hohepriester oder Marlic erwischt. „Eine große Zahl ägyptischer Soldaten musste ihr Leben lassen. Auch einige Schattentänzer fielen in der Schlacht. Was jedoch den Pharao und Riell sowie ihr engeres Gefolge betrifft, sind alle am Leben.“ „Sam ebenfalls?“, warf Risha ein. „Das ist sie, ja.“ Bakura konnte förmlich hören, wie sie erleichtert ausatmete. „Gut. Dann sag ihnen, wir werden in den nächsten Umläufen in Theben eintreffen. Es war nicht einfach, das Relikt zu beschaffen und wir sind nicht in bester Verfassung, wie du vielleicht siehst. Außerdem eilt es jetzt ohnehin nicht mehr.“ „Ich denke nicht, dass es noch nötig ist, den Weg auf sich zu nehmen“, erwiderte Rallis. „Der Pharao plant in den kommenden Umläufen nach Men-nefer zurück zu kehren.“ „Gut. Dann sag ihm, dass wir ihn dort treffen werden.“ „Einverstanden“, bestätigte das Monster. „Nun entschuldigt mich. Ich muss sehen, was sich in der Hauptstadt tut, ehe ich wieder zurück nach Theben gehe.“ Damit wandte sich das geflügelte Wesen ab und schwang sich in die Luft. Risha blieb mit Magenschmerzen zurück. Das Monster hatte sich nicht erkundigt, ob es Riell etwas ausrichten sollte, ob es ihr gut ging – oder überhaupt groß Notiz von ihr genommen. Und sie hatte eine Vermutung, weshalb. Kapitel 71: Nach dem Sturm - Teil II ------------------------------------ Nach dem Sturm – Teil II Elf Umläufe waren vergangen, seitdem sie Theben hinter sich gelassen hatten. Es war alles so verlaufen, wie sie es sich erhofft hatten: Bereits kurze Zeit, nachdem die Nachricht vom Ende des Krieges sich verbreitet hatte, war die Zivilbevölkerung in die Städte zurückgekehrt. Binnen weniger Sonnenaufgänge hatte in Theben wieder reges Treiben in den Straßen geherrscht. Handwerker, Soldaten und viele andere hatten unverzüglich damit begonnen, beim Wiederaufbau der Stadt zu helfen. Nachdem die Statthalter schließlich ihre Anweisungen erhalten hatten und Seto sowie der Pharao sich sicher sein konnten, dass fähige Hände am Werk waren, hatten sie sich zum Aufbruch gerüstet. Seitdem waren sie mit etwa der Hälfte des Heeres auf dem Weg nach Men-nefer. Nicht mehr lange und sie würden die Hauptstadt erreicht haben. Sie rechneten mit noch etwa einem halben Tagesmarsch, ehe sie eintrafen. Für heute jedoch hatten sie ihr Lager an den Ufern des Nils aufgeschlagen. Die Sonne war schon vor Stunden verschwunden. Sie hatten die kühlen Stunden des Tages genutzt, um so zügig wie möglich voran zu kommen, ehe sie beschlossen hatten, zu rasten. Die Nacht würde kurz werden. Sie wollten im Morgengrauen aufbrechen. So würden sie die letzte Distanz zu überwinden, die sie noch vom Ende ihrer Reise trennte, bevor das Himmelsgestirn um die Mittagszeit seine Strahlen mit voller Kraft auf die Wüste hinabsandte. Es herrschte gute Stimmung im Lager. Yugi und Atemu saßen ein wenig abseits, während sie die Anderen beobachteten. Duke, Tristan und Joey unterhielten sich mit einigen Soldaten an einem Lagerfeuer. Immer wieder klirrten dabei ihre Bierkrüge aneinander. Ryou und Marik hingegen saßen unter einer Palme. Vor ihrer Abreise hatten sie um einige Abschriften aus den Schriftsammlungen in Theben gebeten, die sie nun fasziniert lasen, wann immer sich die Gelegenheit bot. Ab und an sah man auch sie in Gesprächen vertieft, in denen sie versuchten, mehr über dieses Zeitalter herausfinden. Eine direkte Begegnung mit den Menschen der betreffenden Zeit war eben doch etwas anderes, als archäologische Erkenntnisse oder das überlieferte Geheimwissen, das der junge Ägypter besaß. Tea und Mana hingegen hatten es sich auf einem Felsen am Nilufer gemütlich gemacht und ließen die Füße ins Wasser baumeln. Kisara war bis vor kurzem noch bei ihnen gewesen, hatte sich jedoch aufgemacht, um nach Seto zu sehen. Marlic musste sich ebenfalls irgendwo herumtreiben. Atemu wusste nicht, weshalb, doch er hatte sich entschieden, mit seiner Erkenntnisgewinnung über dieses neue Leben in der Hauptstadt anzufangen. So waren der Pharao und sein Seelenverwandter unter sich, während sie sich erlaubten, ein wenig Wein zu kosten, der aus Theben stammte. Yugi war kein Freund von Alkohol, doch ab und an machte er eine Ausnahme. Für eine ganze Weile saßen sie einfach nur schweigend beisammen und genossen die einträchtige Stille, die lediglich von den Geräuschen des Lagers durchbrochen wurde. Schließlich war es an dem Kleineren, das Wort zu ergreifen. Es gab etwas, das angesprochen werden musste, auch wenn es ihn schmerzte, nur daran zu denken. „Atemu?“ „Ja?“ „Hör zu …“, setzte Yugi langsam an. „Es gibt da etwas, das uns allen auf der Seele brennt. Etwas, das gleichzeitig keiner von uns aussprechen will. Aber es muss sein.“ Er erhob sich ein Stück, um sich anschließend so niederzulassen, dass er sein Gegenüber ohne Probleme betrachten konnte. Der Pharao sah ihn besorgt an. „Und was wäre das?“ „Mach dir keine Sorge, es ist an sich nichts … na ja, schlimmes.“ Er seufzte. „Wir alle sind gerne mit dir zusammen. Das alles war ein verdammt wilder Ritt. Aber obgleich so viele schreckliche Dinge geschehen sind, hatten wir auch einen Grund zur Freude, denn wir durften dich noch einmal wiedersehen – etwas, womit keiner von uns je gerechnet hätte. Doch …“ Yugi zögerte, ehe er sich entschied, dass er das Offensichtliche nicht beschönigen konnte. „Atemu, wir gehören nicht hier her.“ Der Pharao verstand auf Anhieb, worauf sein Freund hinaus wollte. Er und die anderen sorgten sich darum, wie sie wieder in ihre Zeit zurückkehren konnten. „Versteh mich nicht falsch“, sprach der Kleinere auch schon weiter. „Ginge es nur um uns – ich meine, hätten wir keine Familien, keine Freunde, keine Pflichten, die im 21. Jahrhundert auf uns warten, ich glaube, keiner von uns würde zweimal überlegen, ob er gerne hier bleiben würde. Aber so ist es nun einmal nicht.“ Sein Blick schweifte zu Duke und Tristan, die eben mit Joey und einem Soldaten anstießen. „Als sie zu uns gestoßen sind, haben sie erzählt, dass wir in unserer Welt vermisst werden. Serenity, Ishizu, Odeon, Grandpa, unsere Eltern, Geschwister, Freunde, Arbeitskollegen, Schulkameraden – sie alle fragen sich, wo wir abgeblieben sind.“ „Und das bereitet wiederum euch Sorge“, stellte Atemu fest. „Ja. Weil sie nicht wissen, dass es uns hier gut geht. Ich möchte nicht, dass sie unnötig verzweifeln“, erwiderte der Andere und schüttelte den Kopf. Der Pharao legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Das verstehe ich voll und ganz, Partner. Ich nehme es dir nicht übel, dass es dich nach Hause zieht, aus welchem Grund auch immer.“ Nun war es sein Blick, der in die Ferne schweifte. „Auch, wenn ich mich in eurer Zeit niemals alleine fühlte, so war mir doch immer tief im Inneren bewusst, dass meine Aufgabe woanders liegt. Deshalb habe ich nie aufgegeben und immer weiter nach meinem Ursprung gesucht, bis ich ihn dank eurer Hilfe endlich fand. Nun weiß ich wo mein Platz ist – zumindest dachte ich das bis zu meiner Wiedergeburt.“ Yugi sah ihn mit hochgezogener Augenbraue an. „Und seitdem ist es anders?“ „Das ist es“, bestätigte sein Gegenüber. „Ich gehöre hier nicht mehr hin. Eigentlich ist mein Platz im Jenseits und doch lebe ich. Eigentlich ist Seto derjenige, der auf dem Thron sitzen sollte und doch spricht jeder mir diesen Platz zu. Und es fühlt sich nicht richtig an.“ „Ich glaube kaum, dass Seto dir den Thron streitig machen würde oder ihn dir auch nur neidet …“ „Das würde er niemals tun, da stimme ich dir zu“, unterbrach Atemu ihn sachte. „Aber … dennoch erscheint es mir nicht richtig. Um ehrlich zu sein … spiele ich schon mit dem Gedanken, den Thron an ihn abzugeben, seitdem wir Theben verlassen haben.“ Zu seiner Verwunderung wirkte Yugi nicht sonderlich überrascht. Er nickte lediglich, während er am Wein nippte und zu überlegen schien. „Aber was ist es, das du danach tun willst? Ich meine … du wirst nicht …?“ Atemu verstand die unausgesprochene Frage. „Nein. Mir ist bewusst, was für ein kostbares Geschenk mir die Götter gaben, auch wenn sie es aus einem Selbstzweck heraus taten. Nein, das nicht, Yugi. Ich dachte vielmehr daran, das Land zu bereisen. Vielleicht auch über seine Grenzen hinaus zu gehen.“ Er nahm ebenfalls einen Schluck vom Alkohol. „Ich war noch jung, als ich starb. Auch heute bin ich es noch. Ich habe Schlachten geschlagen, regiert … und habe doch fast nichts von dem Land gesehen, über das ich herrschte. Ganz zu schweigen von dem, was jenseits seiner Grenzen liegt.“ Der Kleinere nickte. „Das verstehe ich gut.“ Atemu lächelte. „Ich weiß, dass es noch eine Weile dauern wird, bis ich das tun kann. Aktuell kann ich das Land nicht verlassen. Ich werde gebraucht. Doch es kommt der Tag, da kann Seto auf mich verzichten. Und dann werde ich reisen, diese Welt sehen, in Frieden leben.“ „Das klingt gut. Lass uns darauf anstoßen“, schlug Yugi vor und hob seinen Pokal. Klirrend stießen die Behältnisse gegeneinander, ehe sie tranken. „Zuerst aber“, ergriff der Pharao anschließend abermals das Wort, „werden wir einen Weg finden, euch nach Hause zu bringen. Das verspreche ich dir, Yugi.“ Die Sonne erreichte gerade ihren Zenit, als die Umriss Men-nefers am Horizont auftauchten. Beim Anblick ihres Ziels wurden Freudenrufe im Tross laut. Es dauerte jedoch noch eine Weile, bis sie nahe genug an die Stadt heran kamen, um Details ausmachen zu können. Was Atemu zuerst auffiel, war, dass Caesian die Mauern hatte instand setzen lassen. Sie waren in einem weitaus schlechteren Zustand gewesen, als er die Stadt zuletzt gesehen hatte. Auf den Wehrgängen machte er auch bald Soldaten aus, die in aufgeregtes Rufen verfielen, als sie bemerkten, wer sich da Men-nefer näherte. Scheinbar mussten sie sich bereits aus anderen Gegenden hier eingefunden haben, sobald sich die Nachricht vom Sieg verbreitet hatte. Als sie die Hauptstadt schließlich erreicht hatten, wurde sogleich das Tor für sie geöffnet. Unter Freudenschreien und Jubel zogen Atemu und sein Tross in die Stadt ein. Waffen wurden gereckt, Blumen geworfen, die Götter gepriesen, Lieder angestimmt. Atemu zeigte der heimgekehrten Bevölkerung durch gelegentliches Winken und beständiges Nicken, dass er ihre Lobpreisungen schätzte. Er würde bald zu ihnen sprechen müssen. Es war offensichtlich, dass sie nach einer Rede verlangten, die ihnen verdeutlichte, welcher Schrecken überwunden worden war und zugleich erklärte, wie es nun weitergehen würde. Noch auf dem Weg zum Palast vereinbarte er mit Seto, dass so bald wie möglich verkündet werden sollte, dass er am nächsten Morgen zu seinem Volk sprechen würde. Die Sache duldete keinen Aufschub. Die Menschen brauchten Orientierung in diesen chaotischen Zeiten und er würde versuchen, sie ihnen zu geben. Sie hatten sie nach allem, was sie durchgemacht hatten, ebenso verdient wie den Frieden, der ihnen hoffentlich bevorstand. Ja näher der Tross dem Palast kam, desto mehr Soldaten setzten sich von ihrem Zug ab. Nur ein Teil der Krieger würde mit in das Herz des Reiches einziehen. Der Rest wurde anderweitig gebraucht und hatte Anweisung, sich nach einer knappen Erholungspause direkt wieder in den Dienst zu begeben. Aber auch die Zivilisten wurden weniger, je näher sie der Königsresidenz kamen. Es war als spürten sie, dass ihr Herrscher noch einige Augenblicke der Besinnung brauchte, ehe er auf sie zugehen konnte. Zunächst begnügten sie sich damit, ihren Pharao gesund und wohlbehalten wieder in ihrer Mitte zu wissen. Auch Marlic verschwand bald und setzte sich in die Stadt ab. Atemu vermutete, dass er eine Kneipe oder dergleichen aufsuchen würde. Schließlich erreichten sie das Tor zur Palastanlage. Hindurch ritten nur noch etwa vier Dutzend Soldaten und der harte Kern ihrer Truppe einschließlich der Schattentänzer. Anschließend fielen die Torflügel krachen hinter ihnen zu und verschluckten den Lärm der Stadt. Erschöpft und glücklich stiegen sie von ihren Pferden, die von einer Hand voll Bediensteter in Empfang genommen wurden. Andächtig stand Atemu vor dem Portal, das in das Innere seines Herrschaftssitzes führte. „Du bist zurück“, riss Yugis Stimme ihn schließlich aus den Gedanken. „Du hast es geschafft. Von nun an wird wieder der Richtige auf dem Thron sitzen – wer immer das auch sein mag“, fügte er leiser hinzu und zwinkerte. Der Pharao lächelte ihn an, ehe er sich zu ihrer Gruppe umwandte. „Wir haben es geschafft. Wir sind zurück“, begann er. „Auch, wenn ich es wohl noch des Öfteren tun werde, möchte ich euch jetzt, wo wir wieder hier stehen, noch einmal meinen Dank aussprechen – euch allen.“ Er ließ den Blick über jeden Einzelnen von ihnen schweifen. „Ohne euch wäre Ägypten vielleicht nicht gerettet worden – nein, ich bin mir sogar sicher, dass wir es ohne eure Hilfe niemals geschafft hätten. Ich stehe tief in eurer Schuld und denke nicht, dass ich mich jemals entsprechend werde bedanken können.“ „Der Krieg ist vorbei, Atemu“, erklang Manas Stimme. „Wir sind am Leben und das Land wird sich erholen. Ein größeres Geschenk kann es nicht geben.“ Allgemeine Zustimmung erklang, ehe sich die Hofmagierin ihrerseits an die Gruppe wandte. „Folgt mir. Ich zeige euch eure Unterkünfte.“ Niemand hatte etwas dagegen einzuwenden. Die Reise durch die Wüste war anstrengend gewesen, obgleich sie meistens bei Nacht geritten waren. Atemu ließ seine Freunde vorausgehen. Als er sich jedoch daran machte, ihnen zu folgen, hielt Seto sowohl ihn als auch Riell zurück. „Seht“, meinte er und nickte in Richtung des Säulenganges, der links des Haupteingangs abging. In den Schatten konnten sie eine Gestalt ausmachen, die sie zu beobachten schien. Atemu erkannte sie sofort und ging auf sie zu. „Bakura“, grüßte er den Anderen knapp, als er ihn erreicht hatte. Der Grabräuber erwiderte ein knappes Nicken, während Seto und Riell zu ihnen traten. „Pharao.“ Atemu entgingen die Blessuren an seinem Gegenüber nicht. „Eine Schattentänzerin hat uns bereits in Kenntnis davon gesetzt, dass es dir gelang, den Speer der Sachmet in deinen Besitz zu bringen – scheinbar jedoch nicht ohne Widerstand, wie ich sehe?“ „Zutreffend“, erwiderte Bakura knapp, dann griff er hinter die Säule, an der er lehnte, und förderte das Relikt zutage. Sogleich lösten sich seine Finger wieder davon, sodass es in Richtung des Pharao kippte und schließlich in dessen Händen lag. „Sieh bloß zu, dass die Dinger dort weggesperrt werden, wo niemand sie jemals wieder findet. Die Milleniumsgegenstände waren putzig verglichen mit diesen Monstrositäten.“ „Niemand wird jemals wieder Gebrauch davon machen“, versicherte Atemu. „So etwas, wie es in diesem Krieg geschehen ist, darf sich niemals wiederholen.“ „Gut.“ Bakura war bereits dabei, sich abzuwenden, da hielt ihn der Regent noch einmal zurück. „Warte – was ist nun geschehen? Waren es Caesians Männer, die dir auflauerten?“ Der Grabräuber verdrehte die Augen. „Die Bedrohung ist eliminiert. Was zählt es also noch?“ „Viel“, mischte sich Seto ein. „Niemand wusste von dem Versteck dieses Relikts, außer uns. Sein Standort war in der Seele der Zeit verborgen. Wenn Caesians Leute davon erfahren haben, würde das heißen, wir hätten eine undichte Stelle.“ „Das ist nicht der Fall, sei versichert.“ Atemu gefielen die kryptischen Angaben nicht. Er erinnerte sich daran, dass Katira berichtet hatte, ihr Ka hätte neben dem Grabräuber auch Risha angetroffen. Vielleicht eine Auseinandersetzung zwischen ihnen … Für den Moment schob er die Bedenken beiseite. Er kannte den Anderen inzwischen gut genug, um zu wissen, wann er ihn nicht weiter drängen sollte, wenn er an Informationen gelangen wollte. „Für den Moment genügt uns das, denke ich“, sagte er deshalb, ehe Seto nachlegen konnte. Dann wandte er sich wieder an Bakura. „Eine Frage bleibt aber noch: Hast du seit deiner Rückkehr nach Men-nefer etwas von Keiro gehört oder gesehen?“ Atemu entging nicht, wie sich die Züge des Anderen für den Bruchteil eines Augenblicks veränderten. „Wieso interessiert dich das? Es kann dir doch einerlei sein, was meinesgleichen treibt, oder nicht?“ Er versuchte es zu überspielen, doch dem Pharao war klar, dass da mehr war, als sein Gegenüber zugeben wollte. „Als wir Caesian in Theben gegenüber getreten sind, hatte er ein weiteres Relikt dabei – das Amulett der Bastet. Zuletzt befand es sich in Keiros Händen. Da er nie zu uns zurückgekehrt ist, befürchte ich, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte“, erwiderte er und tat so, als habe er nichts bemerkt. Er konnte sehen, dass es in Bakuras Kopf arbeitete. „Keiro ist hier“, entgegnete er schließlich, nicht minder kryptisch als zuvor. Für Atemu war das dennoch vorerst ein Grund, aufzuatmen. Er hatte befürchtet, er würde Neuigkeiten bringen, die das Gemüt des Grabräubers erhitzen konnten. „Das ist …“ „Wenigstens das, was noch von ihm übrig ist.“ Abrupt legte sich Stille über das Quartett. Der Pharao suchte in den Zügen Bakuras nach einer Regung, die ihn die Aussage einordnen lassen würde. Alles, was er jedoch fand, war eine perfekt sitzende, emotionslose Fassade. „Wovon sprichst du?“, hakte er deshalb nach. „Keiro ist tot.“ „Was? Wie …?“ „Aus dem wirren Kram, den er von sich gab, habe ich entnommen, dass er scheinbar mit einer dieser schwarzen Kugeln, die in der Wüste aufgetaucht sind, in Berührung kam. Meiner Meinung nach hat sich dadurch ein Teil der Finsternis, die die Götter in den Gegenständen versiegelt haben, in ihm manifestiert. Deshalb kam er auch auf die glorreiche Idee, das Amulett an Caesian abzudrücken“, berichtete Bakura ohne irgendeine Regung in der Stimme. Die Maskerade saß perfekt. Wenn irgendwelche Gefühle in ihm vor sich gingen, zeigte er nichts davon. „Jedenfalls habe ich ihn in Kul Elna angetroffen, als er dabei war Risha hinzurichten. Er hat sie wohl einige Zeit zuvor überwältigt und verschleppt. Schließlich hat er sich auch gegen mich gewendet. Am Ende habe ich ihn getötet.“ Die Verletzungen stammen also von Keiro, schoss es Atemu durch den Kopf. Er suchte gerade nach Worten, die er an sein Gegenüber richten konnte, da redete der Andere bereits weiter. „Ich habe seinen Leichnam zum nächstgelegenen Tempel gebracht. Veranlass seine Balsamierung – das bist Du mir schuldig. Um sein Begräbnis kümmere ich mich selbst.“ Damit wandte er sich ohne ein weiteres Wort zum Gehen – als Riell plötzlich vorsprang und ihn zurückhielt. „Warte! Was ist mit Risha? Ist sie …?“ „Sie lebt. Und sie weiß, dass du vor hast, sie als Anführerin des Clans abzusetzen – oder ahnt es zumindest.“ Damit wandte er sich endgültig ab und verschwand in den Schatten des Säulenganges. Risha befand sich in einem eigenartigen Zustand. Zum einen hätte sie tagelang schlafen können. Sie fühlte sich erschöpft, antriebslos und verbraucht. Zum anderen fand sie keine Ruhe. Wann immer sie die Augen schloss, sah sie Dinge, die sie nicht sehen wollte. Sie wälzte sich umher, unfähig, ruhig zu bleiben. Immer wieder überkamen sie nervöse Schübe. Ihr Kopf fühlte sich seit Sonnenläufen an, als würde er platzen. Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass es ihr nicht gut ging. Im Gegenteil. Sie war am Ende. Doch manche Dinge sind fest in den Menschen verankert. Und bei ihr war es der Stolz. Man mochte ihr auf mehrere Schritt Entfernung ansehen, dass sie durch den Wind war, zittrig und unruhig, noch überall mit verkrusteten Wunden übersät – doch sie würde niemals zugeben, wie dreckig sie sich fühlte, gleich wie offensichtlich es war. Dennoch gab es Menschen, die nachbohren würden. Und das war der Grund, warum sie die weitläufige Palastanlage bislang vor allem dazu genutzt hatte, um Riell, Sam und sonstigen Schattentänzern aus dem Weg zu gehen. Sie wollte sie nicht sehen. Eigentlich wollte sie niemanden sehen. Aber bei den genannten Personen hatte es zudem den Grund, dass sie nicht wissen wollte, was sie sagen würden. Wobei wissen es nicht traf. Sie wusste genau, welche Worte fallen würden. Sie wollte sie nicht hören. Der Clan war ihr halbes Leben. Sie war stets bereit gewesen, sich für ihn aufzuopfern. Um ihn zu schützen, hatte sie den Pharao angegriffen. Und dadurch offenbar alles verloren. War es ein Fehler gewesen? Sie wusste es nicht. Es war ihr auch egal. Es war geschehen. Ändern konnte sie nichts mehr. Natürlich, sie könnte sich entschuldigen. Aber zu welchem Zweck? Würde es helfen, ihren Status innerhalb des Clans zu bewahren? Nein. Im besten Fall wäre sie einmal gedemütigt – durch ihre Entschuldigung – im schlimmsten Fall zweimal – sollte Riell sie trotzdem absetzen. Dies war also ein Weg, den sie nicht gehen wollte. Blieb nur noch ein anderer – und der führte in die Wüste, in die Einsamkeit. Sie passte nicht in eine Stadt. Und genau das war es, was ihr solche Angst machte. Die wenigsten Menschen hätten ihr diese Aussage geglaubt. Die meisten nahmen an, sie fühle sich am wohlsten, wenn sie alleine war. Und damit hatten sie nicht unrecht. Doch Risha schätzte die Einsamkeit in Wahrheit nur so sehr, weil sie bislang jederzeit in der Lage gewesen war, sie zu beenden. Sie brauchte nur zu ihrem Clan zurückkehren, wenn es zu viel wurde. Doch wenn sie nun ging, wäre diese Entscheidung endgültig. Und sie wusste nicht, ob sie in der Lage sein würde, diese Form der Einsamkeit zu ertragen. Aber es blieb die einzige Möglichkeit, zumindest in ihren Augen. Es stellte sich nur noch die Frage nach dem Wann und dem Wie. Würde sie Riell ein letztes Mal gegenübertreten und seine Entscheidung annehmen? Oder würde sie klangheimlich verschwinden? Und dann war da noch die Sache mit Keiro. All das Geschehene wollte nicht in ihren Kopf. Sie verstand es nicht. Jedes Mal, wenn dieses Gedankenkarussell von vorne begann, versuchte sie, es zu verdrängen. Sie wollte nicht darüber nachdenken. Sie wollte ihn vergessen. Vergessen, dass er jemals existiert hatte. Dass sie noch einmal dorthin zurückgekommen war, wo alles angefangen hatte. Das Gleiche mit Bakura. Auch er würde am Ende nur wieder verschwinden, auf die eine oder andere Weise. Selbst, wenn er bliebe, würde sich dadurch nichts ändern. Sie waren zu kaputt. Keiner vermochte, dem anderen zu helfen. Und selbst, wenn er es gekonnt hätte – was scherte er sich um sie? Sie kannten einander kaum, waren sich völlig fremd. Warum er Keiro davon abgehalten hatte, sie zu töten, verstand sie ebenso wenig wie alles andere. In einem Anflug von zielloser Wut riss sie sich den Anhänger vom Hals, der die Göttin Sachmet zeigte, und feuerte ihn in die Dunkelheit. Von dem Dach aus, auf dem sie saß, hörte sie ihn irgendwo jenseits der Palastmauern aufschlagen. Er bestand aus Metall. Dennoch hoffte sie, dass er zersprungen war. Die Götter mochten es geben. Risha war niemand, der ihre Existenz je geleugnet hätte. Doch fortan würde sie aufhören, ihre Gedanken an sie zu verschwenden. Sie glaubte nicht mehr an Gnade, an Vergebung. Sie kannte zahllose Schattentänzer, deren einziges Ziel im Leben war, beides zu erhalten, ehe sie in die nächste Welt übergingen. Genau genommen arbeiteten die meisten Ägypter daraufhin, sich ihr jenseitiges Leben im diesseitigen Dasein zu verdienen. Niemand wollte auf alle Ewigkeit leiden müssen. Risha schüttelte unterbewusst den Kopf. Alle hatten Angst vor dem, was sie im Jenseits erwartete, wenn sie in dieser Sphäre kein anständiges Leben geführt hatten. Doch wie schlimm konnte die Unterwelt verglichen mit dieser Welt schon sein? Nachdem sie Men-nefer erreicht hatten, war der Tag für Atemu noch nicht vorbei gewesen. Zunächst hatte er mit Seto einen Rundgang durch die Stadt unternommen, Schäden begutachtet und Anweisungen verfasst, welche Reparaturen Priorität hätten. Danach hatte er stundenlang mit seinem Hohepriester und Riell zusammengesessen. Zunächst hatten sie gemeinsam überlegt, wo die Relikte der Götter verwahrt werden sollten. Vorerst würden sie im Palast verbleiben. Auf lange Sicht hatten Seto und Riell dafür plädiert, die Relikte im Meer zu versenken. Atemu hatte dem jedoch nicht zugestimmt. Er wusste, welche Methoden es in der Zukunft geben würde und wusste, dass der Meeresboden auf Dauer nicht unbedingt sicher war. Nachdem sie hier vorerst zu keinem Ergebnis gekommen waren, hatten sie die Entscheidung vertagt. Anschließend war es um die Zukunft der Schattentänzer gegangen. Riell hatte abermals seinen Willen zur Zusammenarbeit mit dem Königshaus beteuert. Ebenso hatte er, wenn auch deutlich zögerlicher, bestätigt, dass er an dem Entschluss, Risha die Clanführung abzuerkennen, festhalten wollte. Zwar hatte sich herausgestellt, dass sie den Auseinandersetzungen nicht willentlich ferngeblieben war, doch es änderte nichts daran, dass sie auf Atemu losgegangen war. Riell wollte damit ein klares Zeichen für die Einigkeit setzen. Zuletzt hatte Seto das Thema angesprochen, wie es mit Marlic und Bakura weitergehen sollte. Der Pharao entschied schließlich nach kurzem Überlegen, bei dem Grabräuber ebenso zu verfahren, wie mit Marlic: auch er bekam seine zweite Chance. Was er daraus machen würde, darüber wollte sich Atemu vorerst nicht den Kopf zerbrechen. Er hatte dringlichere Sorgen. Und sollte sich herausstellen, dass diese Entscheidung die falsche war, würde er dementsprechend handeln, wenn die Zeit gekommen war. Nach einem gemeinsamen Abendessen mit seinen Freunden hatten sie alle beschlossen, zeitig zu Bett zu gehen. Sie waren erschöpft von der langen Reise in die Hauptstadt. Außerdem wollten sie sich morgen bei Zeiten der Frage widmen, wie Yugi und die Anderen in ihre Zeit zurückgelangen konnten. Atemu freute sich auf diese Nacht. Zum einen waren die Annehmlichkeiten des Palastes kaum zu vergleichen mit dem harten Lager, auf dem er während ihres Marsches geschlafen hatte. Zum anderen konnte er nun, da er wusste, dass in Theben und Men-nefer alles in geregelten Bahnen verlief, endlich wieder ohne Sorgen einschlafen. Gewiss, es gab noch viel zu tun, doch nichts davon bedrohte die Existenz des Landes. Kaum, dass sich Atemu in die bequemen Kissen seines Bettes hatte fallen lassen, versank er auch schon in tiefem Schlaf. Bald begann er zu träumen. Er schlenderte am Nil entlang. Die Luft war angenehm warm. Eine leichte Brise streichelte seine Haut. Er fühlte sich wohl, entspannt. Selbst, als die Schatten plötzlich länger wurden und ein Nebel über den Fluten aufstieg, änderte sich dies nicht. Der bleiche Dunst breitete sich aus, waberte voran, umspielte zunächst seine Füße und schloss ihn schließlich komplett ein. Verwunderung machte sich in ihm breit. Plötzlich fühlte sich das alles gar nicht mehr an wie ein Traum. Dann wurde alles um ihn herum schwarz. Atemu fand sich in einer dunklen Leere wieder. Kein Geräusch drang an seine Ohren, während er sich nach allen Seiten umsah. Er spürte keine Furcht, doch er fragte sich, was hier wohl gerade vor sich ging. Warum kam ihm all das hier so real vor? Eben war er sich noch sicher gewesen, sich in einem Traum zu befinden. Er sollte die Antwort schneller bekommen, als er dachte. Aus den Schatten zu seiner Rechten löste sich langsam eine Gestalt. Die raubtierhaften Umrisse ließen ihn bald erahnen, in wessen Gegenwart er sich befand. Bedächtig sank er auf ein Knie und beugte das Haupt. „Ah, ich sehe, du hast Manieren gelernt“, drang die amüsierte Stimme Sachmets an sein Ohr. „Ich grüße Euch“, erwiderte Atemu und erhob sich, während sich die schwarze Löwin in einiger Distanz hinsetzte. „Ich nehme an, es hat einen Grund, weshalb Ihr mich aufsucht?“ „Allerdings“, bestätigte sie mit einem Nicken. „Zunächst einmal, Pharao, will ich dir zu deinem Sieg gratulieren.“ „Danke. Doch es war nicht mein alleiniger Verdienst.“ „Oh, das ist mir bewusst. Aber ich kann nun mal nicht jedem im Traum erscheinen. Wo kämen wir denn da hin, wenn wir Götter für jeden dahergelaufenen Soldaten von unserer Sphäre herabsteigen würden? Ich sage es dir: wir wären so beschäftigt, dass Ra und Apophis gar nicht mehr in der Lage wären, sich jede Nacht ihren üblichen Kleinkrieg zu liefern.“ Sie umrundete ihn, während ihre Raubtieraugen auf ihm ruhten. „Aber das ist natürlich nicht der einzige Grund, weshalb ich dich heimsuche, Menschenkind. Wir haben Dinge zu klären, Pharao. Viele Dinge.“ „Nun gut. Worüber sollen wir sprechen?“, hakte Atemu nach. „Zunächst“, fing Sachmet an und ließ sich vor ihm nieder. „Die Relikte. Sie können nicht auf Erden bleiben.“ Der Pharao legte die Stirn in Falten. „Ein guter Punkt. Wir haben lange darüber gesprochen, wie mit ihnen zu verfahren sei, doch wir sind bislang zu keinem Ergebnis gekommen. Zumal es viele Dinge zu bedenken gibt. Die Menschheit wird dazu lernen und so gut wie jeden Winkel dieses Planeten erkunden.“ „Richtig. Und genau deshalb haben wir Götter entschlossen, die Gegenstände wieder an uns zu nehmen.“ Atemu war ob dieser Antwort ehrlich überrascht. „Seid Ihr Euch dessen sicher? Hattet ihr die Relikte nicht auf Erden verbannt, um euch endgültig eurer dunklen Seiten zu entledigen?“ „Damit hast du natürlich Recht. Doch auch wir Götter sind nicht unfehlbar. Die Artefakte in die Sphäre der Menschen zu schicken war rückblickend der gröbste Fehler, den wir haben begehen können. Es wird Zeit, dass wir uns unserer Bürde annehmen und lernen, mit ihr umzugehen.“ Ihr Blick schweifte ab, ganz so, als könne sie in dem Dunkel, das sie umgab, etwas sehen, das dem Pharao verborgen blieb. „Wir verlangen von den Menschen, dass sie ein Leben frei von Tadel führen. Es wird Zeit, dass wir uns ebenfalls beweisen und uns unseren Dämonen stellen.“ „Und Ihr denkt, dass Ihr und die anderen Götter dazu bereit seid?“, traute sich Atemu zu fragen. Sachmets Mine verfinsterte sich augenblicklich. „Lass das nur unsere Sorge sein, Menschlein. Auch bevor wir diese Seiten unserer Existenz abspalteten, haben wir es geschafft, die Welt nicht untergehen zu lassen. Es war schwerer, ja – doch es ist uns dennoch gelungen, das Gleichgewicht zu halten. Wir haben in der Zwischenzeit dazu gelernt.“ Sie fletschte die Zähne. „Auf jeden Fall darf es nie wieder passieren, dass Menschen wie Caesian die Gelegenheit bekommen, sich unsere Macht anzueignen. Das haben wir erkannt. Zu einem unvorstellbar hohen Preis. Sokars Ableben kann nicht rückgängig gemacht werden. Er wird ein klaffendes Loch in dieser Sphäre hinterlassen … Was mich zum nächsten Punkt bringt.“ Sachmet begann wieder, auf und ab zu gehen. „Diese Sphäre ist geschwächt von all den Dingen, die vorgefallen sind, Pharao. Es droht ihr aktuell keine direkte Gefahr, doch es wird dauern, bis sich die Wunden, die geschlagen wurden, schließen. Um dies zu beschleunigen, müssen einige Dinge zurechtgerückt werden. Zum Beispiel …“, setzte sie an und blickte Atemu direkt in die Augen, „… müssen gewisse Personen zurück an ihren Platz.“ Der Pharao schluckte unwillkürlich. „Ihr meint meine Freunde“, stellte er fest. „Aber das ist nicht, alles, was Ihr sagen wollt, habe ich Recht? Ihr wollt sagen, dass ich in die Unterwelt zurückkehren muss, um zur Heilung der Welt beizutragen.“ Sachmet musterte ihn eindringlich, ehe sie nickte. „Das wäre eine Lösung, Menschenkind. Allerdings ist auch uns als strafenden Göttern die Bedeutung des Wortes Dankbarkeit nicht fremd. Und dich einfach so wieder ins Jenseits zu schicken wäre doch irgendwie … unangebracht, findest Du nicht?“ Sie kam direkt vor ihm zum Stehen, setzte sich aufrecht hin und fixierte ihn scharf. „Hör mir nun genau zu. Zunächst zu deinen Freunden: ihre Situation ist einfach. Ich hatte da unter Umständen meine Finger im Spiel, als sie hier gelandet sind. Diesen kleinen Eingriff in das Gefüge von Zeit und Raum kann ich ganz leicht korrigieren, indem ich sie wieder zurückschicke.“ Atemu nickte. „Gut, das ist ohnehin ihr Wunsch. Wie soll das vonstatten gehen?“ „Langsam, Menschenkind. Ich bin noch nicht fertig.“ Nach einer Kunstpause fuhr sie fort: „Mit dir verhält es sich anders. Anubis hat sich erbarmt und Ägypten seinen größten Helden in der Stunde schwerster Not zurückgegeben. Einen Helden der eigentlich tot sein und tot bleiben sollte. Hinzu kommt, dass er, um diese Welt nicht in den Abgrund zu stoßen, eine Bedingung an deine Wiedergeburt knüpfen musste – den Stachelkopf und den Grabräuber. Allerdings gehören auch sie streng genommen nicht hier hin. Damit stehen wir also einem kleinen Dilemma. Ich habe bereits gesagt, dass ich es doch für reiflich undankbar hielte, würde Anubis dich einfach wieder ins Jenseits schicken – da landest du ohnehin früh genug, mit deiner kümmerlichen, menschlichen Lebensspanne. Aber was mache ich mit den beiden? In paradoxer Weise seid ihr nämlich durch eure gemeinsame Wiedergeburt aneinander gebunden. Anubis hat mir davon abgeraten, sie in die Unterwelt zu holen und dich gehen zu lassen. Er macht das nicht oft, Menschen zurück ins Diesseits schicken, weißt du? Daher wissen wir nicht, welche Konsequenzen es nach sich ziehen würde, wenn wir so verfahren. Deshalb müssen wir für sie eine ähnlich gelagerte Lösung finden wie für dich.“ „Und wie soll diese aussehen?“, hakte Atemu nach. „Wenn ihr mich nicht in das Jenseits holen möchtet, ich aber auch nicht hier bleiben kann – was dann?“ „Ganz einfach, Menschlein. Du und die beiden anderen, ihr begleitet deine Freunde.“ Dem Pharao blieb regelrecht die Luft weg. „Ins … ins 21. Jahrhundert?“ „Ganz genau.“ „Aber … inwiefern ist das zu rechtfertigen? Wie kann ich dort existieren, ohne, dass es Einfluss auf das Gefüge der dortigen Sphäre hätte?“ Sachmet seufzte. „Das ist kompliziert. Aber gut, ich werde versuchen, es dir zu erklären. Du lässt ja ohnehin nicht locker. Zunächst einmal ist diese Zeitebene deutlich stabiler als die hiesige. Ja, deine Freunde wurden zwar aus ihrem Platz im Gefüge gerissen, doch sobald wir sie wieder dort platzieren, wo sie hingehören, sollte das kein Problem mehr darstellen. Dann zu euch: per se könnt ihr in dieser Sphäre existieren, da ihr dort alle schon einmal existiert habt. Ihr habt ihr alle unweigerlich euren Stempel aufgedrückt. Ihr seid jedoch nie verstorben, wenn man so will, da ihr stets nicht mehr als Schatten in dieser Welt ward. Das macht es einfacher. Dann kommt noch hinzu, dass es eventuell sogar Lücken schließen könnte, euch dorthin zu schicken.“ „Inwiefern das?“ „Beginnen wir mit Marlic. Du hast ihn damals vernichtet und den Jungen Marik befreit. Das mag ja edel sein, Pharao, doch es hat das Grundproblem nicht gelöst. Marik war nie gezwungen, sich direkt und alleine mit seiner dunklen Seite auseinander zu setzen. Das bedeutet, dass er nun die Chance dazu bekommen könnte. Wäre also einer abgehakt. Was Bakura angeht, so sind einige Dinge in seinem Leben nicht ganz so verlaufen, wie sie hätten verlaufen sollen. Auch hier sind Dinge aus dem Gleichgewicht geraten, die sich einrenken lassen, indem er diese Sphäre verlässt – gänzlich, also scheidet auch das Jenseits aus. Und was dich betrifft: eine kleine Erschütterung kann die dortige Sphäre schon vertragen. Wir werden den Schaden allerdings begrenzen. Hier, in deinem Königreich, magst du göttlicher Abstammung sein, Menschenkind. Doch dort,wirst du nichts weiter als ein gewöhnlicher Sterblicher sein – ebenso wie wir Götter nichts mehr weiter sind, als Abbildungen auf Felsbrocken, die sich die Menschen ansehen und dann gleich wieder vergessen, sobald die Frage aufkommt, was es zu Mittag gibt. Keine Göttermonster, nichts.“ Atemu ließ sich die Gedanken durch den Kopf gehen. Schließlich nickte er. „Gut. Einverstanden. Ich bitte Euch lediglich um etwas Zeit, um die Regierung an Seto zurückzugeben. Und um mich von meinen Freunden in der hiesigen Sphäre zu verabschieden.“ Ein raubtierhaftes Grinsen huschte über Sachmets Züge. „Die kleine Hofmagierin, nehme ich an? Wie dem aus sei, viel Zeit vermag ich dir nicht zu geben. In drei Umläufen bei Sonnenaufgang werden du und jene, die dich begleiten, sich auf der höchsten Düne östlich von Men-nefer einfinden. Dort wird das Zeichen des Lebens auf euch warten. Berührt es und ihr werdet in das Zeitalter deiner Freunde zurückkehren. Ich erwarte in dieser Angelegenheit absolute Folgsamkeit, Pharao. Ich will von keiner der beteiligten Personen Klagen hören. Sollte sich jemand weigern, so wird er gezwungen.“ Sie blickte kurz in die Ferne, als sähe sie in dem undurchdringlichen Dunst, der sie umgab, abermals etwas. „Nun denn, Pharao. Dies wird das letzte Mal sein, dass wir uns begegnen. Daher gehabe dich wohl.“ Damit wandte sie sich zum Gehen. Doch noch war Atemu nicht mit ihr fertig. „Sachmet! Ich denke, es gibt da noch etwas, das der Klärung bedarf.“ Die Raubkatze hielt inne und sah ihn argwöhnisch an. „Das da wäre?“ „Ich lasse mich nicht mit kryptischen Erklärungen, die nichts aussagen, abspeisen. Das solltet Ihr doch eigentlich wissen“, meinte er, während er auf sie zuging. „Bei unserem letzten Treffen hatte ich Euch eine Frage gestellt. Die Antwort seid Ihr mir nach wie vor schuldig.“ Eine Weile lang sahen sie sich nur an. Ein stummes Kräftemessen. Schließlich legte die Göttin den Kopf schief. „Was genau interessiert dich das Schicksal des Grabräubers?“ „Das muss Euch nicht kümmern.“ Einen Moment lang schwieg sie. Dann wandte sie sich ihm wieder zu. „Es dürfte dir nicht entgangen sein, dass ich gelegentlich dazu neige, dem Schicksal etwas auf die Sprünge zu helfen. Und wie gehabt sind wir Götter Ägyptens keine, die Unfehlbarkeit für sich beanspruchen. Ich habe Fehler gemacht. So auch in Kul Elna.“ Atemu legte beim Namen des untergegangenen Dorfes die Stirn in Falten. „Was soll das heißen?“ Sachmet begann, unruhig auf und ab zu gehen. „Simpel: Es hätte niemals zu der Auseinandersetzung zwischen Bakura und dir kommen sollen.“ Der Pharao brauchte einen Moment, um die Worte zu verarbeiten. Doch er wurde nicht schlau daraus. „Ich verstehe nicht. Was meint ihr damit, es hätte niemals dazu kommen sollen?“ Sachmet seufzte und hielt inne. Ihre goldenen Augen richteten sich wieder auf den Regenten. „Das Schicksal ist ein kompliziertes Ding, Pharao. Auch wir Götter sind immer nur in der Lage, Bruchstücke eines menschlichen Lebens zu sehen, ehe der betreffende Lebensabschnitt erreicht wurde. Auch wir wissen erst dann, in welchen Gesamtzusammenhang sich die einzelnen Teile einfügen, wenn die Zeit soweit ist. Auch bei Bakura und seinem Schlag war es nicht anders. Wir alle wussten, dass diesen Jungen ein besonderes Schicksal erwarten würde. Und die Bruchstücke, die wir davon erahnen konnten, ergaben für uns das folgende Bild: Der Plan des Schicksals sah vor, dass Bakura und Keiro bei dem Massaker in Kul Elna hätten überleben sollen, während die Schattentänzerin sterben sollte. Die Brüder sollten anschließend noch enger als zuvor zueinander stehen, ehe Keiro einige Jahre später schwer erkranken sollte. Es sah danach aus, als würde er Bakura auf dem Sterbebett das Versprechen abnehmen, die Vergangenheit ruhen zu lassen und sich nicht den Rachegedanken hinzugeben. Auf diese Weise wäre verhindert worden, dass er Zorc zur Wiederauferstehung verhilft.“ Sie machte eine kurze Pause, als müsse sie ihre Gedanken sammeln. „Dieses Bild glaubten wir vor uns zu sehen. Und es überzeugte mich nicht im Geringsten. Ich war der Ansicht, dass Keiros Bitte alleine nicht ausreichen würde, um Bakura von dem Weg abzubringen, der unweigerlich ins Dunkel führte. Dieser Überzeugung bin ich selbst heute noch. Denn selbst wenn Keiro ihm das besagte Versprechen abgerungen hätte, konnte niemand garantieren, dass er sich später daran halten würde.“ Ihr Blick ruhte ununterbrochen auf ihm, bohrte sich in ihn hinein, je weiter sie erzählte. „Und hier machte ich einen Fehler: ich wollte jemanden erschaffen, der dafür sorgen konnte, dass das Versprechen gewahrt blieb. Ich veränderte das Schicksal. Ich rettete Risha. Anstatt zu sterben, kam sie lediglich mit einer hässlichen Verletzung am Bein davon. Ich war der Ansicht, dass damit ein guter Ausgang für Bakuras Lebensstrang garantiert war. Ich war überzeugt, dass Risha darüber wachen würde, dass er sein Versprechen hielt. Doch es kam alles anders …“ Sie gab ein Knurren von sich. „Ich war so fixiert auf den möglichen Ausgang von Bakuras Leben, dass ich Rishas Lebensfaden kaum Beachtung schenkte. Und selbst, wenn ich darauf geachtet hätte, wäre das, was ich von beiden Schicksalen gesehen hatte, bei weitem nicht genug gewesen. Doch ich erkannte zu spät, dass die Bruchstücke trügerisch gewesen waren. Ich konnte nicht erahnen, welche Abgründe ich erschaffen hatte, bis ich sie vor mir sah: anstatt Bakura zur Heilung zu verhelfen, verfiel Keiro aufgrund des Zwists mit Risha selbst dem Hass. Und die Schattentänzerin selbst entwickelte sich nicht besser. Anstelle von einer Toten und zwei Brüdern, die ihren Frieden mit der Vergangenheit geschlossen hatten, sah drei Seelen vor mir, die langsam aber stetig vom Hass zerfressen wurden. Doch damit nicht genug … das Schicksal geriet dadurch dermaßen aus den Bahnen, dass Keiro für eine Zeit Ägypten verließ – und Bakura niemals traf.“ Als sie geendet hatte herrschte eine ganze Weile lang Schweigen. Atemu spielte die beiden Szenarien gegeneinander im Kopf durch, um zu begreifen, was geschehen war. „Das heißt … Risha sollte eigentlich tot sein? Keiro hätte früher sterben sollen? Und Bakura hätte Zorc niemals erweckt?“ „Zumindest, was die ersten beiden Aussagen anbelangt, hast du Recht. Was Bakuras Zukunft angeht … es ist nicht sicher, ob Keiros Bitte alleine ausgereicht hätte, um ihn davon abzubringen, Zorc wiederzuerwecken. Was allerdings feststeht, ist, dass wir durch mein Eingreifen zwei Ungerade in dieser Sphäre hatten. Keiro, der deutlich früher von uns gehen sollte, auf der einen Seite. Diese Problematik hat sich inzwischen selbst erledigt“, erklärte sie und kam damit wieder auf die Stabilität der Sphäre zu sprechen. „Auf der anderen Seite bleibt jedoch noch Risha. Bislang hat ihre Existenz dieser Welt nicht einmal eine Kerbe beschert. Jetzt, wo Caesian diese Sphäre jedoch derartig ramponiert hat, müssen wir auch an Gegebenheiten Korrekturen vornehmen, die weiter zurückliegen. Ich würde jedoch abermals in das Schicksal eingreifen, würde ich sie tot umfallen lassen. Außerdem wäre das wieder so undankbar, immerhin hat auch sie ihre Rolle in diesem Krieg gespielt. Daher lösen wir das Problem, indem Bakura diese Sphäre verlässt, da er hier ohnehin nicht bleiben kann. Im Gegenzug kann Risha überleben, da dann, wie ursprünglich vorgesehen, nur noch eine Person aus dieser Blutlinie in dieser Sphäre weilt.“ Atemu ließ sich das Gehörte eine Weile durch den Kopf gehen. Sachmet interpretierte dieses Schweigen. „Du verachtest mich, nicht wahr, Menschenkind?“ Der Pharao sah ihr in die goldenen Augen und hielt ihrem bohrenden Blick stand. Dann schüttelte er, sehr zur Überraschung der Göttin, den Kopf. „Nein. Ja, Ihr könntet Recht haben. Isis, Mahad, Shadi … und so viele andere … sie alle könnten noch am Leben sein, wenn Ihr nicht eingegriffen hättet.“ Er warf einen Blick auf die Schatten, die sie umgaben. „Oder sie könnten ebenso tot sein, wie sie es jetzt sind. Ihr sagtet selbst, dass nicht klar ist, was aus Bakura geworden wäre, wenn Keiro verstorben wäre und ihm dieses Versprechen abgenommen hätte. Vielleicht wäre es trotzdem soweit gekommen. Aber all diese Überlegungen nützen nichts. Wenn noch nicht einmal Götter in der Lage sind, den Weg des Schicksals vorherzusagen, so werde ich mir nicht anmaßen, es besser zu wissen. Aber ich kann mir vorstellen, dass ein einziges Leben auf tausend verschiedene Arten verlaufen kann, ganz abhängig davon, wem wir begegnen, welche Erfahrungen wir machen, welche Entscheidungen wir treffen müssen. Und die Möglichkeit, dass Bakura nicht den Weg der Dunkelheit einschlägt, bestand gewiss. Er hat diesen Weg jedoch nie gefunden. Weshalb, werden wir wohl nie erfahren.“ Erneut machte sich Schweigen breit, ehe Sachmet ein amüsiertes Lachen, das mehr nach einem Knurren klang, von sich gab. „Manchmal überrascht ihr Menschen mich, dass muss ich zugeben. Du zum Beispiel zeichnest dich durch eine Weisheit aus, die man jemandem in deinem Alter nicht zutraut, Pharao. Das macht dich wahrlich besonders. Diese Worte hätten auch aus dem Munde eines Gottes kommen können.“ Sie musterte ihn noch einen Moment, dann wandte sie sich ab. „Doch nun genug geredet. Dir bleibt nicht mehr viel Zeit, bis ich dich dorthin zurückschicke, wo du schon einmal gewesen bist, Menschenkind. Verabschiede dich von denen, die dir am Herzen liegen. Denn wenn du in drei Umläufen in einer anderen Zeit aufwachst, sind sie seit Jahrtausenden tot.“ Ehe Atemu etwas erwidern konnte, griff der schwarze Nebel um sich und die Silhouette der Göttin verschwand mehr und mehr. Schließlich schlug er die Augen auf. Am nächsten Morgen rief Atemu all jene, die an seiner Seite gekämpft hatten, zu einem Frühstück zusammen. Er hatte Glück gehabt, dass Marlic die Nachricht noch rechtzeitig erreicht hatte – er hatte sich bereits auf seine Abreise aus Men-nefer vorbereitet. Als schließlich alle beisammen waren, erhob er sich. „Nun gut. Ich habe euch hier zusammen kommen lassen, weil ich euch etwas mitzuteilen habe“, hob er an. „Du tust uns allen den Gefallen und dankst ab?“, fuhr Bakura dazwischen. Es hatte ihm ganz offensichtlich nicht gepasst, herbei zitiert zu werden. Atemu begegnete dem anklagenden Blick mit einem Nicken. „Das ist korrekt.“ Wäre Bakura nicht Bakura gewesen, ihm wäre die Kinnlade heruntergefallen. So machte sich auf seinen Zügen nur ein Ausdruck vollkommener Fassungslosigkeit breit. „Bitte was?“, rief Mana aus. „Aber Atemu! Ägypten …“ „Ägypten braucht mich nicht, Mana“, entgegnete der Pharao Kopf schüttelnd. „Das Land hat bereits einen amtierenden Regenten gehabt, ehe ich zurückkehrte. Einen, der das Amt zuverlässig bekleidete und das Reich gut regiert hat“, fuhr er mit Blick auf Seto fort. „Bevor ihr nun aber weitere Fragen stellt, so lasst mich erklären.“ Er erzählte davon, wie Sachmet ihm erschienen war und was sie gesagt hatte. Lediglich den Teil, in dem sie von Bakuras vermeintlichem Schicksal gesprochen hatte, ließ er aus. Als er geendet und sich gesetzt hatte, drang zunächst ein Freudenschrei an sein Ohr, der von niemand anderem stammte als Marlic. „Moderne Welt, ich komme! Keine Weiber, die man heiraten muss, um mit ihnen rumzumachen, Pay-TV, Junkfood, Mikrowellen, Cocktails, anständige Musik, geile Karren …“ Atemu schenkte ihm jedoch nur einen flüchtigen Blick, ehe seine Augen über die Runde wanderten. Auf den Gesichtern seiner Freunde konnte er ungläubige Freude erkennen. Setos Gesichtsausdruck war stoisch wie immer. Was ihm eher Sorgen bereitete, waren hingegen Manas enttäuschte Mine und Bakuras Gesichtsausdruck, der verriet, dass ihm das alles gar nicht passte. „Und hat sich dieses überdimensionale Katzenvieh auch gefragt, ob wir damit einverstanden sind? Ich bin es nämlich nicht. Ich gehöre nach Ägypten und nicht in dieses überkommene, dekadente Zeitalter“, erklärte er in eisigem Tonfall. „Sachmet war eindeutig“, entgegnete Atemu. „Es ist absolut notwendig, um die Balance in dieser Sphäre wiederherzustellen.“ „Und das kümmert mich was genau?“ „Lass es mich anders formulieren: wenn wir uns ihrem Willen nicht beugen, gibt es genau zwei Möglichkeiten. Die erste ist, dass sie nachhilft und uns gegebenenfalls gegen unseren Willen dorthin schickt. Die andere Lösung wäre eine Rückkehr ins Jenseits.“ Atemu ging bewusst nicht näher auf die Umstände ein, die Sachmet zu ihrer Entscheidung, sie fortzuschicken, verleitet hatten. Ebenso wenig erwähnte er, dass der Tod keine wirkliche Möglichkeit darstellte. Er hoffte einfach darauf, dass der Grabräuber den angenehmeren von beiden Vorschlägen annehmen würde. „Sei kein Narr, Bakura!“, mischte sich Marlic ein. „Sterben werden wir ohnehin früh genug. Jetzt genieß das Ganze doch mal! Wir könnten doch ´ne WG gründen! Das wäre sicher lustig!“ „Nur über meine Leiche!“, gab der Grabräuber zurück und stand ruckartig auf. „Ich habe es definitiv satt, ständig herumkommandiert zu werden – sei es von ach so göttlichen Pharaonen oder zu groß geratenen Haustieren. Sag Sachmet das, wenn du sie das nächste Mal sprichst. Ich bin raus aus der Nummer.“ Er wandte sich bereits um und machte Anstalten, aus dem Raum zu verschwinden. „Bakura!“, hielt Atemu ihn noch einmal zurück. „Ich glaube, die verstehst nicht. Sachmet wird dir keine Wahl lassen, außer dich zwischen …“ „Ich habe es mit göttlichen Relikten aufgenommen. Ich schrecke auch vor einem Gott nicht zurück“, war die patzige Antwort, dann war er verschwunden. Der Pharao seufzte tief. „Damit habe ich nicht gerechnet.“ „Na ja, man kann es ihm nicht wirklich verübeln, oder?“, warf Ryou überraschender Weise ein. „Er konnte mit unserer Welt nie viel anfangen und hat immer nur darauf gewartet, hierher zurück zu kommen. Und jetzt wird er praktisch verbannt.“ „Tja, da bleibt wohl nur eines“, meinte Joey. „Und das wäre?“, halte Marik mit hochgezogener Augenbraue nach. „Fesselnd, knebeln, mitnehmen“, erwiderte der Blonde. „Auch wenn wir dazu vielleicht die Hilfe eines Göttermonsters brauchen“, fügte er nach kurzem Überlegen hinzu. „So ein Unsinn“, mischte sich Ryou wieder ein. „Wir alle wissen, dass das ins Auge geht. Macht euch keine Sorgen und überlasst das mir.“ „Du?“, hakte Tristan überrascht nach. Der Weißhaarige nickte eifrig. „Er war jahrelang in meinem Kopf. Wenn ihn irgendjemand hier versteht, dann bin ich das. Ich spreche mit ihm“, erklärte er. Ryous Gesichtsausdruck war eindeutig. Er hatte sich diese Sache in den Kopf gesetzt und würde sie durchziehen. „Also gut. Danke, Ryou“, fuhr Atemu schließlich fort. „Aufgrund der bevorstehenden Ereignisse wäre es mir ein Anliegen, mich als nächstes mit Mana, Seto und Riell zusammenzusetzen und noch einmal über die Zukunft des Reiches und die Übergabe der Regentschaft zu sprechen, damit diese Themen vom Tisch sind. Die folgenden drei Umläufe werden schneller vergehen, als wir jetzt noch denken. Bis dahin will ich bereit sein, meinen Freunden in ihr Zeitalter zu folgen.“ Kapitel 72: Nach dem Sturm - Teil III ------------------------------------- „Zunächst möchte ich eines klarstellen: gleich, was ich in diesem Gespräch sagen werde, es ändert nichts daran, dass du meine Schwester bist – und es immer bleiben wirst. Wann immer du mich brauchst, ich bin für dich da. Ich weiß nicht, was in Kul Elna passiert ist, aber …“ „Ich will nicht darüber reden.“ Es überraschte Riell nicht, dass Risha ihm das Wort abschnitt. Er hatte damit gerechnet. Also nickte er nur. „Ich wollte lediglich, dass du das weißt.“ „Hab’s verstanden. Lass uns endlich über den eigentlichen Grund für dieses Treffen sprechen. Je schneller ich es hinter mir habe, desto besser“, fuhr sein Gegenüber fort. Riell unterdrückte ein Seufzen. Er war darauf vorbereitet, dass diese Unterhaltung mitunter die schwierigste in seinem Leben werden würde. Er ging ein gewaltiges Risiko ein, das war ihm klar. Die Chancen standen nicht schlecht, dass Risha anschließend aus dem Raum stürmen und er sie nie mehr zu Gesicht bekommen würde. Aus und vorbei. Aber er hatte diese Entscheidung treffen müssen. „Nun gut“, begann er schließlich und stütze die Arme auf die Tischplatte, die zwischen ihnen lag. „Hör zu: ich habe lange nachgedacht. Sehr lange. Unsere letzte Unterhaltung – wenn man das, was in der Wüste passiert ist, überhaupt so nennen kann – ist mir noch sehr gut in Erinnerung. Ich weiß, dass es sich dabei um eine Ausnahmesituation gehandelt hat. Wir alle waren geschockt von Kipinos Tod. Und dennoch darf ich das, was du in dieser Nacht gesagt und getan hast, nicht ignorieren.“ Er zögerte kurz. „Mir ist mittlerweile bewusst, dass du nicht vorhattest, uns hängen zu lassen. Ich gehe davon aus, dass du lediglich etwas Abstand gebraucht hast, um wieder klar denken zu können. Ich bin mir sicher, dass du zu uns zurückgekommen wärst, hättest du die Möglichkeit gehabt. Das ändert aber nichts daran, dass das, was du getan hast, gravierende Auswirkungen hatte, Risha. Noch in der selben Nacht sind Dreiviertel der Schattentänzer verschwunden. Dass sich das massiv auf unsere Truppenstärke und die Moral der verbliebenen Clanmitglieder ausgewirkt hat, muss ich dir nicht extra sagen“, führte er aus. Dann ein Seufzen. „Aber auch das ist noch nicht einmal das, was mich letztendlich zu meiner Entscheidung bewegt hat. Wir sind immerhin alle Menschen und machen Fehler. Allerdings war das, was du dir geleistet hast, etwas, das weit darüber hinausging. Du hast Atemu angegriffen, unseren damaligen wie heutigen Verbündeten. Und damit hast du den zerbrechlichen Frieden, den die unseren so sehr verdient haben, auf eine harte Probe gestellt. Wir können von Glück sprechen, dass die Beziehungen, die wir so mühsam aufgebaut haben, weiterhin Bestand haben. Ich denke, ich muss nicht ausführen, was alles hätte passieren können.“ Er machte eine kurze Pause, um Risha die Möglichkeit zu geben, sich zu äußern. Doch zu Riells Überraschung schwieg sie eisern und musterte konzentriert die Wand zu ihrer Rechten. Er seufzte erneut. „Es ist nicht so, als würde ich deinen Zorn nicht verstehen. Ich will jetzt keine Diskussion darüber anfangen, ob er gerechtfertigt ist oder nicht. Das ist auch nicht von Belang. Du trägst diese Wut in dir, das ist ein Fakt. Allerdings sind das deine Gefühle Risha – und nicht die des Clans.“ „Ach ja?“, hakte seine Schwester mit müde klingender Stimme nach. „Ja, so ist es. Ich sage das, was jetzt kommt, vollkommen ohne Vorwurf: ich war in der letzten Zeit bei ihnen. Du nicht. Zahllose Schattentänzer haben ihre Meinung über den Regenten revidiert. Seto und Atemu sind nicht ihre Vorgänger und das haben die Schattentänzer verstanden. Mehr noch: das Königshaus ist sogar bereit, uns endlich das zu geben, was wir uns so lange erträumt haben. Ein Leben in Frieden, in dem wir anerkannt werden …“ „Riell“, unterbrach ihn Risha plötzlich. „Tu mir einen Gefallen und komm zum Punkt. Wir beide wissen, dass du gerade nur herumredest. Deine Entscheidung lautet wie?“ Ihr Bruder warf ebenfalls kurz einen Blick zur Seite und schien seine Gedanken zu ordnen. Dann biss er sich auf die Unterlippe und nickte. „Was ich sagen will: während ich deine Ablehnung gegen die königliche Familie verstehen kann, so kann ich nicht zulassen, dass sich deine persönlichen Aversionen derartig auf den gesamten Clan auswirken. In einer Führungsposition, wie wir sie innehaben, können wir nicht handeln, wie es uns beliebt. Das Wohl aller anderen muss stets vor unseren eigenen Interessen stehen. Ich weiß, was du jetzt denken wirst – dass du genau das getan hast, dass du den Clan nur schützen wolltest. Aber das hast du nicht. Dein Verhalten war absolut inakzeptabel. Und ich darf nicht zulassen, dass so etwas jemals wieder geschieht. Ich habe bereits gesagt, dass es auch ganz anders hätte laufen können. Deshalb bleibt mir leider nichts anderes übrig, als dich hiermit offiziell der Clanführung zu entheben.“ Risha hatte den Schlag kommen sehen. Trotzdem drehte sich ihr in diesem Moment der Magen um. Sie schloss für einen Moment die Augen und atmete bewusst ein und aus, um das flaue Gefühl in ihren Eingeweiden zu vertreiben. „Dann wäre das ja geklärt“, entgegnete sie matt und machte sich daran, aufzustehen. „Einen Moment noch, bitte“, hielt Riell sie zurück. „Ich bin noch nicht ganz fertig, Risha. Ich denke, es ist wichtig zu betonen, dass ich dich zwar nicht mehr in einer führenden Position einsetzen kann, das aber nicht bedeutet, dass du kein Mitglied des Clans mehr bist. Du gehörst zu uns, Risha, und daran wird sich niemals etwas ändern. Du bist unersetzlich für uns und die starke Hand, die wird definitiv brauchen. Deswegen würde ich mir wünschen, dass du uns – und vor allem mir – weiterhin zur Seite stehst. Ich hätte dich gerne in der Position meiner Beraterin, Risha.“ Ihre Augen richteten sich zum ersten Mal in diesem Gespräch auf ihn. „Und wozu? Alles, was ich an Bedenken vorbringe, tust du ohnehin nur als Paranoia ab.“ „Wenn es darum geht, dass du behauptest, man wolle uns alle hinterrücks im Schlaf ermorden, magst du Recht haben. Und ja, genau diese Paranoia ist es, die dich als Clanführerin ungeeignet macht. Sie ist jedoch von Nutzen, wenn es darum geht, Augen und Ohren offen zu halten und nicht zu vertrauensselig zu werden. Während ich mich darüber freue, dass Seto gedenkt, weiterhin mit uns zusammen zu arbeiten, ist mir ebenso bewusst, dass er nicht auf ewig regieren wird. Und genau deswegen muss ich wachsam bleiben – etwas, das mir, wie du schon häufig erkannt hast, manchmal nicht leichtfällt. In dieser Hinsicht haben wir uns schon immer gut ergänzt, meinst du nicht?“, schloss er mit einem Lächeln. Risha erwiderte dieses jedoch nicht. „Lass mich kurz zusammenfassen: ich soll also wie ein geprügelter Hund zurückgekrochen kommen, meines Postens beraubt, und von da an auf gut‘ Freund mit dem Pharao machen?“ Sie schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, Riell. Aber wenn du glaubst, dass ich das kann, dann täuscht du dich. Ich habe auch meinen Stolz. Und ich werde ganz bestimmt nicht die Klappe halten, wenn es darum geht, Gerechtigkeit zu verlangen.“ „Seto ist nicht Atemu, Risha. Und keiner von beiden ist Aknamkanon.“ „Umso schlimmer – Akunaden hat nicht nur die Milleniumsgegenstände erschaffen, sondern war zugleich auch der Vater des neuen Pharao.“ „Womit wir wieder beim Thema wären: deine privaten Fehden dürfen sich nicht auf den Clan auswirken, verstehst du das nicht? Genau deshalb kann ich dich nicht in der Führung einsetzen. Genau deshalb kann ich dir lediglich den Posten meiner Beraterin anbieten – denn dann bin ich in der Lage, zu filtern, was du denkst.“ „Beantworte mir nur noch eine Frage, Riell, und dann lass uns dieses Trauerspiel beenden“, fuhr Risha dazwischen. „Was machst du, wenn du krank werden solltest oder dir sonst etwas passiert? Wer führt dann den Clan? Außer mir gibt es niemanden, der das könnte.“ „Katira.“ Risha sah ungläubig drein, während ihr Kopf die knappe Antwort verarbeitete. „Katira? Wie kommst du auf Katira? Sie ist eine Heilerin …“ „… und bald meine Ehefrau. Wir werden nach der Amtseinführung von Pharao Sethos heiraten.“ Risha schwirrten einhundert Antworten im Kopf herum. Dass das alleine Katira zu keiner Führungsfigur mache, dass sie zu weich war, dass es noch ewig dauern würde, bis Riell einen Nachfahren hatte, der alt genug wäre, um den Clan anzuführen … doch sie äußerte keinen einzigen dieser Gedanken. Sie wusste, dass sie verloren hatte. Sag gab ein Schnauben von sich. „Immerhin ist es dir nicht schwergefallen, mich so schnell wie möglich zu ersetzen.“ „Niemand wird ersetzt. Katira würde die Clanführung nur im absoluten Notfall erhalten. Und ich würde mich darauf verlassen, dass du sie unterstützt anstatt eine solche Situation auszunutzen. Weil ich dir vertraue. Ich weiß, du bist jetzt aufgewühlt, vielleicht auch verletzt und wütend – aber bitte, denk darüber nach. Bleib bei uns.“ Ein bitteres Lächeln stahl sich auf Rishas Züge. „Ach ja? Du vertraust mir? Offenbar nicht genug.“ Damit erhob sie sich und rauschte zur Tür hinaus. „… und zuletzt habe ich noch kurz mit Riell gesprochen. Er hat Risha seine Entscheidung mitgeteilt.“ „Ich nehme an ihre Reaktion war nicht gerade positiv?“ Mana massierte sich die rechte Schläfe. „Nicht wirklich, wobei Riell meinte, er hätte sich das Ganze schlimmer vorgestellt. Offensichtlich ist sie ziemlich angefressen, hat die Situation insgesamt aber überraschend ruhig aufgenommen. Es bleibt lediglich die Frage offen, ob sie beim Clan bleiben wird oder nicht. Wobei ich nichts dagegen hätte, würde sie verschwinden.“ Atemu lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Finger ineinander. „Wie man es nimmt. Ein Sprichwort im 21. Jahrhundert sagt, dass man seine Freunde an sich binden soll – und seine Feinde noch mehr. Ich denke, es wäre einfacher, sie im Auge behalten zu können.“ Als Mana nicht auf seine Worte reagierte, wanderte sein Blick zu der Hofmagierin, die plötzlich in Gedanken versunken schien. „Ist alles in Ordnung?“ „Ja, natürlich. Es ist nur … ach.“ Sie seufzte und ließ sich ihm gegenüber auf einen Stuhl sinken. „Weißt du, ich hatte ehrlich gesagt gehofft, dass die Götter dich zum Dank … na ja, vielleicht bei uns lassen würden und dir die Regentschaft überlassen, die du dir so sehr verdient hast. Ich bin mir sicher, es hätte eine Blütezeit für das Land bedeutet … und ich hätte mich ebenfalls sehr darüber gefreut.“ Atemu lächelte. Er hatte fast damit gerechnet, dass es Mana nicht leichtfallen würde, ihn gehen zu lassen. Er streckte seine Hand aus und legte sie auf ihre. „Die Götter haben ihre Gründe. Gute Gründe noch dazu. Ich hätte eigentlich niemals zurückkommen sollen.“ „Ich weiß. Ich freue mich für dich, wirklich. Mir ist sehr wohl bewusst, dass sie dich ebenso gut ins Jenseits zurückschicken könnten. Es ist schön, dass du die Möglichkeit bekommst, ein Leben in Frieden zu führen. Ich denke, es ist das größte Geschenk, das man erhalten kann. Es ist nur so schwer für mich. Wir haben dich schon einmal gehen lassen müssen. Und obgleich ich weiß, dass es dir dort, wo du hingehst, gutgehen wird, fühlt es sich an, als würden wir dich erneut verlieren.“ Mana biss sich auf die Unterlippe, darum bemüht, die Tränen zurückzuhalten, die zu fließen drohten. Atemu löste seine Finger von ihren, stand auf und ging um den Tisch herum, um sich neben sie zu setzen. Er legte tröstend einen Arm um ihre Schultern. „Ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlen musst. Auch mir fällt die Vorstellung schwer, dich nicht noch einmal wiederzusehen. Wobei das eigentlich nicht ganz richtig ist, oder?“ Auf den fragenden Blick der Hofmagierin hin fuhr er fort: „Ich bin und bleibe ein Pharao Ägyptens. Und wenn meine Zeit gekommen ist, so hoffe ich darauf, dass Ammit meine Seele passieren lassen wird. Und dann, spätestens dann, bin ich mir sicher, werden wir uns wiedersehen. Doch bis dahin ist noch Zeit, Mana. Ich kann nicht bleiben. Und nach allem, was geschehen ist, braucht dieses Land sowohl dich als auch Seto mehr denn je. Aber ich bin sicher, dass ihr dieser Aufgabe mühelos gewachsen seid. Du bist stark geworden, Mana. Überaus stark. Und genau das ist es, was mir die Gewissheit gibt, die Entscheidung der Götter beruhigt annehmen zu können. Denn ich kann darauf vertrauen, dieses Land und seine Menschen in guten Händen zurück zu lassen.“ So sehr sich die Hofmagierin auch bemüht hatte, sie vermochte schließlich nicht mehr, die Tränen zurückzuhalten. Doch obgleich sie glitzernden Perlen gleich über ihre Wangen rannen, spielte ein Lächeln auf ihren Lippen. „Das kannst du. Ich verspreche dir, dass wir stets alles nur Erdenkliche tun werden, um Ägypten und seine Bewohner zu beschützen. Wir werden nicht zulassen, dass irgendjemand jemals wieder derartiges Leid über uns bringt. Von nun an werden wir alleine zurechtkommen, damit du den Frieden finden kannst, den du verdienst.“ Atemu erwiderte ihr Lächeln. „Ich danke dir. Von ganzem Herzen.“ Er ließ den Blick durch den Raum wandern. „Soweit ich das verstanden habe, müssten wir inzwischen weitestgehend damit fertig sein, das Amt zu übergeben, oder?“ Mana wischte sich verstohlen mit einer Hand über die Augen und nickte. „Ja. Alles Weitere sollte sich auch so klären lassen, es sei denn, dir liegt noch etwas auf der Seele.“ „Ich denke nicht“, entgegnete er, ehe er sie wieder ansah. „Es dauert noch etwas, bis ich gehen muss. Wir könnten also noch etwas Zeit miteinander verbringen.“ Die Miene der Hofmagierin hellte sich augenblicklich auf. „Nichts lieber als das! Schwebt dir irgendetwas bestimmtes vor?“ „Nun, zum einen … Mana, sag: hat Mahad nach seinem Tod jemals ein Grab erhalten?“ Mana nickte mit ernstem Gesicht. „Selbstverständlich. Es befindet sich in der Nekropole. Möchtest du, dass ich dich hinbringe?“ „Das wäre gut, ja. Auf dem Rückweg können wir uns dann gleich um die andere Sache kümmern.“ Die Hofmagierin zog eine Augenbraue nach oben. „Und die wäre?“ „Ein Sack Mais.“ „Ein Sack Mais?“, wiederholte sie ungläubig. „Allerdings. Als Tea und ich in der Himmelspforte das Popcorn gemacht haben, war es nicht ganz richtig. Ich denke, es wird Zeit, dass wir es einmal mit Zucker und Salz probieren.“ Die drückende Hitze der Mittagszeit hatte Men-nefer in ihrem Griff. Es lag eine ungewöhnliche, friedvolle Ruhe über der Stadt. Die meisten Menschen hatten sich für eine kurze Zeit in ihre Häuser zurückgezogen. Sobald das Himmelsgestirn weitergewandert und die Temperaturen erträglicher waren, würden sie jedoch wieder herauskommen, um ihrem Tagesgeschäft nachzugehen. Dieses umfasste momentan vor allem noch Aufräum- und Aufbauarbeiten, aber auch der Handel hatte bereits wieder eingesetzt. Marlic hatte es sich im Palastgarten unter einer Dattelpalme bequem gemacht. Er lag im weichen Gras, hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und die Augen geschlossen. Ein seliges Grinsen lag auf seinen Lippen. Er hätte nicht gedacht, dass diese ganze Sache so eine gute Wendung nehmen würde. Eigentlich war er davon ausgegangen, dass die Götter ihn zurück ins Jenseits schicken würden. Aber scheinbar meinte es das Schicksal gut mit ihm. Nun malte er sich aus, wie er sein neues Leben gestalten würde. Es hätte jeden Außenstehenden wahrscheinlich überrascht, aber für ihn stand fest, dass der Pharao darin keine Rolle mehr spielen würde. Warum auch? Es gab keine Milleniumsgegenstände mehr, um die es sich zu kämpfen lohnte. Die Mächte der Finsternis, die ihm der Milleniumsstab einst verliehen hatte, waren ebenfalls dahin. Auch Atemu war fortan nichts weiter als ein einfacher Kerl. Und so gerne er ihn foppte, wusste er doch, dass ihm das auf Dauer keine Genugtuung verschaffen würde. Klar, er hätte immer noch die Möglichkeit gehabt, ihn mit irdischen Mitteln umzubringen. Aber zu welchem Zweck? Ja, er hasste den Kerl. Allerdings wies das 21. Jahrhundert ein deutlich strafferes Rechtssystem auf, als das Alte Ägypten. Und ohne die angesprochenen Fähigkeiten der Dunkelheit würde er Gefahr laufen, für eine solche Tat geradestehen zu müssen. Und das lohnte sich in Marlics Augen kaum. Er hatte wider Erwarten eine zweite Chance im Leben bekommen. Und die wollte er diesmal vollends auskosten. Irgendwie war es immer noch seltsam. Er wusste selbst nicht so genau, wo er eigentlich herkam. Er war irgendwo auf Markis Lebensweg entstanden, geboren aus seinem Hass und seiner Abscheu gegenüber seiner Pflicht als Grabwächter. Und genau das war er auch gewesen: purer Hass, reine Abscheu. Etwas, das alles zerstören wollte. Doch dann hatte er das Duell gegen den Pharao verloren und war schließlich hier wieder aufgewacht. Und plötzlich war alles anders. Die ziellose Zerstörungswut lag zwar noch irgendwo in ihm, aber sie war nicht mehr so präsent wie früher. Oft verspürte er sie zwar noch, aber nicht mehr im gleichen Ausmaß und in der gleichen Unbändigkeit wie damals. Er hatte sich oft gefragt, warum. Er vermutete, dass es damit zusammenhing, dass eine abgespaltene, eigenständige Seele wie seine nicht einfach aus dem Nichts entstand. Hass und Wut genügten alleine nicht, um eine Seele zu formen. Vermutlich hatte er von Marik noch andere Dinge übernommen. Immerhin hatte Marik seine dunkle Seite überhaupt erst durch abgrundtiefe Verzweiflung, Angst und Hoffnungslosigkeit erschaffen. Diese wiederum resultierten aus Träumen, von denen Marik damals überzeugt war, er würde sie sich niemals erfüllen können. Auch Marlic musste folglich komplexer sein. Er schüttelte energisch den Kopf, wie immer, wenn sich seine Gedanken zu diesem Punkt bewegten. Zum einen nützte es nichts, darüber nachzudenken. Er war eine eigenständige Daseinsform und aus. Und ganz gleich, wie stark der Hass auf den Pharao sich auch abgeschwächt haben mochte, das hieß noch lange nicht, dass er fortan zu den Guten gehörte. Marlic war ein egozentrisches Arschloch und würde es immer bleiben – das nahm er sich fest vor. Was wiederum nicht überraschte, wenn man bedachte, dass sein einziger Referenzpunkt Marik blieb, keine Familie, kein gar nichts. Aber das war gut so. Bevor er sich solche Familiendramen antat wie Bakura, blieb er gerne alleine. Für in stand bereits fest, dass er nicht in Japan bleiben würde. Viel zu spießig, diese ganze Kultur. Ägypten schied ebenfalls aus. Im 21. Jahrhundert herrschte dort eine gänzlich andere Religion und Kultur vor, die ebenfalls mehr als genug Stolpersteine barg. Nein, Marlic liebäugelte viel mehr mit den USA, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Er war sich sicher, dass er sich dort eine, vielleicht nicht ganz gesetztestreue, Lebensgrundlage schaffen konnte. Und weit genug weg von seinem nörgelnden, besserwisserischen Ebenbild wäre er auch noch. Es gab heiße Weiber im Überfluss, die geilsten Karren des ganzen Planeten und Party-Hochburgen wie Las Vegas. Ja, das konnte ein Abenteuer werden! Er schrak plötzlich auf, als er eine Berührung an der Wange spürte. Ruckartig setzte er sich auf und war bereits drauf und dran, Des Gardius zu rufen, da stutzte er. Vor ihm hockte dieses kleine rothaarige Energiebündel, mit dem er nach der Sonnenscheibe des Ra gesucht hatte. Sie war einen Schritt zurückgewichen, hielt den Finger aber immer noch ausgestreckt, mit dem sie ihn in die Wange gepiekt hatte. Er verdrehte die Augen und ließ sich zurück ins Gras sinken. „Hat man dir eigentlich keine Manieren beigebracht? Man betatscht Leute nicht einfach ohne zu fragen!“ „Ich hab dich nicht betatscht. Ich wollte nur sehen, ob du schläfst.“ „Und diese Information war wichtig weil?“ Samira zuckte mit den Schultern. Nachdem sie jedoch nichts weiter sagte, schüttelte Marlic nur verständnislos den Kopf und schloss wieder die Augen. Für einen kurzen Moment glaubte er, er habe es tatsächlich geschafft, die Kleine erfolgreich zu ignorieren. Dann ergriff sie aber doch noch das Wort. „Stimmt es, was man sagt? Dass du, Bakura und der Pharao Ägypten verlassen werden?“ „Jep, ganz so sieht es aus“, erwiderte der Angesprochene, ohne sie anzusehen. Für einen Augenblick herrschte Schweigen. „Und … wohin geht ihr?“ „Ins 21. Jahrhundert.“ „Das ist die Zukunft, richtig?“ „Jep.“ „… wie ist es da so?“ „Viel besser als hier. Kühlschränke, Fernsehen, Internet, fließend Wasser in jedem Haushalt … Es wird einfach himmlisch.“ „Und willst du da hingehen oder musst du da hingehen?“ „Ich will und ich muss. Also eine Win-Win-Situation.“ „Eine was?“ „Die perfekte Situation für mich. Sag mal, hast du eigentlich niemand anderen, dem du Löcher in den Bauch fragen kannst? Geh und nerv Bakura, der kann dir genau das Gleiche erzählen, wie ich.“ „Ich will aber lieber mit dir reden.“ Nun war es doch an Marlic, ein Auge zu öffnen und die dazugehörige Braue in die Höhe zu ziehen. „Und womit hab ich diese fragwürdige Ehre verdient?“ Samira zuckte abermals mit den Schultern. „Na ja, ich dachte, wir haben uns ganz gut verstanden …“, meinte sie zögerlich. Nun öffnete er auch das zweite Auge. Die zweite Augenbraue schoss in die Höhe. „Ich hab dich abgefüllt und dazu getriezt, trotz eines mächtigen Katers deine Ka-Bestie bis nach Theben zu treiben. Und dich beständig daran erinnert, dass du selbst schuld bist.“ „Ja, aber du hattest doch Recht. Ich hätte nicht saufen müssen. Dass ich dann mit den Auswirkungen zu kämpfen hatte, war nun einmal meine Schuld.“ Hätte Marlic ein drittes Auge besessen, auch dessen Augenbraue wäre bei diesen Worten in die Höhe geschnellt. So blieb es jedoch bei einem verdutzten Gesichtsausdruck. Normalerweise gab ihm niemand Recht. Also, außer er sich selbst. Bevor er sich jedoch dazu äußern konnte, schüttelte Samira den Kopf und wandte den Blick ab. „Es ist alles so mies. Ich weiß einfach nicht, wohin mit mir. Die Schattentänzer sind nicht mehr das, was sie mal waren. Riell hat Risha offiziell ihres Amtes als Oberhaupt enthoben, sodass sie uns bestimmt verlässt. Zudem sind wir gerade noch ein paar Dutzend Leute und jetzt will Riell auch noch weiterhin gemeinsame Sache mit dem neuen Pharao machen. Das ist doch Mist! Ich will nicht, dass wir irgendetwas mit dem Königshaus zu tun haben! Die haben doch alle nicht die geringste Ahnung davon, wie das einfache Volk lebt! Sie schwelgen in Saus und Braus, während wir an manchen Tagen nicht mal wissen, woher wir unser Essen kriegen sollen. Und auch, wenn die Zusammenarbeit gegen Caesian funktioniert haben mag, darf man doch nicht einfach all die Jahre vergessen, in denen wir als religiöse Minderheit diskriminiert wurden! Ich kann und will Riell einfach nicht verstehen!“ Sie biss sich auf die Unterlippe, sodass sie nuschelte, als sie weitersprach: „Darum hab ich gedacht, ich kann vielleicht dich begleiten, wo immer du auch hingehst … Das wäre auf jeden Fall besser gewesen, als hier zu bleiben und Riell dabei zuzuschauen, wie er dem Pharao in den Hintern kriecht.“ Samiras Gedanken rasten jedes Mal, wenn sie an die Zukunft dachte. Ja, sie hatte im Verlauf des Krieges akzeptieren müssen, dass der Pharao nicht für alles verantwortlich gemacht werden konnte, was in Ägypten vor sich ging. Auch er konnte nicht ändern, dass es weiterhin Vorurteile gegen ihren Clan in der Bevölkerung geben würde. Aber das hieß noch lange nicht, dass Atemu oder Seto ihr als Menschen oder Herrscher sympathisch sein mussten. Dafür hatte sie sie zu viele Jahre ihres noch jungen Lebens verachtet. Dass sie wenigstens eine gewisse Abneigung gegen beide hegen würde, würde sich so schnell auch nicht ändern lassen. Marlic auf der anderen Seite befand sich in einem Zustand, den er nicht oft erlebte: er war sprachlos. Er hatte nun wirklich nicht gerade seine beste Seite gezeigt und dennoch hatte dieses Kind darauf gehofft, dass er sie mitnehmen würde, wenn er Men-nefer verließ. Wie es dazu gekommen war? Keine Ahnung. Er würde gehörig darüber nachdenken müssen, welchen Eindruck er bei anderen Menschen hinterließ. Konnte ja nicht angehen, dass es plötzlich Leute gab, die ihn mochten. Nicht, dass er nicht verstehen konnte, warum andere ihn toll fanden – Marlic hielt sich ja selbst für unwiderstehlich. Aber normalerweise teilten die meisten Menschen seine Ansichten eben nicht. Er vermutete, dass es etwas damit zu tun hatte, dass Bakuras Base bald abhauen würde – was Samira ja auch selbst als einen Grund angeführt hatte. Offensichtlich brauchte sie jemanden, der ihr Grenzen aufzeigte und ihr verdeutlichte, dass Handlungen Konsequenzen nach sich zogen. Er hatte wenig Einblick in diesen Zirkel, dem die Kleine angehörte, aber er vermutete von dem, was er gesehen hatte, dass Risha bislang diese Person gewesen war. Dann hatte die sich aber zwischenzeitlich aus dem Staub gemacht. Und so war das Energiebündel an Marlic geraten, der ihr ähnlich Kontra gegeben hatte, als sie sich besoffen hatte. Dass das aber solche Auswirkungen haben würde, damit hätte er nun wirklich nicht gerechnet. Aber noch etwas anderes war neu. Er konnte es nicht genau deuten, aber es fühlte sich fast so an wie Bedauern. Also nicht richtig. Marlic war kein emotionaler Typ, zumindest nicht, was solche Gefühle anging. Aber irgendwie konnte er das kleine Energiebündel halbwegs tolerieren. Und das war schon eine Menge. „Tja, Püppchen. Das Leben spielt nun mal nicht immer so, wie wir es gerne hätten. Es ist jedenfalls ausgeschlossen, dass du mich ins 21. Jahrhundert begleiten kannst“, stellte er schließlich trocken fest und richteten den Blick wieder gen Himmel. „Warum läufst du nicht eurem Ex-Oberhaupt hinterher? Dachte, Bakuras Zicke von einer Base wäre dein großes Vorbild?“ Sein Gegenüber musste gar nicht lange überlegen, wie sie auf diese Frage reagieren sollte. „Selbst wenn ich sie fragen würde, würde sie eh nein sagen, weil sie denkt, es wäre besser für mich, hier zu bleiben. Sie nimmt mich nicht für voll. Außerdem ist sie total komisch, seit sie aus Kul Elna zurück ist. Normalerweise hätte sie um ihren Posten gekämpft, aber sie hat Riells Entscheidung einfach akzeptiert! Das ist noch nie passiert, wenn sie anderer Meinung war. Daher weiß ich gar nicht, ob ich sie noch begleiten wollen würde …“ „Tja, ich fürchte, dann wirst du wohl eine andere Beschäftigung finden müssen.“ „Ist doch alles scheiße …“, murmelte Samira zur Antwort und klang dabei ziemlich bedrückt. Herrje, hoffentlich fing die Kleine nicht gleich an zu weinen! Marlic überlegte kurz, dann setzte er sich ruckartig auf. „Okay Kindchen, pass mal auf“, setzte er an. „Es mag verständlich sein, dass dir die Situation nicht taugt. Glaub mir, ich kann sehr gut nachvollziehen, warum man weder mit Atemu noch seinem Priesterfutzi von einem Vetter etwas zu tun haben will. Aber du machst es schon wieder genau so, wie damals in der Nekropole.“ Die Rothaarige sah ihn offen verdutzt an. „Wie meinst du das?“, hakte sie schließlich nach. „Ganz einfach: du jammerst rum und gibst allen anderen die Schuld. Da ist Riell, der mit dem Königshaus paktiert. Dann ist da Risha, die sich wahrscheinlich aus dem Staub machen wird. Und der Pharao, den du nicht leiden kannst. Aber anstatt die Situation zu deinen Gunsten zu wenden, sitzt du hier und jammerst mich voll.“ „Und was soll ich deiner Meinung nach machen? Seto abstechen? Oder Katira verschwinden lassen?“, erwiderte Samira überspitzt und deutlich sarkastisch. „So sehr ich den Gebrauch von Schnittwaffen gutheiße – es lässt sich zu meinem Leidweisen nicht alles damit lösen, dass man jemanden umbringt. Zumal dich der Hohepriester unangespitzt in den Boden rammen würde. Sein Ka ist viel zu mächtig. Und wer ist überhaupt Katira?“ „Riells Ehefrau. Zumindest bald. Aber das ist auch egal. Was soll ich denn deiner Meinung nach machen? Jetzt sag schon!“ „Ganz einfach: Du redest davon, dass du keinen Bock hast, bei Riell zu bleiben – dann pack deine Sachen und geh. So einfach ist das.“ „Aber … wohin denn? Und mit wem?“ „Da liegt dein nächster Fehler. Du machst deine Entscheidungen von anderen abhängig. Wenn du so lebst, wirst du nie das erreichen, was du willst.“ „Aber ich weiß doch gar nicht, was ich will!“, platzte es plötzlich aus Samira heraus. Für einen Moment sahen sie und Marlic sich schweigend an, bis sie den Blickkontakt abbrach. Der Ältere seufzte innerlich. Schwierig, das. Aber auch darauf wusste er natürlich eine Antwort. „Dann finde es heraus.“ „Das ist ja das Problem! Ich zerbreche mir seit Umläufen den Kopf und habe absolut keine Ahnung, was ich mit meinem Leben anfangen soll! Ich kenne doch nichts anderes, als die Schattentänzer!“ „Dann wird es wohl höchste Zeit, die Welt kennenzulernen, Püppchen.“ Samira sah ihn wieder mit ihren großen, grünen Augen an. Irgendwie war es ja schon fast schade. Hätte er hierbleiben müssen, die Kleine wäre wirklich perfekt gewesen, um sich einen Azubi zuzulegen. Sie war so planlos, Marlic hätte aus ihr alles machen können, von einer exotischen Tänzerin bis hin zu einem Auftragskiller. Aber das ging nun mal nicht. „Jetzt mal ernsthaft – es wird doch wohl irgendwas außer eurem Zirkel geben, das dich interessiert.“ Das Energiebündel wandte den Blick ab und schien zu überlegen. Es dauerte eine ganze Weile. Marlic war schon fast dabei, sich hinzulegen und weiter zu dösen, da schien ihr doch noch ein Licht aufzugehen. „Ich hab immer gerne unseren beiden Schmieden bei der Arbeit geholfen. Ich durfte zwar nie selber schmieden, sondern habe nur Waffen geschliffen und gepflegt, aber es sah toll aus, wenn sie aus einem Klumpen Metall ein Schwert gemacht haben.“ Warum ausgerechnet sowas? „Kannst du knicken. Frauen in Handwerksberufen? Bis dahin vergehen noch ein paar tausend Jährchen, Kleines. Sonst irgendwelche Ideen?“ Samira überlegte angestrengt. „Magie …“, murmelte sie schließlich. „Magie wäre toll. Aber ich weiß nicht, ob ich das kann.“ „Du hast einen Ka. Deine Chancen stehen also nicht mal schlecht. Aber viel Spaß dabei, jemanden zu finden, der dich ausbildet. Die Einzige, die uns bislang begegnet ist, ist das Püppchen des Pharao.“ Für einen Moment herrschte Schweigen. Marlic ließ sich wieder ins Gras sinken, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und wollte schon die Augen schließen, da sprang das Energiebündel plötzlich auf. „Marlic! Du bist absolut genial!“, rief sie dabei aus und ballte ihre putzigen Fäuste. „Nicht, dass ich das nicht wüsste – aber was meinst du genau?“, erkundigte sich der Andere nach einem kurzen Moment. „Na weil du vollkommen recht hast! Ja, wenn ich etwas nicht mag, muss ich dafür sorgen, dass es sich ändert. Und jetzt weiß ich auch wie! Pass auf.“ Sie ließ sich verschwörerisch neben ihm ins Gras plumsen. „Die Palasties sind uns Schattentänzern eine Menge schuldig, oder? Siehst du doch genau so? Darum werde ich Riell bitten, dass er die Hofmagierin bittet, mich auszubilden!“ Marlic zog zum gefühlt hundertsten Mal in dieser Unterhaltung eine Augenbraue in die Höhe. „Ich dachte, du willst hier weg?“ „Ja, eigentlich schon … aber dann ändert sich ja wieder nichts! Wenn ich will, dass sich was ändert, muss ich was dafür tun. Also werde ich mich zur Magierin ausbilden lassen und seeehr stark werden! Stärker als alle Magier bisher! Und dann bin ich eine von denen, die den Ton angeben! Ich werde Ägypten verändern!“ Sie machte Anstalten, Marlic zu umarmen. Der reagierte jedoch geistesgegenwärtig genug und rutschte ein Stück zurück, sodass sie nur seinen linken Oberarm zu fassen bekam. Das störte sie jedoch scheinbar nicht. „Danke! Du bist der Beste! Aber jetzt muss ich noch was erledigen!“ Damit gab sie ihn frei und hopste davon. Marlic war dermaßen baff von dem plötzlichen Gemütswandel, dass er sich fragen hörte, was sie denn machen wolle. Samira wandte sich daraufhin noch einmal mit diesem unscheinbaren Süße-Mädchen-Lächeln zu ihm um. „Ganz einfach: Um in die Zukunft zu gucken, muss ich mit meiner Vergangenheit aufräumen. Zeit, meinen Erzeugern mal einen Besuch abzustatten!“ Damit wirbelte sie herum und war verschwunden. Marlic blieb verdutzt zurück. Keine Ahnung, wo das jetzt plötzlich hergekommen war. War eigentlich auch egal. Alles was zählte, war, dass er jetzt wieder seine Ruhe hatte. Genüsslich sank er ins Gras und schloss die Augen. Risha zügelte ihr Pferd am äußersten Rand der Nekropole von Gizeh. Ihr Blick schweifte über die unzähligen Grabanlagen, manche gigantisch, andere fast bescheiden. Wie viele Mumien hier wohl liegen mochten? Zwischen all den Verstorbenen kam man sich als Lebendiger beinahe fehl am Platz vor. Sie saß ab und befestigte die Zügel des Reittieres an einem dafür vorgesehenen Pflock. Dann setzte sie sich langsam in Bewegung. Ihr Ziel konnte nicht weit sein. Der Papyrus, den sie erhalten hatte, hatte sehr genau beschrieben, wo sie sich einfinden musste. Dennoch gelang es ihr nicht auf Anhieb, zu finden, wonach sie suchte. Glücklicherweise begegnete sie jedoch einen Priester, der ihr verraten konnte, wohin sie musste. Schließlich erreichte sie ein Grab, dessen Eingang in einen relativ niedrigen Felsen geschlagen war. Für einige Augenblicke stand sie nur da und starrte den Gang hinab, der in die Tiefe führte. Dann atmete sie ein letztes Mal durch und machte sich daran, die Hühnerleiter hinabzusteigen. Kerzen erhellten ihren Weg dabei in unregelmäßigen Abständen. Je tiefer sie hinuntergelangte, desto stickiger, aber auch kühler wurde die Luft. Schon nach einigen Fußlängen war der Gang so niedrig, dass sie gebückt weitergehen musste, um sich nicht den Kopf zu stoßen. Sie konnte sich gut vorstellen, dass es Menschen gab, denen eine solche Enge ganz und gar nicht behagte. Ihr machte es zum Glück nichts aus. Sie hatte die meiste Zeit ihres Lebens in unterirdischen Gängen gehaust. Sie schätzte, dass sie etwa fünfzehn Fuß in die Tiefe gestiegen sein musste, als die hölzernen Trittstücke endeten und in einen ebenen Gang übergingen, der genau so niedrig war, wie der vorige. Auch hier waren einige Kerzen aufgestellt. Sie folgte dem Weg ein Stück, bis sich in der Wand eine tiefliegende Öffnung zu ihrer Rechten auftat. Sie sammelte sich kurz, dann kroch sie fast auf allen Vieren darunter hindurch. Auf der anderen Seite lag eine einzige Kammer, vielleicht gerade einmal neun Schritte lang und breit. Auch hier vertrieb Kerzenschein die Dunkelheit. Die Wände waren einfach, aber gekonnt bemalt worden. In der Mitte des Raumes befand sich ein steinernes Podest, auf dem ein hölzerner Sarkophag ruhte – und an diesem stand Bakura. Als er Risha gewahrte, warf er ihr einen kurzen Blick über die Schulter zu und nickte. Sie erwiderte die Geste knapp und trat näher. Ihre Augen wanderten zu der Totenlade. Auch sie war mit Verzierungen übersät. Sie stellten ebenso wie die Malereien an den Wänden Episoden aus der ägyptischen Mythologie dar, allen voran den Übergang des Toten in das Jenseits. Als ihr Blick erneut über die Wände schweifte, blieb er an einer Stelle hängen, die den Toten im Grabe nannte. Keiro, Sohn von Gahiji und Oseje aus Kul Elna stand in Hieroglyphen an der Wand. Seinen Namen hier zu lesen fühlte sich seltsam an, gleich wie viel Zeit bereits vergangen war. Es wirkte auf sie immer noch, als sei es ein böser Traum gewesen. Sie hatte sich nie vorstellen können, dass er wirklich einmal sterben würde. Gleich, ob sie einander hatten leiden können oder nicht, Keiro war eine Konstante in ihrem Leben gewesen. Ihre Augen glitten zu Bakura hinüber. Seine Miene war vollkommen ausdruckslos und ließ keinen Rückschluss auf seine Gedanken und Gefühle zu. Wie so oft, schoss es ihr durch den Kopf. So standen sie eine ganze Weile nur schweigend nebeneinander, während in einer Ecke des Raumes ein Räucherwerk niederbrannte und den Geruch von Weihrauch verströmte. Als die Stille schließlich unerträglich zu werden drohte, war es Risha, die sie durchbrach. „Wie weit sind sie mit den Riten?“ Bakura warf ihr einen knappen Blick zu. „Die Organe wurden bereits entfernt und der Leichnam gereinigt. Aktuell ist der Sarg mit Natron gefüllt, um den Körper auszutrocknen. Es wird aber noch um die dreißig bis vierzig Tage dauern, bis sie mit den weiteren Riten fortfahren können.“ Zur Antwort nickte sein Gegenüber. „Das heißt es wird noch etwa 60 Tage dauern, bis er rituell beigesetzt und das Grab verschlossen wird.“ „Richtig. Und genau das ist einer der Gründe, warum ich dich sprechen wollte.“ Risha wandte ihm den Blick zu und zog eine Augenbraue in die Höhe. „Wie darf ich das verstehen?“ „Lass uns das draußen besprechen“, entgegnete der Grabräuber und machte sich daran, die Grabkammer zu verlassen. Die Schattentänzerin folgte ihm nach einem letzten Blick auf den Sarg. Bald fanden sie sich an der Oberfläche wieder. Bakura griff die Unterhaltung jedoch nicht gleich wieder auf. Als sie schließlich an den Rand der Nekropole kamen, hielt es Risha nicht mehr aus. „Was ist es denn nun, das du besprechen wolltest? Nimm es mir nicht übel, aber du hast in all den Umläufen nicht einmal das Gespräch gesucht. Daher bin ich jetzt doch etwas verwundert“, erklärte sie und verschränkte die Arme vor der Brust, als sich der Andere ihr zuwandte. Bakura musterte sie einen Moment lang. Für einen Augenblick überlegte er, ob er ihr eine entsprechende Retourkutsche verpassen sollte, entschied sich dann jedoch dagegen. So sollte diese Unterhaltung besser nicht verlaufen. „Keine Sorge, es ist simpel“, erwiderte er schließlich, während seine Augen zurück zur Nekropole wanderten. „Ich wollte dich lediglich bitten, darüber zu wachen, dass die Riten ordentlich durchgeführt und korrekt abgeschlossen werden.“ Er ließ die Aussage zunächst so stehen und ging wieder dazu über, sein Gegenüber zu beobachten, gespannt darauf, wie sie reagieren würde. Dies war wieder einer der Momente, in denen ihm bewusst wurde, wie fremd sie sich waren. Genauso, wie Keiro eigentlich bis zum Schluss ein Fremder für ihn gewesen war. Er schob den Gedanken energisch beiseite, als Rishas Stimme an sein Ohr drang. „Ja, nun … natürlich kann ich das machen. Aber was ist mit dir? Willst du dich nicht selbst darum kümmern? Ich meine, er war dein Bruder und ihr hattet ein deutlich besseres Verhältnis zueinander …“ „Ich werde nicht mehr hier sein, wenn es soweit ist.“ Ein einziger Blick in ihre Augen verriet ihm, dass sie überrumpelt war. Und nicht verstand. Aber damit hatte er gerechnet. Sie hatte sich in den vergangenen Tagen rar gemacht, das Gemurmel im Palast vermutlich nicht mitbekommen. Dass Riell kein Wort fallen ließ, dafür hatte Bakura hingegen selbst gesorgt. Dieses Gespräch würde er mit ihr führen und sonst niemand. „Was soll das heißen, du bist dann nicht mehr hier? Wohin willst du denn? Und warum kann das nicht warten, bis …“ „Weil mir nur noch drei Umläufe bleiben, bis ich gehen muss. Ich habe keine andere Wahl. Entweder das oder die Unterwelt.“ Jetzt verstand Risha überhaupt nichts mehr. „Was redest du da? Die Unterwelt?“ Ihr Blick verfinsterte sich. „Hat dir der Pharao gedroht?“ „Nein.“ „Aber was ist es denn dann? Wärst du vielleicht so freundlich, mir zu erklären, was es damit auf sich hat?“ „Es ist kompliziert.“ „Ach, ist es das? Wie gut, dass ich keine anderen Verpflichtungen habe. Ich habe also den ganzen Tag Zeit“, entgegnete sie und ließ sich, um ihre Worte zu unterstreichen, im Schneidersitz in den Sand sinken. Bakura musterte sie einen Moment lang mit hochgezogener Augenbraue. Er hatte vermutet, dass sie sich nicht mit einfachen Erklärung abspeisen lassen würde. Schließlich seufzte er. „Meinetwegen. Ich kann es dir erklären. Aber lass uns vielleicht irgendwo anders reden.“ Kurze Zeit später fanden sich beide auf einer Felsformation außerhalb der Hauptstadt wieder. Die Sonne stand noch immer gleisend hell am Firmament, doch die Felsen boten genügend Schatten. Sie hatten kaum eine der oberen Klippen erreicht, da begann Risha schon wieder, ihn mit Fragen zu bombardieren. „Und wohin überhaupt? Was könnte es außerhalb von Ägypten geben, das es wert ist, deiner Heimat den Rücken zu kehren?“ Diesmal kam Bakura nicht daran vorbei, die Augen zu verdrehen. „Wie wäre es, wenn du dich zunächst mal hinsetzt?“ „Ich steh ganz gut. Also, was ist jetzt …“ „Risha …“ „Ist ja gut! Ich setz mich schon hin“, sprach’s und ließ sich endlich zu Boden sinken. Der Grabräuber atmete einmal tief durch, ehe er es ihr gleich tat. Dieses Gespräch würde in der Tat schwerer werden, als gedacht. „Also, pass auf. Das alles ist wahnsinnig kompliziert, ja? Daher unterbrich mich nicht, bis ich dir zumindest den akuten Teil erklärt habe, sonst verliere ich am Ende selber noch den Faden.“ Die Schattentänzerin musterte ihn aufmerksam, nickte jedoch nur zur Antwort. Schließlich begann Bakura zu erzählen. „Es ist so: ich sollte eigentlich gar nicht mehr hier sein. Wenn man es genau nimmt, bin ich bereits seit zwei Sommern tot.“ Sein Gegenüber legte die Stirn in Falten. „Unsinn. Du sitzt doch direkt vor mir.“ „Risha.“ Sie biss sich sichtlich auf die Unterlippe, schwieg jedoch. „Ich kann mir vorstellen, wie sich das anhört. Aber ich habe weder einen Sonnenstich noch meinen Verstand verloren. Es ist ein Fakt. Soweit ich mitbekommen habe, haben sowohl du als auch Keiro damals von dem Kampf Wind bekommen, den der Pharao und ich vor zwei Sommern ausgefochten haben, richtig?“ Seine Base nickte knapp. „Und genau diese Auseinandersetzung habe ich nicht überlebt“, fuhr Bakura fort. „Die Mächte, die ich entfesselt habe, haben mich verraten. Und so fand ich mich nach dem Kampf im Jenseits wieder. Und auch, wenn ich mich kaum an diese Zeit erinnern kann, weiß ich sicher, dass ich tot war. Zumindest bis vor nicht allzu langer Zeit. Außerdem bin ich nicht als Einziger gestorben. Den Pharao hat es ebenfalls erwischt, aber das ist ja allgemein bekannt. Als Caesian aufgetaucht ist, haben die Götter jedoch entschieden, dass es seine Majestät brauchen wird, um dem Treiben dieses Psychopathen Einhalt zu gebieten. Da eine Wiedergeburt jedoch scheinbar ein ziemlich großer Akt ist, der nicht ohne Gegengewicht erfolgen darf, bin auch ich wiederauferstanden. Und Marlic ebenso.“ Risha sah ihn an, als seien ihm plötzlich Hörner gewachsen oder etwas in der Art, doch sie schwieg. So fuhr er fort: „Jetzt, da der Kampf vorbei ist, haben die Götter entschieden, dass es wohl undankbar wäre, uns in die Unterwelt zurückzuschicken. Sowohl der Pharao als auch ich und Marlic sollen so etwas wie ein zweites Leben kriegen. Allerdings geht das nicht hier. Du kennst dich wahrscheinlich was das angeht besser aus als ich, aber es hat irgendwas mit der Stabilität dieser Sphäre zu tun und dass hier nicht einfach Leute rumrennen können, die eigentlich im Jenseits sein müssen. Deshalb müssen wir in eine andere Sphäre wechseln, in diesem Fall eine, die in der Zukunft liegt. Genau genommen knapp dreitausend Jahre in der Zukunft.“ Dass Risha baff war, wäre eine absolute Untertreibung gewesen. Sie schüttelte verständnislos den Kopf. „Dreitausend Jahre? Aber warum dreitausend Jahre? Was willst du denn dreitausend verdammte Jahre in der Zukunft?“ Jetzt kam der Part, wo es erst richtig kompliziert wurde. „Weil ich dort schon einmal war. Denn genau genommen ist das, was ich hier erlebe, schon mein dritter Anlauf an ein Leben in dieser Zeit.“ „Jetzt hab ich den Faden verloren. Wovon sprichst du da? Das … das ist doch vollkommen …“ „Krank? Durchgeknallt? Aberwitzig? Egal was du auswählst, ich denke, ich kann es nicht abstreiten.“ Er schnaubte. „Aber sei erst mal im Zentrum dieses Konstrukts.“ Risha schloss für einen Moment die Augen und massierte sich die Nasenwurzel. „Bist du sicher, dass es dir gut geht? Ich kenne so einige religiöse Fanatiker, aber das, was du da erzählst, übertrifft deren Gerede um Längen. Wie bitte schön sollst du in die Zukunft gekommen sein? Und wie zurück? Hör zu, wenn du mich auf den Arm nimmst …“ „Natürlich, weil ich auch nichts Besseres zu tun habe“, fuhr Bakura patzig dazwischen. „Ich kann versuchen, es dir zu erklären, aber dafür müsstest du mal länger als einen Wimpernschlag den Mund halten, ja?“ Was dann folgte war eine Erklärung sämtlicher Ereignisse, die sich zwischen dem Zeitpunkt, als ein Teil von Bakuras Seele im Milleniumsring versiegelt wurde, und seinem erneuten Auftauchen in dieser Zeit vor zwei Sommern abgespielt hatten. Risha hörte aufmerksam zu, man konnte ihr jedoch ansehen, dass sie Mühe hatte, alles nachzuvollziehen. Am Ende schien es dem Grabräuber aber irgendwie gelungen zu sein, sie nicht auf halber Strecke zu verlieren. Als er geendet hatte, schwiegen sie für eine Weile. Schließlich gab seine Base ein Schnauben von sich. „Unglaublich. In drei Tagen bin ich also, aus einer anderen Perspektive gesehen, seit gut dreitausend Jahren tot. Und du hast aus unserer Sicht betrachtet noch gar nicht existiert.“ Bakura biss die Kiefer fester aufeinander. Dieser Gedanke war ihm auch schon gekommen. Und er war mehr als seltsam. Als er das letzte Mal, eingeschlossen in ein uraltes Artefakt, darauf gewartet hatte, seine Rachepläne in die Tat umzusetzen, hatte es sich anders angefühlt. Er hatte seine Eltern sterben sehen und war sicher, dass es auch Keiro und Risha erwischt hatte. Diesmal war es irgendwie anders. Ja, jetzt konnte er sich ebenfalls sicher sein, dass sein Bruder schon Geschichte war. Seine Base jedoch saß quicklebendig vor ihm und würde auch noch leben, wenn er im 21. Jahrhundert aufwachte – wo sie allerdings faktisch tot sein würde. Bei diesen Gedankenspielen kam ihm nicht zum ersten Mal die Frage, ob es wohl auch eine Zeitebene gab, in der seine ganze Familie noch lebte. Ein Schnauben seines Gegenübers holte ihn wieder ins Hier und Jetzt zurück. „Das können auch nur die Götter – ihre Dankbarkeit ausdrücken, indem sie jemanden aus seiner Heimat reißen. Großartig. Da will man doch direkt in den nächsten Tempel rennen und beten.“ Sie schwiegen eine Weile, ehe sie erneut das Wort ergriff. „Was wirst du dort machen? Was genau erwartet dich dort? Ich weiß nicht viel über diese kommende Zeit, aber sie scheint nichts mit der gemein zu haben, in der wir uns gerade befinden.“ Bakura zuckte nur mit den Schultern. „Tut sie nicht, nein. Ich habe keine Ahnung. Irgendetwas wird sich ergeben. Wie immer.“ Er musterte sie einen Moment lang prüfend. „Was ist mit dir?“ „Was soll mit mir sein?“ „Stell dich nicht dumm. Die Wände des Palastes haben Ohren. Riell hat an seinem Plan festgehalten, nicht wahr?“ Sie schlang die Arme fester um ihre Beine und legte den Kopf auf den Knien ab. „Ich sehe schon, du bist bestens im Bilde“, entgegnete sie matt, jedoch mit einem Unterton in der Stimme, der verriet, dass sie platzen würde, sollte er sich irgendeinen Scherz erlauben. Ehe Bakura jedoch seine Meinung dazu abgeben konnte – dass Riell sowie so eine verweichlichte Flasche sei – sprach sie bereits weiter. „Und ersetzt hat er mich auch schon. Ich hab eigentlich immer viel auf Katira gehalten – aber als Oberhaupt? Beschissene Wahl. Aber was will man machen, sie steigt nun mal mit ihm ins Bett.“ „Soweit ich das sehe, besitzt du die gleichen körperlichen Voraussetzungen“, kommentierte Bakura trocken. Rishas Miene verzog sich schlagartig. „Du bist ekelhaft. Riell ist mein …“ „Ziehbruder. Dichte dem Arschkriecher bloß keine Blutsverwandtschaft zu unserer Familie an.“ „Was auch immer. Außerdem hab ich auch meinen Stolz. Und noch dazu wäre ich zu spät. So eilig wie es die beiden mit der Hochzeit haben, ist wahrscheinlich schon Nachwuchs im Anmarsch.“ „Na ja, dann haben sie ja vielleicht noch eine Verwendung für dich – als Tante und Kindermädchen“, feixte der Grabräuber. „Sehr witzig. Ich lach mich tot“, knurrte sein Gegenüber zurück. Danach kehrte eine ganze Weile Schweigen zwischen ihnen beiden ein. Jedoch keine einträchtige Ruhe, sondern eher eine angespannte Stille, die darauf wartete, wer zuerst wieder das Wort ergreifen würde – und was dabei gesagt werden würde. Schließlich war es Bakura, der als erstes wieder sprach. „Ich habe dir eben eine Menge erzählt. Aber auch ich habe noch Fragen, die geklärt werden wollen.“ Rishas Blick wurde auf der Stelle wachsam. „Ich nehme an, wenn du diese Aussage an mich richtest, sind es Fragen, die ich beantworten soll.“ Der Grabräuber ließ die Antwort so stehen. Er überlegte einen Moment lang, wie er es formulieren sollte – und entschied sich dann dazu, mit der Tür ins Haus zu fallen. „Ich will wissen, was damals zwischen Keiro und dir vorgefallen ist.“ Er war wenig überrascht, als sein Gegenüber den Blickkontakt fast zeitgleich abbrach und stattdessen in die Wüste hinausstarrte, als gäbe es dort etwas Spannendes zu sehen. „Ich dachte, er hätte dir bereits alles erzählt. Immerhin habt ihr euch unterhalten.“ Dass in diesen Worten ein vorwurfsvoller Unterton mitschwang, entging Bakura nicht. Zugegeben, bis zum heutigen Tag hatte er sich nicht gerade die Mühe gemacht, irgendetwas über sie zu erfahren. Ehrlich gesagt wusste er nicht mal, was er hier überhaupt tat. Es hatte sich irgendwie ergeben, war aber definitiv nicht geplant gewesen. Ein Teil von ihm hatte angenommen, dass Risha bei der Ankündigung seines Weggangs lediglich mit den Schultern zucken, „ist gut“ sagen würde und die Sache damit gegessen wäre. Stattdessen saßen sie hier und fragten sich gegenseitig Löcher in den Bauch. Wobei die ganze Sache nicht halb so gezwungen und anstrengend war, wie er erwartet hatte. „Die wenigen Unterhaltungen, die wir geführt haben, waren weniger spektakulär als du wahrscheinlich denkst. Natürlich habe ich versucht, ihn diesbezüglich auszuquetschen, aber er meinte, wenn ich genaueres wissen will, soll ich dich fragen.“ Er sah ihr fest in die Augen. „Dir steht die Option, mich deinerseits an Keiro zu verweisen, leider nicht mehr offen.“ Risha biss eine gefühlte Ewigkeit auf ihrer Unterlippe herum, ehe sie nickte. „Gut. Was genau willst du wissen?“ „Wie es zu dem Bruch kam. Ihr habt euch vor dem, was in Kul Elna passiert ist, wunderbar verstanden. Keiro hat dich regelrecht angehimmelt. Was ist geschehen, dass sich das geändert hat?“ „Ich fürchte genau das ist der Punkt“, erwiderte sie. Auf Bakuras fragenden Blick hin fügte sie hinzu: „Kul Elna. Kul Elna ist passiert.“ „Geht das vielleicht auch ein bisschen konkreter?“, hakte der Grabräuber nach und kam nicht drum herum, die Augen zu verdrehen. „Also gut. Ich weiß nicht, wie lange genau, aber ein, zwei Umläufe nach dem Angriff haben die Schattentänzer zuerst mich und anschließend Keiro in der Wüste aufgesammelt. Und egal, was er behauptet haben mag, es lag nicht am Clan, dass wir uns entzweit haben. Der Grund war ein ganz anderer: während es Keiros Ziel war, weiterzuleben und irgendwie mit der Vergangenheit abzuschließen, hatte ich so eine ungeheure Wut in mir – auf den Pharao und alle, die ihm dienten. Ich konnte an nichts anderes mehr denken, als daran, ihm eines Tages heimzuzahlen, was er uns angetan hat. Keiro und ich haben uns mehr als einmal deshalb gestritten. Er wollte, dass ich loslasse. Ich wollte aber nicht loslassen. Diese Auseinandersetzungen wurden mit der Zeit immer heftiger. Am Abend, bevor er verschwand, hatten wir uns wieder in den Haaren. Und diesmal ist alles eskaliert. Es hatte sich so viel angestaut. Ich konnte einfach nicht nachvollziehen, warum er mich nicht verstanden hat. Es mag dämlich klingen, aber als er mir immer wieder sagte, ich läge falsch, habe ich mich verraten gefühlt. Hinzu kam, dass ich das nicht nur von ihm zu hören bekommen habe. Resham und Riell waren genauso. Aber sie standen mir noch nicht so nah. Deshalb war ich vor allem von Keiro unglaublich enttäuscht. Und dann sind die Pferde mit mir durchgegangen …“ „Heißt?“ „… ich hab ihm den Tod an den Hals gewünscht.“ „Das habt ihr andauernd …“ Bevor Bakura den Satz jedoch zu Ende führen konnte, korrigierte sich Risha bereits: „Ich habe gesagt, ich würde mir wünschen, dass er an deiner Stelle gestorben wäre.“ Sie richtete den Blick wieder in die Wüste hinaus. „Und nein, ich habe diesen Satz anschließend nie wieder in den Mund genommen. Aber ich hatte mich in diesem Moment nicht mehr unter Kontrolle. All die Narben waren zu frisch, die Schmerzen zu groß. Ich wollte die Welt brennen sehen, ohne Rücksicht auf Verluste. Als mir dann klar wurde, was ich da eigentlich gesagt hatte, war der Schaden schon geschehen. Die Fronten hatten sich dermaßen verhärtet, dass wir über den Punkt hinaus waren, wo eine Entschuldigung noch Wirkung gezeigt hätte. Es war vorbei. Keiro ist schließlich abgehauen und wir haben uns mehrere Sommer lang nicht gesehen. Die wenigen Wiedersehen, die es dann gab, waren nicht besser als das, was an dem Abend passiert ist.“ Abermals kehrte Schweigen zwischen ihnen ein, während sich Bakura das Gesagte durch den Kopf gehen ließ. Keiro war schon immer der Zartbesaitete von ihnen gewesen. Er konnte sich gut vorstellen, dass gerade für sein kindliches Ich eine solche Aussage ein harter Brocken gewesen war. Ja, er konnte sich sogar vorstellen, dass Keiro seiner Base einen solchen Satz über Sommer hinweg nachtragen würde. Allerdings wusste er nicht recht, was er davon halten sollte. Die Aussage war definitiv alles andere als nett gewesen. Grausam traf es eher, wenn man wusste, wie vernarrt Keiro als Kind in seine kleine Base gewesen war. Es war sogar irgendwo verständlich, dass dies einige Zeit lang einen Zwist zwischen beiden nach sich ziehen würde. Aber eine regelrechte Blutsfehde, bei der Keiro kein gutes Haar mehr an ihr ließ? Bakura wusste, dass sein Bruder unheimlich nachtragend hatte sein können. Aber zunächst einmal waren sie beide noch Kinder gewesen. Kinder sagten dumme Dinge. Außerdem war Keiro zwei Sommer älter gewesen. Eigentlich wäre es doch sein Job gewesen, hier den Erwachsenen zu geben, sie vielleicht eine Weile lang mit Nichtachtung zu strafen. Aber einfach abzuhauen und sie bei diesem Clan zurücklassen, von dem er damals noch nicht einmal gewusst haben konnte, wie sie mit ihr umgehen würden, sobald er weg war? In einem Punkt hat sie recht – wenn sie mit so einer Aussage an mich geraten wäre, wäre die Sache anders verlaufen. Bakura wusste selbst, dass er ordentlich austeilen konnte. Jedoch hatte er immer die Divise vertreten, dass der, der austeilte, auch einstecken können musste. Keiro war da anders gewesen. Er hatte offensichtlich nicht verstanden, was das ständige „Nun lass doch gut sein“ und „den Pharao trifft keine Schuld“ bei Risha angerichtet hatten. Bakura konnte es regelrecht hören – immerhin hatte Keiro auch ihm derartige Vorträge gehalten. Schon seltsam. So nachtragend Keiro gewesen war, dem Pharao hatte er nie einen Vorwurf gemacht. Risha riss ihn aus den Gedanken. „Nun sprich es schon aus“, forderte sie hin auf. Der Grabräuber legte die Stirn in Falten. „Was?“ „Dass es meine Schuld ist. Dass ich ihn umgebracht habe. Alleine wegen mir hatte die Finsternis, die sich in ihn gefressen hatte, überhaupt einen Nährboden. Wäre das alles nie passiert, hätte sie vielleicht nie Besitz von ihm ergreifen können. Dann würde er jetzt noch leben.“ Für einen Moment lang war Bakura baff. Damit hatte er nicht gerechnet. Was es aber nicht besser machte. Denn das, was sie von sich gab, war schlicht und ergreifend Unfug. Bakura hatte mit der Finsternis höchst selbst im Bunde gestanden. Er wusste, wie die dunkle Seite tickte. Und eines war gewiss: kein Mensch war rein. Jeder trug einen Teil in sich, der der Dunkelheit zuzurechnen war. Mochte sein, dass sich die Abgründe der Götter bei Keiro auf den Konflikt mit Risha gestürzt haben mochten – aber der Grabräuber war sich sicher: hätte es diesen nicht gegeben, dann hätten sie irgendeinen anderen Nährboden finden können. „Blödsinn“, meinte er schließlich. Doch Risha zuckte lediglich mit den Schultern, ohne ihn anzusehen. „Beweis mir das Gegenteil.“ Dass sie ständig seinen Blicken auswich, ging im mit der Zeit auf die Nerven. Schließlich stand er auf. Bisher hatten sie einige Schritte voneinander entfernt gesessen. Doch nun platzierte sich Bakura direkt ihr gegenüber, damit sie ihn ansehen musste. Das war wichtig. Er hatte begriffen, dass sie einen verdammt dicken Schädel hatte. Die folgende Botschaft hineinzuhämmern, würde Blickkontakt erfordern. „Du vergisst ein ganz wichtiges Detail“, erklärte er langsam. „Keiro war ebenfalls in Kul Elna, als die Soldaten einfielen. Glaub mir, wenn ihr dir sage, dass das auch an ihm nicht spurlos vorüber gegangen ist, gleich wie er sich nach außen hin gegeben haben mag. Wenn diese Sache zwischen euch nicht passiert wäre, dann hätte die Finsternis spätestens dort einen Nährboden gefunden. Vermutlich hätte sogar irgendetwas anderes, unbedeutenderes ausgereicht, damit das passiert. Vielleicht sogar irgendeine Lappalie. Ich sage nicht, dass du dich damals mit Ruhm bekleckert hast. Aber ich war nicht dabei. Und ich kenne meinen Bruder. Er konnte wahnsinnig nachtragend sein, wenn er wollte. Fakt ist allerdings, dass ihr beide durch den Wind ward. Ich denke nicht, dass man hier in irgendeiner Weise von Schuld sprechen muss.“ Mehrere Augenblicke starrten sie sich einfach nur an. Dann zuckte Risha schließlich mit den Schultern. „Wenn du das sagst.“ Es war keine zufriedenstellende Antwort, aber immerhin diskutierte sie nicht. Das war also schon einmal besser, als die Reaktion, die er erwartet hatte. Außerdem wirkte sie zumindest ein wenig gelöster. Die Schattentänzerin deutete mit einem Kopfnicken in die Ferne. „Ich denke, da zieht ein Sandsturm auf. Wir sollten nach Men-nefer zurückgehen.“ Bakura folgte ihrem Blick. Tatsächlich baute sich am Horizont eine dunkle Wand auf. Es würde kein heftiges Unwetter werden, aber es war vermutlich durchaus angenehmer, es hinter schützenden Mauern auszusitzen. Zeitgleich nahm er den Wink mit dem Zaunpfahl wahr, dass für Risha das Thema beendet war. Er beließ es vorerst dabei. Er hatte noch andere Fragen, die geklärt werden wollten. Beispielsweise, wie es ihr und Keiro überhaupt gelungen war, dem Massaker zu entfliehen oder ob Risha eine Ahnung hatte, was aus ihren leiblichen Eltern geworden war. Ebenso fragte er sich, ob sie oder Keiro eigentlich jemals nach Kul Elna zurückgekehrt waren – von den jüngsten Ereignissen einmal abgesehen. Diese Frage brannte ihm mit am meisten auf den Lippen. Bakura selbst hatte dem Ort nie den Rücken gekehrt, hatte sich auch nach der Tragödie viel dort aufgehalten. Wenn Risha oder sein Bruder wirklich einmal dorthin zurückgekommen waren, dann hatte ihnen das Schicksal ein Schnippchen geschlagen – denn begegnet waren sie sich nie. Dann mussten sie buchstäblich aneinander vorbeigelaufen sein. Auf die Frage, die sich daraus ergab, konnte ihm wiederum niemand eine Antwort geben. Hätte es etwas geändert? Wäre die Geschichte anders verlaufen? Er würde es nie erfahren. Aber zunächst würde er die soeben geführte Unterhaltung sacken lassen. Sein Gegenüber schien ohnehin nicht mehr gesprächig. Umso mehr überraschte es ihn, als sie erneut eine Frage an ihn richtete, als sie zu den Pferden zurück gingen. „Was hast du jetzt eigentlich vor? Ich meine, in den drei Umläufen, die dir noch bleiben?“ Worauf genau die Frage abzielte, wusste er nicht zu deuten. War es reines Interesse? Oder fühlte sie vor, um zu erfahren, ob das ihr letztes Gespräch sein würde? Zur Antwort zuckte er mit den Schultern. „Keine Ahnung. Aber es gibt da noch ein paar Dinge, die ich wissen will. Jedoch nichts, was nicht in drei Umläufen geklärt werden könnte. Wobei … eine zeitaufwendige Sache wäre da ja schon noch. Mal sehen, ob ich das in so kurzer Zeit hinkriege.“ „Und diese Sache wäre?“ Ein feixendes Grinsen schlich sich auf seine Züge. „Na ja, ich bin dein letzter männlicher Verwandter. Also solcher kommt mir doch eigentlich die Aufgabe zu, dich zu verheiraten?“ „Untersteh dich.“ Atemu hatte den Tag mit Mana verbracht. Zunächst waren sie zur Nekropole geritten, um Mahads Grab zu besuchen. Dort angekommen hatten sie die Ka-Statue mit Speis und Trank versorgt, wie es die Riten verlangten. Anschließend verweilten sie einige Zeit am Bestattungsort und sprachen über die Erinnerungen, die sie mit dem einstigen Hofmagier verbanden.Es war bereits spät gewesen, als sie entlang der Nilauen nach Men-nefer zurückgeritten waren. Als sie den Markt passierten, hatte Atemu einem Händler einen kleinen Sack mit Mais abgekauft, den sie zum Palast mitnahmen. Dort angekommen hatten sie die Wirtschaftsräume aufgesucht, um das gelbe Korn zuzubereiten. Mana war nach wie vor fasziniert von der Art, wie die Maiskörner aufsprangen, wenn man sie erhitzte. Als sie damit fertig waren, schnappten sie sich das frische Popcorn und verließen die Küche, um sich irgendwo nieder zu lassen. Dabei begegneten sie Ryou, der sie wissen ließ, dass sich die anderen in einem der kleineren, gemütlichen Säle niedergelassen hatten. Und so saßen sie nun alle gemeinsam auf dicken Kissen und unterhielten sich über dies und jenes. Es war bereits spät, doch keiner von ihnen gedachte, sich bald zur Ruhe zu begeben – im 21. Jahrhundert hätten sie genug Zeit, um sich auszuruhen. Die letzten Stunden im Alten Ägypten wollten voll ausgekostet werden. „Man, eine Sache will mir nicht aus dem Kopf – wie zum Teufel erklären wir unseren Familien, dass wir einfach weg waren?“, äußerte Joey die Frage, über der sie alle noch grübelten. „Vielleicht können wir diese Sachmet ja bitten, uns zu dem Zeitpunkt zurück zu bringen, wo ihr verschwunden seid?“, schlug Tristan vor. „Ich glaube kaum, dass das so ohne weiteres möglich ist“, gab Ryou zu bedenken. „Uns wird wahrscheinlich nicht viel übrigbleiben. Entweder wir sind die unverantwortlichen Ausreißer, oder aber wir spielen eine Entführung vor – wobei letzteres schwer sein könnte.“ „Schieben wir es einfach Kaiba in die Schuhe. Der kauft sich eh aus allem raus.“ „Ja – und verklagt uns anschließend wegen Rufmordes. Und gewinnt. Vergiss es Joey“, entgegnete Duke. „Marik und ich werden es da wohl noch am einfachsten haben. Er kann mit seiner Familie ebenso offen über das Geschehene sprechen, wie ich mit meinem Großvater“, überlegte Yugi. „Und ich war ohnehin nach Japan verreist“, meinte Duke. „Je nachdem, wie viele Tage in unserer Zeit vergangen sind, ist es vielleicht nicht einmal jemandem aufgefallen, dass ich weg war.“ „Sobald wir zurück sind, werde ich mit Ishizu reden“, sagte Marik. „Ich weiß zwar nicht, ob es klappen wird, aber vielleicht kann sie irgendetwas drehen, um unser Verschwinden zu erklären.“ „Meine Mutter wird mir den Kopf abreißen …“, befürchtete Tea. „Ich bin gespannt, ob mein Vater überhaupt mitbekommen hat, dass ich weg war“, seufzte Ryou. „Ishizu wollte zumindest sehen, ob sie ihn kontaktieren kann. Keine Ahnung, ob ihr das noch gelungen ist“, erklärte Tristan. „Mal was ganz anderes“, ergriff noch einmal Tea das Wort. „Wie genau wird das eigentlich ablaufen, wenn Atemu und die anderen beiden uns begleiten? Hat da irgendjemand eine Ahnung? Hat Sachmet irgendetwas genaueres gesagt?“ Der Pharao schüttelte den Kopf. „Nein, das hat sie nicht. Ich bin ebenfalls gespannt.“ „Wäre aber mal interessant zu wissen“, überlegte Marik. „Wissen die Götter denn, dass man in der Zukunft nicht einfach so auftauchen kann? Ich meine, was man alles braucht – Ausweise, Geburtsurkunden, Pässe …“ „Eine gute Frage. Aber ich fürchte, darum werden wir uns erst kümmern können, wenn es so weit ist“, meinte Atemu. „Ich hatte ganz vergessen, wie bürokratisch dieses Zeitalter ist.“ „Und noch was: wo kommt ihr unter?“, warf Joey ein. „Also meine Bude ist zwar winzig, aber meine Couch steht dir jederzeit zur Verfügung.“ „Er kann erst einmal bei Großvater und mir wohnen. Wir haben viel Platz und ich muss niemandem erklären, wo er so plötzlich herkommt“, schlug Yugi vor. „Du kannst auch gerne auf längere Zeit bei uns bleiben. So lange du möchtest, um genau zu sein. Ich bin sicher, Großvater hat nichts dagegen. Sofern du das willst natürlich!“ „Danke Partner. Nichts lieber als das.“ „Du kannst dich jedenfalls auf uns alle verlassen! Wir werden dafür sorgen, dass du mit den besten Voraussetzungen in dieses neue Abenteuer startest“, fügte Tea hinzu. „Genau! Und was wir alles zusammen erleben werden! Kino, Konzerte, Spieleabende …“, zählte Joey vorfreudig auf. „Und was macht ihr mit Bakura und Marlic?“, erkundigte sich Mana. „Pft, sollten sie doch schauen, wie sie zurecht kommen“, sagte Tristan. „Die reißen doch immer den Mund auf und behaupten, sie bräuchten niemanden.“ „Selbst wenn wir ihnen Hilfe anbieten würden – sie wären wahrscheinlich eh zu stolz, um sie anzunehmen. Außer es ist absolut notwendig“, überlegte Ryou. „Wobei ich mir das schon sehr hart vorstelle … ich meine, Marlic ist ja jetzt kein gebürtiger Altägypter. Aber für Bakura muss das schon ein ganz schöner Brocken sein, nochmal aus dieser Zeit herausgerissen zu werden.“ „Ähm, Ryou?“ Joey beugte sich vor und legte ihm eine Hand auf die Stirn. „Fieberst du? Es klingt fast so, als würdest du überlegen, ihm deine Hilfe anzubieten.“ „Ich bin noch nicht sicher, ob es wirklich tun werde – aber ich spiele mit dem Gedanken, ja.“ „Bist du von allen guten Geistern verlassen?“, mischte sich nun auch Tristan ein. „Nach allem, was er dir angetan hat?“ Auch Marik sah den Weißhaarigen verblüfft an, sagte jedoch nichts. Ryou seufzte schließlich. „Ich weiß. Und das kann ich auch nicht vergessen, glaubt mir. Aber … ich habe genau zwei Optionen: entweder ich schließe mit der Vergangenheit ab oder ich trage sie ewig mit mir herum. Letzteres möchte ich nicht. Klar, um damit abzuschließen muss ich Bakura nicht die Absolution erteilen und das werde ich vermutlich auch nie tun. Aber nach allem, was ich inzwischen über seine Vergangenheit weiß, kann ich zumindest grundlegend verstehen, wieso einige Dinge so passiert sind, wie sie passiert sind. Außerdem …“ Er schüttelte den Kopf. „Es ist viel passiert. Aber bei so gut wie allem weiß ich nicht, ob es tatsächlich Bakuras Schuld war – oder doch die von Zorc.“ Als seine Freunde nicht überzeugter dreinschauen, zuckte er mit den Schultern. „Keine Angst, ich habe nicht vor, aus meiner Wohnung eine WG zu machen. Alles, woran ich denke, ist vielleicht eine kleine Starthilfe – vor allem wenn sie ohne Geld und Papiere in unserer Zeit ankommen sollten. Das ist alles.“ Nun war es an Marik, den Kopf zu schütteln. „Du bist definitiv zu gut für diese Welt, Ryou.“ „Du wirst Marlic nicht helfen, oder?“, hakte Tea nach. „Er kann mir gestohlen bleiben. Soll er sehen, wie er zurechtkommt. Er hat sich kein Stück verändert. Und ihm kann man immerhin nicht andichten, er sei von einer dunklen Macht besessen gewesen. Im Gegenteil – er war die dunkle Macht.“ Er überlegte einen Moment. „Außerdem würden Ishizu und Odeon mich umbringen, wenn ich ihn anschleppen würde.“ „Sagt mal“, ergriff plötzlich Mana das Wort. „Ich weiß, dass ihr alle eine sehr lange Vorgeschichte miteinander habt. Aber … ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, wie die aussieht. Ich weiß, dass Atemu eine Zeit lang bei euch im 21. Jahrhundert war. Aber ich glaube, ich habe nie die ganze Geschichte gehört.“ „Willst du sie denn hören?“, erkundigte sich der Pharao. „Ich bitte darum!“ Epilog: Am Ende des Weges ------------------------- Seine Gedanken ein letztes Mal ordnend schritt Atemu auf die Empore zu, von der aus er die angesetzte Ansprache an sein Volk richten würde. Der Vorhof des Palastareals war gefüllt mit Menschen, die darauf warteten zu erfahren, was ihr Pharao in Anbetracht der zurückliegenden Ereignisse sagen würde. Das Gemurmel der Menge drang bis zu ihm herauf. Dies würde seine letzte Handlung als amtierender Pharao von Ägypten sein. Er hatte lange überlegt, was er sagen sollte, was er seinen Untertanen mit auf den Weg geben wollte. Er würde zur Sprache bringen müssen, was sie in diesem Krieg verloren hatten. Er wollte sie aber auch mit Hoffnung im Herzen in die Zukunft blicken lassen. Seine Gedanken wanderten zu dem, was nach dieser Ansprache passieren würde. Sie hatten lange überlegt, wie sie mit der Tatsache umgehen sollten, dass Atemu bald nicht mehr zugegen sein würde. Diskussionen über Diskussionen waren geführt worden, bis sie sich schließlich für einen der umständlicheren, aber womöglich besten Wege entschieden hatten, die Sache anzugehen: man würde das wahre Schicksal des Pharao vor dem Volk verbergen. Eigentlich lagen Atemu derartige politische Spiele überhaupt nicht, aber er glaubte dennoch, dass dies die beste Lösung für alle sein würde. Die Befürchtungen Setos, Manas und Atemus waren ähnlich gewesen, als sie darüber nachgedacht hatten, dem Volk zu erklären, war ihrem amtierenden Herrscher bevorstand. Ägypten befand sich aufgrund des Schaden, den Caesian angerichtet hatte und angesichts des Trümmerfeldes, das er hinterließ, in einer Zeit des Umbruchs. Das Volk war ohnehin schon entwurzelt genug – ihre Verwirrung noch weiter zu schüren, indem man ihnen erzählte, Atemu sei von den Toten auferstanden, könnte jetzt aber nicht bleiben, weil das Ägypten noch mehr schaden würde, war nicht zielführend. Hinzu kam, dass sie den Bildungsgrad, den ein durchschnittlicher Ägypter genoss, berücksichtigen mussten. Darüber hinaus war das ägyptische Volk zwar ein sehr religiöses, es handelte sich dabei allerdings mehr um eine situationsabhängige Religiosität. Kulte bestimmter Götter wurden mal mehr, mal weniger zelebriert, der Fokus wechselte immer wieder über die Jahrhunderte hinweg. Sie sahen das Risiko eines Aufstandes, erklärte man dem einfachen Volk, dass es die Götter waren, die ihren Erlöser aus ihrer Mitte rissen. Und da Atemu aus erster Hand wusste, dass die Götter definitiv real und mächtig waren sowie durchaus gefährlich sein konnten, wollte man vermeiden, hier einen Konflikt zu riskieren. Deshalb würde man der Bevölkerung stattdessen eine Geschichte auftischen, die bis ins kleinste Detail ausgearbeitet war und von der nur der engste Kreis des Pharao wusste. Ein, zwei Umläufe nach der jetzigen Ansprache würde man verkünden lassen, dass sich eine von Atemus Kriegsverletzungen entzündet hätte und Seto vorübergehend die Geschicke des Landes lenken würde, bis er genesen war. Sein Zustand würde sich in den folgenden Tagen jedoch vorgeblich soweit verschlechtern, dass Atemu das Amt schließlich auch offiziell an den Hohepriester übergeben und kurz darauf sterben würde. Anschließend würden die Bestattungsriten, wie es beim Tod eines Regenten üblich war, in Gang gesetzt: es würde eine Trauerfeier geben, eine rituelle Mumifizierung bis hin zu der eigentlichen Beisetzung samt Prozession. Sie hatten lange darüber nachgedacht, wie sie gerade diesen Teil des Plans umsetzen wollten. Vor allem die Mumifizierung stellte einen Stolperstein dar. Sie konnten unmöglich den ganzen beteiligten Priesterkorpus in ihr Vorhaben einweihen, ohne zu riskieren, dass etwas nach außen drang. Einen großen Teil dieses Geschehens konnten sie zum Glück auf Seto abwälzen, der immerhin lange Zeit als Hohepriester fungiert hatte, und es sich offiziell nicht nehmen lassen würde, die erforderlichen Riten an seinem Vetter selbst durchzuführen. Die Stellen, an denen es sich nicht vermeiden ließ, andere Priester hinzuziehen, würden hingegen in Manas Verantwortung liegen. Sie hatte einen Nachmittag lang alte Bücher und Schriften gewälzt und schließlich einen Illusionszauber gefunden, der einem Menschen das Aussehen eines anderen verleihen konnte. Dafür brauchten sie jedoch trotz allem einen Leichnam. Glücklicherweise würde sich ein solcher relativ leicht und ohne ein allzu schlechtes Gewissen beschaffen lassen. Es gab eine Hand voll Soldaten, die nach den letzten blutigen Auseinandersetzungen noch immer mit dem Leben rangen und im Krieg ihre Familie verloren hatten. Es würde kaum jemand nach ihnen suchen. Im Gegenzug würde der Tote eine Bestattung erhalten, die eines Königs würdig war und normalerweise weit über dem lag, was sich ein einfacher Soldat leisten konnte. Atemu behagte der Gedanke überhaupt nicht, doch er wusste, dass es notwendig war. Nach seinem vermeintlichen Tod würde dann Seto die Regierungsgeschäfte übernehmen und – erneut – zum Herrscher Ägyptens gekrönt werden. Ein Faktor blieb jedoch, den sie nicht beeinflussen konnten: würde das Volk annehmen, Seto habe sich nun, da Atemu nicht mehr gebraucht wurde, seinen Posten mit Gewalt zurückgeholt? Im Zweifel durch eine Intrige? Sie hofften, dass dem nicht so sein würde, dass der Umstand, dass der Hohepriester seinen Platz auf dem Thron freiwillig geräumt hatte, als Atemu zurückgekehrt war, genügte, um derlei Bedenken im Keim zu ersticken. Doch zuvor war es noch einmal an ihm, zum Volk zu sprechen und ihnen den richtigen Weg zu ebnen. Es blieb ihnen nicht mehr viel Zeit. Die Sonne näherte sich für den heutigen Tag bereits ihrem Zenit. Bereits beim morgigen Sonnenaufgang würde er seiner Heimat ein für alle Mal den Rücken kehren müssen, um in ein neues, ungewisses Abenteuer aufzubrechen. Er atmete ein letztes Mal tief durch und ordnete seine Gedanken, legte sich Worte zurecht. Dann trat er auf die Empore hinaus. Sofort brandete Jubel zu ihm herauf, Grüße und Lobpreisungen drangen an sein Ohr. Sein Blick schweifte über die unzähligen Menschen, die auf dem Platz auf ihn warteten. Es waren tausende. Und dennoch fiel sofort auf, dass es nicht mehr so viele waren, wie einst. Ägypten hatte in diesem Krieg so viele seiner Kinder verloren, wie selten zuvor. Er hob die Hand als Zeichen, dass er die Menschen seinerseits grüßte. Danach dauerte es nicht lange, bis sich ihre Aufregung soweit gelegt hatte, dass die Rufe versiegten. An ihre Stelle trat eine gespannte Stille, ein forderndes Schweigen. Sie alle warteten darauf, was ihr Pharao zu sagen hatte. Dieser straffte sich und ließ seinen Blick noch einmal über die Menge wandern, dann hob er zu sprechen an. „Volk Ägyptens! Eine Zeit der Angst und der Zerstörung liegt hinter uns. Was in den vergangenen Zyklen geschehen ist, werden wir noch lange im Gedächtnis behalten. Vielleicht werden wie es gar niemals vergessen, hinterlassen die Ereignisse doch ihre Spuren in unserer Heimat. Spuren, die ebenso wie die Narben auf unserer Haut noch frisch sind. Es wird viel Zeit und viel Geduld brauchen, bis sie verheilt sind. Wir alle haben in dieser Katastrophe etwas verloren. Sei es unser Heim oder unsere Lebensgrundlage, unsere Brüder und Schwestern oder unsere Väter und Mütter. Wir alle tragen tiefe Trauer im Herzen ob des Grauens, das uns heimgesucht hat. Doch wisst, dass keiner von uns alleine ist. Wir alle leiden gemeinsam. Auch ich fühle euren Schmerz. Ich habe zahllose Menschen sterben sehen. Gute Menschen, die ihr Leben gegeben haben, um das eure ebenso zu verteidigen, wie das meine. Menschen unterschiedlichster Abstammung und unterschiedlichsten Glaubens. Doch keiner von uns muss in diesen Stunden alleine bleiben. Wir sind in unserer Trauer vereint. Bitten wir die Götter, dass die, die in diesem Krieg ihr Lebens verloren haben, in das Jenseits einziehen und dort den Frieden finden dürfen, den sie sich verdient haben, indem sie bereit waren, den höchsten Preis zu zahlen, den ein Mensch zahlen kann.“ Zunächst schwoll ein zustimmendes Gemurmel in der Menge an, das sich jedoch schnell wieder legte und einem einträchtigen, andächtigen Schweigen wich. Dennoch konnten einige ihre Emotionen nicht unterdrücken. Hier und da drangen Klagelaute zu ihm herauf, als einzelne Leute in Tränen ausbrachen. Unbewusst wanderten seine Gedanken zu den Menschen, die in diesem Krieg an seiner Seite gefochten und die sie schließlich verloren hatten: Resham, Kipino, Keiro, tausende von loyalen Soldaten, tausende von unschuldigen Zivilisten. Gerade das, was er in Theben miterlebt hatte, würde ihn noch lange in seinen Albträumen heimsuchen, da war er sich sicher. Wie diese Menschen dagestanden hatten, eingenommen von dem Amulett der Bastet, vollkommen regungs- und emotionslos, als die Klingen aufblitzten. Aber auch Taisan kam ihm in den Sinn, der Ägypten nichts schuldig gewesen war und dennoch sein Leben gegeben hatte, um seinem eigenen Bruder Einhalt zu gebieten. Er atmete noch einmal tief durch, ehe er weitersprach. „Und dennoch liegt nicht nur eine Zeit der Trauer vor uns. Nein, so fehlplatziert, wie es nach allem, was wir erleiden mussten, auch wirken mag – wir dürfen uns auch freuen. Darüber, dass Caesian in die Knie gezwungen werden konnte. Darüber, dass Ägypten sich wieder einmal behauptet hat und erneut allen Widerständen trotzen konnte. Darüber, dass wir noch hier sind und vielen weiteren Sonnenaufgängen entgegenblicken können. Wir haben gewonnen! Wir sind frei! Doch das bedeutet nicht, dass wir uns ausruhen können. Es ist großer Schaden entstanden. Aber ich bin zuversichtlich, dass all das, was an Arbeit auf uns zukommt, nichts sein wird im Vergleich zu dem, was hinter uns liegt. Gemeinsam können wir unsere Heimat wiederaufbauen und ihr zu neuem Glanz verhelfen! Men-nefer wird ebenso wie Theben aus der Asche auferstehen. Wir werden denen, die von uns gegangen sind, Gräber anlegen und sie gebührend bestatten. Unsere Zahlen werden sich wieder mehren, die Felder wieder bestellt werden, der Handel florieren. Und gerade weil die Vergangenheit so dunkel war, können wir umso zuversichtlicher in die Zukunft blicken! Männer und Frauen Ägyptens! Gemeinsam sind wir stark! Mit vereinten Kräften können wir dieses Land wiederaufbauen und es stärker machen als je zuvor! Gemeinsam können wir all denen trotzen, die es darauf abgesehen haben, unserer Heimat zu schaden! Es wäre eine Lüge, würde ich hier stehen und behaupten, etwas wie das, was Caesian uns angetan hat, würde nie wieder passieren. Denn weder ich noch sonst irgendjemand kann wissen, vor welche Prüfungen uns das Schicksal noch stellen wird. Doch ich sage: lasst sie kommen! Gemeinsam werden wir dafür sorgen, dass dieses Reich noch tausend weitere Jahre Bestand hat!“ Als Atemu geendet hatte, reckte er eine geballte Faust in die Höhe, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Die Reaktion kam umgehend. Tausende von Menschen imitierten die Geste. Gleichzeitig schrien sie ihre Zustimmung heraus und jubelten ihm zu. Manche riefen immer wieder seinen Namen, gefolgt von den unterschiedlichsten Huldigungen und Lobpreisungen. Er konnte beruhigt sein. Die Bevölkerung Ägyptens würde nicht aufgeben. Sie würde nicht verzagen. Ja, sie würden trauern und diese Trauer würde noch eine ganze Weile spürbar sein. Doch Atemu war sich sicher, dass sie umso gestärkter in die Zukunft gehen würden und für all das gerüstet waren, was diese noch bereithielt. Der Himmel wirkte wie ein Tuch aus schwarzen Samt, das man am Firmament aufgespannt und mit tausenden kleinen Diamanten bestückt hatte. Der Mond war dabei der größte von allen und warf sein silbriges Licht auf die unendlichen Weiten der Wüste hinab. Hier und da waren die Rufe von Schakalen zu hören, die sich jedoch im Schatten der Dünen verbargen. Es war eine wunderschöne, angenehm kühle Nacht, die sich jedoch bereits ihrem Ende näherte. Es würde nicht mehr lange dauern, dann würde der Mond der Sonne weichen müssen, bis er am darauffolgenden Abend zurückkehren konnte. In mitten dieser Szenerie fand sich eine Gruppe von Menschen auf der höchsten Düne östlich von Men-nefer ein. Als sie den Kamm der Erhebung erklommen hatten, sahen sie sich zunächst achtsam um und vergewisserten sich, dass dies wirklich der Ort war, an dem sie erwartet wurden. Als sie sich dessen sicher waren, stiegen sie vom Rücken ihrer Pferde. Für eine Weile starben alle Gespräche und Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Es war eine erwartungsvolle, aber auch bedrückende Stille. Denn für die meisten von ihnen bedeutete dieser Augenblick einen Abschied – von ihrer Heimat, aber auch von guten Freunden, Alliierten und Familie. „Es kann nicht mehr lange dauern, bis die Sonne aufgeht“, meinte Seto und blickte zum Horizont. „Dann wollen wir mal sehen, wie pünktlich eure lieben Götter sind“, kommentierte Marlic. Ein zuversichtliches Grinsen lag auf seinen Lippen. Außer denen, die diese Sphäre verlassen würden, hatten sich lediglich Mana und Seto eingefunden. Riell hatte sich bereits am Palast von Atemu verabschiedet und ihm alles Gute für seinen weiteren Weg gewünscht. Er hätte sich hier, in diesem Augenblick, jedoch fehl am Platze gefühlt und war daher zurückgeblieben. Dieser Moment gehörte Atemus Vetter und seiner besten Freundin. „Es wird wohl allmählich Zeit, sich zu verabschieden“, sagte Mana. Man hörte ihrer Stimme an, dass sie mit einem Kloß im Hals kämpfte. Nachdem sie sich kurz gesammelt und durchgeatmet hatte, fügte sie hinzu: „Das Zeichen kann jederzeit auftauchen und dann müsst ihr bereit sein.“ Es folgte ein betretenes Schweigen, das Joey, wie so oft, als Erster durchbrach. „Man, was für ein wahnsinniger Ritt … ich kann immer noch nicht richtig glauben, dass das alles wirklich passiert ist. Wäre nach all den Kämpfen echt schön gewesen, noch eine Weile in Friedenszeiten hier bleiben zu können. Aber was will man machen, was? Irgendwann müssen wir nun einmal nach Hause.“ „Ja, so schwer der Abschied auch fallen mag“, pflichtete ihm Yugi bei, ehe er die Hofmagierin und den künftigen Pharao ansah. „Mana, Seto, ich glaube ich spreche für alle, wenn ich sage, dass es uns trotz der Umstände wahnsinnig gefreut hat, euch wiederzusehen. Ihr werdet eure Sache bestimmt gut machen!“ „Genau“, stimmte Marik zu. „Und Ryou und mir war es eine Ehre, euch kennenlernen zu dürfen!“ Der Weißhaarige neben ihm nickte eifrig. Mana wischte sich schon jetzt verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. „Wir können euch gar nicht genug für all das danken, was ihr für uns getan habt. Ohne eure Unterstützung wäre dieser Krieg anders verlaufen, da bin ich sicher. Wo immer ihr jetzt auch hingeht, gebt mir gut auf Atemu Acht. Und wer weiß? Vielleicht spielt das Schicksal wieder einmal verrückt und unsere Wege kreuzen sich erneut.“ „Dann aber hoffentlich ohne irgendwelche Kriege im Schlepptau“, warf Tristan ein. „Hey, seht mal! Sieht so aus als käme da doch noch jemand“, merkte Tea an und deutete in Richtung Men-nefer. Tatsächlich näherte sich von dort ein Pferd. Die Dunkelheit machte es schwer, zu erkennen, um wen es sich handelte. Erst als das Tier die Düne hinaufgetrabt kam, erkannten sie die dunklen Umhänge der Schattentänzer. Es dauerte auch nicht lange, bis die beiden Gestalten die Erhebung erklommen hatten und die erste vom Rücken des Pferdes hopste. „Marlic! Puh, ich hab’s noch geschafft! Ein Glück!“ Der Angesprochene starrte mit hochgezogener Augenbraue und ehrlicher Verwunderung Samira an, die strahlend auf ihn zu gerannt kam. „Nervensäge? Was willst du hier?“ Die Kleine kam schlitternd vor ihm zum Stehen. „Na, was wohl? Ich hatte gar keine Möglichkeit mehr, mich anständig von dir zu verabschieden! Aber ich bin ja gerade noch rechtzeitig zurückgekommen!“ „Ähm. Okay. Dann … bye, bye“, erwiderte Marlic und winkte ihr halbherzig zu. Doch die Kleine schüttelte nur belustigt den Kopf. „Ich bin noch nicht fertig, du Dummerchen. Ich hab noch etwas für dich!“ Sie kramte in einem Beutel, der um ihre Hüfte hing, ehe sie ihm eine ihrer putzigen Fäuste entgegenstreckte. „Hand auf!“ Der Ältere war viel zu baff, um zu widersprechen. Seine Verblüffung steigerte sich jedoch ins Unermessliche, als etwas circa drei Zentimeter großes, goldenes auf seine Handfläche fiel. Er hob es näher vor seine Augen, um es trotz der Dunkelheit inspizieren zu können. Es handelte sich um einen kleinen Skarabäus. „Und was genau soll ich damit?“, hörte er sich schließlich fragen. „Das ist ein Glücksbringer! Ich hab‘ zwar nach wie vor keine Ahnung davon, wie es in der Zukunft ist, aber Glück kann man immer brauchen. Vor allem wenn man einen Neuanfang wagt.“ Für einen Moment lang starrten sie sich an. Samira erwartungsvoll, Marlic völlig sprachlos. Dann plötzlich schoss das rothaarige Nervenbündel vor und umarmte ihr endgültig perplexes Gegenüber – so gut sie das bei ihrer geringen Körpergröße eben konnte. Der Ältere verfiel sofort in eine Art Schockstarre. „Danke für alles. Ich werd‘ dich echt vermissen!“, nuschelte Samira irgendwo auf Höhe seines Magens. Marlic starrte sie derweil mit zuckendem Augenlid an. Was …? Und wieso …? Er musste sie schnellstmöglich los werden. Er spürte bereits die Blicke des Pharao und seines Kindergartens auf sich ruhen. Er zog an ihrem Arm, doch das brachte keinen Erfolg. Sie hielt ihn umklammert wie einen Rettungsring auf offenem Meer. So biss er schließlich die Zähne zusammen und tätschelte ihr halbherzig den Kopf. „Ähm, ja, bitte. Und danke. Uhm … Hübsch … also der Skarabäus. Nicht du. Und jetzt sei eine brave Nervensäge und lass mich los.“ Zu seiner Verwunderung tat sie wie geheißen und trat einen Schritt zurück. Als sie zu ihm hochsah, standen kleine Tränen in ihren Augenwinkeln, die sie hastig wegwischte. „Mach’s gut, Marlic!“, sagte sie noch, dann wandte sie sich um und wuselte ebenso schnell zu dem Pferd zurück, wie sie gekommen war. Marlic sah ihr kopfschüttelnd und immer noch sprachlos hinterher, ehe sein Blick zu dem Skarabäus wanderte. Na ja … schien immerhin echtes Gold zu sein. Falls die Götter also keine Ahnung vom Kapitalismus des 21. Jahrhunderts hatten, dann wäre das Ding vielleicht wirklich so etwas wie ein Glücksbringer – in Form von Startkapital. Während Samira nun Marlic dazu gebracht hatte, ausnahmsweise mal keine kecken Worte herauszubringen, war auch Risha vom Pferd gestiegen. Bakura musterte sie einen Moment lang verdutzt aus der Ferne, ehe er sich von seinem Platz auf dem weichen Sand erhob und auf sie zuging. Für einen Augenblick sah er sie mit hochgezogener Augenbraue an, erzeugte damit jedoch keine Reaktion ihrerseits. „Ich dachte, du hattest nicht vor, zu kommen?“, sprach er die zuvor stille Frage schließlich aus. Sie seufzte und wandte den Blick ab. „War auch nicht mein Plan. Aber … irgendwie hätte es sich falsch angefühlt, diese letzte Chance ungenutzt verstreichen zu lassen.“ Bakura zuckte mit den Schultern. „Ich hätte dir keine Vorwürfe gemacht.“ Im Gegenteil. Er hätte es verstanden. Er wusste nicht, wie viel es ihr ausmachte, dass er gehen würde. Doch die letzten Tage, in denen sie verhältnismäßig viel geredet hatten, ließen ihn ahnen, dass es wenigstens nicht spurlos an ihr vorüber gehen würde. Daher hatte er nicht geglaubt, dass sie hier her kommen würde. Wenn er in der kurzen Zeit, die sich miteinander gekämpft hatten, eines gelernt hatte, dann war es, dass Risha Trauer und eigentlich alle negativen Gefühlsregungen mit Zorn konterte. Diesmal gab es jedoch niemanden, gegen den sich dieser hätte richten können – zumindest nichts Irdisches, das sie greifen konnte. Doch nun stand sie hier und schien doch selbst keine Ahnung zu haben, warum sie da war. „Ich werde es überleben. Resham ist tot, Kipino ist tot, Keiro ist tot … du bist auch schon mal gestorben. Und ich habe es immer überlebt, auch wenn es sich anfangs nicht so angefühlt hat.“ Sie seufzte. „Immerhin habe ich diesmal die Möglichkeit, Lebewohl zu sagen.“ Ein freudloses Glucksen. „Tja und jetzt stehe ich hier und hab keine Ahnung, wie man sowas überhaupt macht. Normalerweise sterben mir die Menschen unter den Fingern weg, ehe ich irgendwelche berühmten letzten Worte mit ihnen austauschen kann.“ Auch bei ihrer letzten Begegnung am Vorabend war es nicht dazu gekommen. Auf die Frage hin, ob sie da sein würde, hatte sie lediglich gemeint, dass er nicht mit ihr rechnen sollte. Dann hatte sie auf dem Absatz kehrt gemacht und war verschwunden. Bakura wusste nicht direkt, was er auf ihre Worte hin erwidern sollte. Stattdessen wanderte sein Blick zu Samira hinüber. „Hast du dich inzwischen entschieden, ob du bleiben wirst?“ „Ja … Ich weiß nicht, ob dieser Entschluss von Dauer sein wird, aber … so sehr ich Riells Entscheidung missbillige, ich kann ihnen nicht einfach den Rücken kehren. Sie haben viel für mich getan. Und sie brauchen tatsächlich jemanden, der die Dinge in Frage stellt.“ Sie sah ebenfalls zu der kleinen Schattentänzerin hinüber. „Außerdem bin ich es Resham schuldig, auf Riell aufzupassen.“ „Du schuldest niemandem etwas“, entgegnete Bakura. „Es ist dein Leben, nicht das seine.“ „Und doch würde es sich wie Verrat anfühlen, wenn ich sie zu einer so heiklen Zeit verlasse. Es ist viel passiert. Nichts ist mehr, wie es vorher war.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Mal sehen, ob ich dabei bleibe, wenn sich das Schlimmste gelegt hat. Aber vorerst ist das mein Plan.“ Bakura schnaubte. „Na ja. Immerhin hast du einen.“ Sie musterte ihn prüfend. „Wird es dir dort gut gehen, wo du hingehst?“ Die Frage kam überraschend und war für ihre Standards ungewohnt … besorgt. Umso mehr fragte sich der Grabräuber, was er darauf erwidern sollte – denn eigentlich wusste er keine Antwort darauf. Immerhin befand er sich im Begriff, eine Reise ins Ungewisse anzutreten. Schließlich entschied er sich jedoch dagegen, genau das zu sagen. Es würde sie nur unnötig beunruhigen. „Klar. Ich bin der König der Diebe. Ich komme überall zurecht. Und dieses Zeitalter, in das ich gehe, hat durchaus gewisse Vorzüge. Zumal es mir nicht unbekannt ist. Also ja, es wird alles gut gehen.“ „In Ordnung“, meinte sie, nachdem sie ihn noch einen Moment lang eingehend gemustert hatte. „Um Keiros Bestattung musst du dich jedenfalls nicht sorgen. Das verspreche ich. Es wird alles so geschehen, wie es die Riten vorsehen.“ Ihr Blick wanderte ebenso wie Bakuras zum Horizont. Noch war die Sonne nicht aufgegangen, doch der Himmel begann im Osten bereits, einen violetten Farbton anzunehmen. „Es wird wohl langsam Zeit“, meinte Risha schließlich. „Ich … also …“ Es hätte nur noch gefehlt, dass sie mit dem Fuß scharrte. Sie stand da und schien nicht zu wissen, ob sie etwas sagen sollte und wenn ja was. So druckste sie lediglich herum, fing immer wieder Sätze an, nur um sie dann abzubrechen. Bakura fuhr schließlich dazwischen. „Ich hätte da noch eine Bitte.“ Sofort richtete sich ihr Blick wieder auf ihn. „Ich höre?“ „Mach dem da“, meinte er mit Kopfnicken Richtung Seto, „wenigstens auf bürokratischer Ebene das Leben madig. Und der Hexe gleich mit.“ Zum ersten Mal seit Beginn des Gesprächs huschte ein Lächeln über Rishas Züge. „Geht klar.“ Danach trat wieder dieses unangenehme Schweigen zwischen sie und ihre Augen suchten abermals den Horizont. „Meinst du, wir sehen uns noch einmal wieder? Ich meine, mir ist bewusst, dass es nicht in diesem Leben sein wird. Aber vielleicht ja in der Nachwelt?“, äußerte die Schattentänzerin letztlich den Gedanken, der ihr die ganze Zeit durch den Kopf ging. Bakura zuckte mit den Schultern. „Je nachdem, was Ammit von unseren Herzen hält. Aber wenn ich in all dem Chaos, das mein Leben ist, eines gelernt habe, dann, dass alles möglich ist.“ „Gut. Dann hoffe zumindest ich auf das Beste. Nicht, dass ich dir einen baldigen Tod wünschen würde, ich hoffe du versteht, wie …“ „Risha?“ „Ja?“ „Lass die Wortklauberei sein. Du kannst lange nach den richtigen Worten suchen und wirst sie trotzdem nicht finden. Es gibt keine Worte für eine solche Situation.“ Er sah sie an. „Manchmal muss gar nichts gesagt werden.“ Perplex beobachtete sie, wie er schließlich einen Arm in ihre Richtung hob. Prüfend sah sie ihn an – immerhin lange genug, damit Bakura genervt die Augen verdrehte. „Jetzt komm schon her. Die Sonne geht gleich auf.“ Für einen Moment reagierte sie nicht, dann schüttelte sie den Kopf und nahm die angebotene Umarmung an. „Pass gefälligst auf dich auf. Ich habe keine Lust, nochmal durch Zeit und Raum reisen zu müssen, um deinen Hintern zu retten“, sagte Bakura nach einem Augenblick des innigen Schweigens. „Du ebenso.“ Damit lösten sie sich voneinander, hielten noch einen Moment lang Blickkontakt. Dann raffte Risha die Kapuze ihres Umhangs über den Kopf, wischte sich flüchtig über die Wange und ging zurück zu ihrem Pferd, während das verheißungsvolle Violett am Horizont an Intensität gewann. In einiger Entfernung nickte Mana ihrem Kindheitsfreund aufmunternd zu. „Jetzt ist es jeden Moment soweit, Atemu. Du trittst dein nächstes großes Abenteuer an.“ „Allerdings“, erwiderte er mit Blick in die Ferne. Dann wanderten seine Augen zu seinem Vetter und seiner besten Freundin. Zunächst ging er auf Seto zu, der jedoch noch das Wort ergriff, bevor Atemu sprechen konnte. „Mein Pharao“, er schüttelte den Kopf und korrigierte sich hastig, „Atemu, ich danke dir – für alles. Und ich bitte abermals um Vergebung dafür, dass wir uns anmaßten, deine Ruhe zu stören. Ich hoffe von Herzen, dass du dort, wo dich dein Weg nun hinführt, den Frieden findest, der dir bislang nicht vergönnt gewesen ist. Ich versichere dir, dass wir alles in unserer Macht stehende tun werden, um Ägypten zu beschützen.“ „Es ist keine Entschuldigung nötig, Seto. Du hast getan, was nötig war. Ich bin dankbar für dein Vertrauen – und diese neue Chance, die ich nie bekommen hätte, wäre ich im Totenreich geblieben. Ich bin sicher, du wirst ein großartiger Pharao sein. Immerhin ist das Amt für dich nicht neu. Du hast es schon einmal hervorragend bekleidet. Ich wünsche dir alles Gute – auch für deine Zukunft mit Kisara.“ „Vielen Dank. Dir ebenso, mein Pharao.“ Sie reichten einander die Rechte, während sie sich mit dem freien Arm knapp, aber freundschaftlich umarmten. Danach wandte sich Atemu an die Hofmagierin. Diese hatte sich derweil von Yugi und den anderen verabschiedet. Bereits jetzt rannen ihr Tränen über die Wangen, die noch stärker hervorquollen, als sie sich ihrem Regenten zuwandte. Atemu lächelte sie aufmunternd an und breitete die Arme aus. „Komm her“, forderte er sie auf. Es dauerte keinen Wimpernschlag, dann fand er sich in ihrer Umarmung wieder. „Alles Gute“, schluchzte sie. „Möge Ra dich stets auf deinem Weg begleiten und mögen die Götter dich segnen, Atemu. Du bist das Beste, was Ägypten je passiert ist. Ich werde dich niemals vergessen, das schwöre ich.“ „Und ich dich ebenso wenig, Mana. Seto und du, ihr werdet für immer in meinem Herzen sein. Und eines Tages, wenn wir unsere letzten Atemzüge getan haben, werden wir uns wiedersehen – da bin ich mir vollkommen sicher.“ „Ja“, stimmte sie mit erstickter Stimme zu, ehe ein kleines Lächeln über ihre Lippen huschte. „Und dann werden wir gemeinsam mit Mahad jede Menge Popcorn essen!“ Atemu konnte sich ein kurzes Lachen nicht verkneifen. „Das werden wir tun, ja.“ Er löste sich aus ihrer Umarmung, ließ die Hände jedoch noch auf ihren Schultern ruhen und musterte sie mit einem warmen Lächeln. Dann wischte er ihr eine Träne von der Wange und schüttelte den Kopf. „Und nun trockne deine Tränen. Es liegen große Aufgaben vor euch und eine noch glänzendere Zukunft.“ „Ich weiß ja. Es wäre nur so viel einfacher, wenn diese Zukunft nicht mit einem Abschied beginnen würde.“ Sie atmete einmal tief durch und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Atemu nickte verständnisvoll. „Und dennoch würde ich dich ungerne so zurücklassen.“ Sie musterte ihn einen Moment lang, dann schüttelte sie energisch den Kopf, als wolle sie irgendwelche bösen Gedanken vertreiben. Danach blickte sie ihn wieder an, noch immer mit Tränen in den Augen, aber diesmal mit einem breiten Lächeln auf den Lippen. „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich weiß auf mich aufzupassen und bin für das, was uns bevorsteht, bestens gewappnet!“ „Das ist die Mana, die ich kenne“, bestätigte Atemu. „Hey, ich glaube, es ist soweit!“, erklang plötzlich Joeys Stimme hinter ihnen. Ein Blick zum Horizont bestätigte Atemu, dass die ersten Sonnenstrahlen soeben dabei waren, auf sie hernieder zu gehen. Er wandte sich ein letztes Mal zu Mana um. Die wischte gerade wieder eine Träne fort, lächelte jedoch tapfer weiter. „Geh nur“, sagte sie. „Die Zukunft ruft nach dir.“ Sie umarmten sich noch ein weiteres Mal. Dann nickte er ihr ein letztes Mal zu, wandte sich um und ging zu seinen Freunden hinüber. „Alles in Ordnung?“, fragte Yugi, als er zu ihnen trat. „Ja, Partner“, bestätigte der Ältere. „Was auch immer in Domino City auf uns wartet, Atemu“, sagte Tea, „wir sind an deiner Seite!“ „Genau! Du kannst dich voll auf uns verlassen“, stimmte Joey zu. „Aber sowas von! Du wirst sehen, wir haben eine großartige Zeit vor uns!“, warf Tristan ein. „Wir alle werden uns bemühen, dass du dich dort ebenfalls wie zu Hause fühlst“, meinte Ryou mit einem Lächeln. „Die Welt, in die du uns begleiten wirst, bietet zahllose Möglichkeiten, Pharao“, pflichtete Marik bei. „Wann immer du dich nach Ägypten sehnst, kannst du meine Familie und mich gerne besuchen kommen.“ „Und mich in den USA!“, bot Duke an. Atemu ließ seinen Blick über die Gruppe wandern und nickte zuversichtlich. „Vielen Dank, Freunde. Danke für alles. Euer Vertrauen, eure Freundschaft, eure Zuversicht. All das bedeutet mir wirklich viel.“ „Können wir dann vielleicht langsam mal los? Diese Gefühlsduselei macht mir den Magen flau“, tönte plötzlich Marlics Stimme dazwischen. „Angst, dass du doch noch ein Tränchen verdrücken musst, weil du deinen einzigen Fan zurücklässt?“, feixte Joey. „Von wegen. Ich kann nur nicht darauf warten, mir meinen ersten Whiskey hinter die Binde zu kippen und euch Pappnasen endlich los zu sein.“ Bakura trat ebenfalls zu ihnen. „Bringen wir es endlich hinter uns.“ Dann kam der Moment, auf den sie gewartet hatten. Dem Erwachen eines Phönix gleich schoben sich die ersten Sonnenstrahlen hinter dem Horizont hervor und warfen ihr warmes Morgenlicht auf die Wüste hinab. Der Himmel verfärbte sich orange und sah aus, als würde er in Flammen aufgehen. Sie mussten nicht lange nach dem Zeichen suchen, das Sachmet ihnen angekündigt hatte. Sobald das Licht den Sand berührte, begann eine Stelle unmittelbar vor ihnen zu funkeln. Binnen kürzester Zeit gewann der Glanz an Intensität und formte sich zu einem leuchtenden Ankh, das in den Sand eingebettet war. „Das ist dann wohl das Zeichen, von dem die Rede war“, kommentierte der Grabräuber. „Sieht ganz danach aus“, pflichtete Yugi bei. Sein Blick wanderte zu Atemu. „Wie sieht es aus? Bist du bereit?“ Die Augen des Pharao ruhten noch einen Moment lang auf Men-nefer, dann wandte er sich dem Anderen mit einem Lächeln zu und nickte. „Ja, das bin ich, Partner. Es kann losgehen.“ Die Blicke der kleinen Gruppe wanderten noch einmal dorthin zurück, wo Mana und Seto standen. Die Hofmagierin winkte ihnen zu und wünschte ihnen noch eine gute Reise. Sie erwiderten die Geste. Auch Bakura sah noch einmal dorthin zurück, wo Risha und Samira neben ihrem Pferd standen und das Geschehen beobachteten. Sie nickten sich ein letztes Mal zu. „Dann auf drei“, gab Atemu vor. Er atmete ein letztes Mal durch – die letzten Atemzüge, die er hier, in seiner Heimat, tun würde. „Ein – zwei – drei!“ Zeitgleich traten sie vor und standen schließlich vereint auf dem Ankh. Die Reaktion kam augenblicklich. Sand stob einer brandenden Welle gleich auf und hüllte sie ein. Zugleich erstrahlte ein gleißendes Licht, das die Umstehenden blendete, sodass sie sich die Hände vor die Augen halten mussten. Atemu spürte ebenso wie die, die ihn begleiteten, einen starken Sog, der ihn hinfort riss aus Ägypten und hinein in ein neues Abenteuer. Es war ebenso schnell vorbei, wie es begonnen hatte. Keinen Wimpernschlag später zerstob der Sandwirbel in abertausende von kleinen Körnchen, die zu Boden rieselten. Das Licht erlosch. Einzig die Strahlen der Sonne erhellten nun die Wüste. Die Gruppe war verschwunden. Rishas Augen blieben noch einen momentlang an der Stelle haften, an der gerade eben noch ihr Vetter gestanden hatte. Sie biss sich auf die Unterlippe bis es wehtat. Doch schon nach einem Augenblick riss sie eine Stimme aus den Gedanken, die ziellos durch ihren Kopf schwirrten. „Majestät? Weint Ihr etwa?“ Entgeistert sah sie Samira an. „Unsinn. Ich hab lediglich Sand in die Augen bekommen. Außerdem bin ich nicht mehr deine Majestät, also gewöhn dir das ab.“ Sie sah ein letztes Mal dorthin, wo das Ankh erschienen war, dann wandte sie sich entschlossen um. „Lass uns zurückgehen. Es gibt viel zu tun.“ Auch Mana und Seto verweilten noch einen Moment am Ort der Trennung. Der Hohepriester und neue Herrscher seufzte schließlich. „Es wird nie wieder einen Pharao geben wie ihn.“ Mana lächelte unter Tränen. „Das stimmt“, pflichtete sie ihm bei, ehe sie ihn ansah. „Aber das bedeutet nicht, dass sein Nachfolger nicht auf seine ganz eigene Weise seine Spuren in Ägyptens Herz hinterlassen kann.“ Seto kam nicht umhin, ihr Lächeln zu erwidern. „Wollen wir zurückgehen?“, fragte er, nachdem ein Moment der einträchtigen Stille zwischen ihnen vorübergezogen war. „Ja. Lass uns reiten. Eine Menge Aufgaben warten auf uns. Und je eher wir damit beginnen, Atemus Vermächtnis zu festigen, desto besser.“ So preschten sie schließlich zurück gen Men-nefer. Nicht Seite an Seite, aber doch in ihrem Streben vereint: Ägypten zu stärken und zu beschützen. Ungesehen von ihnen materialisierte sich in ihrem Rücken eine Gestalt auf dem Kamm der Düne. Die schwarzen Tatzen trugen sie bis an den höchsten Punkt der Erhebung. Dort ließ sie sich auf ihren kräftigen Hinterbeinen nieder. Die goldenen Ornamente an ihrem Körper schimmerten im Sonnenlicht, während sie den Sonnenaufgang mitverfolgte. „Alles Gute, vorlautes Menschenkind“, sprach Sachmet in die Stille hinein. „Alles Gute.“ ~~~Yu-Gi-Oh! Die Seele der Zeit – Ende~~~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)