Die Seele der Zeit von Sechmet (Yu-Gi-Oh! Part 6) ================================================================================ Kapitel 67: Am Abgrund - Teil VI -------------------------------- Während Diabound sich bemühte, Shadara nicht wieder aus seinem Griff entkommen zu lassen, versuchte Bakura, einen möglichst großen Abstand zwischen sich und seinem Bruder zu halten. Dieser hatte den zweiten Dolch bislang nicht nach ihm geworfen. Das heißt, er hat keine andere Waffe. Gut … Sollte sich Keiro dazu entscheiden, anzugreifen, so hoffte der Grabräuber, leichtes Spiel mit ihm zu haben. Er besaß einen Langdolch, wohingegen der Andere ein deutlich kürzeres Exemplar mit sich führte. Einen Faktor musste er dabei jedoch im Hinterkopf behalten – Keiros Kampferfahrung, von der er nichts wusste. Er hatte keine Ahnung, ob er in seinem Leben oft genug in Situationen gekommen war, in denen er sich hatte verteidigen müssen, um daraus zu lernen. Der erste Dolch war jedenfalls erschreckend akkurat geworfen worden. Und noch etwas musste er bedenken: Er hatte Risha in Aktion gesehen und wusste, dass sie zumindest nicht vollkommen unfähig war, wenn es darum ging, es mit einem Widersacher aufzunehmen – wenigstens, solange sie ihre Waffen bei sich hatte. Keiro hatte sie jedoch scheinbar überwältigen können. Er musste auf der Hut sein. Als sein Bruder begann, sich ihm zu nähern, wich der Grabräuber vorerst zurück. So unausweichlich diese Konfrontation sein mochte und ja, so laut eine Stimme in ihm auch behauptete, dass dieser Idiot eine ordentliche Tracht Prügel verdient hatte, so wenig wollte er doch, dass es tatsächlich dazu kam. „Leg den verdammten Dolch weg und komm zur Besinnung“, knurrte er noch einmal, obgleich er sich sicher war, auch diesmal nichts bei seinem Gegenüber bewirken zu können. Die Antwort fiel entsprechend aus. Keiro stürzte mit einem Mal nach vorne, den Dolch fest umklammert. Bakura wich zur Seite aus und verpasste ihm einen kräftigen Stoß in den Rücken, wodurch er gegen eine Hauswand stolperte. Lange sollte dies seinen Bruder jedoch nicht aufhalten. Er fing sich rasch, fuhr herum und schlug mit der Klinge nach dem Grabräuber, die dessen rechten Arm nur knapp verfehlte. Den direkt darauffolgenden Hieb wehrte er schließlich mit seinem Langdolch ab, wobei er Keiro an einem Finger eine tiefe Schnittwunde verpasste. Diese schien ihn jedoch wenig zu kümmern. Immer weiter drang er auf seinen Bruder ein, versuchte, nah genug an ihn heranzukommen, um ihn tödlich verletzen zu können. Doch Bakura erkannte bald, dass sein Gegenüber nicht ansatzweise so schnell war, wie er selbst. Dies machte er sich zunutze. Immer wieder ließ er Angriffe des Anderen ins Leere laufen, um ihn so nach und nach zu ermüden. Es dauerte nicht lange, dann bot sich dem Grabräuber eine Möglichkeit. Während Keiro den Dolch abermals zurückzog, um eine weitere Attacke auszuführen, sprang er vor, ließ seine eigene Waffe fallen, um beide Hände frei zu haben und riss sein Gegenüber beinahe von den Füßen. In einer fließenden Bewegung ergriff er dessen rechtes Handgelenk und drehte es ruckartig, sodass sich der Griff des Widersachers um den Dolch lockerte. Es klirrte, als die Waffe zu Boden fiel. Gleichzeitig packte er Keiros linke Schulter und stieß ihn von sich, mit dem Ziel, ihn zu Boden zu schleudern. Ehe dies jedoch passieren konnte, kollidierte die linke Faust seines Bruders mit seinem Unterkiefer, woraufhin Bakura den Halt verlor und seinerseits rückwärts taumelte. Der kurze Moment, den er von dem Schlag benommen war, reichte Keiro aus, um den Langdolch an sich zu bringen und ihn zu Boden zu reißen. Der Grabräuber wollte sich zur Wehr setzen, hielt jedoch augenblicklich inne, als er der scharfen Klinge gewahr wurde, die nur wenige Finger breit vor seinem Gesicht schwebte. Langsam wanderte sein Blick von der Klingenspitze zu seinem Verwandten, der ihn mit kalten Augen ansah. „Schluss mit den Spielchen“, zischte Keiro. „Ich werde nicht zulassen, dass du meine Pläne weiter hinauszögerst, Bruder.“ Bakura! Lass mich … Wage es nicht, fuhr der Grabräuber in Gedanken seinen Ka an. Sein Opponent zog derweil den Dolch über die rechte Schulter zurück, bereit, die Klinge auf ihn niedersausen zu lassen. Er wird dich töten! Ich finde einen Weg! Der einzige Weg ist, Shadara den Gar auszumachen, siehst du das nicht? … verletze ihn. Das wird Keiro lange genug aus der Bahn werfen, um die Situation zu meinen Gunsten zu wenden. Was denkst du, tue ich schon die ganze Zeit? Bakura stockte und wandte den Blick dorthin, wo die beiden Ka-Bestien noch immer miteinander rangen. Tatsächlich machte es den Eindruck, als bekäme Shadara kaum noch Luft. Er bewegte sich fast nicht mehr, schien erschöpft und rang nach Atem. Diabound hatte mit seinen Klauen vor allem in die Schultern des Feindes tiefe Wunden gegraben. Keiro ließ dies jedoch vollkommen kalt. Er zeigte keinerlei Reaktion auf die Schmerzen seines Monsters, obgleich sich seine Kleidung an den entsprechenden Stellen rot gefärbt hatte. Es war normal, das Menschen, die ein Ka von Geburt an in sich trugen, irgendwann die Fähigkeit entwickelten, eine gewisse Barriere zwischen sich und dem Seelenwesen zu errichten. Eine, die so weit reichte, dass Träger oder Bestie von den Schmerzen des Anderen gänzlich unbeeinträchtigt blieben, gab es jedoch nicht. Das, was Bakura hier vor sich sah, war schier unmöglich. „Nun denn …“ Die Worte Keiros ließen ihn den Kopf wieder herumreißen. „Mögest du in den ewigen Gefilden der Unterwelt endlich die Ruhe finden, die dir auf Erden nie vergönnt war, Bruder. Es tut mir leid, dass es hierzu kommen muss, doch es gibt keinen anderen Weg, diese Welt, dich und Risha zu heilen.“ Bakura! Nein! „Auf dass Osiris deiner Seele gnädig sein möge. Lebe wohl, Bakura.“ Der Dolch sauste ruckartig hinab. Bakura hätte schwören können, die Zeit hätte sich verlangsamt, als er die Klinge näher und näher kommen sah. Dann ging alles ganz schnell: Die Spitze der Waffe bohrte sich gerade einmal durch seine Haut, ehe sie samt dem, der sie hielt, zur Seite weggerissen wurde. Klirrend fiel der Langdolch zu Boden, während ein überraschter Aufschrei Keiros zu vernehmen war. Der Grabräuber brauchte einen Augenblick, um das, was soeben geschehen war, zu realisieren. Dann warf er eilig einen Blick auf die Wunde, nur um festzustellen, dass sie lediglich oberflächlich war und keinen weiteren Schaden angerichtet hatte. Dann wälzte er sich herum, um zu sehen, was mit Keiro geschehen war. Dort, einige Schritte entfernt, rangen sein Bruder und Risha miteinander um die Oberhand. Scheinbar hatte auch sie eine Waffe bei sich gehabt, diese jedoch im Eifer des Gefechts bereits fallen lassen. Nun versuchte sie, sich mit bloßen Händen gegen den Anderen zu wehren, was ihr jedoch sichtlich schwer fiel. Sie mochte keine schlechte Kämpferin sein, doch ein ausgewachsener Mann wie Keiro war ihr von physischer Seite her schlichtweg überlegen. Es dauerte nicht lange, dann hatte er sie niedergerungen, die Hände um ihren Hals gelegt und begonnen, zuzudrücken. Bakura war gerade dabei, auf die Beine zu kommen, um sie auseinanderzubringen, da erhellte ein greller Blitz bereits das verlassene Dorf und Cheron riss Keiro mit einem kreischenden Laut von seiner Trägerin herunter. Diese blieb nach Luft ringend im Sand liegen, während das Monster schützend zwischen ihr und ihrem Vetter Position bezog. Der wirkte einen Moment lang vollkommen überrumpelt, fing sich jedoch ob der Wut, die augenblicklich von ihm Besitz ergriff, schnell wieder. „Du dreckiges Miststück! Wie hast du es geschafft, dich zu befreien?“ Risha gab ihm keine Antwort darauf, sondern sah lieber zu, dass sie auf die Beine kam. Sie war erschöpfter, als sie gedacht hatte. Eilig langte sie nach dem Dolch und stellte sicher, dass sie ihn fest im Griff hatte, ehe sie sich ihrem Widersacher zuwandte. Sie warf einen kurzen, flüchtigen Blick zu Bakura, der ihr knapp zunickte, ehe er vortrat. „Es ist vorbei, Keiro. Shadara kann keine Tatze mehr rühren und du wirst wohl kaum so dämlich sein und dich mit einem ungehaltenen Pegasus anlegen. Ruf dein Monster zurück und gib auf. Dann vergessen wir diese Episode einfach und helfen dir, wieder klar im Kopf zu werden.“ Seine Base warf ihm einen eindringlichen Blick zu. „Der Kerl versucht, mich zu töten und ich soll es dabei belassen? Wozu? Damit er es bei der nächstbesten Gelegenheit wieder versucht? Und ganz nebenbei wollte er dich ebenso umbringen! Er ist gefährlich, Bakura!“ „Das hätte er nicht getan“, entgegnete der Grabräuber knapp. „Nein, natürlich nicht. Was war das dann? Eine optische Täuschung?“ „Er ist nicht bei Sinnen.“ „Schnallst du das auch endlich mal, ja?“ „Nicht in der Form, die du dir vorstellst. Irgendetwas an ihm ist anders, fällt dir das nicht auf?“ „Alles was ich sehe, ist ein Kerl, der, nachdem er schon lange Zeit an der Grenze zum Wahnsinn wandelte, endgültig das letzte bisschen Verstand verloren hat.“ „Bist du blind?“, keifte Bakura zurück. „Es ist etwas mit ihm! Spürst du das denn nicht?“ „Ich habe keine Ahnung, was du meinst. Dafür weiß ich aber zu gut, dass er Cheron mit einem Blutmal bannte, mich in einem Gewölbe gefangen hielt und mich regelrecht rituell hinrichten wollte! Dabei faselte er die ganze Zeit davon, dass ich Schuld an der Tragödie von Kul Elna sei, weil ein Fluch auf mir liegen würde!“, brüllte Risha zur Antwort. Der Grabräuber zögerte, war jedoch bemüht, es sich nicht anmerken zu lassen. In Keiros Erklärungen hatte ein ähnlicher Ton bereits mitgeschwungen, sich jedoch nicht so kristallklar gezeigt, wie jetzt. Das brachte eine positive und eine negative Seite mit sich: Risha würde sich nur schwer davon überzeugen lassen, ihren Vetter nicht an Ort und Stelle umzubringen – aus Wut oder um einem erneuten Konflikt zuvorzukommen, sei dahingestellt. Das – wenn man so wollte – Positive war jedoch, dass sich Bakura nun absolut sicher war, dass Keiro in diesem Moment nicht er selbst war. Irgendetwas beeinflusste ihn, schien regelrecht Besitz von ihm ergriffen zu haben. Auf solch aberwitzige Gedanken kam niemand einfach so. Sein Bruder hatte aber nie zuvor etwas derartiges geäußert. Ja, er war der Ansicht, dass Risha von den Schattentänzern verdorben, manipuliert worden war. Aber die Sache mit dem Fluch war neu, kam aus dem Nichts. Irgendetwas steckte dahinter und er musste herausfinden, was es war. Sein Gefühl sagte ihm, dass hier höhere Mächte am Werk waren. Diese Eingebung war jedoch zu ungenau, um damit arbeiten zu können. Es gab hunderte von Möglichkeiten, einem Menschen den Kopf zu verdrehen, sowohl auf weltlicher, als auch auf magischer Ebene. Er musste seinen Bruder aus der Reserve locken, um herauszubekommen, was ihm zugestoßen war. Nur dann würde sich zeigen, wie man ihn wieder zur Besinnung bringen konnte. Aber wie? Keiro hatte sämtliche Unterredungen mit ihm bislang emotionslos abgetan, sich beständig in die Annahme geflüchtet, Bakura habe nicht die gleichen Verständnissphären erreicht, wie er selbst. Davon würde er wohl auch weiterhin ausgehen. Aber er musste einen Weg finden, ihn irgendwie dazu zu bringen, seinen wahren Antrieb preiszugeben. Er wandte den Blick zu Keiro, der sowohl ihn als auch seine Base bislang schweigend beobachtet hatte. Lediglich die geballten Fäuste an seinen Seiten verrieten, dass es in ihm brodelte. „Ist das, was sie sagt, wahr?“, verlangte der Grabräuber schließlich in beherrschtem Tonfall von ihm zu wissen. Als er hörte, wie Risha bereits Luft holte, um sich einzumischen, warf er ihr einen vielsagenden Blick zu, der sie augenblicklich zum Schweigen brachte. Ein freudloses Glucksen seines Gegenübers ließ seine Aufmerksamkeit zurückschwenken. „Du würdest mir ohnehin nicht glauben, gleich was ich dir antworte.“ Bakura fixierte ihn eisern. „Wenn du mir erzählen willst, dass ein kleines Mädchen für den Massenmord in diesem Dorf die Schuld trägt, weil es verflucht ist, dann hast du wohl Recht. Das nehme ich dir wirklich nicht ab.“ „Sie war nicht irgendein Mädchen“, erwiderte der Andere gelassen, als sei diese Erkenntnis ganz offensichtlich. „Selbst ihre eigenen Eltern haben erkannt, was sie ist – erinnerst du dich nicht an das, was sie sagten, als sie sie Vaters Gnade überließen? Sie haben ihn gewarnt, doch er wollte ebenso wenig hören wie Mutter. Ebenso wenig wie wir. Wir haben uns geirrt, wir alle. Mutter und Vater haben diesen Irrtum mit ihrem Leben bezahlt, Bakura. Wegen ihr sind sie tot. Ich werde nicht zulassen, dass sie und ihre verdorbene Seele noch mehr Menschen ins Verderben stürzen.“ Ein knapper Blick zu Risha verriet dem Grabräuber, dass sie nur schwer an sich halten konnte. Sie lief ob der Worte Gefahr, sich die Unterlippe blutig zu beißen, während sich ihre Finger um den Langdolch krampften. Seine Anschuldigungen mochten noch soweit hergeholt sein, kalt ließen sie sie jedoch nicht. Gleichzeitig bemerkte Bakura, dass sich Keiros Wahn beständig zu steigern schien und immer konkretere Formen annahm. Das zeigte ihm jedoch noch immer nicht, was er sehen wollte. „Man, man, man. Ich glaube, ich muss meine Ansichten über den Pharao wirklich revidieren. Ich dachte ja, der Kerl hätte sie nicht mehr alle. Aber du sprengst alle bekannten Grenzen. Wovon erzählst du mir als nächstes? Dass unser Hund in Wahrheit eine Reinkarnation von Anubis war? Ich muss sagen, du hast eine wirklich blühende Fantasie, Bruderherz. Du solltest dich als Geschichtenerzähler an Men-nefers Hof versuchen – oder wie auch immer Caesian die Stadt nennen wird, wenn ihm keiner das Handwerk legt.“ Er machte eine ausschweifende Geste in Richtung seiner Base. „Sie ist also dein größtes Problem, ja? Wie wäre es, wenn du dich mal unserem eigentlichen Problem zuwendest und die Energie, die du hier nur verschwendest, dafür einsetzt, diesen Irren zu Fall zu bringen?“ „Es sind keine Märchen, die ich erzähle. Es ist die Wahrheit“, entgegnete Keiro. „Sie hat deinen Verstand vernebelt, nicht wahr? Ihr Fluch hat bereits auf dich übergegriffen.“ „… wenn du mir jetzt noch verrätst, wie sie das gemacht haben soll, obwohl sie die letzten Tage verschwunden war, höre ich dir vielleicht weiter zu. Ansonsten wird mir das Ganze allmählich zu blöd, Keiro. Du führst dich auf wie ein kleines Kind, dass sich darüber wundert, dass man seine widersprüchlichen Lügengeschichten nicht glaubt.“ „Es sind keine Lügen.“ „Ach nein? Dir ist klar, worauf die Aussage von Rishas Eltern bezogen war, oder? Warum sie überhaupt hier gelandet ist? Weil sie Cheron in sich trug. Deiner Logik zufolge sind wir also genau so verflucht, wie sie es ist.“ „Vielleicht haben ihre Eltern gedacht, dass dies der Grund sei, ja. Aber hast du schon einmal daran gedacht, dass die Kraft, die sie dazu gebracht hat, ihre eigene Tochter zu verstoßen, viel mächtiger sein könnte? Dass sie nur glaubten, dass dies die Begründung sei, während sie eigentlich tief im Inneren wussten, dass es nicht das ist, was mit ihr falsch ist?“ Keiros Stimme klang allmählich gereizt. Bakura konnte spüren, wie sich etwas veränderte. Aber es ist immer noch nicht genug … „Ganz davon abgesehen, Bruder, schließe ich nicht aus, dass sie unseren Geist verpestet hat. Wir haben lange genug in ihrer unmittelbaren Nähe gelebt. Vielleicht ist dabei tatsächlich ein Teil des Fluchs auf uns übergegangen – nur ein weiterer Grund, warum sie sterben muss, denn erst dann können wir alle wieder rein werden.“ „Bei den Göttern, halt dein Maul!“, schrie Risha dazwischen. „Ich bin nicht verflucht, kapier’ das endlich! Ich habe nichts mit dem Unglück, das dieses Dorf ereilt hat, zu tun!“ Bakura jedoch beherrschte sich, ruhig zu bleiben. „Du verrennst dich in wirre Ausreden. Nichts von dem, was du sagst, passt zusammen. Erst ist Risha schuld, dann ist sie eigentlich gar nicht selbst schuld, weil ein Fluch auf ihr lastet, von dem ihre Eltern wussten, obgleich sie nicht davon wussten. Hörst du dir überhaupt selbst zu? Also so wird das nichts mit dem Geschichtenerzähler, Keiro.“ „Du nimmst es nicht ernst – sie wird die Welt in den Abgrund reißen und du schreibst mir den Wahnsinn zu?“ … zu ruhig. Er ist zu ruhig. Wie nur soll ich ihn dazu bringen, Farbe zu bekennen? Die Gedanken des Grabräubers rasten, suchten nach einer Lösung. Dann fiel ihm plötzlich eine Möglichkeit ein. Ein gewagter Schritt, der ihm nicht leicht über die Lippen kommen würde, doch es half alles nichts. Sie werden es mir verzeihen, wenn ich ihn dadurch zur Besinnung bringen kann. „Jep. Genau das tue ich. Und soll ich dir sagen, was ich noch von dir denke?“ Bakura trat einen Schritt nach vorne, um sich die ungeteilte Aufmerksamkeit seines Gegenübers zu sichern. Wenn es nicht klappte, ihn damit aus der Reserve zu locken, wusste er auch nicht. „Ich denke, Keiro, dass sich unsere Eltern in ihrem Grabe umdrehen würden, könnten sie sehen, was aus dir geworden ist. Das glaube ich!“ Vollkommen perplex richtete Risha ihren Blick in Bakuras Richtung. Der fixierte weiterhin seinen Bruder, dessen teilnahmslose Miene schlagartig fiel. Seine Augen weiteten sich, er grub die Finger in die Handflächen, bis Blut zu Boden tropfte. Langsam begann er zu zittern. „Was hast du soeben gesagt?“, zischte er drohend. Eine unwirkliche Kälte schien sich um sie herum auszubreiten. „Irgendetwas stimmt hier nicht …“, murmelte Risha, während sie einige Schritte zurückwich. „Hast du das also auch endlich gemerkt?“, knurrte Bakura zurück, der Keiro nicht aus den Augen ließ. Atemu gelang es in letzter Sekunde, sich beiseite zu werfen. Mit einem Grollen krachten Slifers mächtige Kiefer in den Sand und verfehlten ihr Ziel. Der Pharao versuchte mit aller ihm verbliebenen Kraft, die Barriere zu brechen, die sich zwischen ihn und das Monster geschoben hatte. Doch das Unterfangen blieb fruchtlos. „Slifer, du darfst ihm nicht gehorchen! Er ist nicht dein Herr! Das Relikt trübt deine Sinne!“ Der gewaltige Drache richtete sich auf. Atemu sah das Leuchten, dass sich in seinem oberen Maul sammelte und nahm die Beine in die Hand. Er schaffte es gerade noch hinter eine Düne, ehe die Attacke auf ihn niederging. Der Wall aus Sand bremste den Angriff zwar aus, schleuderte jedoch sowohl die unzähligen Sandkörner als auch den ägyptischen Regenten durch die Luft. Unsanft landete er ein Stück weiter im Staubmeer. „Obelisk! Ra!“, versuchte er, zumindest die anderen beiden Kreaturen zu befehligen, doch diese waren noch zu erschöpft von der Auseinandersetzung mit den göttlichen Relikten. Slifer hatte vermutlich aus dem Amulett der Bastet neue Kraft geschöpft – oder der Bann war so stark, dass er gehorchen musste, gleich wie ausgelaugt er war. „Lauf, Pharao, so lange du noch kannst!“, rief Caesian ihm amüsiert zu. „Das hättest du von Anfang an tun sollen! Aber was rede ich denn da? Du hast in diesem Krieg bislang ja nichts anderes getan, als vor mir zu flüchten – vergeblich zu flüchten!“ „Es ist noch nicht vorbei!“, hielt Atemu trotzig dagegen, auch wenn er tief in seinem Inneren wusste, dass die Worte nicht der Wahrheit entsprachen. Er hatte sich noch nie in seinem Leben so machtlos gefühlt. Bislang hatte er immer ein Ass im Ärmel gehabt, irgendetwas, auf das er in Situationen wie dieser hatte zurückgreifen können. Diesmal war es anders. Er hatte kein Milleniumspuzzle; keine Göttermonster, die noch kampfbereit waren; noch nicht einmal sein Deck besaß er noch. Außer seinem eisernen Willen und seinen bloßen Händen hatte er Caesian absolut nichts mehr entgegen zu setzen. Und nichts davon würde ausreichen, um den Feind zu bezwingen. Schleichend wurde ihm bewusst, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis Slifer einen vernichtenden Treffer landete und ihn auslöschte. Yugi … Freunde … Gefährten … ich habe versagt. Der rote Drache schnellte abermals nach vorne, direkt auf Atemu zu. Der hechtete zur Seite, war diesmal jedoch nicht schnell genug. Slifers Kiefer schlossen sich um das Bein des Pharao und rissen ihn in die Höhe. Während er vor Schmerzen schrie, schleuderte das Monster ihn von sich. Unsanft landete er ihn einer Düne. Irgendwo in seinem linken Oberkörper brachen Rippen. Die Pein betäubte ihn, versuchte, sich seines Verstandes zu bemächtigen. Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen, gleich der dunklen Bälle, die über der Wüste schwebten. Er fühlte, wie sich die Ohnmacht näherte, drängte sie allerdings mit letzten Kräften zurück und setzte sich, so gut es ging, auf. Sein Unterschenkel blutete, war jedoch nicht so schlimm verletzt, wie es sich anfühlte. Scheinbar war sein Bein zwischen zwei von Slifers gewaltigen Reißzähnen geraten und somit nicht zwischen Ober- und Unterkiefer zermalmt worden. Er versuchte, aufzustehen, sackte jedoch augenblicklich mit schmerzverzerrtem Gesicht zurück in den Staub. Sobald er das Bein auch nur im Geringsten belastete, gab es nach, während ein gleißender Schmerz seinen gesamten Körper durchzuckte. Nur am Rande seiner Wahrnehmung realisierte er, wie sich Slifer zu einem letzten Angriff vor ihm aufbäumte. Es ist aus … Er konnte weder fliehen noch sich dem Feind entgegenstellen. Selbst das Zurückrufen der anderen Göttermonster gab ihm nicht genug Kraft, als dass er hätte aufstehen können. Er war Caesians Willen und dem nächsten Angriff des Himmelsdrachen wehrlos ausgeliefert. „Wirklich schade“, hörte er die Stimme des Gegners wie durch einen Schleier. „Ich muss sagen, deine Kreatur gefällt mir. Ein Jammer, dass ich sie nicht werde behalten können. Aber wie dem auch sei – es wird Zeit, dieses Trauerspiel zu beenden.“ Er riss das Amulett in die Höhe. „Slifer! Töte den Pharao!“ Der Drache stieß ein Brüllen aus, ehe er begann, Energie in seinem Maul zu sammeln. Slifer, bitte! Du darfst ihm nicht folgen! Er wird uns beide vernichten! Doch auch dieser letzte Gedankenruf des Pharao blieb unerhört. Der Himmelsdrache vollendete die Energiekugel, bereit, sie gegen den eigenen Träger zu senden. Es war soweit. Dies war der Moment, in dem er sterben würde. Der Lichtblitz verließ die Fänge des Monsters und hielt auf Atemu zu. Er konnte die Hitze bereits spüren, wappnete sich für den kommenden Schmerz – Als plötzlich ein Feuerball den Kopf des Monsters traf und ihn zur Seite warf, sodass der Angriff den Pharao um wenige handbreit verfehlte. Von der Kraft der daraus resultierenden Explosion wurde er mitgerissen und einige Fuß weit durch den Sand geworfen. Der Schmerz in seiner Seite und dem Bein flammte erneut auf, benebelte ihn abermals. Was er jedoch sofort realisierte, war, dass er noch lebte. So schnell er konnte, rappelte er sich in eine sitzende Position auf. Slifer war brüllend in den Himmel gestiegen, wo er kommende Befehle abzuwarten schien. Diese ließen jedoch auf sich warten. Als Atemu Caesian erblickte, musste er feststellen, dass dieser ebenso wie das Göttermonster eine Kreatur fixierte, die sich in einiger Entfernung über dem Wüstensand erhob. Dabei handelte es sich um einen metallenen Phönix, dessen Panzerung silbrig-weiß schimmerte. Rote und orangene Ornamente zierten den Körper und die vier Schwingen des Wesens. Ein Schweif, besetzt mit drei langen Dornen, peitschte angriffslustig durch die Luft. Die bernsteinfarbenen Augen waren auf Caesian gerichtet. Ich habe dieses Monster noch nie gesehen … zu wem gehört es? Sein Blick wanderte wieder zu seinem Opponenten – und diesmal sah er einen Ausdruck auf dessen Gesichtszügen, den er bislang noch kein einziges Mal erblickt hatte. Die Augen des Tyrannen waren vor Schreck geweitet, während sie unablässig das metallene Ungeheuer fixierten. Nur langsam senkte er den Blick wieder auf Höhe des Horizonts hinab, wo eine verhüllte Gestalt bedächtig über den Wüstensand hinweg auf ihn zuschritt. Atemu erkannte sie nicht. Gehört das Wesen zu ihm? Wer ist er? Und weshalb hat er eingegriffen? Er beobachtete weiterhin den überrumpelt wirkenden Caesian. Fürchtet er sich etwa vor dem Mann? Trotz der göttlichen Relikte? Der Pharao wurde plötzlich aus seinen Überlegungen gerissen, als er Finger auf seiner Schulter spürte. Ruckartig fuhr er herum, bereit, sich nach Möglichkeit zu verteidigen. Er hielt jedoch ebenso rasch inne, als er gewahrte, wer da vor ihm im Staub hockte. „Kisara?“ Die Weißhaarige hatte ein leichtes Lächeln auf den Lippen und nickte. „Ja, ich bin es wirklich. Caesian hat nicht gelogen, als er behauptete, mich zurückgeholt zu haben.“ „Aber was tust du hier? Wie kommst du hierher? Wir dachten, er hielte dich in Men-nefer gefangen!“ „Das hat er. Doch Taisan hat mich befreit.“ Sie wandte den Blick ab und ließ ihn zur der unbekannten, vermummten Person hinüber schweifen. Atemu folgte ihrem Blick. „Dieser Mann heißt also Taisan? Wer ist er?“ „Er ist Caesians Bruder“, erklärte Kisara, ohne den verblüfften Blick des Regenten zu erwidern. „Und der Einzige, der ihn jetzt noch aufhalten kann.“ Ryou und Tristan hatten soeben die nächste Falle ausgelöst und hasteten nun weiter in Richtung Nil. Dort befand sich die letzte, die auf ihrem Weg errichtet worden war. Anschließend würden sie sich den übrigen Feinden mit ihren Kas entgegen stellen müssen. Die Bilanz war bislang jedoch schlechter, als erhofft. Noch immer zeichnete sich keine eindeutige Schwächung der gegnerischen Reihen ab. Es schien, als würden die Truppen aus einer nimmer versiegenden Quelle gespeist werden. „Es hört einfach nicht auf“, japste Ryou, während er versuchte, sich die aufkeimende Müdigkeit nicht anmerken zu lassen. Immer wieder warf er einen besorgten Blick zu Shiruba, der ob seiner verwundeten Tatze nicht mehr so wendig und schnell war wie zuvor. „Wir werden das schon schaffen. Nur nicht aufgeben!“, entgegnete Tristan. „Irgendwann muss auch bei denen mal Feierabend sein.“ „Das schon … aber es ist wohl eher die Frage, wer zuerst in den Feierabend geht – wir oder sie.“ „Lass den Kopf nicht hängen. Wir haben soviel getan, es muss einfach alles klappen.“ „Tristan! Ryou!“ Die beiden richteten den Blick nach vorne und sahen ein Stück weiter entlang des Weges Yugi auf sie warten. Sobald sie ihn erreicht hatten, schloss er sich ihnen an und rannte an ihrer Seite weiter. „Yugi, was gibt‘s?“ „Hör zu, wir brauchen Qi und dich unbedingt dort, wo wir die Relikte gelagert haben. Es eilt – Caesians Ka-Bestie lässt die Anderen überhaupt nicht zum Zug kommen und lange werden sie sich nicht mehr halten können. Qi ist das einzige Monster, das etwas gegen dieses Ding ausrichten kann. Ich nehme deinen Platz hier ein, dann kannst du …“ „Leute, wartet mal!“, riss sie Ryous Stimme auf der Unterredung. „Bleibt stehen!“ „Nein, nicht stehenbleiben, wir müssen weiter!“, erwiderte Tristan bissig. „Doch! Seht doch nur! Wir werden nicht mehr verfolgt!“ Schlitternd kamen Yugi und Tristan zum Stehen und wandten sich um. Ihr Kumpane hatte Recht – die feindlichen Truppen verfolgten sie nicht länger. Stattdessen waren sie ein Stück von ihnen entfernt geschlossen in eine Seitengasse abgebogen, in der sich keine Barriere befand. Noch immer ergoss sich der Strom aus Soldaten dort hinein. „Was soll das? Wo wollen sie hin?“, äußerte Tristan verwundert. „Verdammt“, rief Yugi aus. „Sie wollen zum Versteck der Relikte!“ „Wieso das denn auf einmal?“, entgegnete der Braunhaarige verwirrt. „Ganz einfach – von je mehr Seiten die Verteidiger angegriffen werden, desto schneller werden sie in die Knie gezwungen. Caesian geht es nicht um Theben, sondern ausschließlich um die Relikte. Riell und Seto können es unmöglich mit dieser Ka-Bestie und einem Heer aufnehmen“, überlegte Ryou laut. „Wir müssen sofort zurück und sie unterstützen wo wir können! Los, lasst uns keine Zeit verlieren!“, forderte Yugi seine Gefährten auf. Gemeinsam setzten sie sich in Bewegung, eine Gasse hinab, die parallel zu jener verlief, die die gegnerischen Soldaten genommen haben. Atemu … bitte, beeil dich!, bat der Kleinste von ihnen dabei in Gedanken. Der Pharao spürte deutlich, wie die Barriere zwischen ihm und Slifer an Kraft verlor. Schließlich war er gar in der Lage, den Drachen zurückzurufen ohne, dass Caesian davon Notiz zu nehmen schien. Seine Züge waren noch immer wie versteinert. Was tat Taisan hier? Warum war er gekommen? Aus dem Augenwinkel warf er einen Blick zu der weißhaarigen Frau, die neben dem ägyptischen Regenten kauerte. Sie hat ihm erzählt, was hier vor sich geht … die spärlichen Hintergründe, die sie kannte, haben genügt, um sein Misstrauen zu wecken … Dafür wird sie sterben, beschloss er für sich, ehe er seine volle Aufmerksamkeit wieder dem zuwandte, der ihm gegenüberstand. Er wird mich hassen, für das, was ich vorhabe. Das darf nicht sein. Er muss verstehen, weshalb ich all dies tue. Es ist nötig, es muss sein. „Bruder“, adressierte ihn Taisan plötzlich, kam jedoch nicht mehr näher. Sein Ka schwebte nach wie vor drohend über ihm. „Was tust du hier? Was ist es, das du im Begriff bist, anzurichten?“ Caesian wusste zunächst nicht, wie er darauf reagieren sollte. Anklage schwang im Ton des Anderen mit. Doch er hatte in all den Jahren, die er ihm sein wahres Vorhaben verheimlicht hatte, gelernt von jetzt auf gleich passende Antworten auf die Bedenken Taisans zu finden. „Es freut mich, dich zu sehen, auch wenn mich dein Erscheinen überrascht. Was bringt dich zu mir?“ „Ich habe dir eine Frage gestellt.“ Nach Nettigkeiten war ihm eindeutig nicht zumute, das realisierte der Ältere sofort. Scheinbar war ein Umstand eingetreten, der selten vorkam: Sein Bruder war wütend. Doch weshalb? Was hatte ihm dieses Waschweib erzählt? Und noch viel wichtiger: Warum glaubte er ihr? „Ich bin dabei, die Schlange ihres Kopfes zu berauben, Taisan. Dies“, entgegnete er mit einer Geste in Atemus Richtung, „ist der Pharao, der drohte, Ägypten in den Abgrund zu stürzen. Doch ich habe es so gut wie gereinigt. Alles, was noch getan werden muss, ist ihn zu seinen Göttern zu schicken, auf dass sie über seine Seele urteilen mögen.“ „Das ist nicht wahr!“, mischte sich augenblicklich Kisara ein. „Sowohl Atemu als auch Sethos sind gütige und rechtschaffene Herrscher!“ Caesian ließ ein Schmunzeln auf seinen Lippen spielen. „Ist es das, was dich durcheinander gebracht hat, Bruder? Ihre wirren, verblendeten Aussagen? Sie ist eine Hexe, ebenso durchtrieben wie jene, denen sie dient. Nicht ein Wort, das aus ihrem Munde kommt, entspricht der Wahrheit. Aber du wirst selbst wissen, dass man jemandem, der nachweislich eine Beziehung zu den in Frage stehenden Personen hat, nicht blind trauen darf.“ „Das tue ich“, war die knappe Antwort. „Was tust du dann hier, Taisan? Weshalb bringst du dich aufgrund der Worte eines ägyptischen Weibes in Gefahr?“ Er bemühte sich, möglichst verletzt und zugleich vorwurfsvoll zu klingen. „Weil sie nicht die Einzige ist, die mir eine andere Form der Ereignisse vor Augen hielt.“ Caesian kam nicht umhin, die Stirn in Falten zu legen. „Nein? Gleich wie viele Ägypter du fragst, sie alle werden dir dasselbe sagen. Sie sind eingeschüchtert, kennen nichts anderes mehr als ein Leben in Knechtschaft. Sie fürchten um ihr Leben, sollten sie ihn verraten!“ „Dafür haben sie gar keinen Anlass“, rief Atemu dazwischen. „Das ägyptische Volk lebte in Frieden und Gerechtigkeit unter der Herrschaft meines Vetters, bis ihr aufgetaucht seid und unsere Heimat in Chaos stürztet!“ „Hörst du das? Wahrscheinlich kam die Lüge bereits so oft über seine Lippen, dass sogar er selbst daran glaubt. Man versucht dich gegen mich aufzubringen, Taisan, siehst du das denn nicht? Kehre zurück nach Men-nefer und wir werden all dies besprechen, sobald ich zurück bin.“ „Nein“, war die kurze, aber umso entschlossenere Antwort. „Ich werde nicht gehen und dich weiterhin walten lassen, wie es dir beliebt.“ „Was ist in dich gefahren, Bruder? Bist du so leicht zu blenden?“ „Ich fürchte, das bin ich. Doch waren es jene aus den eigenen Reihen, deren Lügen ich aufgesessen bin. Du hast Recht, das Mädchen ist eine meiner Quellen, die andere jedoch ist nicht ägyptischen Ursprungs.“ Die Falten auf Caesians Stirn wurden tiefer. „Was soll das heißen? Wer hat dir noch solche Märchen erzählt?“ „Märchen? Du möchtest mir sagen, dass selbst dein treuer Gefolgsmann Gladius sich in eine Lügenkonstruktion verrannt hat?“ Das Blut in den Adern des Älteren schien zu erstarren. Gladius … Gladius, dieser erbärmliche Schweinehund! „Das Weib hat ihn wahrscheinlich verhext, Taisan – oder er hat mich verraten, um uns gegeneinander aufzubringen!“ „Sie hat keinen Bann auf ihn gelegt. Das hätte ich gespürt. Und Gladius wäre zu solcher einer Intrige nicht fähig. Alles, worauf sein Wesen fußt, sind die Furcht vor dem Stärkeren und die Geringschätzung, die er für jene von niederem Rang übrig hat. Er hätte es niemals gewagt, einen Mann gegen sich aufzubringen, der die göttlichen Relikte führt. Davon abgesehen scheinst du vergessen zu haben, dass ich Dinge zu sehen vermag, die anderen verborgen bleiben, Bruder. Die Seele dieser Frau ist rein und auch Gladius log nicht, als ich ihm befahl, mir die Wahrheit zu sagen. Ich habe es in ihren Augen gesehen – sie sprachen wahre Worte und enttarnten die Lüge, die du mir Mondläufe lang vorgegaukelt hast.“ Caesians Hände begannen kaum merklich zu zittern. Wie sollte er jetzt verfahren? Sollte er weiterhin versuchen, Taisan davon zu überzeugen, dass man ihm Lügen aufgetischt hatte? Oder sollte er die Flucht nach vorne wagen, in der Hoffnung, dass sein Bruder ihn endlich verstand? Beides konnte fehlschlagen. Doch er musste es wenigstens versuchen. „Ich habe all das nur für dich getan, Taisan. Sieh dir unsere Heimat an! Sie ist verdorben, dem Verfall hingegeben. Sie kann nicht gerettet werden. Seit du klein warst, hast du immerzu von einer gerechten, friedlichen Welt, einem blühenden Paradies geträumt – vielmehr noch, du hast fest an die Existenz eines solchen Ortes geglaubt. Ganz gleich was das Schicksal dir entgegenwarf, du hast niemals daran gezweifelt, diese Welt irgendwann zu finden. Doch du irrst dich. Sie existiert nicht – noch nicht. Doch ich werde ihr Schöpfer sein und sie dir zum Geschenk machen. Ich werde sie hervorbringen, damit du endlich das Paradies, nach dem du trachtest, mit eigenen Augen sehen kannst, Taisan!“ Für eine Weile lag Schweigen über der Wüste. Atemu hatte den Blick auf Caesian gerichtet. Das waren also seine Beweggründe? Er wollte einen Ort schaffen, nach dem sich sein Bruder bereits lange Zeit sehnte? Es entschuldigte nichts von dem, das er Ägypten und seinem Volk angetan hatte, doch es setzte die Sache in ein gänzlich anderes Licht. Nach wie vor waren seine Taten größenwahnsinnig, doch zugleich schienen sie der Verzweiflung einer armen, verlorenen Seele entsprungen zu sein. Er musste unwillkürlich an Dartz zurückdenken, schalt sich aber sofort für den Vergleich. Dartz war besessen. Er ist es nicht. Oder etwa doch? War er vielleicht von dem Wunsch besessen, die Träume seines Bruders zu erfüllen? „Du hast dich in eine Illusion verrannt, Bruder“, entgegnete Taisan schließlich, was Caesian einen bestürzten Gesichtsausdruck zeigen ließ. „Ja, ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass diese Welt eines Tages zu dem Paradies werden möge, von dem ich träume. Doch das wird wahrscheinlich niemals passieren.“ Er fixierte den anderen unerbittlich, während er weitersprach. „Die Welt, Caesian, ist nicht perfekt. Alles, was wir tun können ist, unseren Teil dazu zu leisten, dass sie beständig besser wird. Doch selbst in tausenden Sonnenläufen wird sie niemals einen Zustand der Perfektion erreicht haben. Sie wandelt sich stetig, die Definition eines vollkommenen Zustandes ist dadurch unmöglich. Wir alle können nur hoffen, dass das, was wir als perfekt erachten auch wahrlich vollkommen ist. Ja, ich träume von einem Paradies, das auf Frieden, Gerechtigkeit und Ordnung fußt – doch es sind zu viele Kräfte im Spiel, als dass es so einfach errichtet werden könnte. Diese Welt, von der ich träume, kann nicht gemacht werden, Caesian. Sie muss aus sich heraus entstehen.“ Schließlich richteten sich Taisans Augen auf Theben. „Deine Motive mögen dich ehren, Bruder. Doch sieh, was du getan hast. Du hast Menschen getötet, hast ihnen ihre Heimat genommen und zerstört, was sie über hunderte, tausende von Zyklen erbaut haben. Du hast ihre Götter, ihre höchste Instanz verhöhnt und dir unterworfen. Einen von ihnen kostete dein Tun gar das Leben. Sieh dich um. All diese schwarzen Gespinste, die durch die Wüste tanzen, sind Tränen dieser Welt, die an deinem Handeln und Denken beinahe zugrunde gegangen wäre. Man kann Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden nicht auf unschuldig vergossenem Blut errichten.“ „Nein, du irrst dich! Dieses Paradies kann Wirklichkeit werden. Mithilfe der göttlichen Relikte wird es mir gelingen, es endlich wahr werden zu lassen! Du wirst sehen, Taisan, es wird so sein! Und nicht nur diese neue Welt werde ich für dich erschaffen – ich werde dich auf von dem Übel heilen, das durch deine Adern fließt! Du wirst gesund werden, ein vollkommenes Leben ohne Schmerz und Pein führen können. Wir beide werden alt und grau werden und dann unseren Enkeln und Urenkeln dabei zusehen, wie sie durch gewaltige Gärten tollen. Doch dafür muss ich das hier zu einem Ende bringen, verstehst du nicht?“ Atemu warf einen Seitenblick zu Kisara, die den Wortwechsel ebenso angespannte verfolgte, wie er selbst. „Woran leidet er?“ Die junge Frau schüttelte knapp den Kopf. „Ich weiß es nicht genau. Aber es scheint seinen Körper bei lebendigem Leibe zu zersetzen. Deshalb trägt er auch diese Maske auf dem Gesicht.“ Atemu biss sich auf die Unterlippe. Es entschuldigt nichts … und dennoch komme ich nicht umhin, zumindest im Ansatz zu verstehen, was Caesian zu seinem abscheulichen Handeln trieb. Taisans Blick glitt langsam wieder zu seinem Bruder zurück. Er sah ihn entschlossen an. Doch da war noch etwas. Eine Kälte, eine Abscheu, die er so noch nie im Augenlicht des anderen wahrgenommen hatte. „Nein“, sprach der Verhüllte schließlich. „Du wirst nichts beenden, Caesian. Ich werde es tun. Gib auf und verlasse Ägypten. Setze niemals wieder einen Fuß auf die Dünen dieses Landes, Bruder, auf dass sich seine geschundene Seele von den Qualen, die du über es gebracht hast, erholen kann. Gib die Männer frei, denen du den Eintritt in das nächste Leben verwehrst und gewähre denen freies Geleit, die zu verängstigt sind, um es selbst von dir zu verlangen. Gehe fort und lass mich zurück, auf dass ich sehe, ob ich die Wunden salben kann, die du verursacht hast.“ Er schloss kurz die Augen, um sie daraufhin nur entschlossener wieder zu öffnen. „Du magst mein Bruder sein, Caesian, doch ich kann nicht länger zusehen – und ich kenne dich zu gut, als dass ich glauben könnte, freundliche Bitten brächten mich an dieser Stelle weiter. Du wirst das, was du Errungenschaft schimpfst, nicht so einfach aufgeben. Daher ist dies deine einzige Warnung. Wende dich von dem Pfad ab, den du eingeschlagen hast oder ich werde gezwungen sein, dich mit Gewalt dazu zu bringen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)