Die Seele der Zeit von Sechmet (Yu-Gi-Oh! Part 6) ================================================================================ Kapitel 61: Ungewiss -------------------- Mit einem sanften Violett begann die Sonne, die Finsternis der Nacht zu durchbrechen. Langsam, beinahe zärtlich, mischte sie ihre Farben unter das dunkle Blau, löste es nach und nach auf. Auch, wenn es jetzt noch nicht so erschien, würden die Sterne bald vom Firmament weichen und dem glühenden Gestirn des Tages Platz machen. Der Wind hatte aufgefrischt und trieb Sandkörner vor sich her, die in kleinen Schwaden durch die Straßen Thebens tanzten. In der Ferne schob sich eine schwache Windhose am Horizont entlang, lediglich an all dem Staub zu erkennen, den sie mit auf ihre Reise nahm. Bald würde sie ebenso vergangen sein, wie die Nacht selbst. Unterhalb des kleinen Balkons, auf dem Tea stand, spielte der Wind mit den Blättern der Dattelpalmen und den Zweigen der Feuerbäume. Ihr Rauschen war das einzige Geräusch, das die nächtliche Stille störte. Doch die Ruhe trog. Irgendwo dort draußen war er, trieb sein Gefolge vor sich her, wie der Wind den Sand. Ihnen entgegen, immer weiter vorwärts, nach Theben. Hinein in die Schlacht, die wohl die letzte sein würde. Gedankenverloren strich sich Tea eine Strähne ihres braunen Haares aus dem Gesicht. Sie schlang die Arme fest um den Körper, um das Frösteln zu vertreiben, das sie ergriffen hatte. Fragen über Fragen schossen ihr durch den Kopf, schrien nach Antworten, die sie nicht erhalten würde. Noch nicht. Der Einzige, der sie kannte, war die Zeit selbst, jene Zukunft, die ihnen direkt bevorstand – und die sie mehr fürchtete, als alles andere in dieser Sphäre. Was plante Caesian? Was hatte er sich in seinem kranken Hirn für sie ausgedacht? Was lauerte in seinen Reihen, dem sie sich würden stellen müssen? Wie gut vermochte er sie inzwischen einzuschätzen, ihre Züge vorherzusagen? Und das wären noch nicht einmal die quälendsten Gedanken. Nein, es waren noch andere Dinge, die sie beunruhigten, die sie versuchte, zu verdrängen. Letzten Endes ließen sie sich jedoch nicht vertreiben, gleich wie sehr sie sich bemühte. Einem Echo gleich hallten sie Mal um Mal in ihrem Inneren wider. Hatten sie wirklich alles getan, was in ihrer Macht stand? War es genug? Hatten sie überhaupt eine Chance? Gab es überhaupt eine Möglichkeit, Caesian zu schlagen? Hatten sie eigentlich je eine Chance gehabt oder war all dies ohnehin von vorne herein zum Scheitern verurteilt gewesen? War alles umsonst gewesen? Würden sie diese Auseinandersetzung überstehen? Würden sie leben? Würden sie alle leben? Tea seufzte energisch und schüttelte den Kopf. Nein. Auch, wenn sie diese Gedanken nicht loswerden konnte, sie durfte ihnen kein Gehör schenken, sich nicht auf sie einlassen. Und genau das war es, was sie vorhatte. Sie war stark, stärker, als sie manchmal selbst glaubte. Das hatte sie in all der Zeit mit ihren Freunden, bei all den Dingen, die sie gemeinsam erlebt hatten, gelernt. Sie konnte über sich hinauswachsen – und das musste sie auch diesmal tun. Sie durfte diesen finsteren Befürchtungen keinen Nährboden bieten. Nicht um alles in der Welt. „Tea?“ Sie fuhr überrascht herum, nur um sich Tristan gegenüber zu sehen. Die Braunhaarige hatte kurz innegehalten, als er sie entdeckt hatte, schlurfte nun aber den Gang entlang, bis er sie erreicht hatte. „Kannst du auch nicht schlafen?“, fragte er. Die junge Frau zwang sich ein leichtes Lächeln auf die Lippen und schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich. Eine Weile ging es, aber ich habe lauter wirres Zeug geträumt. Schließlich bin ich aufgewacht und konnte nicht mehr einschlafen. Ich dachte, ein wenig Bewegung würde helfen, aber leider habe ich mich da wohl geirrt.“ „Hm, mir geht’s ähnlich. Ich bin einfach zu unruhig, um lange schlafen zu können. Aber gut, man zieht auch nicht jeden Tag in einen Krieg …“ „Allerdings …“ Für eine Weile standen beide einfach nur schweigend da und ließen den Blick über die Stadt und die dahinter liegenden Felshänge des Tals der Könige schweifen, hinter denen sich das Violett der aufgehenden Sonne allmählich zu einem kräftigen Rosa wandelte. „Weißt du, ich hätte auch nach allem, was wir schon erlebt haben, nie geglaubt, dass es einmal so weit kommen würde. Dass wir in einen Krieg hinein geraten … Vielleicht liegt es daran, dass wir in der Zeit, aus der wir kommen, nie direkt damit konfrontiert wurden. Natürlich haben wir in Zeitungen, im Fernsehen von Kriegen gelesen und gehört. Aber sie waren immer so weit weg …“, sagte sie schließlich. „Ja, ich weiß was du meinst. Aber genau genommen haben wir bereits unsere Kriege ausgefochten. Denk‘ doch nur mal an all die Auseinandersetzungen, die wir hinter uns haben. Die Sache mit Pegasus, die Konfrontationen mit Marlic, den Big Five, dem Orichalcos, Bakura … Auch, wenn vielleicht nicht so viele Personen direkt involviert waren, standen jedes Mal zahllose Menschenleben auf dem Spiel. Es hat nur außer uns niemand mitbekommen“, entgegnete der Braunhaarige. Tea ließ sich den Gedanken einen Moment lang durch den Kopf gehen. „Wahrscheinlich hast du Recht. Und dennoch …“ Sie schwiegen eine Weile, ehe die Brünette die Stille wieder durchbrach. „Tristan?“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, als der Name über ihre Lippen kam. Sie sah ihn nicht an, spürte jedoch seinen Blick auf sich. „Ja?“ „Ich habe Angst …“ Es verging ein Augenblick, dann spürte sie, wie sich ein Arm um ihre Schultern legte und sie zu sich zog. „Ich auch, Tea. Wir alle haben Angst. Das ist normal. Mach dir deswegen keine Gedanken.“ „Meinst du, wir können es schaffen?“ Tristan zögerte. „Ob wir es können, weiß ich nicht. Was ich allerdings weiß, ist, dass wir es müssen. Jemandem wie Caesian muss das Handwerk gelegt werden. Und genau das werden wir tun.“ Tea nickte Gedanken verloren, während die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne ihre Haut erwärmten. Kurze Zeit später fanden sie sich in einem der großen Empfangssäle des Gebäudes wieder. Außer den eingefleischten Mitgliedern des Widerstandes waren auch sämtliche Generäle und Truppenführer anwesend. Kaum, da sie alle versammelt waren, übergab Atemu das Wort an Seto. „Ich danke Euch, Majestät. Vergeuden wir keine Zeit – Caesian wird unseren Spähern zufolge hier eintreffen weit bevor die Sonne im Zenit steht. Allen sollten ihre Positionen und unsere Taktik inzwischen klar sein, zur Sicherheit will ich sie jedoch nicht ein letztes Mal durchgehen. Also hört aufmerksam zu.“ Er ließ seine Worte kurz wirken, ehe fortfuhr. „Anders als bei der Konfrontation in Men-nefer werden wir diesmal keine Truppen vor den Mauern der Stadt positionieren. Wir werden den Feind von der Umgrenzung aus in Schach halten, solange es uns möglich ist. Auch, wenn unsere Verteidigung an dieser Stelle fallen sollte, werden wir die Stadt nicht verlassen. Wir werden warten, bis der Gegner zu uns kommt und ihn auf ihm unbekanntes Gebiet locken. Wir warten, bis er in die Stadt einfällt und gehen erst dann zu einem direkten Angriff über. Damit gleichen wir auch den Unterschied in der Truppenstärke aus, da es Caesians Männern nicht möglich sein wird, uns mit geballter Kraft zu attackieren, stattdessen werden sie diese in den Gassen und Straßen aufteilen müssen. Selbst, wenn er seine Ka-Bestie zur Hilfe ruft, verlieren wir diesen Vorteil nicht – sollte sie in Theben angreifen, werden ohne Zweifel Gebäude zerstört werden, womit er seine eigenen Truppen aufgrund ihrer Vielzahl ebenfalls behindern wird. Sobald er in der Stadt ist, bedenkt die Fallen, die wir für seine Leute gelegt haben, und lockt sie gezielt dorthin. Je mehr wir auf einmal ausschalten, desto besser. Viele von uns wissen, wie schnell man in der Situation eines Kampfes die Orientierung verlieren kann – passt also besonders darauf auf, nicht selbst in die Hinterhalte zu tappen. Doch nun genug der allgemeinen Hinweise: Die Bogenschützen und Ka-Träger werden zu Beginn unseres Aufeinandertreffens mit Caesian an der Mauer Stellung beziehen und versuchen, seine Truppen solange wie möglich auf Abstand zu der Stadt zu halten. Bei diesem Unterfangen wird es uns nützen, dass wir den Boden um die Stadt herum mit Teer getränkt haben. Sobald sich Caesians Männer zum Angriff begeben, werden wir diesen entzünden, nachdem sich Feuer in der Vergangenheit als nützlich gegenüber den Untoten in seinen Reihen bewährt hat. Sollte die Mauer durchbrochen werden, so werden sich die Bogenschützen umgehend hinter die Fußtruppen in der Stadt zurückziehen und diese aus der Distanz so gut es geht unterstützen. Bei den Ka-Trägern richtet sich ihre Stellung nach der Art des ihnen eigenen Monsters. Tea, die Feuerprinzessin und du werden unter allen Umständen Abstand halten. Aufgrund ihres Elements ist sie besonders wertvoll und darf auf keinen Fall Schaden nehmen.“ Als die Brünette genickt hatte, wandte er sich an Samira. „Was deinen Phönix angeht, habe ich weniger Bedenken. Die Panzerung und die Körpergröße deiner Bestie machen sie auch im Nahkampf zu einem ernstzunehmenden Gegner, hüte dich jedoch davor, deine Kräfte zu überanspruchen. Für den Rest gilt: Bringt euch oder eure Kas nicht unnötig in Gefahr. Neben den Fallen und unserer Ortskenntnis sind sie der entscheidende Trumpf, den wir gegenüber Caesian im Ärmel haben. Wir werden sie vor allem dann benötigen, wenn sich sein eigenes Monster zeigt.“ Er ließ den Blick durch die Reihen schweifen. „Nun gut, damit sollten alle auf dem gleichen Stand sein. Gibt es noch irgendwelche Fragen, so stellt sie nun.“ Es vergingen einige Augenblicke, in denen niemand ein Wort äußerte. Seto nickte zufrieden. „Hervorragend. Nun denn, damit seid ihr entlassen. Für Ägypten!“ „Für Ägypten!“ Das Knattern von Stühlen auf Steinboden erfüllte den Raum, als sich alle Anwesenden erhoben. Die Truppenführer verließen als erste den Raum. Riell folgte ihnen sogleich mit Samira an seiner Seite, um sich zu den an der Stadtmauer wartenden Schattentänzern zu begeben. Auch Marlic hielt sich nicht länger als nötig in dem Raum auf und war bald verschwunden. Zurück blieben der Pharao und seine engsten Vertrauen. „Du solltest dich ebenfalls auf den Weg machen, mein König“, wandte sich Mana schließlich an Atemu. „Ich bin sicher, die Soldaten erwarten noch das eine oder andere Wort von dir zu hören, ehe wir in die Schlacht ziehen.“ Der Pharao nickte. „Wahrscheinlich, ja.“ Er atmete einmal tief durch, dann wandte er sich nach seinen Freunden aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert um. „Seid ihr bereit?“ Yugi, der am nächsten bei ihm stand, nickte stellvertretend. „Bereit wenn du es bist.“ Ein kurzes Schmunzeln stahl sich auf die Züge des Regenten. „Nun denn, um es mit Joeys Worten zu sagen: Zeigen wir Caesian, was eine Harke ist.“ Kisara trieb ihr Pferd durch die Weiten der Wüste, ein Tuch über Mund und Nase gezogen, um sich vor den feinen Sandkörnern zu schützen, die im Wind tanzten. Ab und an nahm sie eine Hand von den Zügeln, wischte sich über die leicht tränenden Augen. Seit der vergangenen Nacht waren sie beinahe pausenlos unterwegs. Nun war bereits der Tag herangebrochen und die Sonne schob sich unbarmherzig am Himmel empor, während sie die Reisenden mit ihren Strahlen malträtierte. Ihr Blick wanderte zu Taisan. In der vergangenen Nacht hatte sich etwas an ihm verändert. Es war kaum wahrnehmbar, bedurfte genauster Beobachtung, doch dann erkannte man, dass er von einer bislang nicht da gewesenen Unruhe gepackt worden war. Ab und an schien er mit seinen Gedanken weit entfernt zu sein, zudem trieb er das Pferd etwas zügiger voran, als in den vergangenen Tagen. Auch umklammerten seine Hände die Zügel fester, beinahe verkrampft. Es war nicht viel, was auf seine Nervosität hindeutete, doch diese wenigen Anzeichen genügten Kisara, um es zu erkennen. „Ist alles in Ordnung mit Euch?“, fasste sie ihre Bedenken schließlich in Worte. Vielleicht war es falsch gewesen, so wenig zu rasten. Eventuell hatte ihm die Hitze zugesetzt. Taisan sah sie einen Wimpernschlag lang an, als habe er sie nicht verstanden, dann schüttelte er den Kopf. „Ich danke dir für deine Fürsorge, doch mir fehlt nichts.“ Kisara war wenig überzeugt. „Seid Ihr sicher? Ihr wirkt, als ginge es Euch nicht gut.“ Ihr Gegenüber sah bereits wieder in die Wüste hinaus, als er antwortete. „Es plagt mich nichts, das ich nicht bereits gewohnt wäre. Sorge dich nicht, ich kenne meine Grenzen. Und noch habe ich sie nicht erreicht.“ Kisara überlegte einen Moment, entschied sich aber dann, die Frage, die ihr auf der Zunge brannte, zu äußern. „Was ist das für eine Krankheit, an der Ihr leidet?“ Taisan antwortete nicht sofort, als sei er mit den Gedanken schon wieder an einem weit entfernten Ort. „Sie hat viele Namen. Manche nennen sie den schleichenden Tod, was ich als unzutreffend erachte. Wir alle gehen dem Tod entgegen, manche langsam, manche schneller. Wieder andere bezeichnen sie als die lebendige Zersetzung.“ Kisara schauderte bei beiden Bezeichnungen. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, woher sie kamen. „Davon habe ich noch nie gehört“, erwiderte sie dennoch, denn es interessierte sie aufrichtig, was es war, das ihr Gegenüber zu quälen schien. „Aber … es ist der Grund für Eure Maske, nicht wahr?“ Taisan musterte sie kurz, dann nickte er. „Ich war nicht von Geburt an das, was die Menschen als unansehnlich bezeichnen, nein. Ich war einst gar recht attraktiv, musst du wissen.“ Ein schelmisches Funkeln in seinen Augen verriet Kisara, dass es als Scherz gemeint war. „Ich habe auch nicht das Gegenteil behaupten wollen“, entgegnete sie dennoch. „Das wollte ich dir auch nicht unterstellen.“ Er schwieg einen Moment, als denke er an alte, längst vergangene Zeiten. „Ich mag nie so ansehnlich wie mein Bruder gewesen sein – so kräftig, hochgewachsen, majestätisch … doch das, was ich war, war schöner anzuschauen, als das hier.“ Er umfasste den Handschuh, der die linke Hand bedeckte, und zog ihn von den Fingern – oder vielmehr dem, was davon übrig war. Kisara musste ein erschrockenes Keuchen unterdrücken. Mit dem Anblick, der sich ihr bot, hatte sie nicht gerechnet. An kleinem und Ringfinger fehlte jeweils das oberste Glied. Der Rest der Hand war hier und da bräunlich, an anderen Stellen gar grau bis schwarz verfärbt. An manchen Stellen ragten Knoten auf. Ebenso plötzlich, wie Taisan ihr den Anblick offenbart hatte, verbarg er ihn wieder unter dem Handschuh. „Es frisst mich bei lebendigem Leib. Kein Heiler vermag etwas dagegen zu unternehmen. Einst fing es an einem Bein an, doch das genügte ihm nicht. Inzwischen gibt es an meiner sterblichen Hülle keinen Fleck mehr, von dem es nicht bereits Besitz ergriffen hat.“ Sein Gegenüber wirkte verdattert. „Es … tut mir leid, dass Ihr das ertragen müsst.“ Doch der Andere schüttelte nur den Kopf. „Das muss es nicht. Dies ist der Lauf der Dinge. Einige gehen später, manche früher. Ich gehöre zu …“ Sie war noch so überrumpelt von dem Anblick der verstümmelten Hand, dass sie regelrecht aufschrak, als Taisan aus heiterem Himmel sein Pferd zum Stehen brachte. Die Weißhaarige brauchte einen Moment, bis sie reagierte und ihr Tier ebenfalls in einigen Schritt Entfernung zügeln konnte. Verwundert wandte sie sich um. „Was ist mit Euch?“, erkundigte sie sich – ohne jedoch eine Antwort zu erhalten. Verunsichert musterte sie ihr Gegenüber. Er starrte vor sich hin, fixierte etwas, das ihr verborgen blieb. Langsam trieb sie ihr Pferd zurück, bis es sich neben dem seinen befand. „Taisan? Ist euch nicht wohl?“ Ein ungutes Gefühl machte sich in Kisara breit. Vorsichtig legte sie ihm eine Hand auf die Schulter und rüttelte ihn leicht. „Taisan?“ Erst das riss ihn aus seiner Starre. Ruckartig wandte er sich zu ihr um, sah sie einen Moment lang an, als würde er sie nicht erkennen. Dann schloss er kurz die Augen und schüttelte den Kopf, als wolle er irgendeinen Gedanken vertreiben. „Verzeih“, sprach er schließlich. „Es war nicht meine Absicht, dich zu erschrecken.“ Kisara musterte ihn aufmerksam. „Seid Ihr sicher, dass es Euch gut geht?“ „Mir fehlt nichts.“ „Was war es dann?“ Taisan richtete seinen Blick wieder in die Ferne. „Ich habe gesehen“, erwiderte er kryptisch, dann machte er sich daran, von seinem Pferd zu steigen. Die junge Frau legte die Stirn in Falten. „Was habt Ihr gesehen? Und was tut Ihr da?“ „Die Pferde werden uns nichts nützen. Wir werden mit ihnen nicht rechtzeitig nach Theben gelangen.“ Kisara verstand nicht. „Wovon sprecht Ihr?“ Taisan sah ihr eindringlich in die Augen. Seine Stimme war gefasst wie eh und je. „Wie ich dir sagte, habe ich gesehen. Caesian … er hat Theben beinahe erreicht. Gleich wie sehr sich diese treuen Tiere bemühen, sie werden uns nicht rechtzeitig dorthin bringen. Steige ab.“ Die Weißhaarige traute ihren Ohren nicht. „Ihr … Ihr wollt aufgeben? Was hat das zu bedeuten, Ihr wart doch fest entschlossen, zu ihm aufzuschließen! Und nun wollt Ihr einfach …“ „Ich will nichts dergleichen“, unterbrach er sie bestimmt, ohne jedoch die Stimme zu heben. „Du missverstehst mich, Mädchen. Ich sagte, die Pferde seien ungeeignet, uns rechtzeitig an unser Ziel zu bringen. Ich habe nie verlauten lassen, dass wir nicht dennoch nach Theben gehen werden. Und nun komm von dem Pferderücken herab. Ich will nicht, dass es dich abwirft, wenn es scheut.“ Kisaras Verwirrung wuchs mit jedem Augenblick, der verstrich, doch diesmal kam sie der Aufforderung nach. Kaum, da sie Sand unter ihren Füßen spürte, bahnte sich die nächste Frage einen Weg über ihre Lippen. „Scheuen? Weshalb sollten sie …?“ Panisches Wiehern gellte durch die Wüste, als ein gleisendes Leuchten die Umgebung in weißes Licht tauchte. Risha zitterte. Sie bemühte sich, es zu unterdrücken, doch ihr fehlte die Kraft dazu. Ihre Augen wanderten ruhelos durch den Raum, in dem sie gefangen gehalten wurde. Ein Pfeifen dröhnte in ihren Ohren, ihre Sicht verschwamm. In all den Jahren, die sie mit den Schattentänzern verbracht hatte, hatte sie eines nie gewollt: An diesen Ort zurückzukehren. Ab und an war es ihr in den Sinn gekommen, doch sie hatte nie den Mut, die Willenskraft aufbringen können, es zu tun. Zu viel war hier geschehen. Wann immer sie an das Dorf gedacht hatte, hatte sie die Kälte gepackt. Nun, da sie tatsächlich hier, in Kul-Elna war, war es jedoch nackte Angst, die ihr in die Glieder kroch. Sie wollte nicht hier sein, sie musste weg, sie ertrug es nicht. Erinnerungen brandeten auf sie ein, Bilder, die sie hatte vergessen wollen und die mit einem Mal doch wieder so nah waren, als wäre sie gerade einmal ein paar Sommer alt, auf der Flucht vor dem Tod. „Deine Eltern haben es gewusst.“ Keiros Stimme riss sie für einen Augenblick zurück in die Gegenwart. Wie durch einen Schleier richtete sie den Blick auf ihn und seine vor Abscheu verzerrten Züge. „Als sie dich damals zu uns brachten, haben sie es bereits geahnt“, sprach er weiter. „Dass deine Existenz nichts Gutes mit sich bringen würde. Doch wir waren dumm genug, ihnen nicht zu glauben.“ Er begann, langsam vor ihr auf und ab zu gehen, ohne sie auch nur einen Wimpernschlag lang aus den Augen zu lassen. „Wärst du nicht gewesen, Risha, die Geschichte wäre anders verlaufen. Meine Eltern würden noch leben. All die Menschen dieses Dorfes würden noch leben. Niemand wäre in dieser Nacht gestorben. Alles, was dazu hätte geschehen müssen, wäre, dass Vater und Mutter dich davon gejagt hätten. Doch leider vermochten weder sie noch ich zum damaligen Zeitpunkt zu erkennen, was du wirklich bist.“ Risha schüttelte langsam, benommen den Kopf. Seine Worte wirkten, als spräche er aus weiter Entfernung zu ihr. „Ich habe … nichts getan.“ Ein freudloses Lachen. „Weißt du, Risha, je öfter du diesen Satz aussprichst, desto mehr bekomme ich den Eindruck, du glaubst diese Worte tatsächlich selbst. Hast du dich vielleicht in all den Sommern so erfolgreich selbst belogen, dass dir selbst nicht mehr klar ist, was du bist?“ Er schwenkte plötzlich herum, packte sie unter dem Kinn und zwang sie dazu, ihn anzusehen. „Dann lass mich deinem Köpfchen auf die Sprünge helfen. Risha, gleich was du tust, gleich warum du es tust, alles, was du hervorbringst, ist Asche. Wohin auch immer dich dein Weg führt, gehen Städte in Flammen auf; was immer du auf berührst, es zerfällt zu Sand. Ich habe dich lange genug beobachtet, um mir darüber klar zu werden. Es ist so und es wird immer so sein. Das ist dein Schicksal.“ „Kul-Elna war nicht meine Schuld! Ich habe nichts getan! Was hier geschehen ist, ist schrecklich, aber ich kann nichts dafür! Und was soll dieses Gerede, es sei mein Schicksal, zu zerstören? Was habe ich getan, um dir diesen Eindruck zu geben? Von Kul-Elnas Tragödie lässt du dich scheinbar nicht abbringen, aber dann nenne mir eine weitere Begebenheit, die deine Ansichten stützt!“ Rishas Stimme brach hier und da, ließ die sonstige Schärfe vermissen. Sie wusste, dass es keine Rolle mehr spielte, ob sie ihr Gesicht wahrte oder nicht. Eine Stimme in ihr säuselte, dass sie aus dieser Situation nicht lebendig hervorgehen würde. Keiros Blick war schon beinahe mitleidig, als sie geendet hatte. „Du armes Ding. Hat Resham dir das all die Zeit eingebläut? Wie viele Beweise willst du noch? Alleine schon dein Hass ist Zeichen genug dafür, dass du nichts als Verwüstung auf dieser Welt hinterlassen wirst. Er hat sogar schon auf deinen Ka übergegriffen. Du hast dieses Dorf vernichtet. Und um deine Hände reinzuwaschen, willst du es einem anderen, dem Königshaus in die Schuhe schieben, samt einem Regenten, der noch ein Kind war, als all dies passierte. Und dennoch verfolgst du deinen Plan, so unlogisch er auch sein mag. Du hast vor, ihn zu vernichten, wie du alles vernichtest, das in deinem Weg ist, denn eine andere Lösung kennst du nicht. Wenn ich dich nicht aufhalte, Risha, dann wirst du ein neues Zeitalter der Finsternis über Ägypten bringen – und wer weiß, wohin dich die Reise dann führt? Was als nächstes deinen Zorn auf sich ziehen und in Flammen aufgehen wird? Nein, das kann ich nicht zulassen.“ Er ließ von ihr ab, strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Für einen knappen Moment schien er mit den Gedanken weit weg zu sein. Gedankenverloren wanderten seine Hände immer weiter durch ihr Haar, jagten Schauer über ihren Rücken. „Weißt du, eigentlich wollte ich dich leiden lassen, für alles, was du uns angetan hast. Aber das war, bevor ich soeben erkannt habe, dass du es nicht verstehst. Du weißt wirklich nicht, was du bist und wozu du vorherbestimmt bist, was du schon angerichtet hast. Es ist dir einfach nicht bewusst.“ Mit jedem Wort, das über seine Lippen kam, schien ihr Blut allmählich zu gefrieren. Das Säuseln ihrer inneren Stimme wurde lauter. Am Rande nahm sie wahr, wie sich die Schatten in einer der Ecken zu verdichten schienen. Als sie genauer hinsah, setzte ihr Herzschlag einen Moment lang aus. Nach und nach formte sie aus den Schatten eine Gestalt – ein Zerberus. Shadara. Jedoch nicht der Shadara, den sie kannte. „Das ändert all dies zwar grundlegend, jedoch nicht entscheidend“, fuhr Keiro derweil fort. „Es besteht kein Sinn darin, dich für etwas du bestrafen, das du selbst nicht als Unrecht erkennst – das du gar nicht verstehst. Inzwischen glaube ich dir, wenn du sagst, du hättest nichts getan, denn du hast es nicht willentlich heraufbeschworen. Es ist einfach passiert. Das ist dein Fluch. Was sich in deiner Nähe befindet, ist verdammt dazu, zu zerfallen, ohne, dass du es wünscht. Du magst diesen Zusammenhang nicht sehen, vielleicht auch nur zu deinem eigenen Schutz verdrängen“, sinnierte er weiter, während die Hand, die nicht über ihren Kopf fuhr, zu seiner Hüfte wanderte – dorthin, wo sich sein Dolch befand. Schweigend sah sie zu, wie er die Klinge aus der Scheide löste und sie fest umklammerte. Sie war unfähig, auch nur ein Wort des Protestes über ihre Lippen zu bringen. Es hätte ohnehin nichts genützt. Es war offensichtlich, dass Keiro vollkommen von dem überzeugt war, was er von sich gab. Gleich, wie oft sie es noch versuchte, er würde sich nicht von seinem Vorhaben abbringen lassen. „Weißt du, Risha … einmal, vor langer Zeit, da habe ich dich geliebt. Nicht nur wie eine Base. Da war mehr. Doch auch das war zum Scheitern verurteilt. Dein Fluch hätte es niemals zugelassen, musste auch das im Keim ersticken. Es hat ebenso wenig sein sollen, wie der Fortbestand dieses Dorfes.“ Sie wusste nicht, warum, doch sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Wider besseren Wissens zwang sie den Kloß in ihrem Hals nieder und versuchte es ein letztes Mal. „Keiro, bitte … tu das nicht …“ Er lächelte sie traurig an. „Lass mich dich erlösen.“ Er nahm die Hand aus ihren Haaren, ging einen Schritt zurück. Shadara fletschte die Zähne, leckte sich über die schwarzen Lippen. „Es wird nicht lange dauern.“ Atemu und seine Freunde umrundeten die letzte Straßenecke, die sie von der Stadtmauer und dem dazugehörigen Vorplatz trennte. Das weitläufige Fleckchen Thebens war bis zum Anschlag mit Soldaten gefüllt, einige von ihnen beritten, andere zu Fuß. Hier blitzten Schwerter im noch jungen Sonnenlicht auf, dort Lanzen. Obgleich sich hier so viele Seelen befanden, war es beinahe totenstill. Hätten nicht gelegentlich Rüstungen geklappert, Pferde mit den Hufen gescharrt, Menschen gehustet, man hätte glauben können, man befände sich auf einem Friedhof. Gemeinsam machten sie sich an die Überquerung des Platzes, hinüber zur Stadtmauer, auf welcher Bogenschützen und Schattentänzer bereits Stellung bezogen hatten. Seto und Riell befanden sich ebenfalls dort, den Blick auf die Wüste im Süden gerichtet, von wo aus Caesians Heer, als schmaler Schemen am Horizont erkennbar, unaufhaltsam vorrückte. Es würde nicht mehr lange dauern, dann würde er vor den Toren stehen. Schließlich erreichten sie die Stufen, die auf die Umrundung hinaufführten, und stiegen sie empor. Oben angekommen, löste sich Seto von seinem Platz und kam zu ihnen herüber, den Blick weiterhin in die Ferne gerichtet. „Ich hätte nicht gedacht, dass es diesem Bastard so schnell gelingt, den Fluss zu überqueren.“ „Er musste keine Rücksicht auf Verluste nehmen. Er wusste, dass er uns, was die Anzahl an Soldaten anbelangt, weit überlegen ist“, warf Riell ein, während er ebenfalls herüberkam. „Umso besser für uns. Je weniger Feinden wir uns gegenüber sehen, desto besser – und wenn es nur einhundert sind, die er verloren hat, zum Vorteil gereicht es uns mit Sicherheit“, entgegnete Atemu und wandte sich ab, musterte die Soldaten unter sich. 40.000 … 40.000 die hier auf dem Platz und in der gesamten Stadt verteilt Aufstellung bezogen hatten, um als letzte Bastion dem Feind Widerstand zu leisten. Ihre Blicke ruhten auf ihm, erwartungsvoll und angespannt. Ihr Götter … seid mit uns … Er trat an den Rand der Mauer, blickte eindringlich auf sie nieder, ehe er zu sprechen begann. „Soldaten Ägyptens. Die Zeit ist gekommen. Heute stellen wir uns unserer vielleicht schwersten Prüfung. Wir werden in die Schlacht ziehen, gegen einen Mann, der glaubt, sich unser Land nehmen und uns unserer Freiheit berauben zu können. Das werden wir nicht zulassen. Wir werden kämpfen und uns mit aller Macht gegen das Schicksal stemmen, das er für uns vorgesehen hat.“ Seine Stimme hallte von den Gebäuden der Stadt wider, während die Truppen aufmerksam lauschten. Er ließ seinen Blick über die Reihen schweifen. „Ich könnte noch mehr sagen. Euch weiterhin beschwören. Doch das ist nicht nötig. Der Worte sind genug gewechselt worden. Nun wird es Zeit für Taten. Zeigen wir Caesian, aus welchem Holz Ägypten geschnitzt ist. Für die Freiheit – für Ägypten!“, rief er abschließend und reckte, wie schon beim letzten Mal, die Faust gen Himmel. Auch diesmal brandeten ihm zustimmende Rufe entgegen, zahllose Hände erhoben sich aus der Masse und imitierten seine Geste. Erst nach einer scheinbaren Ewigkeit senkten sie sich wieder und Atemu wandte sich von seinen Untertanen ab. Sein Blick glitt wieder in die Weiten der Wüste hinaus, wo sich Caesians Heer wie ein Sturm näherte. „Leute?“ Teas Stimme riss ihn aus den Gedanken. „Könnt ihr vielleicht alle mal herkommen?“ Er kam der Aufforderung ebenso nach, wie seine Freunde aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert. „Was ist denn Tea?“, erkundigte sich Yugi, als sie alle versammelt waren. Zur Antwort hielt die Brünette ein Stück Kohle in die Höhe. „Und was genau soll uns das jetzt sagen?“, hakte Duke verdutzt nach. „Das wirst du gleich sehen – ihr dürft euch übrigens auch angesprochen fühlen“, fuhr die junge Frau fort und forderte damit auch Seto, Mana, Riell, Marlic und Samira auf, sich ihnen anzuschließen. Die kamen der Aufforderung mehr oder minder begeistert nach. „Was hast du vor?“ erkundigte sich der Schattentänzer. Tea lächelte zur Antwort. „Haltet bitte alle mal eure Hände die Mitte, so in etwa.“ Man tat, wie geheißen, nicht jedoch ohne sich weiterhin zu wundern, worauf sie hinaus wollte. Dann begann Tea, mit dem Kohlestück einen Kreis über ihre Handrücken zu ziehen. Marlic zog eine Augenbraue in die Höhe. „Hast du der Kleinen etwa irgendwelchen Hokuspokus beigebracht?“, fragte er an Mana gewandt. Die schüttelte den Kopf. „Nein …“ Während Tristan, Joey, Yugi und Atemu allmählich dämmerte, worauf Teas Tun hinaus lief, blieb dem Rest die Antwort verborgen, bis sie fertig war. Schließlich prangte jedoch ein lachendes Gesicht auf ihren zusammengesteckten Händen. „Ah … ha“, kommentierte Marlics. „Und jetzt?“ „Dieses Zeichen hat für mich eine besondere Bedeutung“, erklärte Tea schließlich aufgrund der zahlreichen fragenden Gesichter. „Damals, als Yugi, Joey, Tristan und ich unser allererstes Abenteuer an Atemus Seite bestritten, sah es nicht gut aus. Es schien, als könnten wir unseren Gegner nicht bezwingen.“ „Kaiba …“, murmelte Joey nickend. „Genau. Doch wir haben zusammengehalten und alle Hürden gemeistert, damals und auch danach. Dieses Symbol steht für unseren Zusammenhalt und unsere Freundschaft. Ich weiß, dass es wahrscheinlich bald wieder verblasst sein wird, doch das ist egal. Es wird immer da bleiben, ob wir es sehen oder nicht.“ Sie überlegte einen Augenblick. „Was ich damit sagen möchte: Ganz egal, was heute mit uns passieren wird, keiner von uns ist alleine.“ Sie lösten ihre Hände voneinander, betrachteten die Abschnitte, die sich über ihre Hände zogen. Marik lächelte „Eine schöne Geste, Tea. Danke dafür.“ „Tse“, machte sein dunkles Gegenstück. „Weichgespülter Weiberkram …“, sprach’s und wandte sich ab – ohne jedoch Anstalten zu machen, die Kohlereste zu entfernen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)