Die Seele der Zeit von Sechmet (Yu-Gi-Oh! Part 6) ================================================================================ Kapitel 45: Vereint ------------------- Die Sonne hatte sich noch nicht lange erhoben. Doch schon jetzt war die Hitze enorm. Caesian stand an einem der großen Fenster im Thronsaal von Men-nefers Palast. Sein Blick war nach draußen gerichtet, wo Arbeiter – einige von ihnen ägyptische Sklaven – damit beschäftigt waren, die Schäden der Kämpfe zu beseitigen. Gut ..., schoss es ihm durch den Kopf. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Er wurde aus den Gedanken gerissen, als sich die Flügeltüren des Saales öffneten und ein Soldat mit Keiro im Schlepptau eintrat. Caesian entließ seinen Untergebenen mit einer simplen Handbewegung und bedeutete dem Ägypter, an dem großen Tisch in der Mitte des Raumes Platz zu nehmen. Sein Gegenüber tat dies ohne Umschweife und griff zugleich nach einer Hand voll Trauben, die auf der polierten Holzplatte in einer silbernen Schale angerichtet waren. Caesian setzte sich ebenfalls und beobachtete den Anderen einen Moment lang, ehe er die Stimme erhob. "Hast du bereits die Neuigkeiten gehört?" Der Weißhaarige sah ihn zunächst nicht an. "Allerdings. Atemu ist gesichtet worden. Die Soldaten waren jedoch nicht fähig ihn zu schnappen. Nicht verwunderlich. Was ich mich viel mehr frage, ist ..." Plötzlich lehnte er sich nach vorne und sah dem Tyrannen fest in die Augen. "... wie das sein kann. Ich dachte, Ihr hättet vor, den Pharao und seine Brut an der Himmelspforte auszulöschen – und mir Risha zu bringen. Da heißt, entweder schlug Euer Plan fehl ... oder Ihr hattet nie vor, es dort zu beenden. Für Letzteres würde sprechen, dass lediglich ein Teil des Heeres zu ihrem Versteck aufgebrochen ist. Außerdem wart Ihr nicht dabei, obgleich dieser Sieg doch von solch großer Bedeutung für Euch ist." Als er geendet hatte, schon er sich eine Traube in den Mund und sah Caesian auffordernd an. Gewiss hatte Keiro schon vom ersten Augenblick an gewusst, dass etwas an den Befehlen seines Gegenübers falsch war – doch das würde er sich nicht anmerken lassen. Manchmal war es besser, den Dummen zu mimen, anstatt der Welt zu zeigen, dass man in der Lage war, eigenständig zu denken. Besonders bei Menschen wie Caesian. Die Antwort war zunächst ein erheitertes Glucksen. "Mein lieber Keiro. Du musst schon verstehen, dass ich nicht jedem, der daher gelaufen kommt, ohne weiteres Glauben schenken kann – besonders dann nicht, wenn er noch vor kurzen zu meinen Feinden zählte. Du hast Recht, ich hatte nie vor, es an der Himmelspforte zu beenden. Ich wollte lediglich sehen, ob du die Wahrheit sagtest. Das hast du und deshalb habe ich dich nun zu mir gebeten, um dich über meinen wahren Plan in Kenntnis zu setzen." Caesian griff nach einem Apfel aus der Obstschale und betrachtete ihn. "Wie es den Anschein hat, haben sich deine Freunde dazu entschieden, nach Süden zu flüchten. Ich schätze, sie planen, nach Theben zu ziehen. Ich werde sie vorerst gehen lassen. Sie werden nicht so einfach aufhören, nach Relikten zu suchen. Das kommt mir zugute, denn dann brauche ich mich nicht darum bemühen, sie aufzuspüren. Sobald wir sicher sein können, dass sie alle gefunden haben, werde ich es zu Ende bringen – an dem Ort, wo sie ihre Ranghöchsten bestatten. Passend, findest du nicht? Keine Sorge, du wirst den Wildfang wie abgemacht bekommen und kannst mit ihr anstellen, was immer du willst – sie war nicht der Schattentänzer, der in der Nacht sein Leben ausgehaucht hat. Wenn man Versprechungen mir gegenüber einhält, so halte ich mich auch an die meinen. Ich bin schließlich ein Mann von Ehre." Keiro musste es sich verkneifen, bei den letzten Worten eine Grimasse zu ziehen. Ehre ... dass er nicht lachte! "Ich verstehe. Wie lange gedenkt Ihr zu warten, bis Ihr ihnen folgt? Ihr müsst wissen, dass ich kein Mann bin, der gerne herumsitzt und zusieht, während andere die Arbeit für ihn erledigen." Caesian grinste. "Du solltest es einmal ausprobieren. Ich bin sicher, du würdest rasch auf den Geschmack kommen. Doch sei unbesorgt. Wir werden nicht lange untätig bleiben. Ein Soldat, nun ... überlebte die gestrige Auseinandersetzung. Mehr oder weniger in einem Stück, wenn du verstehst. Er berichtete, dass der Pharao ein Bündel bei sich trug, von dem ein Lichtschein ausging. Ich denke, der Pharao hat eines der drei fehlenden Relikte bereits gefunden – wie auch immer er das angestellt hat. Das heißt, es bleiben nunmehr zwei Artefakte übrig. Daher – und weil wir eine Weile brauchen werden, um nach Theben zu gelangen, werde ich in fünf bis zehn Sonnenläufen aufbrechen. Du kannst mich begleiten, wenn du wünscht." Er unterbrach sich, als er sah, wie einer seiner Untergebenen zur Tür eintrat und ihm bedeutete, dass er Nachricht brachte. Caesian bedeutete ihm, näher zu kommen. "Das wäre dann alles für heute, Keiro. Da ist ein Freudenhaus in der Nähe der großen Straße, die durch die Stadt führt. Warum vertreibst du dir die Zeit nicht dort ein wenig? Die Mädchen gehen auf mich." Keiro verkniff sich einen Kommentar und neigte kurz das Haupt. Dann wandte er sich zum Gehen. Er hatte es scheinbar geschafft – das Vertrauen des neuen Herrschers war ihm offenbar gewiss. Vollends sicher konnte er sich nicht sein, doch Caesian hatte im heutigen Gespräch weniger distanziert gewirkt, als im letzten. Nun hieß es warten – etwas, das er mehr hasste, als vieles andere auf der Welt. Herr und Untertan warteten, bis sich die Tür hinter dem Schelm geschlossen hatte, dann ergriff Ersterer das Wort. "Was gibt es?" "Majestät – er ist soeben eingetroffen." Das Pferd unter ihm preschte durch die Wüste. Noch war die Sonne nicht hoch genug gestiegen, als dass er es veranlassen musste, langsamer zu machen. Es ritt stetig nach Süden. Bald würde er in der Ferne das ausmachen können, was gestern noch die Himmelspforte gewesen war. Atemu fühlte sich taub. Immer wieder wanderten seine Augen zu dem zweiten Pferd, dessen Zügel er an dem Sattel seines Reittieres befestigt hatte. Es trug ein Bündel, so groß wie ein ausgewachsener Mann. Kipinos Leichnam. Wie nur war es so gekommen? Warum musste er nun alleine zu den Anderen zurückkehren, mit einer Nachricht auf den Lippen, die nur wieder Leid hervorrufen würde? Kipino hätte bei ihm sein sollen, lebendig bei ihm sein sollen, wenn sie das Ankh des Horus ihren Mitstreitern zeigten. Der freudige Ausdruck auf seinem Gesicht, der so plötzlich erstorben war und sich zu einer Fratze des Schmerzes und der Angst gewandelt hatte, würde ihn in seine Albträume verfolgen. Hätte er das Artefakt doch nur schneller gefunden. Oder hätte er Kipino mit den Anderen ziehen lassen, dann wäre der Schattentänzer jetzt noch am Leben. Stattdessen hatte er ihn um Hilfe gebeten und ihn damit in den sicheren Tod gelockt. Hatte er das wirklich? Immer wieder kamen ihm Sachmets Worte in den Sinn. Das Schicksal, das über allem stand. War es wirklich Kipinos Schicksal gewesen, von Atemu gefragt zu werden, ob er ihn begleiten würde? War es wirklich sein Schicksal gewesen, am Nilufer zu warten? Und war es wirklich sein Schicksal gewesen, dort durch einen Pfeil zu sterben? Tausende Fragen schossen Atemu durch den Kopf, während die Wüste an ihm vorüber zog. Fragen, die er Sachmet stellen würde, sollte er sie noch einmal treffen. Was genau war dieses Schicksal? Götter konnten in es eingreifen, ebenso die göttlichen Relikte. Doch wie verhielt es sich mit den Menschen? Konnten sie seine Wege ebenfalls beeinflussen? Taten sie es vielleicht gar mit jedem einzelnen Schritt, ohne es zu wissen? Bedingten sich die einzelnen Lebensstränge der Sterblichen gegenseitig? Beeinflussten sie einander? War das Schicksal des einen davon abhängig, was der andere tat? Gab es etwas, das Atemu hätte tun können, um Kipinos Tod zu verhindern? Die Frage ließ ihn schlucken. Er wusste nicht, ob er die Antwort tatsächlich erfahren wollte. Wenn es so war, dann würde er für den Rest seiner Existenz damit leben müssen, einen Unschuldigen auf dem Gewissen zu haben. Selbst wenn es stimmt und es hätte einen Weg gegeben, ihn zu retten – dir war dieser Weg unbekannt. Du wusstest nicht was geschehen würde. Es war nicht deine Schuld. Die Stimme in seinem Hinterkopf vermochte nicht, seine Pein zu lindern. Irgendetwas konnte man immer tun! Wenn er doch nur vorsichtiger gewesen wäre, seiner Umgebung mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätte, als er aus dem Wasser gestiegen war – oder Kipino einfach nur bedeutet hätte, versteckt zu bleiben, vor Blicken geschützt durch das Grün des Nils. Doch der Triumph hatte ihn übermannt. Es war das eingetreten, wovor Sachmet ihn – wenn auch in einem anderen Zusammenhang – gewarnt hatte. Er hatte vor Freude alle Vorsicht fallen lassen. Ein weiterer Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Wie um alles in der Welt sollte er den Schattentänzern beibringen, dass wieder einer von ihnen verloren war? Allen voran Samira? Es würde ihr das Herz brechen, vielleicht gar noch mehr, als Reshams Tod es getan hatte. Hinzu kamen Atemus Bedenken, dass sich das Verhältnis zwischen ihm, seinen Gefolgsleuten und dem Clan damit wieder deutlich verschlechtern könnte. Vor allem Risha würde den Tod Kipinos nicht gut aufnehmen, da war er sich sicher. Auch Samira war ein Mensch, dessen Trauer rasch in blinde Wut umschlagen konnte. Zu allem Übel war er mit dem Schattentänzer auch noch alleine unterwegs gewesen, als er gestorben war. Sein Gefühl ließ ihn befürchten, dass gerade die beiden zuletzt genannten Clanmitglieder Verdächtigungen anstellen würden, die dahin gingen, dass Kipinos Tod für Atemu keine Überraschung gewesen war. Energisch schüttelte er schließlich den Kopf, ganz so, als wolle er all die wirren Gedanken dadurch vertreiben. Er konnte lange ein Schreckensszenario an das andere reihen, es würde jedoch nichts bringen. Im Endeffekt würde er es sein müssen, der Riell und seinem Clan die Nachricht vom Tod ihres Bruders und Freundes überbrachte. Daran ging kein Weg vorbei. Er würde ihre Reaktionen ertragen müssen, gleich, wie sie ausfielen. Er gab seinem Pferd die Sporen. Er wollte es hinter sich bringen – und wenn auch nur, um endlich über das, was passiert war, sprechen zu können. Der Rest des Widerstandes zog derweil immer weiter gen Theben. Anfangs hatten besonders die flugfähigen Ka-Bestien einen großen Teil der Vorräte und Güter, sowie einige Menschen transportiert, um möglichst rasch eine Distanz zwischen sich und dem Feind aufzubauen. In der Nacht hatten sie dann entschieden, dass ihr Vorsprung für's Erste ausreichend war und hatten die Lasten umverteilt. Da die geflügelten Monster in der recht flachen Wüste aus der Ferne einfach auszumachen waren, hatte man nun die Ungetüme herbei gerufen, die sich zu Land fortbewegten. Shiruba, Anubis, aber auch Cheron und Des Gardius trugen nun seit dem frühen Morgen die Sachen, während die Menschen zu Fuß oder zu Pferd unterwegs waren. Besonders die ersten beiden Wesen waren aufgrund ihres kräftigen Baus und ihrer immensen Körperkraft vollkommen bepackt. Alles in allem kamen sie recht rasch voran, dafür, dass sie in solcher Hektik hatten aufbrechen müssen und nicht annähernd genügend Reittiere für alle hatten. Dennoch hatten sie beschlossen, Diabound bei Einbruch der Nacht auszuschicken, um sich darüber Klarheit zu verschaffen, wie weit Caesians Truppen wirklich entfernt waren. Durch seine Fähigkeiten war das Monster schließlich in der Lage, sich praktisch unsichtbar zu machen sobald die Sonne verschwand und trug damit das geringste Risiko, Schaden zu nehmen. Ryou wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn, während er neben Shiruba her trabte. Er war derartig warme Temperaturen nicht gewohnt und mochte sie auch nicht wirklich. Dennoch biss er sich weiter tapfer durch. Dabei half ihm, hin und wieder einen Blick zu Shiruba zu werfen. Das kräftige Ungetüm schleppte die Lasten, die man ihm aufgeladen hatte, ohne den kleinsten Protest von sich zu geben. Lediglich das offenstehende Maul und die leicht heraushängende Zunge verrieten, dass die Anstrengungen nicht spurlos an ihm vorbei gingen. Doch im Augenblick schien er noch fit genug zu sein, damit sich Ryou keine Sorgen machen musste. Seine Gedanken schweiften wieder zu Keiro. Wo war nur abgeblieben? Er hatte ihn nirgendwo gesehen, als sie die Himmelpforte verlassen hatten und auch jetzt konnte er ihn nicht unter den Leuten ausfindig machen. Was, wenn ihm etwas zugestoßen war? Er seufzte. Scheinbar war er der Einzige, den diese Frage interessierte. Riell hatte ihm klipp und klar gesagt, dass ihn der Verbleib des Anderen nicht kümmerte. Risha hingegen schien sich ebenfalls Gedanken zu machen, jedoch auf andere Art und Weise als Ryou – sie wollte wissen, wo er war, damit sie ihn im Auge behalten konnte. Selbst Bakura tat so, als wäre ihm egal, was aus seinem Bruder wurde. Er wusste nicht, warum, doch plötzlich verlangsamte er seine Schritte. "Ich bin gleich wieder zurück", sagte er zu Shiruba, der ihm einen fragenden Blick zuwarf und seine Aussage mit einem knappen Nicken quittierte. Kurz sah er sich um, dann entdeckte er den Gesuchten in der Menge. Bakura ritt ein Stück weit hinter ihm, etwas abseits vom Rest des Trosses. Ryou steuerte auf ihn zu und fand sich schließlich direkt neben ihm wieder. "Bakura?", sprach er den Anderen an. Der hatte sein Kommen bereits mit hochgezogener Augenbraue verfolgt. "Was willst du?" "Sag mal ... wunderst du dich denn gar nicht, wo Keiro hin ist? Er hat schon in der Himmelspforte gefehlt und auch jetzt ist er nirgends zu sehen." Der Grabräuber verdrehte zur Antwort die Augen. "Jetzt fang' du nicht auch noch damit an!" "Aber was ist, wenn ihm etwas zugestoßen ist? Was, wenn er irgendwo da draußen ist und Hilfe braucht?" "Das bezweifle ich." "Aber ..." "Keiro ist alt genug, um auf sich selbst aufzupassen. Zum Mitschreiben: Ich bin nicht sein Kindermädchen!" "Das sagt ja auch niemand! Aber als sein Bruder solltest du dich wenigstens für ihn interessieren. Ich weiß, das was er abgezogen hat, war nicht richtig. Doch ihr habt euch nach so langer Zeit endlich wiedergefunden, meinst du nicht ... hey!" Ehe Ryou seinen Satz vollenden konnte, hatte Bakura seinem Pferd die Sporen gegeben und war davon geprescht. Am vorderen Ende des Zuges angekommen, zügelte er es wieder. Ryou fuhr sich genervt mit der Hand durch die Haare. "Sowas Ungehobeltes ..." "Hey, ist alles okay?" Er wandte sich nach der Stimme um, nur um Joey, Duke und Tristan zu entdecken, die zu ihm herüber kamen. "Ja, ja", winkte er ab. "Alles gut. Ich hab' lediglich versucht mit Bakura zu reden." "Allmählich solltest du gelernt haben, dass das ein Ding der Unmöglichkeit ist, oder?", kommentierte der Blonde. "Weswegen wolltest du ihn sprechen?" "Wegen Keiro. Er ist noch immer nicht wieder zu uns gestoßen. Ich mache mir eben Gedanken darüber, was mit ihm sein könnte", erwiderte Ryou. "Keiro? Das war Bakuras Bruder, soweit ich mitbekommen habe, richtig?", erkundigte sich Tristan. "Genau", bestätigte Joey. "Mit dem kann er aber genauso gut, wie mit Risha und jedem anderen Menschen auf diesem Planeten – nämlich gar nicht." "Bei solchen Familiengeschichten, besonders wenn es um irgendwelche zerstrittenen Geschwister geht, bin ich immer wieder dankbar dafür, Einzelkind zu sein", meinte Duke. "Was genau ist denn der Grund, warum die alle nicht miteinander können?" "War eine längere Geschichte. Die Kurzform: Keiro und Risha hassen sich, deswegen hat Keiro Bakura nicht erzählt, dass Risha noch lebt. Bakura hat aber rausgefunden, dass Risha noch lebt und war dann sauer auf Keiro – und das, obwohl ihm Risha offenbar am Allerwertesten vorbeigeht", fasste Joey prägnant zusammen. "Das muss man nicht verstehen, oder?", warf Tristan ein. "Ne, muss man nicht. Immerhin geht's hier im Bakura, da wäre jeder Versuch, irgendetwas verstehen zu wollen, sowie so vollkommen sinnlos. Der Kerl hat schlicht und ergreifend ein Rad ab", erwiderte der Blonde. "Na ja ...", meinte Ryou, während er in Bakuras Richtung sah. "Er hat einiges mitgemacht. Ich weiß nicht, ob wir nicht auch so wären, wenn wir das erlebt hätten, was er erlebt hat." "Sag mal geht's noch? Ausgerechnet du brichst 'ne Lanze für den Kerl? Nach allem was er dir angetan hat?", entgegnete Tristan sichtlich überrascht. Der Angesprochene ließ den Blick auf dem Mann ruhen, der sein Zwilling hätte sein können. "Ich weiß selbst, dass es vollkommen bescheuert ist. Aber irgendwie ..." Ehe er seine Worte jedoch weiter erklären konnte, erregte ein Soldat seine Aufmerksamkeit, der vom Ende des Zuges zur Spitze ritt und sein Pferd neben dem von Riell zügelte. Sie besprachen kurz etwas, dann deutete der niedere Schattentänzer nach Norden. Die vier jungen Männer aus der Zukunft folgten seinem Fingerzeig und entdeckten etwas in der Ferne am Himmel, das momentan kaum mehr als ein Punkt war. "Was ist das?", sprach Duke schließlich die Frage aus, die ihnen allen sofort durch den Kopf geschossen war. "Keine Ahnung. Aber hey, seht mal!", rief Joey plötzlich. Riell hatte sich von dem Tross abgesetzt und preschte auf seinem Pferd dem Schatten am Himmel entgegen. Ein kurzes, grelles Aufleuchten folgte, dann erschien Anwaar und schoss über der Wüste dahin, dem unbekannten Etwas entgegen. Sie verfolgten das, was sich am Himmel abspielte, angespannt. Bislang hatten sie nur ein einziges Monster in den Reihen des Feindes gesehen und das war Caesians. Doch was, wenn der feindliche Tyrann wieder einmal eine Überraschung für sie bereitgehalten hatte? Was, wenn da noch mehr Ka-Bestien waren, die ihm unterstanden? Anwaar wurde in der Ferne kleiner und kleiner – dann drehte er plötzlich ab. Riell verharrte noch einen Moment dort, wo er war, dann wandte er sein Pferd um und ritt zurück zu seinen Mitstreitern. "Keine Sorge!", ließ er sie schon von weitem wissen. "Es ist Seto!" "Seto?", hakte Joey sogleich nach. "Was macht der denn da oben? Und was ist mit Yugi und Tea?" "Sie sind bei ihm, ebenso wie Samira. Sie kommen mit dem weißen Drachen zu uns", erwiderte der Schattentänzer. Man merkte ihm sofort an, dass er zum einen erleichtert, zum anderen besorgt war – denn von Atemu und Kipino fehlte jede Spur. Der Tross hielt an und wartete, bis das Monster des Hohepriesters sicher bei ihnen gelandet war. Es trug seine vier Passagiere in den mächtigen Klauen. Kaum, da es festen Boden unter den Füßen hatte, ließ es sie herunter und verschwand wieder in der Seele seines Trägers. "Ein Glück, ihr seid sicher zurück!", begrüßte sie Marik als Erster, während er und die Anderen zu ihnen hinüber eilten. "Aber wo sind der Pharao und Kipino?", fügte er die Frage hinzu, die ihm und den Umstehenden auf der Seele brannte, als sie die Ankömmlinge erreichten. „Genau! Und seit wann seid ihr unter die Drachenreiter gegangen?“, hakte Joey nach. „Wir hätten ewig gebraucht, um Caesians Heer zu umgehen. Da hat Seto gemeint, dass wir so wohl am schnellsten zu euch aufschließen“, sagte Tea. "Atemu und Kipino kommen nach", erklärte Yugi anschließend. "Sie haben an dem Ort, der ihm im Traum erschienen ist, etwas gefunden, das ihnen einen Hinweis auf ein weiteres Relikt gegeben hat." "Wirklich? Und was wäre das?", fragte Marik sowohl neugierig, als auch erfreut nach. "Das hier", ergriff Seto das Wort und wickelte die Seele der Zeit aus den Leinentüchern aus, die sie schützten, ehe er sie auf dem Boden ausbreitete. "Ein Papyrus?", äußerte Mana verdutzt. "Nicht schon wieder irgendein Schrift-Kram", schnaubte Marlic. "Tja, doof wenn man nicht lesen kann, was?", griff Samira die Vorlage feixend auf. "Bild dir bloß nichts darauf ein, dass du deinen Namen schreiben kannst, du Gör." "Könnt ihr Zwei mal kurz die Klappe halten?", ging Joey dazwischen. "Was ist das für ein Ding? Und wo sind die beiden jetzt?" "Laut Atemu handelt es sich bei dieser Schrift um die Seele der Zeit. Wisst ihr, was es damit auf sich hat?", fragte Yugi an die Altägypter unter ihnen gewandt. Mana legte die Stirn in Falten. "Noch nie davon gehört ...", sagte sie schließlich. Riell und Risha hingegen tauschten mehr als überraschte Blicke. „Es gibt einige Legenden, die sich um die Seele der Zeit ranken … aber es gab nie auch nur den geringsten Hinweis darauf, dass sie wirklich existiert. Und ihr seid euch absolut sicher, dass sie das ist?“, erwiderte Ersterer nach kurzem Überlegen. „Denn wenn ja, dann hat der Pharao etwas gefunden, das die göttlichen Relikte noch bei weitem übertrifft – so viel weiß ich, aber das ist leider auch schon alles.“ Den Umstehenden entging nicht, dass in seiner Stimme eine gewisse Sorge mitschwang – noch etwas, das es zu beschützen galt und das Caesian, sofern es wirklich war, wofür sie es hielten, um keinen Preis in die Finger bekommen durfte. "Verstehe. Nun, Atemu zufolge hat ihm dieser Papyrus offenbart, wo sich das Ankh des Horus befinden könnte. Deswegen ist er mit Kipino losgezogen, um es zu suchen. Er glaubt, dass es sich in denselben Sümpfen befindet, in denen der Reif der Isis verborgen war", erklärte Yugi schließlich. "Sie sind bitte wohin gegangen?", entfuhr es Risha. "Aber der Reif war doch in der Nähe von Men-nefer versteckt! Und sie sind dort lediglich zu zweit hingegangen?", hakte auch Marik sofort nach. "Und du hast das zugelassen?", echauffierte sich Mana derweil an den Hohepriester gewandt. "Er befahl mir, den Papyrus außer Reichweite von Caesian zu bringen. Glaube mir Mana, es gäbe nichts, was ich lieber getan hätte, als ihn zu begleiten. Aber ich bin leider nicht in der Position meinem König zu widersprechen", zischte Seto sie zur Antwort an. Die Hofmagierin verkniff sich daraufhin weitere Bemerkungen und widmete ihre Aufmerksamkeit der Seele der Zeit. „Und darin stehen also die Orte niedergeschrieben, an denen sich die Relikte befinden?“, fragte sie, um sich von dem unguten Gefühl abzulenken, das sie befallen hatte, sobald sie von Atemus Aufenthaltsort erfahren hatte. Vorsichtig griff sie nach dem Papyrus und rollte ihn ein Stück weit aus, sodass sie einige Zeilen lesen konnte. „Das wird nichts bringen“, unterbrach Samira ihr Tun plötzlich. „Das Ding ist etwas … seltsam. Man kann es nicht einfach so lesen.“ Die Hofmagierin sah sie mit gerunzelter Stirn an. „Was meinst du damit?“ „Hm … wie erkläre ich das am einfachsten …? Warte, ich zeig‘ es dir!“ Die kleine Rothaarige kniete sich neben Mana in den Sand und entrollte den Papyrus noch etwas weiter. „So, jetzt lese ich dir vor, was für mich da steht.“ „Für dich?“ „Jep. Hör zu!“ Samira fuhr damit fort, drei Zeilen aus der Schrift laut vorzulesen – sie handelten von zwei armen Ägyptern, einem Ehepaar, das ein Kind erwartete. Die Frau brachte schließlich ein kleines Mädchen zu Welt. Mana hatte bereits ab dem ersten Satz die Stirn noch tiefer in Falten gelegt. „Halt, warte“, meinte sie schließlich. „Ich will dir wirklich nicht zu nahe treten … aber du hast dich da verlesen. Da steht nichts von armen Leuten, sondern von Menschen aus dem Mittelstand – und ihre Namen sind ebenfalls anders, als die, die du genannt hast. Sie … sie hießen nicht Amsu und Jendayi, sondern … Sefu und Hehet …“ „Wie deine Eltern?“ Entgeistert wanderte Manas Blick zu der kleinen Schattentänzerin. „Woher …?“ „Das ist es, was ich dir zeigen wollte. Die Seele der Zeit ist kein normaler Papyrus. Jeder, der sie ansieht, sieht seine eigene Lebensgeschichte vor sich. Amsu und Jendayi waren die Namen meiner Eltern und sie stammten aus ärmlichen Verhältnissen. Du hingegen liest natürlich von den deinen, weil deine Geschichte ja eine andere ist als meine.“ Samira sah wieder auf das Schriftstück hinab. „Das hier ist der erste Abschnitt, der von unserer Entstehung und Herkunft handelt. Danach folgt all das, was wir erlebt haben und was uns geprägt hat. Und dann …“, meinte sie und entrollte das Schriftstück ganz, „… wir es irgendwann total wirr und man versteht kaum noch ein Wort. Das passiert ab da, wo es um die Dinge geht, die noch nicht geschehen sind.“ „Du meinst, dieses Dokument kennt auch unsere Zukunft?“, äußerte Ryou verblüfft. „Echt jetzt?“, mischte sich auch Joey ein. „Alter, wie geil ist das denn? Los, sag‘ schon, wann besiegen wir Caesian endlich?“ „Hörst du mir überhaupt zu? Ich sagte doch, das, was noch nicht geschehen ist, ist absolut kryptisch! Es ist unmöglich herauszulesen, was noch passieren wird!“, wiederholte Samira genervt. „Oder du bist hier diejenige, die nicht lesen kann“, kommentierte Marlic feixend. Sofort war die kleine Rothaarige auf den Beinen. „Und ob ich das kann! Risha hat es mir beigebracht!“ „Als ob das irgendwas zu sagen hat. Los, geh beiseite!“ erwiderte der Andere und schob die Schattentänzerin weg, um einen besseren Blick auf die Seele der Zeit haben zu können. Die Blicke, mit denen Risha derweil versuchte, ihn zu erdolchen, ignorierte er gekonnt. „Dann lass mal sehen …“ murmelte Marlic und begann den letzten Absatz zu lesen. Es dauerte jedoch nicht lange, da wandelte sich sein triumphierender Gesichtsausdruck – schließlich blickte er säuerlich drein. „Was zum Geier …?“ „Sag ich doch! Wer ist jetzt hier der Doofe, hä?“, hakte Samira sofort nach und streckte Marlic zur Krönung noch die Zunge heraus. „Mach‘ das nochmal und ich schneid‘ sie dir ab, du vorlautes Balg!“, schoss der sogleich zurück. „Versuch es doch!“, flötete die Rothaarige. „Ganz wie du …“ Marlic hatte sie erhoben und war drauf und dran, auf Samira loszugehen. Doch kaum, dass er auch nur einen Schritt in ihre Richtung getan hatte, spürte er plötzlich etwas Kaltes an seiner Kehle. Ein kurzer Blick bestätigte ihm, dass sich ein Dolch direkt an seinem Hals befand – gehalten von Risha. „Das würde ich lassen …“, kommentierte die kühl. Marlic sah einen Moment lang verdutzt drein, dann begann er breit zu grinsen. „Sieh an, sieh an. Du gehst ja ganz schön ran, Kleines. Aber ich steh‘ drauf …“, säuselte er – und erntete prompt die Reaktion, die er hatte bekommen wollen. Rishas Augenbraue begann zu zucken, während ihr Gesicht einen Ausdruck annahm, den er nicht beschreiben konnte, der ihn jedoch so sehr amüsierte, dass er beinahe loslachen musste. In jedem Fall war das den keineswegs ernst gemeinten Kommentar jedoch wert gewesen. Ein kurzer Blick bestätigte ihm, dass auch die restlichen Umstehenden überaus lustige Gesichtsausdrücke aufwiesen. Was für ein Spaß, endlich etwas Abwechslung inmitten all der Langeweile! Er wollte gerade nachlegen, als … „Eher bring ich sie um die Ecke, als dass du einen Finger an sie legst. Ich lass nicht zu, dass du meinen Stammbaum besudelst, gleich welche noch so weit entfernte Ecke davon.“ Marlics amüsierter Blick wanderte zu Bakura, der mit verschränkten Armen ein Stück weit entfernt stand. „Besudeln? Ich? Ha! Du meinst wohl, deine jämmerliche Blutlinie würde endlich mal jemanden aufweisen, auf den sie stolz sein kann!“ „Dass gerade du dein zu groß geratenes Maul aufreißen …“ „Haltet den Mund, alle beide!“, ging Marik dazwischen. „Wann rafft ihr eigentlich endlich, dass dieses ständige Gezanke uns keineswegs weiterhilft! Ihr könnt euch darüber streiten, wer das größere Ego hat, wenn dieser Krieg vorbei ist – bis dahin wäre es aber durchaus angebracht, sich nicht zu verhalten, als hättet ihr noch nicht mal die Pubertät hinter euch gebracht!“ „Passiert das öfter?“, fragte Tristan derweil an Tea gewandt. Die seufzte nur tief. „Allerdings. Ständig kriegt sich hier irgendwer in die Haare. Manchmal ist es der reinste Kindergarten.“ „Das glaube ich nicht“, kommentierte Duke und erntete verdutzt Blicke von seinen Freunden. „Alle hier stehen unter gewaltigem Druck. Ist doch klar, dass sich der einen Weg bahnt, auch wenn die Gründe, über die dann gestritten wird, noch so banal sind. Ich denke es ist besser, dass sie sich regelmäßig mal was an den Kopf werfen, als dass sich der Frust aufstaut und irgendwann explosionsartig entlädt.“ „Prinzipiell würde ich dir da sogar zustimmen“, erwiderte Tea. „Aber wart’s mal ab. Irgendwann geht auch dir das ständige Gekeife auf die Nerven.“ „Ich hätte da eine Frage, Samira“, bemerkte Ryou derweil und lenkte die Aufmerksamkeit der Umstehenden damit wieder auf das eigentliche Thema zurück. „Du hast gesagt, dieses Schriftstück hätte Atemu verraten, wo das Ankh des Horus verborgen ist. Aber wenn es nur den Lebenslauf dessen, der es betrachtet, enthält und das, was noch kommen wird, total kryptisch ist, wie hat er dann herausgefunden, wo er suchen muss?“ Die Kleine schien einen Moment zu überlegen, dann schüttelte sie den Kopf. „Ich weiß nicht genau … er hat eine Hand darauf gelegt und schien sehr konzentriert. Dann hat er uns einen Vers vorgelesen, den nur er sehen konnte.“ Kurz herrschte Schweigen, dann ergriff Seto das Wort. „Wir werden warten müssen, bis seine Majestät uns eingeholt hat. Ich würde vorschlagen, wir setzen unseren Weg bis zum Einbruch der Nacht fort und schlagen dann ein Lager auf. Nach dem, was wir aus der Luft gesehen haben, dürfte der Abstand zwischen uns und Caesians Heer groß genug sein, um uns eine Rast leisten zu können – zumal auch seine Truppen nicht ununterbrochen marschieren können.“ Yugi nickte zustimmend. „Und wenn wir mit unserer Vermutung richtig liegen, dann ist es ohnehin nicht sein Ziel, uns so schnell wie möglich einzuholen.“ „Wie darf ich das verstehen?“, erkundigte sich Riell daraufhin. „Atemu glaubt, dass er vorhat, uns bis nach Theben zu treiben, ohne uns wirklich angreifen zu wollen. Er denkt, dass Caesians uns erst in die Enge treiben will – um dann zum entscheidenden Schlag auszuholen.“ Es herrschte betretene Stille, ehe Risha seufzte. „So unangenehm es ist, es auszusprechen, aber ich vermute, seine Hochwohlgeborenheit hat ausnahmsweise Recht. Zumindest klingt es nach etwas, das Caesian tun würde. Alleine für seine ständigen Spielchen werde ich ihm mit höchstem Vergnügen den Kopf abschlagen …“ „Ich fürchte, da wirst du dich hinten anstellen müssen“, warf der Hohepriester ein. „Oh, wie süß! Will da etwas jemand Rache für seine kleine Freundin nehmen?“, ergriff Marlic die Chance und grinste. Seto schenkte ihm lediglich einen abschätzigen Blick, ehe er sich zum Rest des Trosses umwandte. „Lasst uns gehen. Ansonsten wird unser Vorsprung bald nicht mehr so groß sein.“ Caesian gab sich keinerlei Mühe, seine Freude zu verbergen, als er mit beschwingtem Schritt durch die Korridore des Palastes eilte. Endlich. Endlich, endlich, endlich! Wie lange hatte er auf diesen Tag gewartet? Zu lange, entschied er. Er hatte nicht gedacht, dass sich die Ägypter ihm derartig widersetzen würden, sodass sich sein Plan verzögert hatte. Letzten Endes hatte er ihn aber doch benachrichtigen und zu sich bitten können. Ja, Men-nefer war noch nicht vollständig wiederaufgebaut. Aber das, was die Arbeiter bislang geschafft hatten, genügte vorerst, um Taisan einen ersten Eindruck von dem zu vermitteln, was sie sich hier erschaffen würden. Schließlich trat er in den Innenhof des Palastes hinaus. Das große Tor, das den Zugang zum königlichen Grund und Boden ermöglichte, stand weit auf. Caesian musste nicht lange warten, bis eine Schar Reiter hindurchgeritten kam. Seine Augen wanderten suchend über die Soldaten, bis er schließlich das weiße Pferd in ihrer Mitte und den, der darauf saß, erblickte. Er bemühte sich nicht, das ehrliche Lächeln, das sich auf seine Züge stahl, zu verbergen. Kaum, da der Tross gehalten hatte und die Reiter abgestiegen waren, knieten sie vor dem neuen Herrscher Ägyptens nieder – bis auf den Mann, den Caesian so sehnsüchtig erwartet hatte. Sein Erscheinungsbild flößte den Soldaten, die ihrem Herren zu Beginn des Krieges hierher gefolgt waren, die altbekannte Ehrfurcht ein, die sie schon in ihrer Heimat jedes Mal verspürt hatten, wenn sie ihm gegenüberstanden. Vielleicht lag es daran, dass er wirkte, als stamme er nicht von dieser Welt, als sei er ein höheres Wesen. Lange, weite, weiß-graue Gewänder, die mit Silber bestickt waren, wallten seinen Körper hinab. Sie verdeckten alles, von den Schultern bis hinab zu den Füßen. An den Händen trug er weiße Handschuhe. Um Hals und Kopf war ein dichtes Tuch von gleicher Farbe geschlungen. Was es jedoch war, das ihn so unmenschlich wirken ließ, war die versilberte Maske, die sein Gesicht verbarg. Zwei winzige Öffnungen waren hinein geschlagen worden, damit er sehen konnte – und gaben zugleich einen Blick auf seine Augen frei, den einzigen Teil seines Körpers, der überhaupt zu sehen war. So geschah es mehr aus Reflex, als auf Anweisung hin, dass die umstehenden Wachtposten ebenso auf die Knie gingen, wie jene, die den Tross begleitet hatten. Caesian schritt derweil mit ausgebreiteten Armen auf den Mann in Weiß zu. Das Lächeln auf seinem Gesicht wirkte nun leicht verbissen. Ein Beobachter hätte beinahe den Eindruck bekommen können, als müsse der Tyrann Tränen der Freude zurückhalten. „Endlich sehen wir uns wieder“, sprach er, als er die Distanz zwischen sich und dem Anderen überwunden hatte, und ihn in die Arme schließen konnte. Sein Gegenüber erwiderte die Geste. „In der Tat. Es ist zu viel Zeit vergangen, seitdem wir uns das letzte Mal sahen“, sprach er, wobei seine Stimme durch die Maske leicht gedämpft klang. Doch selbst, wenn sie nicht gewesen wäre, hätte sein Tonfall recht ausdruckslos geklungen. Er hatte schon früh die Eigenschaft angenommen, seine Emotionen nicht mit Intonation, sondern durch seine Wortwahl auszudrücken. Sie lösten sich voneinander. Caesian ließ den Blick über den Mann wandern, dessen Stimme dennoch verraten hatte, dass er jünger war, als der derzeitige Herrscher des Landes. Das Lächeln fiel einen Moment, ehe es wieder genau so strahlend war, wie vorher. Dann legte er dem Weißgekleiderten eine Hand auf die Schulter. „Wie geht es dir, Taisan?“ „Nun, da die Reise hinter uns liegt, besser“, war die Antwort, während sich beide allmählich vom Tross entfernten. „Wenn du möchtest, kannst du dich zunächst ausruhen. Ich habe deine Gemächer bereits herrichten lassen. Ich denke, sie werden dir gefallen. Ich kann dir auch etwas zu essen bringen lassen. Wir haben alles, was du dir vorstellen kannst.“ „Nein, nein. Ich bin viel zu neugierig, um zu ruhen. Ich möchte endlich mit eigenen Augen sehen, wovon du in deinen Briefen so schwärmtest“, entgegnete Taisan. Caesian lächelte abermals. „Dann komm, Bruder. Ich zeige dir Men-nefer.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)