Die Seele der Zeit von Sechmet (Yu-Gi-Oh! Part 6) ================================================================================ Kapitel 44: Verdammt -------------------- Mana war es schließlich, die die entscheidende Frage stellte. „Wie viel Zeit bleibt uns?“ Cheron warf den Kopf zur Seite, als überlege er. „Ich schätze, dass sie bald hier sein werden, nachdem es dunkel geworden ist.“ „Sie wollen uns im Dunkeln überraschen. Tja, daraus wird leider nichts mehr“, kommentierte Bakura, der so wie alle anderen ebenfalls hinzu gekommen war. „In dem Punkt magst du Recht haben, aber das bringt uns auch keinen Vorteil. Selbst, wenn es nur ein Teil des Heeres ist, sind wir weit unterlegen – außerdem fehlen uns Atemu, Samira und Kipino“, entgegnete Yugi, ehe er sich wieder an Riell wandte. „Was machen wir jetzt?“ Cheron schnaubte aufgebracht. „Bist du taub? Wir. Müssen. Hier. Weg!“ „Hat da etwa jemand Schiss?“, warf Marlic wenig hilfreich ein. Während sich der nächste Streit entspann, beobachtete Yugi, wie das Oberhaupt der Schattentänzer sich hart auf die Unterlippe biss. Die Augen sämtlicher Clanmitglieder waren auf ihn gerichtet. Sie warteten auf eine Entscheidung. Er senkte das Haupt, um sie für den Moment nicht ansehen zu müssen. Was jetzt? Sie hatten sich noch nicht vollständig von der letzten Schlacht erholt. Der Pharao war nicht hier. Nicht auf seine Ka-Bestien zählen zu können, war ein gewaltiger Nachteil. Sie hatten drei Relikte, mit dem von Keiro gar vier, die es zu beschützen galt. Riell ballte die Hände zu Fäusten, als er sich entschied. „Nehmt an Waffen, Vorräten und Wasser, was ihr tragen könnt und sattelt die Pferde! Passt auf, dass ihr sie nicht überladet! Wir verschwinden – sofort!“, verkündete er schließlich mit einer Stimme die fester klang, als es sein Entschluss war. Augenblicklich brach das Chaos los. Während die Schattentänzer ohne zu zögern gehorchten, die Meisten von ihnen froh, einer Konfrontation zu entgehen, kamen von anderer Seite Proteste. Insbesondere Bakura und Marlic waren strikt dagegen, vor der Bedrohung davon zu laufen. Doch Riell gelang es, sie einfach zu ignorieren, während er sich an Marik und Mana wandte. „Kommt, ihr müsst mir helfen. Wir müssen die Schriften einsammeln!“ „Ich komme sofort“, erwiderte die Hofmagierin. „Ich wecke Seto – er muss eingeschlafen sein, sonst wäre er längst hier.“ Damit eilte sie davon. „Cheron, wo ist Risha?“, fuhr der Clanführer fort. „Auf dem Weg hierher.“ „Kehr‘ zurück zu ihr und sorge dafür, dass ihr nichts geschieht.“ Anschließend wollte Riell ebenfalls von dannen ziehen, als er am Arm zurückgehalten wurde. Ihm lag bereits eine patzige Erwiderung auf der Zunge, als er bemerkte, dass nicht Marlic oder Bakura hinter ihm standen, sondern Yugi. „Was ist mit Atemu, Samira und Kipino?“, fragte der Kleinere ohne Umschweife. „Und mit Keiro?“, fügte Ryou hinzu. Riell schüttelte den Kopf. „Ich könnte mir im Augenblick um niemanden weniger Sorgen machen, als um Keiro. Was den Pharao anbelangt, so werden wir darauf hoffen müssen, dass er und meine Schattentänzer uns finden werden. Firell mag klein sein, aber er kann relativ große Strecken zurücklegen …“ „Aber was, wenn sie an diesem Ort, den Atemu im Traum gesehen hat, etwas gefunden haben? Etwas, das uns helfen würde? Und was, wenn sie damit hierher zurückkehren?“, gab Yugi zu bedenken. Noch ehe Riell sich eine Antwort überlegt hatte, fuhr er fort: „In welche Richtung sind sie geritten?“ „Warum willst du das …?“ „Ihr verschwindet wie geplant. Ich suche Atemu. Sag mir einfach, wohin ihr gehen werdet und wir kommen dorthin, sobald ich ihn und die anderen beiden gefunden habe.“ „Und du gehst auf keinen Fall alleine!“, mischte sich plötzlich Joey ein. „Duke, Tristan, Tea und ich kommen mit! Das ist sicherer.“ „Nein“, widersprach Yugi entschieden. „Joey, du wirst hier gebraucht. Rotauge kann Sachen oder Leute transportieren, denn die Pferde alleine reichen nicht. Es sind nicht genug. Außerdem brauchen wir so viele Ka-Bestien wie möglich, sollte das Heer irgendwie aufschließen. Duke und Tristan wiederum können mit anpacken, das ist genau so wichtig. Eure Hilfe wird hier gebraucht. Zudem ist es so sicherer. Je weniger von uns sich absetzen, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, entdeckt zu werden.“ „Aber mich wirst du nicht los“, entgegnete Tea bestimmt. „Ich komme mit, egal was du sagst.“ „Hör zu …“ „Nichts da! Die Feuerprinzessin kann weder bei der Flucht behilflich sein, noch kann ich hier viel tun. Ich werde dich begleiten.“ „Ich ebenso. Die Sicherheit Seiner Majestät ist oberstes Gebot.“ Die Anwesenden wandten sich überrascht um, als sie Setos Stimme vernahmen. Er sah erschöpft, aber entschlossen aus. Was er nicht laut aussprach, war, dass es noch einen anderen Grund gab, weswegen er nicht mit dem Rest ziehen wollte: Er konnte nicht garantieren, dass er sich würde beherrschen können, wenn er nicht bald eine Distanz zwischen sich und Caesians Truppen brachte. Dass dieser Mann Kisara mit in all das hinein gezogen hatte, war unverzeihlich. „In Ordnung. Also, wohin ist Atemu geritten und wo treffen wir uns?“, kam Yugi zur Sache. Riell schien einen Augenblick zu zögern, nickte dann aber. „Gen Westen. Die Stelle müsste etwa einen halben Tagesritt entfernt sein. Genaueres weiß ich nicht, Firell hat sie dorthin geführt. Euer Ka wird Euch helfen müssen, sie zu finden, Hohepriester“, erklärte er an Seto gewandt, ehe er fortfuhr: „Was deine zweite Frage anbelangt, Yugi … Ich fürchte, ich weiß es nicht …“ So einfach die Worte waren, so verheißungsvoll klangen sie in diesem Moment. Riell wusste weder ein, noch aus. Alles, was er wusste, war, dass sie zunächst von hier verschwinden mussten. Was danach kam, war ungewiss. „Theben.“ Alle Köpfe wandten sich zu Seto um. „Theben?“, wiederholte Yugi. „Ja. Der Rest unserer Truppen hat sich dorthin zurückgezogen. Es ist die einzige Möglichkeit. Im Westen erwartet uns die Wüste und im Osten das Meer. Es gibt keinen anderen Rückzugsort. Zumal uns das dort befindliche Tal einen strategischen Vorteil bringen könnte, sollten Caesians Männer unsere Spur verfolgen. Wir könnten uns vielleicht eine Weile halten, bis wir einen Weg gefunden haben, ihm das Handwerk zu legen.“ Riell nickte. „Gut. So machen wir es. Ich vertraue auf euch. Bringt mir Kipino und Samira gesund zurück – und Atemu ebenfalls.“ „Verstanden. Du kannst dich auf uns verlassen“, entgegnete Yugi. „Und passt auf euch auf“, fügte Joey hinzu. „Macht keine Dummheiten.“ „Dass ich so etwas einmal aus deinem Mund hören würde“, entgegnete Tea. „Für euch gilt im Übrigen das Gleiche!“, fuhr sie fort und sah dabei auch Tristan und Duke eindringlich an. „Verzeiht, dass ich euch unterbreche, aber wir müssen los“, mischte sich Seto ein, ohne den irritierten Tonfall in seiner Stimme zu verbergen. Damit trennten sie sich. Während der Hohepriester mit Yugi und Tea nach Westen davon ritt, zeichnete sich bereits eine schwarze Linie aus hunderten von Menschen am Horizont ab. Riell und die Schattentänzer, so wie der Rest des Widerstandes, verließen das Versteck nur kurze Zeit später. Risha schloss bald zu ihnen auf. Die Kohlen in den Feuerstellen der Himmelspforte waren noch nicht erloschen, da stürmten Soldaten den Unterschlupf. Dass sie nichts vorfanden, überraschte sie nicht. Noch in derselben Nacht sandte Caesian Gladius mit dem Rest der Armee hinter seinen Feinden her. Er selbst würde in wenigen Sonnenläufen folgen. Unter einem klaren Himmel, der von Sternen übersät war, zogen beide Parteien schließlich gen Süden. Der letzte Feldzug hatte begonnen. Die Nacht hatte sich noch nicht lange über Ägypten gesenkt. Die Wüste lag einsam und verlassen da. Lediglich drei Pferde und ihre Reiter bahnten sich einen Weg durch ihre unendlichen Weiten. Samira, Kipino und Atemu waren vor einer Weile aufgebrochen, doch noch lag ungefähr die Hälfte des Rückwegs vor ihnen. Der Pharao trug die Seele der Zeit bei sich, die in Leinentücher gewickelt war, um sie vor Sand zu schützen. „Ich habe Hunger …“, tat die Jüngste nun schon zum vierten Mal kund. In der Eile ihres Aufbruchs hatten sie nur wenig Verpflegung mitgenommen und alles, bis auf etwas Wasser, war bereits aufgebraucht. „Wir haben es nicht überhört, weißt du?“, meinte Kipino. „Wir sind bald zurück, dann kannst du etwas essen.“ „Wie weit ist es denn noch?“ „Nicht mehr weit.“ „Wie weit genau?“ „Ich weiß es nicht.“ „Woher weißt du dann, dass es nicht mehr weit ist?“ Dieser Gesprächsverlauf setzte sich noch eine Weile fort, doch Atemu schenkte ihm keine Beachtung. Seine Gedanken kreisten um den Papyrus, den sie in der unterirdischen Kammer entdeckt hatten. Er konnte nur hoffen, dass er ihn wahrlich verstanden hatte und sie tatsächlich einem weiteren Relikt auf die Schliche gekommen waren. Sie brauchten endlich einen Schritt nach vorne, einen Erfolg nach den zahllosen Rückschlägen. Sie alle hatten sich bislang tapfer gehalten, doch er wusste, dass die Situation einen jeden von ihnen Tag um Tag mehr zermürbte. Es sah immer mehr so aus, als seien sie machtlos gegen das, was Caesian tat. Das musste sich ändern – so schnell wie möglich, ehe sie den Mut verloren. Doch gerade, als sich ein zuversichtliches Lächeln auf seine Züge schleichen wollte, ließ ihn ein Geräusch zusammenfahren. Es kam von Kipino. Sofort wandte er sich auf seinem Pferd nach dem Anderen um. Der Schattentänzer war leichenblass. Den eben ausgestoßenen Laut vermochte Atemu nicht zu deuten, er hatte irgendwo zwischen einem Stöhnen und einem Keuchen gelegen. „Was ist?“, fragte er alarmiert. Auch Samira musterte das ältere Clanmitglied mit Sorge. „Kipino, was ist los?“, hakte sie nach, als er nicht gleich reagierte. Er hielt die Zügel seines Reittieres in verkrampften Händen und starrte mit glasigen Augen ins Leere. „Was hat er?“, fragte Atemu schließlich an Samira gewandt. „Firell sieht irgendetwas. Und er zeigt es ihm“, erwiderte die Schattentänzerin. Bange Minuten vergingen, dann sackte Kipino plötzlich auf seinem Pferd zusammen. Er atmete heftig, ganz so, als schnappe er nach Luft, die man ihm verwehrt hatte. Dann richtete er sich schlagartig wieder auf und sah seine Begleiter panisch an. „Die Himmelspforte …“, brachte er hervor und der Ton in seiner Stimme verriet bereits, dass irgendetwas geschehen sein musste. „Was ist damit?“, ging Samira sofort auf ihn ein. „Sie … Caesian hat sie gefunden.“ Die Worte hingen wie eine Verheißung über ihnen. „Da ist Rauch. Feuer. Alles brennt. Und Soldaten. So viele Soldaten!“, fuhr er fort. Es klang verzweifelt. Samira wartete nicht. Mit einem kräftigen Tritt in die Seite brachte sie ihr Pferd dazu, loszupreschen. Auch Atemu überwand den ersten Schreck rasch. Er riss dem Schattentänzer die Zügel seines Pferdes aus der Hand, befahl ihm knapp, aber bestimmt, sich festzuhalten und gab dann seinem eigenen Reittier die Sporen. Das Herz schlug wild in seiner Brust, während seine Gedanken rasten und er sich die schlimmsten Ereignisse ausmalte. Obgleich er schwitzte, war ihm eiskalt. Er bekam kaum Luft, obgleich ihn nichts daran hinderte, Atem zu holen. Bitte nicht. Bitte, bitte nicht. Firell waren die Menschen nicht entgangen, die aus der Richtung der Himmelspforte – oder dessen, was noch davon übrig war – kamen. So sorgte er dafür, dass Atemu und seine Begleiter einen Kurs einschlugen, der sie zusammenführen würde. Der Pharao atmete erleichtert auf, als ihm Yugi, Tea und Seto entgegenritten. „Ein Glück, ihr seid unversehrt! Was ist geschehen?“ Sie zügelten ihre Pferde, doch keiner machte Anstalten, abzusteigen. Sie wussten, dass sie nach dem, was vorgefallen war, nicht lange bleiben konnten. „Caesians Armee hat das Versteck entdeckt“, erwiderte Seto knapp. Yugi fuhr daraufhin fort: „Aber seid unbesorgt, allen dürfte es gut gehen. Risha hat nach Keiro gesucht und Cheron hat das Heer kommen sehen, ehe es uns zu nahe kam. Sie sind mit Sicherheit alle davon gekommen, ehe auch nur ein Soldat einen Fuß in die Himmelspforte gesetzt hat.“ „Und wo sind sie?“, hakte Atemu nach. „Deswegen sind wir hier. Sie sind nach Süden gezogen“, erklärte Tea. „Sie gehen nach Theben“, führte Seto daraufhin weiter aus. „Ich habe vorgeschlagen, sich dort mit dem Rest der ägyptischen Armee zu treffen. Außerdem können wir die Landschaft dort zu unserem Vorteil nutzen.“ Der Pharao ließ sich die Neuigkeiten einen Moment durch den Kopf gehen, ehe Kipino ihn aus den Gedanken riss. „Majestät? Firell erzählte mir eben, dass er das Heer noch am Horizont ausmachen konnte. Es scheint ebenfalls nach Süden zu ziehen.“ „Das heißt, sie folgen dem Rest von uns?“, warf Samira ein. Atemu legte die Stirn in Falten. Wie um alles in der Welt hatte Caesian ihren Unterschlupf gefunden? Und was hatte es zu bedeuten, dass seine Armee ebenfalls den Nil hinab zog? Die Antwort lag auf der Hand. Das bedeutete jedoch nicht, dass sie angenehm war. Im Gegenteil. Sein Magen krampfte sich zusammen, als ihm bewusst wurde, was heute Nacht eingetreten war. „Es ist also soweit“, sagte er schließlich. „Was ist soweit?“, erkundigte sich Yugi. Atemu hob den Blick und sah ihm fest in die Augen, als er antwortete. „Caesian hat zum letzten Schlag ausgeholt.“ Ein kurzer Blick in Setos Richtung bestätigte, dass dieser das ebenfalls verstanden hatte. Trotzdem die Frau, die er liebte, in den Händen des Feindes war, hatte er seine Mitstreiter dazu veranlasst, sich von Men-nefer zu entfernen. Den Resten des ägyptischen Heeres und einem strategisch günstigen Ort entgegen – beides Dinge, die sie brauchen würden, wenn Caesian sie in die Enge getrieben hatte. „Was soll das heißen? Wovon sprichst du?“ Es lag Angst in Teas Stimme, als sie die Frage aussprach. „Ich weiß nicht, wie es ihm gelungen ist, aber er hat uns ausfindig gemacht. Und er hat sich entschieden, die Sache zu beenden. Ich glaube, dass er vorhat, uns solange vor sich herzutreiben, bis wir nicht mehr weiter können. Die letzte größere, befestigte Stadt im Süden ist Theben. Obgleich Setos Entscheidung, dorthin zu gehen, die richtige war, so weiß Caesian doch, dass er uns spätestens dort haben wird, wo er uns haben will – in einer Lage, die uns nur wenige Möglichkeiten bietet. Entweder, wir stellen uns ihm – oder wir geben auf. Er ist sich sicher, dass er auf die eine oder die andere Weise gewinnen wird, gleich, wie wir entscheiden.“ „Das heißt, wir müssen so schnell wie möglich nach Theben und ein Heer aufstellen! Worauf warten wir noch?“, äußerte Samira hektisch. „Du vergisst etwas“, erwiderte Atemu. „Dort draußen sind noch drei Relikte der Götter verborgen. Ich bezweifle, dass Caesian sich mit dem Gedanken zufrieden geben wird, dass er bald vier weitere sein eigen nennen könnte. Nein, ich bin davon überzeugt, dass er weiterhin versuchen wird, sie alle zu finden. Umso bedeutender ist es, dass wir dem Hinweis nachgehen, den uns die Seele der Zeit gegeben hat.“ „Die Seele der Zeit? Wovon sprecht Ihr, Majestät?“, fragte Seto. Der Pharao löste das Leinenbündel vom Sattel, das die uralte Schriftrolle barg, und überreichte es seinem Vetter. „Das hier. Samira wird dir auf dem Weg alles erklären können.“ „Wie bitte? Was hast du vor?“, hakte Tea nach. Atemu entschied, dass er ihnen zumindest ein paar Antworten schuldig war. „Das hier“, begann er mit Kopfnicken in Richtung des Bündels, „ist ein Jahrtausende altes Artefakt, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kennt. Es hat uns den Hinweis gegeben, dass sich ein weiteres göttliches Relikt in den Sümpfen verbergen könnte, in denen wir bereits den Reif der Isis gefunden haben. Es darf unter keinen Umständen in Caesians Hände geraten. Darum werdet ihr, Yugi, Tea, Seto und Samira die Seele der Zeit so schnell wie möglich zu den Anderen bringen. Umgeht das Heer weiträumig und findet den Rest. Je mehr Menschen in der Lage sind, diesen Fund zu beschützen, desto besser. Ich glaube, dass er es sein wird, der diesen Krieg letztendlich entscheidet.“ Sein Partner betrachtete die eingewickelte Schriftrolle nachdenklich, ehe er den Blick hob und sein Gegenüber fragend ansah. „Und was ist mit dir?“ „Ich werde nach diesem Relikt suchen. Und ich würde dich, Kipino, bitten, mich zu begleiten. Firell könnte sich als überaus nützlich erweisen, wenn es darum geht, herauszufinden, ob die Sümpfe sicher sind.“ Der Schattentänzer nickte, auch wenn er die Lippen dabei fest aufeinander presste. „Gewiss, Euer Hoheit.“ „Gut. Seto …?“ „Mit Verlaub, mein König, aber ich denke, es wäre angebrachter, wenn ich an Eurer Seite bliebe. Der weiße Drache ist stark und …“ „… und seine Kräfte werden nötig sein, wenn die Seele der Zeit beschützt werden muss. Zudem begebe ich mich in die Nähe der Stadt, in der Kisara derzeit gefangen gehalten wird. Auf keinen Fall“, entschied Atemu bestimmt. „Du kennst den Weg nach Theben. Führe sie sicher dorthin. Egal, was auch passiert. Verstehe mich nicht falsch, Vetter, mir widerstrebt es ebenfalls zutiefst, Kisara in den Händen dieses Mannes zu lassen. Doch im Augenblick ist da nichts, was wir tun könnten, um ihr zu helfen. Jegliches Handeln wäre vergeblich.“ Setos Blick war verbissen. Atemu konnte sich nur ausmalen, was für ein Kampf derzeit in ihm toben musste – eine Schlacht zwischen Vernunft und dem Drang, endlich etwas unternehmen zu müssen. Dennoch nickte er kurz darauf. „Ihr könnt Euch auf mich verlassen, Majestät.“ „Habt ihr genügend Proviant dabei, um euch alle satt zu bekommen?“ „Sicher. Wir haben uns in der Eile zwar nur Brot geschnappt, aber davon genug. Hier, ihr beide könnt sicher etwas davon brauchen“, erklärte Yugi und reichte Atemu ein Bündel mit Verpflegung. „Und Wasser können wir uns vom Nil besorgen“, fügte Samira hinzu. „Wahrscheinlich holen wir die Anderen irgendwann sowie so ein, dann sollte das Essen kein Problem mehr darstellen.“ „Wie weit ist es denn eigentlich von hier bis nach Theben?“, erkundigte sich Tea. „Ein Fußmarsch von etwa zehn bis zwölf Tagen. Da wir aber zu Pferd unterwegs sind, dürfte es etwas schneller gehen“, antwortete Seto. „Wie dem auch sei, wir sollten keine Zeit verlieren“, löste Yugi das Gespräch schließlich auf. „Lasst uns losziehen.“ „Er hat Recht. Am besten beeilt ihr euch.“ Atemu zögerte einen Moment, ehe er fortfuhr: „Ich danke euch. Für all das, was ihr bislang geleistet habt und für das, was ihr noch zu leisten bereit seid.“ Sein Blick galt dabei insbesondere Seto, der nur kaum merklich nickte, ehe er sein Pferd antraben ließ. Samira hingegen winkte nur ab. „Ja ja. Denk nur nicht, wir machen das für dich. Wir machen das nur für unsere Heimat – und damit der Tag kommen kann, an dem Riell und Risha deinen Herrscherhintern vom Thron treten werden. Bring mir den da bloß heil wieder zurück, hast du verstanden?“, meinte sie mit Nicken in Kipinos Richtung, „Der ist nur geliehen, nicht geschenkt!“ „He! Ich bin doch keine Ware!“ Auf den Zügen des Pharao spielte ein kleines Lächeln. „Versprochen.“ „Sehr gut. Also, worauf warten wir noch?“ Damit gab Samira ihrem Pferd die Sporen und ritt davon, Seto hinterher. Tea und Yugi wandten sich noch einmal zu Atemu und seinem Begleiter um. „Passt gut auf euch auf – ihr beide“, sagte die junge Frau schließlich. Dann preschten auch sie davon, dem südlichen Horizont entgegen. Der Pharao und der Schattentänzer sahen ihnen noch einen Augenblick lang nach, dann setzten auch sie sich in Bewegung. Es war noch tiefste Nacht, als Atemu und Kipino in die Nähe Men-nefers kamen. Sie umgingen die Stadt in einem weiten Bogen, während Firell vom Himmel aus sicherstellte, dass sich keine feindlichen Soldaten in der Nähe befanden. Schließlich konnten sie im Schein des Mondes die Sümpfe, die ihr Ziel waren, am Horizont ausmachen. Das Ka des Schattentänzers kreiste zunächst einige Zeit über dem Grün des Nilufers. Erst, als sie absolut sicher waren, dass sich keine Späher in der Gegend aufhielten, bewegten sie sich vorsichtig in Richtung des Flusses. Angespannt lauschten sie auf jedes Geräusch und ließen die Augen unablässig umher wandern. Schließlich erreichten sie den Tempel, in dem sie damals auf Caesian getroffen waren, ohne Zwischenfälle. Die Pferde ließen sie dort im Dickicht zurück, während sich der Pharao und sein Begleiter zum Nil hinab begaben. Kipino sah sich suchend um. „Wo genau vermutet Ihr das Relikt, Majestät?“, flüsterte er schließlich, sichtlich nervös. Atemu nahm es ihm nicht übel. Je schneller sie von hier verschwanden, desto besser. „Ich glaube nach wie vor, dass des Rätsels Lösung einzig und alleine der Nil sein kann. Alles andere würde keinen Sinn ergeben.“ „Bleibt nur zu hoffen, dass ihr mit Eurer Vermutung, dieser Abschnitt sei gemeint, Recht behaltet. Ansonsten wüsste ich nicht, wie wir das Artefakt je finden sollten.“ „Die Götter haben uns die Seele der Zeit gezeigt. Ich vertraue auf ihr Wohlwollen“, entgegnete Atemu und legte dabei seinen Mantel ab. Zudem löste er das Schwert von seinem Gürtel. Ich vertraue auf ihr Wohlwollen – auch wenn all das, was geschehen ist, viel mehr den Eindruck vermittelt, als hätten sie uns verlassen ... „Was habt Ihr vor?“, erkundigte sich der Schattentänzer verdutzt und riss den König damit aus seinen Gedanken. „Ich bezweifle, dass das Relikt einfach auf uns zugeschwommen kommen wird“, erwiderte der Pharao mit angespanntem Lächeln. „Ich werde in den Fluss steigen und sehen, ob ich etwas finde.“ „Ihr vermutet es also tatsächlich im Nil?“ „Der Spruch sagte, dass Relikt wäre vom Leben erstickt und vom Blut verschluckt worden. Deshalb denke ich, dass es in den Fluten versteckt sein muss, ja.“ Kipino nickte. „Gut. Firell und ich behalten die Gegend im Auge und achten auf Krokodile. Passt auf Euch auf, Euer Hoheit.“ Atemu nickte ihm dankend zu, dann stieg er den Rest des Hanges hinab, der ihn von den Fluten trennte, und trat ins Wasser. Kalt umspielte es zunächst seine Füße, dann seine Oberschenkel, ehe er sich ganz hinein gleiten ließ. Einen Moment lang trieb er einfach nur auf dem Nass und sah sich um, suchte nach irgendetwas, das verdächtig erschien. Doch da war nichts. Schließlich holte er Luft und tauchte unter. Im Dunkel der Fluten konnte er kaum etwas erkennen. Immer wieder kehrte er an die Oberfläche zurück, um Atem zu holen, ehe er wieder verschwand. Nach einer Weile begann er, den Boden des Flusses abzutasten, doch seine Hände fanden nichts als Algen, Steine und Schlamm. Selbst als er etwas später bereits vor Kälte zitterte, beendete er seine Suche nicht. Sie brauchten dieses Relikt. Sie brauchten das Gefühl von Erfolg, das sein Fund mit sich bringen würde. Dringend. Doch er blieb erfolglos. Atemu fand noch nicht einmal die Spur eines Relikts. Seine Gedanken rasten. Was hatte er übersehen? Oder hatte Kipino am Ende gar Recht? Befand sich das Artefakt vielleicht tatsächlich im Nil, jedoch irgendwo anders? Eine weitere Möglichkeit, die sie bislang nicht in Betracht gezogen hatten, kam ihm plötzlich in den Kopf: Was, wenn es einst hier versteckt gewesen, inzwischen jedoch Fluss abwärts getrieben worden war? Die Strömung war an einigen Stellen stark genug dafür. Nochmals tauchte er auf und sah sich um. Seine Zähne klapperten und seine Lippen hatten sich bläulich verfärbt, doch er ignorierte es. Kurz wanderte sein Blick zum Himmel. Es würde nicht mehr lange dauern, in der Zeitrechnung seiner Freunde vielleicht noch ein, zwei Stunden, dann würde die Sonne aufgehen. Und dann, da war er sicher, würden sie nicht unentdeckt bleiben. Sie mussten hier weg, das war ihm bewusst. Aber so einfach wollte er nicht aufgeben. Nein, er blieb stur. Das Relikt musste hier sein, ansonsten bestand keine Chance, es jemals zu finden – nicht mit der ihnen davon laufenden Zeit und den mangelhaften Ressourcen, auf die sie sich stützen mussten. Er holte ein letztes Mal Luft und tauchte unter. Wieder schien ihn die Dunkelheit zu verschlingen. Er schwamm und schwamm, weigerte sich zu glauben, dass er sich geirrt hatte. Nein, nein, nein. Es musste hier sein! Sie brauchten dieses Relikt! Bald spürte er, wie seine Lungen schmerzten, nach Luft verlangten. Das Gefühl wurde stärker und stärker. Schließlich zwang es ihn, aufzutauchen. Da sah er etwas. Er kam nur kurz an die Oberfläche, holte hektisch Atem und verschwand wieder in den Fluten. Nein, es war kein Streich gewesen, den sein erschöpfter Körper ihm gespielt hatte. Da war tatsächlich etwas. Ein feiner, kaum wahrnehmbarer Goldschimmer, der hinter einem dichten Bündel Algen hervordrang. Eilig schwamm Atemu zu der Stelle und zog das wogende Grün beiseite. Dahinter befand sich ein Tunnel, dessen Länge er nicht genau abschätzen konnte. Er konnte im trüben Wasser lediglich erkennen, dass der Schein vom anderen Ende kommen musste. Nochmals tauchte er eilig auf, atmete tief ein, dann machte er sich daran, in den Tunnel hinein zu schwimmen. Der Weg zog sich. Zudem führte er immer weiter nach unten. Schon bald verspürte er wieder das Ziehen in der Brust, das ihn veranlassen wollte, Luft zu holen. Doch er weigerte sich mit aller Kraft. Er war zu nah dran, um jetzt umzukehren. Dann endete der Tunnel abrupt in einer Wand. Instinktiv schwamm er nach oben – und schnappte sofort nach Luft, als sein Kopf die Oberfläche durchstieß. Er brauchte einen Moment, bis er wieder zu Atem kam, dann sah er sich um. Er befand sich in einer kleinen Höhle, kaum mehr als zehn Schritt lang und fünf Schritt breit. Sie war hell erleuchtet. Seine Augen suchten nach der Quelle des Lichts – und fanden sie. Dort, an der gegenüber liegenden Seite der Kaverne, lag es. Das Ankh des Horus. Atemus Herz machte einen Sprung, als er eilig aus dem Wasser stieg und zu dem Gegenstand hinüber eilte. Dabei musste er die Hand vor Augen halten, da ihn der Schein des Artefakts blendete. Ehrfürchtig ging er davor in die Knie und betrachtete es, so gut es ging. Es war zierlich gearbeitet, weitaus weniger klumpig als der Milleniumsschlüssel. Die Oberfläche war mit Hieroglyphen beschrieben. In der Mitte des runden Bogens, der das obere Ende des Relikts darstellte, befand sich ein stilisierter Falke, der die Flügel gespreizt hatte. Es bestand kein Zweifel. Er hatte es gefunden! Er atmete noch einen Moment lang durch, dann wurde es Zeit, zu Kipino zurück zu kehren und zu den Anderen aufzuschließen. Er löste das Tuch, das seine Gewänder zusammenhielt, von seiner Hüfte, um den Gegenstand darin einzuwickeln. Doch als er nach dem Relikt griff, wurde es schlagartig dunkel im ihn herum. Überrascht taumelte Atemu einen Schritt zurück. Ein dichter, schwarzer Nebel, der aus dem Nichts gekommen war, waberte plötzlich um ihn herum. Eine Kälte, die bis in die Knochen drang, breitete sich aus. Bald fiel ihm auf, dass er nichts hörte. Weder seinen eigenen Atem, noch das Scharren seiner Sohlen auf dem Steinboden. Er legte die Stirn in Falten, machte sich auf das Schlimmste gefasst. Da zerriss plötzlich ein Laut das Nichts. Ein Lachen. Ruhig Blut, Götterkind. Dir geschieht nichts. Die Worte wurden nicht gesprochen. Nein, er hörte sie vielmehr in seinen Gedanken. Wie damals, wenn er mit Yugi kommuniziert hatte. Die Stimme klang seltsam, als stamme sie nicht von dieser Welt. Er glaubte, dass sie weiblich war, konnte es jedoch nicht mit Sicherheit sagen. „Wer ist da? Komm‘ raus und zeig‘ dich!“, forderte er schließlich, während er das Relikt fest umklammerte. Die Antwort war zunächst ein Glucksen. Na, na. Wir werden doch in diesem Krieg nicht bereits unsere Manieren verloren haben? Immerhin … Er spürte einen leichten Luftzug. … bin ich eine Göttin! Er fuhr herum, als die Stimme, nun fauchend, mit einem Mal direkt neben ihm zu erklingen schien. Vor ihm, gerade einmal drei Schritte entfernt, stand eine Löwin. Ihr Fell war schwarz wie die Nacht. Die sonnengelben Augen musterten ihn amüsiert, zugleich jedoch auch ernst. Goldschmuck zierte den Körper des unnatürlich großen Tieres, während sich die elfenbeinfarbenen Reißzähne deutlich von der dunklen Umgebung abhoben. Es bestand kein Zweifel. Dies konnte nur eine Wesenheit sein. „Sachmet? Die Gottheit des Krieges?“, sprach er seinen Gedanken schließlich aus. Die Menschen schreiben mir viele Attribute zu. Dies ist nur das verbreitetste. Aber immerhin scheinst du schon einmal zu wissen, wer ich bin, Gotteskind. Dann wirst du beim nächsten Mal vielleicht auch daran denken, dich gebührend zu verhalten. Atemu überlegte nur kurz, ehe er sich auf ein Knie sinken ließ und den Kopf neigte. Es erschien ihm die angebrachteste Geste, hier, in Gegenwart einer Macht, die so vieles in dieser Welt überstieg. „Bitte verzeiht mir mein Verhalten, Sachmet. Ich war angespannt und habe nicht bedacht, was ich sage.“ Daraufhin vernahm er eine Art Schnurren in seinen Gedanken. Es sei dir verziehen. Erhebe dich, König von Ägypten. Wir haben nicht viel Zeit. Es wird mir nicht möglich sein, mehr als einen kurzen Augenblick in dieser Sphäre zu verbringen – zumindest, wenn ich ihr ohnehin bereits geschädigtes Gefüge nicht noch weiter aus dem Gleichgewicht bringen will. Atemu nickte, ehe er aufstand. „Was ist es, das Ihr wünscht?“ Die Göttin musterte ihn einen Moment lang. Ich wollte den, auf dessen Schulter unser aller Zukunft ruht, einmal von nahem sehen. Den toten König, der wiederauferstand. „Das ist alles?“ Sachmet verzog das Maul zu etwas, das an ein Grinsen erinnerte. Nein. Sie schien einen Moment zu überlegen, ehe sie fortfuhr: Wie ich weiß, bist du meinem Hinweis gefolgt. Du hast die Seele der Zeit gefunden. Der Pharao runzelte die Stirn. „Ihr wart es, die mir im Traum gezeigt hat, wonach ich suchen soll?“ In der Tat. Und glaube mir, damit habe ich ebenso riskiert, diese Welt zu schädigen, wie ich es auch jetzt tue, da ich herab gestiegen bin. „Diese Welt zu schädigen? Was hat das zu bedeuten?“ Du hast viele Fragen für solch eine junge Seele, Menschengott. Doch ich werde sie beantworten – denn ich spüre, dass die Menschen zweifeln. Atemu fühlte sich bei den Worten ertappt. Er senkte kurz den Blick, ehe er ihr fest in die Augen sah. "Wir tun so viel und erreichen doch so wenig. Für viele fühlt es sich an, als treten wir auf der Stelle. Als ändere sich nichts, trotz unserer Bemühungen. Tag für Tag sterben mehr und mehr Menschen. Wir verlieren Soldaten, Freunde und Familienmitglieder. Ich denke, dies bedingt die Frage, wo die Götter in diesem Krieg sind." Es ist nicht so einfach, Junge., knurrte Sachmet. Auf seinen fragenden Blick hin fuhr sie fort: Die Götter versiegelten einst einen Teil ihrer Kräfte, um die Welt vor ihnen zu schützen. Doch sie gaben längst nicht all ihre Macht ab. Auch heute vermögen wir noch so vieles. Wir könnten den Himmel brennen, das Meer versiegen und den Wind ersterben lassen. Doch all das hätte verheerende Folgen. All diese Eingriffe in das empfindliche Gefüge der Welt könnten ihr Ende bedeuten. „Aber wie kann es dann sein, dass ihr die Geschicke der Menschen lenkt? Wenn ihr das tut, beeinflusst ihr jedes Mal ein Leben, jedoch ohne irgendwelche Folgen.“ Ganz einfach: Ihr liegt falsch. Wir tun nichts dergleichen. Atemus Augen weiteten sich. „Was? Aber …“ Gewiss, wir vermögen, in eure Geschicke einzugreifen. Doch wir tun es nur selten – so wie jetzt. Und ein jedes Mal riskieren wir unser eigenes Dasein und das der gesamten Welt. Unsere Kräfte sind zu stark, als dass sie sie ertragen könnte. Die Gedanken des Pharao rasten. „Aber … aber wenn eine Schlacht geschlagen wird, wenn ein Kind erkrankt, wenn … wenn irgendetwas geschieht, bei dem über Leben und Tod entschieden werden muss – wer entscheidet, wenn nicht ihr?“ Das Schicksal. Als Atemu nichts sagte, sondern die Göttin nur mit gerunzelter Stirn ansah, führte sie die Worte weiter aus: Das Schicksal ist die stärkste Macht in dieser Welt. Sie steht über allem. Über dem Bauern. Über dem König. Selbst über dem Gott. Sie ist das Gefüge, und gleichzeitig das, was es aufrechterhält. Hin und wieder kommt es darin zu Störungen – beispielsweise wenn ein Wahnsinniger einen Gott ermordet, eine Göttin einem Sterblichen Hinweise gibt oder ihm gar noch erscheint. Nehmen sie überhand, so kann dies das gesamte weltliche Gefüge augenblicklich zum Einsturz bringen. Die Welt würde aufhören zu existieren. "Ihr sagt, dass dies geschehen wird, wenn sie überhand nehmen. Das heißt, die Welt kann ein gewisses Maß an Störungen dulden, doch wenn es zu viele werden, droht sie unterzugehen? Da die Welt noch existiert, ist dieser Fall scheinbar bislang nicht eingetreten." Richtig. Doch die Erschütterungen häufen sich. Ich kann nicht sagen, wie lange es noch dauern wird, bis sie zu zahlreich werden, als dass diese Sphäre sie noch verkraften kann. Diese Störungen müssen ein Ende haben, ehe es zu spät ist. Atemu nickte, sah dabei jedoch zu Boden. "Ich weiß. Wir tun alles, was in unserer Macht steht. Doch es ist alles andere als leicht." Die Göttin verzog das Maul abermals zu einer Art Lächeln. Was glaubst du, warum ich dich die Seele der Zeit finden ließ, Götterkind? Der Pharao studierte sein Gegenüber einen Moment lang forschend. "Um uns zu helfen. Und dafür danke ich Euch." Artig, artig. So ist es brav. Atemu überging den Kommentar. Ihm lagen noch weitere Fragen auf der Zunge, die danach schrien, geäußert zu werden. "Diese Visionen, die ich hatte, als ich die Göttermonster beschwor ... Einmal sah ich einen Falken, ein weiteres Mal den Gott Osiris ..." Ein Zeichen, Menschengott. Ein Zeichen, dass ihr nicht alleine seid. Dass wir an eurer Seite sind, gleich, was geschieht. Auch dann wenn es für euch den Anschein haben mag, als hätten wir euch verlassen - denn das haben wir nie. "Ich verstehe ... Der Regen, der vor kurzem über Ägypten fiel – bedeutete er wirklich den Tod eines Gottes?" Ja und nein. Götter sterben nicht in gleicher Weise, wie ihr es tut. Doch auch das, was mit Sokar geschehen ist, wirkt sich auf die Welt aus, denn es bringt eine Veränderung, eine Erschütterung des Gleichgewichts mit sich. "Daher der Regen." Richtig. "Und meine Freunde ... stießen sie aus der Zukunft zu uns, weil diese Sphäre bereits erschüttert wurde?" Die ersten Menschen nicht. Wir sandten sie euch, um euch Unterstützung zu verschaffen. Die beiden Männer, die vor kurzem hierher gelangten, hingegen, sind durch das inzwischen entstandene Ungleichgewicht zu euch gestoßen. Sachmet sah plötzlich auf, schien etwas an den kahlen Wänden zu fixieren, das nicht da war. Dann wandte sie sich wieder an Atemu: Die Zeit läuft uns davon, Götterkind. Es bleibt noch eines, an das ich dich erinnern will. "Und das wäre?" Kannst du dich des Traumes entsinnen, der dich zu der Seele der Zeit führte? "Sicher. Was ist damit?" Vergiss über den Triumph, eines der ältesten Überbleibsel der Zeit gefunden zu haben, nicht, wie er endete. In dieser Welt lauern noch andere Gefahren außer Caesian. Welche, die ihm vielleicht gar ebenbürtig sind. Abermals sah sich die Göttin um, dann wandte sie sich ab. Es wird Zeit, in deine Spähre zurückzukehren, Götterkind. Der Sonnenaufgang naht. Ehe Atemu auch nur ein weiteres Wort äußern konnte, zog sich der schwarze Nebel zurück. Das göttliche Wesen verschwand mit ihm, als habe es niemals existiert. Was es gesagt hatte, schwirrte dem Pharao noch im Kopf herum, als er zurück in das Wasser stieg und in die Dunkelheit des Tunnels eintauchte, durch den er gekommen war. Nun, nachdem Atemu wusste, was jedes Mal auf dem Spiel stand, wenn sich die Götter einmischten, war ihm klar, weshalb sie Caesians Tyrannei nicht längst ein Ende gesetzt hatten. Und dennoch wünschte er sich, es wäre anders. Seine Gedanken wanderten zurück zu dem Traum. Kuriboh, das von einer schwarzen Kugel verschlungen wurde und entsetzliche Qualen litt, ehe es sich plötzlich veränderte – zu einer Gestalt des Schreckens. Was hatte dieser Teil des Traumes nun zu bedeuten? Kuriboh, ein friedliches Wesen, wurde mit einem Mal von der Dunkelheit befallen und zu einem Monster der Schatten gemacht. Aber wofür genau stand diese Szene? Caesian, der Ägypten nach und nach überrannte? Nein, das wäre zu simpel. Dann kam ihm schlagartig eine Idee. Was, wenn das, was er gesehen hatte, ein Hinweis auf die mysteriöse Ka-Bestie ihres Feindes war? Das Monster hatte die wenigen Male, da Atemu es überhaupt gesehen hatte, regelrecht grotesk gewirkt. Was, wenn ihm etwas zugestoßen war, dass es in die Finsternis gestürtzt hatte? Caesian würden die Auswirkungen mit Sicherheit auch betreffen, da der Ka ein Teil der menschlichen Seele war. Aber wenn es so war, was war es dann, das die Bestie so verändert hatte? Er schob all die Fragen beiseite, als er durch die Wasseroberfläche stieß. Nachdem er sich eilig umgesehen hatte, entdeckte er Kipino am oberen Ende des Hangs, der zum Nil hinabführte. Mit einigen kräftigen Schwimmzügen gelangte Atemu ans Ufer und stieg aus den Fluten. "Majestät!", zischte der Schattentänzer ihm entgegen. "Ein Glück, ich dachte schon, Ihr wärt vielleicht ertrunken!" "Dem ist nicht so, mein Freund. Und ich kehre nicht mit leeren Händen, zurück - wir waren erfolgreich!", erwiderte Atemu mit einem Lächeln, das nun wieder mehr Zuversicht ausstrahlte, als in den letzten Sonnenläufen. Er hob das Ankh des Horus in die Höhe, sodass es der Andere trotz der Entfernung sehen konnte. Kipino kam sofort auf die Beine, einen begeisterten Ausdruck auf seinen Zügen. "Ihr habt es gefunden? Den Göttern sei Dank! Ich hatte schon geglaubt ..." Was dann geschah, vermochte Atemu selbst im Nachhinein nicht richtig zu begreifen. Ein Ruck ging durch den Körper des Schattentänzers, gefolgt von einem kurzen, abgehackten Aufschrei. In seinen Augen stand Furcht geschrieben. Dann sackte Kipino vorne über, während der Pfeil in seinem Rücken noch immer von der Wucht des Einschlags zitterte. Irgendwo in der Ferne gellte Firells Schrei. Atemus Arm sank, beinahe ließen seine Finger das Ankh fallen. Seine Augen weiteten sich entsetzt. "Nein ... Nein!" Binnen Sekunden überwand er die Distanz, die ihn von dem Schattentänzer trennte, und kniete sich neben ihn. Doch es war zu spät. Als er den leblosen Körper aus der Nähe sah, musste er feststellen, dass der Pfeil direkt in Kipinos Herz eingedrungen war. Es gab nichts mehr, das ihm helfen konnte. "Das ... nein ... bitte nicht ..." Vollkommen geschockt, nahm er beinahe nicht wahr, wie sich Gestalten aus dem Grün des Nilufers schälten. Soldaten, einige von ihnen untot, kamen auf ihn zu, ihre Lanzen und Schwerter erhoben. Binnen eines Wimpernschlags hatten sie ihn umzingelt. Sie erkannten, wen sie da vor sich hatten und beschlossen, ihn zu Caesian zu bringen. Doch Atemu hörte ihnen kaum zu. Seine Gedanken rasten, sein Herz hatte sich vor Schmerz zusammengezogen. Er bekam kaum Luft. Nicht noch einer von ihnen. Nicht noch einer, der bereit gewesen war, alles zu geben. All die Soldaten Ägyptens. All die Männer, Frauen und Kinder, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Resham, der sich geopfert hatte. Und nun Kipino ... Dieser Tag hätte trotz der Vertreibung aus der Himmelspforte ein Tag ihres Triumphes werden sollen. Doch nun nicht mehr. Nun würden sie erneut trauern. Wie an so vielen anderen Tagen in der letzten Zeit. Bring mir den da bloß heil wieder zurück, hast du verstanden? Der ist nur geliehen, nicht geschenkt! Samiras Worte ... Es war genug. Und dennoch litten sie immer weiter, Sonnenlauf für Sonnenlauf. Es war genug ... Und dennoch starben sie, Ägypter wie Schattentänzer, einer nach dem anderen. Es war längst genug! Und dennoch waren sie dazu verdammt, Niederlage um Niederlage, Verlust um Verlust zu bewältigen ... "Es ist genug!", schrie Atemu in die Nacht hinaus, als er spürte, wie die Kräfte in seinem Inneren förmlich explodierten. Wie sich Obelisk der Peiniger materialisierte und die feindlichen Soldaten auslöschte, bekam er kaum mit. Seine Augen waren auf etwas fixiert, das nur er sehen konnte. Ein gewaltiger schwarzer Falke, geschmückt mit Gold, dessen stechende, sonnengelbe Augen in schmerzerfüllt ansahen. Ich weiß, mein Sohn. Ich weiß ... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)