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Stolen Dreams Ⅶ

von

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1. Kapitel

Luca hatte schon früh gelernt, dass Monster nicht unter seinem Bett oder in seinem Schrank hausten, sondern sich in einer Hülle aus Fleisch und Blut versteckten und unter den Menschen lebten, als wären sie einer von ihnen. Eigentlich steckte in jedem Menschen ein Monster, aber nur die wenigsten ließen es so stark zum Vorschein kommen, dass sie anderen Leuten dabei massiv schadeten.

Lucas Mutter war eine hübsche junge Frau, die ihr Leben selbst in die Hand nehmen wollte. Nur wenige Tage nachdem sie volljährig geworden war, schnappte sie sich einen dicken Batzen Kohle ihrer Eltern und riss von zu Hause aus. Ihr Plan war es, zu studieren, einen attraktiven Mann zu finden und mit ihm eine Familie zu gründen, aber daraus wurde nichts. Das Geld wurde restlos für Drogen ausgegeben und der Kerl, mit dem sie in der Kiste landete, war Marius, ein Krimineller, der sich nach der gemeinsamen Nacht aus dem Staub machte und zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, dass er die Frau verlassen hatte, die sein einziges Kind zur Welt bringen würde.

Als Lucas Mutter herausfand, dass sie schwanger war, hätte sie sich den Embryo vor Wut am liebsten aus dem Leib gerissen, aber das war bloß eine Vorstellung, was sie auch blieb.
 

Die ersten Jahre von Lucas Leben verliefen mehr oder weniger normal, wenn man davon absah, dass Mom sich immer mehr ihren Drogen hingab und auch anfing, ihre Sorgen und zerplatzten Träume in Alkohol zu ertränken. Luca hatte sie mal dabei beobachtet und bemerkt, dass sie nicht aus der Flasche trank, sondern die Flasche aus ihr. Sie nahm ihren Lebenswillen und ihre Hoffnung in sich auf und sorgte dafür, dass diese Dinge sich in Luft auflösten.

Irgendwann wurde es so schlimm, dass Mom ihren Frust an Luca ausließ. Sie schlug und trat ihn, bis sie ihn eines Tages ins Krankenhaus fahren musste, weil er sonst gestorben wäre. Die Ärzte dort konnten an Lucas Wunden feststellen, dass er nicht die Treppe hinuntergefallen war, was seine Mutter behauptet hatte, und informierten das Jugendamt, das sich umgehend um den Jungen, der noch zur Grundschule ging, kümmerte und ihn zu einer Pflegefamilie gab, mit der Luca nicht viel anfangen konnte. Er zeigte ungewöhnlich aggressives Verhalten, verweigerte jegliche Hilfe – insbesondere die von Psychotherapeuten – und schloss sich einer Gang in seiner weiterführenden Schule an, mit der er gemeinsam klaute, rauchte und andere Dinge tat, auf die kein Elternteil auch nur im Entferntesten stolz gewesen wäre.
 

Wie ein Wanderpokal wurde Luca von einer Familie zur nächsten gereicht, weil sein Verhalten es sehr problematisch machte, seine Anwesenheit zu ertragen. Der Junge hatte schon immer das Gefühl gehabt, von niemanden geliebt oder gebraucht zu werden, was sich durch den ständigen Wechsel seiner Pflegefamilien noch verstärkte. Wie seine Mutter ließ er seinen Zorn an Schwächeren und besonders an den Schülern in den Klassen unter ihm aus, nahm Drogen und fand seine Liebe zu Alkohol. Er wollte um jeden Preis vermeiden, wie seine Erzeugerin zu werden, die mittlerweile an einer Überdosis Heroin gestorben war, aber wie alle anderen Dinge, die er sich vornahm, wollte ihm das nicht gelingen. Immer tiefer versank er in dem Strudel aus Wut, Trauer und Verzweiflung, bis er sein Leben schließlich aufgab. Wieso sollte er sich in der Schule Mühe geben, wenn er seinen Abschluss trotzdem nicht schaffen würde? Wieso sollte er nett zu anderen Leuten sein, wenn ihn alle Menschen in seiner Umgebung wie Scheiße behandelten? Wieso sollte er versuchen, einen Sinn in seinem Leben zu finden, wenn er doch sowieso früher oder später sterben würde?
 

Es dauerte nicht lange, bis Luca seinen Selbstmord plante. Er war inzwischen 16 Jahre alt und überlegte noch, auf welche Art und Weise er sterben wollte, als plötzlich mehrere teuer aussehende Autos vor seinem Haus parkten. Die Männer nahmen ihn mit und brachten ihn zu einer Villa, in der eine Person wohnte, die in Lucas Leben eine wichtige Rolle spielen sollte.

Sein Vater.

„Ja, natürlich sind Sie mein Vater. Und wissen Sie, wer ich bin? Der verfickte Weihnachtsmann!“

Natürlich glaubte er Marius kein Wort, aber nachdem dieser ihn zu einem Vaterschaftstest überredete, legten sich Lucas Zweifel und als er herausfand, dass Marius ein Mafioso war, taten sich ihm ganz neue Möglichkeiten auf.

Er war bei einem mächtigen und reichen Mann, der ihm jeglichen Wunsch erfüllen und bei fast jedem Problem helfen könnte – was wollte man mehr?

Es ging bergauf, wenn auch nur für ein knappes Jahr. Luca schaffte es, sich seinen Drogen- und Alkoholproblemen zu stellen und seinen Lebenswillen wiederzufinden, doch dann lernte er Chiara kennen.
 

Chiara war die schönste junge Frau, die Luca je gesehen hatte. Mit ihren blonden Haaren und blauen Augen sah sie wie ein Engel aus und dass sie ein paar Jahre älter als Luca war, störte ihn nicht groß. Sie lachte über seine Witze, schenkte ihm ihre Aufmerksamkeit und gab ihm die Liebe, nach der er sich schon so lange gesehnt hatte.

Zu blöd nur, dass diese Zuneigung ein Angelhaken war.

Kaum hatte Chiara es geschafft, Luca emotional von sich abhängig zu machen, veränderte sie sich. Ihre Komplimente wurden zu Beschwerden, ihr Haus wurde zu einem Gefängnis, ihre Versprechen zu Lügen und die traumhafte Romanze zu einer albtraumhaften Qual. Sie schickte ihn durch die Hölle und er nannte das Liebe, was er jedoch erst verstand, als es schon viel zu spät war.

Chiara hatte ihn kaputt gemacht. Mithilfe von Isolation, Gewalt und Manipulation hatte sie dafür gesorgt, dass er sich wertlos und schuldig fühlte. Er dachte, dass das bloß eine Phase war und sie wieder zu der Chiara werden würde, die er kennengelernt hatte, aber er erkannte nicht, dass es diese Chiara nicht gab. Sie war nicht plötzlich zu einem Monster geworden, sondern die ganze Zeit eines gewesen. Alles, was sich verändert hatte, war bloß ihre Gestalt und ihr Menschenkostüm, von dem sie jeden Tag ein Stück abgelegt hatte.
 

Luca wusste, dass Chiara ihm schadete, aber er konnte sie nicht loslassen, weil er sie liebte und daran glaubte, dass sie ein guter Mensch sein konnte, wenn sie nur wollte. Er war so sehr damit beschäftigt, sie zu retten, dass er gar nicht realisierte, dass er derjenige war, den es zu retten galt.

Sie entschuldigte sich kein einziges Mal dafür, dass sie ihn wie den letzten Dreck behandelte, aber er entschuldigte sich unendlich oft, deswegen wütend gewesen zu sein. Immer, wenn es ein Problem gab, war er schuld und wenn nicht, dann war es trotzdem so. Es ging steil bergab, was Luca aber nicht sehen wollte.

Eines Tages wird es besser werden, sagte er sich selbst, völlig unwissend, dass es diesen Tag nicht geben würde, solange er sich an Chiaras Seite befand. Sie hatte auch angefangen, ihn zu schlagen, und Luca hatte zurückgeschlagen, aber nur ein einziges Mal, denn bei ihm war es Gewalt, während es bei ihr bloß eine Reaktion auf sein Verhalten war. Alles blieb beim Alten – Luca war schuld, selbst wenn er es nicht war. Chiara verletzte ihn und tat anschließend so, als wäre sie diejenige, die leiden würde.
 

Irgendwann entschied er, dass er genug von seinem Leben hatte, das nur Scheiße für ihn bereithielt. Mittlerweile war er 23 Jahre alt und mehr oder weniger in die Geschäfte seines Vaters intrigiert, von denen er Chiara ferngehalten hatte, um sowohl sie als auch Marius und dessen Familie zu schützen. Auch wenn der Gedanke, ein Leben als reicher und mächtiger Mafioso zu führen, in Lucas Augen etwas Reizvolles hatte, fühlte er sich nicht in der Lage, diesen ''Job'' auszuüben. Chiara hatte ihm so oft eingeredet, dass er nutzloser, dummer, hässlicher, fetter und wertloser Abschaum war, dass er es nach gewisser Zeit geglaubt hatte und nun nicht mehr davon loskam. Was hatte er in seinem Leben auch schon Großartiges erreicht? Er war seine Sucht losgeworden... na super. Und er hatte glänzende Aussichten auf ein Leben als Verbrecher... auch nichts, auf das man stolz sein könnte.

Luca war sich sicher – er hatte genug. Nur einen einzigen weiteren Tag seines beschissenen Lebens ertragen zu müssen, würde reichen, um ihn in den Wahnsinn zu treiben.

„Zerstöre das, was dich zerstört“, hatte Marius mal gesagt und das tat Luca jetzt auch. Er zerstörte sich selbst.
 

~*~
 

Fabian hätte niemals gedacht, dass eine simple Begrüßung so viel Angst in ihm auslösen könnte, aber es stimmte. „Hi“, hatte seine Freundin Clara gesagt – und er hatte beinahe eine Panikattacke bekommen.

Wie ein Kaninchen verharrte er in einer Schockstarre und bewegte sich keinen einzigen Zentimeter. Dass ihm sein Mathebuch aus der Hand fiel, nahm er nur entfernt am Rande wahr.

„Ich will dich bloß fragen“, murmelte Clara schüchtern, „ob wir uns vielleicht mal treffen können, um ein paar Dinge zu besprechen.“

Fabian fühlte sich, als hätte er ein Ei im Mund, das, sobald er seine Lippen voneinander trennte, sofort herausfallen, explodieren und die halbe Welt zerstören würde.

„Also... nur falls du willst, natürlich. Denn ich finde, wir sollten unserer Beziehung eine zweite Chance geben.“

„I-ich... entschuldige mich kurz.“

Kaum hatte Fabian das gesagt, drehte er sich um, verschwand hinter der Ecke, rannte den Gang entlang, ignorierte die wütende Lehrerin, die ihm nachrief, dass das Laufen auf den Fluren ausdrücklich verboten war, und sprintete zur Jungentoilette, wo er sich in eine Kabine stürzte und sein Frühstück hochwürgte.
 

Nachdem er beim Erbrechen fast an seiner eigenen Kotze erstickt war, lehnte er sich ängstlich keuchend gegen die Wand und spürte, wie ihm die Tränen über das Gesicht liefen und sich kalter Angstschweiß auf seiner Stirn bildete.

Plötzlich war alles wieder da. Von einem Moment auf den anderen befand sich Fabian nicht mehr auf der stinkenden Toilette, sondern in seinem Zimmer. Clara war bei ihm, sie küsste ihn und ließ ihre Hände wie die Fühler eines Insektes über seinen Körper gleiten.

„Hör auf“, sagte er und lachte nervös, aber sie tat seine Worte als einen Scherz ab.

„Du bist so niedlich, wenn du dich zierst“, kicherte sie und machte einfach weiter.

Fabian bemerkte, dass er zu zittern begann. Er hatte das Gefühl, zahlreiche Würmer und Maden würden auf seinem Körper herumkrabbeln, in seine Haut eindringen und sich durch sein Fleisch fressen. Es war widerlich, doch er war zu geschockt, um irgendetwas dagegen zu unternehmen.

„Nein, Clara... das reicht jetzt.“

Sie lachte bloß und blickte mit ihren großen Augen, die Fabian an Facettenaugen erinnerten, auf ihren Freund herab, der wie aus einem Reflex heraus reagierte – und Clara ins Gesicht schlug. Er wusste, dass man Frauen nicht schlagen sollte, und war alles andere als stolz auf sich, aber--
 

Das Läuten der Glocke beförderte Fabian in die reale Welt zurück. Er brauchte ein paar Sekunden, um sich zu fassen, ehe er sein Frühstück, das in Form einer unappetitlichen Masse in der Toilette schwamm, in die Kanalisation spülte und langsam zurück zu seinen Spind ging.

Weil der Unterricht bereits begonnen hatte, waren die Gänge so gut wie leer. Außer Fabian, der immer noch am ganzen Körper zitterte und leichenblass im Gesicht war, und dem Hausmeister, der Selbstgespräche führte und sich wütend grummelnd über den Müll auf den Fluren beschwerte, war weit und breit kein einziger Mensch zu sehen.

Nachdem Fabian sich an dem fluchenden Hausmeister vorbeigeschlichen und seine Sachen in seinen Spind geräumt hatte, warf er sich seine Tasche über die Schulter und beschloss spontan, dass er heute nicht zum Unterricht gehen würde. Sollte ihn irgendjemand davon abhalten wollen, das Schulgebäude zu verlassen, würde er diese Person zur Jungentoilette schicken, wo auf einer der Klobrillen noch einige Überreste von Fabians Frühstück zu finden waren.

Er wanderte in aller Seelenruhe über den Schulhof, stieg in den nächstbesten Bus und hoffte, dass heute keine Kontrolleure anwesend waren, weil er keine Fahrkarte besaß.
 

Eigentlich hatte Fabian nach Hause gewollt, aber im Grunde war es da genauso beschissen wie in der Schule. Nicht weil er sich in seinen eigenen vier Wänden nicht sicher fühlte oder weil er seine Familie nicht mochte, was übrigens nicht der Fall war, sondern weil ihn niemand verstehen konnte.

Wäre ich ein Mädchen und Clara ein Junge, gäbe es kein Problem. Ich würde meinen Eltern von der Sache erzählen, woraufhin Mom mich trösten und Dad die Polizei rufen würde. Es gäbe einen großen Aufstand und Clara würde ihre gerechte Strafe erhalten, denn schließlich hat sie mich sexuell missbraucht.

Aber... so etwas passiert doch nur Mädchen. Ich habe das Internet nach Personen abgesucht, die ähnliche Probleme wie ich haben, und nur weibliche Opfer gefunden. Ein paar Männer waren auch dabei, aber einige waren offensichtlich bloß ein Troll und andere bekamen den Rat, ihrer Freundin einzuprügeln, wer der Boss der Beziehung sei, was unmöglich die Lösung des Problems sein kann.

Seufzend sah Fabian auf den Fahrplan, der im Bus hing, und dachte darüber nach, wo er aussteigen sollte. Andere Schüler wären an seiner Stelle sicherlich nach Hause oder ins Kino gefahren, aber dahin Fabian wollte nicht. Er wollte bloß verschwinden und nie wiederkommen.

2. Kapitel

„Fabian, was sind denn das für Noten?! Schau dir das an, 'ne Vier in Mathe! Wie kann man denn eine Vier in Mathe haben?! Ich dachte, Naturwissenschaften liegen dir?!“

„...“

„Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?! Ich will eine verdammte Antwort von dir haben!“

„...“

„ANTWORTE MIR!“, schrie Dad so laut, dass ihm der Speichel aus dem Mund tropfte. Fabian brachte sich unauffällig in Sicherheit, indem er einige Schritte nach hinten ging, und ließ Dads Geschrei schweigend über sich ergehen.

„Fabian, was ist los mit dir?“, fragte Mom, die zwar auch nicht sonderlich erfreut über das Ergebnis der letzten Matheklausur war, aber mehr Sorge als Wut verspürte. „Schon seit Wochen redest du nicht mehr. Was ist passiert?“

Fabian zuckte mit den Schultern und wartete verzweifelt auf die nächstbeste Gelegenheit, sich in sein Zimmer zurückzuziehen. Er war müde, genervt und schlecht gelaunt.

„Junger Mann, du antwortest uns jetzt“, zischte Dad gereizt. „Rede mit uns!“

Angesprochener schüttelte den Kopf. Er wollte nicht reden, sondern bloß seine Ruhe haben.
 

„Wenn du uns nicht sagst, was das Problem ist, können wir dir auch nicht helfen! Selbst schuld!“

Selbst schuld...

„Kann es sein, dass du das nur machst, weil du Aufmerksamkeit brauchst? Das ist wirklich bescheuert, Fabian!“

Bescheuert...

„Denkst du, dass das cool oder niedlich ist? Vertrau mir, junger Mann, dein Schweigegelübde – oder was auch immer das sein soll – wirkt einfach nur unterbelichtet! Jemand, der nichts sagt, schweigt, weil er dumm ist!“

Unterbelichtet... dumm...

„Ich habe keine Zeit für diesen Blödsinn! Wenn du nicht mit uns reden willst, ist das dein Problem!“

Blödsinn..., echote es in Fabians Kopf. Er spürte, wie seine blauen Augen feucht wurden, und versuchte, sie wieder trocken zu blinzeln, was ihm jedoch nicht gelang.

Nein! Ich darf nicht vor ihnen weinen! Schnell, denk an etwas Anderes, sonst--!
 

Bevor er es verhindern konnte, liefen ihm die Tränen über die Wangen. Er vergrub das Gesicht in seinen Händen, aber es war zu spät. Dad hatte es bereits gesehen.

„Geh auf dein Zimmer“, raunte er, ehe er sich von Fabian abwandte und zu Mom ging, die ihren Sohn sprachlos anstarrte.

Der Junge nickte und verschwand aus dem Blickfeld seines Vaters, der die Meinung vertrat, dass weinen eine Frauensache war. Männer weinten nicht; das war unmännlich und ein Zeichen von Schwäche.

Kaum war Fabian in seinem Zimmer verschwunden, schloss er die Tür hinter sich ab und ließ seinen Tränen freien Lauf. Eine verhauene Klausur war eigentlich kein Weltuntergang, aber in seinem Fall der eine Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Hör auf, dich selbst zu bemitleiden, sagte er sich. Es gibt Menschen, die es viel schlimmer als du haben.

Er wollte seine Wut, Trauer und Enttäuschung unterdrücken, aber das machte es nur noch schlimmer. Um sich abzulenken, las er ein Buch, aber völlig egal, wie oft er seinen Blick über das bedruckte Papier schweifen ließ, er konnte sich einfach nicht konzentrieren.
 

Schließlich kam es so, wie es kommen musste. Fabian legte das Buch zur Seite, ehe er ausholte – und sich selbst gegen den Kopf schlug. Sein rationales Denken unterdrückend, das ihn daran hindern wollte, hieb er so lange auf seine Schläfe ein, bis ihm der Schädel brummte. Es tat weh, aber diese Schmerzen fühlten sich auf irgendeine Art und Weise befriedigend an. Fast schon als hätte er sie verdient...

Fabian gönnte seinem armen Kopf eine Pause, doch stattdessen fing er nun an, sich die Haut an den Unterarmen aufzukratzen. Zuerst zeigte sein Körper keine Reaktion, aber dann lösten sich kleine Hautpartien in Form winziger Schnüre von seinen Armen. Sie rieselten zu Boden, während Fabian mit dem Kratzen fortfuhr und bemerkte, dass seine Haut an den Stellen ein wenig feucht wurde, ehe sie zu bluten begann. Der Schmerz kam erst danach; es war ein lästiges Brennen, das sich so anfühlte, als hätte man Sand in eine offene Wunde gestreut.

Du bist selbst schuld, flüsterte Dads Stimme in Fabians Kopf. Ich habe keine Zeit für diesen bescheuerten, unterbelichteten und dummen Blödsinn. Wenn du nicht darüber reden willst, musst du alleine mit deinen Problemen klarkommen.
 

„Ich möchte doch darüber reden“, wisperte Fabian so leise, dass er sich selbst kaum verstehen konnte. „Aber ihr werden mir nicht glauben. ''Wie kann ein Mädchen denn einen Jungen vergewaltigen?'', werdet ihr fragen und würde euch darauf keine zufriedenstellende Antwort geben können... ich weiß es nicht. Sie hat mich an Stellen berührt, an denen ich weder von ihr noch von sonst irgendjemanden angefasst werden will.“

Fabian setzte sich an seinen Schreibtisch und tat fast eine ganze Stunde lang nichts anderes außer mit tränenden Augen aus dem Fenster zu starren. Draußen gewitterte es, der Regen trommelte gegen die Fensterscheibe und gelegentlich zuckte ein Blitz über den dunkelgrauen Himmel, der Fabians Stimmung ziemlich gut widerspiegelte. Der Junge fühlte sich betrübt und unbeliebt – so viele Menschen würden sich freuen, wenn er sich verziehen und das schlechte Wetter gleich mitnehmen würde. Insbesondere Mom und Dad, die nicht wussten, was mit ihrem Sohn los war, und sich für seine schlechten Noten schämten.

Langsam erhob sich Fabian von seinem Stuhl und ließ sich stattdessen auf seinem Bett nieder. Am liebsten würde er einschlafen und nie wieder aufwachen, aber er wusste, dass sich Letzteres leider nicht vermeiden ließ. In wenigen Stunden würde man ihn zum Abendessen wecken und dann machte sein miserables Leben dort weiter, wo es aufgehört hatte.
 

Fabian hatte gehofft, dass ihn seine Sorgen wenigstens in Ruhe lassen würden, wenn er schlief, aber sie verfolgten ihn sogar bis in seine Träume und sorgten dafür, dass er ein weiteres Mal erleben musste, wie Clara... diese unaussprechlichen Dinge mit ihm tat. Wie ihre spitzen Fingernägel über seine Haut kratzten, sie mit ihren vor Gier triefenden Augen auf ihn nieder sah und sich die mit Lippenstift beschmierten Lippen leckte. Es war, als wäre alles, was Fabian dazu bewegt hatte, Clara zu seiner offiziellen Freundin zu machen, mit einem einzigen Schlag ihrer geschminkten Wimpern verschwunden. Mittlerweile war sie wieder ganz die Alte, aber Fabian musste ihr nur in das Gesicht sehen, um daran erinnert zu werden, wie sie auf ihm saß, seine Worte als Scherz abtat und einfach weitermachte, obwohl er sie mehrfach darum bat, mit ihrer Handlung aufzuhören. Weil ihm nichts anderes übrig geblieben war, hatte er sie geschlagen, worauf er nicht sonderlich stolz war. Und zu allem Überfluss hatte sie ihm auch noch verziehen, was bedeutete, dass er sie nicht als abgeschlossenes Thema betrachten konnte, sondern immer noch mit ihr rechnen musste.

Müde stieg Fabian aus seinem Bett. Er ließ das Abendessen ausfallen, weil er keinen Hunger hatte, und nahm eine Dusche, um sich abzulenken, was jedoch nicht funktionierte. Als die Wunden, die der Junge sich mit seinen Fingernägeln zugefügt hatte, mit dem Wasser in Berührung kamen, brannten sie wie Feuer. Fabian hätte schreien können und das nicht nur wegen dem körperlichen Schmerz.
 

Nachdem er mit dem Duschen fertig war, trocknete er sich vorsichtig ab und klatschte lieblos ein paar Pflaster auf seine Verletzungen. Anschließend wollte er das Badezimmer verlassen, warf dabei versehentlich einen Blick in den Spiegel und stellte erschrocken fest, wie hässlich er mal wieder aussah. Nicht abgrundtief hässlich, aber seine Nase könnte ruhig etwas kleiner sein, seine Augen ein wenig größer und der Rest seines Gesichtes ein bisschen schöner. Außerdem besaß er diese blöden braunen Locken, die er allzu gerne gegen glatte Haare eingetauscht hätte. Auch seine Augen gefielen ihm nicht; dieses Blau wirkte so auffällig und arrogant, Fabian besäße lieber eine dunkle Augenfarbe.

Um sein scheußliches Aussehen nicht länger ertragen zu müssen, schaltete Fabian das Licht aus und verließ das Badezimmer. Er verkroch sich in sein Zimmer, hörte Musik und las Bücher, um sich irgendwie von seinen Problemen abzulenken. Es gab Menschen, die sich ihren Ängsten und Sorgen tapfer stellten, aber so ein Mensch war Fabian nicht. Er war kein Kämpfer, sondern ein Feigling, der vor seinen Problemen davonrannte und sich von ihnen zu Tode hetzen ließ.
 

In den folgenden Wochen passierte nichts Außergewöhnliches. Fabian wurde von seinen Lehrern gefragt, warum er seine mündliche Beteiligung schleifen ließ, und von seinen Eltern dazu gedrängt, darüber zu reden, warum er so wenig sprach.

„Weiß nicht“, sagte er, als er dem Druck nicht mehr standhalten konnte. „Ich... fühle mich einfach nicht gut.“

„Aber das ist doch kein Grund, so einen Aufstand zu machen“, erwiderte Mom. „Jeder hat mal einen schlechten Tag. Ich auch und trotzdem fange ich nicht an, mich so komisch wie du zu verhalten.“

Darauf wusste Fabian keine Antwort, außer dass er sich für einen kurzen Moment wünschte, jemand würde Mom vergewaltigen, damit sie am eigenen Leib erfuhr, wie es war, wenn man... Nein, das wäre nicht das Gleiche. Mom ist eine Frau; wenn jemand sie missbraucht, wird es eine Anzeige samt Gericht und Verurteilung geben. Und sollte der Fall eintreten, dass man sie nicht ernst nimmt, müsste sie nur etwas davon in den sozialen Netzwerken berichten und schon hätte sie mehrere tausend Menschen hinter sich stehen. Ich sage nicht, dass das schlecht ist – ganz im Gegenteil – aber ich wäre froh, wenn es so etwas auch für Jungs gäbe, die von Mädchen missbraucht worden sind.
 

Fabian fühlte sich, als wäre er in einem Teufelskreis gefangen. Ihm widerfuhr etwas Schlechtes, was total bedeutungslos sein konnte, aber ihn trotzdem über den Rand schubste, woraufhin er sich selbst Schmerzen zufügte, um wieder unter Kontrolle zu kommen. Anschließend tat er so, als wäre alles in Ordnung, und ertrug die seelischen Qualen so lange, bis das Fass wieder überlief und er sich erneut verletzen musste. Langsam, aber sicher rutschte er diese Spirale hinunter und verlor immer mehr Hoffnung. Einmal hatte er seine Eltern darum gebeten, für ihn einen Termin beim Psychotherapeuten zu machen, aber Dad hatte sich geweigert, weil Männer und insbesondere sein Sohn so etwas nicht nötig hätten. Der Mann war das starke Geschlecht und er benötigte von nichts und niemanden Hilfe; erst recht nicht, was psychische Krankheiten betraf, denn Krankheiten waren Schwäche und Schwäche war eine Frauensache. Auch Mitleid, Verständnis und Hilfe waren Dinge, die nur Frauen zustanden.

Manchmal frage ich mich echt, wie Dad das aushält. Ständig spielt er den Macho und geht seinen Weg, ohne hinzufallen oder auch nur zu stolpern. Ich wäre auch gerne so stark und mutig wie er, aber ich bin bloß ein erbärmliches Sensibelchen, das den Charakter von Dads Frauenbild besitzt.
 

Fabian seufzte. Nicht nur seine Persönlichkeit, sondern auch sein Körper war schwach und uninteressant. Zwar war er einigermaßen sportlich, aber mit einer Größe von 1,69 nicht wirklich groß und so breit und stämmig wie Dad war er erst recht nicht.

Warum kann Clara nicht die ganzen Makel bei mir sehen, die ich sehe? Dann wäre ich wenigstens eines meiner Probleme los, hoffte er, aber Clara weigerte sich, von ihm abzulassen. Tag und Nacht schickte sie ihm Nachrichten, fragte ihn in der Schule, warum er ihr nicht antwortete, und wunderte sich, dass er ihr aus dem Weg ging. Fabian war mittlerweile bereits so verzweifelt, dass er sich in den Pausen auf der Jungentoilette einsperrte und immer einige Minuten zu spät zum Unterricht kam, damit Clara ja keine Gelegenheit hatte, mit ihm zu sprechen. Natürlich litten auch Fabians Noten darunter, aber das war ihm egal. Sein Zeugnis war ohnehin nicht mehr zu retten, Nachhilfe brachte nichts, weil Fabian sich weigerte und nicht konzentrieren konnte, und obwohl es noch niemand ausgesprochen hatte, stand bereits fest, dass er das Schuljahr wiederholen würde.
 

Außerdem hatte Fabian mit dem Schwänzen angefangen. Er ging nur noch sehr unregelmäßig zur Schule, verbrachte mehrere Stunden im Kino, auf einem Spielplatz oder an sonstigen Orten – einmal hatte er sich sogar in einem Pferdestall herumgetrieben, der den Eltern von seinem Klassenkamerad Kim gehörte – und wunderte sich nicht, als er eines Tages mit einem Lehrergespräch konfrontiert wurde.

Während Frau Kammer über seine unzähligen Fehlstunden sprach, Dad wütend seinen Sohn beschimpfte und Mom fassungslos zusah, blieb Fabian stumm. Er sagte nichts – wozu auch? Sie würden ihm sowieso nicht zuhören und wenn doch, dann würden sie ihm nicht glauben, und wenn doch, dann würden sie das gar nicht machen, sondern nur so tun, und wenn doch, dann wäre es ihnen egal und wenn nicht – dann wüsste Fabian, dass er träumen würde. Denn er war ein Junge und Jungs wurden nicht vergewaltigt; so etwas passierte nur Mädchen.

Der 16-Jährige hoffte, dass sein Leben irgendwann wieder bergauf gehen würde und er in der Lage wäre, das Licht am Ende des dunklen Tunnels zu sehen, doch es wurde nicht besser. Alles blieb beim Alten, die Lehrer beschwerten sich, Mom und Dad waren ratlos, Clara nervte und mittlerweile wünschte sich Fabian, dass jenes Licht am Ende des Tunnels nicht der Ausgang, sondern ein Zug war, der ihn von dieser Qual erlösen würde.

3. Kapitel

Jedes Mal, wenn Antonia das Haus ihres Bosses und guten Freundes Marius betrat, hatte sie die Befürchtung, Marius' Sohn Luca tot oder blutend im Badezimmer liegend vorzufinden. Der junge Mann hatte vor fast zwei Wochen versucht, sich das Leben zu nehmen, und stand nun unter Beobachtung, weil jeder mit der Angst lebte, er könnte einen zweiten Versuch wagen und es diesmal wirklich schaffen.

„Guten Morgen, Luca“, sagte Antonia und betrat sein Zimmer, das genau wie Luca selbst eine deprimierende Ausstrahlung besaß. Die Jalousien waren zugezogen, sodass kaum Licht in den Raum fiel, auf den Büchern und dem Laptop lag eine hauchdünne Staubschicht und alles war so aufgeräumt worden, dass es den Eindruck erweckte, Luca wollte ausziehen.

„Luca? Hey, bist du wach?“, fügte Antonia hinzu, als von dem jungen Italiener keine Reaktion kam. „Frühstück ist fertig.“

„Schön für das Frühstück“, erwiderte eine mürrisch klingenden Stimme.

„Komm schon, Luca, steh auf. Du kannst nicht den ganzen Tag im Bett verbringen.“

Angesprochener knurrte etwas Unverständliches, ehe er sich aufrecht hinsetze und langsam aus dem Bett quälte.
 

Obwohl Antonia ihn schon unzählige Male gesehen hatte, war sein Anblick jedes Mal ein Schock für sie. Lucas Körper war durchschnittlich groß, aber abgemagert und äußerst knochig. Seine blasse Haut besaß im Schatten einen ungesund aussehenden Grauton, seine Hände und Füße waren so sehnig wie die einer Leiche und seine Unterarme und Oberschenkel waren mit Narben, Kratzern und Schnitten übersät, die der junge Mann sich selbst zugefügt hatte.

„Hast du irgendwelche neuen Verletzungen?“, fragte Antonia, wofür sie einen bösen Blick erntete. „Tut mir ja leid, aber ich muss dich das fragen. Dein Vater verlangt das von mir.“

„Dann solltest du vielleicht aufhören, dich wie seine Hure zu verhalten und... sorry, ich habe schlechte Laune.“

„Schon gut, ich weiß, dass du es nicht so gemeint hast. Also, kommst du dann gleich zum Frühstück?“

„Wenn's unbedingt sein muss.“

Auf seinen flechsigen Beinen ging Luca zu seinem Schrank, aus dem er ein graues T-Shirt und eine dunkle Jeans herausholte. Anschließend folgte er Antonia ins Esszimmer, das im Vergleich zu seinem Raum stark beleuchtet war, setzte sich an den Tisch und starrte ausdruckslos den Kaffee an.
 

„Guten Appetit“, sagte Antonia, aber das schien Lucas Motivation, etwas zu essen, nicht zu steigern. Seine bernsteinfarbenen Augen lösten sich von der Kanne und sahen stattdessen Antonia an, die Luca gegenübersaß.

„Das Essen wird nicht von alleine in deinen Magen fliegen“, sagte sie lächelnd. „Na los, iss etwas.“

„Ich habe aber keinen Hunger.“

„Das ist mir egal. Marius hat gesagt, dass du auf jeden Fall etwas essen sollst, weil du fast von den Knochen fällst.“

„Na und?“

„Ist das etwa deine neue Methode, dich umzubringen, oder was soll das werden?“

„Ich bitte dich, man braucht viel zu lange, um zu verhungern. Bis ich abgekratzt bin, habt ihr schon längst etwas dagegen unternommen. Verdursten geht viel schneller.“

„Gut, dann trinkst du bitte etwas.“

Luca verdrehte genervt die Augen, ehe er sich Kaffee einschüttete, an der Tasse nippte und Antonia genervt ansah.

„Das Zeug ist nur lauwarm.“

„Ja. Weil du dich letzte Woche absichtlich damit verbrüht hast.“
 

Luca seufzte und stellte die Tasse auf dem Tisch ab. Mit seinen langen schmalen Fingern raufte er sich das schwarze Haar und starrte sein Gegenüber so hasserfüllt an, als wünschte er sich, dass Antonia vor seinen honigfarbenen Augen das Zeitliche segnen würde.

„Nein, Luca, ich werde mich nicht in Luft auflösen. Das kannst du so viel hoffen, wie du willst, das wird nicht passieren“, sagte sie gelassen. „Wie dem auch sei, würdest du jetzt bitte etwas essen? Dein Kaffee wird kalt... oder noch kälter als er ohnehin schon ist.“

„Ich habe keinen Hunger.“

„Das ist mir egal.“

„Mir ist schlecht.“

„Das Symptom kam aber 'n bisschen plötzlich, findest du nicht auch?“

„Ich meine das ernst; ich will nichts essen.“

„Und ich meine das auch ernst; dein Vater wird mich umbringen, wenn er wieder nach Hause kommt und sieht, dass du kurz vorm Verhungern bist.“

„Ich glaube eher, dass er dir einen Geschenkkorb überreichen würde.“
 

Antonia seufzte.

„Geht das jetzt schon wieder los? Zum letzten Mal, Luca, dein Vater hasst dich nicht und ist auch nicht enttäuscht von dir.“

„Du hast doch keine Ahnung... ich soll später die Familie übernehmen, aber wie soll ich mich um eine Gruppe von Menschen kümmern, wenn ich mich nicht einmal um mich selbst kümmern kann?“

„Das hat doch noch Zeit.“

„Außerdem bin ich ein Schwächling, der sich lieber das Leben nehmen würde, anstatt seine Probleme zu beseitigen, und jeder weiß das.“

„Du bist kein Schwächling, Luca. Wir kennen deine Geschichte und wissen, dass du es nicht einfach hattest.“

„Ach ja? Und warum ist Dad dann alleine nach Russland gereist? Weil er sich nicht traut, seinen inkompetenten und nutzlosen Sohn mitzunehmen?“

„Das habe ich dir schon hundertmal erklärt, aber ich kann es dir auch ein weiteres Mal erklären. Marius hat dich zurückgelassen, weil er sich um dich und deine mentale Gesundheit sorgt.“
 

„Das glaubst du doch selbst nicht“, fauchte Luca, ehe er sich vom Tisch erhob und in sein Zimmer gehen wollte, was Antonia jedoch verhinderte.

„Junger Mann, es reicht. Entweder kommt du jetzt zurück oder ich sorge dafür, dass man dich in Zwangsjacke zum Krankenhaus bringt, wo man dir ein Rohr in den Magen schieben und dich mit komischer Flüssignahrung abfüllen wird. Ist dir das lieber?“

Luca gab sich schließlich geschlagen und schaffte es irgendwie, sich ein halbes Brötchen und einen Tee in den Rachen zu zwängen. Das Essen schmeckte wie Pappe und danach war ihm schlecht, aber Hauptsache, Antonia gab endlich Ruhe.

„Was wollen wir heute tun?“, fragte sie, während er noch kaute. „Schach spielen? Einen Spaziergang am Strand machen? Oder vielleicht--“

„Gar nichts davon. Ich möchte--“

„Nein, Luca, du wirst dich nicht für den Rest des Tages in dein Zimmer zurückziehen. Wir machen etwas an der frischen Luft oder gehen dahin, wo viele Menschen sind.“

„Aber ich hasse Menschen. Und dich erst recht.“

„Dankeschön.“

„Gern geschehen.“
 

Die beiden diskutierten so lange weiter, bis es damit endete, dass Antonia Luca zu einem Spaziergang am Strand nötige. Einige Stunden später hatte er einen Termin bei seiner Psychotherapeutin, die ihn seit dem Tag, an dem er nach seinem Selbstmordversuch im Krankenhaus aufgewacht war, belästigte. Sie versuchte, mit ihm zu reden und herauszufinden, ob er ''nur'' an Depressionen oder auch an etwas anderem litt, aber er ignorierte sie und verweigerte ihr die Kooperation.

„Luca, so kann das nichts werden!“, sagte sie verzweifelt. „Wenn du nicht willst, dass man dir hilft, dann kann dir auch niemand helfen!“

„Das kann sowieso niemand“, knurrte er mürrisch. „Ich werde meine Probleme nicht los, indem ich sie so lange berede, bis Ihnen die Ohren bluten. Und Ihr Mitleid brauche ich nicht; heben Sie sich das für jemand anderen auf.“

Die Psychotherapeutin gab nicht auf, aber ihre Mühe war vergebens. Genau wie alle anderen Sitzungen kam sie nicht von der Stelle und hatte absolut gar nichts erreicht, außer dass Lucas Laune sich verschlechtert hatte, weil er der Meinung war, seine Zeit zu verschwenden.
 

Es folgte ein Mittagessen, dessen Einnahme fast genauso schwierig wie das Frühstück war. Nur dank Antonias Geduld und Redegewandtheit gelang es ihr, das Essen in Luca hinein zu reden, dessen Laune mit jeder vergangener Minute sank. Er wollte nichts essen oder mit irgendwelchen Leuten reden, sondern sich in sein Zimmer verkriechen und nie wieder herauskommen.

Zu blöd nur, dass Antonia andere Pläne für ihn hatte.

„Also, wie wollen wir den Nachmittag rumkriegen? Hast du doch keine Lust auf Schach?“

„Nein.“

„Wir können auch ein anderes Spiel spielen oder--“

Der Rest ihres Satzes ging in dem Läuten der Türklingel unter. Während Antonia sich zur Haustür aufmachte, hing Luca teilnahmslos auf dem Esstisch und beobachtete, wie der Staub, der von den goldbraunen Sonnenstrahlen beschienen wurde, auf seine blasse Hand rieselte.

„Hallo, Luca.“

Als er ihre Stimme vernahm, spürte er, wie ein Ruck durch seinen Körper ging. Ein Teil in ihm wollte zu ihr, aber der andere wollte von ihr weg, was dazu führte, dass Luca sich fühlte, als würde sein Inneres zerreißen.
 

„H-hallo, Chiara“, antwortete er und sah zu der jungen Frau, die ihn mit einer Mischung aus Verachtung und Abscheu betrachtete. „Schön dich zu sehen.“

Sie erwiderte vorerst nichts, sondern blickte mit so viel Ekel auf ihn herab, als würde sie in ein Klo sehen.

„Ich habe gehört, was passiert ist“, sagte sie. „Du hast versucht, dich umzubringen.“

„Ich weiß... das war wohl keine so gute Idee.“

„Das ist dir aber schnell aufgefallen, Sherlock. Warum kannst du nicht wenigstens ein einziges Mal nachdenken, bevor du handelst?“

„Weiß nicht.“

„Du bist echt gewöhnungsbedürftig. Machst uns Angst und jetzt hängst du deinem Vater auf der Tasche, weil man dich nicht alleine lassen kann. Wo ist der gute Mann eigentlich?“

„Urlaub“, log Luca und senkte betrübt den Blick.

„Wahrscheinlich hält er es auch nicht aus, sich ständig um dich kümmern zu müssen.“

„Mag sein...“

„Auch egal, ich bin hier, um dich abzuholen. Schon seit zwei Wochen wohnst du bei deinem Vater; es wird dringend Zeit, dem armen Mann mal eine Pause von dir zu gönnen.“
 

„Findest du mich wirklich so anstreng--?“

„Können wir das ein anderes Mal bereden? Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit, also beeil dich gefälligst.“

„Ich freue mich auch, dass es dich gibt“, zischte er schnippisch und bereute seine Worte sofort.

„Könntest du mal für fünf Minuten aufhören, dich so aufzuspielen? Verdammt, Luca, du hast mir mit deinem bescheuerten Suizidversuch einen Schrecken eingejagt und jetzt meinst du auch noch, das Opfer spielen zu müssen! Nicht du hast den Anruf von der Polizei bekommen, sondern ich! Hör auf, so verdammt egoistisch zu sein, und denk auch mal an mich!“

„Tut mir leid, ich wollte nur--“

„Wenn du Mitleid suchst, solltest du zu einem Psychologen gehen und dich bei dem ausheulen! Ich habe für so einen Schwachsinn keine Zeit! Schließlich ist es nicht meine Schuld, dass du so unglaublich schwach bist und--“

Plötzlich flog eine Tasse durch das Esszimmer. Sie verfehlte Chiaras Nasenspitze nur knapp und schlug lautstark gegen die Wand, wo sie in viele Einzelteile zersplitterte.
 

„Hoppla, mir ist die Tasse aus der Hand gefallen“, flötete Antonia gespielt unschuldig. Sie konnte gar nicht glauben, was Chiara da gesagt hatte, und noch weniger konnte sie glauben, dass Luca sich das auch noch gefallen ließ. Bei jeder anderen Person nahm er kein Blatt vor den Mund und sprach seine direkte Meinung aus, aber in der Nähe seiner Freundin redete er so vorsichtig, als würden seine Worte auf Eierschalen laufen.

„Oh nein, jetzt liegen hier überall Scherben herum“, fuhr Antonia fort und wandte sich Chiara zu. „Ich denke, es wäre am besten, wenn du nun gehst.“

„Aber... ich wollte Luca--“

„Ich habe gehört, dass du ihn abholen willst, aber das kann ich nicht zulassen. Seine mentale Verfassung--“

„Wer ist das, Luca?“, unterbrach Chiara sie und drehte sich zu ihrem Freund. „Ist das diejenige, die sich Tag und Nacht deine Wehwehchen anhören muss, weil der arme kleine Luca nicht mit seinem Leben zurechtkommt? Oder ist das 'ne Nutte, die dich ablenken soll?“

„Antonia ist bloß eine Freundin von mir.“

„Ja, natürlich, und ich bin der Weihnachtsmann.“

„Nein, du verstehst das falsch. Sie--“
 

„Für wie blöd hältst du mich eigentlich?! Zuerst machst du uns alle nervös, weil du dich umbringen wolltest, dann lässt du es dir hier gut gehen und jetzt besitzt du auch noch die Dreistigkeit, die 'ne neue zu suchen!“

„Nein, sie ist nicht--!“

„Halt die Klappe, Luca! Ich will dich nicht mehr sehen! Du enttäuscht mich jedes Mal aufs Neue und machst mich langsam, aber sicher kaputt! Ich halte dich nicht mehr aus!“

Mit diesen Worten stürmte sie zur Tür. Luca wollte ihr nachrennen, aber Antonia hielt ihn davon ab.

Kaum hatte Chiara ihr Auto erreicht, stieg sie hinein und schlug wütend gegen das Lenkrad. Sie war nicht aufgebracht, weil Luca irgendetwas Falsches getan hatte, sondern weil er sich in dem Haus seines Vaters befand, wo es für Chiara nicht möglich war, ihren Freund zu isolieren und zu manipulieren. Sie wollte ihn noch mehr brechen als sie es ohnehin schon getan hatte und ihn in die Knie zwingen, weil es ihr unglaublichen Spaß machte, eine starke Person zu einem psychischen Wrack zu machen.

Luca war nicht ihr Freund. Er war ihr Spielzeug.

Und sie würde um jeden Preis verhindern, dass sich das änderte.

4. Kapitel

Die letzte Nacht, in der Luca tatsächlich geschlafen hatte, lag so lange zurück, dass er sich nicht mehr an sie erinnern konnte. Für ihn war es zur Gewohnheit geworden, bis zum Morgengrauen wach auf seiner Matratze zu liegen und seinen Gedanken zu lauschen, die gefährlicher als jede Waffe sein konnten und nachts wie ein dunkler Schatten unter dem Bett hervorgekrochen kamen, um Luca zu erzählen, was für ein wertloses Stück Dreck er doch war.

Luca dachte an seine Zeit in der Schule zurück. Er erinnerte sich an all die Lehrer, die sich über seine Respektlosigkeit, sein aggressives Verhalten und seine allgemeine Verweigerung beschwert hatten, und an seine Mitschüler, die nun studierten, Familien gründeten und ihre Träume verwirklichten, während er hier herumlag und absolut gar nichts in seinem Leben erreicht hatte, auf das man stolz sein könnte. Er war ein Loser, ein Verlierer, ein Versager, ein Niemand. Eine gescheiterte Existenz, deren Leben wertloser als das einer Ameise war.
 

Luca seufzte und richtete sich auf. Er brauchte Ablenkung, sonst würde Antonia morgen neue Wunden auf seinem Körper finden. Was er sich selbst antat, war ihm eigentlich egal, aber was er verhindern wollte, war der enttäuschte und deprimierte Ausdruck, der immer auf Antonias Gesicht erschien, wenn sie bemerkte, dass Luca sich selbst verletzt hatte. Ihre Miene war wie ein unausgesprochenes ''Mensch, Luca, muss das denn sein? Marius wird mich umbringen, sobald er davon Wind bekommt!'' und Luca wollte nicht, dass sie sich schlecht oder schuldig fühlte. Es war schlimm genug, wenn er diese Gefühle ertragen musste, die wie ein zweiter Schatten an ihm hingen und ihn Tag und Nacht verfolgten.

Luca griff nach seinem Handy und überprüfte, ob Chiara ihm geantwortet hatte, was leider nicht der Fall war. Alle Nachrichten von ihm waren gelesen, aber nicht beantwortet worden. Er fragte sich, ob sie auch nur einen einzigen Gedanken an ihn verschwendete, während er sich stundenlang den Kopf über sie zerbrach.
 

»Liebst du mich?«, schrieb er und bekam fast eine Stunde später, in der er sich schweigend über seine Matratze gewälzt hatte, eine Antwort.

»Eigentlich schon, aber du tust alles in deiner Macht Stehende, um das zu ändern.«

Lucas Sicht wurde unscharf und kurz daraufhin tropften Tränen auf den Bildschirm seines Smartphones. Er ließ das Handy achtlos auf den Boden fallen, krümmte sich zusammen und krallte die Finger so feste in seine dunklen Haare, dass er spüren konnte, wie die Fingernägel seine Kopfhaut aufkratzten.

Chiara hatte recht. Sie wollte ihm nur helfen und er tat versehentlich alles, um sie von sich wegzustoßen. Eigentlich hatte er sie und ihre Mühe gar nicht verdient...

Bevor Luca es verhindern konnte, hatten seine Beine ihn bereits in die Küche getragen. Er suchte nach einem Messer, musste jedoch schnell feststellen, dass Antonia alles, was mindestens eine Spitze oder eine scharfe Kante besaß, versteckt hatte.
 

Luca wusste, dass sie das nur wegen seiner Sicherheit gemacht hatte, aber für ihn war das nicht wie eine Zurückhaltung, sondern wie eine Herausforderung. Er wollte Antonia zeigen, wie krank er wirklich war und dass es nichts gab, das ihn noch retten konnte.

Obwohl Luca bloß die Hälfte von dem aß, was er essen sollte, und quasi nur noch aus Haut und Knochen bestand, trug er immer noch genug Muskelmasse mit sich herum, um eine stattliche Menge an Kraft aufzubringen, mit der er einiges an Schaden anrichten konnte, größtenteils bei sich selbst.

Der dumpfe Aufprall von Knochen auf Stein war im ganzen Haus zu hören, als Luca seine Faust mit so einer Wucht gegen die Wand schlug, dass er dachte, seine Hand würde jeden Moment zerschmettern. Er schlug so lange zu, bis er den Schmerz nicht länger ertragen konnte und sich sicher war, morgen einen gigantischen Bluterguss vorzufinden, doch seine Wut und sein Hass gegen sich selbst war noch lange nicht verflogen.
 

Das Erste, das Antonia verriet, dass irgendetwas nicht stimmte, als sie das Haus ihres Bosses betrat, war der beißende Geruch von Zigarettenqualm. Leicht verunsichert ging sie ins Wohnzimmer und erblickte Luca, der auf der Couch saß und gedankenverloren den Fernseher anstarrte. In seiner Nähe lagen einige Kippen, ein Feuerzeug, eine leere Bierdose, eine angebrochene Tüte mit Chips und ein paar Glasscherben, die mit Blut benetzt waren.

„Luca? Was ist passiert?“

Der junge Mann antwortete vorerst nicht, sondern nahm einen tief Zug an seiner Zigarette und stieß den Rauch durch seine Nasenlöcher aus.

„Ich habe diese Serie geliebt, als ich ein Kind war“, sagte er und deutete auf den Fernseher, auf dessen Bildschirm mehrere gezeichnete Tiere zu sehen waren, die sich in einem Wald befanden. „Sie ist wie ''Games of Thrones'', nur mit Tieren.“
 

Antonia wollte Luca fragen, wie genau er das meinte, doch ihre unausgesprochene Frage beantwortete sich von selbst, als sie sah, wie die Tiere eine Straße überquerten und zwei Igel von einem LKW überfahren wurden.

„Das ist keine Serie für Kinder, oder?“

„Doch, ist es. Endlich mal etwas, das uns keine heile Welt vorgaukelt, in der sich alle lieb haben und--“

„Ich finde das verstörend“, unterbrach Antonia ihn und schaltete den Fernseher aus. „Kinder brauchen Geborgenheit und Schutz. Sie werden früh genug erfahren, dass das Leben kein Ponyhof ist.“

„Wie du meinst“, murmelte Luca und drückte den Stummel seiner Kippe im Aschenbecher aus.

Antonia seufzte und betrachtete sorgenvoll Lucas Hand, die mit einem riesigen Bluterguss und mehreren Schnittwunden versehen war.

„Oh Luca... ich habe dir doch gesagt, dass du mich anrufen sollst, wenn--“

„Und was willst du dann machen?“, fauchte er sie an. „Hier herkommen, mir weismachen, dass alles in Ordnung sei, und--?“
 

„Dir helfen“, zischte sie nicht minder gereizt. „Und dich davon abhalten, dich selbst zu verletzen.“

Luca rümpfte die Nase, ehe er sich von der Couch erhob und die Richtung seines Zimmers einschlug.

„Du weißt, dass Marius in wenigen Stunden nach Hause kommt, oder?“, sagte Antonia und zwang sich zur Ruhe. Jetzt aggressiv zu werden, würde absolut gar nichts bewirken. Ihre Wut galt nicht Luca, sondern den Stimmen, die ihn dazu brachten, diese schrecklichen Dinge zu tun, aber sie bezweifelte, dass er das wusste oder verstehen würde.

„Ja“, wisperte der junge Mann, dessen Zorn sich innerhalb weniger Sekunden in Trauer verwandelt hatte. Er blieb stehen und schaute so betrübt zu Boden, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen.

Antonia spürte, wie sich ihre Brust vor Mitleid zusammenzog. Sie hätte Luca so gerne geholfen und von seinen schlechten Gedanken befreit, aber sie wusste nicht, wie sie das tun könnte.

„Komm, wir kümmern uns um deine Wunden.“
 

Luca nickte und folgte ihr ins Badezimmer, wo der Verbandskasten stand. Antonia hätte bei dem Anblick von Lucas Unterarmen gerne scharf die Luft eingezogen, aber sie bemühte sich, keine Reaktion zu zeigen, damit Luca sich nicht noch schlechter fühlte als er es ohnehin schon tat.

Sein linkes Handgelenk hatte letzte Nacht stark gelitten. Auf der blau und violett verfärbten Haut befanden sich Schnittwunden, leicht angeschwollene Prellungen und ein paar kleiner Löcher, welche vermutlich von Lucas Kippen stammten, die er sich auf dem eigenen Arm ausgedrückt hatte.

Nachdem Antonia die Verletzungen mit Desinfektionsmittel, Verbänden und Pflastern versorgt und erleichtert festgestellt hatte, dass die Wunden nicht so tief waren, dass man sie hätte nähen müssen, brachte sie Luca zum gedeckten Tisch im Esszimmer. Der junge Mann ließ sein rebellisches Verhalten ruhen und knabberte stumm an einer Toastscheibe herum, aber Antonia war trotzdem so misstrauisch, dass sie fast jede halbe Minute ins Esszimmer spähte, während sie das Zeug im Wohnzimmer aufräumte und die Scherben, mit denen Luca sich die Arme aufgeschlitzt hatte, im Mülleimer entsorgte.
 

Luca fühlte sich wegen seiner nächtlichen Aktion so schuldig, dass er kurz vor Marius' Ankunft einen spontanen Spaziergang am Strand machte und erst eine halbe Stunde später wieder nach Hause kam. Er hatte damit gerechnet, dass sein Vater enttäuscht von ihm oder wütend auf ihn sein würde, aber Marius strahlte übers ganze Gesicht, als er seinen Sohn erblickte.

„Luca, schön dich zu sehen!“, rief er erfreut und gab ihm einen freundlichen Klaps auf die Schulter. „Wie geht es dir?“

„Gut“, log Luca, weil er nicht wusste, was er sonst sagen sollte. Marius hatte ihm die Frage nur aus Gewohnheit gestellt und nicht weil er wirklich wissen wollte, wie es Luca ging, mal ganz davon abgesehen, dass er bestimmt weder genug Zeit noch Interesse besaß, um sich eine ehrliche Antwort anzuhören.

Luca schluckte nervös, als ihm plötzlich auffiel, dass ein fremder Junge mit braunen Locken und blauen Augen im Wohnzimmer stand. Er war nicht sonderlich groß, etwa 15, 16 oder 17 Jahre alt und ein wenig blasser als alle anderen Anwesenden, aber nicht ungewöhnlich bleich.
 

„Das ist Fabiano“, sagte Marius, bevor Luca fragen konnte, wer der Knirps war und was er in diesem Haus verloren hatte. „Ich habe ihn in Russland erworben. Is' 'n deutscher Junge, kann aber Italienisch sprechen. Dachte, er würde vielleicht als Geschenk für Onkel Lorenzo taugen.“

„Uh-hm“, war alles, was Luca dazu einfiel. Onkel Lorenzo war weder sein, noch Marius' Onkel, sondern trug diese Bezeichnung nur als Spitznamen. Er war dafür bekannt, sich vor den engsten Familienmitgliedern als Pädophiler geoutet zu haben, aber auch geschworen zu haben, sich niemals an einem Kind zu vergehen.

„Für meine Neigungen kann ich nichts, aber für meine Taten schon“, war sein Motto. „Und deswegen werde ich meine Finger von Kindern und Kinderpornografie lassen.“

„Bist du sicher, dass er sich darüber freuen wird?“, fragte Luca, weil Lorenzo sein ''Geschenk'' als Anschuldigung fehlinterpretieren könnte, das behauptete, er würde seine Unschuld nur vorspielen und in Wahrheit doch seinen Trieben nachgehen.
 

„Und ob er sich freuen wird“, antwortete Marius. „Schau dir den Zwerg doch an; er sieht aus wie zwölf.“

„Ich bin 16“, widersprach der Junge mit seiner überraschend schön und sanft klingenden Stimme. „Und mein Name ist nicht Fabiano, sondern Fabian.“

„Er sieht aus wie ein Teddybär“, gab Luca seinen Senf dazu, während er nachdenklich die hübschen Locken von Fabian betrachtete, der es anscheinend nicht mochte, als Teddybär bezeichnet zu werden.

„Und du siehst aus wie ein Zombie“, fauchte er gereizt zurück, wofür er von Marius eine schallende Ohrfeige bekam.

„Zombie?“, wiederholte Luca nicht beleidigt, sondern verwundert und warf einen flüchtigen Blick in den Spiegel, der nur wenige Meter entfernt an der Wand hing. „Wie kommst du denn auf Zombie? Vampir oder Mumie“, er deutete auf seinen frischen Verband, „hätte ich verstanden, aber Zombie? Nein.“
 

Fabian konnte Luca leider nicht zuhören, weil er damit beschäftigt war, von Marius einige Schläge zu kassieren.

„So redest du nicht mit meinem Sohn“, fauchte der Ältere wütend. „Entweder wirst du mehr Respekt zeigen oder ich werde dir die Manieren einprügeln müssen.“

„Es tut mir leid“, ächzte Fabian, damit die Schmerzen ein Ende nahmen. Im Augenwinkel sah er, wie Luca sich von ihnen abwandte und im Flur verschwand.

„Das hoffe ich für dich“, knurrte Marius, ehe er den Jungen endlich losließ und Antonia anwies, sich um das Gepäck im Auto zu kümmern.

„Hör zu, Kurzer: Onkel Lorenzo kommt erst nächste Woche nach Italien zurück. Bis dahin wirst du hier im Haushalt helfen und dich anständig benehmen. Wagst du es, mir zu widersprechen oder einen Fluchtversuch zu wagen, werde ich dich windelweich prügeln und im Keller einsperren. Möchtest du das?“

Fabian schüttelte eilig den Kopf.
 

„Gut“, schnaubte Marius, bevor er dem Jungen die Räume des Hauses zeigte, in denen er sich aufhalten durfte. „Und falls du irgendetwas nicht weißt, fragst du Antonia um Hilfe. Das ist die Frau, die vorhin bei uns war.“

Fabian nickte.

„Ach ja, und bevor ich es vergesse: Solltest du bemerken, dass Luca gefährliche Gegenstände einsteckt oder in seinem Zimmer aufbewahrt, irgendwelche illegalen Substanzen konsumiert – ja, ich rede von Drogen – neue Verletzungen an seinem Körper hat oder sich selbst Schaden zufügt, wirst du sofort, unter allen Umständen und absolut zuverlässig mir oder Antonia Bescheid sagen.“

Fabian nickte zögernd. In den letzten 48 Stunden hatte sich seine Welt auf den Kopf gestellt und sein ganzes Leben verändert, aber von all den Informationen, die er verarbeiten musste, gab es momentan nur eine, mit der er etwas anfangen konnte, und das war eine vollkommen unwichtige, wenn man sie mit den anderen verglich.

„Ist Luca... selbstmordgefährdet?“

„N... nein. Er hat bloß ein paar... Angewohnheiten, die... nicht gut für ihn sind.“

5. Kapitel

Es dauerte keine 24 Stunden, bis Fabian seinen ersten und letzten Fluchtversuch wagte. Luca kriegte davon nicht viel mit, außer dass mitten in der Nacht plötzlich Lärm im Haus entfachte. Türen wurden geknallt, wütende Schreie und panische Laute hallten durch die Räume und dann ertönte ein Geräusch, das klang, als wäre ein menschlicher Körper mit unnatürlich viel Wucht gegen eine Wand geprallt.

Luca runzelte die Stirn und warf einen Blick auf seinen Wecker. Es war kurz nach halb vier Uhr morgens. Er wartete, bis die Schreie verstummten, ehe er sich in die

Küche aufmachte und ein wenig Wasser trank. Auf dem Weg dahin wäre er beinahe in einer Pfütze ausgerutscht, die sich im Flur befand und ihrer tiefroten Farbe nach zu urteilen Fabians Blut war.

„Lebt der Junge noch?“, fragte Luca, als Marius aus dem Keller kam, in dem er Fabian wahrscheinlich eingesperrt hatte, und die Küche betrat.

„Eine blutende Nase hat noch niemanden umgebracht“, knurrte der Ältere und wusch sich die blutigen Hände sauber. „Der kleine Pisser hat ernsthaft gedacht, dass er eine Chance hätte... so ein Idiot.“
 

Luca erwiderte nichts, sondern trank sein Glas aus und ging wieder ins Bett. Als er ein paar Stunden später von Antonia zum Frühstück gezerrt wurde, meinte er, ein leises Schluchzen aus dem Keller vernehmen zu können, aber er war sich nicht sicher.

Marius erzählte während des Essens, dass er den Jungen erst wieder an dem Tag herauslassen würde, an dem Onkel Lorenzo nach Italien zurückkehrte, aber noch am gleichen Tag änderte er seine Meinung und holte Fabian aus dem Keller.

Der Kleine sah ziemlich angeschlagen aus. Luca bezweifelte, dass er sich bis zu dem Zeitpunkt von Lorenzos Rückkehr erholen würde, denn selbst nachdem er sich das getrocknete Blut vom Körper gewaschen und seine Wunden mit Pflastern versorgt hatte, sah er immer noch so aus, als wäre er unter ein Auto geraten.

Fabian bekam den Auftrag, das Wohnzimmer zu putzen. Während er seiner Arbeit schweigend nachging und sich wie ein verletztes Tier möglichst leise und unauffällig verhielt, saß Luca vor dem Fernseher und langweilte sich.
 

In der Glotze lief nur hirnloser Blödsinn, weshalb Lucas Aufmerksamkeit recht schnell zu Fabian wanderte. Der Kleine putzte die Fenster und sah betrübt zu Boden, als er auf einmal seine freie Hand in seinen Bauch krallte und das Gesicht verzerrte, als hätte er starke Schmerzen. Er warf einen flüchtigen Blick Richtung Küche, bemerkte, dass Luca ihn beobachtete, und widmete sich sofort wieder dem Säubern der Glasscheiben.

„Hast du Hunger?“, fragte Luca, als das Knurren von Fabians Magen die Stimme einer jungen Dame übertönte, die im Fernseher Waschmittel glorifizierte und versprach, dass sich alle Probleme in Luft auflösen würden, sobald man ihre verdammte Chemikalienbrühe kaufte.

Fabian schüttelte schweigend den Kopf und rubbelte über eine Stelle, gegen die Luca vor wenigen Tagen seine Stirn gelehnt hatte, als er überlegt hatte, ob er nach draußen gehen sollte. Der Ältere interessierte sich eigentlich nicht für den Jungen, weil er dessen Schicksal nicht ändern konnte und er bereits genug Probleme mit sich selbst hatte, aber zu sehen, wie der Kleine trotz seiner Schmerzen die Fenster putzte, löste Mitleid in ihm aus.
 

Luca ging in die Küche und dachte darüber nach, was er Teddy zu essen machen könnte. Weil er keine Ahnung hatte, was der Junge mochte, nahm er einfach einen Teller, auf den er Toastscheiben, Käse, getrocknete Apfelringe, Mandeln und ein Croissant legte, und kehrte ins Wohnzimmer zurück, wo er sich neben Teddy auf einen Sessel setzte und ihm den Teller hinhielt.

Fabian sah Luca entsetzt an und schüttelte den Kopf.

„Dein Vater wird mich umbringen“, sagte er mit seiner schönen Stimme, die brüchiger und leiser als gestern klang. „Er hat gesagt, dass ich nicht einmal ans Essen denken soll, bevor ich nicht das Wohn--“

Bevor er seinen Satz beenden konnte, hatte Luca ihm bereits vorsichtig eine Toastscheibe zwischen die Lippen geschoben.

„Anscheinend hast du das nicht mitgekriegt, aber mein Vater hat vor 'ner halben Stunde das Haus verlassen“, sagte der Ältere und beobachtete zufrieden, wie Fabian nach dem Toast griff und zu essen begann. „Die einzige Person, die es nicht gutheißen könnte, dass ich dich füttere, ist Antonia, aber die lässt mich eigentlich alles machen, solange ich mir nicht die Arme aufschneide.“
 

Fabian zögerte kurz, ehe er sich einen Ruck gab, den Putzlappen zur Seite legte und auf dem anderen Sessel Platz nahm. Eigentlich konnte er getrost darauf verzichten, ein weiteres Mal von Marius zusammengeschlagen zu werden, aber wen Luca ihn dazu einlud, eine Pause einzulegen und etwas zu essen, müsste das schon in Ordnung gehen...

„Erzähl mir etwas über dich“, sagte Luca, weil er keine Lust hatte, Fabian mehrere Minuten lang anzuschweigen und beim Essen zu beobachten.

„Über mich gibt es eigentlich nichts besonders Spannendes zu erzählen“, nuschelte der Junge und griff nach den Apfelringen. „Meine Eltern kommen beide aus Italien, aber ich wurde in Deutschland geboren, weshalb ich zweisprachig aufgewachsen bin.“

„Echt? Ich finde, die deutsche Sprache klingt irgendwie... hart. Als würden die Sprecher jeden zweiten Vokal verschlucken.“

„Mag sein.“

„Und wie bist du hierher gekommen?“
 

„Nun... Meine Klasse und ich haben eine Klassenfahrt nach Russland gemacht. Wir hatten gerade ein Kunstmuseum besucht, als unser Bus in einer Lagerhalle parkte, in der einige bewaffnete Männer standen. Ich kann mich nicht genau an alles erinnern, es geschah so schnell und so unerwartet... jedenfalls habe ich irgendwie wahrgenommen, dass wir wie Tiere verkauft wurden. Und... anscheinend bin ich bei deinem Vater gelandet.“

Fabian sah betrübt zu Boden und blinzelte einige Male mit seinen blauen Augen, die verdächtig feucht waren.

„Ich denke, ich sollte weitermachen“, sagte er, ehe er den Teller auf dem kleinen Wohnzimmertisch abstellte und sich wieder dem Putzen der Fenster widmete.

Von dieser Interaktion abgesehen hatten Fabian und Luca in den folgenden Tagen nicht viel miteinander zu tun. Letzterer bemerkte, dass Teddy öfters Ärger von Marius bekam – ob das verdienter Ärger war oder nicht, war eine andere Sache – doch wirklich interessieren tat ihn das nicht.

Genau wie viele andere Menschen würde Fabian ebenso schnell aus Lucas Leben verschwinden wie er es betreten hatte und dann würden sie sich wahrscheinlich nie wieder sehen. Also gab es keinen Grund, sich um eine gute Beziehung zu bemühen.
 

Die Zeit verging wie ihm Flug, was vermutlich daran lag, dass Luca die meiste Zeit in seinem Bett oder vor dem Fernseher verbrachte, und schließlich kam der Tag, an dem Onkel Lorenzo nach Italien zurückkehrte und Marius einen Besuch abstattete.

Das Ganze lief wie eine Familienfeier ab. Während die beiden Älteren sich gegenseitig von den Geschehnissen der letzten Wochen berichteten, saß Luca schweigend in einem Sessel und wartete ungeduldig darauf, von dieser Versammlung erlöst zu werden und in sein Zimmer gehen zu dürfen. Er dachte darüber nach, ob es auffiele, wenn er sich jetzt aus dem Staub machen würde, als Marius zu dem Punkt kam, auf den Luca sich schon gefreut hatte. Nicht weil er sich darauf freute, Zeuge zu werden, wie Teddy an einen Pädophilen verschenkt wurde, sondern weil er neugierig auf Lorenzos Reaktion war.

„Schau nur, was ich aus Russland mitgebracht habe“, sagte Marius und schnippte mit den Fingern, was für Fabian das Zeichen war, das Wohnzimmer zu betreten. „Ein hübscher Bursche, nicht wahr?“

Luca spähte unauffällig zu Lorenzo, der leicht irritiert war, aber seine Verwunderung nicht ansprach.
 

„Ähm... ja, ein hübscher Bursche“, sagte Onkel Lorenzo. „Hast du ihn dir als zusätzliche Haushaltshilfe angeschafft? Oder ist er für einer deiner Freunde?“

Komm schon, Dad. Du siehst doch, dass Lorenzo nicht erwartet, diesen Jungen angedreht zu bekommen. Sag einfach, dass du vorhast, ihn in ein Bordell zu stecken oder--

„Oh ja, und er ist für einen ganz besonderen Freund. Ich wollte ihn dir schenken.“

Nailed it.

Luca legte sich die rechte Hand aufs Gesicht und unterdrückte ein nervöses Lachen. Er spreizte Mittel- und Ringfinger, um zu sehen, wie Lorenzo reagierte, und verspürte den Wunsch, sich Teddy über die Schulter zu werfen und gemeinsam mit ihm den Raum zu verlassen.

„Für mich?“, fragte Onkel Lorenzo entgeistert. „Was soll ich denn damit?“

Bin ich der Einzige, dem auffällt, dass die über Teddy reden, als wäre er ein Gegenstand?

„Na was wohl?“, lachte Marius, der nicht einmal ahnte, wie beleidigt sich sein Freund gerade fühlte. „Du sollst ihn...“ Lorenzos ernster Blick ließ ihn verstummen.
 

„Hör mir gut zu“, sagte Lorenzo mit todernster Stimme. „Ich mag ein Pädophiler sein, aber ich habe noch nie ein Kind belästigt und dabei soll es auch bleiben. Ich bin nicht dafür verantwortlich, mit dieser Neigung geboren worden zu sein, aber ich bin dafür verantwortlich, ob ich meine Fantasien in die Realität umsetze oder nicht. Und ich kann dir versichern, dass ich niemals und unter keinen Umständen das Leben eines Kindes ruinieren werde, nur um ein paar Minuten Spaß zu haben.“

„I-ich... ich dachte nur, dass--“

„Du stehst auf Frauen, nicht wahr, Marius?“

„Ähm... ja?“

„Heißt das, dass du dich auf jedes Lebewesen mit Brüsten stützen wirst, sobald du es siehst?“

„N-natürlich nicht.“

„Na also. Bei mir ist es nicht anders. Ich bin kein primitives Tier, das den ganzen Tag nur an Sex denkt.“

Nach diesem Statement herrschte eine peinliche Stille im Wohnzimmer. Luca nahm die Hand von seinem Gesicht und Fabian starrte voller Entsetzen Lorenzo an, der gelassen zu Marius sah, dem eine Schweißperle über die Wange rann.
 

Mal schauen, wie du dich da herausreden willst, Dad.

„Ach, Lorenzo, das war doch nur ein Scherz!“, lachte Marius plötzlich. „Natürlich hatte ich nicht vor, ihn dir zu schenken. War nur ein kleiner Spaß, den ich mir nicht verkneifen konnte, verstehst du?“

Lorenzo wirkte nicht so, als würde er es verstehen, sondern als würde er etwas Hartes nach Marius werfen wollen.

„Wie dem auch sei, Fabian, bring uns Kaffee.“

Teddy ließ sich das nicht zweimal sagen. Er flüchtete in die Küche und Luca, der dank der Spannung zwischen den beiden Älteren endlich eine Gelegenheit gefunden hatte, das Wohnzimmer zu verlassen, folgte ihm. Kaum hatte er jedoch den nächsten Raum betreten, wurde er von Teddy gegen die Wand gedrängt und geschockt angesehen.

„Bitte sag mir, dass das wirklich nur ein dummer Scherz war“, flehte er Luca an, der sich körperlich etwas überrumpelt fühlte. „Sag mir, dass dein Vater mich nicht gerade an einen echten Pädophilen verschenken wollte.“
 

„Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für dich, Teddy. Die schlechte ist, dass Dad genau das vorhatte, und die gute ist, dass es ihm nicht gelungen ist. Ich sollte dir wahrscheinlich gratulieren.“

„Das ist nicht lustig, du Wichser.“

„Also... um ehrlich zu sein, finde ich es sehr unterhaltsam. Euch drei zu beobachten, war etwa so spannend wie zu sehen, wie sich ein Schüler mit einem Lehrer prügelt.“

„Und es hätte dich nicht interessiert, wenn ich bei diesem Kerl gelandet wäre?“

„Nein, nicht wirklich.“

Teddy warf Luca einen verächtlichen Blick zu, ehe er Kaffeetassen holte und sie vorbereitete.

„Du bist noch schlimmer als dein Vater“, zischte er im Vorbeigehen, woraufhin Luca gelassen erwiderte: „Ich weiß.“

Der Ältere verbrachte den Rest des Tages damit, in seinem Zimmer Musik zu hören und am Abend eine Konversation mit seinem Vater zu führen, die man mit ''Ich hab's dir doch gesagt'' zusammenfassen konnte.
 

„Sei bloß still“, grummelte Marius und schenkte sich Wein ein. „Ich will von dem Thema nichts mehr hören.“

„Aber du musst noch entscheiden, was wir stattdessen mit Teddy machen, wenn Lorenzo ihn nicht will.“

„Sag mir nicht, was ich zu tun habe und was nicht... wahrscheinlich werde ich ihn weiterverkaufen oder für mich arbeiten lassen.“

Ironischerweise betrat Teddy in genau dieser Sekunde den Raum.

„Für sie arbeiten?“, fragte er zaghaft. „Sie meinen doch nicht etwa...?“

„Nein, du sollst für ihn Ostereier suchen gehen“, zischte Luca und verdrehte genervt die Augen. „Natürlich redet er von Prostitution, von was denn sonst?“

Teddy setzte die gleiche entsetzte Miene auf, die er auch vor Lorenzo gezeigt hatte, und schaute geschockt zu Marius.

„D-das können Sie nicht machen! Ich bin erst 16!“

„Ja, 16 ist ein schwieriges Alter“, stimmte Luca zu. „Für normale Bordelle bist du zu jung und für die speziellen Bordelle zählst du zum Gammelfleisch.“
 

Das schien Teddy nicht im Geringsten zu beruhigen, was aber auch nicht Lucas Absicht gewesen war. Er wusste, dass es ziemlich gemein war, den Jungen so anzustacheln, aber irgendwie war es auch lustig.

„B-bitte, ich... ich kann für sie kochen, putzen, alles machen; ich-- bitte lassen sie mich hier im Haus arbeiten.“

Luca kicherte leise, was Teddy den Rest gab. Der Kleine drehte sich wütend zu ihm um und funkelte ihn herausfordernd an.

„Dein Vater hat gesagt, dass du selbstmordgefährdet seist. Ich weiß nicht, wer oder was dich dazu getrieben hat, aber ich weiß, dass du es verdient hast. Du bist einer der widerlichsten Personen, die ich je kennenlernen musste.“

Luca kicherte erneut, aber diesmal klang es nicht humorvoll, sondern kalt und selbstsicher.

„Ich hätte eigentlich kein Problem damit gehabt, dich hier im Haus zu haben, aber meine Ansicht hat sich soeben geändert. Dad, kannst du ihn bitte möglichst weit wegschicken? Ich hasse Menschen, die wenig Ahnung, aber viel Meinung haben.“

6. Kapitel

Es war mitten in der Nacht, als Lucas Handy eine Nachricht empfing und daraufhin zu blinken begann. Der junge Mann hatte zwar nicht geschlafen, aber sich zumindest im Halbschlaf befunden, weshalb er nicht gerade erfreut war, dank irgendeiner Person, die anscheinend nichts Besseres zu tun hatte, als ihm um halb drei Uhr morgens Nachrichten zu senden, wieder ganz von vorne anfangen zu können. Er griff nach dem Handy, um es umzudrehen, damit das immer noch blinkende Licht nach unten zeigte und nicht die Zimmerdecke erhellte, doch als er sah, wer ihn da angeschrieben hatte, war er plötzlich hellwach.

Chiara!

Luca zog das Handy zu sich und war im Begriff, es zu entsperren, als er spürte, wie sich starkes Unbehagen in ihm ausbreitete. Seine Organe verknoteten sich, seine Hände zitterten leicht und alles in einem fühlte er sich wie damals, als er als Jugendlicher zum ersten Mal richtigen Stress mit der Polizei hatte.
 

Was soll das? Chiaras Nachricht ist das, worauf ich schon die ganze Zeit gewartet habe. Es gibt überhaupt keinen Grund, so zu reagieren... wahrscheinlich hat es nichts hiermit zu tun. Vielleicht bin ich nur krank und mit ein bisschen Glück ist es etwas, das mich umbringen wird.

Zögernd entsperrte Luca sein Handy, schloss alle Anwendungen und öffnete sein Postfach. Chiara schrieb, dass sie ihm nach langem Nachdenken noch eine Chance geben möchte, aber dass ihre Beziehung nur eine Zukunft hätte, wenn Luca nicht nur an sich denken und sich mal ein bisschen anstrengen würde.

Nachdem Luca die Nachricht seiner Freundin mehrmals gelesen hatte, versuchte er, eine Antwort zu formulieren, doch völlig egal, wie er sich ausdrückte und wie viele Entschuldigungen er in seinen Text packte, das Ergebnis sah nicht wie etwas aus, das gut genug war, um es Chiara zu schicken.
 

Schließlich gab Luca auf. Er schaltete das Handy aus und beschloss, Chiara morgen zu antworten. Bis dahin konnte er über den Inhalt ihrer Nachricht nachdenken und... Da ist nichts, über das ich nachdenken müsste. Chiara hat recht. Es ist meine Schuld, dass es zwischen uns so schlecht läuft. Anstatt mich um sie zu kümmern, denke ich nur an mich selbst... es ist ein Wunder, dass sie sich noch nicht von mir getrennt hat.

Chiara hatte mit ihrer Nachricht nur einen kleinen Schneeball vom Berg gestoßen, aber was unten im Tal ankam, war eine ganze Lawine. Zuerst krallte sich Luca in sein Kissen und blinzelte schweigend die Tränen aus seinen bernsteinfarbenen Augen, aber es dauerte nicht lange, bis er am liebsten seine Matratze in Stücke reißen und sich die Seele aus dem Leib schreien wollte. Bevor er sich versah, hatte er sich bereits aufrecht hingesetzt und das Licht auf seinem Nachttisch angemacht. Er öffnete die Schublade und holte das Einzige heraus, das ihn jetzt von seinen schlechten Gedanken ablenken konnte.
 

Eine verführerisch schimmernde Rasierklinge.

Während Onkel Lorenzo heute zu Besuch gewesen war, hatte Luca die Situation genutzt, um sich in das Badezimmer seines Vaters zu schleichen und dort eine ganze Packung der scharfen Klingen zu klauen. Spätestens wenn Antonia sie finden oder Marius den Verlust bemerken würde, steckte Luca in Schwierigkeiten, aber das war es ihm wert, denn was auch immer die Erwachsenen tun oder sagen würden – die Stimmen in Lucas Kopf waren um ein Vielfaches schlimmer.

Ungeduldig strich der junge Mann über seinen linken Unterarm. Die Verletzungen vom letzten Mal waren noch nicht verheilt, aber das störte ihn nicht. Er entfernte die Verbände, warf sie in den nahestehenden Papierkorb, streifte mit seinen kalten Fingern die blasse Haut und stellte sich vor, wie rote Linien sie zieren würden. Gedankenverloren griff Luca nach der Rasierklinge und--

„KOMM ZURÜCK!“
 

Luca erschrak so sehr, dass er die Klinge fallen ließ. Während er sie vom Boden aufzusammeln versuchte, was einfacher gesagt als getan war, weil die Nachttischlampe den Bereich vor Lucas Füßen nicht beleuchtete, hörte er, wie ein flinkes Paar Füße durch den Flur huschte und direkt auf sein Zimmer zusteuerte. Sie gehörten vermutlich Fabian, aber Luca konnte sich beim besten Willen keinen Reim daraus machen, was Fabian bei ihm wollte und warum er zu dieser Uhrzeit noch im Haus herumlief. Sicher war aber, dass das andere Paar Füße, das wütend durch den Korridor trampelte, Marius' Schritte waren.

Fuck. Wenn Dad mich hier auf frischer Tat ertappt, bin ich am Arsch! Wo zur Hölle ist das blöde Teil?!

Endlich fand er die Rasierklinge. Kaum hatte er sie in der Schublade verschwinden lassen und diese geschlossen, wurde die Tür aufgestoßen und ein sehr verängstigter und schockierter Fabian stolperte ins Zimmer.
 

„Du... du musst mir helfen!“, japste er panisch. „Dein Vater, er--“

Wenn man vom Teufel sprach – als Fabian bemerkte, dass Marius sich ihm näherte, holte er erschrocken Luft und versteckte sich wie ein Kleinkind, das zum ersten Mal den Kindergarten besuchte und sich an seine Mutter klammerte, hinter Luca, der aufgestanden war. Unter normalen Umständen hätte Luca seinen unerwarteten Gast grob aus seinem Zimmer gestoßen und ihm gesagt, dass er sich verziehen soll, aber da der junge Mann keine Ahnung hatte, was hier vor sich ging, stand er wie angewurzelt da und schaute zu Marius, der fluchend den Raum betrat und zu humpeln schien.

„Komm hierher, du wertloses Stück Dreck!“, fauchte er Fabian an, der sich ängstlich in Lucas Rücken krallte und die blauen Augen vor Schreck weit aufgerissen hatte. Der Ältere verspürte das Bedürfnis, den Jungen seinen Ellbogen ins Gesicht zu rammen, damit der Kleine mehr Rücksicht auf seine Privatsphäre nahm.
 

„Was ist hier los?“, wollte Luca wissen. „Es ist mitten in der Nacht. Was ist euer scheiß Problem?“

„Dieses Blag meint, sich weigern zu müssen – das ist los“, knurrte Marius und krallte sich in den Türrahmen. Er wirkte, als hätte er Schmerzen.

Perplex sah Luca von seinem Vater zu Fabian, von dessen Verhalten er langsam, aber sicher die Schnauze voll hatte. Er war im Begriff, Teddy an den braunen Locken zu packen, Richtung Marius zu schubsen und ihm zu sagen, dass er hier keine Hilfe zu erwarten hatte, als der Junge plötzlich den Mund aufmachte.

„Krankes... Schwein.“

Seine Stimme war leise und bebte, aber die Art und Weise, wie er die Worte betonte, ließ sie so stark und aussagekräftig klingen, als hätte er sie geschrien.

„Hüte deine Zunge“, zischte Marius. „Luca, wenn ich näherkomme, rennt er weg. Bring ihn zu mir, ja?“
 

Angesprochener zögerte. Sein Blick wanderte zwischen dem Jungen und dem Mann hin und her, bis er an Letzterem hängen blieb.

„Was für einen Befehl hast du ihm gegeben?“

„Nichts Wichtiges“, winkte Marius ab und schaute zum Fenster.

„Nichts Wichtiges? Aber warum jetzt? Es ist fast vier Uhr morgens.“

Marius schwieg, woraufhin Luca sich an Fabian wandte.

„Was wollte er von dir?“

„Wie ich bereits sagte – Nichts Wichtiges“, antwortete Marius für Fabian. Seine Stimme klang so bedrohlich wie das Grollen eines Gewitters, aber Teddy schien ihm nicht zuzuhören. Der Junge ließ Lucas T-Shirt los, umfasste seine eigenen Oberarme und erschauerte, als besäße er die Aufgabe, einen Teller voller Spinnen zu essen.
 

Diese Antwort warf nur noch mehr Fragen auf. Während Luca überlegte, was zwischen Marius und Fabian vorgefallen sein könnte, verlor der Ältere die Geduld. Er stampfte auf Teddy zu und streckte seine Hand nach ihm aus, aber Luca schob den Jungen schützend hinter sich und blickte seinem Vater herausfordernd in Gesicht.

„Wenn's wirklich nichts Wichtiges ist, kann es doch bis morgen warten, oder?“

„Junger Mann“, knurrte Marius so aggressiv, als würde er jeden Moment die Beherrschung verlieren und zuschlagen. „Überreich mir dieses Kind. Jetzt.

„Nein“, erwiderte Luca ruhig. „Wenn ich das mache, werdet ihr euch bis zum Sonnenaufgang gegenseitig anschreien.“

„Mach dir darum keine Sorgen. Ich kann dir versichern, dass der Bengel nach nur wenigen Minuten ohnmächtig ist. Dann hast du deine Ruhe.“
 

Luca verschränkte die Arme vor der Brust und hob sein Kinn. Eigentlich gab es für ihn keinen Grund, Fabian in Schutz zu nehmen, aber die beiden Worte des Jungen hallten immer noch in seinen Ohren wider.

„Krankes Schwein...“

„Dad, das hier ist mein Zimmer und wenn du das nicht respektierst, werde ich gehen.“

„Nein, das wirst du nicht.“

„Und ob ich das werde. Die Schlüssel liegen auf meinem Schreibtisch. Ich muss mich nur anziehen und mir ein Taxi nehmen – und dann bist du mich los.“

„Du“, fauchte Marius, „bleibst hier.“

Kaum hatte er das gesagt, drehte er sich um, verließ das Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Luca seufzte genervt und drehte sich zu Fabian um.

„Entweder sagst du mir, was los war, oder ich schmeiße dich raus.“
 

Teddy schluckte nervös.

„D-dein Vater... wollte von mir, dass ich...“

„Ja?“

„...“

„Heute noch.“

„... Lorenzo.“

„Was?“

„Ich sollte das tun, was Lorenzo Marius' Meinung nach in seiner Freizeit tut.“

Luca brauchte ein paar Sekunden, um diese Formulierung zu verstehen, doch dann kapierte er es.

„Willst du mir gerade erzählen, dass Dad dich missbrauchen wollte?“ Das war so bescheuert, dass er kurz lachen musste. „Junge, das musst du falsch verstanden ha--“

Der Ausdruck in Fabians Augen ließ ihm die Lust am Lachen vergehen.

„Findest du das witzig?“, fragte der Jüngere in der gleichen todernsten und mächtigen Stimme, mit der er vorhin auch ''Krankes Schwein'' gesagt hatte.
 

„Natürlich nicht. Aber ich kann's mir nicht vorstellen. Das musst du falsch verstanden haben.“

„Ach ja?“ Überzeugung klang anders.

„Ja. Ich kenne meinen Vater nicht allzu gut, aber ich weiß, dass er nicht auf Kinder, nicht auf Männer und erst recht nicht auf männliche Kinder steht.“

Fabians Gesichtsausdruck sah aus wie der von jemanden, der den Sinn des Lebens verstand.

„Ich habe ihn gebissen.“

„Was?“

„Er hat mich vor seine Füße auf die Knie gezwängt und mir gesagt, dass ich etwas Bestimmtes für ihn tun soll. Währenddessen hat er mit der anderen Hand seinen Gürtel geöffnet und...“ Teddy machte eine Pause, als würde er die Geschichte in seinem Kopf weitererzählen. „Also habe ich ihn gebissen.“

Luca wollte Fabian sagen, dass er nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte, aber dann fiel ihm ein, wie Marius das Zimmer betreten hatte.
 

Humpelnd. Und er hatte gewirkt, als würde ihm etwas wehtun. Etwas im Schritt.

Luca öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber kein Wort kam heraus. Sein Vater hatte versucht, Fabian zu etwas Sexuellem zu nötigen? Das konnte und wollte er sich einfach nicht vorstellen. Fabian musste sich irren.

„Danke übrigens, dass du mir geholfen hast“, sagte der Junge, dessen Stimme wieder normal klang.

Danke, dass du mich davon abgehalten hast, mich zu ritzen, wollte Luca erwidern, aber zum Glück konnte er verhindern, dass diese Worte seinen Mund verließen.

„Übrigens, wegen heute Nachmittag...“, murmelte Fabian. „Es tut mir leid. Ich hätte nicht sagen sollen, dass du... deine jetzige Lage verdient hast.“

„Schon gut.“

„Nein, wirklich, es tut mir leid. Ich kenne dich nicht einmal richtig und... niemand hat es verdient, sich den Tod zu wünschen.“
 

„Ich sagte, es ist schon gut“, sagte Luca und ging zum Fenster, um es zu öffnen und ein wenig frische Luft in sein Zimmer zu lassen. „Hör auf, davon zu reden.“

„I-ich...“

„Ehrlich, Teddy, ich brauche dein Mitleid nicht. Selbst wenn du meine Situation kennen würdest, du könntest sie trotzdem nicht verstehen.“

„Ähm... ich habe zwar keine Ahnung, wie es zu deiner Verfassung gekommen ist, aber... ich denke schon, dass ich weiß, wie es dir geht.“

„Uh-hm“, machte Luca desinteressiert und griff nach einer Packung Zigaretten, die er hinter einem Blumentopf versteckt hatte.

Unter normalen Umständen hatte niemand ein Problem damit, dass er rauchte, aber Antonia war der Meinung, dass es seinem Appetit schadete und die Nahrungsaufnahme noch schwieriger machte als sie ohnehin schon war. Luca fand das ziemlich bescheuert, aber niemand kümmerte sich um das, was er sagte.
 

Luca sah in der Spiegelung des Fensters, dass Fabian sich auf das Ende des Bettes gesetzt hatte und nervös seine Hände knetete.

„Na los, sag es mir“, verlangte der Ältere, weil er keinen Bock hatte, diese peinliche Stille zu ertragen. „Sag mir, wie ich mich fühle.“

„Manchmal unglücklich...“

„Ne, echt? Krasse Scheiße, darauf wäre ich nie gekommen.“

Luca schüttelte den Kopf und griff nach seinem Feuerzeug, das auf dem Schreibtisch lag. Er zündete das Ende seiner Kippe an, nahm einen tiefen Zug...

„... aber meistens fühlst du gar nichts.“

... und verschluckte sich an dem Qualm.

Hustend beugte sich Luca aus dem Fenster, aber das hielt Fabian nicht davon ab, weiterzureden.
 

„Du bist emotional so abgestumpft, dass es dir vorkommt, als könntest du keine Gefühle wahrnehmen. Andere sagen, dass du dich verletzt, um überhaupt etwas zu fühlen, aber das stimmt nicht. Du verletzt dich, weil du es nicht mehr aushält. Weil der Schmerz das Einzige ist, was dich davor bewahrt, vollkommen wahnsinnig zu werden. Und du verletzt dich, weil du denkst, dass du es verdient hättest.“

Luca hatte es mittlerweile geschafft, wieder normal zu atmen. Er fragte sich, aus welchem Buch Fabian diesen Text auswendig gelernt hatte, sagte aber nichts dazu. Es wäre bestimmt am besten, dem Jungen nicht zu zeigen, dass er vollkommen recht hatte.

„Völlig egal, was du tust oder was andere tun, dir geht es mies. Du fühlst dich, als hättest du alle Menschen um dich herum enttäuscht... als würden sie sich nur mit dir abgeben, weil sie es müssen; als wäre es besser, wenn du einfach sterben würdest... nein, nicht sterben. Du möchtest nicht sterben, sondern verschwinden und nie wieder auftauchen. So als hättest du nie existiert.“
 

Luca nahm den letzten Zug seiner Kippe und drückte den Stummel auf der äußeren Fensterbank aus. Fabian sprach ihm aus der Seele, aber er würde lieber aus dem Fenster springen, als das zuzugeben.

„Okay, Kleiner, das reicht jetzt.“ Er schloss das Fenster, drehte sich um und lehnte sich mit dem Rücken gegen die kühle Scheibe. „Ich weiß nicht, wen oder was du da gerade zitiert hast, aber--“

„Ich zitiere niemanden“, erwiderte Teddy, der den Blick verlegen auf den Boden gerichtet hatte.

„Sondern?“

Ein kleines Lächeln erschien auf Fabians Lippen. „Eigentlich ist das etwas sehr Privates, aber da ich wahrscheinlich nicht mehr lange hier leben werde, kann ich es dir ruhig sagen.“ Er räusperte sich und sah Luca mit seinen himmelblauen Augen ins Gesicht. „Das, was ich gerade beschrieben habe, war nicht das, was ich von dir denke, sondern... so wie ich mich gefühlt habe. Früher, als ich noch zu Hause war.“

7. Kapitel

Als Antonia an diesem Tag die Villa ihres Bosses betrat, wusste sie schon bevor sie den Schlüssel ins Schloss steckte, dass irgendetwas vorgefallen war. Marius brüllte aus voller Lunge durch das Gebäude und Luca warf mit Schimpfwörtern um sich, die man nur von ihm erwarten konnte.

Antonia seufzte und schloss die Tür auf. Im Flur traf sie auf Fabian, den sie auch sogleich fragte, was passiert war.

„I-ich glaube, es geht um mich“, murmelte der Junge schüchtern. „Luca möchte, dass ich hier bleibe, aber Marius scheint andere Pläne zu haben.“

Eigentlich war dieses Gespräch nicht für Fabians Ohren bestimmt, aber bei der Lautstärke, die Luca und Marius benutzten, wäre es nicht verwunderlich, wenn ganz Italien Wind von der Angelegenheit bekam.

„DU BRAUCHST DIR KEINE GEDANKEN ZU MACHEN!“, rief Marius so laut, dass die Wände wackelten. „ER KOMMT ZU EINEM FREUND VON MIR UND DAMIT BASTA!“
 

„HÖR AUF, DIESE ENTSCHEIDUNGEN OHNE MICH ZU MACHEN! WENN DU MICH SCHON HIER EINSPERRST, DANN GIB MIR WENIGSTENS EIN MITSPRACHERECHT!“, schrie Luca zurück und sorgte für ein unangenehmes Ziehen in Antonias Ohren.

Die junge Frau wusste, dass es sinnlos wäre, sich zwischen die beiden zu stellen. Sie ging in die Küche, machte sich einen Kaffee und hoffte, dass das Geschrei bei keinem der Beteiligten chronischen Hörschaden verursachen würde.

„W-wollen Sie nicht irgendetwas unternehmen?“, fragte Fabian zaghaft und folgte Antonia.

„Nein. Du solltest dich niemals Marius in den Weg stellen. Und erst recht nicht, wenn es um seinen Sohn geht.“

Teddy schwieg und bohrte unsicher die Fingernägel in seinen Handrücken. Dass Marius und Luca verwandt waren, hatte er mitbekommen, aber er fragte sich, ob Luca Geschwister oder Ähnliches hatte und ob er später Marius' Platz einnehmen würde.
 

Ein wenig Wissen über diese Familie oder die Mafia im Allgemeinen wäre jetzt wirklich nicht verkehrt, dachte er. Außerdem wüsste ich gerne, warum Luca seine Meinung geändert hat. Gestern meinte er noch, er hätte kein Problem damit, wenn Marius mich an einen Freund – tolles Synonym für ''Zuhälter'' – gibt, aber jetzt will er um jeden Preis, dass ich bleibe. Hat unser Gespräch dazu geführt?

Das Geschrei ebbte langsam ab. Antonia befürchtete beinahe, dass einer der beiden Schreihälse ohnmächtig geworden war, aber gerade als sie beschloss, dass sie nachsehen sollte, betrat Marius die Küche.

Seine schlechte Laune war ihm ins Gesicht geschrieben. Er blaffte Fabian an, dass er aus dem Weg gehen sollte – obwohl der Junge nie im Weg gestanden hatte und schon geflohen war, als er Marius' Schritte gehört hatte – und stampfte mit so einer Wucht auf die Kaffeemaschine zu, dass die Fliesen unter seinen Füßen knirschten.
 

„Bitte sag mir, dass du ihm nicht zu sehr zugesetzt hast“, sagte Antonia und klammerte sich an ihre Tasse. „Du warst schon immer jemand, der nicht einschätzen konnte, wie sehr Worte verletzen können.“

„Reg dich ab“, knurrte Marius. „Er hat seinen Willen bekommen. Das verdammte Kind bleibt fürs Erste hier.“

„Warum ist das ein so großes Problem? Entgeht dir deswegen gerade ein gutes Angebot, das du für ihn bekommen hättest?“

Fabian musste fast würgen, als er das hörte. Er war nicht mehr in der Küche, aber in der Nähe, weshalb er Antonias und Marius' Worte verstehen konnte. Sie sprachen über ihn, als wäre er ein gutes Rennpferd, für das hier niemand mehr Gebrauch hatte.

Am liebsten würde er Luca fragen, warum er sich so für ihn eingesetzt hatte, aber der junge Mann befand sich momentan sicherlich nicht in einem Zustand, in dem man ihn einfach ansprechen konnte. Fabian musste wohl oder übel warten und--
 

Es läutete an der Tür. Teddy verhielt sich ruhig und sah, wie Antonia durch den Flur schlenderte und die Eingangstür öffnete.

„Ach – du bist es. Hat Luca dich eingeladen?“ Ihr Gesichtsausdruck sah aus wie der von Marius, nur ein wenig milder.

„Ja, das könnte man so sagen. Darf ich reinkommen?“

Fabian lugte um die Ecke und sah eine junge Frau, die ein paar Jahre älter als Luca und echt unverschämt hübsch war. Sie besaß goldblondes Haar, strahlend blaue Augen und ein charmantes Lächeln, das alle Anwesenden dazu veranlasste, sie zu mögen. Für einen Augenblick dachte Fabian, ein Engel wäre vor ihm erschienen, doch als er bemerkte, wie Marius an ihm vorbeiging, wurde er von seiner Angst aus der Illusion gerissen.

„Chiara, schön dich zu sehen“, begrüßte Marius die junge Dame. „Komm doch rein. Ich glaube, Luca ist in seinem Zimmer.

Die Sache wurde immer interessanter. Kaum waren Marius und Chiara außer Hörweite, ging Fabian zu Antonia und fragte sie nach der blonden Frau.
 

„Das ist Chiara, Lucas Freundin“, antwortete Antonia, ohne von ihrer Zeitschrift aufzusehen. „Allerdings glaube ich nicht, dass ihre Beziehung noch lange hält... was wahrscheinlich auch besser so ist.“

„Warum?“

„Darum.“ Die schnippische Betonung und das aggressive Umblättern ließen den Jungen nervös schlucken. „Da fällt mir ein – die Regale im Wohnzimmer müssten mal wieder entstaubt werden. Du weißt, wo die Putzsachen sind, nicht wahr?“

Fabian nickte und machte sich an die Arbeit. Er war gerade am ersten Regalbrett zugange, als er hörte, wie Marius das Haus verließ, und erleichtert seufzte. Dieser Mann war ein Monster, aber entweder schien das niemand zu wissen oder keiner interessierte sich dafür. Was auch immer der Fall war, Fabian musste wachsam sein. Was er mit seiner Freundin Clara durchlebt hatte, war schlimm genug gewesen, und das Gleiche von einem erwachsenen Mann zu erfahren, wäre sicherlich noch schlimmer.

Der Junge kämpfte sich durch die Regale und hatte schon über die Hälfte geschafft, als plötzlich Chiara und Luca den Raum betraten.
 

„Du hättest mir ruhig sagen können, dass du vorbeikommst“, sagte er, woraufhin sie ihn ansah, als hätte er etwas unglaublich Dämliches gesagt.

„Ach Luca, warum wundere ich mich überhaupt? Es war zu erwarten, dass du zu unfähig bist, zwischen den Zeilen zu lesen.“

Fabian erkannte, dass er von den beiden noch nicht bemerkt worden war, und zog sich unauffällig in eine Nische zurück, wo er sich gut verstecken konnte. Für den Fall, dass man ihn doch entdecken sollte, würde er einfach behaupten, bloß seine Aufgabe zu erledigen, und niemand würde das hinterfragen.

„Sorry“, erwiderte Luca genervt. Er ließ sich auf die Couch sinken und war im Begriff, den Fernseher anzuschalten, als Chiara empört Luft holte.

„Was sollte das denn?“, fauchte sie aufgebracht. „Ist das deine Art, mir zu sagen, dass ich die Klappe halten soll, oder was?“

„Nein. Ich dachte nur, dass unser Gespräch zu Ende wäre, weil du nichts mehr gesa--“
 

„Das war so klar.“ Sie verdrehte genervt die Augen und stöhnte. „Natürlich schiebst du mir wieder die Schuld zu.“

„So war das nicht gemeint und das weißt du auch.“

Fabian schüttelte den Kopf. Prinzesschen Chiara war zwar schön, aber ihr Aussehen schien sie arrogant gemacht zu haben. Antonia hatte mit dem, was sie gesagt hatte, vollkommen recht. Diese Beziehung würde in spätestens einer Stunde nicht mehr existieren.

„Wie lange hast du eigentlich noch vor, bei deinem Vater zu wohnen?“, wechselte Chiara das Thema. „Und ihm auf der Tasche zu liegen?“

„Keine Ahnung. Ich möchte hier weg, aber er lässt mich nicht.“

„Befürchtet wohl, dass du alleine nichts auf die Reihe kriegst, hm?“

Was zur Hölle ist ihr scheiß Problem?, dachte Fabian. Sie sucht energischer nach Möglichkeiten, Luca zu beleidigen, als ein Kind nach Ostereiern.

„Nein. Ich glaube eher, er möchte mich bei sich haben. Außer mir hat er nämlich nicht viele Personen, die ihm nahestehen.“
 

„Oh Luca, an deiner Deutung werden wir aber noch arbeiten müssen.“

„Was meinst du damit?“

„Denkst du wirklich, das ist der Grund? Dein Vater will dich bei sich haben? Mensch, Luca, werd erwachsen. Selbst ein Blinder würde sehen, dass er dich hier einsperrt, weil er dich für unselbstständig hält.“

„F-findest du?“, fragte Luca in einem Ton, der sowohl Fabian als auch Chiara erkennen ließ, dass sie einen wunden Punkt bei ihm getroffen hatte.

„Ich finde es nicht, ich sehe es. Dein Vater ist enttäuscht von dir, weil du versucht hast, dir das Leben zu nehmen. Er fragt sich, was aus dir mal werden soll und sieht dich schon als Obdachloser auf der Straße sitzen.“

Herr im Himmel, was hat diese Frau für ein Problem?! Diese Dinge sind das absolut Letzte, das man einer selbstmordgefährdeten Person sagen sollte!

„Und ganz ehrlich, Luca, er hat recht. Was soll man bloß mit dir machen, wenn du schon beim kleinsten Problem den Schwanz einziehst und dich umbringen willst?“
 

Fabian hatte genug gehört. Er legte das Staubtuch ab, verließ das Wohnzimmer, ignorierte Lucas Frage, wie lange er schon hier war, und ging in die Küche, wo Antonia gerade ein Telefonat beendete.

„Was ist los?“

Ihre Frage klang desinteressiert, aber kaum hatte Fabian ihr das Grobe von der Unterhaltung zwischen Chiara und Luca erzählt, fletschte Antonia die Zähne und rauschte ins Wohnzimmer, wo sie Chiara eindringlich dazu aufforderte, zu gehen.

Was dann passierte, fand Fabian ziemlich interessant. In dem Moment, als Antonia das Wohnzimmer betrat, wurde Chiara von der hässlichen Kröte wieder zum schönen Engel. Sie schenkte der anderen Frau ein sympathisches Lächeln und bat, noch ein wenig bleiben zu können, aber Antonia schien auf diesen Trick nicht reinzufallen. Sie ergriff ihr Handy, verfasste eine kurze Nachricht und beobachtete wenige Augenblicke später, wie zwei Männer, die sehr stark an Türsteher erinnerten, das Wohnzimmer betraten, Chiara packten und aus der Villa zerrten.
 

„Sag mal, geht's noch?!“, fauchte Luca aufgebracht, nachdem die drei das Anwesen verlassen hatten. „Das kannst du doch nicht machen! Ich--!“

„Luca, es reicht! Ich weiß, dass du das nicht sehen willst, aber diese Frau schadet dir. Sie ist pures Gift für deine Psyche!“

„Halt dein Maul! Du hast keine Ahnung! Sie ist die einzige Person, die mir die Wahrheit sagt, anstatt mich anzulügen!“

„Wann habe ich dich je angelogen?!“, rief Antonia wütend.

„Jeden verdammten Tag! ''Es wird besser'', ''In deinem Leben wird es wieder bergauf gehen'' und ''Du musst dir nur Zeit lassen'' – nichts davon stimmt!“

Antonia wollte etwas erwidern, aber Luca hatte sich bereits von ihr abgewandt. Er stürmte in sein Zimmer, warf eine Tasche auf sein Bett und begann, seine Sachen zu packen.

„Vergiss es“, sagte Antonia, die ihm gefolgt war und gereizt die Arme vor der Brust verschränkte. „Du wirst nicht einmal bis zur Haustür kommen. Dafür sorge ich.“
 

Fabian verstand, was sie damit meinte. Sie sprach davon, dass rundum das Anwesen Wachposten und Leibwächter aufgestellt waren, die Unbefugte draußen und Luca drinnen hielten. Die zwei Männer von gerade eben gehörten auch zu diesen Kerlen.

Der junge Mann ließ den Pullover, den er aus seinem Schrank geholt hatte, fallen und setzte sich auf sein Bett.

„Ich hasse dich“, sagte er unerwartet ruhig und vergrub das Gesicht in seinen Handflächen. „Hör auf, mich hier einzusperren.“

„Du lässt mir keine andere Wahl“, erklärte Antonia. „Diese Frau treibt dich noch in den Selbstmord.“

„Das ist nicht wahr. Sie ist das Einzige, das ich noch habe, und du willst sie mir wegnehmen. Ich hasse dich, Antonia.“

Angesprochene seufzte, ehe sie den Kopf schüttelte und wegging. Fabian war im Begriff, ihr zu folgen, aber Luca einfach mit seinem Frust und seiner Wut alleine zu lassen, brachte er nicht übers Herz.
 

„Verschwinde“, zischte der Ältere wütend, als er hörte, wie der Junge näherkam. „Ich will dich nicht sehen.“

„Luca, ich--“

„Ich habe mich heute Morgen für dich eingesetzt und dafür gesorgt, dass du nicht in einem Bordell landest – und das ist der Dank dafür?“

„Luca, bitte hör mir zu.“ Fabian setzte sich neben Luca auf das Bett und achtete darauf, ihn nicht zu berühren, weil er das bestimmt nicht gut gefunden hätte. „Was Chiara zu dir gesagt hat, war nicht okay. Sie hat nach deinen Wunden gesucht und so tief hineingebohrt, wie sie nur konnte.“

„Sei still. Du kennst sie nicht.“

„Ich weiß nicht, ob das Absicht war, aber sie hat dir wehgetan.“

„Jeder macht mal Fehler. Sie ist nicht immer so.“

„Okay. Dann habe sie wohl falsch eingeschätzt.“

Luca sah zu Fabian und wartete darauf, das nächste Argument gegen Chiara zu hören, aber Teddy machte keine Anstalten, in dieser Richtung fortzufahren.
 

„Es tut mir leid, dass ich so gehandelt habe. Ich kenne deine Freundin nicht gut genug, um sie beurteilen zu können, weshalb ich nur euer Gespräch als Grundlage genommen habe. Ich hätte das nicht tun sollen und ich möchte, dass du weißt, dass das keine böse Absicht war. Ich habe nicht vor, mich in eure Beziehung einzumischen.“

Luca nickte und spürte, wie sich seine Wut gegen Fabian langsam, aber sicher in Luft auflöste, während die gegen Antonia noch stärker wurde. Warum konnte diese blöde Kuh sich nicht ein Beispiel an dem Jungen nehmen und ihr Eingreifen auf ein Minimum beschränken, anstatt ihn zu bewachen, als wäre er ein hilfloses Kleinkind?

„Denkst du, Antonia wird meine Beziehung irgendwann akzeptieren?“, fragte Luca, obwohl ihm bewusst war, dass er von einem 16-Jährigen nicht die besten Ratschläge oder die meiste Erfahrung zu erwarten hatte.

„Ich denke, es wird besser, wenn sie sieht, wenn es zwischen dir und Chiara friedlicher zugeht.“
 

„Hoffentlich. Weißt du, früher war sie die perfekte Freundin. Sie hat mir zugehört, sie hatte Verständnis für meine Probleme und sie war einfach diese Person, bei der man sich sicher ist, die einzig wahre Liebe gefunden zu haben.“

Fabian konnte nicht glauben, dass die Chiara, von der Luca da sprach, und die Chiara, die ihn vorhin so heftig beleidigt hatte, ein und dieselbe Person waren, aber er äußerte sich nicht dazu, weil er Luca nicht provozieren wollte.

„Es kommt gelegentlich vor, dass sie mal ein wenig gröber zu mir ist, aber... das ist meistens meine Schuld.“

„Inwiefern?“

„Ich provoziere sie und treibe sie dazu, diese Sachen zu tun... zumindest sagt sie das.“

„Was für Sachen?“

„Nichts Schlimmes. Nur ein paar Beleidigungen, ein paar Schläge und... ein paar Anschuldigungen.“ Lucas Stimme wurde immer leiser und langsamer. Er schluckte, um den harten Kloß in seinem Hals loszuwerden, und blinzelte sich die Feuchte aus den bernsteinfarbenen Augen.
 

„Darf ich fragen, was für Anschuldigungen das sind?“, murmelte Fabian zaghaft.

„Sie sind nicht schlimm, wirklich nicht. Chiara hat nur gesagt, dass... ich allen Menschen, die je mit mir zu tun hatten, einen großen Gefallen tun würde, wenn ich mich schon früher umgebracht hätte.“ Vereinzelte Tränen rannen über Lucas fahle Haut. „Und dass mein Vater eine Menge Geld für mich verschwendet. Wegen dem Aufenthalt im Krankenhaus und der Psychotherapeutin und so weiter.“ Der Kloß in seinem Hals fühlte sich so hart und fest an, dass er kaum noch sprechen konnte. „Und sie hat einige Male gesagt, dass ich niemals selbstständig sein werde... und dass ich wie ein Parasit an ihr und an meinem Vater hänge. Dass ich mit meiner Persönlichkeit alle Menschen in meiner Nähe vergraule und...“

Luca brach ab und schüttelte den Kopf. Er wischte sich mit dem Handrücken die Tränen von der Wange, doch für jede, die er entfernte, erschienen zwei neue.

„Das ist schrecklich“, murmelte Fabian eingeschüchtert. „Warum sagt sie dir so etwas?“

„Weil es stimmt“, hauchte Luca, der immer noch gegen seine Tränen kämpfte.
 

„Nein, das stimmt nicht. Wenn du dich jetzt umbringst, würden Marius und Antonia sich nicht freuen, sondern trauern. Und wen interessiert es, wenn dein Vater Geld für dich ausgibt? Du bist sein Sohn und bei den Geldmassen, die er besitzt, könnte er ohne Probleme hunderte Menschen deiner Art finanzieren.“

Luca zog die Beine an seinen Körper, verschränkte die Arme auf den Knien und vergrub das Gesicht darin. Er hasste es, seine Gefühle nicht unter Kontrolle zu haben, und seine Schwäche vor anderen zu zeigen, hasste er noch viel mehr. Fabian sollte nicht sehen, wie er weinte, aber Luca wollte auch nicht, dass der Junge wegging.

„Und das mit dem Parasiten kann nicht stimmen. Für Marius bist du das genaue Gegenteil und wenn Chiara dich wirklich als etwas so Störendes empfinden würde, hätte sie schon längst mit dir Schluss gemacht.“

Luca in diesem Zustand zu sehen, erinnerte Fabian an seinen eigenen Schmerz. Er schmiegte sich an den Älteren und spürte, wie dieser einen Arm um ihn legte. Kurz daraufhin umarmten sich die beiden und klammerten sich so stark aneinander, als hätten sie Angst, irgendetwas würde kommen und sie trennen wollen.

8. Kapitel

Sobald Marius nach Hause kam, erzählte Antonia ihm von dem Streit zwischen Chiara und Luca und erhoffte sich von ihm, dass er sie unterstützen und Luca dazu bewegen würde, sich von der falschen Schlange zu trennen, aber alles, was Marius tat, war die Augen zu verdrehen.

„Du übertreibst“, sagte er und ignorierte, dass Antonia fast die Kinnlade herunterfiel. „Es war nur ein kleiner Streit. Und selbst wenn nicht; Luca kann sich selbst darum kümmern.“

„Eben nicht! Er--“

„Hey. Pass auf, wie du über meinen Sohn redest.“

„Ich sage nur, dass--“

„Und außerdem kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Chiara diese Sachen wirklich gesagt hat. Das musst du falsch verstanden haben.“

Antonia war kurz davor, Marius mit etwas zu bewerfen. Sie versuchte ihm zu erklären, dass Luca von Chiara wie der letzte Dreck behandelt wurde und nicht einsehen wollte, dass sie ihm schadete, aber Marius, der anscheinend genauso blind und stur wie sein Sohn sein konnte, hörte nicht zu und riet ihr, sich nicht mehr um Lucas Beziehung zu kümmern. Der Apfel fiel nicht weit vom Stamm.
 

„Ach ja, und noch was“, hielt Marius Antonia zurück, als diese im Begriff war, wütend schnaubend sein Büro zu verlassen. „Es geht um den Jungen. Ich konnte einen meiner Freunde dazu überreden, in bei sich aufzunehmen, aber an dem Tag, an dem er ihn abholen will, bin ich nicht da. Kannst du die Übergabe übernehmen?“

„Aber du hast doch heute Morgen gesagt, dass Fabian hierbleiben darf. Was wird Luca--?“

„Ich sagte, er darf fürs Erste hierbleiben. Das heißt, Ende dieses Monats ist er weg.“

„Dir ist klar, dass Luca das wahrscheinlich nicht zulassen wird, oder?“

„Nun, was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß.“ Marius lächelte hämisch. „Genau deswegen müssen wir den Jungen loswerden, während Luca nicht anwesend ist.“

„Aber früher oder später wird er es herausfinden.“

„Ich weiß, aber dann wird es schon zu spät sein.“ Er seufzte und kratzte sich am Hinterkopf. „Ich verstehe nicht, warum er sich für den Knaben einsetzt... wie dem auch sei, du musst dich um die Übergabe kümmern. Und kein Wort zu Luca, ja? Versprich es mir.“
 

Antonia versprach, dass sie Luca nichts von Fabians Schicksal sagen würde, und verließ spöttisch lächelnd das Büro. Marius schaute ihr verwirrt hinterher und überlegte fieberhaft, was sie nun im Schilde führte, doch als er zu der Erkenntnis kam, dass er die Personen, mit denen Antonia nicht über den Deal sprechen durfte, nicht auf Luca hätte begrenzen sollen, war es bereits zu spät.

Zügige Schritte kamen eilig auf das Büro zu, ehe die Tür mit so einer Wucht aufgestoßen wurde, dass sie sich beinahe aus den Angeln löste, und ein wütender junger Mann namens Luca im Büro erschien. So bedrohlich wie ein Rabe im Sturzflug überwand er den Abstand zwischen sich und dem Schreibtisch und schlug mit beiden Fäusten auf die Tischplatte. Das letzte Mal, dass Marius seinen Sohn so in Rage erlebt hatte, war, als Luca im Krankenhaus aufgewacht war und verstanden hatte, dass sein Selbstmordversuch gescheitert war.

„Warum hast du mich angelogen?“, rief Luca fuchsteufelswild, während Antonia triumphierend schmunzelnd hinter ihm ins Büro kam.

„Was zur Hölle, Antonia! Du hast mir vor einer Minute versprochen, dass--!“
 

„Ich habe es ihm nicht gesagt“, erwiderte sie gelassen. „Er weiß es von Fabian.“

„Antworte mir!“, mischte sich Luca ein und ballte seine Hände zu Fäusten. „Warum hast du Teddy verkauft? Du hast gesagt, er könnte bleiben!“

„Warum ich ihn verkauft habe? Weil er nutzlos ist! Ich brauche ihn nicht und du...!“

Zuerst hatte Antonia es für eine gute Idee gehalten, Marius' Plan an Fabian weiterzugeben, der daraufhin sofort zu Luca gerannt war, aber jetzt, wo sie Zeugin wurde, wie Luca und Marius in einen Streit gerieten und sich gegenseitig anstachelten, bereute sie ihre Entscheidung. Wenn die beiden in dem Tempo weitermachten, würde es morgen eine Beerdigung geben.

Während Antonia noch überlegte, ob sie vielleicht eingreifen sollte, umrundete Marius den Schreibtisch und stellte sich vor Luca. Sein Gesicht war so rot wie eine Tomate. Er erhob seine Hand und holte aus, um seinen Sohn mit einer Ohrfeige zum Schweigen zu bringen, aber bevor er ihn auch nur berühren konnte, wurde seine Hand von Antonia geblockt, die plötzlich zwischen den beiden Männern stand.
 

„Es reicht“, entschied sie. „Wir werden das jetzt friedlich regeln und--“

„Der Junge kommt weg und damit basta“, fauchte Marius, dessen Gesicht mittlerweile einen unschönen Braunton angenommen hatte.

„Dann bist du mich auch los“, erwiderte Luca nicht minder aggressiv.

„Es reicht“, wiederholte Antonia. „Boss, den Jungen hier zu lassen, macht keine großen Umstände und das Geld, das du für ihn bekommen könntest, ist nicht wirklich bedeutend, wenn man es mit deinem Reichtum vergleicht. Wie wäre es also mit einer Vereinbarung? Fabian bleibt hier und dafür wird Luca--“

„Er soll aufhören, sich zu ritzen!“, rief Marius gereizt, nicht ahnend, dass seine Worte für Luca wie Schläge waren. „Er soll aufhören, in Depressionen zu versinken, und sein Leben endlich auf die Kette kriegen!“

Antonia schloss ihre Augen und biss sich auf die Unterlippe. Das, was Marius gesagt hatte, befand sich nicht auf Chiaras Level, aber war trotzdem nicht hilfreich gewesen.

Großartig. Ich werde Monate brauchen, um diese Worte wieder aus Lucas Kopf zu kriegen. Warum kann Marius nicht nachdenken, bevor er spricht?
 

„Denkst du, mir macht das Spaß?“, zischte Luca und kämpfte mit seinen Tränen. „Denkst du, ich finde es toll, meinen Körper zu ruinieren und mir jedes Mal, wenn ich einschlafe, zu wünschen, ich würde nie wieder aufwachen? Denkst du, es ist cool, sich wertlos zu fühlen und jede freie Minute darüber nachzudenken, wie man sich umbringen könnte, weil man es nicht mehr aushält?“

„Luca, i-ich...“ Selbst Marius schien verstanden zu haben, dass er zu weit gegangen war. „Ich hätte das nicht sagen sollen. Es tut mir leid.“

Er wollte seinen Sohn entschuldigend umarmen, aber Luca schlug seine Hand abwehrend weg.

„Fass mich nicht an“, wisperte er, ehe er aus dem Büro verschwand und zwei ratlose Erwachsene zurückließ.

„Na großartig“, murmelte Marius und sah zu Antonia, die sich erst jetzt traute, die Augen zu öffnen. „Wie soll ich das wieder geradebiegen?“

„Schon gut, ich kümmere mich drum.“

„Gut... sag mal, wenn ich dich nicht unterbrochen hätte, was hättest du dann gesagt?“

„Ich wollte vorschlagen, dass Luca seiner Psychotherapeutin eine Chance gibt.“
 

„Das... ist keine schlechte Idee. Warte, bis er sich beruhigt hat, und dann mach ihm den Vorschlag. Wenn er zusagt, werde ich den Jungen hier wohnen lassen. Als Putzhilfe.“

„Wirklich?“

„Ja.“

„Okay.“

Antonia verließ das Büro und kollidierte beinahe mit Fabian, den sie über die aktuelle Lage aufklärte. Danach ging sie zu Luca, der sich in seinem Zimmer eingeschlossen hatte und Antonia erst nach zweieinhalb Stunden hereinließ, und berichtete ihn von der Abmachung.

„Meine Psychotante? Kann ich machen, wenn es unbedingt sein muss, aber warum seid ihr alle so scharf darauf?“

„Weil wir denken, dass sie dir helfen kann.“

Luca verdrehte genervt die Augen, die vom Weinen gerötet und leicht angeschwollen waren. „Na gut. Ich kann dir jetzt schon sagen, dass ich euch enttäuschen werde, aber wenn Teddy wirklich bleiben darf, werde ich der Frau eine Chance geben.“
 

Wenige Tage später hatte Luca seinen nächsten Termin bei der Therapeutin. Er hielt sich an sein Versprechen und beantwortete ihre manchmal etwas seltsamen Fragen, während Teddy einige Räume weiter den Abwasch erledigte. Er war unglaublich froh, dem Bordell entkommen zu sein, aber zu sagen, dass er sich freute, hierbleiben zu können, wäre eine Lüge, denn er schlief unter dem selben Dach wie dieses widerwärtige Schwein namens Marius, der Fabian jederzeit bedrohen könnte. Der Junge musste unweigerlich daran denken, wie ihn der Mann eines Nachts plötzlich vor seine Füße gezerrt und vom ihm verlangt hatte, dass...

Er krallte seine Finger so feste in den Teller, den er gerade polierte, dass das Porzellan leise knirschte. In jener Nacht war es nicht zum Missbrauch gekommen, aber es gab keine Garantie dafür, dass die folgenden Versuche ebenfalls scheitern würden. Marius war nicht blöd. Er würde sich eine Gelegenheit suchen, in der niemand ihn an seinem Vorhaben hindern könnte, und dann... würde er das machen, was Fabian schon von seiner Freundin Clara kannte. Er war immer noch nicht über das Trauma hinweggekommen, das sie bei ihm verursacht hatte, und zu wissen, dass er jenes Erlebnis möglicherweise erneut durchstehen müsste, machte ihn beinahe wahnsinnig.
 

Er konnte hier nicht bleiben. Nicht solange dieses Monster mit ihm im selben Haus lebte.

Aus dem Zimmer, in dem Luca und seine Therapeutin waren, drang ein humorloses Lachen, das von Luca stammte. Fabian fragte sich, über was die beiden redeten. Früher, als er noch ein Schüler in Deutschland gewesen war, hatte er seine Eltern darum gebeten, einen Therapeuten für ihn zu suchen, aber Dad war dagegen gewesen, weil... weil Männer so etwas nicht brauchten. Weil das für ihn als unmännlich galt. Weil es ihm scheißegal war, dass sein Sohn manchmal in Tränen ausbrach und sich selbst verletzte. Weil es dann einen weiteren Grund gäbe, warum er nicht stolz auf Fabian sein konnte. Weil er ein dummes Arschloch war. Weil es niemanden interessierte, wie es dem Jungen ging. Weil Kerle angeblich nicht vergewaltigt wurden, weil Dad diesen Bullshit glaubte, weil es sinnlos gewesen wäre, ihm dieses Geheimnis anzuvertrauen, weil--!

Fabian spürte, wie Tränen über seine Wangen liefen und von seinem Kinn tropften. Seine Stimmung war von ''Eigentlich ist es gerade ganz schön'' zu ''Ich will mich erhängen'' geworden und das innerhalb einer halben Minute.
 

Nachdem Fabian den letzten Teller abgetrocknet und auf dem Stapel platziert hatte, schmiss er das Geschirrtuch achtlos auf die Kücheninsel und machte sich in das kleine Zimmer auf, das ihm zugewiesen wurde. Er sollte hier schlafen, aber das Wissen, dass dieses Monster unterwegs war und man die Tür nicht abschließen konnte, ließ ihn nachts kein Auge zumachen.

Fabian betrat sein Zimmer und wollte sich auf die harte Matratze fallen lassen, als plötzlich Marius vor ihm erschien. Er musste neben der Tür gewartet haben, die er nun hinter sich schloss.

„Geh weg oder ich schreie“, knurrte Fabian warnend.

„Sei still. Ich will nur mit dir reden.“ Marius spähte in den Flur, um nach potenziellen Zuhörern Ausschau zu halten, ehe er sich wieder an den Jungen wandte. „Hör zu: Ich werde dich nicht wie einen Parasiten in meinem Haus wohnen lassen. Hier zu leben, kostet dich etwas.“

„Und das wäre?“, fragte Fabian, obwohl er schon längst beschlossen hatte, Luca alles zu erzählen, was gerade passierte.

„Du wirst mein persönliches Spielzeug. Und du wirst niemanden etwas darüber wissen lassen.“
 

Fabian war nur noch eine Haaresbreite davon entfernt, sich zu übergeben.

„Vergiss es“, zischte er hasserfüllt und angewidert.

„Bist du dir da sicher? Die einzige Alternative ist nämlich das Bordell. Entscheid dich: Entweder ich oder andere Männer.“

„Keines von beiden. Luca wird--“

„Luca kann dir nicht jedes Mal den Arsch retten. Dass er mit seinem Vornamen angesprochen wird, während ich ''Boss'' genannt werde, hat seinen Grund. Wenn ich sage, dass du in ein Bordell kommst, dann kommst du auch in ein Bordell!“

„Luca wird dir das niemals verzeihen.“

„Das wäre in der Tat nicht schön, aber zu wissen, dass du täglich von zwanzig verschiedenen Männern gefickt wirst, wird mich trösten.“

„Krankes Schwein. Geh und such dir Hilfe.“

„Kann ich nicht. Weißt du, was mit meinem Ruf geschehen würde, wenn meine Familie herausfindet, dass ich es mit Kindern treibe?“
 

„Wenn du mich auch nur ein einziges Mal anfasst, werde ich es jedem erzählen“, fauchte Fabian gereizt, woraufhin Marius bloß lachte.

„Niemand wird dir glauben, Zwerg. Du bist zu alt, um als Kind durchzugehen. Die Menschen werden denken, dass ich schwul bin, wenn sie mich mit dir erwischen, mehr nicht.“

„Nein. Sie werden sich denken können, dass es auch andere Opfer gab, und dir auf die Spur kommen.“

„Wohl eher nicht. Dein Vorgänger – ein Zwölfjähriger, wenn ich mich nicht irre – wird da, wo er jetzt ist, nicht mehr viel sagen können. Außerdem--“

Plötzlich flog die Tür auf und Luca platzte ins Zimmer. Während Fabian erleichtert Luft holte, wurde Marius kreidebleich. Luca hatte wahrscheinlich nicht alles gehört, aber das musste er auch gar nicht, um den wahren Grund herauszufinden, warum Marius nie geheiratet hatte.

„Lass es mich kurz fassen, Dad, denn mir ist das Thema genauso peinlich wie dir“, sagte Luca. „Du wirst Teddy in Ruhe lassen und in kein verdammtes Bordell stecken. Sollte ihm irgendetwas zustoßen, werde ich jeden aus der Familie wissen lassen, was für ein widerlicher Mensch du bist!“

9. Kapitel

Luca hatte damit gerechnet, dass Marius sich nicht erpressen lassen und irgendein krummes Ding abziehen würde, aber die folgenden Tage verliefen recht friedlich, wenn man davon absah, dass immer noch eine gewisse Spannung im Haus herrschte. Antonia, der nichts entging, bemerkte diese Spannung und fragte, was passiert sei, aber niemand wollte oder konnte ihr eine hilfreiche Antwort geben, weshalb ihr nichts anderes übrig blieb, als die gelegentlichen Blicke des Misstrauens zwischen Marius und Luca zu ignorieren. Letzterer ließ sich endlich auf seine Psychotherapeutin ein, aber er war immer noch davon überzeugt, dass sie nichts bringen würde und eine Therapie reine Zeitverschwendung wäre. Oft zog er sich in sein Zimmer zurück und hörte dort deprimierende Musik, die seine ohnehin schon düstere Stimmung noch düsterer machte. Antonia schickte Fabian zu Luca, in der Hoffnung, dass der Junge ihn aufheitern oder aus seinem Zimmer holen würde, aber alles, was sie damit erreichte, war, dass die beiden nun gemeinsam in Lucas Raum versauerten. Jedes Mal, wenn Antonia an dem Zimmer vorbeikam, hörte sie die Soundtracks von Kriegsfilmen, Dramen oder Tragödien und – seitdem Fabian dabei war – auch einige Werke von Max Richter, die zwar schön, aber auch verdammt traurig klangen.
 

„Okay, es reicht jetzt“, sagte sie ungefähr eine halbe Woche nach einem gewissen Vorfall, von dem sie nichts erfahren hatte. „Ihr könnt nicht den ganzen Tag in diesem Zimmer verbringen.“

„Anscheinend doch“, erwiderte Luca, ohne von seinem Handy aufzusehen. Er lag bäuchlings quer über seinem Bett. Fabian lag im rechten Winkel zu ihm, aber auf dem Rücken, und nutzte den Brustkorb des Älteren als Kopfkissen, womit dieser kein Problem zu haben schien. Normalerweise hasste Luca den Körperkontakt mit anderen Menschen, aber Fabian war anscheinend eine Ausnahme.

„Was haltet ihr davon, wenn wir zusammen das Mittagessen kochen?“, schlug Antonia vor und schaltete die Musik ab, bei der jeder früher oder später Depressionen bekommen würde.

„Warum sollten wir das tun, wenn wir eine Köchin haben?“, murrte Luca, während Fabian umblätterte und vollkommen in sein Buch vertieft war. Antonia konnte nicht sagen, ob der Junge sie bewusst ignorierte oder ob er von der Handlung so gefesselt war, dass er von der Realität nichts mehr wahrnahm.

„Weil es Spaß machen kann. Oder wir tun etwas anderes – Hauptsache, ihr beiden kommt endlich aus diesem Zimmer raus und geht mal an die frische Luft.“
 

Luca stöhnte genervt und tat so, als hätte er Antonia nicht gehört. Erst als Fabian ihn fragte, ob er Lust hätte, zum Strand zu gehen, erhob er sich und verließ mit dem Jungen das Zimmer.

Antonia sagte dazu nichts. Sie war es gewohnt, von Luca so behandelt zu werden, und hatte mit der Zeit eine Immunität gegen seine sarkastischen und verbitterten Sprüche und sein abweisendes Verhalten entwickelt. Außerdem wusste sie, dass er die bösartigen Sachen, die er manchmal sagte, in neun von zehn Fällen gar nicht so meinte und dass es ihm eigentlich leidtat.

Antonia ging in die Küche, machte sich einen Kaffee und setzte sich anschließend auf eine der Liegen im Garten. Von hier aus hatte man einen großartigen Ausblick auf den Strand, der quasi direkt hinter Marius' Villa lag und nur sehr selten von Touristen besucht wurde. Im Sommer kam es durchaus vor, dass die ein oder andere Familie ihren Sonnenschirm am Strand aufbauen wollte und nur wenige Minuten später von Marius' Männern vertrieben wurde, aber jetzt, im November, musste man sich zum Glück nicht mit Menschen herumschlagen, die das Wort ''Privatgrundstück'' nicht verstanden.
 

Antonia nippte an ihrer Tasse und genoss die angenehm kühle Luft, die nach Salz und nach Meer roch. Eine leichte Brise streifte die Gräser auf den Dünen, die sich links und rechts neben der Villa befanden. Die Landschaft hier war wirklich traumhaft und--

„Was machen die beiden da?“

Sie verschluckte sich fast an ihrem Kaffee, als Marius plötzlich hinter ihr erschien.

„Einen Spaziergang, schätze ich“, antwortete sie und stellte die Tasse auf dem kleinen Tisch neben sich ab. „Was ist los?“

Marius verzog das Gesicht zu einer grimmigen Fratze und knirschte mit den Zähnen. „Mir gefällt das nicht“, knurrte er, den Blick starr auf Fabian und Luca gerichtet, die vermutlich miteinander redeten. „Luca soll später mal meine Position einnehmen... und jetzt gibt er sich mit diesem Sklaven ab.“

„Ich denke, es tut ihm gut, jemanden in seinem Alter zu haben, der--“

„Er hat Chiara.“

„... ihn nicht wie einen Feind behandelt“, beendete Antonia ihren Satz. „Schau sie dir doch an. Die beiden verstehen sich.“
 

Marius rümpfte die Nase und schüttelte empört den Kopf. „Ich hätte diesen verdammten Bengel in Russland lassen sollen“, zischte er und ging zurück ins Haus.

Antonia seufzte und leerte ihre Tasse. Es kostete sie etwa eine Minute, die Tasse in die Küche zu bringen und dort in die Spüle zu legen, und in dieser einen Minute hatten Luca und Fabian es geschafft, sich nicht nur ins Meer zu schmeißen und bis auf die Knochen zu durchnässen, sondern auch im Sand zu wälzen, der nun an ihrer Kleidung und Haut haftete.

„Ich habe euch etwa sechzig Sekunden alleine gelassen“, sagte Antonia, die nicht wusste, ob sie lachen oder weinen sollte. „Wie zur Hölle...?“

Während sich Fabian verlegen die Sandkörner vom Leib klopfte, verschränkte Luca die Arme vor der Brust und sah Antonia gespielt herausfordernd an. „Du bist unzufrieden, wenn wir drinnen sind, und du bist unzufrieden, wenn wir draußen sind. Was willst du eigentlich von uns?“

„Schon gut. Geht einfach duschen und entschuldigt euch später bei der Putzfrau.“
 

Etwa eine halbe Stunde später saßen Luca und Fabian mit noch feuchten Haaren im Esszimmer und genossen ihr Mittagessen. Während der Junge hungrig zulangte, war der Ältere vielmehr an Teddys Lockenpracht interessiert, die im nassen Zustand nicht nur glatt, sondern auch ziemlich lang war.

„Du siehst so ganz anders aus“, murmelte Luca verträumt und wickelte sich eine der braunen Strähnen um den Finger.

„Du hast keine Ahnung, wie sehr ich meine Haare hasse“, erwiderte Fabian, den es anscheinend nicht störte, dass jemand mit seinen Haaren herumspielte. „Ich wünschte, ich hätte von Natur aus glatte. So wie du.“

Luca wollte etwas hinzufügen, aber genau in diesem Moment kam Marius ins Esszimmer. Ihm war anzusehen, dass er am liebsten jemanden zurechtweisen oder anschreien würde, doch er beherrschte sich und nahm sich schweigend eine Portion Spaghetti Carbonara.

„Sag mal, Luca, wie sieht es gerade bei dir und Chiara aus?“
 

Antonia, die im Türrahmen stand und ihren zweiten Kaffee trank, verspürte plötzlich den starken Drang, sich selbst gegen die Stirn zu schlagen. Die Stimmung am Tisch war so locker und friedlich gewesen, bis er diese falsche Schlange erwähnt hatte.

„Sie... sie hat mir eine Nachricht geschickt, aber ich habe sie noch nicht gelesen“, antwortete Luca zögernd. Er verschränkte die Finger ineinander und schaute betrübt auf sein Wasserglas.

„Junge, das ist doch keine Art und Weise, wie man mit einer Dame umgeht.“

Antonia hätte dem gerne zugestimmt und hinzugefügt, dass ''Dame'' das mit Abstand letzte Wort war, mit dem sie Chiara beschreiben würde.

„Ich weiß“, murmelte Luca. „Ich kümmere mich später darum.“

„Das will ich hoffen“, grunzte Marius, ehe er seinen Teller leerte und anschließend aufstand. „Komm, Antonia, wir müssen los.“

„Wo gehen die beiden hin?“, fragte Fabian, sobald Marius und Antonia das Esszimmer verlassen hatten, sodass er mit Luca alleine war.
 

„Keine Ahnung. Wahrscheinlich zu einem Treffen mit Geschäftspartnern und Freunden. Das kommt öfters vor.“

„Und mit wem treffen sie sich? Mit anderen Bossen?“

Luca lachte. „Mein Vater ist kein Boss. Er... du kennst dich mit der Struktur solcher Familien nicht aus, oder?“

„Nein. Wo soll ich so etwas auch gelernt haben?“

„Gut, hör zu: Ganz oben gibt es den Boss. Das ist der mächtige Obermacker, dem du nicht ans Knie pinkeln solltest. Dann kommt dessen Berater und Stellvertreter. Was die machen, müsste klar sein. Und dann, etwa in der Mitte, wenn man alle nach Macht sortieren würde, kommt der Capo. Das ist jemand, der eine kleine Familie und einige Soldaten anführt. Es gibt mehrere von ihnen und sie sind die Ansprechpartner des Bosses.“

„Und Marius ist ein Capo?“

„Richtig. Dem Capo folgen die Soldaten und dann gibt es noch die Assoziierten. Das sind Menschen, die nicht wirklich zur Familie gehören, aber mit denen wir in Verbindung stehen. Banker, Politiker, Drogendealer, Zuhälter – solche Leute eben. Wie du siehst--“
 

„Ich glaube, das reicht jetzt“, wurde er von Antonia unterbrochen, die plötzlich ihren Kopf ins Esszimmer steckte. „Luca, wir sind in einer Stunde wieder da. Stell nichts Blödes an. Du weißt, an wen du dich wenden kannst, falls etwas passieren sollte. Außerdem hast du meine Nummer.“ Sie verschwand, aber tauchte direkt danach wieder auf. „Und kein Wort mehr zu dem Thema, das ihr gerade besprochen habt.“

„Reg dich ab, ich hätte ihm eh nicht mehr als das gesagt“, erwiderte Luca, aber Antonia und Marius hatten das Haus bereits verlassen. Er seufzte genervt und schob seinen Teller, der er nicht angerührt hatte, zu Fabian, der nervös schluckte. Seitdem er hier war, hatte es für ihn meistens nur Wasser und Brot zu essen gegeben, weil Marius es so gewollt hatte.

„Hier. Ich will es nicht und es wegzuwerfen, wäre Verschwendung.“

„Dein Vater wird mich umbringen“, sagte Fabian nicht sehr überzeugend, da er gerade seine Gabel in den Nudeln versenkte.

„Schon gut, er wird es nie wissen.“
 

In den folgenden Tagen kam es immer wieder vor, dass Luca sein Essen an Fabian weiterreichte. Nur einmal wurde er dabei erwischt, aber das war von Antonia, die versprach, niemanden etwas zu sagen, wenn Luca ausnahmsweise auch etwas aß, was der junge Mann nur höchst widerwillig tat. Er hatte Chiaras Nachricht immer noch nicht gelesen und besaß die unschöne Vermutung, dass sein Vater irgendetwas ausheckte. Der Stress und die Angst um Teddy, mit dem er die meiste Zeit verbrachte, schlugen ihm auf den Magen und ruinierten seinen Appetit, was Antonia entweder nicht verstehen konnte oder nicht verstehen wollte. Luca hatte mit ihr nicht über das gesprochen, was zwischen Fabian und Marius vorgefallen war, und das hatte er auch nicht vor, denn sobald Marius' Geheimnis ans Licht kommen würde, hatte Luca nichts mehr gegen ihn in der Hand und das wäre sowohl für ihn als auch für Teddy höchst ungünstig.

„Verdammt, Antonia, ich bin 23 und selbstständig. Hör auf, mich wie ein Baby zu behandeln!“, fauchte er aggressiv, als Antonia ihn darüber informierte, dass sie und Marius gleich weggehen und frühstens am nächsten Morgen wiederkommen würden. Sie sagte ihm solche Sachen immer bei der letzten Gelegenheit, damit Luca davon überrascht wurde und keine Möglichkeit bekam, etwas Bestimmtes zu planen.
 

„Sollte etwas passieren, kannst du mich oder Marius jederzeit anrufen“, fuhr sie fort und wich der Fernbedienung, die Luca nach ihr warf, geschickt aus.

„Warum bestellst du nicht gleich einen Babysitter?“, zischte er, woraufhin sie genervt seufzte und sich von ihm abwandte.

„Bis morgen.“

„Komm nie wieder.“

Sie ignorierte seine Worte, machte die Haustür hinter sich zu und gesellte sich zu Marius, der bereits im Auto wartete.

„Man könnte meinen, die beiden sind ein Paar“, sagte Fabian, während er beobachtete, wie das Auto die Einfahrt verließ.

„Antonia ist verheiratet“, erwiderte Luca und hob die Fernbedienung auf, um sie an ihren rechtmäßigen Platz zurückzulegen. „Und Marius... das weißt du ja.“

Sie wechselten das Thema und unterhielten sich ein wenig, bis es Mittagessen gab, das Luca nicht anrührte.

„Sicher, dass du nichts willst?“, fragte Fabian, der nicht verstehen konnte, wie man lecker gewürzte Flügel vom Huhn ablehnen konnte.
 

„Ja. Ich hab' keinen Hunger.“ Mit diesen Worten ging Luca in sein Zimmer und las Chiaras Nachricht, die entgegen seiner Erwartung nicht voller Anschuldigungen und Schimpfwörtern war, sondern nur den Wunsch beinhaltete, sich mit ihm zu treffen.

»Wollen wir etwas Bestimmtes machen?«, schrieb er zurück und erhielt wenige Minuten später eine Antwort.

»Ich hätte Lust, essen zu gehen. Hier in der Nähe gibt es ein kleines Restaurant, das den Stil eines Diners kopiert. Wann hast du Zeit?«

Die beiden einigten sich auf nächsten Samstag. Luca war heilfroh, dieses Gespräch hinter sich gebracht zu haben, aber trotzdem ging es ihm miserabel. Ihm war schlecht und obwohl er in den letzten Tagen kaum etwas gegessen hatte, verspürte er das Bedürfnis, sich zu übergeben.

Sein Unwohlsein verdrängend ging Luca in die Küche. Auf dem Weg dorthin sah er die Überreste von Fabians Mittagessen im Esszimmer; ein Teller mit einigen Reiskörnern und einem kleinen Haufen dünner Knochen. Luca nahm den Teller und war im Begriff, die Essensreste in den Müll zu schütten, als ihm etwas Seltsames auffiel, das im Mülleimer lag und--
 

Luca verstand sofort, dass etwas nicht stimmte. Was er dort zwischen einer alten Bananenschale und einer schimmelnden Tomate gefunden hatte, war eindeutig eine Packung Schlaftabletten der starken Sorte. Um so etwas zu kriegen, musste man dem Kerl oder der Frau in der Apotheke entweder einen Attest vom Arzt oder ein paar Geldscheine in die Hand drücken. Solche Medikamente gab es in diesem Haus nicht, weil – zurecht – befürchtet wurde, dass Luca früher oder später versuchen würde, sich mit den Dingern umzubringen. Was hatten diese Schlaftabletten also hier zu suchen?

Luca schaute sich die Verpackung aus Pappe genauer an. Die Bedienungsanleitung und die Behälter für die Tabletten waren da, aber die Tabletten selbst fehlten und zwar jede einzelne von ihnen. Mit so einer Dosis könnte man sogar einen Menschen, der drei Zentner wog, dauerhaft ruhigstellen. Doch warum sollte jemand--?

„Teddy!“, rief Luca alarmiert und ging in den Flur, weil er eine größere Reichweite hatte, wenn er sich in die Mitte der Villa stellte. „Fabian, antworte mir!“

Er rechnete damit, jeden Moment Fabians Stimme zu hören, aber alles, was er erhielt, war unheimliche Stille.

10. Kapitel

Das letzte Mal, dass Luca so ein starkes Herzklopfen gehabt hatte, war an dem Tag seines Selbstmordversuches gewesen. In Rekordzeit stürmte er durch die Villa und fand Fabian in dessen Zimmer, wo der Junge auf dem Bett lag und sich nicht rührte.

„Teddy!“

Es kam keine Reaktion. Erst als Luca ihn an den Schultern packte und vorsichtig rüttelte, öffnete Fabian seine hellblauen Murmelaugen und blinzelte verschlafen.

„Was... ist los?“, murmelte er benommen, aber Luca hatte ihn bereits vom Bett aufgesammelt und ins Badezimmer getragen.

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass dir jemand Schlaftabletten ins Essen gemischt hat“, erklärte er und setzte Fabian neben der Toilette ab. „Ich weiß, dass das eine komische Frage ist, aber... weißt du, wie man sich selbst zum Übergeben bringt?“

Fabian runzelte verwirrt die Stirn.

„Du musst dir zwei Finger in den Rachen stecken und so lange dagegen drücken bis... du weißt schon. Soll ich dir helfen?“
 

„N-nein... ich glaube... ich kriege das alleine hin.“

„Okay. Ich bin gleich wieder da“, sagte Luca, ehe er Fabian einen besorgten Blick zuwarf, das Badezimmer verließ und zügig in sein eigenes Zimmer ging, wo er sich sein Handy schnappte. Er wollte Marius anrufen, aber im letzten Moment entschied er sich um und wählte stattdessen Antonias Nummer.

„Luca? Ist alles okay?“

„I-ich...“ Luca wusste nicht, wo er anfangen sollte. Er wusste nicht einmal, was überhaupt vorgefallen war und wie die Schlaftabletten ins Essen geraten waren.

„Luca, geht es dir gut?“, fragte Antonia alarmiert, die sein Stammeln zurecht als Warnzeichen interpretierte. „Wo bist du? Was ist los?“

„Ich glaube, jemand hat versucht, mich umzubringen.“

Für einen kurzen Moment herrschte Stille am anderen Ende der Leitung. Antonia hatte mit vielem gerechnet, aber so etwas überraschte selbst sie.
 

„Da waren-- Jemand muss ein starkes Schlafmittel ins Essen gemischt haben. Ich habe nichts gegessen, mir geht es gut, aber...“ Er lauschte und hörte ein entferntes Geräusch, das wie ein klägliches Husten klang. „Teddy scheint was abbekommen zu haben.“

„Bleib, wo du bist“, wies Antonia ihn an. Im Hintergrund waren hastige Bewegungen zu vernehmen. „Am besten sperrst du dich irgendwo ein. Ich komme sofort zu dir.“

Mit diesen Worten legte sie auf. Luca verstaute sein Handy mit zitternden Händen in der Hosentasche – für den Fall, dass Antonia ihn anrufen würde – und ging zu Fabian, der nicht mehr über dem Klo kniete, sondern vor dem Waschbecken stand und sich die Zähne putzte.

„Denkst du... du hast dich von dem meisten trennen können?“

Fabian nickte und spuckte die schaumige Zahnpasta aus. Er hatte erwartet, dass das ganze Badezimmer nach Magensäure stinken würde, aber der Geruch hielt sich wirklich in Grenzen und das bisschen, das man erschnüffeln konnte, hatte er mit ein wenig Deo überdeckt und anschließend das Fenster geöffnet.
 

„Wie geht es dir?“, fragte Luca, für den die Situation nicht annähernd so unangenehm und peinlich war wie für Fabian, was daran lag, dass er schon ganz andere Sachen erlebt hatte.

„Ich bin müde... aber nicht so sehr wie davor.“

Luca legte einen Arm um den Jungen und führte ihn in sein Zimmer, wo er ihn zum Bett schob und die Tür abschloss.

„Was machen wir jetzt?“

„Darauf warten, dass Antonia nach Hause kommt“, antwortete er und setzte sich neben Teddy auf das Bettende. Einige Minuten verstrichen, in denen nichts geschah, außer dass Fabian sich die Müdigkeit aus den Augen zu blinzeln versuchte.

„Das vorhin war das Widerlichste, das ich je getan habe.“
 

„Ich bitte dich“, erwiderte Luca schief lächelnd. „Hast du jemals vor einem Arzt gestanden und erklären müssen, warum du eine Fahrradpumpe zwischen den Beinen stecken hast?“

„Was?“

„Das ist nicht mir, sondern einer ehemaligen Freundin von mir passiert. Ich habe keine Ahnung, wie sie auf die Idee gekommen ist, so etwas zu machen, aber ich bin mir sicher, dass sie betrunken war.“

„Was zur Hölle?“, erwiderte Fabian leicht verunsichert. Genau wie Luca wollte er über diese Dinge lachen, den vorherigen Schock vergessen und seine Angst verdrängen, aber es gelang ihm einfach nicht.

„Über mich kann ich dir auch einen Haufen peinlicher Geschichten erzählen. Die meisten von ihnen beginnen mit zu viel Alkohol.“

„Ähm... sorry, dass ich vom Thema ablenke, aber... was genau ist heute Mittag passiert?“
 

„Ich habe Schlafmittel im Müll gefunden. Nicht das normale, sondern so ein saustarkes Zeug, das selbst einen Elefanten von den Beinen reißt. Vermutlich wollte jemand uns beide damit dauerhaft zum Schlafen bringen. Hast du irgendjemandem erzählt, dass ich dir mein Essen gegeben habe?“

Fabian schüttelte den Kopf.

„Also wusste niemand davon, außer Antonia.“

„Denkst du, es war dein Vater?“

„Das halte ich für unwahrscheinlich. Er würde eine Methode nehmen, bei der garantiert ist, dass ich nicht versehentlich auch draufgehe.“

Teddy senkte den Kopf und starrte betroffen auf seine Hände, die in seinem Schoß lagen. Er war so müde, dass ihm die Augen zufielen, aber das Wissen, dass er vermutlich gestorben wäre, wenn Luca nicht eingegriffen hätte, lag wie eine enge Schlinge um seinen Hals und hinderte ihn am Einschlafen.

„Glaubst du, wir sind noch in Gefahr?“
 

„Ich weiß es nicht“, gab Luca zu. „Die Villa ist voller Sicherheitsleute und Überwachungskameras. Nur jemand wie Antonia könnte zu uns gelangen.“

„Und was ist, wenn der Täter die Villa gar nicht betreten muss, weil er schon längst hier ist?“

„Dann... haben wir eventuell ein Problem.“

Teddy schluckte nervös, woraufhin Luca seine Arme um den Jungen schlang und ihm tröstend über den Rücken strich.

„Keine Sorge, ich pass' auf dich auf.“ Er hatte keine Ahnung, was ihn dazu brachte, so etwas zu sagen. „So wie es aussieht, hat der Täter seine Falle ausgelegt und sich danach aus dem Staub gemacht. Ich glaube nicht, dass er...“

Er brach ab, weil ihm eine Idee gekommen war. Einen kurzen Anruf später teilte er sie Fabian mit.

„Ich habe gerade mit einem der Kerle telefoniert, die die Villa bewachen. Anscheinend hat unsere liebe Köchin vorhin ohne ersichtlichen Anlass das Grundstück verlassen. Was für ein... Zufall.
 

Antonia brauchte fast zwei Stunden, um den ganzen Weg zurück zur Villa zu fahren. Als sie schließlich ankam, stürmte sie sofort zu Lucas Zimmer, wo sie einen gelassenen jungen Mann und einen schläfrigen Jungen vorfand; beide lebendig und wohlauf.

Marius, der von Antonia über die Lage in Kenntnis gesetzt worden war, erreichte sein Grundstück wenige Minuten nach ihr. Er schäumte vor Wut, zerstörte einige Vasen und schwor lautstark, dass er derjenigen, der es gewagt hatte, seinen Sohn in Gefahr zu bringen, eigenhändig in Stücke reißen würde.

„Fabian, ich möchte dich etwas fragen“, sagte Antonia, während im Hintergrund zu hören war, wie Marius wie ein Irrer fluchte und seinen Männern befahl, die verdammte Köchin zu finden. „Wenn Luca an deiner Stelle das Schlafmittel zu sich genommen hätte, was hättest du dann getan?“

„Ähm... den Notarzt gerufen, denke ich.“

„Und mit welchem Telefon?“
 

Teddy zuckte mit den Schulter. Mit dem, worauf Antonia hinauswollte, hatte sie vollkommen recht. Fabian hätte Luca nicht helfen können.

„Ich werde sie UMBRINGEN!“, rief Marius außer sich vor Zorn und betrat das Zimmer. Sein Gesicht war knallrot und Schaum hing in seinen Mundwinkeln. „Diese widerwärtige, hinterhältige, verräterische Schlampe!“

Antonia wollte entgegnen, dass es sinnvoll wäre, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen und sich die Tatumstände genau anzusehen, aber sie hatte gesehen, was Marius mit den armen Vasen gemacht hatte – mit diesem Mann war nicht zu spaßen.

Einige Stunden später, als es draußen langsam dämmerte, kamen zwei Sachen ins Haus. Das eine war die Bestätigung, dass sich tatsächlich eine tödliche Dosis Schlafmittel im Essen befunden hatte, und das andere war die Köchin, die man wie ein entlaufenes Tier eingefangen und nach Hause gebracht hatte. Sie schrie wie am Spieß, was selbst Antonias Zweifel beseitigte.
 

Fabian lag währenddessen in seinem Bett und versuchte zu schlafen. Was ihn davon abhielt, war nicht die Angst, dass so etwas wie heute erneut passieren könnte, sondern die Schreie, die von einem gewissen Zimmer aus durch die ganze Villa hallten. Fabian hatte noch nie sollte Laute gehört; das, was diesen grausamen Klagelauten am nächsten kam, waren die letzten Schreie eines Tieres aus einer Dokumentation über Schlachthöfe. Fabian hatte danach Vegetarier werden wollen, aber sein Vater hatte es ihm verboten, mit der bescheuerten Begründung, der Verzicht auf Fleisch wäre unmännlich und blödsinnig.

Der Junge presste sich das Kopfkissen auf die Ohren, aber die vor Schmerz und Panik verzerrten Schreie der Köchin waren trotzdem zu hören. Ihm blieb schließlich nichts anderes übrig, als aufzugeben, das Zimmer zu verlassen und zu dem von Luca zu tapsen, der auch noch nicht eingeschlafen war. Zögernd klopfte er gegen die Tür und wartete auf eine Antwort.

„Komm rein, Teddy.“
 

„Woher wusstest du, dass ich es bin?“, fragte der Kleine leicht verwundert, nachdem er den Raum betreten und die Tür hinter sich zugemacht hatte.

„Hab's an deinen Schritten erkannt. Marius stampft wie ein Nilpferd, Antonia ist viel ruhiger und leiser und du bist fast vollkommen lautlos.“ Er setzte sich aufrecht hin. „Was gibt's?“

„I-ist es okay, wenn ich bei dir schlafe?“

„Klar. Komm her.“

Obwohl die einzige Lichtquelle das durch die Fenster scheinende Mondlicht war, konnte Fabian die Umrisse der Möbel deutlich genug sehen, um sich nicht die Zehen zu stoßen. Er ließ sich auf der freien Seite des Doppelbettes nieder und verschwand unter der Decke.

„Stell dir vor, Antonia würde jetzt reinkommen“, schmunzelte Luca, der sich wieder hingelegt und Fabian das Gesicht zugedreht hatte. „Sie würde denken, dass wir beide eine Affäre hätten.“
 

„Das erinnert mich an die Grundschule“, erwiderte Teddy schief lächelnd. „Sobald ein Mädchen und ein Junge sich ansehen oder eine Partnerarbeit gemeinsam machen, müssen sie zusammen sein. Es gibt keine andere Möglichkeit. Ignorier die Tatsache, dass die beiden acht Jahre alt sind.“

Luca biss sich auf die Zunge und zwang sich zu einem Lächeln. Die erste Erinnerung, die in seinem Kopf erschien, wenn er an seine Grundschulzeit dachte, war nicht das Verhalten seiner Mitschüler, sondern die Nacht, in der seine Mutter ihn beinahe umgebracht hätte. Versehentlich natürlich. Kann ja auch niemand ahnen, dass es nicht gut für ein Kind ist, es so oft zu schlagen und zu treten, dass es sein Bewusstsein verliert, ne?

„Teddy, kann ich dich mal etwas fragen? Magst du deine Eltern?“

Angesprochener war auf so eine Frage nicht vorbereitet und blinzelte verwirrt.

„Ähm... klar mag ich meine Eltern. Auch wenn sie manchmal ein bisschen... altmodisch sind.“
 

„Altmodisch?“

„Sie sind im letzten Jahrhundert stecken geblieben. Du weißt schon – Männer sind stark und unverwundbar und Frauen gehören in die Küche. Alle Männer, die Gefühle zeigen, Rosa mögen oder als Friseur arbeiten, sind automatisch schwul und jemand, der psychisch krank ist, sollte in eine Zwangsjacke gesteckt und in die Klapse gebracht werden.“

„Oh Gott. Jetzt stell ich mir deine Eltern wie Menschen aus einem vergilbten Schwarz-Weiß-Foto vor. Apropos Foto – ich habe eine Aufnahme von deinem Zwillingsbruder gefunden.“

Während Fabian sich fragte, wovon Luca da sprach – er war Einzelkind – griff der Ältere nach seinem Handy und zeigte ihm ein Bild von Harry Styles, eine Person, die Fabian überall wiedererkennen würde, weil seine Ex-Freundin Clara ein absoluter Fan von diesem Sänger war und kaum über etwas anderes sprach, was dazu geführt hatte, dass Fabian eine Menge über ihr Idol wusste. Unter anderem fiel ihm sofort auf, dass das Bild wahrscheinlich von 2012 stammte.
 

„So sehe ich nicht aus“, sagte er mit einem gespielt beleidigten Blick und vergaß vollkommen, dass er vor einer knappen Viertelstunde noch die panischen Schreie der Köchin zu verdrängen versucht hatte. Luca war es mal wieder mit Leichtigkeit gelungen, den Jungen von dessen Sorgen abzulenken.

„Die Haare sind gleich; das reicht mir.“

Fabian kicherte leise. Er sah wirklich nicht so aus wie der Kerl auf dem Foto. Seine Nase war ein wenig schmaler und generell besaß er kein Äußeres, mit dem er berühmt werden könnte. Außerdem hatte sein Gesicht diese weiblichen Züge, wegen denen er es fast genau so sehr hasste wie seine Haare.

Luca legte sein Handy an den ursprünglichen Platz zurück und wollte gerade etwas sagen, als plötzlich ein greller Schrei, der lauter als alle bisherigen war, durch die Villa hallte und Fabian einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Die schützende Mauer, die Luca um ihn herum aufgebaut hatte, brach in sich zusammen und die grausame Realität stürzte wie eine Sintflut auf ihn ein.
 

„Wie... wie kannst du das nur aushalten?“, wisperte Fabian heiser. „Um dich herum sind diese furchtbaren Menschen und du...“

„Ich habe mich irgendwann damit abgefunden. Außerdem ist es mir im Allgemeinen egal, was mit mir oder den Menschen um mich herum passiert.“

Luca würde nicht sagen, dass der Blick, den er daraufhin von Fabian erhielt, ihm das Herz brach, aber viel fehlte nicht mehr. Der Junge erinnerte ihn mit seinen großen, verdächtig feuchten, strahlend blauen Murmelaugen an einen Teddybären, der von seinem Besitzer in den Müll geworfen wurde, weil er keine Verwendung mehr für ihn hatte.

„Es... es ist nicht so schlimm, wie du denkst. So etwas wie heute passiert nicht ständi--“

Lucas Satz wurde von einem weiteren Schrei unterbrochen. Er gab auf, überwand den Abstand zwischen sich und Teddy und legte tröstend einen Arm um ihn. Der Kleine schmiegte sich zögernd an ihn und vergrub das Gesicht in seiner Brust.

„Tu einfach so, als wäre es bloß ein Albtraum. Morgen wachen wir auf und dann ist es vorbei, okay?“

11. Kapitel

Als Antonia am nächsten Morgen an Lucas Zimmertür klopfte, um den jungen Mann zum Frühstück zu holen, erhielt sie keine Antwort. Befürchtend, dass das übliche Theater bevorstand, öffnete sie die Tür und holte Luft, doch was sie sah, kam so unerwartet, dass es ihr die Sprache verschlug.

Luca und Fabian lagen zusammen im Bett und hielten einander in den Armen. Antonia lächelte, als hätte sie einen Haufen kleiner Kätzchen gesehen, machte die Tür wieder zu und ging in die Küche. Sie hatte vollkommen vergessen, was sie vorgehabt hatte, und erinnerte sich erst wieder daran, als sie Marius erblickte, der im Esszimmer herumtigerte und gelegentlich wütend schnaubte.

„Und? Ist Luca schon wach?“, fragte er in einem schroffen Ton, als er Antonia entdeckte.

„J-ja, er macht sich gerade fertig“, antwortete sie hastig, ehe sie zu Lucas Zimmer zurückkehrte und erneut gegen die Tür klopfte.

„Frühstück ist gleich fertig. Kommst du freiwillig oder muss ich dich aus dem Bett zerren?“
 

„Fünf Minuten, okay?“, kam die verschlafen klingende Antwort von der anderen Seite der Tür, womit Antonia sich zufriedengab. Sie ging abermals zur Küche und wartete dort auf Fabian und Luca, die nach fast zehn Minuten im Esszimmer erschienen.

„Ab jetzt wird es hier einige Veränderungen geben“, sagte Marius und baute sich neben seinem Sohn auf, während dieser müde gähnte und sich auf einen der Stühle fallen ließ. „Erstens: Du wirst dieses Grundstück nicht verlassen und wenn doch, dann nur mit einem Leibwächter. Zwei--“

„Muss das sein?“, unterbrach ihn Luca genervt. Eigentlich hatte er mit dieser Regel kein Problem, weil er eh kaum vor die Tür ging, aber er hatte diesen Samstag ein Date mit Chiara und das wollte er auf keinen Fall verpassen.

„Ja, muss es. Das ist zu deiner eigenen Sicherheit.“

Luca stöhnte genervt und verdrehte die Augen. Warum hatte sich die verdammte Köchin ausgerechnet diese Woche aussuchen müssen?
 

„Was ist bei eurem... ''Verhör'' denn herausgekommen?“, zischte er launisch.

„Sie meinte, ein Unbekannter hätte ihre fünfjährige Tochter entführt und damit gedroht, das Mädchen umzubringen, wenn sie es nicht schaffen sollte, dich ins Gras beißen zu lassen.“

Fabian, der bis jetzt geschwiegen und so getan hätte, als wäre er gar nicht hier, hob den Kopf und sah betrübt zu Marius. „Und was ist jetzt mit ihr? Sie haben ihr geholfen, nicht wahr?“

Der Ältere wollte ihm die unschöne Wahrheit, dass die Köchin schwer verletzt im Keller lag und ihre Tochter sicherlich schon längst tot war, einfach ins Gesicht klatschen, aber dann sah er, wie Luca seine sehnige Hand um das Käsemesser schlang und Marius einen bedrohlichen Blick zuwarf, der selbst den mutigsten Mensch auf Erden dazu gebracht hätte, nervös zu schlucken und einen Schritt zurückzuweichen. Die Anweisung war klar. Sag ihm die Wahrheit und ich ramme dir das Messer in die Brust.
 

„Natürlich haben wir ihr geholfen. Die Suche nach ihrer Tochter läuft allerdings noch“, log Marius und stützte sich betont lässig an einer Stuhllehne ab.

„Und warum hat sie dann die halbe Nacht geschrien?“, hakte Fabian nach.

„Weil es ein wenig gedauert hat, bis sie mit der Sprache rausgerückt hat. Es ist aber nichts Schlimmes. Ihre Wunden werden bald verheilen.“

Fabian seufzte deprimiert und senkte den Blick. Marius schaute mürrisch zu Luca und kniff die Augen zusammen – Na, zufrieden? – doch der junge Mann ignorierte ihn und schnitt in aller Seelenruhe ein Stückchen von dem Iberico ab.

„Um auf die Veränderungen zurückzukommen“, schnaufte Marius. „Wir werden ab jetzt sicherstellen, dass du keine Mahlzeiten mehr ausfallen lässt. Ich meine das ernst, Luca, so geht das nicht weiter. Du bist nur noch Haut und Knochen.“

Angesprochener quittierte das mit einem tiefen Seufzen.
 

„Und die Sitzungen mit deiner Psychotherapeutin werden wir bewachen. Sie ist wahrscheinlich die Nächste, die man auf dich loslässt.“

„Ich halte das für keine gute Idee“, mischte sich Antonia ein. „Der Sinn dieser Sitzungen ist es, dass Luca alleine mit ihr redet. Außerdem soll er ihr vertrauen, was bestimmt nicht klappen wird, wenn du ihm sagst, dass sie ihn umbringen will.“

„Ich würde jemanden damit beauftragen, ihr einen Geschenkkorb zu geben, wenn sie das wirklich täte“, sagte Luca, doch Antonia und Marius waren so sehr damit beschäftigt, miteinander in einen Streit zu geraten, dass sie ihm nicht zuhörten. Ganze zwanzig Minuten diskutierten sie und zogen sich mal sinnvolle und mal weniger sinnvolle Argumente aus den Ärmeln, bis Antonia schließlich gewann und dafür sorgte, dass man in die Therapiesitzungen nicht eingreifen würde. Luca hatte keine Ahnung, ob er das gut oder schlecht finden sollte.
 

„Kann ich dich kurz sprechen?“, bat Antonia, nachdem das Frühstück beendet war und Marius und Fabian den Raum verlassen hatten.

„Wenn's unbedingt sein muss“, erwiderte Luca leicht gereizt.

„Ich möchte dir nicht zu nahe treten und es ist okay, wenn du nicht antworten willst, aber... zwischen dir und Fabian – läuft da was?“

Luca sah Antonia an, als hätte sie ihn gefragt, welche Meinung er dazu vertrat, dass Meerschweinchen an ihren Vorderpfoten vier, aber an ihren Hinterpfoten nur drei Zehen besaßen.

„Bitte?“

„Hey, ich bin nur neugierig.“

„Antonia“, sagte er und hob seine linke Hand, um die Begründungen an seinen Fingern abzuzählen. „Vielleicht ist dir das entgangen, aber ich bin erstens nicht schwul, zweitens schon seit langer Zeit in einer Beziehung und drittens eindeutig zu alt für einen 16-Jährigen. Wäre deine Frage damit beantwortet?“
 

„Ihr beiden würdet aber ein echt süßes Paar abgeben. Und sieben Jahre ist wirklich nicht die Welt.“

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass dir da jeder Pädophile ohne Wenn und Aber zustimmen würde.“

„Hey – zwischen mir und meinem Mann liegen auch sieben Jahre.“

„Aber du warst nicht minderjährig, als ihr euch kennengelernt habt, oder?“

„Du warst doch auch erst 17, als Chiara in dein Leben kam.“

Luca machte eine wegwerfende Handbewegung und verließ das Esszimmer. Er verbrachte den Vormittag mit Teddy, wurde dazu gezwungen, am Mittagessen teilzunehmen, obwohl das Essen für ihn wie aufgeweichte Pappe schmeckte, und saß am frühen Nachmittag bei seiner Psychotherapeutin, die ihn mit zahlreichen Fragen durchlöcherte und sich eifrig Notizen machte.
 

„Luca, ich möchte ehrlich mit dir sein“, sagte sie schließlich. „Ich finde es großartig, dass du dich auf mich eingelassen hast, aber ich denke, eine ambulante Therapie ist nicht genug.“

„Was soll das heißen?“

„Ich denke darüber nach, ob vielleicht eine Tagesklinik oder eine Psychiatrie das Richtige für dich wä--“

„Sie wollen mich einsperren?“

„So funktionieren Kliniken nicht. Man wird dich nicht einsperren, nicht in eine Zwangsjacke stecken und auch nicht mit Elektroschocks therapieren. Diese Zeiten sind vorbei. Das alles ist rein freiwillig.“

„Gut. Dann sage ich Ihnen jetzt, dass ich nicht möchte.“
 

„Lass mich dir doch wenigstens erklären, was so eine Klinik ist“, erwiderte sie ruhig. „Dort sind Menschen, denen es ähnlich wie dir geht. Du wirst sehen, dass du mit deinen Problemen nicht alleine bist, und niemand wird dich verurteilen.“

„Kling super, aber mein Vater wird das hundertpro nicht zulassen.“

„Warum nicht? Ihm scheint es sehr wichtig zu sein, dass du die Hilfe bekommst, die du brauchst.“

„Er...“ Luca brach ab und seufzte. Sie wusste nicht, dass seine Familie mit organisiertem Verbrechen zu tun hatte, und deswegen konnte er ihr nicht sagen, dass gestern jemand versucht hatte, ihn umzubringen, und Marius deswegen fast in die Luft gegangen wäre. „Wissen Sie was, warum reden Sie nicht selbst mit ihm? Er wird es Ihnen sicherlich erklären können.“

Sie stimmte zu und führte ein Gespräch mit Marius, das – wie bereits erwartet – damit endete, dass Marius der Therapeutin sagte, sie solle sich die Idee mit jeder Art von Klinik aus dem Kopf schlagen.
 

Luca war froh, dass das Thema sich damit erledigt hatte. Vielleicht wäre es ein Schritt in die richtige Richtung gewesen, sich in stationäre Behandlung zu begeben, aber er hatte irgendwie keine Lust darauf und außerdem konnte er Teddy nicht alleine lassen. Der Junge war für ihn mittlerweile wie ein jüngerer Bruder, nur ohne das Negative und die täglichen Fetzereien, die Luca früher oft bei seinen Freunden und deren Geschwister beobachtet hatte.

Einige Tage vergingen, in denen es keine ungewöhnlichen Vorkommnisse gab. Aus der Köchin konnte man nach wie vor keine brauchbare Antwort herauskriegen und ihre Tochter galt weiterhin als vermisst. Luca war emotional so abgestumpft, dass ihn das alles nichts anhaben konnte, aber er fragte sich, welcher Mensch so weit gehen würde, eine Fünfjährige zu entführen. Wer auch immer es auf ihn abgesehen hatte – dieser jemand war eindeutig ein skrupelloses Monster.

Diese Sorgen rutschten in den Hintergrund, als Luca am Samstagmorgen aufwachte und immer noch keinen blassen Schimmer hatte, wie er es heute Abend zu seinem Date schaffen sollte. Chiara wollte ihn abholen, aber bei der Anzahl von Hünen, die um die ganze Villa schlichen, würde sie es nicht einmal bis zur Einfahrt schaffen.
 

Draußen dämmerte es gerade, als Antonia an Lucas Zimmertür klopfte, um ihn zu fragen, ob er und Teddy vielleicht Lust hätten, gemeinsam das Abendessen zuzubereiten. Luca lehnte ab, während der Junge zustimmte und wenige Minuten später mit ihr in der Küche stand und sich ausgiebig die Hände wusch.

„Kann ich dich etwas fragen?“, murmelte er schüchtern und sah zu Antonia, die ihm den Rücken zuwandte und gedankenverloren durch ein Kochbuch blätterte.

„Fragen kannst du alles, aber ob ich dir antworte, ist eine andere Sache.“

„Okay... Ich wollte wissen, was mit Lucas Familie ist. Seinen Vater kenne ich, aber was ist mit dem Rest? Mutter, Geschwister, Cousins – hat er so etwas nicht?“

„Seine Mutter ist tot und all ihre Verwandten gehören nicht zu unserer Familie. Geschwister hat Luca keine – auch keine Halbgeschwister – aber er hat zwei Cousinen und einen Cousin, die etwa in seinem Alter sind.“

„Die drei sind dann die Nichten und der Neffe von Marius, nicht wahr?“
 

„Scharf kombiniert, Sherlock. Marius hatte einen jüngeren Bruder, der vor einigen Jahren spurlos verschwunden ist, und die drei sind die Kinder dieses Bruders. Wieso interessiert dich das?“

„Keine Ahnung. Ich finde so etwas spannend.“

„Marius' Vater gibt es auch noch, aber er ist sehr alt und lebt nicht bei uns, sondern bei der Familie von Marius' Bruder. Wir besuchen sie alle paar Monate.“ Antonia blätterte um und seufzte ratlos. „Irgendwelche Ideen, was wir zum Abendessen machen sollen?“

„Wie wäre es mit Pizza?“

„Das hatten wir schon letzte Woche.“

„Aber... Pizza ist lecker.“
 

„Was hältst du davon, mal was Ausländisches auszuprobieren? Aus welchem Land kommst du noch mal? Deutschland?“

„Ich wurde dort geboren, aber meine Eltern kommen beide aus Italien. Und bitte koch nichts Deutsches; die Leute dort haben keine Ahnung, was gutes Essen ist.“

„Ist es wirklich so schlimm?“

„Sagen wir es so: Iss eine Woche lang wie ein Deutscher und du wirst für den Rest des Monats kein Fett und kein Fleisch mehr brauchen.“

Nach einer zehnminütigen Diskussion einigten sich die beiden auf Nudeln mit Meeresfrüchten als Abendessen und Tiramisu als Nachtisch. Das Zubereiten dauerte nicht allzu lange und als Antonia das Essen servierte, schickte sie Teddy los, um Luca holen zu gehen, doch der Junge kam alleine zurück.

„Luca meint, er hätte keinen Hunger und würde später essen.“

„Das ist seine Lieblingsausrede. Lass mich das regeln.“
 

Sie war im Begriff, die Küche zu verlassen, aber Fabian hielt sie zurück.

„Warte bitte. Er hat vorhin mit Chiara telefoniert und sich mit ihr gestritten. Wenn du jetzt zu ihm gehst, wird es nur noch schlimmer. Er ist wirklich nicht in Stimmung.“

Antonia sah zur Uhr und seufzte genervt. „Na gut, ich gebe ihm eine Stunde.“

Sie begannen zu essen und erzählten Marius, der sich kurz daraufhin zu ihnen gesellte, dass Luca gerade schlechte Laune hätte und das Abendessen später nachholen würde. Den beiden Erwachsenen gefiel das nicht, aber sie nahmen es hin; unwissend, dass Luca sich schon längst aus dem Staub gemacht hatte. Er war nur wenige Augenblicke nachdem Antonia vorhin sein Zimmer verlassen hatte aus dem Fenster geklettert und vom Anwesen verschwunden.

Teddy gelang es, die eine Stunde, die Antonia Luca gegeben hatte, auf zwei auszudehnen, aber danach wurde es den Erwachsenen zu viel. Sie suchten das Zimmer des jungen Mann auf und fanden nicht ihn, sondern eine Notiz vor.
 

»Bin bei einem Date mit Chiara und komme vor Mitternacht wieder nach Hause. Es gibt keinen Grund, einen Aufstand zu machen. Und lasst Teddy in Ruhe, er hat damit nichts zu tun.«

„Wer ist Teddy?“, fragte Marius irritiert, während Antonia sich auf den Jungen stürzte und ihn so feste an den Schultern rüttelte, dass ihm ganz schwindelig wurde. Dass er ''damit nichts zu tun'' hatte, entsprach nicht der Wahrheit, schließlich war er von Luca eingeweiht worden und hatte mitgespielt, indem er die Erwachsenen angelogen hatte, aber es gab nichts, womit Antonia das beweisen konnte. Sie drohte Fabian damit, ihm das Gleiche anzutun, was auch die Köchin hatte ertragen müssen, wenn er nicht sofort mit der Sprache rausrückte, doch Fabian wusste wirklich nicht, wo Luca sich gerade aufhielt, und konnte ihr keine Information geben, die er nicht besaß. Antonia gab schließlich auf und erklärte Fabian als unschuldig, aber abgeregt hatte sie sich noch lange nicht. Im Gegenteil – dass der Junge ihr nicht weiterhelfen konnte, machte es nur noch schlimmer. Sie und Marius reagierten wie zwei Packungen Mentos in einer Colaflasche.
 

Marius holte sein Handy hervor, um die Männer, die sein Anwesen bewachten und vor ungebetenen Gästen schützten, zu fragen, ob sie gesehen hätten, wann und wohin Luca gegangen war, und bekam eine Antwort, mit der er nicht gerechnet hatte.

„Er sitzt schon seit einer Viertelstunde auf der Veranda, Boss. Wurde vorhin von einem weißen Auto am Eingang abgesetzt.“

Marius konnte mit dem Kennzeichen, das ihm genannt wurde, nichts anfangen, aber Antonia wusste, dass es zu Chiaras Auto gehörte. Er bedankte sich und stürmte nach draußen, wo Luca tatsächlich auf einer der Bänke saß, die auf der Veranda standen.

„Junger Mann, bist du von allen guten Geistern verlassen?!“, brüllte Marius so laut, dass es durch den ganzen Vorgarten hallte. „Ich habe dir nicht zum Spaß verboten, das Haus zu verlassen!“

Fabian erkannte zuerst, dass mit Luca etwas nicht stimmte. Der junge Mann starrte ausdruckslos auf den Boden und zuckte bei dem Geschrei seines Vaters nicht einmal zusammen, obwohl ihm der Alte quasi direkt ins Gesicht schrie.
 

„ICH REDE MIT DIR!“

Marius verlor die Beherrschung und verpasste seinem Sohn eine Ohrfeige, aber auch darauf zeigte Luca keine Reaktion. Erst als Teddy sich zwischen die beiden Männer drängte, neben Luca auf der Bank Platz nahm und eine Hand auf seine Schulter legte, gab er eine Antwort.

„Ich... brauche Hilfe.“

„Wobei? Was ist passiert?“, fragte Antonia und hielt Marius fest, damit der Hitzkopf nicht noch einmal zuschlug. „Gab es Streit?“

„Nein“, wisperte Luca zögernd, den Blick immer noch starr auf einen unsichtbaren Punkt am Boden gerichtet. „Mir geht es gut. Chiara geht es gut. Aber...“

Er seufzte gequält und strich Fabians Hand von sich weg, als würde er nicht wollen, dass der Junge etwas Ekliges anfasste.

„Heute ist etwas passiert. Ich... ich habe jemanden umgebracht.“

12. Kapitel

Das letzte Mal, dass Fabian sich so hilflos gefühlt hatte, war an dem Tag gewesen, an dem ihm Dinge angetan worden waren, die eigentlich nur Mädchen passierten. Seine Gefühle und Gedanken hatten wie ordentlich sortierte Glasperlen auf einem Tablett gelegen und Luca hatte es mit einem einzigen Satz aus dem Gleichgewicht gebracht. Die Perlen flogen kreuz und quer durch den Raum, man wusste gar nicht, wo man zuerst hinsehen sollte, und das Tablett fiel laut klappernd zu Boden. Dort, wo sich eben noch beruhigende Harmonie befunden hatte, herrschte nun absolutes Chaos.

„Ich habe jemanden umgebracht.“

Fabian konnte sich nicht vorstellen, dass Luca wirklich einen Mord begangen hatte. Das passte einfach nicht zu ihm. Ja, er konnte manchmal schlecht drauf sein oder fiese Sprüche von sich geben, aber einer anderen Person das Leben zu nehmen, war eine Grenze, die er nicht überschreiten würde. Außerdem hatte sein aufgelöster Zustand von vorhin gezeigt, dass irgendetwas Luca erschüttert hatte.
 

Fabian wollte an Lucas Unschuld glauben, aber er besaß die unschöne Vermutung, dass das bloß seine kindliche Naivität war, die sich an ihre Vorstellung einer heilen Welt klammerte, in der es nur gute und böse Menschen und nichts dazwischen gab. Denn man durfte die Wahrheit nicht aus den Augen verlieren – Lucas Familie bestand aus Verbrechern und er selbst war wahrscheinlich auch einer. Zwar hatte er das nie gesagt, aber er hatte es auch nie geleugnet.

Fabian hielt das nicht mehr aus. Ein Teil von ihm wollte Luca in Schutz nehmen, ein anderer zählte all die Dinge auf, die der junge Mann ihm verheimlicht haben könnte, ein dritter schlug vor, dass man keine voreiligen Schlüsse ziehen sollte, und der Rest von Fabian wollte schreien, weinen und sich irgendwo verstecken. Der Junge stand so sehr unter Stress, dass er begann, sich selbst Ohrfeigen zu verpassen, aber was ihm ansonsten beim Beruhigen half, machte es diesmal nur noch schlimmer. Schließlich konnte er sich nicht mehr länger beherrschen und verließ sein Zimmer, in das er sich zurückgezogen hatte, nachdem Luca nach Hause gekommen war.
 

Er steuerte direkt auf Lucas Zimmer zu, vor dessen Tür Antonia hin und her tigerte. Als sie Fabian bemerkte, zögerte sie nicht lange, sondern packte ihn am Oberarm, damit er nicht an ihr vorbeirennen und in den Raum stürmen konnte.

„Lass mich los!“, rief Fabian aufgebracht. „Ich muss zu Luca!“

„Komm wieder runter. Wir brauchen jetzt keinen Stress“, sagte sie bestimmt, aber Fabian hörte nicht auf sie. Er versuchte sich vergeblich von ihr loszureißen und gab erst auf, als Antonia die Nase voll hatte und ihn grob von sich wegstieß.

„Es reicht jetzt, Fabian. Wir werden uns schon darum kümmern.“

„Um was kümmern? Luca würde so etwas niemals tun! Er--!“
 

„Dafür, dass du ihn erst seit wenigen Wochen kennst, lehnst du dich ziemlich weit aus dem Fenster, weißt du das?“

„Soll das heißen, du würdest ihm das wirklich zutrauen?!“

Antonia schwieg. Sie seufzte und blickte ratlos zu der Tür, hinter der vermutlich momentan ein Gespräch zwischen Marius und Luca stattfand.

„Nein“, sagte sie schließlich. „Er mag bereits als Kind seine Mitschüler zusammengeschlagen haben, aber ein Mord... nein, so etwas würde er nicht tun.“

„Hat er schon erzählt, was genau passiert ist?“

„Marius redet gerade mit ihm. Ich weiß noch nichts, aber ich würde meine rechte Hand darauf verwetten, dass Chiara keine Nebenrolle in dieser Sache spielt.“

„Und was machen wir jetzt?“
 

„Schauen, was passiert ist, und gewisse Maßnahmen ergreifen, falls das nötig sein sollte.“

Fabian spürte, wie er sich langsam wieder beruhigte. Sein Herz schlug so hastig, als wäre er einmal zum Strand und zurück gerannt, und sein ganzer Körper zitterte vor Aufregung, aber es wurde allmählich besser. Er lehnte sich gegen die Wand, atmete tief durch und wartete ungeduldig darauf, dass Marius aus Lucas Zimmer kam, was eine ganze Ewigkeit zu dauern schien. Als der Alte dann endlich erschien, winkte er Antonia zu sich und gab ihr ein Zeichen, mit ihm zu kommen. Sein Blick blieb kurz an Fabian hängen und für den Bruchteil einer Sekunde schien er zu überlegen, ob er den Jungen wegschicken sollte, aber er machte bloß eine wegwerfende Geste und ignorierte ihn.

Kaum waren die beiden Erwachsenen hinter der nächsten Ecke verschwunden, betrat Fabian das Zimmer von Luca, der auf seinem Bett saß und die Hände ineinander verankert und in seinen Schoß gelegt hatte, als würde er beten. Sein Blick haftete am Boden, irgendwo zwischen einem getragenen T-Shirt und einer leeren Zigarettenpackung.
 

„Wie geht es dir?“, fragte Fabian vorsichtig, doch Luca gab keine Antwort. Stattdessen verkrampfte er die Hände, sodass seine Knöchel weiß hervorstachen, und schluckte nervös.

„Oh Luca.“

Fabian kam näher und platzierte seine zierliche Hand, die zur Hälfte von dem Ärmel seines Pullovers verschluckt wurde, auf Lucas Schulter. Der Ältere zitterte leicht und besaß eine kleine Schürfwunde an seinem rechten Handrücken. Teddy könnte schwören, dass diese Wunde vor wenigen Stunden noch nicht existiert hatte.

„Was ist da passiert?“

„Sorry, aber wenn du Antworten möchtest, bist du umsonst gekommen.“

„Das ist okay, Luca. Du musst nicht darüber reden.“
 

Für einige Augenblicke herrschte Stille. Fabian war sich nicht sicher, ob er hierbleiben oder weggehen und Luca in Ruhe lassen sollte. Er überlegte, was jetzt angebracht wäre, als sich plötzlich ein bebender Arm um seine Taille legte und ihn in die Richtung des Dunkelhaarigen zog.

Teddy ging sofort darauf ein und schlang beide Arme um Lucas Hals. Er spürte, wie der Ältere die Stirn gegen seine Brust drückte und zu weinen anfing. Sein Körper erzitterte und gelegentlich war ein leises Schluchzen zu vernehmen.

Das war nicht das erste Mal, dass Fabian Luca weinen sah, aber es war das erste Mal, dass es ihm richtig bewusst wurde. Luca weinte. Er ''flennte'', er ''heulte'', er tat das, was Dad immer als unmännlich und für einen Kerl absolut inakzeptabel genannt hatte. Fabian wusste überhaupt nicht, wie er mit dieser Erkenntnis umgehen sollte. Er fühlte sich von diesem Mann, den er erst seit wenigen Wochen kannte, viel besser verstanden als von dem Mann, der ihn großgezogen hatte.
 

Als Fabian am nächsten Morgen aufwachte, lagen er und Luca Rücken an Rücken im Bett. Er richtete sich langsam auf und versuchte Luca wachzurütteln, aber das war gar nicht nötig. Der Größere war bereits wach und seinen Augenringen nach zu urteilen hatte er keine einzige Sekunde geschlafen.

„Wie geht es dir?“, fragte Fabian und platzierte seine Arme auf Lucas Seite.

„Beschissen“, murmelte der Ältere und starrte ausdruckslos die Wand an. „Ich habe einen Penner abgemurkst, der Chiara bedroht hat, ohne zu wissen, dass das einer von Dads Geschäftspartnern war, und jetzt ist Dad ziemlich angepisst, weil nicht nur mein, sondern auch sein Ruf darunter leiden könnte.“

Fabian runzelte verwirrt die Stirn. Marius erfuhr, dass sein Sohn jemanden umgebracht hatte, und seine einzige Sorge war, dass das seinem Ruf schaden könnte?!

„A-aber... du hast es nicht mit Absicht gemacht, oder? Der Mord, meine ich. Es war ein Unfall, nicht wahr?“
 

„Ja, ein Unfall. Das scheiß Messer ist ganz zufällig in seiner Brust gelandet“, murrte Luca, ehe er den Jungen wegschob und sich aufrichtete. „Es tut mir leid, okay? Mir hat es übrigens keinen Spaß gemacht, zum Mörder zu werden und dich zu enttäuschen. Ich wollte nicht, dass so etwas passiert.“

Fabian kam das nicht ganz koscher vor. Luca verbarg etwas. Die Art und Weise, wie er redete und sich verhielt, sagte mehr als tausend Worte; ihm war anzusehen, dass er am liebsten geschrien hätte und seine Gefühle mit allen Mitteln zurückzuhalten versuchte.

„Ich glaube dir nicht“, sagte Fabian ruhig. „Du bist kein Mörder. So etwas würdest du niemals tun.“

„Wie ich bereits sagte: Es tut mir leid, dich enttäuscht zu haben.“

In Lucas Stimme lag tatsächlich Reue, aber Fabian konnte spüren, dass dieses Gefühl nichts mit dem Mord zu tun hatte, sondern damit zusammenhing, dass Luca ihn anlog. Er wollte ihm die Wahrheit erzählen, aber konnte oder durfte es nicht, und Fabian wusste nicht, wie er Luca beweisen konnte, dass er für ihn da war.
 

Der Ältere verließ wortlos sein Zimmer und ging ins Esszimmer, wo Marius und Antonia bereits am Tisch saßen. Fabian folgte Luca und setzte sich neben ihn. Es herrschte Schweigen, bis Marius schließlich das Wort ergriff.

„Irgendein Mann, der heute Morgen vor der Arbeit seinen Hund ausgeführt hat, hat Nandos Leiche entdeckt und die Polizei gerufen. Ich habe meine Kontakte spielen lassen; die Ermittlungen wurden abgebrochen. Es gibt also nichts, weshalb wir uns Sorgen machen müssten. Außerdem--“

„Was soll das?“, unterbrach Fabian ihn aufgebracht. „Lassen Sie die Ermittlungen doch laufen. Dann können wir herausfinden, was wirklich passiert ist.“

Marius verdrehte genervt die Augen. „Das hier ist kein Videospiel, bei dem es darum geht, den wahren Täter zu finden. Wenn Luca sagt, dass er es getan hat, dann hat er es auch getan. Warum sollte er lügen?“
 

„Um jemanden zu schützen. Habt ihr schon mit Chiara geredet? Was sagt sie zu--?“

„Halt meine Freundin aus der Sache“, fauchte Luca so gereizt, dass Fabian erschrocken zusammenzuckte. „Sie hat damit nichts zu tun. Es ist nicht ihre Schuld, dass er sie belästigt hat.“

„Ich kannte Nando persönlich“, mischte sich Antonia ein. „Er ist nicht der Typ, der die Privatsphäre einer Frau ignorieren würde.“

„Sei still!“, zischte Luca. „Zum letzten Mal: Ich habe Nando umgebracht, nicht Chiara. Sie weißt nicht einmal, was passiert ist.“

„Okay“, erwiderte Antonia ruhig. „Könntest du vielleicht ein bisschen näher ins Detail gehen? Was genau ist passiert?“

Luca seufzte. „Chiara und ich waren in einem Restaurant. Sie wollte zur Toilette. Er ist ihr gefolgt und hat sie belästigt. Ich bin eingeschritten.“

„Und dann? Du bist wütend geworden und hast ihn erstochen, oder was?“
 

„Nicht ganz. Er hatte ein Messer dabei. Ich habe mich bedroht gefühlt und gewehrt. Es war keine Absicht.“

„Also war es doch ein Unfall!“, brach es aus Fabian heraus. „Vorhin hast du noch gesagt, es wäre keiner gewesen!“

„Hältst du jetzt endlich die Klappe?!“, fauchte Marius aggressiv. „Niemand hat dich nach deiner Meinung gefragt. Geh!“

„Erst wenn ich bewiesen habe, dass Luca unschuldig ist. Sie sind sein Vater – wie können Sie das einfach hinnehmen?!“

„Das sind Dinge, von denen du nichts verstehst. Jetzt geh, bevor ich dich rausschmeiße.“

Fabian schnaubte entrüstet und hoffte, dass Luca oder Antonia ihn in Schutz nahmen, aber keiner der beiden machte Anstalten, ihm zu helfen. Luca verschränkte die Arme vor der Brust und vermied Augenkontakt, während Antonia weggetreten auf den Tisch starrte und gar nicht wahrzunehmen schien, was um sie herum passierte.
 

„Sie sind der schlechteste Vater, den ich je gesehen habe“, sagte Fabian, ehe er aufstand, das Esszimmer verließ und die Tür mit so einer Wucht zuknallte, dass die Wände wackelten. Es war offensichtlich, dass Luca etwas verbarg. Warum konnte das niemand außer ihm sehen?!

Er ging in sein Zimmer und ließ seiner Wut freien Lauf, indem er sein Kissen verprügelte. Danach war er ein wenig ruhiger, aber noch lange nicht bereit, mit der Sache abzuschließen. Er sah, das mittlerweile fast eine halbe Stunde verstrichen war, überlegte kurz, was er jetzt tun könnte, und ging anschließend zu Luca, der in seinem Zimmer stand und betrübt aus dem Fenster schaute.

„Geh weg, Teddy. Ich weiß, dass ich ein Arschloch bin und mich falsch verhalten habe, aber mich damit zu konfrontieren, wird nicht helfen. Verschwinde einfach. Ich habe deine Zeit nicht verdient.“

„Keine Sorge, ich wollte nur fragen, ob du einen Notizblock und einen Stift hast.“
 

„Wozu brauchst du das? Willst du Privatdetektiv spielen?“

„Nein. Ich möchte etwas zeichnen, um mich abzulenken.“

Luca seufzte, wühlte kurz in seinem Schreibtisch herum und überreichte Fabian die Sachen, um die er gebeten hatte.

„Danke“, murmelte der Junge und kehrte in sein Zimmer zurück, wo er sofort anfing, sich Notizen zu machen. Er notierte sich die Zeiten, wann Luca gegangen und nach Hause gekommen war, dass er eine frische Wunde besaß und was er gesagt hatte, aber das war natürlich noch lange nicht genug. Fabian brauchte mehr Informationen und leider hatte er keine Ahnung, wie er sie erhalten könnte.

Plötzlich klopfte es an der Tür. Teddy blätterte hastig um und tat so, als würde er versuchen, eine Spottdrossel zu zeichnen, während Antonia das Zimmer betrat und die Tür hinter sich schloss.
 

„Ist dir aufgefallen, dass Luca eine Schürfwunde an seiner rechten Hand hat?“, sagte sie. „Er meint, es wäre passiert, als er die Leiche im Wald versteckt hat, aber ich glaube, da steckt mehr dahinter.“

„Warum redest du mit mir darüber? Ich dachte, ich soll die Klappe halten.“

„Weil ich das Gefühl nicht loswerde, dass du Recht haben könntest. Außerdem war Chiara dabei – kein Wunder, dass etwas Schlimmes passiert ist.“ Antonia seufzte. „Kann ich mich darauf verlassen, dass du nicht auf blöde Ideen kommst, wenn ich mit dir das Grundstück verlasse?“

„Ja. Ich werde nichts Dummes tun.“

„Gut, dann komm mit. Wir werden das Ganze genauer unter die Lupe nehmen.“



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Kommentare zu dieser Fanfic (51)
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Von:  luxmilla
2020-01-30T20:34:16+00:00 30.01.2020 21:34
Ich mag deine Geschichten, sie gemischt aus Spannung, romantisch, Horror ;)
Ich hoffe das die Geschichten irgendwann abgeschlossen werden. Oder hast du Bücher veröffentlicht?
Von:  Usaria
2018-08-25T18:53:03+00:00 25.08.2018 20:53
Huuu! jetzt wird´s spannend, Antonia und Teddy auf Beweisjagt! Ich liebe Dedektivgeschichten! Ja ich weiß, es ist keine!
Fabian scheint sehr feine Fühler zu haben, wenn er dies bemerkt, dass etwas nicht in Ordnung ist. Luca nennt ihn zwar Teddy, doch ich finde er hat eher etwas von einem flauschigen Mane-Conekater! Weil die sind ja auch sehr sensiebel!
Von:  Onlyknow3
2018-08-25T10:50:04+00:00 25.08.2018 12:50
Was hat Antonia vor, ahnt sie das vielleicht Chiara die Schuldige ist wie immer?
Wird sie mit Fabian, neue Spuren finden die gegen Lucas aussage sprechen?
Was wohl raus kommt bei dem ganzen?
Schön wäre es das die beiden die Unschuld von Luca beweisen könnten, und Chiara aus dem Weg ist damit.
Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Von:  Meowlody100
2018-08-25T04:49:34+00:00 25.08.2018 06:49
Diese dämliche Chiara bringt echt nichts als Unglück mit sich!
Von:  Arya-Gendry
2018-08-24T18:52:37+00:00 24.08.2018 20:52
Na dann hoffen mir mal das die Beiden auch etwas heraus finden werden.
LG.
Von:  Laila82
2018-08-24T08:33:12+00:00 24.08.2018 10:33
Hoffentlich kann Luca irgendwann Fabian soweit vertrauen, das er ihm die Wahrheit sagt.
Von:  Onlyknow3
2018-07-07T10:25:29+00:00 07.07.2018 12:25
Das kann nicht sein, das geht nicht. So was schafft er nicht. Doch Luca sagt es ja selber, also muss was dran sein.
Vielleicht ist das aber auch von Chiara iniziert worden, das so was geschieht um wieder eine Handhabe gegen Luca zu haben. Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Von:  Arya-Gendry
2018-07-06T17:52:51+00:00 06.07.2018 19:52
Okay das Luca jemanden Umgebracht hat hätte ich nicht gedacht. Bin schon gespannt was passiert ist.
LG.
Von:  Usaria
2018-07-06T15:22:54+00:00 06.07.2018 17:22
Huu! das Kapitel ist sehr spannend! Luca kommt wohl nicht zu Ruhe. Zu erst die Sache mit der Köchin und nun dies. Mich würde brennend intressieren was vorgefallen ist. Ich hoffe im nächsten Kapitel kommt die Lösung
Von:  Onlyknow3
2018-06-23T09:14:02+00:00 23.06.2018 11:14
Übel für die beiden, das hätte man sich auch anders klären können.
Vielleichts so das man sie nicht durch die ganze Villa schreien hört.
Das ist ja auch für Luca nicht gesund. Gerade weil dieser ja auch angeschlagen ist.
Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3


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