Stolen Dreams Ⅶ von Yukito ================================================================================ 4. Kapitel ---------- Die letzte Nacht, in der Luca tatsächlich geschlafen hatte, lag so lange zurück, dass er sich nicht mehr an sie erinnern konnte. Für ihn war es zur Gewohnheit geworden, bis zum Morgengrauen wach auf seiner Matratze zu liegen und seinen Gedanken zu lauschen, die gefährlicher als jede Waffe sein konnten und nachts wie ein dunkler Schatten unter dem Bett hervorgekrochen kamen, um Luca zu erzählen, was für ein wertloses Stück Dreck er doch war. Luca dachte an seine Zeit in der Schule zurück. Er erinnerte sich an all die Lehrer, die sich über seine Respektlosigkeit, sein aggressives Verhalten und seine allgemeine Verweigerung beschwert hatten, und an seine Mitschüler, die nun studierten, Familien gründeten und ihre Träume verwirklichten, während er hier herumlag und absolut gar nichts in seinem Leben erreicht hatte, auf das man stolz sein könnte. Er war ein Loser, ein Verlierer, ein Versager, ein Niemand. Eine gescheiterte Existenz, deren Leben wertloser als das einer Ameise war. Luca seufzte und richtete sich auf. Er brauchte Ablenkung, sonst würde Antonia morgen neue Wunden auf seinem Körper finden. Was er sich selbst antat, war ihm eigentlich egal, aber was er verhindern wollte, war der enttäuschte und deprimierte Ausdruck, der immer auf Antonias Gesicht erschien, wenn sie bemerkte, dass Luca sich selbst verletzt hatte. Ihre Miene war wie ein unausgesprochenes ''Mensch, Luca, muss das denn sein? Marius wird mich umbringen, sobald er davon Wind bekommt!'' und Luca wollte nicht, dass sie sich schlecht oder schuldig fühlte. Es war schlimm genug, wenn er diese Gefühle ertragen musste, die wie ein zweiter Schatten an ihm hingen und ihn Tag und Nacht verfolgten. Luca griff nach seinem Handy und überprüfte, ob Chiara ihm geantwortet hatte, was leider nicht der Fall war. Alle Nachrichten von ihm waren gelesen, aber nicht beantwortet worden. Er fragte sich, ob sie auch nur einen einzigen Gedanken an ihn verschwendete, während er sich stundenlang den Kopf über sie zerbrach. »Liebst du mich?«, schrieb er und bekam fast eine Stunde später, in der er sich schweigend über seine Matratze gewälzt hatte, eine Antwort. »Eigentlich schon, aber du tust alles in deiner Macht Stehende, um das zu ändern.« Lucas Sicht wurde unscharf und kurz daraufhin tropften Tränen auf den Bildschirm seines Smartphones. Er ließ das Handy achtlos auf den Boden fallen, krümmte sich zusammen und krallte die Finger so feste in seine dunklen Haare, dass er spüren konnte, wie die Fingernägel seine Kopfhaut aufkratzten. Chiara hatte recht. Sie wollte ihm nur helfen und er tat versehentlich alles, um sie von sich wegzustoßen. Eigentlich hatte er sie und ihre Mühe gar nicht verdient... Bevor Luca es verhindern konnte, hatten seine Beine ihn bereits in die Küche getragen. Er suchte nach einem Messer, musste jedoch schnell feststellen, dass Antonia alles, was mindestens eine Spitze oder eine scharfe Kante besaß, versteckt hatte. Luca wusste, dass sie das nur wegen seiner Sicherheit gemacht hatte, aber für ihn war das nicht wie eine Zurückhaltung, sondern wie eine Herausforderung. Er wollte Antonia zeigen, wie krank er wirklich war und dass es nichts gab, das ihn noch retten konnte. Obwohl Luca bloß die Hälfte von dem aß, was er essen sollte, und quasi nur noch aus Haut und Knochen bestand, trug er immer noch genug Muskelmasse mit sich herum, um eine stattliche Menge an Kraft aufzubringen, mit der er einiges an Schaden anrichten konnte, größtenteils bei sich selbst. Der dumpfe Aufprall von Knochen auf Stein war im ganzen Haus zu hören, als Luca seine Faust mit so einer Wucht gegen die Wand schlug, dass er dachte, seine Hand würde jeden Moment zerschmettern. Er schlug so lange zu, bis er den Schmerz nicht länger ertragen konnte und sich sicher war, morgen einen gigantischen Bluterguss vorzufinden, doch seine Wut und sein Hass gegen sich selbst war noch lange nicht verflogen. Das Erste, das Antonia verriet, dass irgendetwas nicht stimmte, als sie das Haus ihres Bosses betrat, war der beißende Geruch von Zigarettenqualm. Leicht verunsichert ging sie ins Wohnzimmer und erblickte Luca, der auf der Couch saß und gedankenverloren den Fernseher anstarrte. In seiner Nähe lagen einige Kippen, ein Feuerzeug, eine leere Bierdose, eine angebrochene Tüte mit Chips und ein paar Glasscherben, die mit Blut benetzt waren. „Luca? Was ist passiert?“ Der junge Mann antwortete vorerst nicht, sondern nahm einen tief Zug an seiner Zigarette und stieß den Rauch durch seine Nasenlöcher aus. „Ich habe diese Serie geliebt, als ich ein Kind war“, sagte er und deutete auf den Fernseher, auf dessen Bildschirm mehrere gezeichnete Tiere zu sehen waren, die sich in einem Wald befanden. „Sie ist wie ''Games of Thrones'', nur mit Tieren.“ Antonia wollte Luca fragen, wie genau er das meinte, doch ihre unausgesprochene Frage beantwortete sich von selbst, als sie sah, wie die Tiere eine Straße überquerten und zwei Igel von einem LKW überfahren wurden. „Das ist keine Serie für Kinder, oder?“ „Doch, ist es. Endlich mal etwas, das uns keine heile Welt vorgaukelt, in der sich alle lieb haben und--“ „Ich finde das verstörend“, unterbrach Antonia ihn und schaltete den Fernseher aus. „Kinder brauchen Geborgenheit und Schutz. Sie werden früh genug erfahren, dass das Leben kein Ponyhof ist.“ „Wie du meinst“, murmelte Luca und drückte den Stummel seiner Kippe im Aschenbecher aus. Antonia seufzte und betrachtete sorgenvoll Lucas Hand, die mit einem riesigen Bluterguss und mehreren Schnittwunden versehen war. „Oh Luca... ich habe dir doch gesagt, dass du mich anrufen sollst, wenn--“ „Und was willst du dann machen?“, fauchte er sie an. „Hier herkommen, mir weismachen, dass alles in Ordnung sei, und--?“ „Dir helfen“, zischte sie nicht minder gereizt. „Und dich davon abhalten, dich selbst zu verletzen.“ Luca rümpfte die Nase, ehe er sich von der Couch erhob und die Richtung seines Zimmers einschlug. „Du weißt, dass Marius in wenigen Stunden nach Hause kommt, oder?“, sagte Antonia und zwang sich zur Ruhe. Jetzt aggressiv zu werden, würde absolut gar nichts bewirken. Ihre Wut galt nicht Luca, sondern den Stimmen, die ihn dazu brachten, diese schrecklichen Dinge zu tun, aber sie bezweifelte, dass er das wusste oder verstehen würde. „Ja“, wisperte der junge Mann, dessen Zorn sich innerhalb weniger Sekunden in Trauer verwandelt hatte. Er blieb stehen und schaute so betrübt zu Boden, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen. Antonia spürte, wie sich ihre Brust vor Mitleid zusammenzog. Sie hätte Luca so gerne geholfen und von seinen schlechten Gedanken befreit, aber sie wusste nicht, wie sie das tun könnte. „Komm, wir kümmern uns um deine Wunden.“ Luca nickte und folgte ihr ins Badezimmer, wo der Verbandskasten stand. Antonia hätte bei dem Anblick von Lucas Unterarmen gerne scharf die Luft eingezogen, aber sie bemühte sich, keine Reaktion zu zeigen, damit Luca sich nicht noch schlechter fühlte als er es ohnehin schon tat. Sein linkes Handgelenk hatte letzte Nacht stark gelitten. Auf der blau und violett verfärbten Haut befanden sich Schnittwunden, leicht angeschwollene Prellungen und ein paar kleiner Löcher, welche vermutlich von Lucas Kippen stammten, die er sich auf dem eigenen Arm ausgedrückt hatte. Nachdem Antonia die Verletzungen mit Desinfektionsmittel, Verbänden und Pflastern versorgt und erleichtert festgestellt hatte, dass die Wunden nicht so tief waren, dass man sie hätte nähen müssen, brachte sie Luca zum gedeckten Tisch im Esszimmer. Der junge Mann ließ sein rebellisches Verhalten ruhen und knabberte stumm an einer Toastscheibe herum, aber Antonia war trotzdem so misstrauisch, dass sie fast jede halbe Minute ins Esszimmer spähte, während sie das Zeug im Wohnzimmer aufräumte und die Scherben, mit denen Luca sich die Arme aufgeschlitzt hatte, im Mülleimer entsorgte. Luca fühlte sich wegen seiner nächtlichen Aktion so schuldig, dass er kurz vor Marius' Ankunft einen spontanen Spaziergang am Strand machte und erst eine halbe Stunde später wieder nach Hause kam. Er hatte damit gerechnet, dass sein Vater enttäuscht von ihm oder wütend auf ihn sein würde, aber Marius strahlte übers ganze Gesicht, als er seinen Sohn erblickte. „Luca, schön dich zu sehen!“, rief er erfreut und gab ihm einen freundlichen Klaps auf die Schulter. „Wie geht es dir?“ „Gut“, log Luca, weil er nicht wusste, was er sonst sagen sollte. Marius hatte ihm die Frage nur aus Gewohnheit gestellt und nicht weil er wirklich wissen wollte, wie es Luca ging, mal ganz davon abgesehen, dass er bestimmt weder genug Zeit noch Interesse besaß, um sich eine ehrliche Antwort anzuhören. Luca schluckte nervös, als ihm plötzlich auffiel, dass ein fremder Junge mit braunen Locken und blauen Augen im Wohnzimmer stand. Er war nicht sonderlich groß, etwa 15, 16 oder 17 Jahre alt und ein wenig blasser als alle anderen Anwesenden, aber nicht ungewöhnlich bleich. „Das ist Fabiano“, sagte Marius, bevor Luca fragen konnte, wer der Knirps war und was er in diesem Haus verloren hatte. „Ich habe ihn in Russland erworben. Is' 'n deutscher Junge, kann aber Italienisch sprechen. Dachte, er würde vielleicht als Geschenk für Onkel Lorenzo taugen.“ „Uh-hm“, war alles, was Luca dazu einfiel. Onkel Lorenzo war weder sein, noch Marius' Onkel, sondern trug diese Bezeichnung nur als Spitznamen. Er war dafür bekannt, sich vor den engsten Familienmitgliedern als Pädophiler geoutet zu haben, aber auch geschworen zu haben, sich niemals an einem Kind zu vergehen. „Für meine Neigungen kann ich nichts, aber für meine Taten schon“, war sein Motto. „Und deswegen werde ich meine Finger von Kindern und Kinderpornografie lassen.“ „Bist du sicher, dass er sich darüber freuen wird?“, fragte Luca, weil Lorenzo sein ''Geschenk'' als Anschuldigung fehlinterpretieren könnte, das behauptete, er würde seine Unschuld nur vorspielen und in Wahrheit doch seinen Trieben nachgehen. „Und ob er sich freuen wird“, antwortete Marius. „Schau dir den Zwerg doch an; er sieht aus wie zwölf.“ „Ich bin 16“, widersprach der Junge mit seiner überraschend schön und sanft klingenden Stimme. „Und mein Name ist nicht Fabiano, sondern Fabian.“ „Er sieht aus wie ein Teddybär“, gab Luca seinen Senf dazu, während er nachdenklich die hübschen Locken von Fabian betrachtete, der es anscheinend nicht mochte, als Teddybär bezeichnet zu werden. „Und du siehst aus wie ein Zombie“, fauchte er gereizt zurück, wofür er von Marius eine schallende Ohrfeige bekam. „Zombie?“, wiederholte Luca nicht beleidigt, sondern verwundert und warf einen flüchtigen Blick in den Spiegel, der nur wenige Meter entfernt an der Wand hing. „Wie kommst du denn auf Zombie? Vampir oder Mumie“, er deutete auf seinen frischen Verband, „hätte ich verstanden, aber Zombie? Nein.“ Fabian konnte Luca leider nicht zuhören, weil er damit beschäftigt war, von Marius einige Schläge zu kassieren. „So redest du nicht mit meinem Sohn“, fauchte der Ältere wütend. „Entweder wirst du mehr Respekt zeigen oder ich werde dir die Manieren einprügeln müssen.“ „Es tut mir leid“, ächzte Fabian, damit die Schmerzen ein Ende nahmen. Im Augenwinkel sah er, wie Luca sich von ihnen abwandte und im Flur verschwand. „Das hoffe ich für dich“, knurrte Marius, ehe er den Jungen endlich losließ und Antonia anwies, sich um das Gepäck im Auto zu kümmern. „Hör zu, Kurzer: Onkel Lorenzo kommt erst nächste Woche nach Italien zurück. Bis dahin wirst du hier im Haushalt helfen und dich anständig benehmen. Wagst du es, mir zu widersprechen oder einen Fluchtversuch zu wagen, werde ich dich windelweich prügeln und im Keller einsperren. Möchtest du das?“ Fabian schüttelte eilig den Kopf. „Gut“, schnaubte Marius, bevor er dem Jungen die Räume des Hauses zeigte, in denen er sich aufhalten durfte. „Und falls du irgendetwas nicht weißt, fragst du Antonia um Hilfe. Das ist die Frau, die vorhin bei uns war.“ Fabian nickte. „Ach ja, und bevor ich es vergesse: Solltest du bemerken, dass Luca gefährliche Gegenstände einsteckt oder in seinem Zimmer aufbewahrt, irgendwelche illegalen Substanzen konsumiert – ja, ich rede von Drogen – neue Verletzungen an seinem Körper hat oder sich selbst Schaden zufügt, wirst du sofort, unter allen Umständen und absolut zuverlässig mir oder Antonia Bescheid sagen.“ Fabian nickte zögernd. In den letzten 48 Stunden hatte sich seine Welt auf den Kopf gestellt und sein ganzes Leben verändert, aber von all den Informationen, die er verarbeiten musste, gab es momentan nur eine, mit der er etwas anfangen konnte, und das war eine vollkommen unwichtige, wenn man sie mit den anderen verglich. „Ist Luca... selbstmordgefährdet?“ „N... nein. Er hat bloß ein paar... Angewohnheiten, die... nicht gut für ihn sind.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)