Contiguity Magica von WrightGerman (A Crow and her Heaven) ================================================================================ Kapitel 5: Der Kuss der Hexe ---------------------------- Contiguity Magica Kapitel 05: Der Kuss der Hexe   Endlich, oh endlich,schickte sich das elende Wolkendach dazu an, Gnade über jene walten zu lassen, die sich nicht vor dem schweren Niederschlag zu retten wussten. Um jeden Minutenstreich klärte sich das Unwetter weiter auf, bis zum ersten Mal an diesem Tage, die lichten Strahlen der Sonne wie durch einen ergrauten Vorhang brachen. „Oh“, sagte Shiro, den Blick nach oben gerichtet. „Der Tag ist wirklich ein ereignisreicher. Erst schüttet es wie aus Eimern und dann öffnet sich der Himmel, als hätte es dieses Unwetter niemals gegeben. Guck mal, es lösen sich schon kleine Wolkenfetzen ab. Wahrscheinlich kriegen wir heute doch noch einen blauen Himmel zu sehen.“ Wenn Kyubey darauf etwas erwiderte, so war es leise und deutlich für empfindlichere Ohren, als die Shiros bestimmt. Er war Shiro mit einem, aus verständlichem Misstrauen entwachsenem Abstand gefolgt, war es doch immerhin dieser junge Mann, der ihm sein Leben schnell und doch gewaltsam genommen hatte. Man merke: eines seiner Leben. Denn es war das bemerkenswerte an dem Inkubator, dass er nur einer unter hunderttausenden war, die sich über dem ganzen Globus verteilt hatten. Gleichsam anzumerken war auch, dass jede Kopie simultan und unabhängig von den anderen agierte, interessanterweise alle aber denselben Geist teilten. Es war eines dieser Phänomene unseres Kosmos, das vielleicht einfach in Worte zu kleiden, aber nur schwerlich mit etwas Griffigem, etwas Verständlichem zu beschreiben war. Anders könnte man sagen, dass der begrenzte Verstand des Menschen sich nicht an etwas derartigem wie Kyubey heranwagen konnte, ohne sich dabei von der Begrifflichkeit völlig verlassen, gar hintergangen zu fühlen. Es war wie die Unendlichkeit des Universum oder der Anfang des Schöpfers aller Anfänge; man konnte es sich schlichtweg nicht vorstellen. Shiro hatte seinerseits schon lange das Interesse an den kleinen Tricks des Aliens verloren. Wozu auch Zeit und Mühen für eine Sache opfern, die von vorneherein zum Scheitern verurteilt war? Sie waren in eine Allee eingebogen, die nun schon seit fünf Minuten kein wahrnehmbares Ende zeigte. Keine Kreuzung, keine Biegung, nicht einmal eine jäh zu erkennende Sackgasse, die ihn dazu verleitet hätte umzukehren. Und möglicherweise hätte ihn dies sogar, zusätzlich zu dem Ereignis in der Gasse, in ein tiefes Loch aus Frustration geworfen, in welchem er sich über diesen Tag und die vielen Plagen, die er mit sich brachte, lauthals auslassen würde, wenn er denn nicht diesen Weg in voller Absicht eingeschlagen hätte. Shiro hatte ein klares Ziel, irrte also nicht planlos umher. Die Zeit, die er, bevor Homura ihn mit seiner Vollzeitaufgabe betraute, hatte er dazu genutzt, die Stadt zu erkunden. Dadurch waren ihn Abkürzungen, öffentliche Plätze, jene dunkle Gasse von eben und noch vieles mehr, ihm kein Fremdes. Doch ins Herz geschlossen hatte er wirklich diese Straße mit ihrer lächerlichen Länge, denn er war ein Liebhaber der Farbe Grün. Und das ist, was die Allee am besten beschrieb: „Ein Traum in Grün“, sagte er, wie von Euphorie benebelt. „Findest du nicht auch, Kyubey? Diese Straße könnte doch mit dem Garten Edens selbst konkurrieren.“ Kyubey stimmte einvernehmlich zu. Der Himmel begann sich zu lichten. Von oben kämpfte sich die Sonne durch das, vom Regen schwer gewordene Blätterdach der Bäume, die wie ein einziger Schirm über dem Fußgängerweg ausgebreitet hingen. Zu zwei Seiten grenzten schlichte Zäune aus Holz, Stein oder einfachem Gestrüpp, die einer einheitlichen Höhe zu unterliegen schienen, die Gärten der Häuser von der Straße und voneinander ab. Rosenbüsche, Blumenbeete, selbst angebautes Gemüse oder Schaukeln und Rutschen für die Kleinen, zierten das satte Grün des Rasen und gab jedem Garten seine eigene individuelle Gestalt. Und neben dieser optischen Finesse war die Luft von einer diesigen Schwüle verhangen, auf welcher der ätherische Duft von frisch gemähtem Gras ritt. Shiro nahm einen tiefen Zug dieser Luft durch die Nase ein; sein Brustkorb schwoll an, dann atmete er wieder aus. Er war schon immer ein Freund der Blumen, ein Beschützer der Gärten gewesen. Grün war nicht einfach nur seine Lieblingsfarbe, nein sie war einst sein ganzer Lebensinhalt. Wie oft hatte er doch als Kind davon geträumt ein Gärtner zu werden? Dafür engagiert zu werden, die verwahrlosten Grünflächen wieder zu ihrer einstigen Schönheit zu verhelfen. Die Welt zu einem wunderschönen, grünen Ort zu machen. Zusammen mit … Er blieb stehen. Ein schwerer Schatten legte sich über sein ach so wonniges Gemüt. „Was ist los?“ „Gar nichts“, erklärte Shiro nach einer langen Pause, dann ging er weiter. Unterdes, während sich die Allee so dahinzog, griff er reizlos in seine Jackentasche, zückte seine Zigarettenschachtel und schob sich einen jener Luft verpestenden Stängel zwischen die Zähne, als ob seine Liebe zur Natur niemals vorhanden gewesen wäre. „Hör mal“, sprach er dumpf durch die halb versiegelten Lippen, während er seine Taschen nach dem Feuerzeug abtastete, „wenn du mir schon folgst, dann lauf doch bitte neben mir. Ich bekomme ne leichte Gänsehaut, wenn ich deine stechenden Augen in meinem Rücken weiß. Außerdem will ich dich im Auge haben. Nicht, dass ich noch mit dir ein Gespräch führe, du dich klammheimlich aus dem Staub machst und ich hier auf einmal mit der Luft rede.“ „Seit unserem letzten Aufeinandertreffen …“ „Du und Homura seid aufeinandergetroffen“, unterbrach er ihn scharf. Er fand den kleinen Feuermacher; und ja, er hatte wirklich vergessen, wo er es eingesteckt hatte. „Sei es, wie du denkst“, sagte Kyubey unbekümmert – er klang immer unbekümmert, „aber das du mich getötet hast, lässt mich nun wachsamer dir gegenüber sein.“ Nach vielen Versuchen, die er an dem Rädchen seines Feuerzeuges drehte, trat eine kleine Flamme aus dem Loch hervor, die mit dem anderen Ende der Zigarette züngelte. „Nicht, dass du denkst, dass ich das wollte, mein Freund. Aber ich habe dir wohl eine sehr deutliche Warnung zukommen lassen, die du einfach ignoriert hast“ erwiderte er seinerseits und ließ das Stückchen Plastik wieder in in dieselbe Tasche zurückgleiten. „Ich habe dir gesagt: ,Halte dich von Madoka Kaname und Sayaka Miki fern, oder ich spalte dir deinen süßen, junge Mädchen verzaubernden Schädel.ʻ Die Warnung hast du nicht ernst genommen, also habe ich meinen Worten Taten folgen lassen. Mehr war das nicht. Du siehst, es ist kein Akt aus Hass gewesen, demnach besteht auch kein Grund mir zu misstrauen. Also komm jetzt neben mich, sei so gut.“ Eine kurze Weile, die für eine Antwort jedoch einer langen Zeitspanne entsprach, blieb es eigenartig still hinter seinen Rücken. Er verengte die Augen stutzig und wandte sich auf einem Absatz um. „Sag, hat es dir die – Huch!“, schrie er verwundert auf. Sein Blick tastete verunsichert den Boden in alle Richtungen ab; Kyubey war nicht mehr zu sehen. Weg. Einfach weg. Als wäre er nie da gewesen. Er blies den Qualm durch die halboffene Mundöffnung heraus und strich sich wie jemand, der der Ohnmacht durch Erschöpfung nahe stand, mit der flachen Hand übers Gesicht. „Der kommt und geht, wann er will“, empörte er sich. Dann drehte er sich wieder um, warf einen letzten, prüfenden Blick über seine Schulter, als würde er die Präsenz eines Anderswesens – Kyubey, eine Hexe oder möglicherweise ein Hexer? – spüren. Aber was dem Geist nicht klar ersichtlich, ist für ihn nur null und nichtig. So tat er das seltsame Verschwinden des Inkubators seufzend und kopfschüttelnd ab und ging, ohne sich noch ein weiteres Mal nach hinten umzuschauen, weiter. Nachdem er einige Weggabelungen, weitere Alleen und eine kleine Einkaufsmeile hinter sich gebracht hatte, erreichte er endlich sein Ziel; das Anwesen der Shizukis. Es war ein mächtiges, sich über drei Stockwerke erstreckendes Gebäude, das im Hintergrund eines Hofes stand. Zwei Flügel reichten beinahe bis zu der knapp ein Meter achtzig hohen Mauer, die das ganze Grundstück umschloss und nur in Form eines massiven Stahltors und einer sich daneben befindlichen Holztür legalen Einlass bot. Ein großes Fenster, das beinahe die komplette Frontwand des Hautgebäudes ersetzte, ließ, sofern sich nicht die Reflektion der Sonne davorschob, einen schwachen Einblick in das Innere dieses Hauses zu. Den Hof zierte ein Springbrunnen, in dem feine schwungvolle Reliefen eingearbeitet waren. Dieser verschönerte die Kreuzgabelung des Kiesweges, welcher an den drei Eingangstüren des Hauses – dem Haupteingang und den zwei Seiteneingängen, die in den jeweiligen Flügel führten – endete. Warum es ihn ausgerechnet hierhin verschlug, ihn, dessen letzte an Homura gerichteten Worte, die eine Relevanz inne trugen, waren, dass er nichts über den momentanen Aufenthalt von Sayaka Miki wüsste. War es nun Zufall, dass der ihm unvertraute Wegbeiläufig an dieses Anwesen vorbeiführte? Vielleicht. Wenn ein Kind, dass seinen Eltern Geld gestohlen und unter seiner Matratze versteckt hatte, gefragt würde, ob es besagtes Geld entwendet hätte, und dieses wiederum mit einer klaren, einer gewissen Ernstigkeit in sich bürgenden Verneinung antwortete, war es dann vielleicht ein Dieb, oder war es definitiv eines? Der Mensch als ein weites Meer mit Blick zum Horizont, welcher die lichte, von der schattigen Seite trennte, barg desto mehr in sich, je tiefer das Wasser ging. Und gerne erblicken wir die vielen Eigenschaften eines Menschen als positives Element, verharren auf der Seite, welche wir als warm und schön empfinden, ohne zu ahnen, dass dieses tiefe Meer sich auch mit einem kalten Unheil vermengt. Der Mensch sagt, der Mensch glaubt; so und nicht weniger auch Shiro. Seine vornehmen Motive zu dieser dreisten Lüge also, die er in diesem gefährlichen Spiel auf Leben und Tod seiner einzigen Partnerin auftischte, galt seinem eigenen Überlebensinstinkt. Kontrolle war dem Menschen das höchstes, dem Hexer sein heiligstes Gut. Indem er log, war ihm die Gewissheit sicher, dass Homura ihn nicht beim Überwachen von Sayaka Miki kontrollieren würde, denn dafür müsste er sie erst einmal finden. So konnte er also in aller Ruhe, unter dem Deckmantel einer lang andauernden Suche, das Hexenei in einer abgelegenen Gasse ausbrüten – es war ihm ja diesbezüglich keine Wahl geblieben –, es zerstören und dann seinen Dienst wieder aufnehmen, indem er später behaupten würde, sie zufällig erspäht zu haben. Und warum diese ganze Scharade so dringend nötig war, wo doch Vertrauen in einer Partnerschaft die wichtigste Voraussetzung war, nun … man müsse einen Einblick in das Leben des Shiro Ikuto erhalten, um seine Handlungsweise nachzuvollziehen. Lassen wir für diesen Moment stehen, dass Homura nicht das erste Magical Girl war, mit dem er paktierte. Er schnippte die verrauchte Zigarette in eine willkürlich gewählte Richtung und war schon mit den Gedanken halb auf einem der umliegenden Häuserdächern, welches ihm den idealsten Einblick in das Zimmer von Hitomi Shizuki versprach, bis er plötzlich inne hielt und die mattschwarze Limousine vor dem Eingangstor bemerkte. Er zügelte seine Gang. Ein alter Mann, der die Kleidung eines Butlers trug, hatte sich auf Höhe des hinteren Fensters hinabgebeugt und schien etwas durch den ergrauten Schnurrbart hinweg zu sagen. Dann erloschen die Bremslichter und der Wagen fuhr mit schnurrendem Motor davon. Shiro schwante eine furchtbare Ahnung, wer da gerade in diesem Fahrzeug gesessen haben musste und er eilte auf den alten Mann zu. „Entschuldigung“, rief er mit erhobener Hand. Der alte Mann, welcher sich gerade dazu anschickte, wieder durch das Tor zu schreiten, blieb stehen und wandte sich zu Shiro um. „Verzeihen Sie, mein Herr“, sagte Shiro, der sich in seiner Eile nicht den höflichen Ton verdrängte. Mit einem nervösen Ausdruck, zittriger Stimme und wilder Gestikulation, die einem notorischen Lügner zu Gesichte standen, sprach er weiter: „Entschuldigung. Ich will Sie nicht lange belästigen. Guter Mann, ich bin ein Freund von Sayaka Miki, vielleicht hat sie mich ja mal erwähnt – ach, ist ja auch egal. Hören Sie, ich war eben bei ihr Zuhause, weil ich sie mal wieder besuchen wollte. Ihre Mutter hat mir gesagt, sie wäre rüber zu …“ Er verstummte abrupt. Verflucht, wie hieß die Kleine noch gleich? Shizuki? Oder Shizuka? Shizume? Shizu-irgendwas, verdammt! Shiro, dem das Ärgernis seiner eigenen Gedankenlosigkeit zu Kopfe stieg, war für drei ewig lange Sekunden in völlig betroppeztes Gestotter verfallen. Er hatte schneller geredet, als gedacht und sich nun in eine Sackgasse geschwafelt. Er war so perplex, so in seinen Erinnerungen am wühlen, dass er nicht einmal das Namensschild bemerkte, das neben der Eingangstür über der Türklingel, welche eine integrierte Kamera hatte, thronte. Der alte Mann unterdessen, betrachtete Shiro mit einer solchen Seelenruhe, als wäre Zeit, gemessen an sich, seine geringste Sorge. Der in die Jahre gekommene Körper hielt sich so aufrecht, wie ein verbogenes Gestänge, während er seine Hände hinter seinem Rücken verkeilte, als wäre er versucht, sein Kreuz wieder ins Gerade zu richten. Keimte hinter diesen faltigen Augen bereits die Saat des Misstrauens, so war er ausgesprochen geschickt darin, sich diesen nicht anmerken zu lassen. „Shizu-chan“, sagte Shiro notgedrungen und lobpreiste sich sogleich für den Einfall. „Ist sie zufällig hier?“ Unter dem ergrauten Bart, der den Raum zwischen Oberlippe und Nasen wärmte, verzog sich der Mund entweder zu einem Lächeln oder – und Shiro fürchtete dies – zu einer finsteren Grimasse, wie es sich böse Menschen gerne auflegten, wenn sie kleine Kinder mit einem Besen oder einer Harke von ihrem Grund und Boden vertrieben. „Miss Miki-san“, sprach der Alte und sofort war Shiro ohne weitere Sorgen, denn der Mann hatte eine herzensgute, warme Stimme, „ist zusammen mit dem jungen Fräulein Hitomi in ein Krankenhaus gefahren, um dort eine Freundin zu besuchen.“ Also zu Madoka, schlussfolgerte Shiro. „Ich danke Ihnen.“ Eilig stürmte er an den alten Mann vorbei. „Wollen Sie denn nicht wissen, zu welchem –“ „Ich kann es mir schon denken, danke sehr.“   In der Zwischenzeit:   „Und dieser Knilch ist also mein Gegner?“ „So ist es“, bestätigte Kyubey. Der Metallstiefel seines Peinigers, der auf seinem Kopf so gewaltsamen Druck ausübte, tangierte das kleine Vieh aus einer anderen Welt scheinbar überhaupt nicht. Er beantwortete seine Fragen mit seiner üblichen, von Emotionen unberührten Stimme, wie als würde er mit ihm von Angesicht zu Angesicht sprechen. „Ich bin also wirklich in dieses Land gereist, um den Schlächter der mächtigen Hexe Hugenotte die Stirn zu bieten und muss nun feststellen, dass er nur ein verdammtes Balg ist? Ich muss sagen, Kyubey,dass mich diese Antwort keineswegs befriedigt.“ „Das ändert nichts an der Tatsache –“ Ein leises Knacken, gefolgt von einem ekligen, die Magenwand verdrehenden Schmatzen, als würde man durch einen stinkenden matschigen Untergrund warten, ließ das Alien verstummen. Der Satz zerstreute sich mit den dicken roten Tropfen, die plötzlich in alle Richtungen schossen. Darauf folgte eine dickflüssige Lache, die sich rasant verteilte. Unter dem von Eisen beschichteten Stiefel durchliefen die letzten Zuckungen den weißen Katzenleib, dann hörte er auf einmal auf sich zu bewegen. „Ach, halt dein Maul, du blödes Vieh. Nun schau, was du da angerichtet hast. Gerade eben noch hat der Stiefel geglänzt und jetzt …“ Er zischte bösartig, wie eine Spinne, die sich aggressiv aufbäumte. Eine Antwort brauchte er nicht mehr zu erwarten. Auf seinem Gesicht legte sich ein diabolischer, von Hass zerfressener Ausdruck. „Der Hexer Vispas ist also nicht mehr, als ein verdammtes Kind. Hach, was für eine plagende Erkenntnis.“ Er fasste sich an die sonnengebräunte Stirn und strich sich über das glatte Haar, das er hinten zu einem langen Zopf geflochten hatte, der ihm bis zur Hüfte reichte. „Na was soll es denn. Jetzt bin ich hier, also wird dieser Knilch auch für meine Unterhaltung aufkommen. Ich – huch, wo ist er denn hin? Fluch und Tod, verdamm mich mein elendes Geplapper!“   Zurück zu Shiro: Der Weg zum Krankenhaus   Die Straße, welche zum gewünschten Ziel führte, war ein von Häusern verschachtelter Alptraum für Fußgänger. Alles war von eiligen Leuten, die von ihrem Zeitgefühl betrogen wirkten und nun die verlorenen Minuten aufzuholen versuchten, verengt. Shiro, der nur um wenige Zentimeter größer war als Homura, war in diesem Gemenge ein Pimpf unter Riesen. Er stieß mit seiner Schulter gegen jeden Arm und mit Bauch und Brust gegen jede Tasche und jeden Koffer, welche die charismatischen Begleiter der Erwachsenen waren. Zähneknirschend liebkoste er schon mit dem Gedanken, einfach die Dächer zu benutzen und der treibenden Welle aus hektischen Leibern, die sich keinen Deut um ihn zu scheren schienen, somit aus dem Weg zu gehen. Doch wenn er dies tat, so spielte er sofort mit der Gefahr, dass man ihn entdecken würde. Im Schutze eines Regenschauers oder von der Schwärze der Nacht verschluckt, weit dem Lichte der Laternen fern, wäre diese Überlegung durchaus weniger risikobehaftet. Doch so, unter einem aufklarenden Himmel – nein, es würde ihn ganz sicher jemand sehen. Er konnte es nicht riskieren, gesichtet zu werden. Vor allen Dingen dann nicht, wenn ihn auch noch das falsche Auge erspähen könnte. So kämpfte er sich also verbissen durch den Menschenstrom hindurch, versuchte alles und jedem auszuweichen und scheiterte Mal um Mal an diesem Vorhaben. Und so geschah es, als er dem ausgestrecktem Ellenbogen eines Mannes zu entgehen versuchte, der unter seinem Arme einen schweren Aktenkoffer trug, das er gegen eine Frau stürzte, die ihrerseits zu Boden fiel. Sofort wandte sich Shiro zu ihr um, reichte ihr die Hand und entschuldigte sich ehrlich. „Schon in Ordnung“, entgegnete die Frau mit einer müden Miene, als hätte sie diese Unannehmlichkeit nicht einmal realisiert. Sie ignorierte seine angebotene Hilfe und erhob sich. Dann schlenderte sie den Weg entlang, ohne noch ein weiteres Wort an ihn zu verlieren. Junge, Junge, dachte er belustigt, die hat wohl nen ziemlichen Hangover. Da sieht man es mal wieder; wer zum trinken sich anschickt, der am Kater wohl erstickt. Shiro blickte der Dame noch für zwei unschätzbar lange Sekunden nach. Er wollte sich umdrehen, doch war ihm, als würde er damit etwas ignorieren. Die Art, wie sie wie eine Angeheiterte torkelte, das ausdruckslose Gesicht, die glasigen Augen. Doch was störte ihn daran? Er kannte den Rausch, den man hatte, wenn man unter der Wirkung alkoholischer Genussmittel stand. Aber es fehlte der entscheidende Indikator, der ihn einfach zum Umdrehen und erheiterten Schulterzucken verleitete. Die Fahne. Auf sein helles, von Freude bewachsenes Gesicht, legte sich ein düsterer Schatten der Vorahnung. Sie hat überhaupt nicht nach Alkohol gestunken. Ist sie vielleicht anderweitig berauscht? Gut möglich. Schadet es, wenn ich dennoch einen neuen Blick erhasche? Und kaum, dass er das gedacht, war er auch schon der jungen Frau nachgeeilt, die zum Glück so langsam war, dass es kein Problem darstellte, sie in diesem Wirrwarr aus Köpfen und Kleidern auszumachen. Er holte sie ein, lief links neben ihr her und besah sie so auffällig wie ein Spanner, der sich in seinem Busch sicher und unauffällig glaubte. Vom Kopf ab bis zum Halse musterte er sie, dann erschauderte er. Ein schwarzer Abdruck, der für das gemeine Auge unentdeckt und von dem Betroffenem selbst unbemerkt blieb. „Der Kuss einer Hexe.“ Die Frau blieb plötzlich stehen und drehte Shiro das Gesicht zu. Ihm lief ein eisiger Schauer über den Rücken, als er in ihre hellbraunen Augen starrte, die so leer, seelenlos erschienen und statt des Glanzes, nur einen leicht matten Schimmer bargen. Plötzlich schien es ihm, als würde sie mit diesen Augen um Hilfe und Beistand flehen und es schien wahrlich nicht mehr so belustigend, wenn man es aus der gefährlichen, statt aus der belustigenden Perspektive betrachtete. „Ja?“, sagte die Frau. „Oh“, entgegnete Shiro, „verzeihen Sie, ich dachte … nein, schon gut.“ Er lachte und spielte seine Rolle als peinlich Verlegener geradezu beängstigend gut. Und erneut, ohne ihm mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, als unbedingt notwendig, drehte sie sich zum Gehen um und tauchte in die Woge der Menschenmassen unter. Zur selben Zeit änderte sich der Ausdruck in Shiros Gesicht zu etwas, das einen anrüchigen Ehrgeiz offenbarte, der einem tyrannischen Kriegsherren hätte gehören können. Solche Menschen, die vor allen anderen mit beispielloser Gier, das Leben anderer, für die Erreichung des eigenen Ziels opferten. So war auch der nächste Gedankengang wie von einer zwiespältigen Persönlichkeit gesprochen – die eine zu Willen, ein Opfer zu bringen, die andere nur von dem puren Bestreben gelenkt, den eigenen Profit aus dieser Geschichte zu ziehen. Diesen Grief Seed hole ich mir.   Die letzte Distanz zwischen Leben und Tod, das letzte Hindernis, das die Seele noch mit Diesseits der Welt verankerte; kein anderes Beispiel hätte Shiro in diesem Moment besser in den Sinn kommen können, als das des griechisch-mythologischen. Wie die des Lebens überdrüssig gewordenen, die der Fährmann Charon, im Austausch für zwei Münzen, über den Styx und in das Totenreich übersetzte, so auch die arme Unglückliche, die über der Brücke wandelnd den Fluss überquerte, der die blühende Metropole vom Industrieviertel trennte. Shiro war sehr viel daran gelegen, ihr unauffällig und in einem Abstand zu folgen, der ihm sowohl eigene Sicherheit versprach, als auch verhinderte, dass er sie nicht aus den Augen verlöre. Hexen waren nämlich sehr berechenbare Kreaturen. Ihre Opfer lockten sie stets in die Nähe ihres Territoriums, um sie dann in den Selbstmord zu treiben. Aber sie waren auch feige Kreaturen. Sie verharrten nie lange an einem Ort und würden auch nicht lange fackeln und die Flucht ergreifen, sobald sie seiner Präsenz gewahr würden. Es kam nur selten vor, dass sie sich einem offenen Kampf stellten, es sei denn, sie glaubten sich überlegen. Um eine Hexe zu einem Kampf zu zwingen, gab es nur eine Möglichkeit: Man musste durch ihren Bannkreis stoßen und tief genug in das Labyrinth vordringen. Erst dann wäre ihr ein Entkommen unmöglich. Und das war Shiros Ziel. In dem er sich also weit hinter ihr hielt, vermied er den Eindruck, er wäre nur hinter der manipulierenden Kraft her. Ein weiteres Zeichnungsmerkmal, dass man den Hexen ankreiden konnte: An ihnen konnte mehr ein Grad an Instinkt, denn ein wirklich beigelegter Grad an Intelligenz beobachtet werden. Sie verstanden nichts von Strategie, konnten nur bedingt Opfer von Jäger unterscheiden und das auch nur, wenn sich ihnen der Jäger gerade als solcher präsentierte. Viele bemerkten es nicht einmal, wenn sich jemand unbefugten Eintritt in ihr allerheiligstes Domizil verschaffte. Und wenn sie es bemerkten, war es meist schon zu spät. Nun begann Shiro sich zu allen Seiten umzublicken. Sie hatten die Brücke hinter sich gelassen und schritten weiter auf einem Untergrund entlang, der durch und durch asphaltiert war und kein Überbleibsel von der Natur zurückgelassen hatte. Dies war das Industrieviertel von Mitakihara. Lichtmasten, so hoch wie Bäume, Wassertürme zu allen Seiten, als würde ein flammender Schatten über diesen Teil der Stadt liegen, Rohre die zwei Meter über dem Kopf hinweg führten und natürlich auch Fabrik- und Lagerhäuser. An den letzteren zu erblickende Industrieanlagen, war besonders ein angelagerter Siff an den Wänden zu beobachten, welcher sich durch senkrechte, braune und grünblaue Striemen kennzeichneten und sich beinahe über die gesamte Höhe der Bauten zog. Als hätte alles hier eine Woche lang unter Hochwasser gestanden, dachte Shiro. Der Gedanke machte ihn schaudern und er versuchte ihn schnell wieder zu verdrängen. Denn Shiro hasste das Wasser. Die Besessene steuerte auf ein Gebäude zu, dass vom Aussehen einer großen Lagerhalle glich. Ein breites Satteldach unterschied es von den umliegenden Fabrikhäusern, die man mit einem klassischen, für diese Baugattung typischen, Sägezahndach ausgestattet hatte. Doch nein, es wirkte zwar wie ein Lagerhaus, war aber auch ein Fabrikgebäude. Denn es beherbergte große metallische Behälter, die über und über von Nieten bestückt waren, so als wären jedes von ihnen hundertfach aufgeplatzt und immer wieder mit Aluplatten neu zusammengeflickt worden. Wie selbstverständlich schritt die willenlose Marionette in das Gebäude hinein; dass Gebäude stand offen und verlassen, wie eigentlich das ganze Gelände. Shiro, der in seinem Eifer, den Grief Seed zu ergattern, eisern geblieben, war dieser Fakt noch nicht aufgefallen. Ob es eine Feuerprobe gab, ob jeder Mitarbeiter um dieselbe Uhrzeit zur Mittagspause läutete, ob sie heute alle frei hatten oder es eine Betriebsversammlung gab – solange ihn niemand bei der Arbeit störte, war ihm alles herzlich egal. Er schmiss sich bei einem kurzen Sprint, nachdem er den Abstand zu ihr etwas zu groß hat werden lassen, mit dem Rücken voran gegen die Außenwand des Gebäudes und spähte hinein. Im gleißenden Scheine der drei Dachfenster, die das dunkle Innere mit einem weißgelben Licht füllten, stand die Frau. Wie benebelt starrte sie auf die metallischen Behälter. Sie waren zu je zwei Seiten viermal vertreten. Getragen wurden diese zylindrisch geformten Metallkolosse, die in der Höhe bald fünf und in der Breite zwei Meter fünfzig maßen, von je einem Metallblock. Dieser musste in seinem Kern wohl eine Menge Drähte und Kabel horten, denn abseits des einen Ventils, das blutrot aus dem stählernen Gehäuse herausragte, wurde das Außenleben von vielen Tachometern, blinkenden Knöpfen und einem großen Display beherrscht. Von oberhalb dieser Behälter drang je ein Rohr ein, das entweder etwas abpumpte oder einließ. Und ob diese Rohre überhaupt eine Verwendung fanden, entschieden, so überlegte Shiro, wohl die einzelnen Ventilräder. „Die Ventile“, stellte er erschüttert fest. „Oh nein!“ Als ob diese Worte das Startsignal setzten, hatte die Frau hatte damit begonnen, die Ventile der Reihe nach aufzudrehen. Rapide machte sich in dem ersten bereits ein unheilvolles Rumoren bemerkbar, als würde ein übergroßer Druck die von Nieten übersäte Metallwand nach weiter nach Außen drücken. „Jetzt aber schnell!“ Die Frau hatte gerade die Hände an das zweite Ventil gelegt, da war auch schon Shiro aus seiner sicheren Deckung gesprungen und auf sie zu gestürmt. Sie hatte nicht die Zeit sich umzudrehen. Dies war aber weniger seiner Schnelligkeit geschuldet, als mehr der Hexe, die, um einen optimalen Einfluss auf den freien Willen auszuüben, das Wahrnehmungsempfinden des Geistes massiv einschränken musste. Denn um eine völlige Kontrolle über einen Menschen zu erlangen, musste man zu dessen innere Stimme heran gedeihen. Und um dieser inneren Stimme eine Art Monopolstellung im Bewusstsein des Menschen zu erbauen, musste das Bewusstsein selbst, wie auch das Empfindungsvermögen des Wirtes getrübt werden. Psychologie und Hexerei spielten sich in dieser Beziehung in die Hände. Da Shiro als ein Hexer aber ein versierter Kenner seiner weiblichen – um nicht zu sagen: biestigen – Artgenossen war, waren ihm auch die allgemeinen Tricks und Kniffe dieser Wesen bekannt. Als er also mit einem schnellen Sprint auf die Frau zuhielt, hatte er schon die verminderten Reflexe zu seinem Vorteil mit einkalkuliert. Schließlich war es deutlich einfacher einen Menschen genau dann mit einem gut gezielten Schlag ins Traumreich zu befördern, wenn dieser damit am wenigsten rechnete; Madoka hätte diese Tatsache zu bestätigen gewusst. Wichtiger war es ihm aber, dass er kein markantes Gesicht im Gedächtnis des Niedergeschlagenen blieb. Jemand der mit starken Kopfschmerzen an einem ihm fremden Ort aufwacht, könnte ein Problem in Shiros Handlungsfreiheit darstellen, wenn er sich seines markanten Gesichtes ersann und damit vielleicht sogar zur Polizei ginge. In der Innenseite seiner linken Hand hellte ein grelles Licht auf, aus dem sofort ein überlanger Dolch entwuchs. Mit dem goldenen Kolben, der an der Rückseite des Griffes angebracht, war es ihm gelungen, die Frau mit einem harten Schlag auf den Hinterkopf erst ins Wanken, dann bewusstlos in seine Arme fallen zu lassen. Selbiges Verfahren hatte er übrigens auch bei Madoka Kaname angewandt. Eine halbherzige Entschuldigung ging über seine Lippen, als er sie mit der Behutsamkeit eines liebenden Mannes, der seine volltrunkene Frau zu Bette trug, längs über den Boden legte. Dann erhob er sich, griff zum Ventil und drehte es rasch wieder zu. Das metallische Grummeln im Inneren des Metallkörpers verebbte. Die Nadeln der Tachometer, die einmal den Druck in Bar, die Temperatur in Celsius und einige weitere Messeinheiten, die Shiro jedoch nicht zu deuten wusste, angaben, pendelten in den normalen Bereich zurück. „Puh, da hab ich ja mal wieder den Tag gerettet.“ Er klopfte sich auf die Schulter, „Gut gemacht, Shiro. Ein guter Mann, ein toller Mann“, und gickelte wie ein Kind, das mitleidig über den schlechten Witz eines Erwachsenen zu lachen versuchte. Dann, als er mit dem sarkastischen Eigenlob fertig war und sich seine Gesichtszüge verhärteten, hob er die rechte Hand, zu einem stummen Befehl ausrufend. Über dem von Staub bedeckte Boden fegte ein lauer Windzug. Sanfte Böen strömten aus allen Richtungen herbei. Jeder kleine Luftzug sammelte sich in zirkulierenden Bewegungen um ihn, als würde sich eine kleine Windhose auftun. Sein Zopf schlug wie eine Peitsche von einer Richtung in die andere aus. Und am Ende, als sich die Ströme wieder in alle Richtungen aufteilten, grellte ein so unsagbar luminöses Licht in dem Fabrikgebäude auf, dass es sogar noch den hellen Tag noch in seiner Helligkeit übertraf. Ein weißer Schleier kämpfte sich durch die Dachfenster, hinauf in den Himmel und verglimmte nach zwei langen Sekunden wieder. Shiro hatte sich mit einem Arm die Augen verdeckt; er spuckte leise Flüche über dieses garstige Licht aus, dann nahm er ihn wieder runter und betrachtete sich sein Werk. Vor seinen Augen schwebte ein magischer, von Runen umschlossener Zirkel. „Das Tor ins Reich der Hexe.“ Eine lange Pause folgte diesem Satz, in der er nur auf dieses magische Siegel, das den Scheideweg zwischen der Menschenwelt und der Welt der Hexe widerspiegelte, einfach nur anstarrte. Langsam, von einem schieren Unglauben beträufelt, senkte sich sein Arm. Er hielt ihn auf halbe Strecke in der Luft und lenkte seinen Blick auf die halboffene Hand. „Das ist ja krass …“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)