Contiguity Magica von WrightGerman (A Crow and her Heaven) ================================================================================ Kapitel 4: ... da trafen sich ein Hexer und eine Hexe ----------------------------------------------------- Contiguity Magica Kapitel 04: … da trafen sich ein Hexer und eine Hexe   Die erste von acht Erinnerungen, auf die Sayaka, bezogen auf dieses prächtige Domizil, das mit seiner verglasten Außenwand der Mittagssonne hingeneigt war, zugriff, lag beinahe nunmehr sechs Jahre zurück. Weil dieses Mädchen aus gewöhnlichen Verhältnissen stammte, war sie ein solches Aufgebot an großen Zimmer und weiten Fluren allerhöchstens von Hotels gewohnt. Und Hotels, in den Augen eines Kindes, waren nicht viel mehr, als die wirre Ansammlung an verschachtelten Gängen, die in ihrer monotonen Farbgebung des Kindes Verstandes so massiv beeinträchtigten, dass es, wenn es nichts mit den Zahlen an der Tür anzufangen wusste, schnell zu einer Irritation mit Folgepanik neigte. Und genau das war Sayaka in dem Anwesen der Shizukis passiert, als sie mit ihren zarten acht Jahren durch den mächtigen Gebäudekomplex, auf der Suche nach Hitomis Zimmer, herumirrte. Hitomi, ihrerseits, war zu dieser Zeit der Grippe erlegen und Sayaka von der Lehrerin darum gebeten worden, ihr die Hausaufgaben vorbeizubringen. Das Verhältnis der beiden war noch nicht mit dem Bande der Freundschaft versehen. Mehr waren sie ein Gesicht unter vielen, das man jeden Morgen sah und manchmal sogar grüßte. Sie hatten nie gemeinsam zu Mittag gegessen und waren auch nie den Weg zur Schule und zurück, gleichwohl das sie ihn ab der ungefähren Mitte teilten, gelaufen. Zu diesem Zeitpunkt gab es für Sayaka nur Madoka und Kysouke, mit dem sie sogar schon im Sandkasten Eimer und Schaufel geteilt hatte. Es waren die einzigen beiden, die Sayaka das Glück hatte, tatsächlich Freunde nennen zu dürfen. Hitomi schien sich dahingehend eher schwer mit den Geschwüren zu tun, die sie wie Parasiten umkreisten und eigentlich mehr an ihrem Lebensstandart und ihrem Spielzeug, denn an Hitomi selbst interessiert waren. Die meisten waren wie Planeten, die sich von der Masse des Geldes haben anziehen und von dem gutmütigen Schein Hitomis haben erwärmen lassen. Hitomi aber, war schon damals ein kluges Mädchen und wusste bereits sehr gut um die Falschheit derer Bescheid, die sich um sie wuselten. Nur aus Höflichkeit schenkte sie den Kleinen, die schon in diesem Alter so von Falschheit übergossen waren, ein stetes Lächeln, wie man es ihr von Haus aus beibrachte. Mochte man es nun eine gnädige Fügung des Schicksals oder den Plan eines Gottes zur Verantwortung ziehen, was nach der Schule passierte. Sicher war, dass der Grundstein für diese langjährige Freundschaft zu Hitomi, an eben jener Tür der Shizuki-Residenz begann. Sayaka war von einem bejahrten Butler in Empfang genommen und ins Foyer geleitet worden. „Es ist schön“, sagte der Alte mit einer Stimme, die so gebrechlich schien, dass nur sie mit dem Knistern von Waldlaub zu vergleichen war, „dass jemand das junge Fräulein besucht. Sind Sie eine Freundin von ihr, junge Dame?“ Sayaka wollte gerade antworten, da unterbrach sie ein plötzlicher schriller Ton, der von einem Telefon ausging, das einsam auf einer zweibeinigen Konsole stand. Sayaka erinnerte sich noch daran, wie sie über das schrill klingende Gebilde beinahe lachend das Gesicht verzog. Der Hörer war so entsetzlich krumm und gebogen und statt mit einem Tastenfeld, einer Drehscheibe ausgestattet. Da mochten auch die goldenen Enden des Hörers für Sayaka nicht den Anschein eines eleganten und modernen Telefons waren. „Verzeih, kleine Lady, doch ich muss diesen Anruf leider entgegen nehmen. Meinst du, du könntest hier ein paar Minuten warten, bis ich wieder da bin?“ Sayaka nickte brav, woraufhin sie der alte Mann belohnend tätschelte. Dann wandte er sich um und ging dem Telefon entgegen. Worum es in dem Telefonat ging, das hatte Sayaka längst wieder vergessen. Was sie nicht vergessen hatte war, wie sehr sie die Warterei skalpierte, die aus heutiger Sicht vielleicht zwei Minuten betrug, doch aus der damaligen Sicht eines Kindes, eine unvorstellbare Ewigkeit anhielt. Gewillt, sich nicht durch die Schuld eines endlos langen Telefonats ins Rentenalter befördern zu lassen, brach sie also ihr Versprechen und begab sich selbst auf die Suche nach Hitomis Zimmert. Der alte Mann, der mit dem Gesicht zur Wand stand und sich mit Block und Stift Notizen zu machen begann, bemerkte unterdessen Sayakas verschwinden nicht. Das junge Mädchen folgte der Treppe – dass den halben Foyer besetzte – bis in den ersten Stock, von wo aus sich der Weg teilte. Auf gut Glück nahm sie den rechten, öffnete Tür, nachdem sie dreimal geklopft hatte und fand nichts weiter als menschenleere Zimmer vor, die dafür mit allerhand Krimskrams und Wertgegenständen angereichert waren. Der Begriff „Themenzimmer“ hätte hier wohl seine treffliche Richtigkeit gehabt; doch wie will ein so junges Kind ein solches Wort und seine Bedeutung verstehen? Und wie will es daraus schlussfolgern, dass sie nun nicht in den Wohnflügel eingebogen war, sondern sich dort befand, wo die meisten Veranstaltungen und Privatunterrichte für Hitomi stattfanden? Drum suchte sie in ihrer Unsicherheit immer weiter, stieß jede neue Tür auf, bog in jeden neuen Flur ein und stellte sich irgendwann, als sie zurückschaute und sich von drei Seiten mit langen Gängen und vielen Türen umschlossen sah, voll Unsicherheit die Frage: „Wo bin ich?“ Der restliche Teil der Erinnerung war ihr noch am besten erhalten geblieben. Sayaka hatte vor Panik eine Zimmertür nach der anderen aufgestoßen und das so laut und kraftvoll, dass es durch die Flure hallte. Letzten Endes konnte sie sich ihrer Tränen nicht länger erwehren, sah sich als Gefangene eines Labyrinths, aus dem es kein entkommen mehr gab und streifte, jammernd und schluchzend und die zwei Zeigefinger ständig vor Augen haltend, durch den menschenleeren Korridor. Ihr Gejammer blieb nicht ungehört. Nur einen Moment später geschah es, dass sich die Tür, an der sie gerade vorbei geschritten, geöffnet hatte. „Miki-san?“, hörte Sayaka die, von Kränklichkeit gedämpfte Stimme eines jungen Mädchens hinter sich. Sofort wandte sie sich um und erblickte mit großen feuchten Augen … „Shizuki-san?!“ Ab hier brach die Erinnerung plötzlich ab, als Sayaka von einem tückischen Geräusch wieder in die Realität zurückgestoßen wurde. Die wach gewordene Aufmerksamkeit war nun Hitomi gegolten, die sich am anderen Ende des Tisches, auf welchem sich ihre Schulhefte und Farbstifte verteilt hatten, schielend eine Hand vor dem Mund hielt, dem konstant leise Laute entwichen. „Warum lachst du denn?“, fragte Sayaka. Hitomi ihrerseits, hielt sich weiterhin kichernd die Hand vorm Munde. „Ach, nichts weiter. Es ist nur …“ „Ja?“ „Du hast wieder über etwas nachgedacht, oder?“ Sayaka krauste die Stirn vor Verwunderung. „J-Ja, habe ich. Woher weißt du das?“ Hierauf hielt sich Hitomi so feste den Bauch, das man hätte meinen können, sie würde versuchen damit gegen üble Magenbeschwerden vorzubeugen, wäre ihr Gesicht nicht so von freudigen Reizen durchzogen gewesen. Sie krümmte und schüttelte sich und es war klar, dass sie mit aller Macht gegen den Drang, laut hallend loszulachen, ankämmpfte. „Du hast dir gerade mit einem Stift ein Muttermal auf die Unterlippe gemalt.“ „Hä?“ Sayakas Augen wurden groß und weiß. Alle Farben waren mit einem Male verblichen, zurück blieb ein grauweißes Gebilde, dass mit starr gewordener Miene, verdutzt zu ihrer Freundin stierte. Hitomi zog einen Spiegel unter dem Tisch hervor und hielt ihn Sayaka, wie von hämischer Schadenfreude getrieben, vors Gesicht. „Hier.“ Sayaka schaute in den Spiegel … und fuhr laut schreiend hoch. „Ah! Wieso hab ich das denn gemacht? Wieso sagst du nichts?!“ Man hörte ihre, von Frust und Schock geschwängerten Schreie noch durch die dicken Mauern des Hauses hinweg. Sie eilte aus dem Zimmer, suchte in dem riesigen Anwesen ein Zimmer auf, welches frisches Wasser zum saubermachen bot und ließ die Freundin, die voll Wonne zu Lachen begann, zurück. Einen Moment später kehrte Sayaka wieder. Das Bad, welches sie nach zahllosen Türen aufstoßen aufgefunden hatte, lag ironischerweise nur zwei Zimmer weiter von Hitomis entfernt. Die Unglückselige hatte leider nur die falsche Richtung eingeschlagen und war daher fast einmal um den ersten Stock herum geirrt – ja, sie hätte sich beinahe zum zweiten Male in diesem Hause verlaufen. Für Hitomi war dies kein unwillkommenes Übel, da sie so die Zeit hatte, den Tisch abzuräumen und frischen Tee aufsetzen zu lassen. Dieser wurde ihr, zusammen mit zwei prächtigen Porzellantassen, deren glatte Außenseite mit schwungvoll vergoldeten Reliefen verziert waren, in einer kleinen Teekanne und von einem silbernen Tablett getragen, serviert. Sayaka ließ sich gefrustet wieder auf ihrem Sitzkissen nieder, nahm die ihr angebotene Tasse entgegen und ließ sich von Hitomi, wie ein alter Mann von seiner liebenden Frau, einschenken. Nach nur einem Anlauf, ein fröhliches Gesprächsthema anzuschlagen, war die Stimmung im Raume wieder von Heiterkeit erfüllt. Der kleine Tisch, welcher auf einem grünen Teppichboden stand, der wiederum die spiegelglatten Fließen bis zu einem bestimmten Bereich unter sich verdeckte, maß eine ovale Länge von gut zwei Metern und eine Breite von zwei Armlängen. Drei der vier Wände, die cremefarben gestrichen waren, schnitten den ohnehin schon großen Raum, von der noch viel größeren Residenz ab, in der sie sich aufhielten. Die vierte Wand war, im typischen Mitakihara-Häuserstil, aus dicken Glas, welches eine hervorragende Sicht auf die verregnete Stadt bot. Unweit dieses Fensters – gute zehn bis fünfzehn Schritte vielleicht – stand ein riesiges Himmelbett, groß genug für drei Personen dort drin zu liegen, das von verschiedenen violetten Tönen bezogen und von weißen Seidenvorhängen verhüllt war. Darüber thronte ein Baldachin, dessen textiles Material wie eine Pyramide nach obenhin zusammenlief. Die Wand daneben, die gleichzeitig auch die Eingangstür hielt, verdeckte ein riesiger, aus weißen Holz gefertigter Kleiderschrank. Die letzte Wand – also die, die der Bettwand gegenüber lag – war von vielen Bildern verhangen. Festgehaltene Erinnerungen, auf denen vor allen Dingen Familienausflüge, aber auch Schulveranstaltungen zu sehen waren. Merklich war, das Hitomi nie alleine auf diesen Bildern, manchmal sogar gar nicht darauf zu sehen war. Die, auf denen sie mit drauf war, zeigten immer ein freudenstrahlendes Pärchen, das sich lieb in den Armen lag. Die, auf denen sie fehlte, stammten entweder aus einer Zeit, in der sie entweder noch gar nicht das Licht der Welt erblickt hatte oder selbst hinter der Kamera stand. Als Beispiel sei hier einmal das glückliche Elternpaar aufgeführt, welches Arm in Arm die Stufen der Kathedrale hinabstieg, kurz nachdem es sich das „Ja“-Wort gegeben hatte und einmal ihre Kindheitsfreundinnen Madoka Kaname und Sayaka Miki, die vor einem herbstlichen Hintergrund standen und, jede auf ihre eigene Art, posierten – Sayaka mit einem, für sie typischen, frechen Grinsen und Madoka eher schüchtern lächelnd. Hitomi stellte die Tasse mit Behutsamkeit, der die Tischmanieren des reichen Standes vorangingen – denn man vermied unnötig laute Geräusche durch Porzellan oder dem Geschirr im Allgemeinen – und wagte einen schnellen Blick zu der stetig tickende Stehuhr, die auf ihrem Nachttisch stand. Es war ein kleines, klobiges Konstrukt aus Holz, dass mit einem mattgoldenen Schwingpendel hinter einer dünnen Glasscheibe und einem Satteldach ausgestattet war, an dessen Giebel sich das Ziffernblatt befand. Es war gerade fünf nach Zwölf geworden. Es kam ihr vor, als wären erst wenige Minuten vergangen; doch tatsächlich, es waren vier Stunden nun. Von draußen grollte der Himmel wie Geröll, das einen steinigen Abhang hinunter stürzte und gegen die hervorstehenden Kanten stieß. „Das Wetter wird echt immer schlimmer“, seufzte Sayaka. „So schlimm hätte ich es mir nicht vorgestellt.“ „Haben sie nicht gestern Abend noch im Fernsehen das Unwetter angekündigt?“, sagte Hitomi, mit schräg gelegtem Kopf. „Ich schau doch keine Nachrichten, ich hab andere Sachen zu tun“, versuchte Sayaka ihr Unwissen zu verteidigen, was ihrer Freundin nur ein müdes Lächeln abgewann. „Zum Beispiel?“ Schweigen. Peinliches Schweigen. Hitomi wandte den Blick, da sie ja mit dem Rücken zum Fenster saß, über ihre Schulter und betrachtete den Schauer, der sich aus der grauen Wolkendecke ergoss, mit missmutiger Miene. „Ich hoffe es legt sich bald. Laut dem Wetterbericht soll es ja um vierzehn Uhr aufhören.“ „Ja, das hoffe ich auch“, sagte Sayaka. „Es reicht schon, dass ich pitschnass hier angekommen bin und mir deine Klamotten leihen musste. Nicht, dass ich nicht dankbar dafür bin“, fügte sie hastig hinzu, als Hitomi ihr das Gesicht zudrehte, „ich meine nur, das die Umstände etwas schöner sein könnten. Immerhin wollte ich dich nur über Madokas Unfall informieren.“ „Wofür ich dir auch sehr dankbar bin, Sayaka-chan“, erwiderte Hitomi lächelnd. „Aber ein normaler Anruf hätte es auch getan.“ „Hast ja recht“, räumte Sayaka ein und kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Aber ich habe auch nicht mit so einem scheußlichen Wetter gerechnet. Es hat ja am Abend nur ein bisschen genieselt und ich dachte, das bleibt so. Ach, ist ja auch egal, solange es sich um vierzehn Uhr wieder beruhigt und ich Madoka noch besuchen kann, ist es nur halb so wild.“ „Du meinst: wir sie noch besuchen können.“ „Du kommst auch mit?“ „Natürlich. Madoka-san ist auch meine Freundin.“ Hitomis verärgerter Ton, als hätte sie die Frage wie ein Stich durchs Herz getroffen, ließ Sayaka, trotz der sicheren Distanz, die der Tisch ihr bot, zurückweichen. „J-Ja“, sagte sie eingeschüchtert, „da hast du natürlich recht.“ „Entschuldige, ich wollte nicht laut werden.“ „Nein nein, schon in Ordnung. Ich hatte nur gedacht, da du sowieso so wenig Zeit zum lernen hast, würdest du den Tag lieber damit verbringen.“ „Madokas Gesundheit ist viel wichtiger. Und ich denke, es wird sie bestimmt auch freuen, wenn ich mitkomme.“ Sayaka nickte. Sie stützte ihren Kopf mit ihrer Hand und hatte das Gesicht den vielen Bildern an der Wand zugedreht. Diese vielen eingefrorenen Erinnerungen, denen eigentlich jedes Leben fehlte und so viel zu erzählen hatten. Es war schon seltsam, wie viel sich aus nur einem einzigen Bild ablesen ließ, wenn man sich nur den Menschen darauf betrachtete. Ein strahlendes Lächeln auf dem Gesicht eines kleinen Mädchens, das Stolz das erste selbstgezeichnete Bild vor die Linse hielt. Die innige Umarmung eines sich liebenden Paares, das in freudiger Erwartung auf den Nachwuchs, sich hinter der schneeweißen Kinderkrippe positioniert hatte, damit diese nicht im Hintergrund des Entzückens geriet. Der sanfte Kuss einer Mutter, auf die Wange ihres Kindes, welches sie wiederum neckisch von sich wegzustoßen versuchte. Jedes Bild vermochte zu vermitteln, was selbst tausend Worte nicht hätten ausdrücken können. Doch obwohl diese Wand der Erinnerungen von einem solch positiven Gepräge war, vermochte es Sayaka niemals den Blick mit einem Lächeln abzuwenden. Denn ein Foto – ein Fenster –, das ihr den Einblick in das Leben von Hitomi Shizuki gab, war von einer solchen Schwermut belastet, dass es Sayaka leicht zitternd und nachdenklich zugleich machte. Es erzählte, warum Hitomi der fürsorgliche Mensch geworden war, der sie bis zu diesem Tage geblieben, da Sayaka ein erneutes Mal dieses Bild betrachtete. Warum Hitomi einmal eine Klavierstunde hat ausfallen lassen und sich dafür eine laute Schelte von ihren Eltern einfing, nur um Sayaka zu zuhause zu besuchen, die mit einer Lungenentzündung das Bett zu hüten gezwungen war. Warum Hitomi einer Freundin ein Blumengesteck als Beileidsgabe zum Tode der verstorbenen Großmutter hat zukommen lassen, das von ihrem eigenen Taschengeld finanziert und mit ihrer Fingerfertigkeit ein wenig verschönert wurde. Warum Hitomi Madoka – und jeden anderen Menschen, den sie liebte – ihren schulischen Verpflichtungen immer vorziehen würde. Denn Hitomi lebte, um zu lieben und liebte, um zu leben. Hitomi, dachte Sayaka, das Gesicht wie von Melancholie übergossen, je länger sie das Bild anstarrte und zeitgleich über ihre Freundin sinnierte. Auf dem Bild war eine cremefarbene Wand, vor der eine schneeweiße Kinderwiege stand. Und vor dieser Wiege hockte Hitomi, damals, so schätzte Sayaka, gute sieben Jahre alt. Sie war von unsagbarer Heiterkeit beseelt – unsagbar deswegen, weil man dieses Foto mit eigenen Augen erblicken müsste, um den Grad der Glückseligkeit mit einer Beurteilung bemessen zu können. Ihre Wangen waren wie frisch gereifte Erdbeeren knallrot angelaufen und die Augen von den Freudentränen in einen solchen Glanz versetzt, dass sich in ihnen das Licht, welches entweder von der Sonne oder einem Kronleuchter herrührte, brach. Den unteren Teil ihres Gesichtes nahm ein so breites und von Herzlichkeit umwobenes Lächeln ein, das auf eine Art gezwungen durch die Tränen, aber auch glücklich durch den Anlass wirkte. Es schnürte Sayaka immer wieder aufs neue die Kehle zu, wann immer sie auf dieses Foto stierte; auf das junge Mädchen mit diesem süßen Makel einer kleinen Zahnlücke, die über die Jahre durch die Anwendung einer Zahnspange ausgeblasst wurde und in deren dünnen Armen der kleine schlafende Körper eines frischgeborenen Säuglings lag, der in einer weißen Wolldecke umwickelt, sein Schläfchen hielt.   Zur gleichen Zeit: In einer schmalen Seitengasse   Der vom Grau verhangene Himmel legte sich düster über eine kleine, von Hochhäusern umzäunte Seitengasse. Seit der frühen Morgenstunden, als er in die schmale Nebenstraße eingebogen war, quälte und plagte ihn das schlimme Empfinden des in den Eingeweiden heranwachsenden Geschwürs. Er hielt sich krampfhaft die Hand vor die Brust, fauchte, keuchte, stöhnte und schlenkerte dabei tiefer in den gemeinsamen Schlund der zwei endlos langgezogenen Bauten. Die Kraft zu Gehen verlor sich mit jedem Schritt. Und als er nicht mehr konnte, ersuchte er sich einen sicheren Halt, in dem er mit der flachen Hand gegen eine der ihn umgebenden Wände lehnte. Doch mit dem Wasserguss, dass eine zweite Oberfläche auf der ohnehin schon glatten Fassade der Mauer bildete, war dem Armen ein fester Stand verwehrt. Er rutschte ab, stieß mit der Schläfe voran gegen die Betonwand und schlitterte zu Boden. „Verflucht …! Scheiße, es tut so weh!“, zischte er. Er versuchte wieder hochzukommen, scheiterte aber mit mitleiderregender Kläglichkeit. Nur ein, zwei Lidschläge waren getan – kaum die Zeit, um sich Gedanken über die momentane Situation zu machen –, da taten es auch schon die Arme den Beinen gleich. Sie knickten wie dünne Metallstreben ein, die unter dem konstanten Druck einer viel zu hohen Belastung litten. Das einzige, was ihm noch an Kraft geblieben war, war die in den Lungen, die einen gellend lauten Schrei ermöglichten. Wie schleimiges Gewürm, das sich durch den matschigen Untergrund wühlte, wand und krümmte er sich. Seine Haut wurde leichenblass, sein Atem war zu einem Röcheln verkommen und der Regen prasselte zu allem Überfluss weiter und unnachgiebig auf ihn herab. Unter Krämpfen zitterte sein Leib und das Gefühl, das er in jenem Moment empfand, war nur mit den letzten Momenten eines Todgeweihten zu vergleichen. „Komm endlich raus …!“, krächzte er mit verschnürter Kehle. Dann schrie er erneut auf. Noch lauter als zuvor, wenn es denn überhaupt noch ginge. Ein so von schrecklicher Agonie geplagter Schrei, dass er bis zur Straße hindurch preschte und sogar bis über Dächer der Häuser hinweg hallte. Ob Anwohner oder vorbeikommende Passanten – wer bei diesem heftigen Gekreische nicht hinhörte, nicht zumindest einen Blick zu erhaschen versuchte, welche ach so gottverlassene Seele sich da so qualvoll plagte, der war entweder von dem Schrecken vereinnahmt, welche unmenschliche Kreatur da in der finsteren Gasse lauern könnte oder hatte mit ganz eigenen Sorgen zu kämpfen, als das er sich um das Leid eines anderen Gedanken machen konnte; denn zu überhören war dieser beklagenswerte und schrille Laut nicht. Doch diese verwunschene Haltung fehlender sozialer und aufopferungsbereiter Gesinnungen hätte er gerade jetzt am wenigstens vermisst. Es war gut, das niemand sah, was hier vor sich ging. Weswegen sonst, hätte er sich auch eine enge und dunkle Gasse ausgesucht, wenn nicht, um einer möglichen Hilfe die größten Schwierigkeiten zu bereiten; allen voran der menschlichen Vorstellungskraft, die aus seinem gellenden Schmerzensschrei, den eines blutrünstigen und im tiefsten Schatten verbogenen Ungetümes machte. Sein Körper pulsierte. Die eine Hand langte noch immer zur Brust, die andere war unterdessen zu einer Faust verkrampft, mit der er kontinuierlich auf den asphaltierten Boden einschlug. Sein Gekreische verebbte ganz abrupt inmitten seiner Windungen. Wie von Stromstößen aus dem Schlaf gerissen, wälzte er sich im Wasser. In solch unbeschreiblichem Schmerz gebettet, lag er auf dem Rücken. Alle Bewegungen erstarben, einzig und allein das Zittern blieb seinem geschundenen Leib. Es kommt! Die Augen waren verdreht, beinahe ganz hinter dem Horizont der weit aufgerissenen Lider verschwunden. Seine Fingernägel kratzten über den asphaltierten Boden. Aus seinen Mund, der so weit geöffnet war, dass er den Rachen entblößte, schnellten urplötzlich schwarze Blitze einen halben Meter in die Höhe. Um sie herum lag eine dünne vielfarbige Korona, wie von einem Regenbogen ummantelt, doch in viel düsteren und Unbehagen verbreitenden Tönen. Erst schien es, als würden sie im Nichts verschwinden, aber nur einen Moment später – detailverliebt gesprochen: nach dem achten oder neunten Funken – formten sie ein kleines, dunkles und unförmiges Gebilde, das nur mit einer wabelnden anorganischen Masse hätte verglichen werden können. Und aus dieser Masse fertigte sich, je mehr Blitze in dieses Gebilde hineinschossen, eine Art dunkle Perle, an deren oberen Ende eine kurze und unteren Ende eine lange, silbrige Nadel hervorlugten. Noch ein paar Blitze zuckten empor, dann endete es so plötzlich, wie es begonnen hatte. Sie wurden nicht schwächer, blasser oder seltener; es war einfach ein letzter Funkenstoß, der all das beendete, was gerade passiert war. Nun lag er da, in einer großen Wasserlache badend und von Pein übersättigt. Die Kehle rau und Trocken geschrien, das Herz rasend flatternd wie ein Vogel, der durch seine Brust zu brechen versuchte. Dann ließ die unsichtbare Hand, die das geschaffene Ding noch einige Sekunden in der Luft hielt, es, unweit von seinem Gesicht, auf den Boden aufschlagen. Dann … Stille. Ob nun das stetige Prasseln der am Boden zerschellenden Wassertropfen, die lärmenden Motorengeräusche eines vorbeirasenden Autos, selbst das ein oder andere menschliche Wesen, dass sich mit einer dicken Jacke und einem Regenschirm gewappnet, alleine oder zu zweit hinaus in das miese Wetter traute. Er nahm nichts mehr wahr. Und er hätte diese Gelegenheit auch wahrscheinlich dazu genutzt, einfach die Augen zu schließen und sich nach diesen quälenden Minuten, von denen ihm jede Sekunde wie eine halbe Ewigkeit im Gedächtnis geblieben war, ordentlich auszuruhen. Doch das Pflichtbewusstsein, oh diese verdammte Pflicht an der Menschheit – und noch eher an sich selber – zwang ihn wach zu bleiben. Nicht, das der Schlaf für ihn noch irgendeine Bedeutung hätte, wie zu vorangegangenen Tagen. Es wäre lediglich ein schönes Gefühl gewesen, alles in der Umgebung befindliche, von seinen fünf Sinnen auszugrenzen. Doch, erneut, die Pflicht rief seinen Namen und er folgte, gleich der Hund dem Ruf seines Herrchens, seines Besitzers, seines von ihm anerkannten Herrn und Gebieters. Er kämpfte tapfer gegen die steifen Glieder an, „Ja, ja … so geht es“, und richtete sich so langsam und mitleiderregend, wie ein gebrechlicher und in die Jahre gekommener Mann, auf die Beine. Es dauerte seine Zeit, doch er schaffte es. Für zwei Sekunden zumindest. Die zittrigen Glieder beraubten ihn des sicheren Standes und er fiel rücklings gegen die Häuserwand und schlitterte von dieser zu Boden. „Aua.“ Er schniefte ganz erbärmlich. Seine Hand glitt über seinen Hinterkopf und fuhr durch die kohlschwarzen und vom Regenwasser durchfeuchteten Haare. Von den unteren Augenlidern rannen dünne Bäche seine Wangen hinunter. Welchen Ursprung sie hatten – also ob sie nun dem Regen zuzuschreiben oder seinen eigenen Tränengüssen herstammten – konnte wohl getrost der Fantasie der unsichtbaren Beobachter überlassen werden. Entscheidender war dahingegen die Frage: Welcher Tropfen war zuerst vergossen? Er zog die Hand wieder zurück und lenkte die Aufmerksamkeit der kleinen Perle, jenem verwunschene Ding, dem er gerade das Leben geschenkt hatte, zu und betrachtete es mit einem Ausdruck unendlicher Abscheu. „Scheiß Hexenei!“ Er lehnte sich ein Stück weit nach vorne und streckte seinen Arm dem Ei entgegen. Beim ergreifen brach ihm ein dicker Faden aus Rotz und Wasser ab, der aus seinem rechten Nasenloch pendelte. Der Schleim verendete auf seiner olivgrünen Hose, genau auf Höhe seines Schrittes. Er fluchte, als er das bemerkte, hob das Hexenei auf und beäugte es mit einem noch viel finstereren Blick, als wäre es dafür zur Verantwortung zu ziehen. Zugegebenermaßen, die Hose war vom Unwetter durchtränkt und dadurch in einen viel dunkleren Grünton gehalten, der den Fleck nicht erkennen ließ. Doch er wusste, sobald sie wieder trocknete und ihre alte Farbe zurückerhielt, so würde ein dicker, weißlicher Fleck klar und zwischen seinen Beinen zu erkennen sein. Und das frustrierte ihn. „Scheiß Hexenei!“, wiederholte er mit zischelnder Zunge. Er hob es auf Augenhöhe hoch, um es zu betrachten. Sofort veränderte sich etwas in seinen Augen. Seine Abneigung gegenüber diesem Ding schien so plötzlich verschwunden, wie ein Herbstblatt, das von einer Windhose davongetragen wurde. Aber sein Hass war nicht verschwunden. Er war nur … nicht mehr so gebündelt. Was hatte ihn jetzt milder werden lassen? Die Lösung fand sich auf der matten Oberfläche des Eis, auf der eine Gravur aus sich überlagernden Kreisen gemalt war, die wie eine Kette ineinandergriffen. Ein Brandmal, wie er es nannte. Eine Kennzeichnung, die für eine Hexe so wichtig, wie für den Menschen die eigene Identität war. Und eben jenes Stück Identität, das auf dieser Perle abgedruckt war, war ihm die bekannteste und geläufigste. „Scheiß Hexenei“, sagte er abermals, doch dieses Mal bemühte er sich um ein wenig Schwermut in seiner Stimme. Auch, wenn er sich letzten Endes damit selbst belog, denn wirkliche Trauer fühlte er ebenso wenig, wie die Freude an dem qualvollen Geburtsritus jener Hexen. „Was glaube ich dir, dass du jetzt gerne schlüpfen würdest. Armes Ding. Ich habe ihn gefühlt, deinen Schmerz, die Verzweiflung, der geballte Hass auf das Leben und die Menschen. Aber auch die Trauer, mit der du letzten Endes einen Fluch auf diese Welt losgelassen hast. Armes Ding. Ich kann nicht sagen, wie ich dich hasse und doch bemitleide. Und gäbe es einen anderen Weg, würde ich ihn nehmen. Aber leider …“ Er konnte nicht an sich halten bitterlich zu lächeln. Er lächelte so oft, zu so unvorstellbaren Situationen und mit so vielen unterschwelligen Bedeutungen. Es konnte Fröhlichkeit oder Angst bedeuten, von Einfältigkeit oder unterschätztem Wissen zeugen. Es war, man konnte es wirklich kaum anders formulieren, eine Art zweite Muttersprache für ihn geworden. Er hatte sich darauf zu verstehen gelernt, die von Zynismus geprägte Mimik, der gemeinen Zunge vorzuziehen, getreu nach dem Motto: Des einen zwei Augen, ersparen dem anderen tausend Worte. Er seufzte. Die blanken Wassertropfen perlten von seinem blassen Gesicht. „Nimm es mir nicht übel, ja? Aber wir sollten das hier rasch hinter uns bringen.“ Wie der weiche Schlangenkörper, der, trotz das er nur von einem langen Wirbel gehalten wurde, dennoch dazu befähigt war, eine enorme Kraft aufzubringen um seine Beute zu würgen – ja ihr gar die Knochen zu brechen – so legten sich auch seine Finger um das mattschwarze Ei und ließen es in seiner Handfläche verschwinden. Es war nicht viel an Kraftaufwand nötig und doch war es, als hätte er bereits die halbe Arbeit seines geplanten Tuns schon verrichtet. Dies mochte nicht verwundern, denn im Anfangsstadium besaßen Hexeneier in etwa die Stabilität einer Christbaumkugel, die ja von ihrer Beschaffenheit so dünn gehalten ist, um möglichst wenig Gewicht auf das Tannengeäst zu wirken. Es war ihm also selbst in seinem momentanen Zustand möglich, dieses kleine Ding einfach zu einem Scherbenhaufen zerdrücken. Und gerade als er gewillt war, genau dies zu tun, warf sich eine düstere und vom fahlen Lichte langgezogene Silhouette über ihn, die ihm raschen Einhalt gebot. Der Schatten rückte mit leisen doch flinken Schritten näher und vermengte sich mit der angrenzenden Dunkelheit der Gasse. Er, der er in seinem Bewegungen erstarb, sah erschrocken auf und zum Ursprung dieses düsteren, auf den Boden gezeichneten Gebildes. „Du weißt, es ist nicht gut, wenn du die Hexeneier ständig zerstörst.“ Für einen kurzen Augenblick schien es ihm, als würde sein Herz von einer unsichtbaren Hand gewaltsam zerdrückt. Wenn seine Hautfarbe schon vorher kränklich bleich erschien, und das tat sie ohne Frage, so hatte sich um seine Nase nun eine Totenblässe gebildet. Erst, als er die wohlbekannte Stimme vernahm, die zweifelsohne dem auf ihn zuschreitenden Schatten gehörte, beruhigte er sich und stieß mit einer ungleichen Mischung aus Ärger und Erleichterung, ein kehliges und langes Stöhnen heraus. „Kyubey“, sagte er. „Du Penner hast mich gerade zu Tode erschrocken. Dachte schon, mich käme jetzt der verdammte, leibhaftige Tod holen.“ Kyubey. Es war jenes schneeweiße Katzenwesen, dass von Homura gemeinhin auch als Inkubator bezeichnet wurde. Seinen tapsigen Schritten folgte ein kaum wahrnehmbarer Laut. „Deine Magie ist nicht mehr so frisch, wie zu früheren Tagen“, sprach das geschlechtslose Vieh mit analytischer Nüchternheit und in seiner hohen, fiepsigen Stimmlage. „Dieses Ei zu zerstören, nachdem es zwei Wochen in dir gebrütet hat, wäre äußerst unklug, wo sich doch schon bereits das nächste nach dir verzerrt.“ „Du weißt ja verdammt gut über meine Brutzeiten Bescheid, sag mal“, erwiderte der Angeschlagene steif lachend. Mit diesem Lachen kaschierte er das, was der Volksmund allgemein als Furchtsamkeit, er aber als übertünchten Fahrlässigkeit bezeichnen würde. Das Wesen namens Kyubey, jene von Homura in tiefem Sud aus Verachtung badende außerirdische Lebensform, verstand sich nämlich erstaunlich gut darin, fehlende körperliche Kraft gegen eine beinahe fehlerlose Gelehrsamkeit aufzuwiegen. Das bedeutete, dass Kyubey all das wusste, was die gesamte Menschheit bereits wusste – und mehr. Der junge Mann war daher nicht vorsichtig, aber wachsam. Denn nahezu unbegrenztes Wissen, in Kombination mit einer eloquenten Zunge – und Kyubey verfügte wahrlich über beides – schnitten schärfer, als das schärfste Schwert und trafen härter, als der Faustschlag den Solarplexus. Aber er war auch entspannt. Kyubey legte nicht viel, eigentlich sogar überhaupt nichts, auf Konfrontationen, seien sie physisch oder mental. Er war ein kleiner, perfider, berechnender Pläneschmieder, der sich nur so kooperativ zeigte, wie es ihm die absolute Neutralität erlaubte. Er war aber auch ehrlich und fair, zumindest hatte es der junge Mann schon immer so empfunden. Andere, so dachte er, so wusste er, gab es, die würden sich eher zum Gegenteiligen aussprechen. Eine kurze Weile schuf sich ein Raum aus Stillschweigen zwischen den beiden. Der junge Mann griff in die Innenseite seiner Jackentasche und zückte eine rötliche handgroße Schachtel hervor. Diese schüttelte er zwei, dreimal, bis ein weißer, mit Tabak gefütterter Stängel aus der, am oberen Eck befindlichen Öffnung, emporstieg. Mit dem Daumen hielt er ihn fest, damit er nicht zurück ins pappige Innere rutschte und zog ihn mit dem Lippenpaar heraus. Aus einer anderen Tasche holte er ein kleines, von Kanten und Rundungen gleichermaßen geprägtes Stück Plastik hervor, das sich bei genauerem Hinsehen als ein Feuerzeug herausstellte. Er drehte an dem metallischen Rädchen und aus der kreisrunden Öffnung stieg eine kleine Flamme empor, mit welcher er die Zigarette anzündete. Ein dünner Rauchfaden zog vom angezündeten Ende aus gen Himmel. Er inhalierte, blies den beißenden und den Hals kratzenden Rauch aus den Nasenlöchern und machte ein Gesicht, wie man es von Menschen her kannte, die sich nach einem arbeitsreichen Tag, endlich ins heimische Wohl zurückgekehrt waren. Kyubey betrachtete ihn derweil stillschweigend und mit der für ihn typischen, ausdruckslosen Miene. Seine roten Augen funkelten wie vom Licht bestrahlte Rubine, während er selbst dasaß und in einem unheilvollen Zwielicht eingetaucht war. Sein Rücken von dem wenigen Licht bestrahlt, das der Himmel hergab und seine Frontseite von Schatten überzogen. So, wie er jetzt dasaß, mit dem dämonischen Augenpaar, dem süßen Katzenmund, dem weißen Fell, das sich mit Licht und Dunkelheit vermischte. Wahrlich, für ihn konnte kein anderes Wort dienlicher und bezeichnender sein, als das vorhin erwähnte: Zwielicht. „Sag mal“, begann der junge Mann, nachdem er ein weiteres Mal an dem Glimmstängel zog, „es ist ja erwiesen, dass das Rauchen am schädlichsten für die Kinder ist, die sich noch im Mutterleib befinden. Glaubst du, dasselbe gilt auch für Hexen, die sich noch in ihrer Eierschale verbergen und in mir heranbrüten?“ Kyubey verneinte diese Frage mit einer schüttelnden Kopfbewegung, ohne überhaupt den Anschein zu machen, er hätte darüber zumindest kurz sinnieren müssen. „Das ist eher unwahrscheinlich. Sie sind, gerade durch diese Eierschale – wie du sie nennst – vollkommen gegen jedweden äußeren Einfluss immunisiert. Das einzige, was sie in diesem Stadium zerstören kann, sind gewaltsame Einwirkungen von Außen. Und selbst die sind kein Garant für Erfolg. Nicht selten erwacht eine Hexe gerade deshalb aus ihrer Metamorphose, weil ihr Leben in diesem Augenblick bedroht wird. Man kann es einen unterbewussten Schutzreflex nennen, wie sie Babys ihn haben, wenn sie im Wasser versinken und automatisch mit Armen und Beinen zu paddeln beginnen, um wieder aufzutauchen.“ Der junge Mann musste über diese Geschichte so laut auflachen, dass er einem rauen Hustenanfall unterlag, denn ihm war klar, worauf das kleine Katzenvieh mit damit hinzielte. „Du willst wirklich nicht, dass ich das Ding kaputt mache, mhm?“ „Ich kann dich nicht dazu zwingen, es einfach heil zu lassen“, sprach das Kyubey in einer Art, wie sie von Erpressern gebraucht wurde, die damit drohten, unbequeme Wahrheiten an die Öffentlichkeit zu bringen, sollte man sich ihren Forderungen nicht beugen. „Ich kann dir nur sagen, wie es ist und das ich es dir nicht empfehlen –“ Das Geräusch von zersprungenem Glas erklang in der Faust, noch während er sprach. „Hoppla“, sagte der junge Mann mit einem vortrefflich gespielten Schock und bewegte dabei noch die Finger absichtlich so, das sich die Splitter aneinander rieben und ein unangenehmes Knirschen entstand. Dann zog er eine hämische Miene und öffnete die Hand. „Da hab ich wohl was kaputt gemacht.“ Die rot leuchtenden Augen des Inkubators folgten dem Verlauf des zu Boden rieselnden Scherbenhaufens. Seine belebte Zunge war zu einer kleinen vertrockneten Wurzel verkommen; steif, von tiefen Furchen gemartert und in ihren zahlreichen Bewegungen gehemmt. Es war, dem andachtslosen Gesicht zum Trotze, als würde er in diesem Moment so etwas wie tiefe Empörung auszustrahlen versuchen. „Entschuldige, falls ich dich unterbrochen habe. Bitte, fahr fort“, sprach er mit einem, zu einer Schnute verzogenen Mund und zog erneut an der Zigarette. Der Glanz reiner Schadenfreude legte sich, einer Maske aus Ton gleich, über sein Gesicht. Er konnte sich des feisten, die Zähne entblößenden Grinsens nicht erwehren und nahm gierig zwei weitere Züge zu sich. Ein dicker Aschehaufen brach sich von dem Stängel los und fiel auf das dünne, schwarze Hemd, das unter seiner dicken roten Jacke hervorstach. Das Wesen Kyubey tat eine wankelmütige Kopfbewegung zur Seite, als wäre es ihm nun unmöglich, seinen Gegenüber in die Augen zu blicken. „Ich verstehe nicht, warum du dich so verhältst. All das Leid und der Schmerz, der zusätzliche Verlust deiner Magie, die für dich Überlebensnotwendig ist; und dann zerstörst du das einzige, was dir eben jene lebenswichtige Energie zurückgeben kann. Dein Verhalten ist völlig –“ „Irrational?“, fuhr er dem Inkubator über den Mund. Wieder zierte ein breites und unsympathisches Grinsen sein bleiches Antlitz. „War es das, was du sagen wolltest? Wenn ja, dann danke ich dir. Irrationalität ist nämlich das einzige, was mich noch einigermaßen menschlich erscheinen lässt.“ Kyubey wandte ihm wieder das Gesicht zu. „Doch bist du schon lange kein Mensch mehr. Und es ist gefährlich sich diesen Fakt nicht vor Augen zu halten. Diese Lektion müsstest du doch eigentlich mittlerweile gelernt haben“, er senkte daraufhin die Lider, „Oder etwa nicht, Hexer Vispas?“, und öffnete sie mit verheißungsschwangerer Trägheit wieder. Wieder presste der junge Mann den tabakhaltigen Stängel zwischen sein Lippenpaar und zog mit einer missgestimmten Art daran, ähnlich einem Manne, der dem Fruste nahe oder ihm schon gar verfallen war. Hexer Vispas. Er inhalierte einen weiteren schweren Zug. Hexer. Vispas. Ein Laut, als würde er von einem plötzlichen Ekel gepackt würgen müssen, entsprang seinem Munde. Er besah den fast vollständig verglimmten Stängel, als würde er ihm daran die Schuld geben und drückte ihn frustriert an der Wand hinter sich aus. Doch es war nicht die Zigarette. Es war der Name. Er hasste ihn, denn es war nicht sein eigener und doch wurde er vom Inkubator immer so gerufen. Vispas. Welch schreckliche Art, die eigene Identität zu verschmähen, gleich einer Buchreihe, der man eine römische Ziffer hinter dem Haupttitel dranhing, während der eigentliche Name des Werkes nur noch als Untertitel fungierte.   [[USERFILE=673459]] Vispas Shiro Ikuto   Ja, jener junge Mann war in der Tat Shiro. Derselbe Shiro, der sich dazu bereit erklärt hatte, mit dem Magical Girl Homura Akemi zu kooperieren. Und er war gleichwohl ein Hexer. Ein Feind der Menschen, wie die Hexen mit den Magical Girls. Und die Magical Girls, die als Beschützer der Menschen gelten, während die Hexer im schattenreichen Hintergrund ihr Werk verrichteten. Shiro war das Paradoxon, das Homura Akemi in Kazamino fand … aber nicht das, was sie suchte.     .,,.-~+*+~-.,,.-~+*+~-.,,.-~+*+~-.,,.-~+*+~-.,,.-~+*+~-.,,.-~+*+~-.,,.-~+*+~-.,,.-~+*+~-.,,.-~+*+~.,,. Das paradoxe Paar: Noch drei Tage bis zur Einschulung verbleibend ~+*+~-.,.-~+*+~-.,.-~+*+~-.,.-~+*+~-.,.-~+*+~-.,.-~+*+~-.,.-~+*+~-.,.-~+*+~-.,.-~+*+~.,.-~+*+~   Das Wohnzimmer von Homura Akemi war ein Traum für Innenarchitekten. Es war beinahe unmöglich den begrenzten Verstand mit Worten zu füttern, damit dieser sich ein klares und scharfes Bild davon machen konnte, was die Augen sonst taten. Man musste es einfach gesehen haben. Andernfalls müsste man sich mit der Anmerkung begnügen, das Mitakihara, die hochtechnisierte Stadt des einundzwanzigsten Jahrhunderts, ihrer Zeit um gute einhundert bis einhundertfünfzig Jahre voraus war. Nun, was also sah man in diesem Wohnzimmer? Zuallererst einmal war es ein einziger, grellweißer Raum. Man konnte nicht den erkennen, wo der Boden aufhörte und wo die Wände begannen. Die einzigen Anzeichnen, die dem irritierten Auge ihre Hilfe anboten, waren die eckigen Umrisse eines Durchgangs, der in die nächstgelegenen Räumlichkeiten führte und die unterschiedlich großen und breiten Bilder an der Frontwand, die sich – den Eindruck vermittelnd, sie würden schweben – unstetig in einem kleinen doch unklaren Muster bewegten. Über die eingerahmten Bilder hinweg, pendelte der Schatten eines ankerförmigen Gebildes, ähnlich wie das Schwingpendel im Inneren einer Standuhr. In der Mitte des Raumes stand ein einzelner violetter, kreisrunder Tisch, der von quadratischen Hockern mit himmelblauer Polsterung umringt war. Doch damit bei weitem nicht genug, füllte dasselbe Mobiliar in anderen Farben beinahe den kompletten Raum aus. Manche grenzten aneinander, wie das Gelbe an dem Himmelblauen, was den Eindruck eines Musters prägte, wenn man von oben darauf herabschaute. Andere standen weit im Abseits und mehr willkürlich. Shiro hatte sich längs auf der gelben Polsterreihung ausgebreitet, die Hände hinter dem Kopf zusammengefaltet und die Augen zur strahlend weißen Decke gerichtet. Es war ein seltsames Gefühl, so als würde er in die Sonne blicken, aber ohne die Folgen einer Blendung. Homura saß hingegen mit andachtungsvoll gesenktem Haupt, ihm gegenüber; sprich, auf der anderen Seite des Tisches. „Gibt es noch irgendetwas, dass ich über euch Hexer wissen müsste?“, fragte Homura in ihrer gewohnten Art, mit der Shiro schnell umzugehen gelernt hatte. „Nicht mehr als das, was ich dir bereits gesagt habe“, erwiderte er. „Hexer sind keine Kämpfer und ich schon dreimal nicht. Aber wir sind fähige Magier, sogar um Längen besser, als ihr Magical Girls. Unsere Kräfte wenden wir aber nur zu unserer eigenen Selbstverteidigung an.“ „Aber ihr müsst doch irgendeine Funktion haben. Es ist nicht möglich, das der Inkubator euch einfach Kräfte gibt, die ihr zu eurem persönlichen Belieben einsetzen könnt.“ „Wir erfüllen durchaus eine Funktion, natürlich“, stimmte er zu. „Wir sind eine zusätzliche Energiegewinnung. Alle Jubeljahre, wenn wir genug Magie getankt haben, wird sie uns abgenommen und zu Energie verarbeitet. Das ist natürlich nichts im Vergleich zu dem, was ihr leistet, aber mit einer ausreichenden Menge an Hexern, kommt auch schon eine ordentliche Energiegewinnung zustande. Wir sind also quasi die Notration für ein trübes Erntejahr.“ Er sprach es in einer Art amüsierten Tonfall heraus, als würde er es entweder als absurd oder erheiternd empfinden. „Solange wir beide uns also bedeckt halten, haben wir auch nichts vor anderen Hexern zu befürchten. Gleichwohl, dass sie es nicht gerne sehen, wenn sich einer Ihresgleichen mit einem Magical Girl abgibt.“ „Aha“, machte Homura in einem Tone, der eine misstrauische Haltung gegenüber dem Gesagten vermuten ließ. Shiro, der auf solche Äußerungen nicht mit tauben Ohren reagierte, erhob sich in einer schwungvollen Bewegung in eine aufrechte Sitzposition und blickte mit seinen dunklen braunen Augen in die blauvioletten Homuras. „Hey, vertrau mir, dass ist wirklich alles“, schwor er mit der Miene eines Halsabschneiders, der für eine gute Provision ein Fläschchen Hustensaft als ein Wundermittel verkaufte. „Mehr gibt es wirklich nicht über uns zu wissen. Ich würde dich doch nicht anlügen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)