Schwarzgrün von abgemeldet ================================================================================ Prolog: -------- * Sie war aufgeregt. Sakura konnte sich nicht daran erinnern, jemals so aufgeregt gewesen zu sein. Noch eine Haltestelle, dann war sie endlich da. Sie hatte Freunde und Familie hinter sich gelassen und würde sie die nächsten Monate nur selten zu Gesicht bekommen. Das alles für eine Beschäftigung in einer Stadt, die mehr als 200 Kilometer nördlich von ihrer Heimatstadt entfernt lag. Sechs Monate lang würde sie sich um einen erblindeten jungen Mann kümmern. Der Erblindete, Izuna Uchiha, lebte zusammen mit seinem Bruder, der, laut der Beschreibung im Internet, Tag um Tag arbeitete und bedauerlicherweise wenig Zeit hatte, sich um seinen Bruder zu kümmern. Sakura hatte nicht gezögert, Madara Uchiha anzuschreiben und ihm ihre pflegerischen Dienste anzubieten. Sie schrieb ihm spät am Abend. Gleich am nächsten Tag hatte er ihr zurückgeschrieben – sie sah, dass er seine Antwort um drei Uhr morgens verfasst hatte! – , kurz und bündig stand in der Mail, dass sie den Job habe, was sie ungemein überraschte. Sie tauschten einige weitere förmliche Mails aus, in denen sie vereinbarten, wo und wann genau sie sich treffen könnten. Madara bezahlte Sakuras Zugfahrt und würde sie vom Bahnhof abholen. Sie hatte bereits seine Mobiltelefonnummer und schrieb ihm vor einer halben Stunde via SMS, dass der Zug sich verspätete. Er hatte ihr noch nicht geantwortet. Einige Fahrgäste erhoben sich von den dunkelblauen Sitzen, obwohl noch keine Ansage gemacht wurde. Sie zogen sich an, suchten die Toilette auf, spazierten zu den Gepäckablagen. Das alles sorgte dafür, dass Sakura noch eine Spur aufgeregter wurde, tatsächlich wurde sie sogar ein wenig nervös durch die Menschen, die sich zum Aussteigen bereit machten. Sie war froh, dass sie einen Vierer nur für sich hatte; ihr großer grüner Koffer stand zwischen ihren Knien und dem Zweiersitz gegenüber. Sie fischte aus ihrer beigefarbenen Tasche ihr Mobiltelefon und tippte rasch eine Nachricht an ihre beste Freundin Ino, die zusammen mit Sakuras Mutter und Vater Sakura am Gleis verabschiedet hatte. Gleich bin ich da! Bin sehr aufgeregt. Es war die dritte Nachricht an Ino heute. Die erste hatte sie verfasst, als sie das erste Mal hatte umsteigen, die zweite, als sie das zweite Mal das Gleis hatte wechseln müssen. Zum Glück hatte sie dafür genug Zeit gehabt, sie schaffte es auch, sich beim zweiten Mal etwas zu essen zu holen. Ihre Nudeln schaffte sie nicht ganz und war gezwungen, die Reste wegzuwerfen, was ihr ein schlechtes Gewissen bescherte; von dem kleinen Abfallbehälter unterhalb des Fensters, an dem ein grauer Himmel, kahle Bäume und Gebäude vorbeizogen, ging der Geruch von Nudeln und Hühnchen aus. Kurz nachdem sie die Nachricht abgeschickt hatte, bekam sie eine Nachricht von Madara. Ich werde Sie vom Gleis abholen, Frau Haruno. Sie fragte sich, was Madara Uchiha für ein Mensch war. Er wusste, wie sie aussah, ihr Lebenslauf enthielt ein Foto von ihr. Auf ihre Frage, wie sie ihn erkennen könne, hatte er geantwortet: „Das müssen Sie nicht. Ich werde Sie erkennen.“ Ein wenig mulmig war ihr in diesem Augenblick schon zumute gewesen. Selbstverständlich interessierte sie nicht ausschließlich das Äußere ihres neuen Arbeitgebers. Sie hatte das Gefühl, dass er ein Mensch von Distanz und Kühle war. Sie schrieb ihm diese Eigenschaften nicht direkt zu, schließlich hatten die beiden nur einige Mails ausgetauscht. Doch das war der Eindruck, den sie von ihm hatte, und einige Eindrücke ließen sich revidieren. Natürlich interessierte es sie ebenfalls brennend, wie Izuna Uchiha war.   Eine hohe männliche Stimme erklang durch das Abteil und kündigte die nächste Haltestelle an – den Zielbahnhof. Sakura hatte wahnsinniges Herzklopfen, als sie aufstand und sich ihren hellbraunen Wollmantel anzog; sie sah aus dem Fenster, während sie den Mantel unbeholfen zuknöpfte, ihre Finger ab und an in das weiche Material krallend. Als Bahnsteige in ihrem Sichtfeld erschienen, presste sie die Lippen zusammen und schloss die Augen, bemüht, sich selbst zur Ruhe zu bringen. Sie empfing eine Nachricht von Ino, die sie sogleich las. Das glaube ich dir! Schreib mir in einer freien Minute oder ruf mich an. Ich bin gespannt! Das war Sakura auch. Kapitel 1: ----------- * Sakura ließ alle anderen aussteigen, ehe sie selbst den Zug verließ. Eisige Kälte begrüßte sie, entlockte ihrem Mund eine weiße Wolke, liebkoste ihr Gesicht, das durch eine dicke Schicht Tagespflege vor der Witterung geschützt war, biss sacht in ihre Glieder; selbst durch das Material ihres Mantels, ihres warmen roten Pullovers und ihrer schwarzen Hose, unter der sie eine Strumpfhose trug, drang die Kälte. Sakura gehörte zu den kälteempfindlichen Menschen und trug in kalten Jahreszeiten häufig zwei Paar Socken. Mit dem schweren Koffer in der Hand und der Tasche über ihrer linken Schulter machte sie einige Schritte nach vorne, stellte den Koffer ab und sah sich um. Die Menschen, die vor ihr ausgestiegen waren, strömten zu den Rolltreppen. Sie rempelten sich gegenseitig an, kamen sich in die Quere und brüllten Flüche hinaus: Der Bahnsteig war sehr schmal. Eine neue Stadt, eine neue Aufgabe. Sie hatte unbedingt in einer anderen Stadt Arbeit finden wollen, eine gut bezahlte. Sie hatte keine Skrupel gehabt, Freunde und Familie hinter sich zu lassen. Das hieß keinesfalls, dass jene Menschen unbedeutend waren, sie würde sie vermissen und sich oft an sie erinnern. Aber sie hatte schon länger überlegt, ihrer Heimatstadt den Rücken zuzukehren, etwas Neues zu wagen. Sakura öffnete das kleinste Fach ihres Koffers und zog sich rote Handschuhe an. Es war ein ungewöhnlicher Bahnhof. Zylinderförmige Säulen aus Glas, die merkwürdigerweise komplett heile waren, trugen das ebenfalls aus massivem Glas hergestellte Dach über ihrem Kopf. Von einer winzigen Backstube gegenüber der rechten Rolltreppe flog ihr der Duft von Brot und Gebäck zu. Von Tauben keine Spur, bei vielen anderen Bahnhöfen waren die Vögel eine regelrechte Plage. Durch die Säulen konnte man in das Innere des Bahnhofs spähen. Madara hatte geschrieben, dass er sie vom Gleis abholen werde, also musste er irgendwo hier sein. Ursprünglich wollte er sie draußen treffen. Vor dem Bahnhof erstreckte sich ein Platz, in dessen Mitte sich ein Denkmal befand, und genau dort wollte sie Madara anfangs abholen. Zur Sicherheit sah Sakura auf ihr Mobiltelefon. Nach Inos Nachricht waren keine weiteren eingegangen. Sie beförderte das Mobiltelefon zurück in die Tasche und tastete die Umgebung mit ihren Augen ab. Und da sah sie ihn. War es wirklich Madara Uchiha? Er musste es sein, er kam direkt auf sie zu, die Hände in den Taschen seines knielangen schwarzen Mantels. Sein Haar war lang, wild und schwarz, und um seinen Hals hatte er einen kirschroten Schal mit schwarzen Tupfern gebunden. Offenbar hatte er darauf gewartete, dass die Menschenmenge sich lichtete. „Sakura Haruno.“ Als er direkt vor ihr stand und ihren ganzen Namen aussprach, eine Feststellung, keine Frage, war sie wie gelähmt. Es stürzten mit einem Mal so viele Eindrücke auf sie ein, dass ihr Gehirn sich damit überfordert sah. Die Stimme Madara Uchihas war ruhig, tief, ein wenig drohend. Von ihm ging ein moosiger, süß-hölzernen Duft aus, und sie ließ dieses Odeur, diese noch nie zuvor gerochene Aromakomposition tief in ihre Nase dringen. Seine rosige, bartlose Gesichtshaut war beinahe makellos, prall und jugendlich-frisch, nur unter seinen tiefschwarzen Augen prangten dunkle Ringe und sichtbare Falten. Der Blick seiner mit finsterem Nichts gefüllten Augen ruhte auf ihr. Sie schätzte ihn auf Ende zwanzig. Er jagte ihr Angst ein. Seine Präsenz war einschüchternd, körperlähmend. Sie fühlte sich wie von einem Löwen taxiert. Vor einer Weile hatte sie beim Kochen eine Dokumentation über Löwen gesehen. Es hieß: „Wenn Sie nichts zur Hand haben, wenn Sie keine Waffe haben, mit der Sie sich gegen einen Löwen verteidigen können, dann beten Sie, dass es schnell geht, würde ich sagen!“ Ich werde Sie erkennen, entsann sie sich plötzlich an seine Worte und musste schlucken. Sie unterdrückte mühevoll den irrationalen Impuls, sich zurück in den Zug zu werfen, Madara Uchiha und diesen gläsernen Bahnhof hinter sich zu lassen. „Wir sollten uns auf den Weg machen.“ Sakura schüttelte ihre Gedanken ab, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch sie stieß lediglich etwas Luft durch ihre kürzlich eingesalbten Lippen. Sie riss sich so gut es ging zusammen. Er fragte sie, ob er ihren Koffer tragen solle, und sie sagte mit zittriger Stimme: „Das wäre sehr nett.“ Sie lächelte und hoffte, dass es nicht allzu gestelzt wirkte. Keinesfalls wollte sie einen unfreundlichen Eindruck machen. Madara lächelte nicht. Ohne Anstrengungen hob er ihren Koffer hoch und trug ihn zur Rolltreppe. Sie folgte ihm mit leicht gesenktem Haupt. Er führte sie durch das riesige Bahnhofsinnere, vorbei an unzähligen Menschen, Geschäften und diversen Automaten. Er sprach zu ihr erst wieder, als sie draußen waren. Er hatte am Parkplatz unmittelbar neben dem Bahnhof geparkt. Warum er sie nicht auf dem Platz empfangen hatte, begriff Sakura, als sie Demonstranten erblickte, die sich um das Denkmal, einige schlichte Säulen, versammelt hatten. Das Auto war schwarz und die Oberfläche glänzte vor Sauberkeit. Auch im Inneren des Autos war es sauber, kein einziger Krümel ließ sich auf dem Boden finden. Sie roch Orchideen – ihre Mutter liebte Orchideen und ein Teilgeschenk ihres Vaters zum Geburtstag ihrer Mutter war stets ein prächtiger Orchideenstrauß –, und nachdem Madara ihren Koffer im Kofferraum verstaut und sich hinters Steuer gesetzt hatte, flossen sein Duft und der Duft des Innenraums ineinander wie zwei Gewässer, kreierten einen völlig neuen Geruch, von dem Sakura ein wenig schwummerig wurde. Als Madara losfuhr, fragte sie, ob sie das Fenster herunterkurbeln dürfe, ihr sei ein wenig schwindelig. Madara bejahte, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. „Ich hoffe, Ihnen wird nicht kalt. Ich muss die Klimaanlage demnächst reparieren lassen. Aber sie vertragen Autofahrten, nicht wahr?“ „Ja, das passiert mir nicht immer.“ Die hineinströmende Luft war alles andere als sauber, sie fuhren immerhin noch durch die Stadt, aber sie vertrieb Sakuras Schwindel sehr schnell. Die junge Frau strich sich einige Strähnen ihres rosafarbenen Haars hinters Ohr und inspizierte das Auto mit Blicken. Im Fach zu ihrer Rechten entdeckte sie einen bläulichen Flakon, auf dem eine Orchideenblüte zu sehen war, darüber stand in Großbuchstaben: AUTOPARFÜM. Madara Uchiha mochte es offenbar, wenn es duftete. „Frau Haruno“, richtete Madara das Wort an Sakura und sah sie kurz aus den Augenwinkeln an, ehe er nach links abbog. Sie fuhren an einem alten Rathaus vorbei. Es herrschte reger Verkehr. „Wenn wir angekommen sind, werde ich Sie über alles Wichtige unterrichten.“ Er machte eine Pause, bevor er in eindringlichem Tonfall fortfuhr: „Frau Haruno, mein Bruder Izuna bedeutet mir alles. Ich hoffe, nein, bei der Bezahlung, den Privilegien, die Sie genießen werden, und Ihrer Erfahrung erwarte ich, dass sie Ihre Arbeit gut machen. Sie waren die Erste, die sich bei mir meldeten, und da ich sah, dass Sie zureichend qualifiziert sind, sah ich keinen Sinn darin, auf eine zweite Bewerbung zu warten. Ich verlasse mich auf Sie und hoffe, dass Sie mich nicht enttäuschen werden.“ Mit Sicherheit wäre sie ein wenig empört der Wortwahl wegen gewesen, wäre er jemand anderes. Aber da es Madara Uchiha war, der Mann, der vor einer guten viertel Stunde sie zur Salzsäule hatte erstarren lassen, sagte sie nur: „Ich werde meine Aufgabe gewissenhaft erledigen, Herr Uchiha. Sie können sich auf mich verlassen und müssen sich keine Sorgen machen.“ Sie mühte sich, nicht allzu viel Unsicherheit in ihre Stimme einfließen zu lassen. Sie wollte ihn mit Worten überzeugen, war sich aber im Klaren darüber, dass Taten mehr auszurichten vermochten. Sakura beherrschte ihr Handwerk und brauchte keine Angst zu haben; es war ein Fall wie jeder andere, auch wenn es das erste Mal sein mochte, dass sie die erste Pflegerin war. Nur dass ihr Auftraggeber eine einschüchternde und unheimliche Person war. Sakura verbarg das Grün ihrer Augen hinter den Lidern und sank etwas tiefer in den Sitz. „Gut“, sagte Madara. Für den Rest der Fahrt, die eine halbe Stunde dauern sollte, schwiegen sie. ___ Madara parkte vor einem großen Gebäude. Er war ein sicherer Autofahrer und sehr geschmeidig gefahren. Die Präsenz Madaras war mittlerweile erträglicher. Das Gebäude hatte fünfundzwanzig Stockwerke und erinnerte die junge Pflegerin an nasse, zerquetschte Pappe. Es war unansehnlich. Umso überraschter war sie, als sie und Madara einen sauberen Aufzug mit auf Hochglanz poliertem Spiegel in das sechste Stockwerk nahmen. Mit gemächlichen Schritten erreichten sie eine dunkelbraune Holztür, die Madara aufschloss. Es war sehr kalt auf dem weißen Etagenflur, sogar weitaus kälter als draußen, was sich Sakuras Verständnis entzog, und sie war froh, als sie die Wärme von Madara und Izuna Uchihas Wohnung in eine Umarmung schloss. Sie hatte mit einer derartigen Wärme, die fast schon als herzlich bezeichnet werden konnte, nicht gerechnet. Sie war immer noch überwältigt von den Düften, die sie zuvor kennen gelernt hatte, weshalb ihre Nase nicht viel aufnehmen konnte. Sobald beide sich ihrer Mäntel und Schuhe entledigt hatten, zeigte Madara Sakura ihr zuerst ihr Zimmer. Sakura staunte nicht schlecht: Es war ein helles, geräumiges Zimmer in Erdfarben, zu dessen Ausstattung ein Bett, ein Sofa mit Couchtischchen, ein Fernseher, ein leeres Regal und ein Schrank gehörten. Sie konnte nicht einschätzen, wie viele Quadratmeter das Zimmer betrug. Auf jeden Fall war es doppelt so groß als ihr Zimmer in der Wohnung ihrer Eltern. Sie hatte mit einem winzigen Zimmerchen gerechnet. Der Ausblick, den das Fenster bot, war fantastisch und im Frühling und Sommer bestimmt magnetisch: Blaue Berge verschmolzen mit dem trüben Himmel. Sie trat näher an die Glasscheibe heran, befühlte die auseinandergezogenen Gardinen mit ihren Fingern. Sie waren schwer, dick, cremefarben und fühlten sich ein wenig wie Teppich an. „Ich zeige Ihnen den Rest der Wohnung.“ Er hatte sie die ganze Zeit beobachtet, sog ihre Reaktionen, Bewegungen in sich auf. Er wollte sichergehen, dass er ihr blind vertrauen konnte. Das hieß: Sofern Izuna sie nicht sofort in die Flucht schlagen würde. Rigoros hatte er sich gegen eine Heimpflege geweigert, hatte aber letzten Endes kapitulieren müssen. Madara befürchtete – zu Recht –, dass es seinem Bruder arg zuwider sein würde, eine Unbekannte um sich zu haben, die er dazukommend nicht einmal sah, und dass er Dummheiten begehen konnte. Letztens hatte er sich unbedingt selbst etwas zu essen machen wollen und wäre beinahe einen Finger losgeworden. Madara zeigte Sakura die Küche, das Bad, das Wohnzimmer und sein Zimmer. Hatte er ihr die anderen Räume von innen gezeigt, beließ er es bei seinem Zimmer bei einer Handbewegung Richtung Tür und dem Satz, dass sie sein Zimmer in seiner Abwesenheit nicht betreten und in seiner Anwesenheit klopfen möge „Und das ist Izunas Zimmer.“ Zögernd schloss Madara seine Rechte um die stabile Türklinke. „In letzter Zeit hält er sich ausschließlich hier auf. Früher mehr im Wohnzimmer, aber mittlerweile...“ Madara verstummte und drückte die silberfarbene Klinke nach unten. Es roch hier nach nichts. Hohe Regale aus hellem Holz zu ihrer Rechten und Linken trugen eine Vielzahl von Büchern. Sakura fühlte sich an eine Bibliothek erinnert. Unter ihren Füßen war Teppichboden; der Rest der Wohnung war mit Laminat ausgelegt. Staub lag auf den Regalböden, bereits beim Inspizieren der anderen Räume war ihr aufgefallen, dass obwohl alles aufgeräumt war und seinen Platz hatte, viele Oberflächen staubig waren. Am Fenster stand ein großer Tisch, auf dem einige Bücher lagen. Und neben dem Tisch saß Izuna Uchiha. Seine rechte Hand lag auf dem Tisch, seine Linke in seinem Schoß, den Kopf hielt er leicht geneigt und gegen die gegenüberliegende Wand gerichtet. Sein Gesicht war totenbleich. Izuna Uchiha erinnerte Sakura an eine Statue. Seine Kleidung war schwarz, weit und warf Falten. Im Gegensatz zu seinem Bruder trug er sein Haar kurz. Wie Madaras Haar war auch seines wild und erinnerte an die Mähne eines jungen männlichen Löwen. „Izuna.“ Sakura sah verwundert zu Madara. Zärtlichkeit lag in seiner Stimme, sein liebevoller Blick suchte den seines Bruders. Aber er konnte nicht erwidert werden. „Frau Haruno ist da. Ich habe ihr die Wohnung gezeigt.“ Izuna Uchiha drehte langsam seinen Kopf zu Madara und Sakura. Er war, als würde eine Statue zum Leben erwachen. „Guten Tag“, sagte Sakura. Sie wurde nicht zurückgegrüßt. Madara setzte die Füße in Bewegung und wies Sakura mit einer Kopfbewegung an, ihm zu folgen. „Mein Name ist Sakura Haruno. Ich werde für die nächsten Monate Ihre Pflegerin sein. Bitte scheuen Sie nicht, mich um Hilfe zu rufen, wann immer Sie sie brauchen“, stellte sie sich adäquat vor. Izuna Uchihas Augen waren geschlossen, er war blind, und dennoch war der jungen Frau, als musterte Izuna sie von oben bis unten mit Misstrauen. Sie konnte sich vorstellen, dass sie es die erste Zeit nicht einfach haben würde. Aber wann war jemals schon etwas einfach? Sie würde diese Aufgabe bewältigen, trotz eventueller Schwierigkeiten. „Er ist nicht mehr so gesprächig wie früher.“ Madara hatte die Zärtlichkeit aus seiner Stimme und das Liebevolle aus seinem Blick verbannt, sein Antlitz erkaltete. „Verlassen wir das Zimmer. Ich werde Ihnen genaue Anweisungen geben.“ „Ich will mithören, Bruder.“ Izuna Uchihas Stimme war schwach und ein merklicher Ruck ging durch Madaras Körper. „Immerhin bin ich derjenige, der betreut wird.“ Er zog das Wort betreut in die Länge und unterschwellig verachtungsvoll. Madara sog scharf die Luft ein und wandte sich an Sakura. „Sie bereiten für ihn Frühstück und Mittagessen vor. Und Abendessen. Sie müssen nicht mehr tun, als Sie sollten. Sehen Sie zu, dass er tatsächlich aufisst. Ich habe eine Liste erstellt, auf der alles detailliert steht. Ich werde sie Ihnen gleich geben. Einmal am Tag sollten Sie ihn“, er hielt inne, um nach den richtigen Worten zu suchen, „... mit ihm an die frische Luft gehen. Sie sollten wissen, Frau Haruno, dass ich teilweise bis spät in die Nacht arbeite. Wenn ich an manchen Tagen nach Hause komme, schlafen Sie bestimmt schon. Manchmal bleibe ich zwei, drei Tage weg. Das kommt allerdings selten vor. Ich bin jederzeit, wenn etwas sein sollte, über das Handy erreichbar. Izuna trägt ein Gerät bei sich, mit dem er Sie anpiepen kann, wann immer er etwas möchte. Dazu gleich mehr.“ Izuna ließ Madaras Gesagtes unkommentiert. Als sie im Gang waren, schloss Madara die Tür hinter sich und trat zu einem Beistelltisch, auf dem ein Telefon lag. Daneben lagen zwei zweifach gefaltete linierte Blätter, auf denen Sakuras Aufgaben in Stichworten verzeichnet waren. Madaras Schrift war groß, geschwungen. Auch das kleine, schwarze Gerät, das sie an ein handliches Aufnahmegerät erinnerte, fand seinen Weg in ihre Hände. Madara erklärte ihr, wie das Gerät funktionierte. „Mit Sicherheit gibt es viele Dinge, die er alleine verrichten kann. Und sicherlich wird es ihm furchtbar auf die Nerven gehen, aber: Sehen Sie bitte ab und an nach ihm.“ Madara senkte die Stimme. „Sehen Sie einfach ab und an nach ihm.“ Ihre Blicke trafen sich, und Sakura nickte. Für einen kurzen Moment hatte sie Traurigkeit im tiefen Schwarz gesehen. Izuna bedeutete Madara die Welt. Innerlich ballte sie kämpferisch die Fäuste. „Ich bin heute zu Hause. Sie haben bis morgen Zeit, sich hier einzuleben.“ Madara machte auf dem Absatz kehrt. „Ich trage Ihren Koffer in Ihr Zimmer.“ Die sechs Monate konnten kommen. Kapitel 2: ----------- * Zufrieden setzte sich Sakura auf das Bett und ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen. Sie hatte Staub gewischt und gelüftet. Sie ließ das Fenster, damit nicht allzu viel von der Kälte Einzug in den Raum hielt, gekippt, während sie ihre Kleidung, Hautpflegeprodukte, Schminke und einige dünne Bücher einsortierte. Auf dem Tischchen fanden ihr Notebook und zwei Notizbücher Platz. In eines davon hatte sie die gefalteten Blätter gelegt, die sie sich schon genauesten angesehen hatte. Das Ganze hatte gerade einmal eine halbe Stunde in Anspruch genommen. Sie hatte eine Nachricht von ihrer Mutter erhalten und schrieb zurück, dass sie sicher angekommen sei. Abends würde sie mit ihrer Mutter und Ino telefonieren. Das Bett war bereits vor ihrer Ankunft von Madara frisch bezogen worden und verströmte einen dezent floralen Duft. Sie musste nur noch Diverses im Bad unterbringen und sich ein Handtuch zurechtlegen, dann hatte alles seinen Platz. Ah, die Tücher!, erinnerte sie sich plötzlich und blies frustriert ihre Wangen auf. Ihre Mutter hatte ihr einen kleinen Stapel aus zwei Handtüchern und zwei Badetüchern auf den Korbdeckel vor ihrer Zimmertür gelegt. Allerdings hatte Sakura vergessen, sie einzupacken. Sakura stand auf, machte das Fenster zu, da sie fand, dass sie genug gelüftet hatte, und begab sich zur Tür in Madaras Zimmer. Es befand sich neben dem Wohnzimmer. Ein Kaminofen stand dort am breiten, raumhohen Fenster, der die gesamte Wohnung mit Wärme füllte; daneben eine kleine Pyramide aus Holzspalten. Zusätzlich zu dem Kaminofen enthielt jedes Zimmer eine moderne Heizung. Sakura hielt vor der Tür inne und sammelte sich für das kommende Tête-à-tête. Vergessene Tücher waren keine Tragödie und mit Sicherheit durfte sie Hand- und Badetücher der Uchiha-Brüder benutzen. Schließlich wurden sie nach mehrmaliger Benutzung gewaschen. Sie wollte aber sicherheits- und höflichkeitshalber nachfragen, und so klopfte sie gegen die Tür, wartete auf die Eintrittserlaubnis und trat dann ein. Es war verblüffend, welche Farbunterschiede von Zimmer zu Zimmer in dieser Wohnung vorherrschten: In Madaras Zimmer dominierten die Farben Rot und Schwarz, die Wände waren beige und blank. Ihr fiel auf, dass kein einziges Gemälde die Wände dieser Wohnung schmückte. Nicht verblüffend dagegen war der süß-holzige, moosige Geruch, mit dem sie bereits bekannt war. Das Zimmer hätte als reines Büro dienen können, wenn da in der Ecke nicht das Einzelbett und eine Kommode gewesen wäre sowie ein alter Plattenspieler. Madara saß im roten Sessel vor einem niedrigen, schwarzen Glastisch. Sein Kopf lag in seiner Rechten, in seiner Linken hielt er ein Tablet. Er löste sich davon erst, als Sakura ein wenig nervös und verstimmt, aber mehr nervös räusperte. Er entschuldigte sich hierauf, halbherzig, wie sie fand, und tat das Tablet beiseite, sah die junge Frau fragend an. „Ich vergaß Tücher daheim, Herr Uchiha“, erklärte sie. Ein hölzerner Falke, der auf dem Tisch vor Madara stand, zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Seine Flügel waren weit ausgebreitet, sein Kopf zur Seite gedreht. „Sie können sich welche aus dem Schrank im Bad links vom Waschbecken nehmen“, antwortete er. Er fuhr sich durch seine schwarze Mähne, verlieh seinen langen Fingern die Funktion von Kammzinken. „Sie können in dieser Wohnung grundsätzlich tun und lassen, was Sie wollen, sofern Sie sich um meinen Bruder kümmern. Und, was ich Ihnen nicht so recht zutraue, nicht mutwillig Unruhe bringen oder Gegenstände zerstören. Es stand zwar bereits in der Beschreibung, aber ich erwähne es noch einmal zur Vervollständigung: An Samstagen und Sonntagen haben Sie durchgehend frei, es sei denn, meine mehrtägige Abwesenheit fällt auf das Wochenende. Ihre Bezahlung kriegen Sie immer freitags, bar. Geld für Einkäufe werde ich Ihnen auf dem kleinen Tisch im Flur in einem Umschlag dalassen. Den nächste Supermarkt haben Sie ja bei der Anfahrt gesehen.“ Für keinen Augenblick hatte er seine Augen von ihr gelöst. Sein Gesichtsausdruck sprach zu ihr: „Haben Sie verstanden, Frau Haruno?“ „Ich habe verstanden.“ Sakura verließ das Zimmer, atmete tief durch. Sie sammelte Zahnpflegeutensilien und Reinigungsprodukte ein. Erstere tat sie ganz hinten in den Spiegelschrank. Der Schrank links vom Waschbecken war in zwei Hälften aufgeteilt; in der unteren Böden, in der oberen Schränke. Ein ganzer Regalboden war frei, dort würde sie ihre Reinigungsprodukte aufbewahren. Sie nahm sich ein zitronengelbes Handtuch und hing es auf den leeren Halter. Gerade als sie sich umdrehen und das Bad verschließen wollte, erblickte sie Izuna Uchiha an der Tür stehen. Sie hatte ihn nicht kommen gehört. Sie stellte fest, dass er barfuß war. Schweigend stand er da, in einer leicht gebeugten Haltung, die rechte Hand am Türrahmen. „Wollen Sie ins Bad?“, fragte sie. Mit Pflegebedürftigen ging sie genauso um wie mit allen anderen Menschen auch: Sie sprach zu ihnen nicht in einer degradierenden Kindersprache, änderte ihren Tonfall nicht. Das hatte sie bei den Personen, mit denen sie ihren Beruf gemein hatte, manchmal in Rage versetzt. Izunas Antwort lautete: „Ja. Und ich komme alleine zurecht.“ Sein Ton war nicht unhöflich, aber bestimmend. Sie hatte schon schlimmere Umgangsformen ertragen müssen. Manchmal hatte sie sich sogar gegen Handgreiflichkeiten zur Wehr setzen müssen. Sakura wartete draußen, bis Izuna aus dem Bad kam. Er bewegte sich mit langsamen Schritten zur gegenüberliegenden Wand, berührte sie. An ihr entlang tastend, schlug er den Weg in sein Zimmer ein. Würde er sich wieder auf den Stuhl am Fenster setzen, wieder zur Statue werden? Madara hatte erzählt, dass Izuna sich mittlerweile ausschließlich in seinem Zimmer aufhalte. Was tat er den ganzen Tag dort? Er wartete, dass der Tag sich seinem Ende zuneigte. Dann legte er sich ins Bett und schlief ein. Und wenn er aufwachte, Helligkeit erfasste und Madara in sein Zimmer kam, wusste er: Der neue Tag hatte begonnen. Er hievte dann seinen Körper hoch, putzte sich die Zähne, nahm Nahrung zu sich, die ihm sein Bruder zubereitet hatte, und setzte sich dann ans Fenster. Manchmal stellte er sich vor das Bücherregal, sog den leicht modrigen Duft der alten, im Antiquariat erworbenen Bücher ein, strich über die Buchrücken, ertastete die Gebrauchsspuren. Und wünschte sich nichts sehnlicher, als wieder sehen zu können. ___ Allmählich wurde es dunkel. Madara legte das Tablet aus der Hand und fuhr sich mit seinem Handrücken über die Stirn. Es beschloss, eine Pause vom Lesen und dem Verfassen von Mails einzulegen und nahm eine entspannte Haltung ein. Morgen war sein erster Arbeitstag seit zwei Wochen. Sämtliche Seminare, die er hätte geben müssen, hatte er ausfallen, vertreten lassen, sämtliche seiner Nachhilfeschüler und -studenten hatte er versetzt. Er rief jeden einzelnen von ihnen an und sagte, dass er die Termine bedauerlicherweise nicht einhalten könne, keinen einzigen davon. Als Entschädigung hatte er ihnen telefonisch oder via Mail bei akuten Problemen geholfen. Es war nicht das, was er hatte werden wollen – Dozent der Sprachwissenschaft in ihrer zeitgenössischen Blütezeit an einer Universität und Nachhilfelehrer –, aber es war eine erträgliche Arbeit, die ihm nur bedingt zusetzte. Er gehörte zu den Spitzenverdienern und war bekannt für diverse Beiträge in Sammelbändern. Seit Jahren arbeitete er an einem eigenen Fachbuch und würde es, seiner eigenen Einschätzung nach, zur Mitte des neuen Jahres fertigstellen. Im Wohnzimmer stieß Madara auf Sakura, die gewissenhaft Staub wischte. Vom Flachbildfernseher, von den Böden der Wohnwand. Sie hatte sogar die Lampe gesäubert. Überrascht von dem Anblick, erinnerte er sie daran, dass sie nicht mehr tun musste, als sie sollte, dass ihr erster Arbeitstag ohnehin erst morgen sei. Sakuras Worte waren: „Ich weiß, Herr Uchiha. Aber ich war voller Tatendrang. Ich tue gerne mehr, ohne dafür etwas zu verlangen.“ Gefolgt von einem schiefen Lächeln. Er hatte das richtige Gefühl, dass er Sakura einschüchterte; er war sich nicht sicher, ob das gut oder schlecht war. Madara warf die Schultern zurück. Sakuras Putzaktion brachte keinen Nachteil mit sich; mit den Gegenständen ging sie behutsam um. Wortlos kehrte er ihr den Rücken zu, und die junge Frau fuhr mit dem Staubwischen fort. Madaras Pause dauerte nicht lange. Er sah nach Izuna, mit dem er ein paar Worte bezüglich des Abendessens wechselte, nahm eine Dusche und kehrte in sein Zimmer zurück. Zwei neue Mails waren in seinem Posteingang gelandet. Die eine Mail stammte von einem Studenten, mit dem er sich über eine Hausarbeit austausche. Die andere Mail war von Hashirama Senju. Mit einem Mal verzog sich sein Gesicht zu einer Grimasse. Falten bildeten sich um seinen Mund, zwischen seinen Augen und auf seiner Stirn, und bald pochte eine rote Wutader an seiner Schläfe. Scharf sog er die Luft ein und tippte mit seinem Zeigefinger wie in Ungeduld gegen das Tablet. Er überlegte, ob er die Mail öffnen sollte oder sie gleich in den Papierkorb schieben. Schließlich entschied er sich für das Rationale und öffnete die Mail. Lieber Madara, ich hörte von deiner Sekretärin, weshalb du dich die Tage nicht in der Universität hast blicken lassen, ich weiß um Izunas Verfassung Bescheid. Du hast mein aufrichtiges Beileid. Ich wünsche euch beiden Mut und Kraft für Zukunft. Liebe Grüße Hashirama Hätte er seinem Ärger mithilfe von Worten Luft machen wollen, so hätte er nicht gewusst, womit er zuerst hätte anfangen sollen. Es machte ihn wütend, dass seine Sekretärin, die ihre Arbeit sehr professionell und zuverlässig erledigte, offenbar ein Plappermaul war. Madara hatte ihr nicht ausdrücklich geschrieben, dass sie alles für sich behalten sollte. Er hatte angenommen, es wäre offensichtlich, dass Weitererzählen zu vermeiden war – vor allem an diesen vermaledeiten Hashirama. Wie es aussah, hatte er sich gewaltig geirrt. Er würde mit ihr ein unangenehmes Gespräch führen müssen. Lieber Madara. Liebe Grüße. Er mochte diese Floskeln nicht, schon gar nicht, wenn Hashirama Senju davon Gebrauch machte. Außerdem war es Madara zuwider, dass er ihn in Kleinbuchstaben duzte. Sie waren Kollegen, keine Freunde. Nicht mehr. Immerhin las er einen Hauch Zurückhaltung heraus. In Madaras Ohren hallte Hashiramas laute, schallende Lache wider. Er knirschte mit den Zähnen und schürzte dann leicht die Lippen. In der Tat, seine Arbeit war durchaus erträglich. Sie wäre allerdings eine Spur erträglicher, wenn Hashirama Senjus Büro sich nicht gegenüber seinem befände. Oder besser noch: Wenn Hashirama Senju an einer anderen Universität eingestellt wäre. Er hegte eine furchtbare Antipathie gegen diesen Mann, der ihn mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen begrüßte. Einmal, auf einer Feier, hatte er ihm angetrunken mehrmals in freundschaftlicher Manier auf die Schulter geklopft und sein lautes, schallendes Lachen gelacht. Es hatte Madara einiges an Überwindung gekostet, Hashirama nicht am Kragen zu packen und ihn zu schütteln. Madara und Hashirama kannten sich, seit sie Kinder waren. Sie hatten dieselbe Schule besucht, dieselbe Universität, und sie waren gemeinsam an eben dieser geblieben. Es gab eine Zeit, da hatten sie sich gut miteinander verstanden, aber Hashirama war ein Einfaltspinsel. Er hatte seinen Doktortitel vor ihm erworben, und Madara schien es stets, als würde Hashirama sich einiges darauf einbilden. Er entwickelte neue Methoden, neue Ideen, die den meisten gefielen. Man griff die Methoden auf und integrierte sie in die Seminare. Man wollte die Ordnungen überarbeiten, nach seinen Vorschlägen. Dabei war er nur für die Literatur verantwortlich und nicht für das ganze Seminar. Würde er sich doch mehr darum kümmern, in seinen Aufsätzen weniger zu schwadronieren und dümmliche Vergleiche anzustellen, anstatt alles über den Haufen werfen zu wollen. Es gab dafür in Madaras Augen keinen Grund. Madara bremste seine Gedankengänge, als er merkte, dass er sich hineinsteigerte, und atmete tief durch. Seine Falten, die bereits die Beschaffenheit rauer Schluchten angenommen hatten, zogen sich in den nächsten Sekunden zurück. Er würde sich über Hashirama nicht weiter aufregen. Nein, das hatte er in der Vergangenheit oft genug getan und gebracht hatte es ihm nichts als schlechte Laune. Er verschränkte die Hände ineinander und überlegte in Ruhe, wie er ihm antworten konnte; er mochte keine offenen Angelegenheiten. Schließlich verfasste er Folgendes: Hashirama, danke. In kollegialer Verbundenheit M. U. ___ Sakura telefonierte gerade mit Ino, als es an der Tür klopfte. Madara hatte Abendessen gemacht und lud sie ein, zusammen mit ihm und Izuna zu speisen. Rasch verabschiedete sie sich von Ino, der sie eine Beschreibung der Wohnung gegeben hatte, und sprang vom Bett auf. Sie war gespannt darauf zu sehen, was Madara zubereitet hatte. Es fiel ihr schwer, sich Madara Uchiha als einen kompetenten Koch vorzustellen. Da fiel ihr ein, dass sie nicht wusste, was Madara beruflich machte. Sie schielte zu Madara hinüber und fragte sich, ob sie sich trauen würde, ihm diese Frage zu stellen. Die Küche war zugleich der Essplatz, die Einrichtung bestand aus Holz und Edelstahl. Die lackierten Oberflächen schimmerten im Licht der schlichten Lampe. Die Küche war der einzige Ort, von dem sich die Staubkörner fernhielten. Der Tisch war bereits gedeckt worden: In der Mitte ging Dampf von einem duftenden Reisberg, einer orangefarbenen Soße und separat auf Gemüse gebettetem gebratenem Fleisch aus. Izuna saß bereits am Tisch, den Kopf gesenkt, so als wollte er nicht, dass man ihm in die Augen sah. Madara tat seinem Bruder von allem etwas auf. Sie sprachen kaum. Das Essen hatte Sakura geschmeckt. Madara war mit seiner Portion als Erster fertig, und als Izuna sich in den Stuhl zurücklehnte, fragte Madara ihn: „Willst du nichts mehr essen, Izuna?“ „Ich hatte heute zu Mittagessen sehr viel“, gab Izuna zurück. Madara Brust hob sich gewaltig an, senkte sich wieder, und er nickte, wohl wissend, dass diese Gestik nicht gesehen werden konnte. Madara brachte Izuna auf sein Zimmer und verweilte dort ein wenig. Als er zurückkehrte, hatte Sakura bereits abgeräumt und abgewischt. „Trinken Sie Tee?“, fragte er sie. Sie war sichtlich irritiert ob seines impliziten Angebots, fasste sich aber schnell und bejahte. „Sehr gerne.“ Er trat an den Hängeschrank neben dem Kühlschrank und zählte die Teesorten auf, die er fand. Bald schon saßen sie zusammen am Küchentisch und tranken grünen Tee. „Herr Uchiha?“, brach Sakura irgendwann das Schweigen. Die in den Backofen integrierte Uhr zeigte 20:06 an. „Womit beschäftigt sich Ihr Bruder, wenn er alleine ist?“ Madara betrachtete den Tee in seiner Tasse. Zarte, blassgraue Blütenblätter erblühten auf dem keramischen Weiß. Einst waren sie vom kräftigen Grau gewesen. „Ich wollte mich darum kümmern, für Beschäftigungen zu sorgen, denen er gefahrlos nachgehen kann. Momentan lehnt er jede Art von Beschäftigung und zu viel Kommunikation ab. Ich denke, es ist eine Phase.“ Er hoffte, dass dem so war. Madara erinnerte sich an die Zeit, in der er zusammen mit seinem jüngeren Bruder ein Herz und eine Seele gewesen war. Keinen Schritt hatten sie ohne den jeweils anderen getan. Und wenn einer einmal einen Schritt mehr machte, wartete er, dass der andere bald nachkam. Abwesend erzählte er Sakura: „Die Zellen der Netzhaut begannen ab einem Punkt einfach abzusterben, rasant, und der Prozess konnte nicht mehr aufgehalten werden. Mich erstaunte Izunas Umgang mit dem Wissen, dass er bald erblinden würde. Ich rechnete nicht damit, dass er seinen Geist gänzlich beibehalten würde. Aber dass er sich derart zurückziehen würde...“ Madara verstummte. Sakura hielt es für unangebracht, etwas zu sagen. Eines Morgens war Izuna aufgewacht und hatte alles wie durch dichten Nebel gesehen. Er hatte nach Madara geschrien, seine zitternden Hände verzweifelt ins Bettlaken gekrallt, während die Strahlen der aufgehenden Sonne seine Haut berührten. Sein älterer Bruder, nicht mehr als ein blasser Schatten, war ins Zimmer gestürmt und hatte ihn in den Arm genommen, ihn an sich gedrückt und in der Hoffnung, ihn zu beruhigen, auf ihn eingeredet. Und Izuna beruhigte sich, verstummte. Das Beben seines Körpers ließ nach und seine klammernde Haltung fiel ab. „Seit dem Tag ist er so, wie er jetzt ist“, endete Madara und leerte seinen Tee. Kapitel 3: ----------- [center"]* Als Sakura erwachte, geweckt vom sanften Weckton ihres Mobiltelefons, war Madara längst fort. Erstaunlicherweise hatte sie sehr gut geschlafen. Entgegen ihrer Erwartungen war sie kein einziges Mal aufgewacht, sondern hatte die ganze Nacht durchgeschlafen. Sie hatte stets den Eindruck gehabt, dass man in fremden Betten die erste Zeit nicht sehr gut schlief. Die erste Nacht auf der weichen Matratze hatte sie eines Besseren belehrt. Der Himmel trug Grau, auf der Stadt schien ein Schwarz-Weiß-Filter zu liegen. Während sie sich herrichtete, legte sie sich mental einen Tagesplan zurecht: Sie würde Izuna und sich selbst Frühstück machen, für ein Frühstück müssten alle Zutaten da sein. Hiernach vermerkte sie auf ihrem imaginären Plan Einkaufen. Bis zum Mittag hatte sie Zeit für sich. Sie würde die neuste Folge ihrer Lieblingsserie sehen und vielleicht ein wenig lesen. Danach würde sie zusammen mit Izuna ein wenig spazieren gehen und sich dann ans Zubereiten des Mittagessens machen. Sakura musste daran denken, wie unsicher sich Madaras jüngerer Bruder gestern fortbewegt hatte. Und das in der Wohnung, in der er lebte. Wie lange lebten Madara und Izuna schon in dieser Wohnung? Sakura ging nicht davon aus, dass sie erst kürzlich hierher gezogen waren. Izunas Unsicherheit rührte wohl nicht nur wegen seiner Behinderung, sondern auch von seiner Einstellung zu dieser und seiner Zurückgezogenheit her. Vielleicht, wenn Izuna es nicht abschlüge, würde sie versuchen, ihm zu mehr Sicherheit und Eigenständigkeit zu verhelfen – selbstverständlich würde sie aufpassen, dass ihm nichts zustieß. Rückgängig machen konnte man seine Blindheit nicht; man war also gezwungen, mit ihr klarzukommen. Der erste Schritt war, sich im eigenen Zuhause sicher zu bewegen. Der zweite, sich mit dem Langstock anzufreunden. Madara hatte ihr ein paar Takte dazu erzählt. Es war keine gute Idee, gleich am ersten Tag mit viel Elan vorzugehen. Sie musste ihm zeigen, dass er ihr vertrauen konnte. Wenn ich mir da nicht zu viel vornehme, überlegte sie. Die Bürste ihrer Wimperntusche rutschte von ihren Wimpern, und sie schnalzte mit der Zunge. Mit einem Wattestäbchen entfernte sie sorgfältig die schwarzen Schlieren von ihrem Lid. Wimperntusche war ein fester Bestandteil ihrer morgendlichen Schminkroutine. Ohne waren ihre Wimpern blass, dünn, kurz. Mit guter Wimperntusche gewannen sie schon nach zwei Schichten an Farbe, Dicke, Länge, Schwung, und ihr Gesicht wurde ausdrucksstärker. Sie zeichnete vorsichtig ihre dünnen, fast unsichtbaren Augenbrauen mit einem Stift nach, band sich die Haare im Nacken zu einem Zopf und verließ das Zimmer. Auf dem Beistelltisch fand sie einen Umschlag mit Geld und einen Schlüsselbund; der eine Schlüssel öffnete die Tür ins Gebäude, der andere die in die Wohnung. Verwundert tastete sie mit ihren Augen über den Tisch. Madara hatte keinen Zettel hinterlassen, in dem er sich an Sakura wandte. Ihn übersehen hatte sie garantiert nicht. Sie war es gewohnt, Zettel nach dem Aufwachen vorzufinden, auf Tischen, Wänden, Türen. Man begrüßte sie entweder mit einem guten Morgen oder schrieb ihr zur Erinnerung stichwortartig auf, was sie zu erledigen hatte. Hieß das, dass er sie für sehr verantwortungsvoll und fähig einstufte? Das war sie natürlich, dennoch wunderte sie sich über Madaras offensichtliches Vertrauen. Sie erinnerte sich an seine gestrigen Worte: Sie können in dieser Wohnung grundsätzlich tun und lassen, was Sie wollen, sofern Sie sich um meinen Bruder kümmern. Und, was ich Ihnen nicht so recht zutraue, nicht mutwillig Unruhe bringen oder Gegenstände zerstören. Ihr wurde etwas mulmig zumute, wie damals, als sie sich mit Madara via E-Mail-Funktion ausgetauscht hatte. Sie schüttelte leicht den Kopf und klopfte an Izunas Tür. Er sagte nichts. Sie trat dennoch ein. Er saß am Tisch, wie auch gestern. Sein Kopf war zur Tür gerichtet, seine Körperhaltung steif. Die Hand war zu Faust geballt und schwebte über dem Tisch. „Frau Haruno?“ Sie fühlte sich bei diesen Worten und seiner Stimme in ihrer These, die sie vor dem runden Spiegel beim Schminken aufgestellt hatte, bestätigt, denn er hatte sehr unsicher geklungen. Sie versicherte ihm, dass es nur sie sei. Sie konnte beobachten, wie sein Körper sich entspannte. Er atmete hörbar aus, wie im Augenblick tiefster Erleichterung, und wandte sich von ihr ab. Die Faust sank auf die Tischplatte. Sakura machte einige Schritte auf ihn zu und fragte dann, ob er Wünsche fürs Frühstück habe. „Ihr Bruder erstellte mir eine Liste mit Gerichten, die Sie mögen. Aber ich wollte nicht einfach etwas wahllos zubereiten“, erklärte sie ihm in der Hoffnung, er würde sich kooperativ zeigen. Ihre Hoffnung war vergeblich, er beteuerte mehrere Male, dass er keinen Hunger habe. Sie hatte sich schon gefragt, weshalb Madara eine Liste erstellt hatte, schließlich konnte Izuna sprechen und besaß mit Sicherheit seine Präferenzen. Madara hatte ihr gestern erzählt, dass Izuna manchmal behauptete, keinen Hunger zu haben. Doch wenn Madara ihn zusammen mit dem Essen für eine Weile alleine ließ und dann wiederkam, war der Teller meistens leer. Er hatte ihr aufgetragen, dennoch Essen zuzubereiten und es Izuna vorzusetzen, bereits zurechtgeschnitten, ohne Messer, ohne stumpfe Gabel. Sie solle ihn anrufen, wenn Izuna dem Essen oder anderen Dingen entsagte. Sie befand es für eigenartig, hatte aber tatsächlich schon einmal von Patienten und Pflegebedürftigen gehört, die sich zu essen geweigert hatten. Sobald sie allerdings den Geruch von Essen in ihrer unmittelbaren Nähe gerochen hatten, war ihnen das Wasser im Mund zusammengelaufen und sie hatten in Abwesenheit ihrer Pfleger nach Messer und Gabel gegriffen. Als sie das nächste Mal hereinkam, rührte sich Izuna nicht von der Stelle. Wortlos trug sie ein beladenes Tablett zum Tisch. Sie hatte erwartet, dass Worte fielen wie: Ich sagte Ihnen doch, dass ich keinen Hunger habe. Doch er sprach kein Wort. Sie beobachtet seine Mimik, beobachtete, wie sich Falten über seiner Nase bildeten, wie sich seine Nasenhöhlen etwas weiteten, um den Duft von gebratenen Eiern und Reis einzusaugen. Sie lächelte. Er versuchte ausfindig zu machen, was sich vor ihm befand. „Löffel links, Gabel rechts. Ich bin bis zwölf da, dann werde ich einkaufen gehen“, setzte Sakura ihn in Kenntnis. „Sie können mich jederzeit zu sich bestellen.“ Wie erwartet, hatte Izuna aufgegessen. Alles. Obwohl sie eine große Portion gemacht hatte und Izunas Energieverbrauch längst nicht mehr so hoch war wie früher, immerhin saß er meistens in seinem Zimmer. Zu gerne hätte sie gewusst, womit sich Izuna beschäftigt hatte, bevor er sein Augenlicht verlor. Die Böden der Regale in Izunas Zimmer bogen sich unter zahlreichen Büchern. War er passionierter Leser gewesen? Sie beförderte Teller und Besteck in die Spülmaschine und widmete sich danach ihrem eigenen Wesen. Gegen 12:00, nachdem sie bei Izuna vorbeigeschaut hatte, brach sie zum Einkaufen auf. Izuna war auf dem Weg ins Bad, als sie mit einer vollen Tüte die Wohnung betrat. „Ich werde nur schnell alles einräumen, dann können wir spazieren gehen“, teilte sie ihm mit. Izuna hörte, wie sie Schränke aufmachte und wieder schloss, hörte die Tüte rascheln, wann immer Sakura in sie griff. „Ich möchte nicht raus“, sagte er, als er sich sicher war, dass Sakura fertig war. „Aber Ihr Bruder…“ „Ich will keine Spaziergänge“, schnitt er ihr das Wort ab und verschwand im Bad. ___ Madaras Büro befand sich im dritten Stockwerk. Vor der Tür in sein Büro, das er meistens mit dem Aufzug erreichte, hielt Madara an. Jemand hatte ihn gerufen, beim Vornamen. Er hatte anhand der Stimme erkannt, wer nach ihm gerufen hatte. An Madaras Seite, gleich einem Hund, den man soeben gerügt hatte, stand seine bebrillte Sekretärin. Madara hatte sie im Aufzug getroffen und sie verbal auseinandergenommen. Er hatte ruhig gesprochen, doch seine Wortwahl und die Tatsache, dass er sie nicht angesehen hatte, als wäre sie etwas Niederes, hatten sie sehr getroffen. Den Tränen nahe, stockend hatte sie ihm erklärt, dass es nicht ihre Absicht gewesen sei. Hashirama verwickelte sie gestern auf dem Gang in ein langes Gespräch, bei dem er mehrfach seine tiefe Sorge zum Ausdruck brachte. Er wollte nicht von ihrer Seite weichen, bis er erfahren hatte, weshalb Madara so lange schon abwesend war. Auf der einen Seite war es verständlich, dass sie einem Gespräch mit Hashirama schnell entkommen wollte, indem sie ihm einfach die Wahrheit sagte; auf der anderen war es bestimmt möglich gewesen, ihn mit etwas Härte, gehobener Unhöflichkeit oder Ignoranz abzuweisen. Dazu war seine Sekretärin mit aller Wahrscheinlichkeit aber nicht in der Lage. Sie war nett, liebevoll, höflich, zuvorkommend. Sie wischte Staub, lüftete, goss die Pflanzen – auch in seinem Büro, obwohl er es nicht von ihr verlangte. Madara wies seine Sekretärin an, in ihr eigenes Büro zu gehen, sie habe bestimmt einige Aufgaben zu erledigen. Nervös schaute sie von einem Mann zum anderen, ehe sie sich in ihr Büro zurückzog. Die zwei Männer sahen sich an. Hashirama Senju war einige Zentimeter größer als Madara. Sein Haar war lang, glatt, dunkelbraun, ebenso seine Augen, und heute ein wenig zerzaust. Er trug häufig zerknitterte Hemden, so auch heute. Zusätzlich hatte er die Knöpfe falsch zugeknöpft. In seinen Händen hielt er zwei Bücher. So, wie Hashirama vor ihm stand, war er die personifizierte Literaturwissenschaft. Ein Blick in sein Büro genügte, um der Metapher beizupflichten: überall Bücherstapel. Auf den Tischen, auf dem Boden, in Sesseln. Lose Blätter flogen umher. Es war, als hätte Mutter Chaos selbst in diesen vier Wänden getobt. Madara hatte darüber häufig nachgedacht. Es musste ein ungeschriebenes Gesetz dafür geben, dass Literatur- und Sprachwissenschaft und deren Anhänger in Opposition zueinander standen. Der deutliche Antagonismus konnte nicht übersehen werden, trotz der bestehenden und unabdingbaren Analogie: Es waren beide Wissenschaften. Nur dass Literatur Madaras Ansicht nach zur Hälfte irrsinniges Geschwätz war, dem ganzen fehlte die überschaubere Ordnung, die strenge Systematik, die Linguistik mit sich brachte. Weshalb suchte man in einem Text nach etwas, das nicht präsent war, das vom Autor nicht beabsichtigt worden war? Weshalb erdachte man sich Abstrakta und Ideale? Er war Genussleser und fest davon überzeugt, dass man Dingen, die eine pure Zufallsfunktion erfüllten, eine zu hohe Bedeutung schenkte. Es war Hashirama, der die Stille durchbrach. „Du bist wahrscheinlich nicht begeistert, was ich alles aus deiner Sekretärin herausgeholt habe. Nimm es ihr nicht übel“, sagte er verlegen. Er kratzte sich am Kopf und fing an zu lachen. Madara verdrehte innerlich die Augen, kommentierte die Worte des anderen aber nicht. Hashiramas Lachen verstummte abrupt und sein Gesicht wurde ernst. Madara konnte sich nicht erinnern, ihn jemals so gesehen zu haben, weswegen er die Brauen zusammenzog. Was kam nun? Viel Zeit hatte er nicht. Er musste noch in sein Büro, dann in den Druckerraum und dann quer durch den halben Campus in das Gebäude, in dem er eine Einführung halten würde. „Ich weiß, dass...“ Hashirama hielt inne, als einige plaudernde Studenten um die Ecke bogen. Er fuhr fort, als sie im Seminarraum verschwanden: „... uns an unseren jüngeren Brüdern viel liegt. Damals wie heute. Als deine Sekretärin mir sagte, was mit Izuna geschehen ist, dachte ich darüber nach, wie es mir ergehen würde, wenn Tobirama etwas zustoßen würden.“ Er lächelte traurig und zuckte die Achseln. „Ich würde es wahrscheinlich nicht überleben.“ Madara begriff nicht, worauf Hashirama genau hinauswollte. „Sage mir doch, bitte, wie es Izuna nun geht“, formulierte Hashirama endlich seinen Wunsch. „Ich benötige nichts weiter als eine kurze Information.“ Er bat ihn um etwas, mit aufrichtigem Interesse in der Stimme und einem Flehen in den Augen. Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass sie sich über Privates unterhielten. Madaras innere Stimme sprach zu ihm, und sie sagte, er solle Hashirama einfach im Gang zurücklassen. Beinahe hätte er auf sie gehört und sich umgedreht, beinahe. Es drängten sich ihm Bilder aus der fernen Vergangenheit und Eindrücke der nahen auf. Hashirama würde nicht lockerlassen, ganz bestimmt nicht. Mit Sicherheit würde er ihm Tag für Tag auflauern und ihn immer und immer wieder nach Izunas Verfassung fragen. Es brachte gar nichts, ihm nicht zu antworten, denn er wusste bereits sehr viel. Früher, als Madara und Hashirama noch befreundet waren, kam es manchmal vor, dass Hashirama unangekündigt vor der Tür stand. Um Himmels Willen, nicht, dass dieser Einfaltspinsel noch auf die Idee käme, ihm und seinem Bruder einen Besuch abzustatten, um selbst nach Izuna zu sehen! Izuna wäre mit Sicherheit noch weniger erfreut als er selbst. „Seit heute kümmert sich eine junge Pflegerin um ihn“, antwortete Madara nach gründlichem Nachdenken. Er wandte seinen Blick vom Hashirama ab, holte aus der Hosentasche sein Mobiltelefon hervor. Er wollte wissen, wie spät es ist. Es war kurz nach zwei, und Madara sah, dass Sakura ihn vor wenigen Minuten erst angerufen, dann ihm eine Nachricht geschrieben hatte, in der sie ihn um einen Rückruf bat. Ohne ein Wort an Hashirama, der zum Sprechen angesetzt hatte, zu verlieren, eilte er zu der Tür auf den Balkon, die zwischen seinem Büro und dem Druckerraum lag. Es war Ewigkeiten her, dass er so etwas wie nackte Panik in sich aufkeimen spürte. Was war passiert? War Izuna etwas zugestoßen? Hatte Sakura Haruno einfach nur Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden? Er hoffte auf Letzteres. „Guten Tag, Herr Uchiha“, hörte er Sakuras Stimme am anderen Ende der Leitung. „Guten Tag, Frau Haruno. Sie schrieben vorhin. Was ist passiert?“ „Ich wollte mit Izuna spazieren gehen. Aber er weigert sich. Er argumentiert, dass er frische Luft auch bekommen kann, wenn er das Fenster aufmacht. Sollte er es wollen, einen Schritt vor die Tür zu setzen, würde er garantiert nicht seinen Stock benutzen.“ Erleichterung überkam ihn. Sakura sprach weiter, er hörte ihr zu. Sie klang nicht genervt und kam professionell und geduldig herüber. Hashirama, den Madara komplett vergessen hatte, lehnte am Türrahmen. Es war ihm bewusst, wie unhöflich es war, andere Menschen beim Telefonieren zu belauschen, aber seine Neugier ließ Weghören nicht zu. Schließlich sprach Madara: „Geben Sie ihn mir für einen Moment... Weshalb willst du nicht aus der Wohnung, Izuna?“ Sein Tonfall war nicht schellend, sondern ruhig. Izuna erzählte ihm vorerst nichts, was Sakura ihm nicht schon erzählt hatte, fügte dem aber an: „Letztendlich ist sie eine Fremde, Madara.“ Madara war sich bewusst gewesen, dass Izuna Schwierigkeiten haben würde, Sakura von vornherein zu akzeptieren. „Sei nicht so, Izuna. Sie ist eine gute Pflegerin und du wirst dich an sie gewöhnen.“ „Ich will nicht raus. Ich mag diesen Stock nicht.“ „Du sitzt schon seit Tagen zu Hause. Das Fenster aufmachen ist nicht dasselbe wie spazieren gehen und das weißt du auch. Deinen Stock brauchst du und der Spaziergang wird kaum länger als eine halbe Stunde dauern.“ „[i"]Einmal am Tag sollten Sie ihn...“, zitierte Izuna seinen Bruder. „Ausführen? Wolltest du gestern erst ausführen sagen, Madara? Ausführen, wie einen Hund?“, zischte er. Diesen Vergleich hatte Izuna schon einmal gebracht. Und eben dieser Vergleich hatte dafür gesorgt, dass sie sich gestritten hatten, sehr laut geworden waren und sich erst am nächsten Tag vertragen hatten. Madara würde nicht zulassen, dass es zu einem erneuten Streit kam, erst recht nicht telefonisch. Er ging auf Izunas Worte nicht ein. „Wir hatten eine Abmachung“, sprach er stattdessen, „erinnerst du dich noch daran?“ Schweigen. Madara seufzte schwer. „Tue es für mich, wenn du es schon nicht für dich tun willst.“ Für eine Weile sagte keiner der Brüder etwas. Izuna dachte nach – Madara wartete. Schließlich sagte Izuna: „In Ordnung.“ Sogleich reichte er Sakura das Telefon. Madara bedankte sich bei der jungen Frau für den Anruf und legte auf. Hashirama stellte sich neben ihn, betrachtete sein Profil und fragte sich, was für eine Abmachung die beiden getroffen hatten. Madaras Blick war scheinbar auf das gegenüberliegenden Gebäudeteil gerichtet, die Bibliothek. In Wirklichkeit war sein Blick ins Nichts gerichtet. „Ist alles in Ordnung?“, traute sich Hashirama schließlich zu fragen. Madara schloss für einen Moment die Augen, fuhr sich durch das Haar und machte dann auf dem Absatz kehrt. Er sah Hashirama nicht an. „Ich bin in Eile. In fünf Minuten beginnt die Einführung in die historische Sprachwissenschaft.“ Kapitel 4: ----------- [center"]* Im Zustand schrecklichster Unsicherheit, die ihn mit den Zähnen knirschen und auf der Unterlippe kauen ließ, setzte er einen Fuß vor den anderen. Die empfundene Hilflosigkeit zwang ihn zur Kommunikation mit Sakura; sie bestand zwar aus verneinen, bejahen und kurzen Aussagen seinerseits, doch Sakura war mehr als froh darüber, dass sich der jüngere Uchiha-Bruder nicht gänzlich reserviert verhielt. Izuna hatte das Gefühl, mehrere Kilometer hinter sich gebracht zu haben. Dabei befanden sie sich immer noch auf dem Etagenflur und steuerten den Aufzug an. Seine linke Hand war behandschuht, seine rechte, blass und dünn, tastete über die weiße Wand. Sie war kalt. Izunas Fingerkuppen stießen immer wieder auf winzige runde Erhebungen, die sich wie Beulen anfühlten. Als er noch hatte sehen können, war ihm diese Wand ebenmäßig und glatt erschienen. Die Welt außerhalb seines Zimmers war so anders, seit Izuna nicht mehr in der Lage war, deutliche Linien und Formen wahrzunehmen; sie fühlte sich fremd an. „Wir sind gleich am Aufzug“, sagte Sakura. Sie bewegten sich langsam und Sakura wich nicht von seiner Seite. Sie rief den Aufzug erst, als die beiden neben der Tür zum Stehen gekommen waren. Izuna machte vorsichtig einen Schritt nach vorne, vernahm ein dumpfes Geräusch. Es war entstanden, als er seinen Fuß auf den Aufzugboden gesetzt hatte. Sich kurz über die Lippen leckend, setzte er auch seinen zweiten Fuß in den Aufzug. Er hörte, wie Sakura eintrat und einen Knopf betätigte. Die Aufzugtüren schlossen sich. Sakura sah ihn an. Izuna lehnte an der gegenüberliegenden Wand und starrte nach oben, zur hellen Fahrstuhlbeleuchtung. Sie betrachtete ihn aufmerksam, sein Haar, sein Gesicht. Das Haar war ein wenig fettig, das Gesicht fahl, eingefallen. Und traurig. Sie nahm die Augen von ihm und strich sanft über den Langstock, den sie Izuna nach seinem eigenen Wunsch erst nach dem Verlassen des Gebäudes geben würde. Draußen streifte sich Izuna die Kapuze seiner schwarzen, gefütterten Jacke über. Sakura fragte ihn, ob sie ihm den Stock geben solle, und er bejahte. Während der Fahrt in das Erdgeschoss hatte er über die junge Pflegerin nachgedacht. Über sein Verhalten von vorhin und über das Telefonat mit Madara sowie die Vereinbarung, die Madara angesprochen hatte. Ja, es war ihm höchst zuwider, einen fremden Menschen um sich zu haben, aber es war ihre Arbeit. Würde er sie vergraulen, würde ihm das sein Bruder sicherlich übel nehmen. Madara vertraute ihr anscheinend. Aber Madara konnte sie, im Gegensatz zu ihm, sehen: Er konnte in ihre Augen schauen, konnte ihre Gesichtszüge lesen, sah, was sie tat, wenn sie gerade nicht in seiner Nähe war. Er hatte seinem Bruder immer bedingungslos vertraut. In dieser Angelegenheit jedoch fiel es ihm schwer. Sie reichte ihm den einteiligen Langstock und er umfasste ihn mit beiden Händen. Vor einer Weile, als er noch schemenhaft hatte sehen können, hatte er an einem Schulungsprogramm teilgenommen. Er wusste, wie er mit dem Langstock umzugehen hatte, obwohl er nicht viel mit ihm getan hatte. Er positionierte das Ende des Stocks auf den Boden und atmete tief durch. Er tat es für Madara. Nicht für sich, nein. So viel bedeutete er sich selbst nicht mehr. Und er mochte diesen Stock nicht. Er beschrieb einen imaginären Fächer mit seinem Hilfsinstrument und setzte sich in Bewegung. Als er sechzehn Jahre alt gewesen war, war er auf einem vollen Bahnsteig aus Versehen über den Stock eines Blinden gestolpert und hatte das teuere Instrument kaputt gemacht. Der Mann war auf dem Weg zur Arbeit gewesen, zur Arbeit. In Izunas Vorstellung war es ein Unmögliches gewesen, blind zu sein und zu arbeiten. Der Mann hatte sogar sein eigenes Büro, zu dem ihn Izuna begleitete. Er hatte ein sehr schlechtes Gewissen, auch wenn er sich nicht als Schuldiger sah; die Menschen verhielten sich auf Bahnsteigen einfach unmöglich. Zu Hause habe er einen Ersatz, wurde Izuna von dem Mann versichert. Seine Mutter könne ihn am Ende des Tages abholen. Der Mann war froh darüber, dass Izuna nicht einfach weggelaufen war. Das sei schon einmal vorgekommen. Die Begegnung mit dem blinden Arbeiter hatte sich in Izunas Gedächtnis eingebrannt. Er hatte sich den Mann als Beispiel, als Vorbild nehmen wollen. Madara, dem er davon erzählt hatte, erinnerte ihn einige Male an die Begegnung, versuchte, seinem Bruder Mut zu machen. „Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass manche Dinge nicht von allen Menschen realisierbar sind.“ Das waren die Worte, die Izuna an seinen Bruder richtete. Das waren die Worte, die Madara klarmachten, dass sein Bruder aufgegeben hatte, dass er sich verändert hatte. Ein breiter Weg aus Steinen führte um das Haus herum, vorbei an einem kleinen Kinderspielplatz, der leer dastand, einer grauen Wiese, auf der im Sommer Kinder tollten, und Müllcontainern. Blätterlose Bäume säumten sporadisch den Weg, und die Spitzen der dunklen Äste berührten sich schüchtern. Im Hintergrund der farblose Himmel. Izuna sah ihn nicht, aber er glaubte, ihn mit jeder Faser seines Körpers zu spüren. Sakura dagegen sah ihn, und sie wünschte, dass es entweder bereits Frühling wäre oder Schneeflocken im Sonnenlicht funkelten.   Izuna hatte das Gefühl, dass eine halbe Ewigkeit vergangen war, seitdem er das letzte Mal draußen gewesen war. Sich draußen aufhalten unterschied sich tatsächlich vom Aufenthalt im Zimmer bei geöffnetem Fenster und gelüftetem Zimmer. Man fühlte sich lebendiger. Das wache Gefühl in den Beinen, der Boden unter den Füßen. Die Kälte legte sich auf die Wangen wie Reif. Man fühlte sich aber auch weitaus unsicherer als in den eigenen vier Wänden. Er bewegte sich schleppend. Manchmal kam Izuna zum Halt, verharrte für einige Sekunden an Ort und Stelle und brachte seine Beine dann wieder in Bewegung. Manchmal vergaß er, dass Sakura anwesend war, ihm auf Schritt und Tritt folgte und auf ihn aufpasste wie die Mutter auf ihr kleines Kind, und erst wenn sie etwas sagte, wurde er sich ihrer Gegenwart wieder gewahr. Manchmal kam er sich albern vor: So oft war er diesen Weg entlang gegangen, auch mit Madara zusammen. Er hatte sich auf den Spaziergängen stets bei seinem Bruder eingehakt, da er eine Abneigung gegenüber dem Stock entwickelt hatte. Auf ihrem Spaziergang trafen die beiden auf einen nicht angeleinten Hund. Der Hund, ein junges, aufgeregtes Tier mit goldfarbenem Fell, lief, als er Izuna und Sakura erblickte, auf die beiden zu, umkreiste sie, schnüffelte an ihnen und schlug mit seinem Schweif freundlich durch die Luft. Izuna erstarrte auf der Stelle, beinahe vergaß er zu atmen, so sehr hatte er sich erschreckt. Sakura bemerkte sein großes Unbehagen, ging in die Knie, um die Aufmerksamkeit des Hundes ausschließlich auf sich selbst zu lenken. Sie fuhr ihm durch das weiche Fell, sprach liebevoll zu ihm und erkundete aufmerksam die Umgebung, suchte nach dem Besitzer des Hundes. Er erschien bald in ihrem Blickfeld, und als er seinen Hund sah, eilte er zu Sakura, entschuldigte sich mehrfach bei ihr. „Er beißt nicht, wirklich“, beteuerte der junge Mann. Er hatte das Tier bereits angeleint und kratzte sich verlegen am Kopf. Sakura winkte ab und bat den Mann darum, das nächste Mal aufmerksamer zu sein. Der Hund habe ihre Begleitung erschreckt. Auch bei Izuna entschuldigte sich der Mann. Izuna antwortete nicht, sondern betastete den Griff des Langstocks, um seinen Schrecken und seine innere Aufregung abzubauen. Als sich der Besitzer zusammen mit seinem Hund entfernt hatte, sagte Sakura: „Wir können unseren Spaziergang fortsetzen, wenn Sie möchten. Wir können allerdings auch zurück nach Hause gehen.“ „Nach Hause“, lautete die knappe Antwort. Sakura nahm seinen Wunsch hin. Als sie wieder daheim waren, bot die junge Pflegerin Izuna an, sich zu duschen. Er nahm das Angebot an. Es war vier, wenn nicht fünf Tage her, dass er sich das letzte Mal gewaschen hatte. Nicht, dass er seine Hygiene geflissentlich vernachlässigte, doch da er die meiste Zeit ohnehin nur saß und sich kaum bewegte, fühlte er sich sauber, zudem schwitzte er kaum. Er fuhr sich einige Male durch das Haar und stellte fest, dass es sich leicht fettig anfühlte. Eine unangenehme Empfindung ergriff von ihm besitzt, er schüttelte sie rasch ab. Er ging in sein Zimmer, und Sakura warf einen Blick auf ihr Handy. Madara hatte ihr geschrieben. Frau Haruno, ich hoffe, dass Izuna Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereitet und dass der Spaziergang gelungen war. Sakura verfasste rasch eine Antwort, in der sie schrieb, dass Madara sich keine Sorgen zu machen brauche. Alles sei in bester Ordnung, der Spaziergang ein kleiner Erfolg. Nachdem sie die Nachricht abgeschickt hatte, machte sie sich an die Zubereitung des Mittagessens heran; zuerst würde sie eine Suppe kochen. Während die Suppe kochte, bereitete sie alles im Bad vor, erkundigte sich, ob Izuna bestimmte Kleidung tragen wolle, die sie ihm bereitlegen konnte. Als alles vorbereitet worden war und Sakura ihn darum gebeten hatte, nach ihr zu rufen, wenn er etwas benötige, schloss er sich im Bad ein und entkleidete sich gemächlich. Seine Hände ertasteten die Türen, sein rechter Fuß glitt sachte über den Boden und stieß gegen den Duschrand. Izuna kletterte in die Dusche, verschloss die Türen und ließ das Wasser auf seinen Körper prasseln. Wasser. Er hatte sich von klein auf mehr zu Feuer hingezogen gefühlt, wie sein Bruder auch. Doch Wasser, Wasser im flüssigen Zustand und großen Mengen war faszinierend. Madaras und Izunas Eltern hatten bis zu zweimal monatlich die große Wanne mit warmem Wasser füllen lassen, und die beiden Brüder hatten nichts lieber gemacht, als tauchen zu spielen. Er hatte anfänglich Angst, die Augen unter Wasser zu öffnen. Irgendwann, als sein Bruder ihn deshalb neckte, tauchte er unter und riss die Augen auf. Er sah verschwommen. Es war ihm bald unangenehm in den Augen und so tauchte er wieder auf. Ein späteres Stadium seiner fortschreitenden Blindheit hatte Izuna mit dem Aufenthalt unter Wasser verglichen. ___ Mit nassem Haar saß Izuna am Tisch und bewegte seine Finger wie jemand, der eben aus einer tiefen Starre erwacht war. Als Sakura mit dem Mittagessen hereinkam, schüttelte sie beim Anblick Izunas den Kopf. Sie stellte das Tablett vor Izuna ab und sagte: „Sie könnten sich ernsthaft erkälten.“ Eine verbale Reaktion erhielt sie nicht, dafür drehte Izuna seinen Kopf zu ihr. „Ich würde Ihnen zumindest die Spitzen abtrocknen, wäre das in Ordnung?“, fragte sie. Sie dachte, er würde Einwände erheben, doch kein Wort kam über seine Lippen. Bevor sie das Zimmer betreten hatte, hatte er nachgedacht. Sie verschwand, und Izuna glaubte, sie vergrault zu haben. Ein schlechtes Gewissen hatte er jedoch nicht. Sakura kam mit zwei Handtüchern zurück. Sie informierte ihn darüber, dass sie sein Haar jetzt abtrocknen werde, trocknete mit dem einen Handtuch sanft und ohne großartige Reibung die Spitzen ab. Das andere Handtuch legte sie auf Izunas Schultern. „Ich habe nicht zugestimmt“, sagte Izuna. Er hatte ruhig gesprochen. Er war nicht wütend oder derlei, vielmehr drifteten seine Gedanken sekündlich ab. Die junge Frau sagte eine Weile nichts. „Weder bejahten noch verneinten Sie, also ging ich davon aus, dass es Ihnen egal ist“, antwortete sie dann, gerade als Izuna ein wenig nervös geworden war, und klärte ihn auf, was er da vor sich habe und wo das Besteck liege. „Wissen, Sie, ich denke, Ihr Bruder wird sich weitaus mehr Sorgen machen, wenn Sie sich erkälten, als er es jetzt schon tut.“ Ihre Antwort überraschte ihn so sehr, dass Izunas Mund einige Sekunden lang offen stand. Es war, eigentlich, ein logischer Schluss, und er wusste nichts darauf zu erwidern, selbst nach längerem Nachdenken. Und so widmete er sich seinem Mittagessen, das aus gebratenen grünen Bohnen, Avocadoscheiben und Nudelsuppe bestand. ___ Madara kam gegen 20:00 Uhr zurück. Sakura trat aus ihrem Zimmer, als er sich seiner Schuhe entledigte. Aus irgendeinem Grund wirkte er weitaus bedrohlicher als bei ihrem ersten Treffen, und sie war sich nicht sicher, ob sie ihn grüßen sollte. Er war gerade so anders als gestern Abend. Sein Haar wirkte voluminöser, wilder, sein Gesicht war hart wie Stein. Er wirkte größer. Nicht menschlich, sondern tatsächlich wie ein ungebändigtes Tier. Sein Blick fiel nur kurz auf sie. Wortlos rauschte er an ihr vorbei in sein Büro, und ein seltsamer Geruch erreichte sie, den ihre Nase nicht einordnen konnte. War es sein eigener Duft? Gestern hatte er anders gerochen. Madara verweilte nur wenige Sekunden in seinem Büro. Sein nächstes Ziel war die Küche. Sakura zuckte zusammen, als sie den Kühlschrank aufgehen hörte, und begab sich in die Küche. Unsicher sagte sie: „Es ist etwas vom Abendessen übrig geblieben. Wenn Sie möchten, kann ich es Ihnen warm machen.“ Er sah sie an. Ihr kam es vor, als wäre ihre Anwesenheit nicht erwünscht, als hätte sie ihn mit ihren Worten erzürnt. Sie war sich sehr sicher, dass es nicht an ihr lag, dennoch verspürte sie großes Unbehagen. Beinahe Angst. Madara bemerkte, dass Sakura sich unwohl fühlte. Er senkte die Lider, atmete hörbar aus und sagte: „Guten Abend, Frau Haruno. Sie können mir etwas davon warm machen, ja.“ Er klang gereizt. Sie zögerte, und erst als er sich an den Tisch setzte, seinen Kopf in die Hände legte und sich entschuldigte – für was genau, sagte er nicht –, lud Sakura Essen auf einen Teller und stellte diesen in die Mikrowelle. Sobald er von ihren gefüllten Teigtaschen probiert hatte, erweichten seine Gesichtszüge und seine Augen weiteten sich ein Stück. Er fragte, woraus genau die Füllung bestand, und sie erwiderte, die Füllung bestehe aus Ei, Rindfleisch und Gewürzen. Keine Frage, diese junge Frau konnte sehr gut kochen. „Sie müssen nicht die ganze Zeit stehen“, richtete er das Wort an sie, als er die zweite Teigtasche zu seinem Mund führte. Das letzte Mal gegessen hatte er am frühen Nachmittag. Sie setzte sich. Unter dem Tisch spielte sie mit ihren Fingern, in ihrem Kopf überlegte sie, ob es eine gute Idee wäre, Madara zu fragen, ob alles in Ordnung sei. Offensichtlich war es das nicht ganz, sie hätte allerdings gerne gewusst, weshalb er heute so anders war als gestern. „Es hatte keine Probleme mit Izuna gegeben, nicht wahr?“ Madara hatte aufgegessen und sich in den Stuhl zurückgelehnt. Man konnte nicht behaupten, dass der erste Arbeitstag seit Wochen besonders schön gewesen war. Derart viele Studenten, derart viel Stress. Und am Ende des Tages auch noch Hashirama, der ihn auf dem Parkplatz abgefangen hatte. Madara konnte sich in dem Moment nicht zusammenreißen und so verließ seine Kehle ein Laut, der von Genervtsein zeugte: ein langes, tiefes Eh. Zum Glück wollte Hashirama seine Nase dieses Mal nicht in seine privaten Angelegenheiten stecken; er hatte eine legitime Frage zum sprachwissenschaftlichen Kolloquium, die Madara folgendermaßen beantwortete: „Negativ, Hashirama.“ Und dann war er auch schon ins Auto gestiegen. Madara hatte den Eindruck, dass Sakura sich von ihm eine Erklärung für sein Verhalten erhoffte. Besonders viel Lust, darüber zu reden, hatte er gerade nicht. Und überhaupt war er zu keiner Erklärung verpflichtet. „Nein, es gab keine weiteren Probleme“, antwortete Sakura überrascht. Es schien, als würde sich eine Konversation aufbauen, wie am gestrigen Tag auch. Sie rekonstruierte den Tagesablauf und berichtete detailliert von Izunas Umgang mit ihr und vom Spaziergang. Während sie erzählte, entspannte sich Madara ein wenig. Gleich würde er eine Dusche nehmen, sich umziehen und Izuna aufsuchen. „Das hört sich gut an“, kommentierte Madara, nachdem Sakura geendet hatte. „Ich hoffe sehr, dass er Sie vollständig akzeptiert.“ Sakura lächelte. „Ja, das wäre schön.“ Kapitel 5: ----------- [center"]* Die nächsten Tage verliefen ohne Zwischenfälle. Ohne es selbst wirklich zu merken, wurde Izuna sicherer bei Spaziergängen. Gesprächiger wurde er dadurch allerdings nicht, im Gegenteil, und jeder ihrer Versuche, eine Konversation entstehen zu lassen, scheiterte an seinen einsilbigen Antworten und seinem andächtigen Schweigen. Dennoch wollte sie nicht komplett aufgeben, ihm ein wenig näher zu kommen. Sie mussten keine Freunde sein, aber einen guten Draht zu Izuna würde sie nur allzu gerne haben. Abends berichtete sie Madara von den Fortschritten, die Izuna gemacht hatte, und wie er sich ihr gegenüber verhielt. Nie sprach Madara über sich, sondern nur über seinen Bruder. Sie begriff, wieso, wünschte sich aber, er würde ihr auch von sich selbst erzählen. Nach wie vor traute sie sich nicht, ihm Fragen bezüglich seiner Person zu stellen. Am Freitagabend erhielt sie ihr erstes Gehalt. Madara würde das Wochenende anwesend sein, also beschloss sie, den Nachmittag des darauf folgenden Tages außerhalb der Wohnung zu verbringen; sie würde die Stadt erkunden, Geschäfte, Sehenswürdigkeiten inspizieren und einen Einkaufsbummel machen. Sie konnte und wollte sich nicht ausschließlich in der Wohnung aufhalten, obwohl sich mit Sicherheit etliche Beschäftigungen finden ließen, denen sie in ihrer freien Zeit nachgehen könnte. Sie hatte sich schon darüber informiert, welchen Bus sie wann und wo nehmen musste, um in die Stadt zu gelangen. Zu ihrer Überraschung gab Madara ihr das Geld für eine Tageskarte. Er beharrte beinahe darauf, dass sie es annehmen sollte – und sie tat es schließlich auch. Sie bedankte sich bei ihm, zog sich an und verließ die Wohnung. Die Stadt war lebendig und menschenvoll. Geschäft reihte sich an Geschäft, es gab viele kleine Cafés, einige Restaurants und hier und da ragten Denkmäler längst verstorbener Poeten und Philosophen in den Himmel. Diese Stadt legte fiel Wert auf Dekoration: Dezente Blumenmuster schmückten viele Gebäude, sie begegnete kleinen Brunnen und monochromen Plastiken. Heute war es ein wenig wärmer als an vergangenen Tagen. Sie machte vor einem Gebäude halt, das sich als Opernhaus entpuppte, und fotografierte den prächtig gestalteten Eingang und die hohen Fenster. Sie fand bald ein Kino, ein Theater und ein Museum. Wenn Sakura nichts zu tun hatte, konnte sie eine der Einrichtungen besuchen. Es war eigenartig, alleine durch die Stadt zu spazieren, denn für gewöhnlich hatte sie ihre Freundinnen oder ihre Mutter dabei. Während sie Schminke, Kleidung und Dekorationsartikel betrachtete, hochpigmentierte Lidschatten, cremige Lippenstifte auf ihren Unterarm brachte und sie mit einem Tuch abtrug, unterschiedliche Stoffe befühlte und Oberteile anprobierte, fing sie an, Familie und Freunde ein wenig zu vermissen. Sie war noch nie so weit weg von zu Hause gewesen. Wie oft würde sie die, die sie liebte, im nächsten halben Jahr zu Gesicht bekommen? Sie hatte sich freiwillig für diesen Job beworben, hatte freiwillig Freunde und Familie zurückgelassen. Ihre Entscheidung bereute sie nicht, ihr war aber bewusst, dass sie sie alle bald noch mehr vermissen würde. Ein Glück, dachte sie bei sich, dass ich Single bin. Sie würde versuchen, wenigstens einmal im Monat für ein Wochenende in ihre Heimatstadt zu fahren. Zu schade, dass sie ihre Freundinnen oder ihre Familie nicht einfach zu sich einladen konnte! Sakura betrachtete sich eingehend im Spiegel der Umkleidekabine. Sie trug einen Pullover im opulenten Bordeaux, am Kragen waren schwarze Steine angebracht. Wäre Ino da, wäre sie einfach in die Kabine geplatzt und hätte mit gerunzelter Stirn eine Bewertung abgegeben. Sakura musste lächeln. Sie stricht das Oberteil an den Seiten glatt. Es war reduziert, zusätzlich gab es zwanzig Prozent Nachlass. Sakura machte ein Foto von sich und wollte es Ino schicken, hatte allerdings hier überhaupt keinen Empfang. Seufzend steckte sie das Mobiltelefon weg. Sie würde das Oberteil kaufen, in das nächstbeste Café einkehren und sich dann auf den Rückweg machen.   ___ Es war totenstill, als sie die Wohnung betrat. Es war nicht die Stille nach einem langen, lärmerfüllten Tag, die wohltuende Stille, in die man sich begab, sobald man über die Türschwelle seines Heims trat, und kein Uhrzeiger störte diese Stille, kein Knarzen, kein dumpfes Dröhnen von draußen, und man konnte in einen Sessel sinken und entspannen. Es war die Art von Stille, der man unbedingt entkommen wollte. Sie spürte, wie Aufregung in ihr hochstieg. Sakura zog sich die Stiefel aus und ließ sich von einem bekannten Geruch, der ihr ein ungutes Gefühl in die Brust pflanzte, direkt in die Küche führen. Madara saß am Tisch, die Hand an der Schläfe, und vor ihm ruhte der hölzerne Falke, den sie in seinem Zimmer entdeckt hatte. Es handelte sich nicht etwa um Zierde, sondern um einen Aschenbecher. Sie verzog das Gesicht. Neben der Spülmaschine erblickte Sakura einen Haufen aus kaputtem schmutzigen Geschirr. Madara reagierte nicht auf ihre bloße Anwesenheit, sein Blick galt der Tischplatte, und die junge Frau wusste nicht, ob sie etwas sagen, sich räuspern oder einfach in ihr Zimmer gehen sollte. Sie war sich nicht sicher, wie lange sie da gestanden und überlegt hatte, als Madara sein Gesicht zu ihr drehte. Er wirkte mit einem Mal so alt, gebrochen. Seine Augen waren dunkel, dunkler, tiefer als sonst. Und traurig, wenn auch er diese Traurigkeit zu verbergen suchte. Es war klar, dass die Küche Schauplatz eines Konflikts gewesen war, und das, was sie sah, waren die Spuren, die dieser Konflikt hinterlassen hatte. Madara hatte geraucht, um sich abzureagieren. „Setzen Sie sich, wenn Sie wollen“, sagte er, und seine Stimme war gleichgültig. Sie ließ sich links von ihm nieder. Sakura wollte ihn trösten. Aber sie standen sich nicht nahe, daneben hatte sie nicht das Gefühl, dass Madara Trostversuche gerne empfing. Also saß sie still auf dem Stuhl und fragte sich: Was genau ist nur passiert? Da sich in dieser Wohnung nur zwei Personen in ihrer Abwesenheit aufgehalten hatten, war es klar, welche Parteien in den Konflikt verwickelt gewesen waren. Die beiden saßen da und gaben keinen Laut von sich. Sakuras Hände waren, geballt zu Fäusten, auf ihren Oberschenkeln platziert. Ab und an schielte sie zu Madara hinüber. Jetzt schaute er einfach nur geradeaus. „Nicht er hat die Teller zerbrochen.“ Sakura nickte langsam, froh darüber, dass er die Stimme erhoben hatte. Madara erzählte ihr, was vorgefallen war: Sie hatten am Küchentisch gesessen und zu Mittag gegessen, und plötzlich, wie aus dem Nichts, hatte Izuna angefangen, über seine Einschränkung zu sprechen, darüber, dass alles keinen Sinn mache und Madara die Pflegerin zurückschicken solle. Madara gestand Sakura, dass er mit Izuna häufig über Antidepressiva gesprochen habe, doch Izuna wollte nicht. „Einen Pfleger wollte er auch nicht.“ Da hatte Madara ihm Folgendes vorgeschlagen: Entweder Antidepressiva oder ein Pfleger, der sich um ihn kümmern würde. Wäre es nach Madara gegangen, so hätte er beides in Betracht gezogen. Izunas Wahl war nach kurzem Überlegen auf den Pfleger gefallen. Sakuras Herz klopfte unsanft in ihrer Kehle, während sie ihm zuhörte. Während des Gesprächs hatte Madara sich eine weitere Zigarette angezündet. Das missfiel ihr, doch dem Herrn des Hauses wollte sie keine Vorschriften machen und sich als militant profilieren wollte sie ebenfalls nicht. „Es ist nicht angenehm, ihn so zu erleben, so über das Leben sprechen zu hören. Wir hatten deswegen schon oft Auseinandersetzung gehabt. Dieses Mal war es besonders... unschön. Wir schafften es nicht, uns zu versöhnen, er blockte jede Bemühung ab.“ Er ließ den Rauch zwischen seinen Lippen entweichen, rauchte die Zigarette zu Ende und drückte sie im Aschenbecher aus. „Er hat sich sehr verändert.“ Madara dachte nach, ob er ihr mehr erzählen sollte. Momentan belastete ihn so einiges, und Tag für Tag fraß er alles in sich hinein. Er hatte sich seit vielen Jahren nicht mehr jemandem anvertraut, doch er spürte, dass wenn er nicht versuchte, etwas dagegen zu unternehmen, es bald eine schwere Explosion geben würde, deren Folgen nicht einmal er selbst einschätzen konnte. „Beruflich geht es aktuell ebenfalls nicht sehr entspannt zu.“ Erst als er es ausgesprochen hatte, fragte er sich, ob es das Richtige war, sich ausgerechnet der Pflegerin seines Bruders anzuvertrauen. Das war es. Sakura sah in dieser Bemerkung die Möglichkeit, die Unterhaltung in andere Bahnen zu lenken, und ergriff sie. „Herr Uchiha, darf ich Sie fragen, was Sie von Beruf sind?“ Er erzählte ihr, dass er als Dozent der Sprachwissenschaft in einer Universität arbeite. Auch erzählte er über seine Arbeit, die von der Rekonstruktion von Ursprachen handelte, anstehenden Kolloquien, seinen Studenten, seinen Nachhilfeangeboten und über die Universität selbst. Es war eine gute Idee gewesen, von Izuna wegzukommen. Madara wirkte etwas entspannter und ihre Neugier wurde gestillt. „Soll ich Ihnen helfen?“, fragte sie heiser. Madara war aufgestanden, hatte das Fenster geöffnet, um die Küche zu lüften, und angefangen, die Scherben vom Boden aufzusammeln. „Sie können einmal die Küche durchsaugen.“ ___ Die folgenden Tage flossen träge dahin. Es wurde kaum gesprochen. Madara bekam sie selten zu Gesicht, da er länger wegblieb – hatte er tatsächlich viel zu tun oder lag es an Izuna? –, es gab keine abendlichen Gespräche, und Izuna war wortkarger als sonst. Dass das möglich war, hätte sie nicht gedacht. Madara sah weiterhin nach Izuna, doch sie kommunizierten nicht. Es verwunderte die junge Frau, dass Izuna sich trotzdem auf Spaziergänge einließ. Sie las in seinem Gesicht, dass er mit der Situation nicht glücklich war. Die Situation belastete nicht nur die Brüder, sondern auch sie selbst. Wann immer sie Izuna Essen brachte, musste sie sich davor zurückhalten, ihn auf das Ereignis anzusprechen. Sie rief sich jedes Mal ins Gedächtnis, dass es sie nichts anginge. Andererseits ging es sie doch etwas an, sogar sehr viel, schließlich würde sie für eine lange Zeit ein fester Teil dieses Haushalts sein. Sofern man sie nicht ganz plötzlich entlassen würde. Lange überlegte sie hin und her, bis sie beim Einräumen der Spülmaschine eine Entscheidung traf: Sie würde auf Konfrontationskurs mit Izuna gehen. Als sie das nächste Mal Izunas Zimmer betrat, sprach sie ihn ohne einleitende Worte auf die Auseinandersetzung mit Madara an. Izuna lag im Bett und hatte den Kopf zur Decke gewandt. „Ihr Bruder ist traurig“, sagte sie und trat näher an das Bett heran. „Die Situation ist für ihn, für mich sehr belastend und mit Sicherheit auch für Sie.“ Nervös spielte sie mit ihren Fingern. Auch wenn sie sorgfältig darüber nachgedacht hatte, was sie Izuna genau sagen würde, fiel es ihr schwer, die Sätze aus dem Kopf auf die Zunge zu bringen. Als Izuna sich langsam aufrichtete, schluckte sie und sagte: „Ich finde, Sie sollten sich mit Ihrem Bruder wieder versöhnen.“ „Wollen Sie den Vermittler spielen?“, fragte Izuna ruhig. Es war unglaublich, wie monoton er gesprochen hatte. „Nein. Ich möchte nur, dass Sie sich mit Ihrem Bruder versöhnen“, wiederholt sie. „Es kann mir nicht egal sein, weil Ihr Bruder mich eingestellt hat und ich für die nächste Zeit hier arbeiten werde. Das Arbeitsklima wäre folglich nicht das beste. Und erlauben Sie mir die folgende Bemerkung: Sollten Sie es schaffen, dass ich entlassen werden, denke ich nicht, dass ich die letzte Pflegerin sein werde.“ Die Nervosität begann, sich in Selbstbewusstsein umzuwandeln. Sie wollte ihm so viel sagen. „Ich weiß von der Abmachung zwischen euch und…“ Izuna stand auf, und sofort verstummte sie. Er machte einen Schritt auf sie zu. „Wie sehen Sie eigentlich aus?“, fragte er und deutete auf sie mit seiner Hand. Sie war blass, die Venen kaum auszumachen. „Beschreiben Sie sich.“ Sakura war verwirrt. Auch wenn er keine Höflichkeitsworte benutzt hatte, so hörte sich das nicht wie ein Befehl, sondern wie eine Bitte an. Sie beschrieb sich selbst, beschrieb ihre Größe, ihre Statur, ihre Haarfarbe und ihre Augenfarbe. Es war seltsam. Sie standen sich eine Weile reglos gegenüber, dann ließ sich Izuna auf sein Bett nieder. „Frau Haruno, ich bin blind“, begann er nach einem langen resignierten Seufzer. „All die Sachen, denen ich früher nachging, ich kann ihnen jetzt nicht mehr nachgehen. All das, was früher ein fester Bestandteil meines Lebens gewesen ist, ist es nicht mehr.“ Er legte sich hin und drehte sich zur Wand. „Sie haben sicherlich längst die Bücherregale und die Bücher entdeckt. Viele von den Büchern sind ungelesen, und sie werden es auch für immer bleiben. Ich kann Ihnen das alles erzählen, ich kann Ihnen meine gesamte Lebensgeschichte erzählen. Sie werden für mich dennoch eine Fremde bleiben. Sie sehen mit Sicherheit nicht so aus, wie ich es mir denke.“ Sie hörte ihm aufmerksam zu und es berührte sie, dass er mit ihr sprach, selbst wenn er sich von ihr abgewandt hatte und ihr sagte, dass sie ihm für immer fremd sein werde. „Mein eigener Bruder wird mir von Tag zu Tag immer fremder und er kommt nicht mit meinen Ansichten zurecht. Ich tue vieles aus reinem Pflichtgefühl ihm gegenüber. Noch. Ich weiß nicht, wie es wäre, wenn Madara nicht an meiner Seite wäre.“ Sie ließ sich seine Worte durch den Kopf gehen. Sie wollte ihm sagen, dass er sich in Selbstmitleid und Nihilismus suhle und das ganz und gar nicht gut sei. Aber sie wollte ihn nicht angreifen, ihn sich zum Feind machen und wütend stimmen. Außerdem wäre das taktlos. Sie verstand ihn, wollte ihn aber in seiner Sichtweise keinesfalls unterstützen. Sakura sagte: „Er wird Ihnen von Tag zu Tag fremder, weil Sie es so wollen. Ich werde eine Fremde bleiben, weil Sie es so wollen. Vielleicht wollen Sie es nicht unbedingt, aber das ist die Konsequenz aus Ihrem Verhalten. Sie haben mir soeben quasi Ihr Herz ausgeschüttet, wollen aber, dass ich dennoch eine Fremde bleibe, indem Sie mich von sich stoßen?“ Sakura hatte sich vom Bett entfernt und bedachte interessiert die Buchrücken in den hohen Regalen. „Seit wir zusammen spazieren, werden Sie sicherer. Das ist Ihnen bestimmt nicht aufgefallen. Es gibt Dinge im Leben, bei denen man keine andere Wahl hat, als sie einfach hinzunehmen. Man kann aber mit ihnen leben, wenn man es will. Ihnen sollte bewusst sein, dass Sie trotz Ihrer Verfassung nicht auf gewisse Sachen verzichten brauchen. Sie brauchen mehr Routinen, dann klappt auch alles.“ Izuna hörte ihr zu. Er dachte plötzlich an den blinden Arbeiter, dessen Stock er kaputtgemacht hatte. Er hatte sich ein Beispiel an diesem Mann nehmen wollen, bis er sich selbst aufgab. „Es gibt Menschen mit sehr schweren Erkrankungen, die sich dafür entscheiden, die Zeit, die Ihnen noch bleibt, glücklich und erfüllt zu verbringen. Ohne sich mit denjenigen, die man eigentlich liebt, zu streiten.“ Dem Regal entnahm sie ein Buch mit einem Lesezeichen. „Es wäre mir lieber, wenn sie die Bücher nicht berühren würden.“ Sie legte das Buch zurück. „Sie besitzen neben dem Sehsinn auch andere Sinne, von denen Sie Gebrauch machen. Ein Mensch muss kein Fremder bleiben, nur weil Sie ihn nicht sehen können. Sie sind eingeschränkt, aber nicht so sehr, dass Sie zu Hause den ganzen Tag nur liegen und sitzen können. Es gibt Hörbücher, es gibt so viele Alternativen, von denen sie Gebrauch machen können, und ich bin mir sicher, dass Madara, ich meine Ihr Bruder alles dafür tun würde, um Ihnen die Alternativen zur Verfügung zu stellen. Ihr Bruder liebt Sie. Er tut alles Erdenklich für Sie. Ich finde, Sie sollten sich bei ihm entschuldigen, denn auch Sie lieben ihn.“ Sakura hielt vor der Tür in den Gang inne. „Und Sie sollten ihm sagen, dass Sie seine Bemühung zu schätzen wissen. Er ist gestresst von seiner Arbeit und ich denke, Sie könnten ihm das Leben erleichtern und es nicht zusätzlich schwerer machen, indem Sie ein solches Verhalten an den Tag legen.“ Sie fügte noch hinzu: „Sie können mir nicht verbieten, Ihnen Ratschläge zu geben. Es liegt allerdings bei Ihnen, ob sie darauf hören oder nicht. Es liegt immer bei Ihnen. Versuchen Sie, die Sachlage zu überdenken.“ Sie ergriff die Türklinke und öffnete die Tür. Izuna dachte im ersten Moment, sie hätte sein Zimmer verlassen, doch er hörte ihre Schritte, hörte, wie sie ein Buch aus einem der Regale entnahm, hörte, wie sie sich an den Tisch setzte. „Was machen Sie da? Was haben Sie vor?“, wollte er wissen, und er konnte es nicht vermeiden, dass er sich aufgeregt und panisch anhörte. Er hörte, wie sie das Buch aufschlug. Was war es für ein Buch? Was hatte sie vor? Wenn sie lesen wollte, konnte sie sich selbst Bücher besorgen und sie in dem Zimmer lesen, das Madara ihr zugewiesen hatte. „Kapitel vierundsechzig“, las sie laut, und Izuna erstarrte. Sie las ihm vor. Aus dem Buch, das er vor längerer Zeit angefangen hatte und der Handlung an einem Punkt nicht mehr hatte folgen können. Er sank zurück in sein Bett und hörte ihr zu. Sie konnte gut vorlesen. Obwohl sie die Sätze sicherlich zuvor nie gelesen hatte, las sie flüssig und beinahe fehlerfrei vor. Zweimal versprach sie sich, einmal musste sie sich räuspern, aber es machte ihm nichts aus. Erst da fiel ihm auf, was für eine schöne Stimme sie hatte. Sie flößte ihm Ruhe ein, innere Ruhe und mentale Kraft. Ein ganzes Kapitel las sie ihm vor, und gerade als sie mit dem fünfundsechzigsten Kapitel anfangen wollte, kehrte Madara nach Hause zurück. „Ihr solltet euch versöhnen“, appellierte sie ein letztes Mal an Izuna. Ihre Kehle und auch ihre Lippen waren trocken. Sie musste dringend etwas trinken. Izuna lag wortlos auf dem Bett. Sie wollte das Zimmer gerade verlassen, als Madara hereinkam. Überrascht schaute er von ihr zu Izuna, und sein Blick bat um eine Erklärung. Sie liefert ihm keine, stattdessen sagte sie mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen: „Ich muss etwas trinken.“ Und schon war sie auf dem Gang und schloss die Tür hinter sich. Sie verharrte für einige Augenblicke vor der Tür, lauschte, und als die beiden anfingen, miteinander zu sprechen, begab sie sich zufrieden in die Küche. Kapitel 6: ----------- [center"]* Es war das erste Mal, dass Izuna das Gerät benutzte, das Madara Sakura in die Hände gedrückt hatte. Lange musste er auf die junge Frau nicht warten; sie hatte alles stehen und liegen gelassen und war in Izunas Zimmer geeilt. Sie fragte ihn nun, was sie für ihn tun könne. Izuna saß auf seinem Bett, den Kopf zur Tür gewandt. Geduldig wartete Sakura darauf, dass der andere etwas von sich gab. „Ich habe nachgedacht. Darüber, was sie mir gestern sagten.“ Sakura setzte sich ans Fenster und legte die Hände in den Schoß. „Ich habe mich mit meinem Bruder vertragen. Was ihn und mich betrifft, da haben Sie recht.“ Er lehnte sich gegen die Wand hinter ihm. „Es ist aber nicht so, dass der Rest einer Offenbarung gleicht. Ich habe dasselbe bereits von meinem Bruder gehört, und vor langer Zeit hätte ich selbst dasselbe gedacht und laut ausgesprochen. Nur bin ich zu einem verbitterten und gemeinen Menschen geworden.“ Izuna befeuchtete seine trockenen Lippen. „Sie sagten, es gebe Menschen, die an einer schweren Krankheit leiden und sich dennoch dafür entscheiden, glücklich zu sein. Wenn ich in der Lage wäre zu entscheiden, wäre ich nicht der, der ich bin. Glauben Sie mir: Ich unterscheide mich von diesen Menschen.“ Sie schwieg und beobachtete ihn: Er hatte den Kopf gesenkt, seine Finger glitten über seine Oberschenkel. „Frau Haruno, würden Sie mir heute Abend das nächste Kapitel vorlesen?“ „Ja, sicher“, gab sie zurück. Selbstverständlich war es ihr bewusst, dass sie bei Izuna mit Worten keinen Schalter komplett umlegen konnte. Aber das, was sich hier gerade abspielte, war ein großer Schritt nach vorne: Er bat sie um etwas und es bestand die Aussicht auf eine Beschäftigung außerhalb von stillem Sitzen und Liegen. „Ich finde es gut, dass Sie sich mit Ihrem Bruder vertragen haben. Als wir in der Küche saßen und redeten, sah ich ihm an, dass er erleichtert und entspannter war.“ „Hm“, machte Izuna nur. Noch immer hielt er den Kopf gesenkt. Er schien weiter sprechen zu wollen, doch in den nächsten Minuten verließ kein Wort seine Lippen. Sakura drängte nicht. „Ich dachte“, begann er endlich, „auch über das Angebot mit den Hörbüchern nach. Ich bin selbst nicht auf die Idee gekommen. Ich... Ich glaube, ich würde darauf gerne zugreifen. Das Problem ist nur, dass mir entweder die Art und Weise, wie gelesen wird, nicht gefällt oder dass es zu den Büchern, die ich lese, keine Hörbuchedition gibt.“ „Wenn Sie möchten, können wir schauen, ob es zu einigen Büchern, die Sie da haben, Hörbücher gibt. Wir können auch eventuell ein paar Proben hören“, bot Sakura ihm an. „Sollten Ihnen die Stimmen gefallen, könnte man sicher etwas bestellen.“ Weshalb war sie nur so hilfsbereit? Weshalb ging sie an diese Sache mit so viel Elan heran? Das alles gehörte nicht zu ihren Aufgaben. Es interessierte ihn und so fragte er sie: „Weshalb geben Sie sich eigentlich so viel Mühe, Frau Haruno? Es ist verständlich, dass Sie ein entspanntes Arbeitsklima für erstrebenswert halten. Für mich ist es aber nicht verständlich, weshalb Sie, nun, Hörbuchproben mit mir durchgehen wollen.“ Sakura sah ihn mit einem sanften Ausdruck im Gesicht an. „Es ist, weil ich wirklich helfen möchte.“ Sie hätte ihm viel mehr erzählen können, hätte ihm erzählen können, wie ihr Beruf sie zum Positiven verändert hatte, sie sich aus den Fängen der Selbstsucht befreit hatte. Für dieses Mal reichte ihre Antwort aber aus, fand sie.   „Letztendlich ist jede Handlung egoistisch, auch Ihre“, sagte er, als hätte er in ihre Vergangenheit geblickt. „Das mag sein“, erwiderte sie. „Ich würde es so sehen: Wenn eine gute Tat einen unbewussten egoistischen Hintergrund hat, wie zum Beispiel das Ego fördern, der Mensch aber, der die gute Tat empfängt, vorangebracht oder zufriedengestellt wird, dann ist das gut. Wollen wir zusammen die ungelesenen Bücher durchgehen? Oder wissen Sie, was Sie zuerst hören möchten?“ „Ich habe fünf Titel im Kopf.“ „Gut!“ Sakura klatschte erfreut in die Hände. „Ich bin gleich wieder zurück.“ Die junge Frau holte ihr Notebook und setzte sich mit Izunas Erlaubnis auf das Fußende des Bettes. Die erste Hörbuchversion zum ersten Titel war nicht gut. Es wirkte, als würde der männliche Vorleser jeden Augenblick vor Langeweile einschlafen. Er las ohne den geringsten Hauch von Betonung vor; wo sich Kommata und Punkte im Text befanden, konnte man manchmal nicht einmal vermuten. Die zweite Version war viel besser. Dieses Mal las eine Frau vor, deren Stimme ein Fest für die Ohren war. Sakura studierte für die nächste Stunde Izunas Miene, und sie konnte sagen, wann ihm etwas missfiel oder gut gefiel. Zwei Sachen waren ihr aufgefallen: Zum einen waren die Bücher etwas älter, zum anderen verband die drei Bücher eine Thematik: das Meer. Sie fragte sich, ob er das Meer mochte, ob er es selbst schon mit eigenen Augen gesehen, dort vielleicht vor langer Zeit Urlaub gemacht hatte. „Das ist die letzte Probe.“ Sakura drückte auf die Abspieltaste. Die letzte Hörprobe war nicht sonderlich lang, aber es reichte, um sich eine Meinung zu verschaffen. Izuna gefiel die Stimme des Vorlesers nicht. „Zwei Hörbücher, die ich Ihnen bestellen könnte. Wenn ich sie gleich bestelle, sind sie schon morgen da. Ich werde Ihrem Bruder schreiben, die Bücher bestellen und… Dann, denke ich, werde ich mich an die Zubereitung des Mittagessens machen.“ Ihre Fröhlichkeit erschien ihm eigentümlich und, auch wenn er es niemals zugeben oder sich eingestehen würde, belebend. Als sie weg war, war diese Empfindung fort, und er dachte über diesen seltsamen Menschen und seine Worte nach. [center"]___ Madara beendete seinen Vortrag zu Sakralsprachen und machte sich auf den Weg zu seinem Büro. Die Tür zu Hashiramas Büro war geschlossen, gedämpft drangen zwei Stimmen zu ihm durch, als er die Tür in sein Büro aufschloss. Hashirama führte wohl gerade ein Gespräch mit einem Studenten. Wunderbar, dann musste er sich nicht auf Zehenspitzen bewegen. Madara ließ sich in den Sessel hinter dem Tisch fallen und schaute auf sein Mobiltelefon. Sakura hatte ihm geschrieben. Herr Uchiha, Izuna und ich sind einige Hörproben im Internet durchgegangen, und ich möchte Ausgewähltes für ihn bestellen. Wäre das in Ordnung? Ich würde die Bestellung von meinem Benutzerkonto tätigen. Die Kosten betragen insgesamt einen Dreißiger. Ganze dreimal las Madara sich Sakuras Nachricht durch. Was um alles in der Welt stellte diese Frau mit seinem Bruder an? Gestern hatte Izuna sich bei ihm entschuldigt – eine ganze halbe Stunde hatten sie gesprochen, Izuna hatte gesagt, dass es ihm leidtue, dass er sich mit ihm wieder vertragen wolle. Und heute ging er mit ihr Hörproben durch und sie wollte welche in ihrem Namen bestellen? Das war verrückt. Das war einfach nur verrückt. Er würde die junge Frau auf das gestrige – denn er hatte keine Gelegenheit mehr dazu gehabt – und auch auf das heutige Ereignis ansprechen. Madara rieb sich mit einem schiefen Lächeln im Gesicht das Kinn und verfasste dann eine Antwortnachricht.   Es wäre schön, wenn Sie die Bücher bestellten. Das Geld werde ich Ihnen erstatten. Als er die Nachricht abgeschickt hatte, klopft es an der Tür. „Ja?“ Ihm fiel auf, dass auf seinem Gesicht immer noch ein Lächeln lag. Schnell ließ er es verschwinden. Hashirama trat ein. Sein Haar war zerzaust, er wirkte ein wenig zerstreut. In letzter Zeit tat er das öfter. Hatte der Gute etwa viel zu tun? Mit Sicherheit, wenn er jetzt offizieller Seminarzuständiger war. Madara hatte ihm dazu nicht gratuliert, und er fragte sich, ob Hashirama ihm das übel nahm. Madara verschränkte die Arme auf dem Tisch. „Was gibt es, Hashirama?“ ___ Nach dem Abendessen blieben Madara und Sakura in der Küche und tauschten sich über die Ereignisse des Tages aus. Madara erzählte Sakura von einem geplanten Großkolloquium. Hashirama hatte sich das ausgedacht, ihn diesbezüglich nach seiner Meinung gefragt und betont, dass er mit ihm sehr gerne zusammen referieren würde. Von anderen Kolloquien unterschied sich das Großkolloquium darin, dass Sprach- und Literaturwissenschaft zusammenkamen und es einen kleinen Gastvortrag geben würde. Madara hatte gesagt, er werde darüber nachdenken. „Ich wollte Sie das schon gestern fragen, bin aber nicht dazu gekommen: Was haben Sie mit meinem Bruder angestellt?“, wechselte Madara das Thema. „Ich kann nicht behaupten, dass er wie verändert ist, das wäre eine große Übertreibung. Ich kann Ihnen aber versichern, dass er vor einigen Wochen nicht bereit gewesen wäre, Vorschläge für Beschäftigungen entgegenzunehmen.“ „Nicht viel, Herr Uchiha“, gab Sakura bescheiden zurück. Sie räumte die Spülmaschine ein und füllte die Pfanne, in der sie Gemüse gebraten hatte, mit lauwarmem Wasser. Sie würde gleich die Bretter abwaschen. Madara folgte ihr mit seinen Augen. Sie sah es nicht und erzählte Madara von ihren Gesprächen mit Izuna, davon, dass sie ihm gestern vorgelesen hatte, schilderte ihm, wie die beiden vor ihrem Notebook saßen und sich Proben anhörten. Nie im Leben hätte Madara gedacht, dass Sakura so viel bewegen könnte. Hätte sich das alles genauso entwickelt, wenn Madara einen anderen Pfleger eingestellt hätte? Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, wie Izuna ruhig im Bett lag und sie ihm wie einem kleinen Kind vorlas; es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, dass die beiden zusammen auf dem Bett saßen und zusammen nach etwas im Internet suchten; dass sie miteinander auf solch einer Ebene kommunizierten. Der Mann aus ihren Erzählungen konnte nicht sein Bruder  sein. Aber er war es, natürlich war er das. „Herr Uchiha, sagen Sie, kann man an diesen Kolloquien auch teilnehmen, wenn man nicht Student an der Universität ist?“, fragte Sakura interessiert und riss Madara aus seiner Gedankenwelt. Sie war mit allem fertiggeworden und setzte sich zurück an den Tisch. „Das ist möglich. Die Studentenausweise werden nicht kontrolliert. Daneben merken sich Dozenten längst nicht jedes Gesicht und würden, wenn Sie erschienen, sicher nicht darüber rätseln, ob Sie eingeschrieben sind.“ Er legte sein Kinn in die Handfläche. „Wieso wollen Sie das wissen? Kam Ihnen der Gedanke in den Sinn, ein sprachwissenschaftliches Kolloquium zu besuchen?“, fragte er amüsiert. „Ich würde sicher, wenn ich könnte“, gab sie mit warmer Stimme zurück. „Ihr Bruder hat mich darum gebeten, ihm heute ein weiteres Kapitel vorzulesen.“ Sie stand auf und sagte, sie hoffe, dass das Abendessen Madara geschmeckt habe. [center"]___ Das Paket mit den Hörbüchern kam am Nachmittag an. Sakura machte es in Izunas Zimmer auf und fragte ihn, ob er jetzt eins hören wolle und wenn ja, welches. Izuna entschied sich für den allerersten Titel, nach dem die beiden gesucht hatten. „Madara hat mir einen tragbaren CD-Player zur Verfügung gestellt.“ Izuna deutete mit einer Kopfbewegung auf den Tisch am Fenster. Dort lag ein schwarzer CD-Player samt Kopfhörern; die Knöpfe waren silberfarben. Sie legte die CD ein und reichte Izuna das Gerät. Mit seinen Fingern erfühlte er die kalten Tasten auf der Oberfläche und runzelte leicht die Stirn. „Der erste Knopf rechts von der Kuhle, oben, ist die Play- und Stopptaste“, setzte sie ihn in Kenntnis. Izuna nickte, setzte die Kopfhörer auf und schaltete den Player an. Es entwickelte sich eine Routine: Zu dem täglichen Spaziergang gesellten sich das Hören der Bücher an einem und das gemeinsame Vorlesen am anderen Tag. Gemeinsam fassten sie die Ereignisse des letzten Kapitels zusammen, dann las Sakura das neue Kapitel vor, und schließlich sprachen sie kurz darüber. Madara war über das alles mehr als erfreut; Izuna hatte angefangen, mehr am Esstisch zu sagen. Nun teilte ihm Izuna selbst mit, was alles am Tag geschehen war. So zog ein ganzer Monat ins Land. Am zehnten Dezember fiel die erste Schneeflocke vom Himmel. „Herr Uchiha, es schneit“, informierte Sakura ihn und klappte das Buch zu. Noch immer lasen sie an dem Buch, auf dessen Einband ein weißer Wal abgebildet war. Verwundert richtete sich Izuna auf. „Welches Datum ist heute?“, wollte er wissen und verspürte so etwas wie Aufregung. „Der zehnte Dezember. Ich werde morgen früh nach Hause fahren und am Sonntag zurückkehren.“ Izuna antwortete nicht sofort. „In Ordnung. Dann bis Sonntag und gute Fahrt morgen.“ Etwas perplex über diesen ungewöhnlichen Abschied, verließ Sakura das Zimmer, und Izuna trat an das Fenster, hinter dem weiße Flocken einen langsamen, anmutigen Tanz in der Dunkelheit hinlegten, und presste seine Stirn gegen die kalte Glasscheibe. Sein Bruder hatte in zwei Wochen Geburtstag. Er hatte es verdrängt, war vollkommen auf sich selbst und sein Leid fokussiert gewesen. Als er und Madara Kinder gewesen waren, hatte Izuna sich auf Geburtstag bereits Monate vorher gefreut. Mittlerweile war dem nicht so: Geburtstage waren nichts Besonderes mehr, nicht mehr erfüllt von Zauber und Wunderlichkeit. Er hatte in der Vergangenheit oft darüber nachgedacht und war immer wieder zum selben Schluss gekommen: Es war bitter. Etwas dagegen machen konnte man allerdings nicht. Es war, wie es nun einmal war. Trotzdem hatten sich die Brüder immer gegenseitig mit Kleinigkeiten beschenkt, es war zu einer Selbstverständlichkeit geworden, derer man sich nicht entledigen konnte, da sie auch zu einer Gewohnheit geworden war. Madaras letztes Geschenk an Izuna war ein Buch gewesen; Izunas Geschenk an Madara war ein Gunbai aus einem Ramschladen gewesen sowie ein Autoparfüm. Er hatte gerne in solchen Geschäften gestöbert. Manchmal stieß man in solchen Läden auf wahre Schätze. Er verspürte Traurigkeit in sich aufsteigen und entfernte sich von der Glasscheibe. Niemals wieder würde er solche Läden aufsuchen können. [style type="italic"]Sie sollten dem Ganzen nicht allzu sehr nachtrauern. Das macht nichts rückgängig, das macht nichts besser[/style], dachte er an die Worte, die Sakura ihm die letzten Wochen sehr oft gesagt hatte. Er biss sich leicht in die Lippe und dachte nun über seinen Bruder nach, daran, wie sehr Madara sich um ihn und sein Wohlergehen eigentlich bemühte. Er nahm es ihm mittlerweile nur noch ein Bisschen übel, dass er eine Pflegerin für ihn eingestellt hatte. Besser als Antidepressiva war es allemal. Izuna musste zugeben, dass er mit Sakura gut zurechtkam; er mochte es, wenn sie ihm vorlas, er mochte ihr Essen und er mochte die gemeinsamen Gespräche und Spaziergänge. Dennoch betrachtete er sie immer noch als Fremde, wie er es ausgeführt hatte. Vielleicht sollte ich Sakura... Frau Haruno fragen, wenn sie am Sonntag wieder da ist. [center"]___ Die Sonne war untergegangen; der Bahnhof schwamm im künstlichen Licht. Sakura und Madara standen am Gleis, Sakuras Koffer zwischen ihnen, und warteten auf die Ankunft des Zuges, der die junge Frau zum Bahnhof ihrer Heimatstadt bringen würde. Izuna hatte sie heute nicht gesehen. Es schneite und es war kalt. Ihre Nase fror und sie wusste sich nicht zu helfen. Der geschlossene warme Warteraum war selbstverständlich bereits voll gewesen, als die beiden am Gleis angekommen waren. Wenigstens hat der Zug keine Verspätung, dachte sie sich, und nur kurz darauf verkündete eine weibliche Stimme, dass der Zug, der von Gleis 6 abfuhr, zehn Minuten Verspätung hatte. Sakura seufzte. Die beiden sprachen nicht miteinander. Sakura versuchte, ihre Nase zu wärmen, indem sie ab und an ihre behandschuhte Hand auf die Nase legte, und dachte über Freunde und Familie nach, die sie dieses Wochenende sehen würde, während Madara beinahe lässig und unbeeindruckt dastand, so als wäre er resistent gegen die Kälte. Erst als der Zug einfuhr, wandte sich Sakura an Madara mit den Worten des Abschiedes. „Ich werde am Sonntag gegen achtzehn Uhr wieder hier am Bahnhof sein, sofern sich der Zug nicht großartig verspätet“, sprach sie. Die Türen öffneten sich und Menschen stiegen aus. Sie reichte ihm die Hand. Madara hatte bis eben die Hände in den Hosentaschen gehabt. Er trug keine Handschuhe, er hatte sie im Auto zurückgelassen. Die ausgestreckte Hand ignorierend, legte er seine Hand auf ihren Oberarm. Sie glaubte, durch ihre Kleidung die Kälte seiner Hand zu spüren. „Danke.“ Sie roch ihn in diesem Augenblick genauso intensiv wie am ersten Tag. Moosig, süß-hölzern. Sie war sich nicht sicher, ob es Einbildung war, oder Parfüm an seinem Ärmel haftete. Ihr Mund öffnete sich, um etwas zu sagen, aber er kam ihr zuvor. „Sie sollten einsteigen. Der Zug fährt gleich ab“, sagte er bestimmend, wie ein professioneller Ansager. Sakura fuhr zusammen und eilte zu den Türen. Als sie im Zug war, drehte sie sich nach Madara um, der sich kein Stück bewegt hatte. Sie fand kein Lächeln auf seinem Gesicht vor, noch nicht einmal die Andeutung eines Lächelns. Aber es lag, wie sie fand, Zufriedenheit in seinen Zügen, die ihr weich und entspannt erschienen. Kapitel 7: ----------- [center"]* Sie fuhren über gestreute, erleuchtete Straßen in Begleitung einzelner Schneeflocken. Gestern hatte es hier beinahe den ganzen Tag ununterbrochen geschneit. Draußen war es klirrend kalt, im Auto war es dank der Klimaanlage warm, und Sakura war froh darüber, dass die vertrauten Düfte, die sie beim Einstieg überwältigt hatten, durch den warmen Luftstrom abgeschwächt wurden. Anders als letztes Mal hatten sie sich vor dem Bahnhof getroffen. Er hatte bereits auf sie gewartet, ihren rosa Kopf, auf dem sie warme Ohrwärmer getragen hatte, in der Menschenmenge erspäht und sie mit Guten Abend, Frau Haruno begrüßt. Danach hatte er ihren Koffer genommen und sie war ihm zum Auto gefolgt. „Wie war Ihr Wochenende? Fühlen Sie sich gut?“, erkundigte Madara sich, als sie losfuhren. Er fragte tatsächlich nicht aus reiner Höflichkeit – was ohnehin kaum vorkam – oder um der kommenden Stille im Auto vorzugreifen – sie störte ihn selten –, sondern weil es ihn tatsächlich interessierte. Madara wollte wissen, was sie außerhalb seiner vier Wände machte, was sie machte, wenn sie sich nicht um Izuna kümmerte. Er war gestern zu dem Schluss gekommen, dass es nicht schlecht wäre, wenn er sie ein wenig näher kennen lernte. Ihre Küchengespräche hatten sich meistens um Izuna, der auf ewig ein präsentes, wichtiges Thema bleiben würde, da Madara nur noch ihn hatte, gedreht oder um sich selbst. Über Sakura hatte er, obwohl sie sich einen ganzen Monat kannten, nicht viel erfahren. Sie war ein wenig verwundert darüber, dass er sie nach ihrem Wochenende und ihrem Befinden fragte. „Es geht mir gut“, antwortete sie, obwohl das nicht ganz der Wahrheit entsprach, stand ihr doch diese Zeit des Monats bevor, die sich durch ein Ziehen und Stechen im Unterleib ankündigte. Es war gut, dass sie keine so schrecklichen Schmerzen hatte wie ihre Freundin Ino, die am ersten der kritischen Tage zu kaum etwas fähig war. „Ich habe mich mit Freundinnen im Kino getroffen und war mit meinen Eltern essen. Wie geht es Izuna?“ Hinzufügend fragte sie, wie es ihm selbst ginge. „Und haben Sie über Herrn Senjus Anfrage nachgedacht?“ „Sie werden es wahrscheinlich nicht glauben, aber ich fand ihn gestern im Wohnzimmer vor. ... Nicht Hashirama, Gott bewahre, ich meine natürlich Izuna.“ „Im Wohnzimmer?“ Sakura war verblüfft. Sie erinnerte sich an Madaras Worte an ihrem ersten Tag bei den Uchiha-Brüdern zu Hause. Sie hatten vor der Tür in Izunas Zimmer gestanden. In letzter Zeit hält er sich ausschließlich hier auf. Früher mehr im Wohnzimmer, aber mittlerweile... Er hatte also sein Zimmer, das im Laufe der Zeit ein Synonym zu Isolation geworden war, freiwillig verlassen. „Ja. Ich war in meinem Zimmer, als ich eine Tür auf- und dann zugehen hörte. Es konnte natürlich nur Izuna sein.“ Madara hatte gedacht, dass Izuna nur die Toilette aufsuchen wollte. Es verging eine Weile und Madara und Izuna war immer noch nicht in sein Zimmer zurückgekehrt. Aus diesem Grund suchte er nach seinem Bruder und entdeckte ihn im Wohnzimmer. Er saß auf dem Sofa, den CD-Player im Schoß. Madara entschied, sich zu ihm zu gesellen und es entstand ein Gespräch. „Es war schön, wiederholt mit ihm normal sprechen zu können. Dabei waren die Themen so profan gewesen, dass sie nicht nennenswert sind.“ Ein entgegenkommendes Auto erleuchtete für einen kurzen Moment Madaras Gesicht. Sakura, die ihren Kopf zufällig zu ihm gewandt hatte, sah, dass er lächelte. „Ich denke, er kann Sie gut leiden. Er wird es aber niemals laut aussprechen.“ Madara hielt vor einer roten Ampel. „Es geht mir gut, weil es meinem Bruder offenbar besser geht, mit Ihnen. Und was Hashiramas Worte betrifft: Ja, ich habe darüber nachgedacht und ich denke, ich werde sein Angebot annehmen.“ Als das Auto sich wieder in Bewegung setzte, verschränkte Sakura ihre Hände ineinander und lächelte, erfüllt mit großer Zufriedenheit und Freude. Der Aufzug war kaputt und sie waren gezwungen, die Treppen zu nehmen. Viele der Stufen waren glitschig und feucht. Sie bewegten sich langsam und vorsichtig. Madara trug Sakuras Koffer. Dass sie ausgerechnet jetzt so viel Treppen steigen musste, sorgte bei der jungen Frau nicht für Freude. Es war unangenehm. Kurz vor dem sechsten Stockwerk rutschte Sakura, obwohl sie am meisten Bedachtsamkeit hatte walten lassen, aus. Ihre Handgelenke bogen sich nach innen, als ihre Reflexe einsetzten und sie vor Schlimmerem bewahrten, ihre Knie kollidierten mit dem harten Stein, aus dem die Stufen waren, und der Rest ihres Körpers wurde ordentlich durchgeschüttelt. Madara, der im Vorsprung lag, kam zum Halt, stellte Sakuras Koffer hastig ab und eilte zu ihr herunter. „Frau Haruno, können Sie aufstehen?“ Sie gab nur ein leises Stöhnen von sich und rappelte sich angestrengt hoch. Er half ihr schnell, sich auf eine Stufe zu setzen, da sie sonst wieder gefallen wäre. Madara sah, dass sie ihren linken Arm um den Unterleib geschlungen hielt. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt. Das Stechen und Ziehen hatte sich in unfassbare Schmerzen verwandelt. Ihr war, als triebe jemand unaufhörlich ein Messer in ihre rechte Seite. Ihre Hände und ihre Knien schmerzten, aber das war nichts im Vergleich zu dem, was sich in ihrem rechten Unterleib tat. „Soll ich einen Krankenwagen rufen?“ Er bemühte sich, ruhig zu sein, da Aufregung keinem half. Die Sorge aus seiner Stimme konnte er allerdings nicht vollständig verbannen. Er nahm neben ihr Platz. Er dachte nicht an seine Jacke, die in Kontakt mit Nässe und Matsch kam, und auch nicht an seine Hose. Er dachte an Izuna, der auf seine Pflegerin wartete, und an die Pflegerin. Sein Gesicht war ihrem sehr nahe, aber sie hatte das Gefühl, er wäre weit weg und seine Stimme dünn. Die junge Frau atmete schwer aus und dann wieder ein, schloss die Lider. Ihr gesamter Körper schien zu pulsieren. Das Herz klopfte ihr in der Kehle. „Ich…“, begann sie, als sich der Schreck ein wenig gelegt hatte, „ich weiß es nicht.“ Sie machte eine Pause, ballte ihre linke Hand zur Faust und drückte sie gegen die linke Seite. Sie hatte das Gefühl, dass der leichte Druck, den sie ausübte, den Schmerz dämpfte. „Ich habe Schmerzen“, presste sie hervor und beugte sich ein wenig nach vorne. „Ich werde es wohl tun müssen, damit ist nicht zu spaßen. Denken Sie, Sie schaffen es bis zur Wohnung?“ Sie zögerte, dann nickte sie unsicher. Mit Madaras Unterstützung stand sie auf. Er hielt sie an der Taille fest, während sie zusammen die Treppe hochstiegen. Er führte sie in ihr Zimmer, wo sie sich auf das Bett legte. Es war frisch bezogen, und sie hatte das Gefühl, dass sie in dem weichen, wohlduftenden Material versank und die Beschwerden etwas gelindert wurden. Währenddessen informierte Madara Izuna darüber, was passiert war. Madara rief einen Krankenwagen und Izuna suchte Sakura in ihrem Zimmer auf. Er hatte sich auf sie gefreut. Auf das Vorlesen und darauf, mit ihr über das Gelesene zu reden. „Sie ist ausgerutscht und hat Schmerzen im Unterleib“, hatte Madara ihm mitgeteilt. Als Sakura sich Izunas stummer Präsenz gewahr wurde, wollte sie aufstehen. Doch als sie sich aufrichten wollte, schoss eine Welle aus purem Schmerz durch ihren Oberkörper, und mit zusammengepressten Lippen ließ sie sich zitternd wieder auf das Bett sinken. Oh Gott, ging es ihr durch den Kopf. Oh Gott, wieso tut das nur so weh? „Tut… Tut es sehr weh, Frau Haruno?“ Sakura drehte das Gesicht zu Izuna, und genau in diesem Augenblick erschien Madara hinter seinem Bruder. Er war blass, innerlich aufgeregt. „Der Krankenwagen ist gleich da“, informierte er Sakura und Izuna heiser. „Verflucht!“, schimpfte er plötzlich los und knirschte mit den Zähnen. „Der Aufzug ist kaputt.“ Deswegen war das alles überhaupt erst passiert, weil diese vermaledeite Anlage kaputtgegangen war. Er fuhr sich gestresst durch das Haar und hätte wahrscheinlich einen weiteren Fluch ausgestoßen, wenn Izuna ihm nicht in beruhigender Manier die Hand auf den Arm gelegt hätte. ___ „Seien Sie vorsichtig“, ermahnte Madara streng. Man hatte Sakura an eine Bahre fixiert. Sie wurde von zwei Leuten getragen. Madara hatte die Sorge, dass einer von den zwei ausrutschen würde. Auch Sakura hatte diese Sorge, betete, dass ihr nichts weiteres mehr widerfuhr. Sie schafften es nach einer gefühlten Ewigkeit unversehrt nach draußen. Der Krankenwagen hatte sich vom Weiten angekündigt und so nahe es ging an der Eingangstür in das Gebäude geparkt. Ab hier ging alles schneller und sicherer vonstatten: Sie wurde in das nächstgelegene Krankenhaus gebracht. Madara tat es in der Seele weh, Izuna alleine zurücklassen zu müssen; aber er konnte nicht zulassen, dass man Sakura ganz alleine wegbrachte. Er hatte dem sichtlich aufgewühlten Izuna, der so viele Menschen, Stimmen nicht gewohnt und dadurch verkrampft und erregt gewesen war, versprochen, noch heute Abend zurückzukehren, sobald feststand, was der jungen Frau fehlte. Er bezweifelte, dass sie mit ihm heute zurückkehren würde. Sie war kaum in der Lage gewesen aufzustehen. Es war etwas Ernstes. Nach der Untersuchung in der Notfallaufnahme, auf die sie beinahe eine halbe Stunde gewartet hatten, wurde Sakura in einem Rollstuhl in ein Zimmer auf der zweiten Etage transportiert. Sie hatte sich wohl Prellungen zugezogen, die sich erst mit der Zeit richtig entfalteten. Gebrochen war nichts. Eine weitere Untersuchung, die erst übermorgen stattfinden konnte, würde ergeben, was es mit den Schmerzen im Unterleib auf sich hatte. Das Sakura zugewiesene Zimmer war klein und beherbergte ganze vier Betten, von denen die junge Frau das in der Nähe des Fensters aussuchte. Madara war schwer beeindruckt von Sakura, die bis jetzt keine einzige Träne vergossen hatte. Und das, obwohl sie höllischen Quallen hatte erleiden müssen, als man sie bei der Untersuchung gebeten hatte, sich aufzurichten. Er war am Anfang dabei gewesen, hatte das Zimmer aber verlassen, als Sakura sich hatte ausziehen müssen. Sie war eine tapfere Frau. Sakura konnte sich nicht damit anfreunden, im Bett zu liegen. Es ging einfach nicht. Sogar das Atmen fiel ihr in der Liegeposition schwer. Deshalb saß sie und blickte geradeaus. Madara hatte sich an den Tisch gesetzt, der unmittelbar am hohen Fenster stand, und beobachte sie. Beide vernahmen die Toilettenspülung, kurz darauf verließ eine alte, füllige Frau schwerfällig die Toilette. Sie grüßte die anderen mit einem Nicken, ehe sie sich aufs Bett legte und in einem Buch zu lesen anfing. Sakura war noch nie als Patient in einem Krankenhaus gewesen. Und eigentlich hatte sie gehofft, dass sie dort nie als Patient landen würde. Jetzt war sie hier, mit dicken Strumpfhosen und langem Strickkleid, unter dem sie einen Pullover trug, bekleidet und ließ ihren Blick über die kargen, grauen, engen Wände gleiten. Das Einzige, was die Wand gegenüber schmückte, war das Desinfektionsmittel. Ein alter Vorhang trennte einen großen Schrank und ein Waschbecken vom Rest des Raumes. Der dominierende Geruch war der von Desinfektionsmittel. Minuten später erschien eine Schwester, die ihr Schmerzmittel und Wasser brachte. Sie erklärte rasch, wie Sakura alles, was sie umgab, zu bedienen hatte, und war dann fort. Sakura fiel auf, dass die Schwester gar nicht vom keimtötenden Mittel Gebrauch gemacht hatte und fragte sich, ob das in Ordnung war. Madara blieb für die nächste halbe Stunde zusammen mit Sakura im Zimmer. Sie sprachen nicht miteinander. Seine Anwesenheit war mehr als genug, befand sie. „Könnten Sie mir einige Sachen von Zuhause mitbringen morgen?“, fragte sie ihn mit schwacher Stimme, als er verkündete, dass er aufbrechen wollte. Sie hatte nicht einmal eine Zahnbürste, geschweige denn Zahnpasta. Sie konnte und wollte schlecht von Madara verlangen, dass er jetzt für die Sachen nach Hause und wieder zurück fuhr. Sie sah ihm an, dass er ebenfalls ausgezehrt war – wenn auch mehr psychisch als physisch. Zudem war die Besuchszeit um. Auf ihre Frage hin nickte Madara. „Ich werde mich über die Besuchszeiten am Morgen informieren und Ihnen alles bringen. Sagen Sie mir nur, was Sie brauchen.“ Er rieb aufmunternd und sacht an ihrem Oberarm. Sie nickte und zählte auf, was er ihr mitbringen sollte und wo er alles vorfinden konnte. Sie wollte nicht, dass er ging. Auch wenn die alte Frau da war, wusste sie, dass sobald er weg sein würde, sie sich alleine fühlen würde. Aber sie wollte ihn nicht davon abhalten, nach Hause zu fahren. Nach Hause zu seinem Bruder, der sicher einige Fragen an ihn hatte. Sie riss sich so gut es ging zusammen. „Bis morgen, Frau Haruno.“ „Bis morgen.“ Er ging hinaus und klopfte an der geöffneten Tür in das Zimmer, in dem Schwestern saßen. Nachdem er sich über die genauen Besuchszeiten informiert hatte, verließ er das Krankenhaus. Es lag geschätzt einen Kilometer von seiner Wohnung entfernt. Am Sonntag fuhren keine Busse. Der Taxistand lag um die Ecke und so nahm er sich ein Taxi nach Hause, damit es schnell ging. Gleich im Flur traf er auf Izuna. Er schien sich kein Stück bewegt zu haben, stand genau auf demselben Fleck, an dem er ihn das letzte Mal gesehen hatte. „Bruder?“, fragte er und kam Madara wie ein kleines Kind vor, das die Eltern für eine Weile alleine daheim gelassen hatte. Das Kind war nur schwer mit dem Alleinsein klargekommen, hatte die Eltern vermisst und sich grässliche Szenarien ausgemalt, was eventuell vorgefallen sein könnte. „Bruder, ist Frau Haruno im Krankenhaus geblieben? Was hat sie?“ Madara seufzte und erzählte Izuna alles, was sich im Krankenhaus abgespielt hatte. Danach rauchte er eine Zigarette in der Küche. [center"]___ Sie hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Zum einen, weil die Schmerzmittel nicht gänzlich ihren Zweck erfüllt hatten und sie einfach nicht liegen hatte können, zum anderen weil die alte Frau pausenlos laut und penetrant geschnarcht hatte. Sie hatte niemanden zu sich kommen lassen und hatte sich, in die Decke eingewickelt, weil es so gemütlicher war, ans Fenster gesetzt und die Nacht damit verbracht, auf die Tischplatte vor sich zu starren. Noch immer saß sie auf dem Stuhl und kam sich unhygienisch vor. Ein Blick in den Spiegel, der über dem Waschbecken hing, ließ sie heftig zusammenzucken. Ungekämmt, das Make-up verschmiert. Ihr Gesicht enthielt zudem deutliche Spuren von Schlafmangel. Das Frühstück bestand aus fadem Brot, Fleisch- und Käsescheiben, Marmelade und einem Getränk ihrer Wahl. Sakura und ihre Bettnachbarin verzehrten es am Tisch. Während sie kauten, warfen sie sich ab und an leere Blicke zu oder sahen aus dem Fenster, das auf eine schneebedeckte Wiese ging. Gerade schneite es nicht. Der Himmel war grau, und sie dachte bei sich, wie symbolisch das doch sei. Das Einzige, was ihr geschmeckt hatte, war der grüne Tee. Aber sie würde sich nicht beschweren. Sie kannte keinen, der jemals von Krankenhausessen geschwärmt hatte. Sie hatte feststellen müssen, dass es eine winzige Toilette pro zwei Zimmer gab und konnte es sich nicht vorstellen, wie das Ganze mit vier Patienten in einem und vier im anderen Raum funktionieren sollte. Sie dankte dem Himmel dafür, dass sie nur eine Bettnachbarin hatte. Als Madara kam, war sie überglücklich. Er hatte Kleidung mitgebracht, ihr Mobiltelefon, Zahnbürste, Zahnpasta, Pads, mit denen sie ihr Make-up entfernen konnte, eine ominöse, schwarze Tüte und ihren Kamm. Zusätzlich hatte er ihr beim Bäcker ein belegtes Brötchen und ein Stück Kuchen geholt. „Schnelle Besserung von Izuna“, sagte er, als er sich auf das Bett niederließ. „Und natürlich auch von mir.“ Seine und Izunas Nacht war nicht besser gewesen. Beide waren immer wieder wach geworden. Sakura ließ Madara für eine Weile allein, um sich auf der Toilette umzuziehen, sich die Zähne zu putzen und sich das Gesicht zu waschen. Das Umziehen war eine halbe Tortur. Ihre Gliedmaßen folgten den Befehlen verspätet und ihr war, als regte sich etwas in ihrem Unterleib, als sie in die schlichte, weite Hose schlüpfte. Zudem jammerten die verbundenen Handgelenke und die Knie, an denen Pflaster hafteten. In ihrer Abwesenheit fand Madara einen großen Zehennagel im Bett. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass der zu Sakura gehörte. Angewidert warf er ihn in den Mülleimer, der unter dem Tisch stand, und desinfizierte seine Hände. Die alte Frau machte einen Krankenhausspaziergang; Sakura und Madara waren alleine. „Ich mag es hier nicht sonderlich“, gestand Sakura ihm, als sie umgezogen und gepflegt den Vorhang beiseiteschob. Sie wollte ihm nicht sagen, dass sie die ganze Nacht nicht geschlafen – obwohl man es ihr ansah – und Schmerzen gehabt hatte, denn sie wollte nicht, dass er sich sorgte. „Aber… Ich denke, ich werde das aushalten.“ Sie war müde, zerschlagen, vollkommen fertig und hatte Schmerzen. Das Fortbewegen fiel ihr schwer, sie hatte das Gefühl, dass ihr Bauch über Nacht angeschwollen war. Sakura überlegte gründlich, ob sie ihre Eltern davon in Kenntnis setzen sollte. Madara und Sakura sahen sich an. „Ja, Sie werden das durchstehen.“ Kapitel 8: ----------- [center"]* Am Dienstagnachmittag wurde sie samt Bett in einen Raum auf der nächsten Etage verfrachtet. Die Gänge waren eng, die Wände stellenweise mit Bildern geschmückt, was die Kargheit nicht vertrieb, sondern betonte, das künstliche Licht drückte auf ihr aufgeregtes Gemüt, das in den letzten Tagen nur wenig Schlaf erfahren hatte. Die zweite Nacht war nicht ganz so furchtbar gewesen wie die erste; sie hatte immerhin fünf Stunden geschlafen und herausgefunden, dass wenn das Kopfteil etwas hochgestellt war, das Liegen nur noch halb so problematisch war. Das Bettzeug wurde gewechselt, nachdem Madara sich über den gefundenen Zehennagel beschwert hatte. Sakura fühlte sich nicht mehr so schmutzig, trotz des bisherigen Verzichts auf eine Dusche. Sie wollte gar nicht wissen, wie die Duschen hier ausschauten. Man sagte ihr, was gemacht werden würde, erst, als sie in dem Untersuchungsraum war. Er war nicht sehr einladend, sondern frei von natürlichem Licht, bis auf zwei Geräte, einen Schrank und zwei Stühlen steril und nicht so warm wie ihr Zimmer. Der zuständige Arzt, schlaksig und kahl, stellte sich vor – sie merkte sich seinen Namen nicht – und erklärte: „Wir werden in Ihren Bauchraum schauen, Frau Haruno. Wurde bei Ihnen schon einmal eine Abdomen-Sonographie gemacht?“ Eine gynäkologische Untersuchung hatte sie bereits dreimal gehabt, aber nie eine Sonographie ihres Abdomens. Sie war jedes Mal vor dem Besuch beim Gynäkologen mindestens genauso aufgeregt gewesen wie jetzt, obwohl das alles für die Ärzte reine Routine war und sie mit gynäkologischen Untersuchungen bekannt war. Sie verneinte und der Mann erklärte monoton den Ablauf, wie er es auch bei jedem anderen Patienten tat, während er sich Einmalhandschuhe über die langen, gepflegten Finger stülpte. Eine ältere Schwester stand ihm zur Seite, die in der Zeit Sakuras entblößten, aufgequollenen Bauch mit einem transparenten Gel bearbeitete. Die Substanz war kalt und sorgte dafür, dass die junge Frau scharf die Luft einsog. Das Kältegefühl verflog schnell, und bald schon sah sie ihr Inneres in Schwarzweiß auf dem Monitor zur ihrer Rechten. „Hm“, machte der Arzt nachdenklich und rieb sich das bärtige Kinn. Er bewegte den Schallkopf hin und her, übte mal mehr, mal weniger Druck aus. Es tat nicht weh, Sakura spürte aber deutlich, dass sich darunter etwas tat. „Sie haben in Ihrem Bauch sehr viel Flüssigkeit. Das erklärt, warum Ihr Bauch konkav ist. Ich kann nicht sagen, was es ist: Wasser, Blut?“ Er schwieg eine Weile. Mal betrachtete er ihren Bauch, mal sah er auf den Monitor. „Wann hatten Sie Ihre letzte Periode?“ „Eigentlich habe ich jetzt gerade meine Periode“, antwortete Sakura zögernd. „Aber nicht so, wie es am zweiten Tag sein sollte. Weniger… Tropfenweise.“ Ihr war bewusst, dass diese Menschen mit sehr viel unschöneren Sachen zu tun hatten, dennoch war es ihr mehr als unangenehm, darüber zu sprechen – das auch noch mit einem Mann. Sie konnte beim besten Willen nicht nachvollziehen, wie Ino sich in den Händen eines männlichen Gynäkologen wohlfühlen konnte, Arzt hin oder her. „Wir werden die Flüssigkeit entnehmen und schauen, was es ist. Ich habe die Vermutung, dass es sich um ein gynäkologisches Problem bei Ihnen handelt, das mit Ihrer Periode zusammenhängen könnte.“ Er lächelte, beinahe zuversichtlich, und stand auf. Bald schon war er wieder im Raum, stand an ihrem Bett und tastete über ihren Bauch. Die Schwester hielt ein Tablett in den Händen, auf dem Tablett ganze drei schaurig anzuschauende Spritzen und eine kleinere, die für die Betäubung gedacht war. Weder fürchtete noch ekelte Sakura sich vor Spritzen, ekelte sich nicht davor, sich Blut abnehmen zu lassen. Aber die Größe, Dicke der drei Spritzen löste Unbehagen in ihr auf. „Keine Angst“, sagte der Arzt, so als hätte er ihre Empfindungen erspürt. „Ich betäube jetzt diese Stelle hier“, er berührte sie unweit des Bauchnabels, „damit Sie später nicht allzu viel spüren, ja?“ Sakura nickte unsicher. Die Betäubung war nur ein Pikser gewesen, der sie ein wenig das Gesicht verziehen ließ. Das Nachfolgende glich einer mittelalterlichen Folterszene: Als die erste Spritze in ihr Fleisch stach, bäumte sie sich stöhnend auf – nicht vor Schmerzen, die durch eine mögliche ungenügende Betäubung kamen, sondern wegen des Drucks auf ihren Bauch. Der Druck war so unangenehm und ungewöhnlich, dass ihr Körper ihn als Schmerz wahrnahm. Eine dunkle Flüssigkeit füllte den Hohlkolben, und als dieser voll war, kam nach wenigen Augenblicken schon die nächste Spritze zum Einsatz. Der Prozess der Flüssigkeitsentnahme fühlte sich an, als würde man ihre Innereien durchmischen. Sakura biss sich auf die Lippe, um nicht zu schreien, krallte die Finger in das Bettlaken. Ihr Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. Am Rande bekam sie mit, wie die Schwester beruhigend auf sie einredete, ihr Haarsträhnen aus dem Gesicht strich. „Es ist gleich vorbei, Frau Haruno, es ist gleich vorbei.“ „Wollen Sie eine kleine Pause?“, wurde sie vom Arzt gefragt. Sakura schüttelte den Kopf. Sie wollte, dass es so schnell wie möglich vorbeiging. Als sie das dritte Mal durchbohrt wurde, glaubte sie, jeden Augenblick den Verstand zu verlieren. Sie fing an zu weinen, am ganzen Körper zu zitterte und schwer zu atmen. Die Tränen rollten über ihre Wangen, über ihre Schläfen und fanden ihren Weg in ihre Ohren. Die zwei anderen hatten Mitleid mit ihr, aber die Prozedur war mit dem Herausziehen der Dritten Spritze glücklicherweise beendet. „Ich meine, das ist Altblut“, behauptete der Arzt, als er die letzte Spritze mit seinen kleinen, braunen Augen gegen das Lampenlicht betrachtete. Sakura reagierte nicht auf seine Worte. Ihre Lider flatterten und sie fühlte sich der Ohnmacht nahe. Wäre die Schwester nicht, die sie dazu zwang, mit ihr zu kommunizieren und ihren Arm tätschelte, wäre ihr längst schwarz vor Augen geworden. „Ich werde es umgehend inspizieren lassen und mich mit meinen Kollegen beraten. Eventuell werden Sie heute noch in die Gynäkologie eines anderen Krankenhauses überwiesen.“ Ein großflächiges Pflaster kam auf die malträtierte Stelle. Sakura wurde aus dem Raum hinausgefahren und für wenige Minuten auf dem Gang alleine gelassen. Sie beruhigte sich ein wenig und wischte sich die Tränen mit einem Taschentuch, das ihr die Schwester gegeben hatte, von Wangen und Ohren fort. Vorsichtig rollte sie ihr Oberteil hoch, um sich zu vergewissern, dass sie nicht blutete. Alles war in Ordnung, ihr Bauch war nicht mehr so dick wie vorhin; er hob und senkte sich schwer, unterhalb der Oberfläche schien alles zu pulsieren. Ein plötzlich aufgetauchter junger Mann schob sie auf ihr Zimmer zurück. Es dauerte, bis ihr Verstand sich komplett klärte. Die alte Frau, die am Fenster saß und von Sakura ausgeblendet worden war, hatte sie unaufhörlich besorgt gemustert, und als Sakura sich angestrengt aufsetzte, traute sich ihre Bettnachbarin zu fragen: „Wie geht’s Ihnen denn?“ Sakura berichtete ihr von dem Durchlebten; es half ihr, die Untersuchung zu verarbeiten. [center"]___ Madara tauchte eine halbe Stunde vor dem Ende der abendlichen Besuchszeit auf und fragte Sakura über die Untersuchung aus. Sie hatte ihn zwar via SMS darüber in Kenntnis gesetzt, was der Stand der Dinge nach der Abdomen-Sonographie war, aber den Rest hatte sie ausgespart. In dem Moment hatte sie nicht gewollt, darüber zu reden. Jetzt lag die Sonographie Stunden zurück. Dadurch, dass man ihr gefühlt einen Liter Blut aus dem Bauch gesogen hatte, war es einfacher, sich zu bewegen. Sakura beschrieb den Ablauf der Sonographie. Sie war bereits am Ende ihrer Schilderung angelangt, als durch die Tür zwei Ärzte und eine Schwester traten. Einer von den Ankömmlingen war der Arzt, der sie am Nachmittag untersucht hatte. „Ihr Bauch ist tatsächlich mit Altblut gefüllt“, fing er an, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. „Wir sind überzeugt, dass es sich bei Ihnen um ein gynäkologisches Problem handelt“, fuhr die Ärztin neben ihm fort, die seine Körperhaltung mimte. „Das ist nicht unsere Spezialität. Deshalb bieten wir Ihnen an, Sie entweder in das Frauenklinikum in der Nordstadt zu überweisen oder in die Gynäkologie in der Südstadt.“ Madara erinnerte sich an ein Gespräch zwischen Hashirama und dessen Sekretärin, das er zufällig mitbekommen hatte und in dem das Frauenklinikum thematisiert worden war. Ein Glück, dass er da zugehört hatte. Mito, Hashiramas Ehefrau, hatte nach der Geburt ihres ersten Kindes – unfassbar, dass Hashirama bereits zwei Kinder hatte! – eine Woche im Frauenklinikum zur Beobachtung bleiben müssen, weil es zu Komplikationen bei der Geburt gekommen war. Das Frauenklinikum war ein neues Gebäude, erst vor zwei Jahren errichtet. Die Zimmer waren sauber und freundlich. Um Mito, hatte Hashirama erzählt, habe man sich sehr gut gekümmert, sie habe sich sehr wohl gefühlt dort. Kein Vergleich zu anderen Einrichtungen, in denen man auf die Patienten pfiff. Madara beschloss, für Sakura zu sprechen: „Ich denke, sie ist mit einer Überweisung in das Frauenklinikum zufrieden.“ Er sah zu Sakura, die seine Worte überraschten. Sein Gesichtsausdruck sprach zu ihr: „Vertrauen Sie mir.“ Sie gab ihr Einverständnis zur Überweisung in die erstere Einrichtung. „Gut. Ich werde mich mit dem Frauenklinikum in Verbindung setzen und fragen, ob sie einen Platz für Sie finden. Eine Schwester wird Ihnen gleich Bescheid sagen.“ „Haben Sie Ihre Eltern kontaktiert?“, wollte Madara von Sakura wissen, sobald die beiden Ärzte gegangen waren. Die junge Frau senkte den Kopf, schüttelte ihn dann, schuldbewusst, und sagte, ihre Eltern hätten momentan eigene Sorgen. Madara seufzte. „Sie sind ein großes Mädchen und für sich selbst verantwortlich, aber denken Sie nicht, dass Ihre Eltern es Ihnen übel nehmen werden, wenn sie davon erfahren? Und das werden sie, früher oder später.“ Mit Sicherheit hatte sie die letzten Tage mit ihren Eltern kommuniziert, auf welchem Weg auch immer. Und mit Sicherheit hatte sie ihnen Lügen über ihren physischen und physischen Zustand aufgetischt. Das war falsch. Natürlich hatte Madara recht. Natürlich war es falsch von ihr, ihren Eltern in dieser Situation heile Welt vorzuspielen. Himmel, beim gestrigen Telefonat, als die alte Frau kurz das Zimmer verlassen hatte, war Sakura ganz überschwänglich geworden, woraufhin ihre Mutter sie fragte, ob auch wirklich alles in Ordnung sei. „Sind Sie Einzelkind?“ Sie bejahte, und er sagte: „Ich fände es nicht gut, wenn Izuna solche Sachen vor mir verheimlichen würde. Sie sind das Einzige, was Ihre Eltern haben.“ Sakura seufzte resigniert, so als hätte Madara sie mit all seiner Kraft zu überzeugen versucht und es nach Langem endlich geschafft. „In Ordnung, Herr Uchiha.“ Aber sie würde ihre Eltern erst dann anrufen, wenn sie im Frauenklinikum untergebracht worden war. „Wissen Sie, Izuna verm-“ Die Schwester, die nie Gebrauch von Desinfektionsmittel machte, erschien und verkündete, dass Sakura etwa eine halbe Stunde habe, um ihre Sachen zu packen. Ein Wagen sei bereits vom Klinikum aus losgefahren. Viel packen mussten sie nicht, trotzdem bot Sakuras betagte Bettnachbarin ihre Hilfe an. Im Rollstuhl wurde sie zum Eingang gefahren. „Ich werde dieses Mal nicht im Wagen mitfahren, sondern im eigenen Auto“, teilte Madara ihr draußen mit. „Ist das in Ordnung für Sie?“ Sie hätte es besser gefunden, wenn er mit ihr gefahren wäre. Da sie aber verstand, dass das für Madara kontraproduktiv war, sagte sie: „Ja, ist in Ordnung.“ [center"]___ Während Sakura untersucht wurde, wartete Madara vor dem Behandlungszimmer. Nach dreißig Minuten fing er an, sich zu sorgen, und wenige weitere Minuten später fing er an, auf und ab zu gehen. Es hätte ihm geholfen, mit Izuna zu sprechen. Er dachte daran, dass er Izuna dafür nur ein Mobiltelefon ans Herz zu legen brauchte. Die Tür zum Behandlungszimmer ging auf und Sakura trat mit geröteten Augen hinaus. Sie schien vollkommen neben sich zu stehen. Er berührte sie sanft an der Schulter. „Frau Haruno?“ Sie stöhnte und rieb sich die Stirn. „Es ist einfach zu viel.“ Sie setzten sich auf die Stühle links von der Tür, durch die zwei Ärzte traten, Madara flüchtig grüßten; der eine eilte nach links, der andere nach rechts. Sakura erzählte Madara, was hinter der Tür abgelaufen war: Der erste Arzt untersuchte sie lange, fand aber nichts. Aus diesem Grund ließ er einen guten, erfahreneren Kollegen kommen, der sie ein weiteres Mal auf dieselbe Art und Weise untersuchte. Er fand die Wurzel allen Übels, bei der es sich um eine geplatzte Zyste am rechten Eierstock handelte. Es wurde die Vermutung gebracht, dass die Zyste, die offensichtlich mit Blut gefüllt gewesen war, bei ihrem Fall im Treppenhaus geplatzt war. Mit ihrer Periode hing das nur insofern zusammen, dass sie gebremst wurde. „Ich werde heute noch operiert.“ Sie atmete schwer aus. „Gleich.“ „Gleich?“, fragte Madara ungläubig nach. „Ja, eine… eine Not-OP.“ Sie wusste, was gleich kommen würde, der Arzt hatte sie reichlich aufgeklärt, war bemüht gewesen, ihr die Angst davor zu nehmen. Geschafft hatte er es allerdings nicht. „Ich habe Angst“, gestand sie Madara. Es konnte sich bei dem operativen Eingriff nur um eine Laparoskopie handeln, eine Bauchspiegelung, bei der die geplatzte Zyste entfernt und das Blut aus dem Bauch entnommen werden würde. Die Bauchspiegelung ging mit dem Narkotisieren der Patienten einher. „Es wird alles gut gehen. Von der Operation werden Sie nichts mitbekommen.“ Es klang fast wie ein Versprechen und Sakuras Mundwinkel zuckten leicht. Vor dem Eingriff an sich hatte sie keine Angst. Sie hatte vor dem Davor, der Narkose und dem Danach Angst. Sie wollte, dass das alles ein Ende fand, wollte nicht mehr Patient, sondern wieder Pfleger sein, wollte Izuna sehen, ihm vorlesen. Es kam ihr wie eine halbe Ewigkeit vor, dass sie bei den Uchiha-Brüdern daheim gewesen war. Sie war froh, aus dem letzten Krankenhaus gekommen zu sein, war aber ganz und gar nicht froh, in einem anderen zu landen und gleich am ersten Tag operiert zu werden – obwohl das besser war, als tagelang im Bett zu liegen und zu warten. Eine Schwester bat Sakura und Madara, ihr zum Zimmer zu folgen, in dem Sakura einige Tage nach der Operation verweilen würde. Sakura war nervös, ängstlich und aufgeregt, sah sich nicht im Zimmer um. Während Madara draußen vor der Tür stand, schlüpfte sie in einen gereichten Kittel und ließ ihr Haar unter einer Haube verschwinden. Beides hatte die Schwester einem deckenhohen Schrank entnommen. Hiernach legte Sakura sich ins Bett und atmete tief durch, als die Schwester fragte, ob sie bereit sei. „Ich weiß es nicht“, murmelte sie und tat ihr Möglichstes, um nicht in Tränen auszubrechen. „Es wird alles gut gehen“, wiederholte die Schwester Madaras Worte. Draußen hielt die Schwester kurz inne, damit Madara und Sakura sich voneinander verabschieden konnten. Er drückte ihre Hand und brachte ein Lächeln zustande, hoffend, dass ihr das in irgendeiner Weise half. Sie schaffte es nicht, sein Lächeln zu erwidern, aber es machte ihr etwas Mut, den sie im Operationssaal allerdings vollkommen verlor. Es war hell, um sie herum waren viele Menschen und ihre Stimmen verschmolzen in Sakuras Kopf zu einem unverständlichen Wirrwarr. [style type="italic"]Narkose[/style], sagte jemand laut, und einer hantierte an ihrem linken Handgelenk. Die Stimme kam ihr bekannt vor, sie konnte sie aber keinem der Anwesenden direkt zuordnen, weil sie nur Mundschutz und Hauben sah. Sie spürte ein Stechen an ihrem Handgelenk. Die Stelle wurde kalt, so schrecklich kalt, dass sie aufschrie, fluchte, und in dem Moment breitete sich die Kälte in ihrem gesamten Unterarm aus. ___ Als sie aufwachte, hatte sie Kopfschmerzen. Ihr war, als versuchte jemand, ihren Schädel zu zerdrücken. Sie vernahm Stimmen und drehte ihren Kopf in die Richtung, aus der sie kamen. Ein junger Mann und eine junge Frau unterhielten sich angeregt an einem Tisch. Wir sollten uns nachher Pizza bestellen. Pizza klingt gut! Ihr war übel und in dem Augenblick war sie derart geräuschsensibel, dass die Stimmen ihren Zustand verschlechterten. Verzweifelte versuchte sie, auf sich aufmerksam zu machen, indem sie mit dem linken Arm wedelte. Das klappte nicht, und nachdem sie sich gesammelt hatte, rief sie laut: „Hey! Hey!“ Nur kurz darauf erbrach sie in eine Schüssel, die man ihr rechtzeitig vor das Kinn gelegt hatte. Unter anderen Umständen hätte sie der Geruch angewidert, der Geschmack in ihrem Mund ebenfalls, das Ganze wäre ihr das überaus peinlich gewesen. Jetzt ging es ihr etwas besser, aber die Kopfschmerzen wollten nicht aufhören. Sie wurde auf ihren eigenen Wunsch hin in ihr Zimmer geschoben. Die Vorhänge waren auseinandergezogen. Draußen war es dunkel. Ihr wurde etwas zu trinken gegeben und eine Tablette gegen Schmerzen angeboten. Sie wurde gefragt, ob sie irgendwelche Wünsche habe. „Drücken Sie diesen Knopf hier, wenn Sie etwas brauchen.“ Man verließ sie, und Sakura schlief bald ein. Kapitel 9: ----------- * „… Und diesen Klingelton ordne ich Frau Haruno zu.“ Seine Ohren erreichten fröhliche Töne, das Gute-Laune-Lied passte zu Sakura, wie er fand. Izuna nahm das gereichte Mobiltelefon entgegen. Es war klein, ein altes Modell, dessen Tasten groß und die Zwischenräume recht weit waren. Es war das zweite Mobiltelefon, das er sich geholt hatte, es war unbeschädigt und vollkommen funktionstüchtig, wie Madara festgestellt hatte. Er hatte jeden Kontakt gelöscht außer sich selbst und speicherte Sakuras Nummer hinzu. Izuna hatte nur sehr selten erreichbar sein wollen, er sah aber ein, dass es in Notfällen praktisch war, ein Mobiltelefon bei sich zu haben. Festnetz wurde so gut wie nicht genutzt, zudem wäre es für Izuna – und auch Madara – umständlich, dauernd in den Flur zu rennen, um einen Anruf entgegenzunehmen, denn das Telefonapparat war alles andere als modern mit seiner Wählscheibe und dem wendelförmigen Kabel. „Wann, glaubst du, wird Sakura aus dem Krankenhaus entlassen?“, fragte er seinen Bruder und legte das Mobiltelefon neben sich auf das Bett. Madara war mehr als verdutzt darüber, dass Izuna seine Pflegerin beim Vornamen genannt hatte. Er hatte tatsächlich einen Narren an dieser Frau gefressen. Abermals musste Madara sich fragen, ob sich alles genau so entwickelt hätte, wenn er wen anders eingestellt hätte. Nein, sicher nicht, antwortete er sich selbst. Sakura war in dieser Hinsicht etwas Besonderes, andere hätte Izuna einfach ignoriert oder verjagt, und er glaubte fest daran, dass sie seinem Bruder gänzlich aus seinem Loch helfen könnte. Aus diesem Grund war sie für ihn wertvoll und er würde sich stets um ihr Wohlergehen bemühen. „Ich kann es dir nicht genau sagen“, sagte Madara und setzte sich neben Izuna auf das Bett. „Ich fragte eine Schwester, wie lange Patienten nach so einer Operation etwa im Krankenhaus bleiben müssen und sie meinte, einen bis drei Tage.“ Er beobachtete Izuna von der Seite, sah, wie sein jüngerer Bruder den Mund zusammenkniff. Er vermisste Sakura. Der ständige Gedanke daran, dass sich seine Vorleserin im Krankenhaus befand, nahm ihm den Spaß an dem aktuellen Hörbuch. Gestern und heute hatte er nur kurz hineingehört und sich dann gewünscht, dass Sakura bei ihm wäre und ihm vorläse. Zum wiederholten Male rief er sich Fragmente ihrer Dialoge, aber auch Sakuras Monologe in Erinnerung. „Ich bin mir sicher, dass die Operation gut verlaufen ist und sie sehr bald wieder auf den Beinen wird stehen können.“ [center"]___ Den gelegten Katheter entdeckte Sakura am Morgen des darauf folgenden Tages, ebenso drei Pflaster auf ihrem Bauch, der abgeflacht war. Sie hatte die Lampe über dem Kopfende eingeschaltet, da es noch dunkel war. Ihr tat nichts weh, ihr war nicht übel und sie hatte genügend geschlafen, aber sie fühlte sich schlapp und der Gedanke, sich nun nicht mehr um eines der Grundbedürfnisse zu kümmern, war seltsam. Sie bildete sich ein, den Katheter deutlich zu spüren. Da sie sich nicht aufzurichten, geschweige denn aufzustehen traute, inspizierte sie das Zimmer mit ihren Augen. Es war so viel schöner als das, was sie in der anderen Einrichtung zugewiesen bekommen hatte: Die Wände waren pastellbeige, die Vorhänge zart, die Stühle sahen bequem aus. Alles schien zu funkeln. Es war gut, dass sie Madara vertraut hatte. Bereits jetzt wusste sie, dass sie sich hier wohler fühlen würde als im letzten Krankenhaus. Das erste Mal warf sie einen genaueren Blick in den Spiegel zu ihrer Rechten. Sie wunderte sich nicht über die leichenhafte Blässe ihrer Haut, wunderte sich auch nicht über die eingefallenen Augen oder darüber, dass sie mitgenommen aussah. Sie sah furchtbar aus und es erschreckte sie nicht einmal; sie nahm den Anblick, den der Spiegel ihr bot, fast schon gelassen hin. Ihre Haare waren sichtlich fettig und daneben juckte die Kopfhaut an einigen Stellen, ihre Haut war fahl, stumpf, stellenweise extrem trocken und fühlte sich unangenehm an.   Bald erschien eine Schwester mit Frühstück im Zimmer und erkundigte sich über ihre Verfassung. „Ich werde Ihnen helfen, sich frisch zu machen.“ Sie füllte eine Schüssel mit lauwarmem Wasser und wusch Sakura den Rücken. Ihr wurde erklärt, wie lange sie geschätzt im Krankenhaus bleiben und worauf sie besonders achten musste: In den ersten zehn Tagen sei Baden und sehr warmes Wasser tabu, ebenfalls müsse sie, sofern sie Sport machte, sich Zeit lassen und langsam anfangen. Der Katheter werde voraussichtlich übermorgen entfernt werden, und Sakura nahm sich fest vor, gleich danach zu duschen. Nachdem ihr eine spezielle Unterwäsche angezogen worden war, wusch sie sich selbst das Gesicht, und auch die Zähne putzte sie sich alleine über der Schüssel. Sie würde im Bett bleiben. Das Frühstück bestand aus Brötchen oder Brot, Marmelade, Margarine, Honig, Aufschnitten und einem Heißgetränk. So viel Auswahl, dachte Sakura bei sich, während sie auf einer mit Margarine und Käse beladenen Brötchenhälfte kaute. Draußen wurde es langsam hell. Sie bekam ein Päckchen Antibiotika, die sie die nächsten drei Tage zu sich nehmen musste, und nachdem sie sich den Bauch mit beschmierten Brötchen vollgeschlagen hatte, tippte sie rasch eine Nachricht an Madara, in der sie schrieb, dass die Operation offenbar gut verlaufen sei und es ihr – mehr oder minder – gut gehe. Eine halbe Stunde später erhielt sie seine Antwort: Er freue sich, dass die Operation gut verlaufen sei, er werde es heute nur zur abendlichen Besuchszeit schaffen. Sie war ein wenig enttäuscht. Madara schickte ihr Izunas Telefonnummer, für den Fall der Fälle, wie er es formulierte. Keine zwei Stunden später wurde ihr angezeigt, dass sie von Izuna angerufen wurde. Verdattert starrte sie einige Sekunden lang auf ihr Mobiltelefon, bevor sie endlich mit hektischer Bewegung den Anruf entgegennahm. „Hallo?“ „Frau Haruno“, kam es von Izuna am anderen Ende der Leitung. „Ich…“ Er verstummte, denn er wusste nicht so recht, was er sagen sollte. Der Anruf war ein spontaner Entschluss gewesen, er hatte nicht darüber nachgedacht, was er ihr mitteilen könnte. „Wie geht es Ihnen?“, fragte er sie schließlich, etwas verunsichert darüber, dass sie ebenfalls nichts zu sagen hatte. „Es geht mir gut. Es tut mir leid, Ihr Anruf hat mich ein wenig überrascht. Haben Sie einen Vertrag? Soll ich Sie vielleicht zurückrufen?“ Einen Vertrag hatte er nie für nötig gehalten, und so bat er sie, ihn zurückzurufen. Das Mobiltelefon fest in beiden Händen haltend, saß er im Wohnzimmer und wartete, und als er angerufen wurde, nahm er den Anruf sogleich entgegen. Er wurde gefragt, wie weit er mit den Hörbüchern sei. „Frau Haruno, ich würde Sie gerne duzen. Macht Ihnen das etwas aus?“, fragte er, und als sie zögerlich bejahte, sagte er: „Um ehrlich zu sein, ich bin nicht besonders weit gekommen.“ Weshalb genau, sagte er ihr nicht, ebenso sagte er ihr nicht, dass er sie vermisste. Es freute ihn, wieder ihre Stimme zu hören, auch wenn sie schwach war und am Telefon etwas anders klang. „Wissen S-… Weißt du, wenn du möchtest und es deinem Bruder nicht zu viele Umstände macht, kannst du ihn fragen, ob er das Buch mitnehmen kann nächstes Mal.“ Es war ungewohnt, den anderen zu duzen. Das telefonische Vorlesen war eigentlich keine so schlechte Idee. Da sie noch morgen und übermorgen hier bleiben würde und außer ihrem Mobiltelefon und ihrem Notebook, um das sie Madara noch bitten sollte, nichts hatte, womit sie sich beschäftigen könnte, könnte sie Izuna via Telefon vorlesen. Ihr Einfall fand bei Izuna offensichtlich Anklang. Das Telefonat dauerte nicht lange, aber Sakura fühlte sich danach belebt. Sie erinnerte sich, dass sie noch ihre Eltern kontaktieren musste, es führte kein Weg daran vorbei. [center"]___ Sie vernahm ein Klopfen an der Tür. Im ersten Augenblick war ihre Freude über Madaras Besuch immens. Als er allerdings in ihrem Sichtfeld erschien, gepflegt und im Anzug unter dem Mantel, verwandelte sich die Freude in Schamgefühl. Sie saß hier, mit fettigem Haar, einem furchtbaren Hautzustand, ungewaschen, mit Sicherheit unangenehm riechend. Sie zog die Lippen in den Mund, senkte den Kopf. Sie hätte sich irgendwie gewisse Körperpartien waschen können, mit Sicherheit. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie er an den Tisch trat. Madara zog sich den Mantel aus und hing ihn akkurat über die Stuhllehne. Auf den Tisch legte er das mitgebrachte Buch ab, das er in eine Tüte verstaut hatte. Draußen schneite es. Er trat ans Bettende. „Wie fühlen Sie sich? Gefällt Ihnen das Zimmer?“ „Es ist schön“, sagte sie. Die Zähne hatte sie sich geputzt, dennoch hatte sie das Gefühl, dass sie ihre Mundhygiene seit Tagen vernachlässigte. Mit einem Mal wünschte sie, er hätte auch am Abend keine Zeit für sie gefunden. Rasch verbarg sie den vergessenen Katheter unter der Decke, obwohl er ihn bereits gesehen hatte. „Frau Haruno, ist alles in Ordnung?“ Er machte einen Schritt nach vorne, dann einen zweiten. Er ließ sich auf das Bett nieder, legte seine Hand auf die ihre. Sakura hatte die Finger fest in die Decke gekrallt. Ein leiser Schluchzer erreichte seine Ohren. „Weinen Sie?“ Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, und während ihr gesamter Leib vor Scham brannte, versuchte Madara in Erfahrung zu bringen, was mit ihr nicht stimmte. „Haben Sie Schmerzen? Soll ich eine Schwester rufen?“ Sakura schüttelte den Kopf. Die Tränen rannen über ihre Wangen, über ihre Lippen. Sie wollte nicht weinen, konnte aber keine Kontrolle über sich erlangen. „Ich fühle mich schmutzig“, brachte sie schließlich stückchenweise hervor, und Madaras Lippen verließ ein Laut der Erleichterung, denn er verstand. Er ergriff ihre Hände und nahm sie ihr vom Gesicht. „Sehen Sie mich an“, sagte er bestimmend. „Sie müssen sich nicht schämen, Frau Haruno.“ „Wirklich?“, fragte sie zitternd und tränenerstickt. Er schmunzelte in sich hinein. „Ja, wirklich.“ Sie wusste selbst nicht so recht, was sie tat, als sie sich an seine Brust warf, das Gesicht in seinen Anzug vergrub. Eine massive Hitzewelle schoss durch seinen Körper, sein Inneres erbebte, seine Hände wurden schwitzig. Sakuras Kopf ruhte nun an seiner Brust, einige Male schluchzte sie noch, dann kehrte völlige Stille ein. Sie nahm seinen Duft wahr, nahm ihn wahr wie eine ferne Erinnerung, denn er war größtenteils verflogen. Madara saß wie zu Stein erstarrt da, überrumpelt von Sakuras Aktion. Es war etwas her, dass er einer Frau körperlich so nahe gewesen war. Er konnte nicht sagen, was er empfand, und so forschte er mit gerunzelter Stirn intensiv nach einer Antwort. Sakura gab einen leisen Seufzer von sich. Ihr rosafarbenes Haar roch entgegen aller Erwartung durchaus noch angenehm, nach Kirsche. Den Duft, der offenbar tagelang beständig blieb, hatte er stets wahrgenommen, wann immer er nach ihr das Badezimmer betreten hatte. Madara schluckte. Sie spürte, wie er zuerst einen, dann den anderen Arm um sie legte; er schloss sie in eine lasche Umarmung, die fester wurde, als sie sich von Madara zu entfernen versuchte. Er mochte ihre Nähe, auch wenn sie ihn ziemlich unvorbereitet getroffen hatte und er sich nicht sicher gewesen war, was er davon zu halten hatte. Es fühlte sich gut an, es fühlte sich schön an. Ihm war, als hätte man ihn sämtlicher Belastung entledigt wie einem Kleidungsstück. Sie kam ihm so schmal, so zerbrechlich vor, obwohl sie eine starke Frau war. Das Geräusch von kullernden Rädern drang von draußen zu ihnen, und Madara löste die Umarmung. Tiefes, unergründliches Schwarz traf auf tränendurchsetztes Grün. Er stand auf, holte aus seinem Mantel eine Packung Taschentücher und reichte sie ihr stumm. Sakura tupfte sich die Tränen weg und sank auf das Bett. Ihr Unterleib schmerzte. Sie versuchte, sich zu entspannen, schloss die Augen und atmete einige Male kontrolliert ein und aus. „Entschuldigen Sie bitte. Danke“, sagte sie schließlich leise und mit rauer Stimme. „Ich habe meine Eltern angerufen. Sie wollen beide morgen vorbeikommen.“ Von ihrer Mutter hatte es Ärger gegeben, weil Sakura sie nicht gleich über ihren Zustand in Kenntnis gesetzt hatte. Gerade ihrer Mutter, die vor einer Woche ihre langjährige Arbeit verloren hatte und deshalb am Boden zerstört war, hatte sie nicht mitteilen wollen, dass sie im Krankenhaus lag. „Gut“, kommentierte Madara. „Ich hatte keine Zeit, Ihnen etwas zu kaufen.“ Dafür brachte er das Buch mit. In Sakuras Ohren hörte sich das wie eine Entschuldigung und eine Rechtfertigung an. „Das Essen hier ist viel besser als im anderen Krankenhaus.“ Allgemein seien die Standards gut, und Madara konnte nur nicken. Er erzählte ihr über das Frauenklinikum das, was er von Hashirama wusste. Man hatte es neben der Psychiatrie erbaut. Sakura war in der Nacht kurz aufgewacht und hatte jemanden laut schreien gehört. Sie war sich nicht sicher gewesen, ob es Einbildung gewesen war, nun glaubte sie nicht, dass sie sich etwas eingebildet hatte. Hoffentlich würde sie später kein mulmiges Gefühl haben, das sie beim Einschlafen hinderte. Madara verließ Sakura erst, als ihm mitgeteilt wurde, dass die Besuchszeit um sei. Im Auto dachte er über seine Nachhilfeschüler, Studenten und das Großkolloquium nach, versuchte, seine Gedanken von Sakura wegzutragen. Das wollte ihm nicht gelingen, denn er kam immer wieder zu Sakura zurück. [center"]___ „Können Sie alleine aufstehen?“ „Ich habe es bis jetzt nicht ausprobiert“, gestand sie der Schwester. Es war eine andere als gestern, aber nicht minder freundlich. Sakura atmete tief durch und schwang die Beine über den Bettrand. Sie fühlte sich schwer. Mit dem Katheter in der Hand bewegte sie sich mit langsamen Schritten vorsichtig ins Bad. Es war ansehnlich, sauber bis auf die Fugen und erstrahlte vor Sauberkeit im künstlichen Licht. Sakura wurde wieder der Rücken gewaschen, den Rest erledigte sie alleine. Sie trug die einzige Creme auf, die sie da hatte, damit ihre Haut nicht so trocken war. Sie frühstücke heute am Fenster. In ihr Blickfeld drängten sich drei trostlose Gebäude, im Hintergrund ein wintergrauer Himmel. Der Ausblick im anderen Krankenhaus hatte ihr besser gefallen – der Rest stellte sie mehr als zufrieden. Sobald sie aufgegessen hatte, rief sie Izuna an. Sie stellte das Mobiltelefon auf Lautsprecher und las ihm ein Kapitel vor. Sakura hatte sich eine Flasche Wasser auf den Tisch gestellt, aus der sie einen Schluck trank. Sie besprachen das Kapitel zusammen, teilten einander mit, welche Stellen ihnen besonders gefallen hatten. Am Anfang hatte sie ihm ohne wirkliches Eigeninteresse vorgelesen, nun fand sie, dass das Buch gelungen war und wollte selbst weiterlesen. Izuna wollte Sakura eigentlich erzählen, dass Madaras Geburtstag nahte und er nicht wusste, welches Geschenk er seinem Bruder machen sollte. Aber er überlegte es sich anders und beschloss, das Thema erst aufzuwerfen, wenn Sakura aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Am Nachmittag kamen ihre Eltern an und brachten ihr Blumen und Schokolade. Sie musste sich Vorwürfe von ihrer Mutter anhören, während ihr Vater einfach nur froh war, dass die Operation geglückt war und seine Tochter nicht lange zur Beobachtung bleiben musste. Sie verweilten bis zum Abend. Die Zeit hatten sich Mebuki und Kizashi mit Spaziergängen in der Gegend und einem Restaurantaufenthalt vertrieben. Madara tauchte auf, als sich Sakuras Eltern auf den Rückweg machen wollten. Er machte auf die beiden Eindruck mit seiner Erscheinung und seiner Art zu sprechen. Sie waren ihm sehr dankbar dafür, dass er ihnen anbot, sie zum Bahnhof zu fahren, damit sie nicht ein zweites Mal Geld für ein Taxi ausgeben mussten. Madara kehrte nicht zu Sakura zurück, sondern rief sie an, sobald Mebuki und Kizashi im Zug waren. Er versprach ihr, morgen Abend vorbeizukommen und legte dann auf. Kapitel 10: ------------ * Es war ein gutes Gefühl, wieder hier zu sein. Die Ankunft in Madaras und Izunas Wohnung an einem sonnigen, aber kalten Samstagvormittag kam ihr vor wie die Heimkehr nach einer langen Reise um die Welt. Madara öffnete die Tür in ihr Zimmer und folgte der jungen Frau mit den Augen. Sie sah nicht die hellen Funken in der erleuchteten Schwärze, sondern konzentrierte sich. Sakura kam sich hochschwanger vor, als sie, sich mit der einen Hand auf der Bettkante abstützend und mit der anderen ihren Bauch haltend, auf der Liegegelegenheit Platz nahm und mit gerundeten Lippen lautlos ausatmete. Das Fortbewegen fiel ihr noch ein wenig schwer. Madara stand im Türrahmen, die Finger um die Klinke gelegt, und sah sie an. Sakura machte immer noch einen kranken und leidenden Eindruck, aber jetzt, da sie hier war, würde es mit ihr die nächsten Tage schnell bergauf gehen und sie würde sich wieder voll und ganz ihren pflegerischen Tätigkeiten widmen können – sie hatte ihm im Auto versichert, dass sie in der Lage sein würde, ihrer Arbeit wie gewohnt nachzugehen. Er hatte sich öfter über die vorherrschende Lage geärgert, versucht, sich bei einer Zigarette in der Küche zu beruhigen und war schlussendlich zu dem Ergebnis gekommen, dass Sakura nichts dafür konnte und nicht gerne im Krankenhausbett lag. Madara empfand tiefste Genugtuung, weil Sakura wieder da war. Die Gewissheit, dass Izuna nun wieder unter Aufsicht stand, wenn er selbst weg war, glättete die restlichen unruhigen Wellen, die in den letzten Tagen gegen Madaras Gemüt geschlagen hatten. In der Zeit nämlich, in der Sakura im Krankenhaus gelegen hatte, hatte er nur selten und kurzzeitig die Wohnung verlassen – mit einem blutenden Herzen und hatte Izuna, wann immer es ihm möglich gewesen war, angerufen, ihn gefragt, ob er das Essen gefunden hätte, ob alles in Ordnung sei. Sein jüngerer Bruder war irgendwann enorm genervt gewesen und hatte Madara damit gedroht, das Mobiltelefon irgendwo zu verstecken und nicht heranzugehen, sollte Madara seine Anrufe nicht reduzieren. Madara wandte sich von Sakura ab, als Izuna aus dem Bad kam. Er musste sich dorthin begeben haben, gleich nachdem Madara ihm mitgeteilt hatte, dass sie sich auf den Weg machen wollten. Vor nicht allzu langer Zeit hätte er sich um Hygiene vor anstehendem Besuch oder derlei kaum geschert. Izuna hatte Sakura nicht ungewaschen begegnen wollen. Izuna tastete sich sicher an der Wand entlang zu Madara und hielt neben ihm an. „Ist Sakura im Zimmer?“, wollte er wissen. Seine Haare waren trocken. Madara bejahte und machte Platz für seinen Bruder. Izuna streckte die Hände aus und setzte seine Füße langsam in Bewegung. Kaum am Bett angekommen, begann er, Sakura über die Visite heute Morgen auszufragen. Izuna war für seine Verhältnisse guter Laune und schien froh darüber zu sein, dass Sakura heute entlassen worden war. Schließlich hatte er seine Vorleserin wieder, seine einzige Freundin. Ja, sie war ihm nun eine Freundin. Madara schüttelte den Gedanken ab, dass Sakura sich in fünf Monaten nicht mehr um Izuna kümmern würde. Es gefiel ihm, Sakura nach einer langen Zeit lächeln zu sehen und es gefiel ihm zu sehen, wie vertraut die beiden miteinander umgingen. „Er ist weg, oder?“, fragte Izuna Sakura, als Madara die Tür schloss und sich in sein Zimmer entfernte. „Ja, ist er.“ Sakuras Verwunderung über den flüsternden Ton des anderes wich Begreifen, sobald sie von Madaras nahendem Geburtstag erfuhr. Izuna erzählte ihr, wie die Brüder es bis dahin mit Geburtstagen gehandhabt hatten und fügte hinzu, dass er keine Ahnung hätte, womit er Madara dieses Mal eine Freude machen könnte. Beide wurden nachdenklich. Früher hatte sich Izuna darauf verlassen, etwas Schönes in Ramschläden zu finden, jetzt musste er sich ausschließlich auf Sakura verlassen, die Madara nicht so gut kannte wie er. Es war schade und er war darüber durchaus betrübt. „Machen wir es so“, schlug Sakura vor, „wir sammeln bis heute Abend Ideen und schauen dann im Internet nach, in Ordnung?“ Sie hatte bereits eine Idee für ihren Teil des Geschenks. Da Madara einiges auf ihre Kochkünste gab, würde sie später in Erfahrung bringen, was Madaras Lieblingsessen war und es am vierundzwanzigsten zubereiten. Izuna war einverstanden. Da Sakura sich duschen wollte und nach einer gefühlten Ewigkeit ihre Haut wieder mit ordentlicher Pflege verwöhnen wollte, machte Izuna sich zum Gehen bereit. Bevor er sie verließ, hielt er an der Tür inne und drehte den Kopf zu ihr. Er öffnete den Mund, schloss ihn dann aber wieder, rieb sich etwas verlegen den Nacken und sagte schließlich zögernd: „Es… ist ganz schön. Dass du wieder da bist, meine ich.“ Seine Worte verschlugen ihr die Sprache, doch bevor er verschwinden konnte, sagte sie schnell: „Ich finde es auch schön, wieder hier zu sein.“ Er sah sie nicht lächeln, aber er wusste, dass sie es tat. Sobald er fort war, nahm sie eine Dusche, cremte sich ein und ging in die Küche, um sich Mittagessen zu machen. Sie traf auf Madara, der in alltäglicher Bekleidung den Abwasch, der eigentlich längst fällig war, erledigte. Es war für Sakura ein sehr seltsames und seltenes Bild: Madara Uchiha in einem einfachen, schwarzen, langärmeligem Oberteil und einer ebenfalls schwarzen, Falten werfenden Hose. Obwohl Madara nach jedem Mal gelüftet hatte, lag noch wahrnehmbar der Geruch von Zigaretten in der Luft. „Kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie mit hinter dem Rücken verschränkten Armen und schief gelegten Kopf. Er warf ihr einen flüchtigen Blick zu und sagte ihr, sie könne ihm beim Abtrocknen helfen. Die ersten Sekunden schwiegen sie. Es war Madara, der als Erster die Stimme erhob. „Das Großkolloquium findet am einundzwanzigsten Januar statt, an einem Donnerstag.“ Sie würde nicht kommen können und das wusste er, schließlich musste sie auf Izuna Acht geben. Er wünschte, es wäre möglich, schließlich waren nur die wenigsten Kolloquien gut besucht und Dozenten freuten sich über jedes junge Gesicht. Wieder schwiegen sie. „Ich würde gerne kommen.“ Sakura legte das eben abgetrocknete kleine Brettchen beiseite. „Aber es würde Ihnen schwer fallen, Izuna alleine in der Wohnung zu lassen, das weiß ich. Sie wären sehr unruhig. Ich merkte Ihnen im Krankenhaus an, dass Sie schnell wieder zu ihm wollten.“ Sie nahm ihm das nicht übel, verstand ihn sogar, aber sie fand, dass es langsam Zeit war, den nächsten Schritt nach vorne zu machen. Ihr Aufenthalt hier war temporär und sie musste Izuna nicht nur hüten, sondern wollte ihm helfen, mit seiner Situation auch alleine fertig werden zu können. „Ich weiß nicht, ob Sie es eventuell schon in Betracht gezogen haben“, begann sie vorsichtig, „aber Izuna könnte doch mitkommen. Zum Kolloquium, meine ich.“ Madara hielt in seinem Tun inne und taxierte sie mit einer merkwürdigen Miene: Einerseits war er skeptisch, andererseits sah er aus wie jemand, der soeben eine Eingebung bekommen hatte. „Hm.“ Es war an sich kein schlechter Vorschlag: Izuna machte laut Sakura Fortschritte, und auch er selbst sah, dass sein Bruder sich zum Positiven änderte. Er wusste nur nicht, wie es Izuna im Auto und beim Kolloquium ergehen würde. Sein Bruder war lange aufgewühlt gewesen, als die Männer gekommen waren, die Sakura ins Krankenhaus gebracht hatten. Aber es war eine ganz andere Situation gewesen. „Ich schlage vor, wir fragen Izuna, was er davon hält.“ Letztendlich lag die Entscheidung einzig bei Izuna. „Wovon?“ Izuna betrat wie auf Kommando die Küche und blieb am Esstisch stehen. Madara und Sakura sahen sich an, und sie nickte ihm zu. „Würdest du zu einem Großkolloquium mitbekommen wollen?“, wurde er von Madara gefragt. Der Gefragte runzelte die Stirn und tastete nach dem Esstisch. „Ich weiß nicht“, gab Izuna ahnungslos zurück. Mehr sagte er nicht, und so beschlossen Madara und Sakura im stillen Einvernehmen, ihn ein anderes Mal zu fragen. ___ Nach dem gemeinsamen Abendessen fanden sich die junge Frau und Izuna auf dem Sofa in Sakuras Zimmer zusammen. Erst einmal musste geklärt werden, was für eine Art von Geschenk verschenkt werden sollte: Ein Dekorationsartikel oder etwas, das Madara verwenden konnte. Das Erste aus der zweiten Kategorie, was den beiden in den Sinn kam, war Parfüm. Aber Madara war mit Düften mittlerweile gut eingedeckt. Was Dekorationsartikel betraf, so mochte Madara kleine, unikale Sachen, die man sich auf Tische oder Regale stellen konnte und nicht etwa ein pompöses Bild oder ein gigantischer Wandteppich. Sakura rieb sich mit dem Handrücken das Kinn und dachte angestrengt nach. „Vielleicht etwas, wo sein Name drauf steht?“, murmelte sie. Izuna zuckte nur mit den Schultern. Eigentlich hatte sie etwas anderes in die Suchleiste tippen wollen, doch war sie so sehr in Gedanken, dass sie Madaras Namen eingab, ohne es zu registrieren. Erst nachdem sie die Eingabetaste betätigt hatte und ihr sämtliche Ergebnisse zu Madara angezeigt wurden, realisierte sie ihren Fehler. Izuna zuckte zusammen, als Sakura plötzlich glockenhell auflachte. „Was ist los?“, wollte er sogleich wissen. Sakura erzählte ihm amüsiert, dass es offenbar eine kosmetische Firma Madara gäbe, und Izuna konnte sich ein schiefes Grinsen nicht verkneifen. Während sie interessiert auf der offiziellen Website stöberte, lenkte Izuna seine Gedanken auf das Großkolloquium. Er hatte lange nicht mehr in einem Auto gesessen und war lange nicht mehr mit vielen Menschen im selben Raum gewesen. Sakuras Stimme holte ihn wieder in das Hier und Jetzt zurück. „Wie wäre es, wenn wir ihm etwas aus dem Bereich der Hautpflege schenken? Hier gibt es für jeden Hauttyp etwas.“ Soweit sie es hatte beurteilen können, hatte Madara normale Haut. Im Winter war Feuchtigkeit besonders wichtig, und Sakura hatte gesehen, dass er im Bad eine einzige Feuchtigkeitscreme hatte, die allmählich zur Neige ging. „Er kann es verwenden und es steht sein Name drauf“, ergänzte Sakura schelmisch. Bei Izuna fand diese Geschenkidee Anklang. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die beiden etwas Besseres fänden, und so bestellte Sakura eine milde Feuchtigkeitscreme und einen minimalistisch aufgebauten Reinigungsschaum auf ihren Namen. Er ließ sie aus seinem Geldglas, das er in seinem Zimmer aufbewahrte, zwei Scheine nehmen und vertraute auf ihre Ehrlichkeit. Später beschrieb Sakura zwei kleine Zettel mit ihrem Vor- und Nachnamen; den einen brachte sie unter Einsatz von Tesafilm über die Türklingel, den anderen klebte Madara auf ihre Bitte hin am Montag unten über seinem und Izunas Namensschild. Die Bestellung kam am Dienstag an. Sakura nahm das Paket am frühen Nachmittag entgegen und versteckte es bis Donnerstag in ihrem Zimmer. Am Donnerstag schon war sie in der Lage, sich vernünftig fortzubewegen und musste nicht mehr so viele Anrufe ihrer Eltern entgegennehmen, die sich nach ihrem Zustand erkundigten. Sie schrieb Madara eine Nachricht, in der sie ihn fragte, wann er heimkehren werde. Madara fand diese Frage ungewöhnlich. Er assoziierte sie überhaupt nicht mit seinem Geburtstag. Tatsächlich hatte er heute kein einziges Mal daran gedacht, denn für ihn war es ein normaler Arbeitstag. Ich werde heute gegen 22:00 Uhr da sein, tippte er. Madara ging davon aus, dass es keinen besonderen Grund für die Frage gab. ___ Nur in der Küche brannte Licht, als er die Wohnung betrat. Es war kurz nach zweiundzwanzig Uhr. Er entledigte sich seiner Schuhe und begab sich dahin. Ihm bot sich ein Anblick, mit dem er wahrlich nicht gerechnet hatte: Der Esstisch war gedeckt. Teller, Schüssel, Gläser und zwei Flaschen waren um eine in grünes Geschenkpapier verpackte, rechteckige Box anscheinend symmetrisch angeordnet – Sakura hatte die prktische Option genutzt, die Produkte als Geschenk verpacken zu lassen. Sakura und Izuna saßen am Tisch, und ihre Gesichtsausdrücke waren auffordernd und bedeutungsvoll. „Was ist das hier?“, wollte Madara wissen, obwohl er bereits ahnte, was vor sich ging. Sakura stand auf. Ihre Lippen waren zu einem Lächeln geformt und ihre grünen Augen funkelten ihn an wie Sterne, als sie ihm die Hand reichte und ihm zum Geburtstag gratulierte. Sie hatte sich zurechtgemacht: Die Augen wirkten durch die nun dunklen, voluminösen und gebogenen Wimpern größer; sie hatte ihre Brauen nachgezeichnet und Lidschatten aufgetragen; ihre Wangen zierte eine hauchdünne Schicht pinkfarbenen Rouges; ihren Lippen hatten durch einen einfachen, farblosen Pflegestift an Fülle und Feuchtigkeit gewonnen. Ihr Gesicht sah frisch aus und strahlte ihm geradezu entgegen. Izuna tat es Sakura nicht nach, sondern sagte nur, dass Sakura das alles vorbereitet hatte. Er hatte auf die beglückwünschenden Worte verzichtet, da Madara sie nicht sonderlich gut leiden konnte. Madara allerdings schien es nichts ausgemacht zu haben, Sakuras Glückwünsche zu empfangen. Die junge Frau bat ihn darum, Platz zwischen ihm und Izuna zu nehmen. Madara eilte in sein Zimmer, um sich umzuziehen, und als er sich auf den ihm zugeteilten Stuhl pflanzte, ließ er seinen Blick genauer über die Tischplatte schweifen und entdeckte das Gericht, dass er seit Kindesbeinen an sein liebstes nannte: frittierte Tofutaschen. Sakura hatte sich mit Sicherheit mit Izuna abgesprochen. „Wollen wir anfangen?“, fragte Sakura fröhlich in die Runde und wünschte beiden Männern einen guten Appetit. Gespannt wartete sie auf Madaras Meinung zu dem zubereiteten Essen und besonders zu den Tofutaschen. Sie hatte sich Mühe gegeben, ärgerte sich aber im Nachhinein über die Unförmigkeit der Taschen. Madaras Appetit war groß, denn allein von den satt machenden, mit Reis gefüllten Taschen verzehrte er drei mit großem Behagen. Optisch waren sie in Ordnung; geschmacklich befriedigten sie ihn auf ganzer Linie. „Sie sind Ihnen gut gelungen“, sagte Madara zu Sakura, sobald er ihrer erwartungsvollen Miene begegnete. Seine Worte schmeichelten ihr und füllten ihre Brust mit Zufriedenheit und Stolz, und er merkte, dass sie sich über seine Bewertung freute. Kaum waren alle satt, überreichte Sakura Madara sein Geschenk mit den Worten, Izuna und sie seien darauf im Internet gestoßen und hätten sich darauf geeinigt, ihm das zu schenken. Er befreite die Box vom Geschenkpapier, und Sakura hatte das Gefühl, dass er es sehr vorsichtig, beinahe schon ehrfürchtig tat. Sie beobachtete ihn: Seine Mundwinkel wanderten kaum merklich nach oben. Sowohl Geschenkpapier als auch Box waren unscheinbar, und so wusste Madara nicht, was ihn gleich erwarten würde, als er in die Box griff. Er holte zuerst die Creme heraus. „Madara“, las er laut, stutzte für einen Augenblick und zog eine Augenbraue hoch. „Und?“, kam es von Izuna, der sich in Madaras Richtung lehnte. „Interessant.“ Er klang belustigt. „Ich hätte, um ehrlich zu sein, nicht mit einem Geschenk gerechnet. Eine angenehme Überraschung ist das, die ihr auf die Beine gestellt habt.“ Sakura wäre mit dieser Reaktion nicht glücklich gewesen, wenn sie ihn nicht gekannt hätte. Die Creme stellte Madara auf den Tisch ab und entnahm der Box nun auch den Reinigungsschaum. Es waren beides Dinge, die er sehr gut gebrauchen konnte. „Wie seid ihr darauf gekommen?“, wollte er wissen. Sakuras Erklärung zauberte ihm ein blasses Lächeln ins Gesicht; er folgte ihren Lippen, die sich vor Amüsement kräuselten. Manchmal, da hob sich ihre Nasenspitze. „Betrachten Sie diese Sachen als Izunas Geschenk und das späte Essen als mein eigenes.“ „Ich hoffe, du freust dich, Bruder.“ „Natürlich“, versicherte Madara. Er wuschelte seinem Bruder durch das Haar und tätschelte ihm die Hand. Bald zog sich Izuna auf sein Zimmer zurück, und eine halbe Stunde später verließen auch Madara und Sakura die Küche. Er begleitete sie bis zur Tür in sein Zimmer, so als wären sie in finsterer Nacht auf der Straße unterwegs und als geleitete er sie zur Eingangstür ihres Hauses. „Ich schätze Ihre Mühe sehr, Frau Haruno.“ Er machte eine Pause und sah sie an. „Danke.“ „Das habe ich sehr gerne gemacht.“ Sie meinte es so, wie sie es sagte. Auch wenn Madara sparsam war mit Emotionen, hatte sie ihm angesehen, dass er angenehm berührt gewesen war von dem Essen und dem Geschenk. „Gute Nacht, Herr Uchiha.“ Sein Blick ruhte immer noch auf ihr, als sie nach der Türklinke griff. Fragend schaute sie ihn an und spürte, wie allmählich Müdigkeit in ihr aufstieg, und so war sie sich am nächsten Tag nicht wirklich sicher, ob das Folgende tatsächlich geschehen war: Er umarmte sie. Er tat es zaghaft, er drückte sie nicht an seinen Leib, legte nur einen Arm um sie. Zwischen ihnen war viel Raum und gleichzeitig keiner. In den letzten Tagen hatte er sich vermehrt nach einer weiteren Umarmung gesehnt, nach dem Duft ihres Haars, nach ihrer Nähe. Sie tat ihm gut. Er hatte von etwas gekostet, das er nicht mehr missen wollte. „Gute Nacht.“ Er hatte diese Worte leise ausgesprochen, fast schon geflüstert. Ihr war warm. Es war still. Sie glaubte, ein Herzschlag zu vernehmen, war sich aber nicht sicher, ob es ihr Herz war oder seins. Sakura erinnerte sich daran, wie sie sich an seine Brust geworfen hatte, und ihr wurde noch wärmer. Die Wärme blieb, als er sich von ihr löste. Sie starrte ihn im Halbdunkel an. Madara wiederholte seinen Gute-Nacht-Wunsch, so als hätte er vergessen, dass er ihn bereits geäußert hatte, drehte sich um und ging. Erst als er in seinem Zimmer war, betrat Sakura ihr eigenes Zimmer. Ihre Hände waren wie mit Schweiß durchtränkt und ihr Herz klopfte wie verrückt. Kapitel 11: ------------ [center"]* Unter seinen Füßen knirschte es. Es war nicht Schnee, der unter seinen gefütterten Schuhen nachgab. Von der funkelnden, weißen Pracht war nur wenig übrig geblieben. Am Sonntag waren sie erschienen, in hohen Mengen und von der Größe junger Erbsen: Regentropfen, denen ein Temperaturanstieg vorausgegangen war. Es machte den Anschein, als hätte jemand literweise Eiskaffee verschüttet.   Izuna ließ sich von Sakura sagen, dass es um sie herum nichts als Matsch gebe und der Himmel grau sei. Sie klang ein wenig gereizt und er verstand sie. Der Gehweg war geräumt und bestreut worden und war bedenkenlos begehbar – dennoch ließen beide Vorsicht walten. Das ständige knirschende Geräusch verknüpfte er gedanklich mit dem Zerknüllen von Papier, und unwillkürlich wurde er in eine Zeit versetzt, in der er als kleiner Junge und Jugendlicher Listen an Dingen erstellt hatte, die er unbedingt hatte machen wollen. Jede der Listen, auf denen waghalsige Aventüren, bei denen seiner Mutter ganz schwindelig geworden war, Hand in Hand mit Berufswünschen eingingen, zerknüllte er Monate später. Jedes Jahr aufs Neue hatte er sich gedacht, er hätte seine vollendete, perfekte Form erreicht und würde wissen, was er vom Leben wollte, und jedes Jahr aufs Neue war er eines Besseren belehrt worden. Irgendwo in seinem Zimmer befand sich die letzte jener Listen, die er angefertigt hatte. Sie war nicht lang. Ans Meer fahren hatte er damals in sauberer Schrift geschrieben und an die Klassenfahrt gedacht, auf der er das allererste Mal mit Meer und Strand in Kontakt gekommen war. Aber nicht nur damit, er hatte auch das allererste Mal Händchen mit einem Mädchen gehalten. Seit dem nicht mehr. An die Einsamkeit gewöhnte er sich und die Themen Liebe und Beziehung wurden ab dem Morgen, an dem er im Nebel aufwachte, ohnehin irrelevant. „Hier müsste doch irgendwo eine Bank sein, oder?“, fragte er Sakura mit gerunzelter Stirn. Die junge Frau war überrascht und erfreut über Izunas Worte. Sie blieben stehen. Er konnte sich mittlerweile gut orientieren, zumindest in der näheren Umgebung des Wohngebäudes. „Tatsächlich, ja“, antwortete sie ihm. „Sie ist sehr nass. Willst du dich hinsetzen?“ Jetzt erst fiel ihr auf, dass Izuna ein wenig in sich zusammengesackt war. „Ist alles in Ordnung?“ Sie war besorgt, und Izuna war in diesem Augenblick unendlich froh, sie da zu haben, zu wissen, dass seine Verfassung gesehen wurde und sie nicht kalt ließ. Es war ihre Arbeit, ihre Verpflichtung, aber er wusste, dass sie sich um sein Wohlergehen aufrichtig bemühte. Er wollte sich ihr anvertrauen, zeitgleich war er sich unsicher, denn er hatte darüber nie mit irgendjemandem gesprochen. Nicht einmal mit seiner Mutter, als er noch eine gehabt hatte, und nicht einmal mit Madara. Er merkte, wie sich in seinem Hals ein Kloß formierte. Er schluckte und richtete seinen Kopf in Sakuras Richtung. „Ich würde mich gerne hinsetzen, ja.“ Sie fand in ihrer Jackentasche eine Packung mit Taschentüchern vor, mit denen sie die Bank so gut es ging von Nässe befreite. Sakura hatte sich mittlerweile damit arrangiert, dass er auf einige ihrer Fragen nicht gleich einging, sondern Zeit brauchte, und die gab sie ihm auch, ohne auf ihn einzureden. So saßen sie eine Weile lang auf der Bank. Manchmal fiel eine Schneeschicht von den Ästen der kahlen Bäume in der Nähe und durchbrach die kirchliche Stille, die zwischen ihnen herrschte. Er erhob die Stimme in dem Moment, in dem sie es am allerwenigstens erwartet hatte. „Denkst du, mich wird jemals eine Frau mögen?“ Seine Frage überrumpelte sie. Ein überraschter Laut entglitt ihren Lippen, bei dem Izuna leicht den Mund verzog. Bestimmt fragte sie sich, wie er darauf kam. Mit einem Mal stempelte er diese Frage, kaum dass Sakura adäquat darüber hatte nachdenken können, als blödsinnig ab und wünschte, er hätte sie nie ausgesprochen. Er wollte nicht einmal eine Antwort hören, er konnte sich gut vorstellen, dass sie ihm aufmunternd zusprechen würde, nur damit Hoffnung in ihm glomm und Resignation keine Option war. Selbstverständlich würde sich keine Frau auf ihn einlassen – wo sollte er in erster Linie überhaupt eine kennenlernen? Und wenn doch, so würde es zu Schwierigkeiten kommen. Konnte man jemanden mögen, von dem man nicht wusste, wer er ist? Aussehen gehörte zu einer Person genauso dazu wie ihr Charakter, ihre Vorstellungen und Ansichten – nach wie vor war Izuna überzeugt davon, dass man einen Menschen, den man nicht sah, nicht vollständig kannte und es niemals tun würde. Er mochte Sakura. Er schätzte ihre Taten. Er konnte mit ihr reden. Aber es fehlte etwas. Das würde immer der Fall sein. Entgegen seiner Erwartungen begann Sakura, von ihrer Arbeit zu erzählen: „Ich habe vor etwa einem Jahr eine junge Blinde betreut. Sie war jünger als du.“ Sakura blickte in den Himmel, während sie sprach, so als sähe sie die Reflektion der Frau im hellen Grau. „Sie hatte einen Freund, und er liebte sie wirklich sehr. Sie kannten sich schon vorher. Er hätte sie in keiner Lebenslang im Stich gelassen und sie liebten sich genauso sehr wie vorher. Ich erinnere mich auch ganz genau an einen Mann, der eine herzensgute Freundin fand. Er hat Frauen getroffen, obwohl er blind war. Selbstverständlich würde sich nicht jeder darauf einlassen. Das ist auch vollkommen in Ordnung und es ist falsch, diese Menschen zu verurteilen, letztendlich geht es um individuelle Präferenzen. Es gibt aber nun einmal Menschen, die über eine Einschränkung hinwegsehen können oder bereit sind, viel Geduld, Zeit und Verständnis mitzubringen.“ Sakura wusste nicht, weshalb, aber als sie sich Izunas Frage ein weiteres Mal durch den Kopf gehen ließ, dachte sie an Madara. Sie dachte an den gestrigen Abend, an seine Umarmung und seinen Duft, und ihr wurde ganz merkwürdig. Das Ereignis war zu einem Traum geworden, an den sie sich heute Morgen nicht mehr hatte erinnern können. Jetzt war ihr alles wieder eingefallen. Sie hatte Madara heute noch nicht gesehen und sah einem möglichen Aufeinandertreffen mit ihm gemischten Gefühlen entgegen. Wäre Izuna nicht Madaras Bruder gewesen, sie hätte sich ihm vielleicht anvertraut. Immerhin hatte er ihr davon erzählt, was ihn gerade beschäftigte. Izuna stand auf. „Ich würde gerne noch ein wenig draußen bleiben.“ Sie führten ihren Spaziergang fort. Während Izuna über Sakuras Worte nachdachte, versuchte die junge Frau, nicht über eine mögliche Kollision mit Madara nachzudenken. Irgendwann, das wusste sie allerdings, würden sie einander gegenüberstehen. Sie atmete tief durch und glaubte, seinen Geruch aufgenommen zu haben. * Als er nach Hause kam, war es kurz vor Mitternacht. In Izunas Zimmer war das Licht aus und er wollte seinen Bruder nicht wecken; im Kühlschrank fand er die Reste des heutigen Abendessens vor, die er unter geschlossener Tür erwärmte und verzehrte. Beim Verlassen der Küche sah er einen schmalen Balken aus künstlichem Licht vor Sakuras Tür, an die er nach wenigem Zögern klopfte. Es kam keine Antwort. Auch beim zweiten Mal klopfen nicht. Da griff er nach der Klinke. „Frau Haruno?“ Spätestens jetzt hatte er mit einer Reaktion gerechnet, aber die kam nicht, und so betrat er ihr Zimmer und stellte fest, dass die junge Pflegerin mit Musik in den Ohren eingeschlafen war.   Sie lag auf dem Bett, die Augen geschlossen, der Mund leicht offen. Ihre linke Gesichtshälfte versank im Kissen; die Züge waren weich, entspannt und glänzten leicht aufgrund der Cremeschicht, die sie jeden Abend vor dem Schlafengehen auftrug. Ihre Haut musste weich und geschmeidig sein. Die Beine, die in einer langen, grauen Hose steckten, hatte sie an den Körper gezogen, und die Hände ruhten zu lockeren Fäusten geballt neben ihr. Gedämpft vernahm er die Musik. Sakuras Schultern hoben sich auf einmal im Schlaf und sie zog die Beine etwas enger an den Körper heran. Es war nicht warm in ihrem Zimmer. Madara ergriff die Decke und breitete sie über Sakuras ganzen Körper aus. Ein blasses Lächeln erblühte unter ihrer Stupsnase und Madara ging davon aus, dass sie von etwas Angenehmem träumte. Da schlug sie plötzlich die Lider auf und ihre Blicke begegneten sich. Sakura begriff im ersten Moment nicht, dass sie Madara vor sich hatte, und als ihr bewusst wurde, dass der Herr des Hauses in ihrem Zimmer stand und sie soeben zugedeckt hatte, wurden ihre Wangen warm und gewannen an Farbe. Die Wärme breitete sich in ihrem gesamten Leib aus und sie glaubte unter ihm und der dicken Winterdecke zu schwitzen. Dennoch verblieb sie unter ihr und sah zu Madaras Füßen. Ein Ohrhörer rutschte aus ihrem Ohr und da erst vernahm sie die Musik, die nun in ihr anderes Ohr floss. Sakura entfernte den Stöpsel und schielte zu Madara hoch, der sogleich Abstand zwischen ihnen schuf, indem er zurücktrat. „Es tut mir leid, dass ich Sie aufgeweckt habe. Ich hatte einige Male geklopft, aber Sie antworteten nicht.“ Die Wärme wurde derart unerträglich, dass Sakura sich aus der Bettdecke schälte und sich aufsetzte. Ihr war, als säße sie nackt vor ihm, unterdrückte aber den Impuls, nach der Decke zu greifen und sie über ihre Schultern zu werfen. „Nein, nein, ist schon in Ordnung“, brachte sie mit kratziger Stimme hervor. „Es ist gut, dass Sie mich aufgeweckt haben.“ Sie griff nach ihrem MP3-Player und stoppte das aktuelle Lied. „Es war heute sehr schön mit Izuna“, fing sie an zu erzählen und lächelte ihm zu. Sie erzählte, damit er nichts sagen konnte, damit er die Unterhaltung nicht in Bahnen lenken konnte, die sie nicht einschlagen wollte. „Das ist schön.“ Madara entging Sakuras sonderbares Verhalten nicht. Sie redete und redete und schien nicht zu wollen, dass er zum Sprechen kam. Ihm war sogar, als hielte sie einen Monolog. Er hörte ihr dennoch zu; schließlich drehte sich in ihrer Rede alles um seinen Bruder, der langsam, aber sicher auftaute. Und dennoch wünschte er sich, sie wären für wenigstens wenige Minuten von Izuna weggekommen und hätten über etwas anderes geredet – nur ganz kurz. War es ein Fehler gewesen, sie zu umarmen? War diese Umarmung der Grund, warum sie sich so seltsam gab? Als Sakura endete, war ihre Kehle ausgedörrt und ihr Herz schlug unkontrolliert gegen ihren Brustkorb. Madara hatte regungslos und schweigsam wie eine Statue vor ihr gestanden. Er nickte, um ihr zu verstehen zu geben, dass er alles vernommen hatte. Er wusste nicht, was er sagen sollte; er würde sich nur wiederholen, wenn er die Beziehung zwischen Sakura und Izuna bewerten würde. Müdigkeit war über ihn gekommen. Er war müde und ein wenig enttäuscht. Er hätte sie gerne noch einmal umarmt. „Bestellen Sie das, was nötig ist. Lassen Sie mich dann nur die Rechnung sehen.“ Er ging zur Tür und wünschte ihr noch eine gute Nacht, ehe er auf den Gang trat und die Tür hinter sich schloss. Seine Finger verharrten für wenige Sekunden an der Türklinke, während Sakura sich ins Bett fallen ließ und einen Seufzer der Erleichterung ausstieß. [center"]* Obwohl Izuna blind war, war ihm innerhalb weniger Tage aufgefallen, dass etwas sowohl mit seinem Bruder als auch mit seiner Pflegerin nicht stimmte. Mal mieden sie sich, mal suchten sie die Nähe des jeweils anderen: Madara bemühte sich um ein Gespräch beim gemeinsamen Essen – Sakura antwortete kurz angebunden; Sakura bemühte sich um ein Gespräch beim gemeinsamen Essen – Madara gab sich lakonisch. Ihr Verhältnis zu ihm hätte er allerdings als wie gewohnt beschrieben, und so grübelte und grübelte der jüngere der Uchiha-Brüder, bis er eine geeignete Hypothese aufstellte und bald genug Beweise hatte, die seine Vermutung bestätigten. Aber er ließ sich nichts anmerken und stellte keine Fragen. Als er am Abend des zwanzigsten Januars – sie saßen gerade am Tisch und aßen – erneut gefragt wurde, ob er zum Kolloquium mitkommen wolle, lehnte er ab. „Wirst du hingehen?“, fragte er Sakura, und die junge Frau warf Madara einen undefinierbaren Blick zu. „Dein Bruder möchte sicherlich, dass ich bei dir bleibe.“ „Ich komme daheim jetzt weitaus besser zurecht“, redete Izuna weiter und trank den Rest seiner Suppe aus. „Ich fände es nicht schlimm, für ein paar Stunden alleine gelassen zu werden.“ Es stimmte: Izuna war im Umgang mit vielen Sachen sicherer geworden und Madaras Sorgen und Ängste hatten sich reduziert. Dennoch war das Wissen, seinen Bruder das erste Mal seit langer Zeit bewusst für mehrere Stunden alleine zu lassen, eigenartig. „Ich würde mich unter so vielen Menschen, die ich nicht kenne, die ich nicht sehen kann, nicht wohlfühlen. Und das weißt du auch, Bruder.“ Madara wischte sich mit einer Serviette über die Lippen und schob die eben geleerte Schüssel von sich. „Ja, ich weiß. Danke für das Essen, Frau Haruno. Es war gut.“ Izuna hatte es sich angewöhnt, ganz genau hinzuhören, wenn die beiden miteinander verbal kommunizierten; Madara sprach zu Sakura wie zu einer Vertrauten, seine Stimme weich. Diese Feststellung biss sich allerdings mit dem Frau Haruno, das Distanz vermittelte. Ein einziges Mal, Izuna wusste nicht, wann genau, hatte er sie geduzt, Madara selbst war es aber nicht aufgefallen. Izuna appellierte weiterhin an Madara – und auch an Sakura. Er tat es ungezwungen; er wollte nicht, dass sie ihn durchschauten. Auch wenn er es visuell nicht erfassen konnte, glaubte er, dass, während er sprach, Madara und Sakura einander hin und wieder ansahen. Oh, er wusste doch ganz genau, dass Madara es sich wünschte. Madara wollte, dass Sakura kam, Madara wollte, dass sie ihn in Aktion erlebte. Und Izuna wollte nicht, dass Madara seinetwegen auf Sakuras Anwesenheit beim Großkolloquium verzichten musste. „Ich werde Sie hinfahren“, wandte sich Madara schließlich an Sakura nach langem Abwägen. „Aber wir werden dich regelmäßig versuchen zu erreichen. Wenn du nicht beim zweiten Mal rangehen solltest, werden wir umgehend zurück nach Hause fahren. Einverstanden?“ Izuna bejahte und lächelte in sich hinein. * Sie war gerade damit fertiggeworden, ihren Wimpern Farbe und Schwung zu verleihen, als es an der Tür klopfte. „Herein.“ Eilig überprüfte sie, ob alle Tuben, Tiegel und Dosen verschlossen waren und sprang auf die Beine. Madara betrat ihr Zimmer in einem schwarzen Anzug und fragte sie, ob sie bereit sei. Sakura hatte sich eine hellblaue Bluse und eine schwarze Hose angezogen. Ihre Haare, die sie schon seit einer Weile nicht mehr hatte kürzen lassen und es bald unbedingt tun musste, hatte sie zu einem strengen Pferdeschwanz gebunden. Sie sah aus wie eine junge Dozentin und das gefiel ihm. Ihr Make-up war dezent und betonte besonders ihre grünen Iriden. „Ich bin fertig, Herr Uchiha.“ „Dann sollten wir uns auf den Weg machen.“ Izuna war im Flur und hörte mit an, wie die beiden anderen in Mantel und Jacke schlüpften. Eine Hand legte sich auf seine Schulter und dem Gewicht und der Größe nach zu urteilen war es Madaras Hand. „Wir werden dich anrufen, wenn wir angekommen sind“, sagte Madara. „Dann noch einmal vor Beginn der Veranstaltung und direkt danach.“ Es fiel ihm schwer, seinen Bruder zurückzulassen. „Ich komme zurecht“, versuchte Izuna seinen Bruder amüsiert zu beruhigen und hielt sein Mobiltelefon hoch. Als Madara und Sakura fort waren, zog er sich auf sein Zimmer zurück und begann sich auszumalen, wie es zwischen ihnen weitergehen würde. Es war eine gefühlte Ewigkeit her, dass Madara sich das letzte Mal für eine Frau interessiert hatte. Kapitel 12: ------------ [center"]* Sie verspürte leichte Aufregung, als sie das Gebäude betraten, in welchem das Großkolloquium stattfinden würde. Sakura folgte Madara zum Aufzug, mit dem sie in das zweite Stockwerk fuhren. Auf dem Weg zum Hörsaal begegneten sie einigen in Gespräche vertieften Leuten, die Madara grüßten. Einer von ihnen nannte Madara laut beim Namen, trennte sich nach einer kurzen Entschuldigung von seinem Gesprächspartner und schloss sich ihnen an. Nun wurde Madara von Hashirama und Sakura flankiert. „Hast du für einen weiteren Gast gesorgt?“, fragte Hashirama Madara und betrachtete Sakura interessiert von der Seite, bevor er ihr die Hand gab. Zögerlich reichte Sakura ihm die Hand. Hashiramas Hand war warm, nicht verschwitzt, und der Händedruck war kurz, aber herzlich und fest. Madara antwortete nicht, drosselte auch nicht sein Tempo und hielt das Kinn weiterhin geradeaus gerichtet. Hashirama hatte so einige Fragen, das konnte Sakura dem Mann mit den langen, dunkelbraunen Haaren und den fröhlichen Augen ansehen. Doch Hashirama übte sich in Zurückhaltung und erzählte Sakura stattdessen etwas über die Fakultät, das Seminar und den Inhalt der bevorstehenden Veranstaltung. Erst als sie am Saal angekommen waren, fragte er sie nach ihrem Namen. Der Saal war kleiner, als sie es erwartet hatte. Sakura nahm auf dem linken Außensitz der vierten Reihe Platz. Von hier hatte sie eine gute Sicht auf das Pult sowie auf das Whiteboard, das oberhalb der Schreibtafel angebracht worden war. Sakura war gespannt, in erster Linie auf Madara und seinen Teil der Präsentation. Kurz vor achtzehn Uhr reichte Hashirama Madara, der soeben das versprochene Telefonat mit Izuna beendet hatte, einen Zettel. „Was ist das?“, wollte Madara wissen, als er den Zettel entgegennahm. Eigentlich wollte er zu Sakura. „Es sind einleitende Worte, die ich geschrieben habe. Ich würde mich freuen, wenn du die Anwesenden an meiner Stelle begrüßen würdest.“ Hashirama lächelte ihn kindlich an. Madara sah auf den Zettel. Neben dem Text war ein Männchen gezeichnet, das eine große Ähnlichkeit mit einem grinsenden Hashirama hatte. Es zeigte seinen Daumen hoch. „Meinetwegen“, gab Madara unbeeindruckt zurück. Es waren etwa fünfundzwanzig Menschen anwesend und das war mehr als genug. Sobald jeder von ihnen einen Platz gefunden hatte, keine Sitze mehr stöhnten und die allermeisten Gespräche verklungen waren, sprach Madara die einleitenden Worte und danach begann Hashirama mit seinem Teil der Präsentation, der Darlegung seiner literaturwissenschaftlichen Analyse eines Buches, mit dem sich ein ganzes Seminar abwechselnd unter Madaras und Hashiramas Leitung in Blöcken beschäftigt hatte. Es folgte ein Gastvortrag aus dem Ausland. Das Kolloquium war in zwei Teile geteilt und nach dem ersten stand eine fünfzehnminütige Pause an. „Lassen Sie uns kurz auf den Balkon gehen“, schlug Madara vor. „Es ist stickig hier.“ Sakura eilte die Treppe nach oben zu ihrem Sitz, ergriff ihre Jacke und suchte zusammen mit Madara den Balkon auf. Er befand sich direkt am Eingang zum Hörsaal. Die Raucher waren unter sich, zogen gut gelaunt und warm eingepackt an ihren Stängeln und der Zigarettenrauch schwappte zu ihnen hinüber. Madara und Sakura traten an das Geländer, das auf das Verwaltungsgebäude ging. Madara wollte gerade zum Reden ansetzen, als Hashirama wie aus dem Nichts auftauchte und mit Sakura zu plaudern anfing. Madara ärgerte sich, hielt sich allerdings damit zurück, es nach außen zu zeigen; Sakura schien sich von Hashiramas Präsenz nicht gestört zu fühlen und gerne mit ihm zu reden. Fünf Minuten vor Pausenende sah Madara demonstrativ auf seine Armbanduhr, dann sah er zu Sakura, die sich immer noch mit Hashirama unterhielt. Sie hatte versucht, Madara mit Fragen wie Wie sehen Sie das? in das Gespräch einzubinden. Sie war gescheitert, da Madara keine Interesse an einem Gespräch zu dritt – erst recht nicht, wenn der dritte im Bunde Hashirama war – hatte und sich viel lieber nur mit ihr unterhalten hätte. „Ich werde reingehen und meine Präsentation vorbereiten“, informierte er Sakura knapp und war verschwunden. Sakura wollte ihm folgen, als sie einen tiefen Seufzer seitens Hashirama vernahm. „Wieso muss er immer nur so sein?“ „So?“, fragte Sakura. Ihr war aufgefallen, dass Madara sich schweigsam, desinteressiert und zurückhaltend verhalten hatte, sie wollte aber wissen, weshalb genau. Hashiramas Gesicht schmückte ein trauriges Lächeln. „Sie sind die Pflegerin seines Bruders, nicht wahr?“ Er hatte sich das bereits gedacht. Sakura bejahte unsicher. Madara war gegangen, aber sie hatte den Eindruck, dass er es nicht gut fände, dass sie mit Hashirama sprach. „Wenn Sie möchten, können wir gerne später reden. Später gibt es noch Kaffee und Kuchen oben. Jetzt sollten wir allerdings lieber reingehen. Madara würde es Ihnen sicher übel nehmen, wenn Sie zu spät zu seiner Präsentation kämen.“ Er ließ ihr den Vortritt und folgte ihr zurück zum Saal, wo Madara bereits alles vorbereitet hatte. Auf dem Whiteboard stand: Zweiter Teil: Linguistische Textanalyse. Madara lehnte mit vor der Brust verschränkten Armen am Tisch und sprach mit einem Unbekannten. Sakura winkte ihm zu und er sah an seinem Gesprächspartner vorbei, um ihr zuzunicken. Madara fing auf die Minute genau an. „Bevor wir uns dem tatsächlichen Gegenstand wenden, werfen wir einen Blick auf die von mir erstellte Übersicht über Kriterien und Kategorien der linguistischen Textanalyse.“ Er blendete einen Text ein. „„Substrat einer linguistischen Analyse ist eine Unterscheidung zwischen Struktur und Funktion. Der erste Grundaspekt ist der strukturelle Aspekt, der sich in grammatische und thematische Ebene gliedert. Der zweite ist der kommunikativ-funktionale Aspekt.“ Auch wenn sich Sakura mit der Materie nicht auskannte, konnte sie mit Gewissheit sagen, wo die Unterschiede zwischen Hashiramas und Madaras Vortrag lagen: Madaras Vortrag hatte ein schlichtes, klassisches Design; er verfügte über weitaus mehr Struktur, Ernsthaftigkeit und war frei von Wortwitzen oder Anspielungen. Waren Hashiramas Worte direkt an das Publikum gerichtet, so machte es den Eindruck, als stünde Madaras Vortrag für sich alleine da. Er bediente einen Laserpointer, wenn es nötig war, und wechselte zur nächsten oder letzten Folie, sonst hatte er mal die Ellenbogen auf dem Pult und beugte sich über seine Unterlagen, mal stand er an der Seite, die Arme vor der Brust gekreuzt. Auch war der jungen Frau aufgefallen, dass er sie ab und an mit den Augen fixierte. Nach seinem knappen Fazit folgte eine Diskussionsrunde und danach sprach Hashirama: „Und jetzt laden wir alle Anwesenden, die Zeit und Lust haben, zu Kaffee und Kuchen ein.“ Es waren nicht alle, die dem Kolloquium beigewohnt hatten, oben im Raum erschienen, wo bereits alles hergerichtet worden war. Mehrere Tische waren zusammengeschoben worden, um eine einzige große Insel aus Tischen zu kreieren. Kannen mit heißem Wasser und schwarzem Kaffee, Tassen und Teller standen bereit. Madara und Sakura nahmen nebeneinander Platz, Kuchen wurde gebracht, und bald schon hatten alle ein duftendes Getränk und einen beladenen Teller vor sich stehen. Es herrschte gute Laune und eine vertraute Atmosphäre, die Sakura, obwohl sie kein Student war, nicht als fremd wahrnahm. Besonders Hashirama, der gegenüber von ihr und Madara zusammen mit seiner Frau saß, ging mit allen familiär um. Madara sprach selten mit wem, als er allerdings von einem großen, schwarzhaarigen Mann angesprochen wurde, von eben jenem, der den Gastvortrag gehalten hatte, entschuldigte er sich bei Sakura und sagte, es sei wichtig. Er stand auf und ging, und keine Minute später hatte Hashirama Madaras Platz besetzt. „Wie geht es Izuna?“, wollte er sogleich wissen. Sakura war unsicher, ob sie ihm Rede und Antwort stehen sollte, entschloss sich letztendlich aber dazu, mit Hashirama zu reden. Sie erzählte nicht viel, nur, dass er Fortschritte mache und Stück für Stück wieder zu einem halbwegs normalen Leben zurückfinde. „Gut. Sehr gut, das freut mich!“ Hashirama wurde kurz still und faltete die Hände auf dem Tisch. „Er war nicht immer so“, begann er dann zu erzählen und Sakura verstand, dass es nicht mehr um Izuna, sondern um Madara ging. „Wir waren einmal gute Freunde gewesen. Wir sind auf dieselbe Schule gegangen, gingen zusammen auf diese Universität hier und wussten beide, dass wir an dieser Universität bleiben wollten, falls uns nicht Umstände zu anderen Universitäten treiben würden. Ich…“ Hashirama seufzte, und Sakura fragte: „Ich weiß, diese Frage klingt in Ihren Ohren sicher merkwürdig, aber wieso sagen Sie mir das alles? Sie kennen Herrn Uchiha, aber mich nicht.“ Nicht, dass sie etwas dagegen hätte, mehr über Madara zu erfahren und mit Hashirama zu plaudern; es war einfach eigen, so viele Informationen aus heiterem Himmel zu erhalten. „Um ehrlich zu sein: Ich weiß es nicht.“ Hashirama machte eine Pause, und als Sakura sagte, er könne ruhig weitererzählen, fuhr er fort: „Er war immer unzufrieden. Ich verstand früher nicht, wieso. Jetzt, denke ich, kann ich es verstehen. Wir wollten alles gemeinsam auf die Beine stellen und organisieren. Wir wollten gemeinsam an Entwürfen arbeiten und Pläne schmieden für den Fall, dass das Seminar dichtgemacht werden sollte, weil das tatsächlich damals zur Debatte stand. Aber die Leute waren mir eher zugeneigt und ich wurde als alleiniger Verantwortlicher für das gesamte Seminar gewählt. Ich habe versucht, Madara irgendwie zu integrieren. Ich stellte seine Ideen vor, aber den Menschen gefielen meine besser. Irgendwann hatte er mich satt und wie verschmolzen mit unseren Berufen so sehr, dass wir das komplett Gegenteil des jeweils anderen wurden. Nicht zu vergessen die ständigen Überschneidungen, die ich nicht lösen kann und die ihn seiner Studenten berauben.“ „Seine Präsentation hat den anderen gefallen“, warf Sakura ein. „Oh, verstehen Sie weder mich noch andere falsch, Madara ist ein fähiger Dozent und ich möchte mich nicht profilieren, Frau Haruno. Mir wäre es viel lieber, wenn Madara für das Seminar verantwortlich wäre und die Organisation übernehmen würde. Aber es ist nun einmal, wie es ist. Ich habe versucht, es zu ändern, aber nach langen Jahren ist mir klargeworden, dass es so, wie es jetzt ist, besser ist. Wir werden wohl nie wieder Freunde werden. Aber ich hätte gerne ein gutes Verhältnis zu ihm.“ „Ich verstehe“, murmelte Sakura. Eigentlich tat sie es nur zur Hälfte und wollte nun unbedingt wissen, was Madara zum Thema zu sagen hatte. „Um einen Versuch zu machen, Ihre Frage von vorhin zu beantworten: Wahrscheinlich wollte ich mich Ihnen mitteilen. Warum ausgerechnet mir? Das denken Sie sicher, oder? Es ist lange her, dass ich Madara in Gesellschaft einer Frau sehe. Er hat sie, als er seinen Vortrag gehalten hat, oft angeschaut. Das ist mir nicht entgangen. Ich habe das Gefühl, dass er Sie nahe an sich rangelassen hat.“ Hashirama musste über Sakuras Blick schmunzeln, in dem Erkenntnis und gleichermaßen Unglaube lag. „Wenn es etwas gibt, dass Sie über Madara wissen sollten, dann ist es, dass er nu-“ Hashirama verstummte, als Madara durch die Tür trat und stand schnell auf. „Es war schön, mich mit Ihnen unterhalten zu haben. Ich hoffe, wir können das irgendwann noch einmal wiederholen.“ „Was wollte er?“, fragte Madara die junge Pflegerin. Hashirama befand sich nun neben seiner Frau und machte sich über sein Kuchenstück her. „Er hat sich nur nach Izunas Verfassung erkundigt“, antwortete sie ihm. „Ich habe ihm nicht viel gesagt, nur, dass es ihm besser geht. Ich hoffe, das ist in Ordnung.“ „Es ist in Ordnung, Frau Haruno. Es tut mir leid, dass ich Sie so lange alleine gelassen habe. Ich habe noch kurz mit Izuna telefoniert. Ihm geht es gut.“ Vierzig Minuten später wirkte Madara unruhig, und bevor er es Sakura mitteilen konnte, hatte sie es bereits gemerkt und fragte ihn, wann er sich auf den Weg nach Hause machen wolle. „Jetzt“, lautete die knappe Antwort. „Ich rufe Izuna an.“ Im Auto atmete Madara tief durch, bevor er den Motor startete. Er hatte sich bereits heute Morgen alles andere als gesund gefühlt. Im Laufe des Tages, an dem aufgrund des Kolloquiums sämtliche Veranstaltungen ausgefallen waren, hatte sich das Gefühl, dass sich da etwas anbahnte, verflüchtigt und war vorhin wieder zurückgekehrt. Er sah der Aussicht, ständig Tee zu trinken und mit Kopfschmerzen zu spazieren, missmutig entgegen. „Mir hat Ihre Präsentation sehr gefallen“, sagte Sakura, als sie losfuhren, und Madara fühlte sich geschmeichelt. „Es war ein schöner Abend.“ „Danke. Ich werde Sie informieren, wenn demnächst etwas ähnliches veranstaltet wird.“ Er musste sich zwischen Punkt und Komma räuspern, damit er nicht heiser klang. „Ist alles in Ordnung?“ „... Ich glaube, ich erkälte mich.“ Da er nicht wusste, ob er noch eine Packung Erkältungstee hatte, fuhren sie in einen Supermarkt, der noch offen hatte. Sakura ließ Madara zu seiner Verwunderung im Auto sitzen und war zehn Minuten Später mit zwei Packungen Erkältungstee, einer Packung Reizhustentee und Lutschtabletten zurückgekommen. Als sie zu Hause ankamen, fühlte sich Madara gänzlich ausgelaugt. Er sah nach Izuna und zog sich dann auf sein Zimmer zurück. Sakura bereitete ihm einen Tee zu und trug die Tasse in sein Zimmer. „Sie haben nicht geklopft“, meinte Madara, der sich hinter seinen Tisch gesetzt hatte, trocken. „Ich werde nächstes Mal daran denken“, gab sie mit gehobenen Mundwinkeln zurück und stellte die Tasse samt Untertasse auf den Tisch. Was kam, schien wie ein Zufall: Sie wollte gerade ihre Finger zurückziehen, als Madara seine Hand nach der Tasche ausstrecke und sie sich berührten. Ihre Finger waren unter seiner Hand begraben und ein wohliges Empfinden nahm von ihr Besitz. Schwarz traf auf Grün und sie hatte das Gefühl zu schmelzen wie Schnee unter den erster Strahlen der Sonne. „Ich werde mich um das Abendessen kümmern.“ Ihre Stimme war leise. „Ja. Ja, machen Sie das, Frau Haruno.“ [center"]* Sie war am Freitag in ihre Heimatstadt gefahren, weil ihre Eltern sie darum geben hatten, und am Sonntag erwartete er die Ankunft des Zuges, mit dem Sakura kommen sollte, am Bahnsteig. Obwohl der Zug scheinbar ohne Verspätung ankommen würde, kämpfte Madara mit Ungeduld und sah dauernd auf die Uhr. Er empfand allerdings auch ein wenig Vorfreude. Madara freute sich darauf, die junge Frau um sich zu haben und sich von ihr Tee bringen zu lassen. Er fühlte sich ein wenig fiebrig, hatte aber kein Fieber, und hatte sich dort hingestellt, wo ihn der eisige Wind kaum erreichte. Seine Ungeduld verrauchte, als der Zug einfuhr und die Menschen ausstiegen, und es blieb die Vorfreude zurück. Er hielt nach der jungen Frau Ausschau und war verwirrt darüber, dass er nirgendwo ihre rosafarbeben Haare erblickte. Eilig fischte er sein Mobiltelefon aus der Manteltasche. In ihrer letzten Nachricht hatte sie ihm geschrieben, dass er sie nicht abholen brauche, aber er hatte schlicht zurückgeschrieben, dass er sie am Bahnsteig erwarten werde. Sie hatte ihm nicht geschrieben, also konnte es nicht sein, dass sie den Zug verpasst hatte. Die Menschen wurden immer weniger und da erst sah er sie aus dem Zug steigen. Er kam ihr entgegen und nahm ihr den Koffer ab. Ihre grünen Augen leuchteten ihn an und waren satt und glänzend wie Edelsteine. Ein wenig verlegen erklärte sie ihm beim Gehen, dass sie vor dem Aussteigen die Toilette benutzt hatte. Sie gingen zum Auto und Sakura erzählte Madara von ihren freien Tagen und fragte ihn nach seiner und Izunas Verfassung. Sobald sie im Auto waren und Madara den Motor startete, verfielen beide in tiefes Schweigen. Madara schien sich auf Straße und Verkehr zu konzentrieren, während Sakura gedankenverloren aus dem Seitenfenster, durch die Frontscheibe oder auf ihre Finger schaute. Als das Auto an einer roten Ampel anhielt, schielte Madara zu Sakura hinüber. Seine Rechte löste sich vorsichtig vom Lenker und schwebte hinunter. Wenige Zentimeter über ihrem Oberschenkel verharrte seine Hand in der Luft, die Finger ballten sich zu einer Faust, und Madara, einen unzufrieden Ausdruck im Gesicht, platzierte die Hand zurück auf das Lenkrad. Sakura hatte nichts von all dem mitbekommen, so versunken war sie in die dunkle Welt da draußen. Und erst als sie bei der nächsten roten Ampel Gewicht auf ihrem Oberschenkel vernahm, sah sie zu Madara, dessen Blick geradeaus gerichtet war. Ihr wurde warm, angenehm warm. Ihr Herz machte Purzelbäume und sie wollte ihn berühren. Er spürte ihre Hand auf seiner und drückte sie sacht, ohne lange darüber nachzudenken. Kapitel 13: ------------ [center"]* Er hörte, wie die Eingangstür geschlossen wurde. Zu Izunas Verwunderung folgten dem Geräusch einer ins Schloss fallenden Tür keine Schritte, wie es sonst der Fall war. Er richtete sich auf und horchte in die Stille hinein. Er war auf dem besten Weg dahin, seinen fehlenden Sehsinn durch seine anderen Sinne zu kompensieren: Er hörte das leise Schmatzen, wenn sich Lippen zu einem breiten Lächeln teilten, vermochte kleine Risse, Mulden oder Erhebungen auf Oberflächen auszumachen, die andere kaum wahrnahmen. Seinen Geruchssinn vernachlässigte er nicht und versuchte durch seinen Geschmackssinn zu erraten, welche Gewürze seinem Essen zugeführt worden waren. Einiges gelang ihm tatsächlich ohne viel Anstrengung; einiges verlangte ihm wiederum ein Stirnrunzeln ab. Izuna erhob sich aus dem Bett und bewegte sich zum Ausgang aus seinem Zimmer. Auf dem Gang herrschte immer noch Stille und Izuna wahrte sie, indem er beinahe geräuschlos die Klinke hinunterdrückte und sich in seinen dicken, beaurdeuxfarbenen Socken, die seine Füße warm hielten und ihm ein lautloses Fortbewegen ermöglichten, langsam Richtung Flur begab. Es konnte nicht sein, dass er sich verhört hatte. Sakura ruhte in Madaras Umarmung. Sie genoss es, seinen Duft einzuatmen, dem eine dunkle Vanille inne lag, und er genoss es, sie in den Armen und ihren rosa Kopf auf seiner Brust gebettet zu haben. Nachdem sie sich die Mäntel ausgezogen hatten, hatte er sie gefragt, ob sie nicht Angst habe, sich anzustecken, und als sie verneint hatte, war er seiner inneren Regung gefolgt und hatte sie in seine Arme genommen. „Bruder? Bist du da? Sakura?“ Madara ließ von Sakura nicht ab, sondern wandte lediglich den Kopf zu Izuna. „Ja. Frau Haruno ist auch da.“ Seine Stimme war sanft, und er sah die junge Pflegerin mit einem undefinierbaren Blick an. „Sakura ist da“, korrigierte er sich, und es musste kein weiteres Wort darüber verloren werden, damit Izuna verstand, was zwischen Madara und Sakura vorging. Es freute ihn, auch wenn sie sich einander gerade erst angenähert hatten. Das letzte Mal, dass Madara eine Freundin gehabt hatte, war etwas her. Sie hatten sich wie im Film in einem Café kennen gelernt und nach zwei Monaten waren sie ein Paar geworden. Izuna hatte sie gemocht. Nur war sie nicht damit klargekommen, dass er so viel arbeitete und dass er zusammen mit seinem Bruder in einer Wohnung lebte. Sie hatte ihm eines Tages vorgeworfen, keinen Platz in seinem Leben zu haben, und dann war sie gegangen. Sie war gewiss keine Hexe, sie hatte nur andere Ansprüche und Erwartungen an eine Beziehung gestellt als Madara. Izuna hatte beide Seiten verstehen können, war aber für seinen Bruder nach der Trennung dagewesen und hatte die Frau nie laut verteidigt oder ihre Handlungen gerechtfertigt. Es waren keine zwei Jahre her, dass er es mit seiner Sekretärin versucht hatte – vielmehr hatte es sie mit ihm versucht. Sie waren zusammen essen gegangen und hatten einigen Veranstaltungen beigewohnt, doch der Funke war nie übergesprungen und sie waren zurück zu rein kollegialem Verhältnis zurückgekehrt. Sakura löste sich langsam von Madara. „Ich habe etwas für dich, Izuna.“ Sie öffnete ihre Tasche und griff hinein. „Es ist ein Buch über das Dasein als Blinder. Es ist ein zeitgenössischer Roman. Ich hoffe dennoch, dass du dem Buch zumindest eine Chance gibst, schließlich habe ich es rausgesucht. Und das zweite ist das hier.“ Sie drückte Izuna eine Broschüre in die Hände. Er strich über die Oberfläche, die stellenweise glatt und gleichmäßig, aber auch mit winzigen runden Erhebungen versehen war, und faltete die Broschüre auseinander. „Was ist das genau?”, wollte er wissen. „Ich fand diese Broschüre in der Bahn. Ein Blindenmuseum nicht weit von hier wurde bereits letztes Jahr eröffnet. Ich…“, sie sah zu Madara und wieder zu Izuna, „dachte, das wäre vielleicht ein Reiseziel, mit dem wir uns alle drei arrangieren könnten. Wenn du aber nicht hin möchtest, werden wir auch nicht hinfahren. Lass es dir durch den Kopf gehen. Es gibt dort viel, was du mit deinen bloßen Händen untersuchen kannst.” Izuna faltete die Broschüre wieder zusammen und sagte: „Ich werde darüber nachdenken. Können wir vielleicht jetzt noch spazieren gehen? Mir ist danach.“ Madara und Sakura wechselten Blicke. Eigentlich wollte er sie nicht ziehen lassen. Eigentlich wollte er sie wieder in eine Umarmung schließen, am besten in seinem Zimmer, und ihr lange über den Rücken und das Haar streichen. Doch es war ihr Job und Izuna brauchte seine Spaziergänge, und er blinzelte der jungen Pflegerin zu. Seinen Wimpernschlag deutete sie nur zu richtig. Sobald Izuna angezogen war, verließen sie gemeinsam die Wohnung und Madara widmete sich seiner Dissertation. „Du und mein Bruder mögt euch“, gab Izuna nonchalant von sich, kaum dass sie im Erdgeschoss angekommen waren, und bevor Sakura – irritiert ob seiner Direktheit – etwas erwidern konnte, fuhr er fort: „Kann ich dich etwas fragen?“ Sakura war ein wenig mulmig zumute. Trotzdem antwortete sie: „Ja, natürlich.“ Er hatte bereits darüber nachgedacht, wie er seine Frage präsentieren sollte, damit sie nicht hinter seine Intention kam. „Macht es dir etwas aus, wenn ein Mann viel arbeitet?“ Geflissentlich hatte er generalisiert, doch es war offensichtlich, dass er mit ein Mann Madara meinte. Jetzt, da er wusste, was in einer Beziehung zum Problem werden konnte, wollte er nicht, dass sich bestimmte Dinge wiederholten. Das, was zwischen Madara und Sakura ablief, befand sich noch in den Kinderschuhen und Izuna fand, dass es das Beste wäre, Angelegenheiten vorab zu klären. Madara hatte für ihn viel geklärt, jetzt war er an der Reihe. „Nein“, lautete Sakuras Antwort. „Mich stört es nicht.“ „Und du findest es nicht seltsam, dass zwei erwachsene Brüder in einer Wohnung leben?“ Sakura lachte auf und blieb stehen. „Ich finde es nicht schlimm, dass Madara viel arbeitet, und mich stört es nicht, dass ihr zusammen lebt, auch wenn ich es seltsam finde, muss ich zugeben. Ich denke, ich kann es verstehen.“ Izuna war die einzige Familie, die Madara hatte, und besonders jetzt, wo Izuna nicht mehr sehen konnte, war an einen Auszug überhaupt nicht zu denken. Vorerst zumindest, denn Sakura hatte den zahlreichen Gesprächen mit Izuna entnommen, dass er zu gerne eine eigene Wohnung hätte – eine Wohnung, die er mit seiner Freundin teilen würde. Izunas Ohren brannten unter seiner Mütze. Er fühlte sich unangenehm berührt, weil sie ihn durchschaut hatte, und erhob die Stimme erst, als sich die Hitze zurückzog. „Tut mir leid“, murmelte er beinahe schon und entschied sich, Sakura von Madaras letzter Beziehung zu erzählen. * Sie machte Madara Tee und klopfte an. Madara war mit seinem Tablet beschäftigt, legte es aber sofort zur Seite, als Sakura eintrat. Sie stellte den Tee auf den Glastisch ab. „Ich habe gute Neuigkeiten. Izuna würde gerne ins Museum, nächste Woche irgendwann.“ „Wie machst du das immer?“, wollte er ungläubig wissen. Es war merkwürdig, von ihm geduzt zu werden. Sie würde ein wenig brauchen, um sich daran zu gewöhnen. „Ich weiß es auch nicht“, erwiderte sie lächelnd. Sie tat so unglaublich viel für Izuna, von Anfang an. Er war kein Mann großer Worte, aber selbst wenn er es gewesen wäre, so hätten er seine Dankbarkeit nicht in Worte fassen können. Es war vor Monaten noch komplett undenkbar gewesen, Izuna nach draußen zu locken. Jetzt wurde sie von ihm derart gemocht, dass er sich sogar zu einer Fahrt in ein Museum entschloss. „Darf ich mich setzen?“ Madara machte eine Handbewegung in Richtung des zweiten Sessels, und als sie Platz nahm, fielen ihr die Bücher auf, die sich die linke Seite von Madaras Sessel hochstapelten. „Was sind das für Bücher?“, wollte sie neugierig wissen. „Das sind Quellen, die ich für meine Dissertation verwenden werde“, antwortete er und trank einen Schluck von seinem Tee. „Dissertation?“ „Ja. Sie wird zur Jahresmitte fertig werden.“ Sobald die Dissertation geprüft worden war, würde er alle Hebel in Bewegung setzen, um die Veröffentlichung als Buch anzustreben. Er war bereits auf dem Markt präsent, einige seiner Artikel hatte man sogar – verständlicherweise mit seiner Einwilligung – übersetzt und er würde sämtliche seiner Rechte an keinen Verlag der Welt abtreten. Hashirama hatte es so bei seiner Bachelorarbeit gehandhabt. Er hatte alle Rechte abgetreten und auf Profit verzichtet. Zwanzig Exemplare hatte man ihm für den autonomen Verkauf zur Verfügung gestellt und er ist jedes einzelne davon zum Preis von einem Zwanziger losgeworden, während der vom Verlag festgelegte Preis beim Dreifachen lag. Der Ausländer, der beim Kolloquium den Gastvortrag gehalten hatte, hatte Madara zu Seit genommen und ihm gesagt, dass er bereit sei, seine Dissertation nach dem Fertigstellen und Prüfen zu übersetzen. Es war eine große Ehre für Madara, alleine die Gewissheit zu haben, dass man sein Werk in eine andere Sprache übersetzen wollte, noch bevor sie überhaupt fertig war. Ohne es vorgehabt zu haben, hatte Madara Sakura schwer beeindruckt, als er ihr über seine Dissertation erzählte. So schätzte er, dass das Quellenverzeichnis bei etwa dreißig Seiten liegen würde. „Ich würde sie mir gerne durchlesen“, versicherte sie ihm euphorisch. Madara hatte seinen Tee ausgetrunken und lehnte sich zu ihr. „Es ist wirklich schön, dass du da bist“, sagte er leise, und ihre Gesichter kamen einander nahe. Sein Atem streichelte ihren Mund und das Kribbeln ihrer Lippen, die nach ihm verlangten, war überwältigend. Sie nahm den Duft von Kräutertee wahr. Sie erwiderte nichts auf seine angenehmen Worte, sondern ließ ihre Lippen miteinander verschmelzen. Ein kurzer, vorsichtiger Kuss. * Izuna ertastete erst den Gurt und die Schlosszunge, dann den Gurtschloss und schnallte sich an. Er war plötzlich unsicher, in seinem Magen drehte sich alles. Seine Hand tastete die Tür entlang und suchte nach dem Türgriff. Er schluckte. Es war der Tag der ungefähr vierzig Minuten mit dem Auto dauernden Fahrt zum Blindenmuseum. Vielleicht wäre es besser gewesen, mit dem Zug zu fahren. Aber er hatte die Zugfahrt vehement abgelehnt. Vielleicht wäre es besser gewesen, nicht zuzusagen. Aber er hatte Sakura seine Zusage erteilt. Er hatte sich einverstanden erklärt, weil er neue Dinge fühlen wollte und Neues wagen wollte. Und weil Sakura alles versucht hatte, um ihm einen Besuch schmackhaft zu machen. Madara sah besorgt in den Rückspiegel und fragte: „Ist alles in Ordnung?“ In dem Moment hatte Izuna das Gefühl, als würden Madara und Sakura ihn erwartungsvoll anschauen. Er war hin und hergerissen und wusste nicht, was er wollte. Er fühlte sich unter imaginären Druck gestellt, obwohl er wusste, dass weder Madara noch Sakura ihn zu der Fahrt und zum Besuch des Museums zwingen würden. Vielleicht war es zu viel des Aufenthalts im Auto für die erste Fahrt. Daneben fragt er sich, ob er sich im Museum wohl fühlen würde. Um nichts davon hatte er sich vorher einen derart großen Kopf gemacht. „Wenn du es dir anders überlegt hast, dann können wir einfach zu dritt einen Spaziergang machen“, schlug Sakura vor und er konnte mit Gewissheit sagen, dass sie lächelte. Izuna verfiel in tiefes Schweigen. Schließlich nahm er die Hand vom Türgriff und legte beide Fäuste auf seine Oberschenkel ab. Er schluckte abermals und sagte dann: „Lasst uns fahren.“ Der Motor wurde gestartet, es kam Bewegung in das Auto. Izuna atmete so laut durch die Nase und verzog derart das Gesicht, dass Sakura Madara zum Anhalten aufforderte. Sie stieg aus und nahm auf dem Sitz neben Izuna Platz, drückte seine Hand und fragte: „Bist du sicher, dass du fahren willst?“ „Ja doch“, murrte er genervt. Dann drehte er seinen Kopf in Sakuras Richtung und entschuldigte sich für seinen Ton. „Ich will in das Museum fahren.“ Sakura schnallte sich an. „Ich sitze jetzt hinten.“ Zu Madara sagte sie scherzhaft: „Ich hoffe, du fühlst dich nicht allzu alleine.“ Izuna beruhigte sich bald. Nicht nur deshalb, weil Sakura ihn in Gespräche verwickelte und dadurch für Ablenkung sorgte, sondern weil er sich an das Autofahren langsam gewöhnte. Die Gerüche im Auto, die ihn beim Einteigen überwältigt hatten, und das Fahren um die eine oder andere Kurve sorgten dafür, dass Übelkeit in ihm aufstieg. Er tastete selbstständig nach der Fensterkurbel und drehte die Scheibe ein Stückweit nach unten, um die kalte Luft von draußen ins Auto gelangen zu lassen. Komplett verging die Übelkeit allerdings nicht, und auch nicht, als er aus dem Wagen stieg. Seine Beine zitterten. Madara reichte ihm eine Flasche Wasser und mit jedem Schluck kehrte immer mehr und mehr Farbe in Izunas leichenblass gewordenes Gesicht. „Es geht mir besser“, verkündete Izuna dann. Gemeinsam verließen sie den Parkplatz. Der Eingang ins Museum wurde von zwei schlichten, weißen Säulen flankiert. Wie ein ausgerollter Teppich erstreckte sich vom Eingang aus ein Platz, in dessen Mitte eine niedrige Statue stand – ein längst verstorbener blinder Gelehrter, der stets daran gearbeitet hatte, Menschen, die von Blindheit oder einer visuellen Restriktion betroffen waren, das Leben zu erleichtern. Das Museum trug seinen Namen. Madara, Izuna und Sakura überquerten den Platz, auf den die Sonne schien und auf dem sich nur wenige aufhielten, und betraten das niedrig geratene Gebäude. Sie wurden von einer älteren Dame begrüßt, die ihnen Informationsschriften überreichte. Die großen, hellen Hallen mit angenehmer Beleuchtung, die durch vierärmige Kronleuchter generiert wurde, waren gefüllt mit Exponaten unterschiedlicher Art: Es gab Holz- und Tonarbeiten, es gab ausgewählte Schriftstücke, die in die Brailleschrift übersetzt worden waren, und Stationen, an denen man Wissenswertes über Blindheit in Erfahrung bringen konnte. zi Alles, was sich hier befand, konnte mit dem Tastsinn untersucht werden, am Ende des Tages wurde alles gründlich desinfiziert. Es war möglich, Audios abzuspielen, um sich die Trivia zu den Ausstellungsstücken anzuhören. Auch war es möglich, die Texte zu den Exponaten selbst zu ertasten, doch Izuna beherrschte nicht die Brailleschrift. Es wäre etwas gewesen, die er damals hätte lernen können, und jetzt, wo es ihm besser ging und er sich tatsächlich freute, neue Dinge mit den Händen zu befühlen, befand er es für ausgesprochen schade, dass er die Schrift nicht verstand. Es waren nicht viele Menschen anwesend, obwohl es ein Samstag war. Allerdings hatte das Museum erst seit zehn Minuten geöffnet. Wer nicht in Begleitung kam, die in der Lage war zu sehen, musste eine Führung in Anspruch nehmen. Madara und Sakura beobachten ihn wie ein Elternpaar sein Kind auf dem Spielplatz. Er berührte die Ausstellungsstücke, ertastete Löcher, erriet Formen und sie sagten ihm, ob er richtig geraten hatte. Für ihn war es wie ein Spiel und er fing an, sich wohl zu fühlen. Izuna lernte, dass neben Telefonen sowohl Fernbedienungen als auch Tastaturen über Orientierungshilfen für Blinde verfügten. Ihm waren die Punkte und Linien länger schon aufgefallen, aber er hatte nie gewusst, wofür sie gedacht waren. Als blinder Mensch musste man nicht auf bestimmte Sachen verzichten, das wurde ihm jetzt erst richtig bewusst. Als Izuna seine Finger auf eine abstrakte Holzarbeit legte, lehnte Sakura sich gedankenverloren an Madaras Schulter. Er ergriff ihre Hand und hielt sie fest. Sie verdrehte die Augen zu ihm nach oben. Er lächelte und der Anblick sorgte dafür, dass auch sie lächelte. Kapitel 14: ------------ [center"]* „Er hat mich zum Essen eingeladen.“ „Wirklich?“ Die Gabel ging daneben, die Zinken prallten an den Zähnen ab und Izuna verletzte sich an der Lippe. Es war ein höchst unangenehmes Empfinden. Zu Sakuras Erleichterung floss kein Blut, und nachdem sie sich vergewissert hatte, dass mit ihrem Schützling auch wirklich alles in Ordnung war, widmeten sie sich wieder ihrem Mittagessen. Madara würde das komplette nächste Wochenende nicht zugegen sein und hatte sie gestern Abend am Küchentisch gefragt, ob er Sakura in ein Lokal ausführen dürfe. Izuna stocherte eine Zeitlang schweigsam in seinem Essen. „Seid… ihr dann also zusammen?“, fragte er nach einer Weile der Stille verlegen. Sie saßen einander gegenüber, zwischen ihnen mehrere kleine Teller duftender Zutaten, mit denen sie das Hauptgericht nach eigenem Gefallen veredeln konnten. Sakura öffnete den Mund, doch es verließ kein Wort ihre Lippen. Sie war wie sprachlos und wusste nicht, ob sie bejahen oder schweigen sollte; sie wusste nicht einmal selbst, ob sie schon seine Partnerin war, überhaupt hatte sie sich keine Gedanken um den Status der Beziehung gemacht. Sie mochte Madara sehr gerne. Er war gebildet, gut aussehend und hatte ein Herz, das er nur den wenigstens zeigte. Sie fühlte sich in seiner Gegenwart sehr wohl und auch er schien sich bei ihr wohlzufühlen. Ihre Eltern wussten nichts davon, dass sie und Madara sich angenähert hatten. Für Mebuki und Kizashi Haruno war Madara immer noch schlicht Sakuras Arbeitgeber. Ihrer Freundin Ino hatte Sakura ebenfalls nichts gesagt, auch wenn Ino sich einige Male nach Madara erkundigt hatte – es sei schließlich ein beliebtes Motiv im Roman und Film, wenn sich die Arbeitnehmerin in den Arbeitgeber verliebte. Sakura fragte sich, wie ihre Eltern und Ino reagieren würden, wenn sie ihnen erzählte, wie nahe sie und Madara sich aktuell standen. „Ich habe darüber ehrlich gesagt noch nicht nachgedacht“, antwortete sie Izuna wahrheitsgemäß. Izuna versank in seiner Gedankenwelt und verließ sie erst, als Sakura zum Vorlesen in seinem Zimmer erschien. Sie setzten sich gemeinsam an den Tisch am Fenster, und Sakura schlug das Buch auf. Izuna konnte sich nicht so recht auf Sakuras Stimme konzentrieren, so sehr er es wollte, und schließlich sagte er: „Warte.“ Er zog die Lippen in den Mund und spürte, wie sein Hals anschwoll. Sakuras unsichtbarer Blick ruhte auf ihm, sorgte dafür, dass er unruhig und nervös wurde. „Darf ich dein Gesicht sehen? Ich meine, darf ich dich im Gesicht berühren?“ Sie erinnerte sich daran, wie er sie anfänglich gebeten hatte, sich selbst zu beschreiben. Sakura wusste nicht, weshalb genau er diesen Wunsch nun äußerte, sagte nach kurzem Zögern jedoch zu. Vorsichtig und beinahe schüchtern beugte er sich zu ihr hinüber und berührte ihre Gesichtshaut mit lauwarmen Fingern. Ihre Haut war seidig weich und ebenmäßig; wenn er die Fingerkuppen etwas anhob, konnte er ihre feinen Gesichtshaare ertasten, die er sich als hell und kaum sichtbar vorstellte. Ihr Mund war schön geschwungen, weich und feucht, und ihre Nase war kurz und zierlich, die Brauen offenbar sehr dünn und ihre Stirn breit. Sein Herz klopfte. Er wünschte, er könnte ihre Augen ertasten, die Form, und auch die Farbe, ließ aber von Sakura ab. Sie war eine schöne Frau, und auch wenn er für Sakura nicht mehr als Freundschaft empfand, so war er neidisch auf seinen Bruder; zeitgleich freute er sich für die beiden. Wie sollte er sich nicht darüber freuen, dass sein Bruder nach langer Zeit wieder mit einer Frau verkehrte? Nur hatte er die Befürchtung, dass ihn nun das Verlangen nach einer Partnerin verzehren würde, dass deren gemeinsames Glück ihn unglücklich machen würde. „Soll ich weiterlesen?“ Izuna hob den Blick und sah dann zum Fenster. „Ja, mach bitte weiter.“ * Obwohl es bereits nach acht war, war es im Restaurant relativ ruhig. Die Musik im Hintergrund war auf ein friedliches Gemüt ausgelegt und die Menschen mussten nicht aus voller Kehle sprechen, um einander zu verstehen. Es herrschte eine entspannte und vornehme Atmosphäre, die Sakura gefiel. Im gedämmten Licht der Lampe, die ihre goldfarbenen Arme über dem Tisch ausgebreitet hielt, inspizierte sie die hochwertig ausschauende Speisekarte und staunte über die Preise, zu denen man die kleinsten Portionen erhielt. Sie fühlte sich nicht wohl dabei, in so ein teures Restaurant ausgeführt zu werden, auch wenn sie sich das als kleines Mädchen zur Genüge ausgemalt hatte. „Uhm“, machte Sakura schließlich, „das scheint ein Lokal für gehobene Gesellschaft zu sein.“ „Es ist schlussendlich das Viertel, in dem ausschließlich Markensachen verkauft werden“, erklärte Madara nüchtern und legte die Speisekarte beiseite. Offenbar hatte er sich schon entschieden. „Es ist nicht so, als würde ich hier tagtäglich verkehren.“ In der Tat war er hier das letzte Mal vor zwei Jahren gewesen, hatte somit vorab von den hochliegenden Preisen gewusst. Es hatte sich nicht viel geändert. Die Speisekarte war um drei Gerichte aktualisiert worden, ansonsten war alles gleich geblieben. „Schau nicht auf die Preise, Sakura“, fügte er hinzu, als wäre er hinter die wahre Bedeutung ihrer Worte gekommen. „Ich habe dich hierher eingeladen und ich werde auch zahlen.“ Nachdem ihre Bestellung aufgenommen worden war, sagte Sakura: „Ich habe etwas in Izunas Zimmer gefunden. Zwischen all den Büchern lag ein Zettel, auf dem ein einziger Satz steht.“ Sakura hatte Izunas Liste gefunden. Sie hatte ihn darauf ansprechen wollen, hatte aber keinen passenden Zeitpunkt gefunden.. Madara schmunzelte und rieb sich das Kinn. „Ans Meer fahren, ja? Ich erinnere mich. Er war an dem Tag der Abreise furchtbar aufgeregt gewesen.“ „Zu schade, dass wir das nicht an seinem Geburtstag machen können“, meinte Sakura. Izuna hatte am vierzehnten Februar Geburtstag. Es war noch viel zu unangenehm, um aufs Meer zu fahren, zumal die Temperaturen im Norden noch tiefer lagen als hierzulande. Wenn man den guten Herrn schon in ein Museum zu locken vermochte und er Gefalle am Erkunden und neuen Erfahrungen hatte, dann konnte man ihn sicherlich auch ans Meer locken. „Ich habe mit ihm bereits gesprochen, er möchte an seinem Geburtstag nichts machen.“ Sakura starrte Madara an wie eine Ehefrau, dessen Mann soeben etwas Falsches gesagt oder getan hatte. „Ich denke, das sagt er nur so. Er will uns einfach keine Umstände bereiten. Ich bin der Meinung, wie sollten uns etwas ausdenken, Madara.“ Sie grinste, weil ihr unzufriedener Blick ihn irritiert hatte. „Es muss nichts Aufwändiges oder Großes sein, wir müssen es nicht einmal außerhalb der Wohnung machen.“ Die junge Pflegerin schien geradezu auf ihren Einfall zu bestehen und brachte Madara einen Vorschlag nach dem anderen entgegen, bis er sich schließlich dazu einverstanden erklärte, gemeinsam mit Sakura etwas zu organisieren. Madara saß mit dem Rücken zum Eingang, und so war es Sakura, die die Ankunft von Hashirama und dessen Frau als Erste entdeckte. Ihre Augen rollten von Madara, der mental abwesend zu sein schien, zu Hashirama, der gemeinsam mit seiner Frau einen Platz am Fenster besetzte. Einerseits hoffte sie, von den anderen zwei nicht entdeckt zu werden, da Madara dann sicherlich schlechte Laune befallen würde. Andererseits fand sie Hashirama sehr sympathisch, wenn auch merkwürdig. Ihre Getränke wurden ihnen schnell gebracht, und bereits da fiel Madara auf, dass Sakura sich seltsam verhielt. Ihre Augen wanderten immer wieder auffällig unauffällig durch den Raum, stoppten jedes Mal an einer bestimmten Stelle und wanderten wieder zurück wie ein Mechanismus. Schließlich, als in ihm ein Gefühl der Angespanntheit aufzusteigen begann, fragte er sie: „Was ist los, Sakura?“ Er klang wie ein Lehrer, der seinen Schüler dabei erwischte, wie er dem Unterricht die Aufmerksamkeit entsagte. Gerade in dem Moment brachte man ihnen zwei dampfende, prall gefüllte Teller und wünschte ihnen einen guten Appetit. „Das sieht sehr lecker aus“, kommentierte sie, als sie auf ihren Teller sah, ohne auf seine Frage einzugehen. Madara kniff die Augen zusammen, legte seinen Arm auf die Lehne und sah über seine Schulter. Er seufzte, als er Hashirama und Mito entdeckte. Was Madara allerdings verwunderte, war, dass Hashirama überhaupt keine Anstalten machte, sich einen Platz in ihrer Nähe zu suchen oder sich gar direkt an denselben Tisch zu setzen. Madara hätte ihm das durchaus zugetraut. Hashirama winkte ihnen zu. Madara blinzelte lediglich, während Sakura dem anderen mit der Hand zuwedelte. Beide widmeten sich danach ihren Tellern, und als sie fertig waren, trennte Sakura sich von ihm, um die Toilette aufzusuchen. Hashirama war in dem Moment vergessen und so holte Madara sein Mobiltelefon hervor. „Ich freue mich für dich, Madara.“ Es überraschte Madara, Hashirama gegenüber vor ihm vorzufinden, als er seine Augen vom Mobiltelefon nahm. Was ihn noch mehr überraschte, war die Tatsache, dass er weder gereizt war ob der unnötigen Koinzidenz noch seinen Zustand als sonderlich demoralisierend beschrieben hätte; er verspürte höchstens eine leichte Anspannung. Hashirama saß ihm gegenüber, die Arme auf dem Tisch gekreuzt, auf den Lippen ein freundliches Lächeln. Madara wusste schon, weshalb Hashirama sich für ihn freute. Hashirama mochte ein Tölpel sein, aber die Szenerie, die er an seinem Tisch zusammen mit seiner Frau eingefangen hatte, hatte er offenbar richtig gedeutet, ohne in die Kiste seine literaturwissenschaftlicher Instrumente greifen zu müssen. Daneben war es das zweite Mal, dass Hashirama Madara und Sakura zusammen sah. Auch wenn sie einander am Tag des Großkolloquiums nicht so nahe gewesen waren wie jetzt – Madara Uchiha zeigte sich wiederholt nur mit sehr wenigen Menschen in Begleitung, allem voran Frauen. Madara wusste nichts auf Hashiramas Worte zu antworten, außer: „Hast du deine Frau alleine am Tisch gelassen?“ „Ach was“, winkte Hashirama ab. „Sie hat mich für wenige Minuten verlassen, um sich die Nase zu pudern.“ „Ich verstehe.“ Madara packte sein Mobiltelefon weg, lehnte sich in den Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Hör zu“, begann er nach einer Zeit des Schweigens, in der er die Tischdecke aus beigefarbener Spitze betrachtet hatte. „Ich bin einer umfassenden Antwort immer ausgewichen, weil ich keinen Sinn darin gesehen hatte, meine Haltung dir gegenüber zu elaborieren. Aber dieser Moment ist, denke ich, viel zu geeignet, als dass ich dich einfach weiterhin stumpf anschweigen oder mich ganz weit weg wünschen könnte. Deine Bemühungen, dich wieder mit mir wie in alten Zeiten verstehen zu wollen, sind ungemein niedlich. Du solltest aber wissen, Hashirama, dass es nahezu unmöglich ist, einen Zustand aus der Vergangenheit bis ins kleinste Detail in der Gegenwart nachzubauen. Du solltest es aufgeben.“ Hashirama hörte Madara ruhig zu. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich trotz der wörtlichen Schärfe nicht, sondern blieb in seiner Ausgangsposition: Auf den Lippen ein kleines Lächeln, die Augen konzentriert auf Madara gerichtet. „Wir können niemals wieder Freunde sein, Hashirama. Es ist einfach viel passiert in den letzten Jahren. Von wem es ausgegangen ist, spielt heute keine Rolle mehr. Ich biete dir ein rein kollegiales Verhältnis an, da ich keine Lust mehr habe, mir deinetwegen beständig den Tag verderben zu lassen. Ich möchte, dass du dich um meine Teilnahme an Projekten als Kollege und fähiger Linguist bemühst und nicht als alter Freund.“ Mito indessen traf in dem Raum mit den tiefen, eierschalenfarbenen Waschbecken auf Sakura. Sie waren die einzigen auf der Toilette und bemerkten, dass die jeweils andere die gleichen Absichten verfolgte: Sie wollten, dass Hashirama und Madara etwas länger unter sich blieben, obwohl die Wahrscheinlich bestand, dass sie sich verbal in die Haare kriegen könnten. Von der Tür in die Damentoilette aus konnten Mito und Sakura ihre Begleitung gut im Auge behalten.   „Entschuldigen Sie meine Neugierde“, wandte sich Mito unerwartet an Sakura. „Sind Sie eventuell Herrn Uchihas Partnerin?“     Was war das nur für ein merkwürdiger Tag, an dem ihr jeder diese bedeutungsvolle Frage stellte. Erst Izuna, nun Mito, die offenbar ihre aufgekommene Neugier befriedigen wollte. Eben jene Worte, die sie heute Morgen an Izuna gerichtet hatte, sprach sie nun in derselben Art und Weise zu Mito, die das Gesagte mit einem Schmunzeln hinnahm. „Dürfte ich Ihren Namen erfahren?“ Die zwei Frauen stellten sich einander vor und fuhren mit dem Beobachten ihrer Männer fort, die sich unablässig unterhielten. Die Situation war nicht eskaliert, sie schienen sich wie erwachsene Männer zu unterhalten. „Wussten Sie, dass die zwei einmal Freunde gewesen sind?“ In der Hoffnung, von Mito mehr zu erfahren als von Hashirama am Tag des Großkolloquiums, schüttelte Sakura gespielt unwissend den Kopf, und Mito erzählte ihr knapp die Geschichte von Madaras und Hashiramas Freundschaft. Sakura hatte darauf gehofft, alles von Madara zu erfahren, dadurch ihn selbst, aber auch die Beziehung zwischen den zwei Männern zu verstehen, aber es genügte, Mito zuzuhören, um zu verstehen. Es lag auf der Hand, dass Madara sich von seinem ehemaligen Freund hintergangen fühlte. Er schien Mitos Erzählung nach ein nachtragender Mensch zu sein, und Sakura glaubte ihr das, schließlich war sie die Ehefrau jenes Mannes, den Madara einst seinen besten Freund genannt hatte. Nun fürchtete sie eine Eskalation am Tisch, doch Madara und Hashirama schienen sich weiterhin in aller Ruhe zu unterhalten. „Vielleicht sollten wir uns auf den Weg machen“, schlug Mito in sanftem Ton vor. „Wir haben die beiden, denke ich, hinreichend sich selbst überlassen.“ Hashirama erhob sich aus dem Stuhl, kaum dass Sakura am Tisch war. Er wünschte ihr und Madara noch einen schönen Abend und begab sich zu seinem Tisch, an dem ihn Mito bereits erwartete. „Möchtest du eine Nachspeise bestellen?“, wollte Madara wissen. Hashirama war an seinen Tisch gelassen zurückgekehrt, Madara war dagegen plötzlich sehr kühl. Sie bemerkte seine tiefe Anspannung, obwohl er sich inständig Mühe gab, sie vor ihr zu verbergen. Im Verlauf des Abends sprachen Madara und Sakura kaum mehr miteinander, wenn sie es taten, war er lakonisch und sah sie nur flüchtig an. Erst im Auto hatte Sakura die Stille über und konfrontierte Madara, während sie durch die Dunkelheit fuhren. „Der Abend war merkwürdig“, erwiderte er auf die Frage, was mit ihm los sei. „Das Gespräch mit Hashirama hat mich aufgewühlt. Aber das war das letzte Mal.“ „Weshalb stehst du mit Hashirama auf Kriegsfuß?“, wollte Sakura wissen. „Seine Frau sagte, ihr wärt Freund gewesen.“ Fünf Minuten vergingen, zehn, und gerade, als Sakura den Glauben aufgegeben hatte, eine Antwort von ihm zu erhalten, sagte Madara: „Er war mein einziger Freund gewesen, ja. Was dazu geführt hat, dass wir uns auseinanderlebten, tut nichts zur Sache.“ Das Auto kam zu Halt und die beiden stiegen aus. Der dunkle Nachthimmel war in Wolken und Stille gebettet. „Willst du heute bei mir schlafen?“ Sie standen einander gegenüber und ihre Blicke trafen sich im künstlichen Licht der Straßenbeleuchtung. Seine Worte waren warm und liebkosend, seine Miene eisig kalt, und die Hände hatte er in den Taschen seines Mantels vergraben. „Ja“, sagte sie, und die Vorstellung, neben ihm in einem Bett zu liegen, ließ ihr einen wohligen Schauer den Rücken hinunterlaufen. Sie überwand den Abstand zwischen ihnen, schlang ihre Arme um seinen Körper und presste das Gesicht gegen seine Brust. Ihr Herz Klopfte, diese Nähe war überwältigend und sie glaubte, in den zwei Grad Celsius dahinzuschmelzen, als er ihre Umarmung erwiderte und sie auf das Haar küsste, ehe sie mit dem Aufzug in die Wohnung fuhren. Kapitel 15: ------------ [center"]* Sakura schälte sich aus der Decke. Die letzten Tage hatte sie in Madaras Zimmer, in Madaras Bett geschlafen. Unter der Decke hatten sie sich geküsst, einander umarmt und sich gegenseitig auf intimste Art und Weise berührt, miteinander geschlafen hatten sie allerdings noch nicht. Madara war längst fort, und als Sakura auf ihr Mobiltelefon schaute, um nach der Uhrzeit zu sehen, entdeckte sie eine Nachricht vom Herrn des Hauses. Ich hoffe, du hast gut geschlafen. Sie freute sich über seine virtuellen Worte, obwohl sie Zurückhaltung ausstrahlten. Sakura schätzte, es war einfach nicht seine Art, mit vielen Worten und Symbolen um sich zu werfen. Sie schrieb ihm zurück, stand auf und streckte sich. Die erste Nacht, in der sie das allererste Mal in Madaras Bett geschlafen hatte, waren beide mehrere Male aufgewacht, und Sakura schmunzelte bei der Erinnerung daran, wie er seinen Arm um sie gelegt und sie auf die Wange geküsst hatte. Heute hatte das Schlafen zu zweit gut funktioniert, obwohl das Bett für zwei Personen immer noch nicht ganz geeignet war. Der Boden kam als einzige Alternative in Frage und sie war durchaus geneigt, die kommende Nacht auf dem Boden zu schlafen, wenn alles dorthin verlagert werden würde. Sakura machte sich an die Zubereitung des Frühstücks. Heute war der zehnte Februar, Izunas Geburtstag, und so ließ sie sich eine süße Frühstücksidee einfallen. Die Geschenke hatten Sakura und Madara zusammen gekauft und es gemeinsam eingepackt. Izuna würde sich freuen; zum einen gab es zwei neue Hörbücher, zum anderen gab es ein Bilderbuch für Blinde, auf das sie im Netz gestoßen war. Sie und Madara hatten lange darüber nachgedacht, etwas innerhalb der Wohnung zu organisiere, letztendlich wurde Izuna aber der Vorschlag unterbreitet, gemeinsam in ein Eiscafé zu gehen, sich ein ruhiges Plätzchen zu suchen und ihm dann die Geschenke zu überreichen. Er hatte nach kurzem Zögern eingewilligt, und Sakura glaubte, aufgeregter zu sein als Izuna selbst. Izuna war wach, als sie bei ihm anklopfte, und tastete gedankenverloren seine Bücher ab. „Alles Gute“, sagte Sakura und nahm ihn in die Arme. Izuna zuckte zusammen und erwiderte zaghaft die Umarmung mit einem diskreten Danke. „Freust du dich schon?“, wollte sie beim Frühstücken wissen und musste ihre Füße zur Ruhe zwingen, damit sie nicht auf dem Boden Tänze vollführten. „Dein Bruder kommt deinetwegen heute etwas früher nach Hause.” Sicherlich war es nicht ihre Absicht, doch Izuna fühlte sich wie ein vierzehnjähriger Junge, der zusammen mit seiner Mutter am Esstisch saß, während der Vater auf der Arbeit war. „Schon“, antwortete er knapp. Er könnte schwören, dass Sakura heute in Madaras Zimmer geschlafen hatte. Das Wissen, dass sie sich das Zimmer geteilt hatten, belastete ihn gewissermaßen. Er aß auf, obwohl er keinen großen Appetit hatte. Nach dem Lesen wollte er nicht diskutieren, beim Spazierengehen schwieg er, und wenn Sakura versuchte, eine Unterhaltung aufblühen zu lassen, gab er ein desinteressiertes Mhm von sich. Natürlich war es Sakura nicht entgangen, dass mit Izuna etwas nicht in Ordnung war. „Du bist schon den ganzen Tag so seltsam“, sagte sie, als sie sich auf die Bank setzten. Sie hatte bis jetzt versucht, ihn aufzumuntern, dafür zu sorgen, dass er ein wenig lebendiger wurde, und jetzt, da sie einsah, dass ihre Mühe vergebens gewesen war, wollte sie direkt sein. „Was ist los?“ Izuna antwortete mit dem Nächstbesten, was ihm einfiel: „Ich habe Kopfschmerzen.” „Warum hast du mir vorher nichts gesagt?”, wollte Sakura in einem beinahe schon empörten Tonfall wissen. „Ich hätte dir Tee gemacht und vielleicht eine Tablette angeboten. Hast du schlimmes Kopfweh?“ Izuna runzelte bewusst die Stirn. „Mittel. Ich dachte, das wird schon vorbeigehen. Können wir zurück nach Hause? Ich denke, es wäre besser, wenn ich mich hinlege. Hoffentlich… Hoffentlich geht es mir etwas besser, wenn wir ins Cafè gehen.“ Er lächelte sie an, weil er nicht wusste, womit er seiner Worte unterstreichen sollte, und die beiden standen auf. Bis zum frühen Abend verkroch sich Izuna in seinem Zimmer, und als es an der Zeit war, sich für den Café-Besuch fertig zu machen, wollte Sakura ihm dabei helfen, etwas zum Anziehen herauszusuchen. „Ein einfacher Pullover und eine Hose reichen vollkommen“, sagte Izuna ungeduldig, nachdem sie ihm eine Vielzahl an Vorschlägen unterbreitet hatte. Ihre Verlegenheit konnte er geradezu spüren. Sie war tatsächlich aufgeregter als er und freute sich auch viel mehr als er auf die Zeit im Café und das Beschenken. „Ich freue mich auch“, fügte er hinzu. „Lass und deshalb nicht so viel Zeit mit Kleidung verschwenden. Das ist mir nicht so wichtig, ist ja keine Feier.“ Es war windig, als sie zu dritt das Gebäude verließen und zum Auto gingen. Laut Wettervorhersage sollte die Stadt nachts ein heftiger Sturm erreichen. Sakura nahm auf dem Rücksitz neben Izuna Platz. In ihrem Schoß lag die Tüte mit Izunas Geschenken. Izuna wusste, dass es sich um seine Präsente handelte, und er fragte sich, was es denn sein könnte. Vorfreude hüllte plötzlich sein Herz ein und bis zur Ankunft im Café machte er sich keine Gedanken mehr um Madara und Sakura. Diese Autofahrt verlief besser als die letzte; immer noch befremdlich, aber längst nicht so Kopfschmerzen bereitend und anstrengend. Er fühlte sich einigermaßen sicher. Ihre Reise dauerte knapp fünfzehn Minuten. Izuna löste den Gurt und tastete nach dem Türgriff, sobald der Wagen angehalten hatte. Vorsichtig schwang er die Füße nach draußen, ertastete die Autodecke, um sich nicht den Kopf zu stoßen, und stieg samt Stock aus. Den benötigte er allerdings nicht, weil Sakura sich bei ihm einhakte. Als er zusammen mit Sakura durch die Tür, die Madara ihnen aufhielt, eintrat, begrüßten ihn Stimmen und der Duft von Kaffee und Gebäck. Der Duft von Kaffee war wunderbar, das Getränk selbst dagegen nicht. Er hatte Tee, Kakao und Schokolade Kaffee stets bevorzugt, nie verstanden, wie Madara das Gesöff ohne eine Miene zu verziehen trinken konnte,  und als die Bedienung ihre Bestellung aufnahm, bat er um eine  heiße Schokoladen und einen Stück Kuchen. Sie hatten sich einen Platz ganz hinten am Fenster ausgesucht. Sobald sie alle aufgegessen und ausgetrunken hatten, vernahm Izuna das Rascheln der Tüte, in der er richtigerweise seine Geschenke vermutete. „Das ist von uns beiden zusammen“, sagte Sakura, bevor sie in die Tüte griff und ein Präsent nach dem anderen herausholte. Er hätte sich für die Dinge interessieren sollen, die man ihm geschenkt hatte, aber er tat es nicht. Stattdessen fragte er sich: Hatte Sakura sich zurechtgemacht? Hielten Madara und Sakura Händchen, tauschten sie zärtliche Blicke miteinander aus? Oder hielten sie sich zurück? Er war deprimiert, konnte aber nicht sagen, weshalb genau. Izuna schlug das Bilderbuch auf und ließ seine Finger über die Erhebungen auf der ersten Seite wandern. Er ertastete eine Sonne, Wolken und Vögel. „Danke“, sagt er, und fühlte, wie Sakura sein Hand tätschelte, während Madara ihm sachte auf den Rücken klopfte. Er fühlte sich unwohl. Es war allerdings nicht das Café, nicht die Atmosphäre, sondern eindeutig seine Begleitung. Als sie wieder zu Hause waren, wollte Izuna sofort auf sein Zimmer gehen. „Die Autofahrt hat mich erschöpft“, log er, bevor er mit bemerkenswerter Schnelligkeit sein Zimmer ansteuerte und dann hinter der Tür verschwand. „Ich werde das Gefühl nicht los, dass etwas mit ihm nicht“, meinte Sakura zu Madara, während sie ihre Jacke auszog, besorgt. „Ich hatte das Gefühl, dass er sich nicht wirklich über seine Geschenke gefreut hat.“ Sie sah Madara mit ihren grünen Augen an, die Brauen in nachdenklicher Manier zusammengezogen. „Meinst du, das Bilderbuch war eine schlechte Idee? Ich meine… Was, wenn er sich wie ein Kind vorgekommen ist? Das wäre überhaupt nicht meine Absicht gewesen. Vielleicht hätte ich mir mehr Mühe beim Aussuchen geben sollen. Oder hat es ihm im Café nicht gefallen? Aber du hattest...“ Madara legte ihr die Hände auf die Schultern und brachte sie mit einem langen Kuss zum Schweigen. „Mach dir keine Sorgen, Sakura“, bat er sie, als er sich von ihr löste. „Ich bin mir sicher, dass ihm die Geschenke zugesagt haben. Ich schätze, die Autofahrt, auch wenn es eine kurze war, und der Aufenthalt im Café haben ihn ein wenig mitgenommen. Er braucht nur Ruhe. Mittlerweile sollte er uns beiden gegenüber aufgeschlossen sein, also gehe ich nicht davon aus, dass er uns anlügen würde.“ Sakura nickte langsam. „Du hast recht… Wollen wir uns vielleicht gleich etwas zusammen ansehen?“, schlug sie aus heiterem Himmel vor. Sakura wusch sich das Make-up ab und brachte dann ihren Laptop ins Wohnzimmer und sie debattierten einige Minuten darüber, welchen Film sie sich ansehen könnten, ehe sie sich für einen klassischen Western entschieden. Es  war lange her, dass Madara sich privat einen Film angesehen hatte. Der Abend war somit zweifach ereignishaft: Er sah einen Film mit der Frau zusammen, die er sehr gerne hatte. Herrschte am Anfang noch etwas Abstand zwischen ihnen, rückte Sakura zur Mitte des Filmes näher an Madara. Sie redeten nicht miteinander, und alle Kommentare zum Film stammten ausschließlich von Sakura. Bald schon ruhte ihr Kopf auf seinen Oberschenkeln, und er strich ihr über die Haare wie über die Saiten einer Harfe. Als der Film endete, richtete Sakura sich auf. Seit einer leidenschaftlichen Kussszene war sie still geworden. Es schwindelte sie ein wenig durch den Wechsel der Positionen. Sie sahen einander im Licht des Laptopbildschirms an. Sie war in diesem Moment anders, als er es gewohnt war. „Wollen wir ins Zimmer?“, fragte sie, und er wäre ein Trottel gewesen, wenn er diesen Wink mit dem Zaunpfahl nicht gemerkt hätte. Madara küsste sie und sie erwiderte. Sie erhoben sich gemeinsam von der Sitzgelegenheit und verschwanden mit schnellen, aber leisen Schritten auf Madaras Zimmer. Sie küssten sich lange und innig mit geschlossenen Augen. Er genoss ihre Offensive, als sie ihn zum Bett dirigierte, genoss ihr weiches Haar an seiner Wange, das seine Haut dezent kitzelte, als sie sich über ihn beugte. Für schüchtern hatte Madara sie nie eingeschätzt, und so überraschte es ihn nicht, dass sie ihre Hände zu seinem Gürtel wandern ließ und ihn langsam öffnete, ohne den Kuss zu lösen. Als Sakura den Knopf seiner Hose öffnete, öffnete sie auch ihre Lider und begegnete dem Blick seiner schwarzen Augen, in denen sich das Licht der angemacht kleinen Lampe spiegelte. Sie löste den Kuss und sah ihn stumm an, betrachtete sein marmornes Gesicht, in dem das einzig Lebendige seine leuchtenden Augen zu sein schienen. Er streckte seine Hand aus und strich ihr auf einer Seite die Haare hinters Ohr, glitt mit seinen Fingern zu dem obersten Knopf ihres Strickjäckchens und begann, das Kleidungsstück langsam zu öffnen. Da es neu war, gelang ihm das Öffnen nicht auf Anhieb. Untätig wollte Sakura nicht bleiben und machte sich daran, die Knöpfe von Madaras Hemd zu öffnen. Als seine Brust entblößt war und ihm ihr Büstenhalter durch die kleinen, dekorativen Steinchen an den Schalen entgegenschien, küssten sie sich abermals. Plötzlich hielt Sakura inne und sah zur Tür, weil sie glaubte, ein Geräusch ausgemacht zu haben. „Was ist?“, fragte er ungeduldig mit erregter Stimme. „Es ist nichts“, sagte sie und streichelte lächelnd seine warme Brust, in der sein Herz unkontrolliert raste. Wie versprochen hatte der Sturm die Stadt erreicht. Gewaltige Windböen drückten sich plötzlich stöhnend und heulend gegen die Fenster, die mit einem Knarren reagierten, so als bewegten sich die nackten Äste der Bäume dagegen. Es fing an zu regnen, und immer lauter wurde ihr Stöhnen, immer hemmungsloser stießen die Böen gegen die Fenster. Schließlich prallte eine Windböe mit solcher Wucht gegen die Scheibe, dass sie beinahe aus dem Rahmen flog. Regentropfen prallten gegen das Fenster wie Nadeln, einmal, zweimal, dreimal. Und dann wurde es plötzlich still, unendlich still bis auf das Hämmern von zwei Herzen, das Izuna durch die Tür zu hören glaubte. ____ Am nächsten Tag war Izuna schlecht gelaunt. Es war, als hingen dunkle Wolken über seinem Kopf, als hätte er beschlossen, Petrus zu werden und es weiter stürmen lassen zu wollen, und Sakura verstand nicht, wieso. Wann immer sie ihn im Laufe des Tages auf seine Laune ansprach, wich er ihren Fragen aus, murmelte etwas vor sich hin, wurde sarkastisch und zynisch und machte aus sich einen Vorzeigenihilisten. Der jungen Pflegerin schien es, als wären sie zu den Anfängen zurückgekehrt. Alles, was sie zusammen zustandegebracht hatten, schien plötzlich ganz weit weg zu liegen. Um Ruhe vor Sakura zu haben, schloss er sich, als sie zum gefühlt hundertsten Mal in Erfahrung zu bringen suchte, was mit ihm nicht stimmte, in seinem Zimmer ein. Einerseits wollte er ihr alles sagen, ihr alles laut und ehrlich ins Gesicht sagen und darauf keinen Deut geben, dass es ihre mimische Reaktion nicht sah; andererseits wollte er darüber nicht reden, weil er sich zwischenzeitlich seines eigenen Verhaltens und des Grundes für eben dieses Verhalten wegen zutiefst schämte. Doch er war bereits viel zu weit gegangen, als dass er jetzt einfach aufhören und sich entschuldigen könnte. Sakuras Nerven lagen nun, am späten Nachmittag, komplett blank. Sie hatte nicht vor, Izuna weiterhin fruchtlos auszufragen und ihn so weiter von sich wegzutreiben, wie sie fand. Sie würde sich ergeben und abwarten, was folgen würde. „Fein! Ich weiß nicht, was mit dir nicht in Ordnung ist“, sagte sie durch die Tür in sein Zimmer hindurch mit geballten Fäusten und ungehaltener Tonlage, „ich habe nicht einmal die leiseste Ahnung. Ich werde dich nun dir selbst überlassen. Mach, was du willst.“ Sakura verkniff es sich zu sagen, dass sie über den Vorfall Madara berichten würde und stapfte in ihr Zimmer. Dort griff sie nach ihrem Mobiltelefon und tippte eine Nachricht an Madara, fest entschlossen, die Nachricht abzuschicken, sobald sie fertiggestellt war. Sie entschied sich am Ende, es doch nicht zu tun und ihn in Ruhe arbeiten lassen.   Stattdessen beschloss sie, Ablenkung bei Ino zu suchen. Erst wusste sie in ihrem noch aufgewühlten Zustand nicht, was sie schreiben sollte. Schließlich beschloss sie, ihr endlich einige Sachen über Madara und ihre Beziehung zu erzählen, darauf gefasst, einer Vielzahl an Fragen Antwort zu stehen. Izuna ging eilig zum Tisch, wo seine Geschenke ausgebreitet waren. Seine Hände tasteten wütend und geräuschvoll nach dem Bilderbuch, und als er es fand, nahm er es an sich, schlug eine unbestimmte Seite auf, legte die Finger um das solide Blatt und hielt inne. Sein Herz raste, sein Inneres kochte, er atmete schwer und seine Finger zitterten. Er biss sich auf die Unterlippe, schaffte es allerdings nicht, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Schließlich ließ er, laut ausatmend, von dem Bilderbuch ab und ließ den Kopf senken. Abermals schämte er sich für das, was er veranstaltete. Anstelle Sakuras Nähe zu suchen und sich zu entschuldigen, suggerierte ihm sein durcheinander geratener Kopf trotzdem, so weiter zu verfahren wie zuvor, ganz egal, wie schäbig sein Gebaren auch sein mochte. Seine Taten und Gedanken hatten ihn erschöpft, und so legte er sich hin, drehte sich der Wand zu und dachte an alles und nichts. ______________ Ich wollte mich nach langer Zeit „zwischenmelden“ und sagen, dass diese FF wahrscheinlich in zwei Kapiteln und einem Epilog abgeschlossen sein wird. Ich bin einfach niemand, der FFs unnötig hinauszögert und für mich sind nur noch  ein paar Ereignisse von Relevanz, um diese Geschichte – aus meiner Sicht – abzurunden. Ob ich das alles praktisch in zwei Kapiteln unterzubringen schaffe, ist eine andere Frage. Ich habe mir letztens einige Kapitel dieser FF durchgelesen und frage mich, ob ich unausgeglichen schrieb/schreibe. Mich würde es wirklich interessieren, ob ihr euch gewünscht hättet, dass ich einer Sache mehr Beachtung/Beschreibungen hätte widmen können und einer anderen wiederum weniger. Ein gutes Beispiel wäre wohl Izuna im Museum. Hätte ich mehr beschreiben sollen? Oder war es in Ordnung? Würde mich freuen, insbesondere diesbezüglich Feedback zu erhalten. Kapitel 16: ------------ [center"]* Ich habe es mir doch gedacht! Ino konnte sich mit Glückwünschen und Freudensmileys nicht zurückhalten und brüstete sich damit, es prophezeit zu haben. Sakura sah grinsend auf ihr Mobiltelefon und antwortete gewissenhaft auf alles, was Ino wissen wollte. Für knapp eine halbe Stunde waren Izuna und ihre Auseinandersetzung vergessen und sie dachte, während sie schrieb, an Madara und seine Nähe, die sie bereits jetzt vermisste. Sie zuckte zusammen, als das Mobiltelefon zu vibrieren begann; Ino rief sie an. Sakura nahm den Anruf entgegen. „Hatte keine Lust mehr zu schreiben“, verkündete Ino. „Ich stelle dich auf Lautsprecher, weil ich etwas suchen muss.“ Ein Klicken ertönte, Sakura wurde auf der anderen Seite der Leitung auf eine Oberfläche abgelegt. „Wie lange wirst du dort noch bleiben?“, wollte Ino wissen, und Sakura hörte, wie sie wahrscheinlich in einer Schublade in der Nähe ihres Mobiltelefons wühlte. „Und habt ihr schon darüber gesprochen, wie das aussehen wird, wenn du nicht mehr seinen Bruder pflegen musst? Ich denke doch, ihr wollt eine langanhaltende, feste Beziehung.“ Inos Fragen ernüchterten Sakura und sie ließ das Mobiltelefon sinken. Sie hatte darüber noch nicht nachgedacht. Natürlich hatte sie darüber noch nicht nachgedacht, schließlich standen Madara und sie relativ am Anfang und da genoss man eher die Zeit mit dem jeweils anderen, anstatt zu viel an die Zukunft zu denken und sich mit solchen schwerwiegenden Fragestellungen auseinanderzusetzen. Nun war sie gezwungen, an diese Dinge zu denken. „Hallo? Sakura, bist du noch dran?“ „Ja“, murmelte Sakura geistesabwesend, stellte Ino ebenfalls auf Lautsprecher und drehte sich zur Decke um. „Ich werde bis Oktober hier bleiben. Über den Rest haben wir noch  nicht gesprochen.“ Ino ging auf das Gesagte nicht ein. „Ich weiß nicht, wie es dann weitergehen wird“, dachte Sakura laut nach, den Blick auf die Decke gerichtet und die Hände reglos auf dem Bauch verschränkt. Vielleicht würde sie versuchen, sich Arbeit in der Nähe zu suchen? Aber dann würde sie ihre Freunde und Eltern selten zu Gesicht bekommen; wenn sie irgendwo in ihrer Heimatstadt Arbeit suchte, wiederum, würde sie Madara seltener sehen. Unzufrieden verzog Sakura das Gesicht. Der einzige Gedankengang, der sie von ihren Überlegungen um Madara und ihre Familie weggeführt hätte, wäre der gewesen, dass sie nicht wusste, wie lange er und sie zusammen sein würden. Aber Sakura wollte daran nicht denken, weil es für sie feststand. Ino hatte begonnen, von sich zu erzählen, Sakura hörte nur mit halbem Ohr zu, und als Ino endlich das fand, wonach sie gesucht hatte, sagte sie: „Ich werde jetzt auflegen, muss los. Ich schreibe dir später!“ Sie legte auf und überließ Sakura der Einsamkeit der vier Wände, die sie umgaben. Eine Weile lang tippte Sakura nachdenklich gegen ihr Mobiltelefon, irgendwann leuchtete es auf. Madara hatte ihr eine Nachricht geschrieben, in der er sie fragte, ob alles in Ordnung sei. War es das? Izuna verhielt sich komisch und Sakura wusste nicht, was er hatte. Sie selbst dachte gerade nach, wie es zwischen ihnen weitergehen könnte und das beschäftigte sie sehr. Sakura biss sich auf die Lippe. Sie wollte Madara nicht schreiben, dass nichts in Ordnung war. Zum einen war er auf der Arbeit und sie wollte nicht, dass nun auch er sich solche Gedanken machte, zum anderen wusste sie nicht, ob Izunas wütendes Gemüt nicht längst abgekühlt war. Hatte Izuna überhaupt das Zimmer verlassen, seit er ihr die Tür vor der Nase zu geknallt hatte? Sie war so vertieft in die Konversation mit Ino gewesen, dass sie darauf keine Acht gegeben hatte. Nachdem sie eine Antwortnachricht verfasst hatte, stand sie auf. Sie klopfte an Izunas Tür und wartete, dass er etwas sagte. Aber Madaras jüngerer Bruder schwieg. Sakura klopfte ein weiteres Mal, dieses Mal viel energischer, und Izuna antwortete dumpf: „Lass mich in Ruhe.“ Sein Gemüt war abgekühlt, aber noch nicht ganz. „Also wirklich“, zischte Sakura ungehalten. „Wirst du dich genauso verhalten, wenn dein Bruder von der Arbeit zurückkommt? Wie lange willst du mir noch grundlos böse sein?“, wollte sie wissen und fügte hinzu: „Falls du es überhaupt bist. Ich weiß nämlich wirklich nicht, was genau du fühlst und was ich falsch gemacht habe, um von dir so behandelt zu werden.“ Izuna lag im Bett, schwieg und dachte über die Dinge nach, die sie sagte. Alles, was er wollte, war, im romantischen Sinne nicht mehr alleine zu sein. Er hörte, wie Sakura sich von der Tür entfernte, und richtete sich auf. Ob sie Madara bereits informiert hatte? Mit Sicherheit würde er, kaum zu Hause, Izuna verhören wollen. Izuna ging zur Toilette, und als er hinaustrat, stand Sakura direkt vor ihm, die Arme vor der Brust verschränkt. Er spürte ihre Präsenz, als er einen Schritt nach vorne machte. Er streckte nicht einmal seine Hand aus, um nach ihr zu tasten und sich taktil zu vergewissern, dass sie auch wirklich dort war. Er blickte stur geradeaus und wartete, ohne zu wissen, worauf genau. „Du wirst mit mir jetzt in die Küche kommen.“ Sakuras Stimme war fest und bestimmt. Sie hatte all ihre Unsicherheit abgestreift und wollte Izuna mit eiserner Faust begegnen. „Sofort.“ Und bevor Izuna etwas hatte erwidern können, packte sie ihn am Arm und zog ihn hinter sich her. Das war derart neu für ihn, dass er ihr verwirrt folgte, ohne Widerstand zu leisten, einen Fuß unbeholfen vor den anderen setzend. In der Küche ließ sie sich auf einen Stuhl nieder. Izuna blieb stehen. „Setz dich“, sagte sie, und es klang wie ein Befehl. Izuna konnte nicht behaupten, Angst vor Sakura zu haben – das wäre auch zu komisch gewesen. Dennoch tat er, wie ihm geheißen, wenn auch zögerlich. Er tastete nach einem Stuhl, ließ sich darauf nieder und schwieg. Auch Sakura schwieg, aber nicht lange. Anstatt ihn ein weiteres Mal auszufragen, was mit ihm los sei, sagte sie wie beiläufig: „Ich werde ab Oktober nicht mehr hier sein, dann hast du Ruhe vor mir.“ Sie sah ihn an. Die gesprochenen Worte hatten die beabsichtigte Wirkung nicht verfehlt, denn Izuna warf den Kopf dorthin, woher die Stimme kam. „Ab Oktober?“, fragte Izuna, so als wüsste er von nichts oder hätte es vergessen. Sakura stand auf, um Tee zuzubereiten. „Ja. Ich werde mir im September eine neue Arbeit suchen müssen, die ich ab Oktober machen kann.“ Sie kochte Wasser auf und machte ihnen beiden einen Früchtetee. Als sie Izuna den Tee hinstellte, legte er die Hand reflexartig an die Tasse und zog sie sogleich mit einem scharfen Laut zurück. „Kaltes Wasser“, riet ihm Sakura trocken. „Ist schon in Ordnung“, gab Izuna zurück und rieb seine Fingerkuppen unterhalb des Tischs aneinander. Das ist etwas mehr als ein halbes Jahr, dachte er sich. Izuna hatte sich bis jetzt keine Gedanken darum gemacht, dass Sakura irgendwann weg sein könnte. Er wollte nicht, dass sie ging. Er hatte sie lieb gewonnen. Madara hatte sie lieb gewonnen. Wie hatte er ihr gegenüber nur so garstig sein können? Der Samen des schlechten Gewissens, den ihm Sakuras Worte eingepflanzt hatten, hatte bereits einen Stiel und Blätter, als der Tee abkühlte. Letztendlich konnte er vor schlechtem Gewissen nicht mehr schweigen und es platzte aus ihm schon beinahe heraus: „Es tut mir leid.“ Sakura, die soeben an ihrem Tee hatte nippen wollen, sah ihn verwundert an. Sie hatte gehofft, dass ihre Vorgehensweise Früchte tragen würde; dass es allerdings derart schnell vonstattengehen würde, damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. „Was meinst du?“, wollte sie wissen, damit er nicht den Verdacht schöpfte, dass sie das einkalkuliert hatte, und trank einen Schluck von ihrem Tee. Izuna antwortete nicht sofort. „Mir tut mein Verhalten von vorhin leid. Es ist nur… Ihr zwei seid zusammen und ich bin alleine.“ Es hatte ihn einiges an Überwindung gekostet, das zu sagen, und jetzt, wo es den Weg nach draußen gefunden hatte, kam er sich ziemlich lächerlich vor. Glücklicherweise war Sakura nicht schwer von Begriff, sodass er nichts mehr sagen musste, damit sie ihn verstand. Peinlich berührt saß Izuna da, die Tasse mit beiden Händen umfasst, so als müsste er sich nach einem Aufenthalt draußen wärmen. „Ich verstehe“, hörte er Sakura sagen und dann das Klappern, als sie die Tasse abstellte. „Du bist nicht alleine, Izuna. Du hast einen fürsorglichen Bruder und du hast mich. Ich weiß, dass du gerne eine Freundin hättest. Und bilde dir nicht ein, dass es unmöglich ist.“ Sie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Wenn du möchtest, werde ich für dich im Internet nach geeigneten Singlebörsen recherchieren!“ Verdutzt blickte Izuna zu Sakura. Er hatte mit allem gerechnet – dass sie sein Verhalten lang und breit kritisieren würde, dass sie seine Gedankengänge als blödsinnig bezeichnen oder ihn einen eifersüchtigen Dummkopf, der er war, nennen würde –, aber nicht damit, dass sie ihm ihre Hilfe in dieser Angelegenheit anbieten würde.   „Nur versprich mir bitte, dass du nicht mehr schlecht gelaunt durch den Tag gehst, ohne mir auch nur etwas zu sagen.“ Innerlich beschämt und gewillt, sich nicht mehr so zu verhalten, nickte Izuna, und die Sache war gegessen. „Oktober“, sagte er, um auf das Thema zu kommen, das Sakura davor aufgerollt hatte. Sakura erzählte Izuna von dem Telefonat mit Ino. Izuna hörte ihr zu, und als Sakura geendet hatte, meinte er: „Das ist wirklich eine schwierige Angelegenheit. Ich denke, es wäre besser, wenn du das bald mit meinem Bruder besprichst. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er keinen einzigen Gedanken daran verschwendet hat. Dafür ist er zu berechnend. Meine ich.“ Er trank den Rest seines mittlerweile kalten Teegetränks und ergänzte: „Ich würde nicht wollen, dass du für immer gehst.“ Das wollte Sakura ebenso wenig. * Als Madara kam, wärmte Sakura ihm Essen auf und fragte ihn über seinen Tag aus. Madara antwortete, aber er antwortete kurz angebunden. Man merkte es ihm an, dass er heute besonders erschöpft war und Sakura begann zu zweifeln, ob es eine so gute Idee wäre, ihn jetzt auf die Sache anzusprechen. Sie beschloss, es ein anderes Mal zu machen. Vielleicht wenn er frei hatte oder wenn sie wieder ausgingen. [style type="italic"]Lieber nicht bei einem Abend auswärts[/style], dachte sie sich nur einen Augenblick später. „Stimmt etwas nicht?“ Sakura sah zu Madara, der sich mit einer Serviette über den Mund wischte und sich entspannt zurücklehnte. Sakura lächelte und griff nach seiner Hand, um sie zu drücken. Sie fragte sich, ob Izuna recht hatte und Madara sich wirklich die gleichen Gedanken machte wie sie. „Nein, es ist alles in Ordnung.“ Madara glaubte ihr nicht so recht, ging aber darauf nicht ein. Von der Auseinandersetzung zwischen Sakura und Izuna bekam Madara nichts mit – weshalb hätte Sakura ihm das auch erzählen müssen? Es war Schnee von gesten und sie hatten sich vertragen. Was sie Madara allerdings erzählte, war, dass Izuna sich sehr nach einer Partnerin sehnte und sie sich schon etwas für ihn ausgedacht hatte. Während Sakura ihm von ihrem Einfall erzählte, hatte Madara das Kinn in die Hand gelegt und beobachtete Sakura schmunzelnd. Izuna und dessen Wohlergehen lag ihr sehr am Herzen, das sah man. Sakura wollte ihren Einfall mit der Singlebörse tatsächlich realisieren und wollte wissen, was Madara davon hielt. „Eigentlich nicht besonders viel“, gestand er ihr. „Aber wenn es Izuna im Leben weiterbringt, stelle ich mich nicht dagegen. Solange ihr zwei aufpasst und auf keine Tricks reinfallt.“Sakura klatschte fröhlich und aufgeregt in die Hände. Ab morgen würde die Operation Eine Partnerin für Izuna starten. * Bevor sie sich an Sakuras Laptop setzten, galt es, eine Liste mit allgemeinen Daten zu Izunas Person – wie Geburtsdatum, Größe und Gewicht – sowie seinen Charaktereigenschaften, seine Vorlieben, Abneigungen und Vorstellungen anzufertigen. Da Izuna, der sich nach langem Abwägen einverstanden erklärt hatte, sich nicht sicher war, wie groß und wie schwer er war, begann die Suche nach einem Maßband und einer Wage. Das Maßband fanden sie in einer Schublade, die Waage zwischen zwei Regalen versteckt. Sakura stellte die Wage ins Bad und ließ Izuna darauf steigen. „Siebenundfünfzig Kilo“, las Sakura ab. „Einen Kilo nehmen wir weg.“ Sie schrieb die Zahl in die selbstgezeichnete Tabelle. „Lass uns dich hier gleich messen.“   Es hatte sich seit dem letzten Mal Wiegen und dem letzten Messen nichts verändert. Es mochte sein, dass Izuna erst abgenommen hatte, als ihn die Erblindung getroffen hatte, mittlerweile hatte er aber wieder zugenommen. Abneigungen und Vorlieben fanden schnell ihren Weg auf den Zettel. Bei der Frage, welche Vorstellungen er von eine potenzielle Partnerin und welche Ansprüche er hatte, kam Izuna jedoch ein wenig ins Grübeln. Sie saßen in Sakuras Zimmer und Izuna saß im Schneidersitz am Bettende. „Es gibt doch ganz sicher etwas, das du besonders gerne an Frauen magst“, meinte Sakura und streckte die Beine aus. Izuna zuckte die Achseln. Er hatte nie so etwas wie einen bestimmten Typ oder ein Ideal gehabt. Wenn er ein schönes Mädchen – oder eine schöne Frau – gesehen hatte, hatte er ganz genau zu sagen vermocht, was er an ihr schön gefunden hatte: Mal war es eine athletische Blondine mit warmen braunen Augen und einer Stupsnase gewesen, mal eine schlanke Brünette mit wasserblauen Augen und einem schön geschwungenen Mund und eine andere sah nochmal anders aus. „Optische Vorlieben variieren“, sagte er schließlich wahrheitsgemäß. „Fragt sich nur, wie wichtig das jetzt eigentlich ist.“ Sakuras nächste Frage war, welche Charaktereigenschaften ihm wichtig seien.     Izuna mochte Menschen, die eine Passion hatten. Etwas, das sie mehr als alles andere liebten und sich damit lange und ausgiebig beschäftigen konnten. „Wenn man keine Leidenschaft für etwas hat, ist es langweilig, zumindest stelle ich mir das öde vor“, sagte er. „Dabei ist es eigentlich egal, ob Literatur, Sport oder Spiele. Wenn man keine Passion hat, kann man keine passionierten Gespräch führen.“ Sakura blickte Izuna an und er wirkte wie jemand, der gerade für einen Artikel interviewt würde. Sie schmunzelte über seine Worte. Sakura dachte daran, dass ihre Arbeit ihre große Leidenschaft war, obwohl sie anfänglich alles andere als zuversichtlich gewesen war. Es war gewissermaßen eine Notlösung gewesen. Sie drehte nachdenklich den Kugelschreiber in ihrer Hand, bevor sie Izunas exakten Wortlaut aufschrieb. Bald schon standen neben dem Zitat die folgenden Dinge: ruhige Seele, leidenschaftlich, harmonisch und literaturliebend (optimal). Es dauerte gut eineinhalb Stunden, bis die beiden die Liste komplettierten und dann nochmal eine Viertelstunde, um Izuna dazu zu bringen, sich fotografieren zu lassen. Sakura hatte bereits einige Seiten ausgesucht, auf denen sie Izuna anmelden könnte. Erst hatte sie sich nur Seiten angeguckt, die explizit für Menschen mit physischen Einschränkungen wie psychischen Erkrankungen gedacht waren; nach längerem Überlegen allerdings hatte sie sich entschieden, ihn auf drei verschiedenen Seiten anzumelden, darunter zwei, die man nicht nur für Menschen mit Behinderung kreiert hatte.       Izuna saß still da wie ein Kind, dessen Mutter gerade ihre Arbeit verrichtete, und wollte Sakura nicht stören. Gelegentlich fragte er sie, was sie gerade eintippe, und Sakura antwortete ihm, ohne den konzentrierten Blick vom Laptopbildschirm zu lösen. Dank Einfügen-und-Kopieren ging die Sache auf den zwei anderen Seiten schneller vonstatten, und sobald der letzte Satz eingefügt worden war, gab Sakura einen zufrieden Laut von sich, der Izuna zusammenzucken ließ. Sakura warf feierlich die Fäuste in die Luft. „Nun heißt es abwarten und Tee trinken!“ Kapitel 17: ------------ * Gedankenverloren tippte Madara mit dem Zeigefinger auf den Tisch. Eigentlich hatte er es sich strengstens verboten, über Privates auf der Arbeit nachzudenken, da es unprofessionell war. Aber Sakura war ihm unmittelbar nach dem letzten Seminar in den Sinn gekommen. Er hatte ihr eine Nachricht geschrieben, saß nun in seinem Büro und dachte nach. Es war der 28. März, aber seine Gedanken drehten sich nicht um Sakuras Geburtstag. Er hatte ihr bereits ein Geschenk gekauft und es würde eine Überraschung werden, da Madara keine Andeutungen oder Hinweise hatte fallen gelassen, nicht einmal gegenüber Izuna. Er war auch zuversichtlich, dass es ihr gefallen würde. Madara beschäftigte etwas anderes. Er hatte den Umstand, dass sie ab Oktober nicht mehr da sein würde, natürlich einkalkuliert. Wie sie beide verfahren sollten, wenn es so weit war, wusste er allerdings nicht. Es gab mehrere Möglichkeiten; welche allerdings die günstigste für sie beide war, das vermochte er nicht zu sagen. Madara würde die Angelegenheit demnächst ansprechen. Nur in einem langen, gemeinsamen Gespräch könnten sie sich auf einen Kompromiss einigen. In diesem Augenblick klopfte jemand an seiner Tür. Madara wusste bereits, wer es war, als die Türklinke heruntergedrückt wurde, noch bevor er die Erlaubnis zum Eintreten hatte erteilen können. „Ich bräuchte nur eine Unterschrift“, sagte Hashirama eilig, so als hätte er Angst, jeden Augenblick angeschrien zu werden, wenn er Madara keinen vernünftigen Grund für sein Erscheinen liefern würde. Hashirama legte ihm einen Zettel auf den Tisch, und Madara griff nach einem Kugelschreiber. Er las Text oberhalb der Linie, auf der er unterschreiben musste, und hatte seinen Namen bereits ausgeschrieben, doch die Spitze des Kugelschreibers ruhte immer noch auf dem Papier. Madara überlegte, ob er Hashirama fragen sollte, wie er und Mito die Sache mit der Fernbeziehung damals gemeistert hatten, als Hashirama für ein Semester ins Ausland gegangen war. Doch Madara entschied sich schnell dagegen und legte den Kugelschreiber an seinen ursprünglichen Platz zurück. Er selbst war derjenige, der ein rein kollegiales Verhältnis vorgeschlagen hatte. „Wie läuft deine Dissertation?“ „Gut.“ „Wollen wir später zusammen mensen gehen?“ Madara zuckte zusammen. „Bitte, Hashirama, benutze dieses grässliche Studentenwort nicht in meiner Gegenwart“, bat er ihn missmutig, und Hashirama lachte herzhaft. Madara las die Uhrzeit von seiner Armbanduhr ab. Am besten sollte er sich jetzt schon auf den Weg machen, um im Raum alles Wichtige vorzubereiten. Kurz sah er auf sein Mobiltelefon und entdeckte Sakuras Nachricht. „Meinetwegen“, sagte er gedankenverloren an Hashirama gewandt. „Wir sehen uns viertel vor zwei vor dem Haupteingang.“   Madara begann sich fertigzumachen, während Hashirama ihm dabei verdutzt zusah. „Du meinst…“, setzte er langsam an. „Ich muss jetzt los, bis später“, unterbrach Madara ihn und scheuchte ihn Richtung Tür. Er schloss sein Büro ab, während Hashirama, immer noch mit einem verdutzten Ausdruck im Gesicht daneben stand. Hashirama sah dabei zu, wie Madara mit schnellen und großen Schritten die Treppe ansteuerte und sie dann hinuntereilte. Was die Liebe nicht alles bewirken kann, dachte Hashirama bei sich und lächelte amüsiert. ____ Als er die Wohnung betrat, roch es verdächtig nach Kuchen. Nachdem er sich die Schuhe ausgezogen hatte, ging er in die Küche. Auf dem Esstisch stand ein Schokoladenkuchen mit kakaohaltiger, glänzender Fettglasur. Dekoriert hatte Sakura ihn mit Himbeeren. Sakura und Izuna erledigten gemeinsam den Abwasch von Utensilien und Geschirr, die nicht in die Spülmaschine untergebracht werden konnten. Sakura drehte den Kopf zu ihm und grüßte ihn mit einem glücklichen Lächeln, stillschweigend mit dem Kopf auf Izuna deutend, der gerade dabei war, eine große grüne Schale abzutrocknen. Er hatte ihr beim Rühren geholfen. Sakura und Izuna trockneten sich die Hände ab, und Sakura trat zu Madara, um ihn zu küssen. Aus der Innenseite seines schwarzen Sakkos holte er ein sorgfältig eingepacktes Päckchen hervor. „Alles Gute zum Geburtstag, Sakura.“ Für dieses Geschenk war er in die nächste Stadt gefahren, in einen bekannten Outlet. Es hatte an dem Tag Ewigkeiten gedauert, einen Parkplatz zu finden; auf dem Rückweg hatte es wie aus Eimern geschüttet und er war zu allem Übel auch noch in einen Stau geraten. Seine Nerven waren zum Zerreißen angespannt gewesen und seine Haare eine Katastrophe, aber es hatte sich gelohnt. Als Sakura ihr Geschenk öffnete, das Silberarmband, das er für sie gekauft hatte, aus dem Päckchen nahm und es von allen Seiten bewunderte, wusste er, dass die Fahrt und die Strapazen, die er auf sich genommen hatte, sich voll und ganz gelohnt hatten. „Es ist wirklich wunderschön“, meinte Sakura atemlos und befestigt das Armband an ihr linkes Handgelenk. „Dein Bruder hat mir ein Armband geschenkt.“ Es war ein filigranes silberfarbenes Schmuckstück mit drei eierschalenfarbenen Blüten, deren Stempel aus glänzenden Perlen bestanden. „Danke.“ Sie umarmten einander und er küsste sie auf das Haar. „Setzt euch an den Tisch“, sagte sie, nachdem sie die Umarmung gelöst hatten. Sie hatte Abendessen vorbereitet – kein allzu opulentes, da sie lange genug mit dem Kuchen beschäftigt gewesen war. Während sie speisten, erzählten sie sich gegenseitig von ihrem Tag und was sie verrichtet hatten, und Madara war, als wären sie drei jetzt schon eine Familie. Es freute ihn, Izuna glücklich zu sehen, zu sehen, dass sein Bruder immer weniger auf Hilfe angewiesen war und mehr selbstständig agierte. „Wie sieht es mit der Partnersuche aus?“, wollte Madara wissen. „Ach“, meinte Izuna, putzte sich den Mund mit einer Serviette und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. „Am Anfang hatte es sich seltsam angefühlt, die Texte, die an mich gerichtet sind, von Sakura gelesen zu bekommen. Mittlerweile kann ich mich damit gut arrangieren.“ Er war zu Anfang sehr aufgeregt und unruhig gewesen, wann immer Sakura ihm mitgeteilt hatte, er hätte eine Nachricht erhalten. Auch das war zurückgegangen. Izuna legte die Hände in den Schoß, senkte den Kopf und begann, mit seinen Fingern zu spielen. „Ich finde die meisten aber…“ Izuna hielt inne und runzelte die Stirn, nach dem richtigen Adjektiv suchend. „… Komisch. Ja, komisch. Eine fragte gleich, ob wir uns treffen können. Sie meinte, sie mag es, Menschen persönlich kennen zu lernen. Aber das möchte ich nicht. Ich bin dafür nicht bereit. Sie hat dafür nicht viel Verständnis gehabt.“ Während Izuna weitersprach und Flirtportal-Anekdoten zum Besten gab, räumte Sakura die Teller weg und stellte kleinere Teller hin. Sorgfältig schnitt sie den Kuchen in mehrere Stücke und wies jedem ein Stück zu. „Allein dass du Kontakt zu anderen Menschen hast, ist gut“, meinte Madara. „Selbst wenn es für den Anfang nur virtuelle sind.“ Izuna bejahte. Sie verzehrten den Kuchen, und Sakura erhielt den ihr zustehenden Lob. Izuna war zuerst mit dem Kuchen fertig. „Ich glaube, ich möchte versuchen, Sport zu machen.“ Sakura und Madara sahen Izuna verwundert an. „Sport?“, fragten sie simultan. „Sakura und ich haben uns durch unzählige Profile geklickt und... Und sie las mir auf meinen Wunsch hin viele der Profile vor. Die anderen machen Sport und gehen arbeiten. Trotz ihrer unterschiedlichsten Einschränkungen haben sie Arbeit und Hobbys. Ich möchte diese Dinge versuchen. Ich weiß genau, dass es einige Dinge gibt, die ich alleine machen kann, und man sich auch zu Hause sportlich betätigen. Ich will das.“ Madara legte die Gabel zur Seite. „Hm. Ich wüsste nicht, weshalb ich Einwände erheben sollte, wenn du dich sportlich betätigen willst. Du wirst dich aber die erste Zeit von Sakura beaufsichtigen lassen. Ich möchte nicht, dass etwas schief geht. Versprich mir einfach, dass du vorsichtig sein wirst und es langsam angesehen lässt. Über das Thema Arbeit solltest du dir allerdings ein paar Gedanken mehr machen und Sakura bitten, mit dir darüber zu reden. Sie weiß sicher einiges.“ Izuna legte die Hände entschlossen auf den Tisch. „Ich möchte sobald es geht damit anfangen. Ich will nicht aufschieben.“ Madara und Sakura wechselten freudige Blicke miteinander. „Wir können nach etwas Passendem für dich im Internet suchen“, sagte Sakura, und Izuna nickte. ____ Den Tag nach seinem ersten Training hatte Izuna furchtbaren Muskelkater. Insbesondere Seine Beine und sein Bauch waren betroffen, und es war egal, ob er stand, saß oder lag – die Intensität des Katers schien sich nicht zu verändern. Dabei hatte Izuna es recht langsam angehen lassen, genau wie Madara ihn darum gebeten hatte: Ordentliches, leichtes Aufwärmen, keine allzu schnellen Bewegungen, keine Gewichte und viel entspanntes Dehnen hinterher. „Das ist ja auch kein Wunder“, sagte Sakura, als sie ihm Essen ins Zimmer brachte. „Es ist lange her, dass du dich körperlich angestrengt hast. Spaziergänge bereiten einen kaum auf ein solches Training vor. Apropos: Einen kleinen Spaziergang sollten wir heute dennoch einlegen. Es ist schön draußen.“ „Wenn ich den Dreh raushabe, wirst du mit mir zusammen trainieren“, grummelte Izuna schlecht gelaunt und widmete sich seinem Frühstück. Er musste allerdings zugeben, dass er sich gestern nach zwanzig Minuten Training gut gefühlt hatte. Er hatte sich gegen Ende lebendiger denn je gefühlt. Heute würde er definitiv aussetzen, dafür aber versuchen, morgen oder – wenn es morgen noch nicht funktionieren sollte – übermorgen wieder einzusteigen. Madara kam gegen acht Uhr abends nach Hause. Izuna saß im Wohnzimmer und tastete das Bilderbuch ab. Sakura befand sich in ihrem Zimmer, und als er an die Tür trat, hörte er, dass sie telefonierte. Es war bereits das Ende des Telefonats, und er klopfte erst, nachdem Sakura sich von ihrem Gesprächspartner verabschiedet hatte. Sie küssten einander flüchtig. „Mit wem hast du telefoniert?“, wollte Madara wissen. „Mit meiner Mutter“, antwortete Sakura und bedeutete Madara, ihr in die Küche zu folgen. Izuna gesellte sich zu ihnen an den Tisch, sodass sie heute abermals zu dritt gemeinsam zu Abend essen konnten. Sakura verbarg vor Madara, was genau sie und ihre Mutter besprochen hatten: Sakura hatte ihre Eltern endlich über ihre Beziehung zu Madara aufgeklärt. Die Reaktion war besser ausgefallen, als sie es vermutet hatte. Ihre Mutter hatte sich gefreut; ihr Vater war darauf nicht eingegangen, sondern hatte sie in typischer väterlicher Manier gefragt, ob sie ihn nicht persönlich als ihren Partner vorstellen wollte. Als Izuna die Küche verließ und in sein Zimmer ging, wollte Sakura sich ans Aufräumen machen, aber Madara griff nach ihrer Hand und führte sie in sein Zimmer. Er schloss die Tür und sah sie an. „Es ist wirklich verrückt“, sagte er und lockerte seine Krawatte, „jemanden zu vermissen, den man gestern Abend noch gesehen hat und weiß, dass man ihn auch heute sieht.“ Er machte sich daran sie zu entkleiden. ____ Als Madara aufwachte, lag Sakura neben ihm und begrüßte ihn mit ihren grünen Augen. Er blinzelte den Schlaf aus seinen Augen hinfort und streckte die Hand aus, um sie zu streicheln. Sie schmiegte sich näher an ihn und sie schwiegen eine Weile, ließen einander vernünftig wach werden, die Nähe des anderen genießend. Dann richtete sich Sakura auf und die Decke rutschte von ihrem Oberkörper hinunter. Er betrachtete ihre freigelegten Brüste, während sie sich im Sitzen streckte, nur um dann wieder neben ihn auf das Bett zu sinken. Er schob die Decke herunter und streichelte ihren Bauch. Sie hatte drei kleine Narben von der Operation davongetragen; eine direkt am Bauchnabel, eine links und eine rechts. „Würdest du nächsten Monat mit mir zu meinen Eltern fahren wollen?“ Madara hielt inne und  wandte den Blick zu ihr. „Du meinst, deine Eltern kennen lernen?“, fragte er nach. Eigentlich hatte er heute diese Sache ansprechen wollen. Das musste er dann wohl auf einen anderen Tag verschieben. Ein wenig verunsichert sagte sie: „Ja. Ich habe ihnen von dir erzählt und sie würden dich gerne näher kennen lernen.“ Nun richtete Madara sich auf, die Beine über das Bett schwingend. Sakura war auch sogleich hinter ihm, schob Madaras Haar über dessen linke Schulter und legte das Kinn auf die andere. „Möchtest du nicht?“, fragte sie ihn herausfordernd. „Ich weiß nicht“, antwortete Madara und fuhr sich über das Gesicht, bevor er Sakura körpersprachlich zu verstehen gab, dass er aufstehen wollte. Sie zogen sich an, während Madara über ihre Frage nachdachte. „Wie stellst du dir das vor mit Izuna?“ „Ich habe überlegt, ihn zu fragen, ob er mit will“, meinte Sakura und strich sich die morgendliche Frisur glatt. Madara fuhr sich mit den Fingern durch das Haar, um es von unerwünschten Knoten zu befreien. „Du kannst mit ihm gerne darüber reden.“ Er bezweifelte allerdings, dass Izuna mitkommen wollte. Eine lange Zugfahrt sowie Gedrängel am Hauptbahnhof würden ihn unnötig aufwühlen und reizen. Daneben fuhr Sakura meistens freitags nach Hause. Der Großteil der Züge war am Wochenende voll und kaum zu ertragen, selbst für jemanden, der regelmäßig damit fuhr. Eine Alternative wäre das Auto. Er wollte nicht für Izuna sprechen. Sein Bruder war ein erwachsener Mann und in der Lage, trotz Behinderung, zu sagen, was er wollte und was nicht. Sakura sprach die Angelegenheit direkt beim gemütlichen Frühstück an. Sie lachten nicht und sprachen nicht miteinander; dennoch befand Sakura die Atmosphäre für sehr angenehm. „Madara und ich haben heute Morgen über etwas nachgedacht“, begann sie, als sie jedem von ihnen Tee eingegossen und sich hingesetzt hatte. Als Izuna den Kopf zu ihr wandte, sagte sie: „Wie fändest du es, wenn wir zu dritt zu mir fahren würden?“ Während Sakura ihn erwartungsvoll ansah, nippte Madara ohne einen besonderen Ausdruck im Gesicht an seinem Tee. „Zu dritt?“, hakte Izuna verwundert nach. „Hast du etwa so viel Platz zu Hause?“ „Sicher“, gab Sakura zurück. „Ich würde mich wirklich freuen, wenn du zusagen würdest.“ „Ich würde ungerne Zug fahren“, sagte Izuna nachdenklich, „und ich fühle mich ehrlich gesagt noch nicht dazu bereit, an Orten zu sein, wo so ein furchtbares Gedrängel herrscht wie an einem Bahnhof.“ Er nahm die Tasse in den Mund und trank einen Schluck Tee. Er kam sich vor wie ein Spaßverderber – aber was sollte er schon tun? Wenn er sich auf den Zug einlassen würde, würde er noch am Ende allen die Laune verderben. Sakura überlegte. „Wärst du damit einverstanden, wenn wir das Auto nehmen?“, fragte sie dann Madara. „Wir könnten uns den Sprit teilen. Das Auto ist für Izuna nicht mehr ein ganz so unbekanntes Umfeld.“ Sakura sah zu Izuna. „Wir versorgen dich auch ausreichend mit Wasser und Nahrung, damit dir nicht schlecht wird, und du kannst auch zur Sicherheit eine Reisetablette vor dem Losfahren einnehmen.“ Izuna dachte nach. Sakura schien es unbedingt zu wollen, dass sie sie besuchten. In erster Linie wahrscheinlich, damit sie Madara ihren Eltern vorstellen konnte. Aber Sakura dachte auch an ihn und daran, ihm neue Perspektiven durch Reisen zu eröffnen. Er erinnerte sich an die Fahrt ins Museum. Er hatte viel Spaß dabei gehabt, mit seinen intakten Sinnen Dinge zu erkunden. Es ist so etwas wie ein Kurzurlaub , dachte Izuna sich. „Ich möchte dich zu nichts drängen, Izuna“, sagte Sakura sanft und tätschelte in dem Augenblick Madaras Hand. „Lass es dir durch den Kopf gehen.“ Izuna lächelte und leerte seinen Tee. „Ist dir eigentlich aufgefallen, dass wann immer du sagst ‚Lass es dir durch den Kopf gehen‘, ich es mir durch den Kopf gehen lasse und dann ja sage? Ich werde darüber gar nicht erst lange nachdenken. Ich möchte mit.“ Kapitel 18: ------------ * Am Tag der Abreise, an dem zum Glück schönes Wetter herrschte, schluckte Izuna eine halbe Stunde vor dem Verlassen der Wohnung der Vorsicht halber eine Reisetablette. Er okkupierte den linken Rücksitz; auf dem rechten hatte Sakura eine große schwarze Tasche mit Getränken und essbaren Kleinigkeiten untergebracht. Sie selbst schnallte sich auf dem Beifahrersitz an, nachdem Izuna ihr versichert hatte, dass er hinten alleine klarkommen werde. Er hatte Musik und Hörbücher mitgenommen, die er auf der Autobahn hören würde. Kaum fuhren sie fünf Minuten über die Autobahn, war Izuna auch schon eingeschlafen, was wahrscheinlich der Reisetablette zuzuschreiben war. Eine gute halbe Stunde schwiegen sie, dann begann Sakura mit gesenkter Stimme, um Izuna nicht aufzuwecken, zu sprechen. „Hast du dir Gedanken darum gemacht, wie es ab Oktober mit uns aussehen wird?“, fragte sie und sah ihn an. Sie hatte lange darüber nachgedacht, wann sie ihn darauf ansprechen würde. Eigentlich hatte sie ihn erst nach dem Besuch bei ihren Eltern fragen wollen. Doch wie so oft machte einem das eigene Verlangen und Gefühl einen Stricht durch die Rechnung. Sakura schob es auf die Hormone. Madaras Augen waren auf die Autobahn gerichtet. „Ja“, antwortete er kurz angebunden. „… Und?“, fragte Sakura, als nichts mehr von ihm kam. Madara blinzelte. „Die Frage ist, wie es für dich am bequemsten und angenehmsten ist. Ich werde nicht leugnen, dass es mir, verständlicherweise, lieber wäre, wenn ich dich öfter sehen würde. Aber ich möchte auch nicht, dass du dich ausschließlich nach mir richtest und damit unzufrieden bist.“ Sakura sagte eine Weile lang nichts. „Ich habe mich ein wenig im Internet umgesehen. Es gibt Einrichtungen, in denen ich arbeiten könnte. Ich hätte dann feste Arbeitszeiten und würde nicht jedes Jahr eine andere Stelle suchen müssen.“ Sakura sah nach vorne. „Darüber habe ich mir Gedanken gemacht, noch bevor ich anfing, bei dir zu arbeiten.“ Es war aufregend gewesen, bei verschiedenen Familien mit verschiedenen Menschen zu arbeiten, arbeiten in einer Stadt weit weg sollte die ultimative Herausforderung und Aufgabe werden. Allerdings hatte Sakura gewollt, sich irgendwann einen festen Arbeitsplatz zu suchen. „Und welchen Einsatzort würdest du vorziehen?“ „Ich habe mir überlegt, vielleicht einen Ort zu finden, der in der Mitte liegt. Damit ich sowohl zu dir als auch zu meinen Eltern nicht zu lange brauche.“ Sakura hob die Hände und lächelte. „Aber das sind vorerst nur Überlegungen, ich weiß nicht, ob es am Ende eine so gute Idee ist, denn dann muss ich mich noch um eine Wohnung kümmern und a-“ „Zieh mit mir zusammen.“ Überrascht warf Sakura ihren Kopf zu Madara. „Meinst du das ernst?“ Er schielte sie von der Seite an. „Warum sollte ich das nicht ernst meinen? Du wirst überfordert sein, wenn du dir eine eigene Wohnung suchst und dann sowohl zu mir als auch zu deinen Eltern fährst, nicht nur finanziell. Es ist für einen Menschen von Wichtigkeit, gelegentlich einen Tag mit sich selbst und seinen eigenen Gedanken zu verbringen. So wirst du immer auf Achse sein und das kann schnell nach hinten losgehen. Zumindest ist das meine Sicht der Dinge.“ Sakura zog die Lippen in den Mund und sagte eine Weile lang nichts. „Ich weiß schon, was du denkst, Sakura.“ Sie waren noch nicht lange ein Paar, dennoch dachte er bereits an Zusammenziehen. Sicherlich hatte es in all der Zeit, in der sie seinen Bruder gepflegt hatte, keine Schwierigkeiten zwischen Madara und Sakura gegeben. Aber mittlerweile standen sie nicht mehr ausschließlich in der von Distanz gekennzeichneten Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Beziehung. Er selbst hatte keine Angst davor, dass etwas schieflaufen könnte und er das Angebot und das Zusammenziehen bereuen würde. Es würde alles gut gehen und er würde nichts bereuen, dessen war er sich sicher. „Wir haben noch Zeit. Es ist April“, sagte er. „Du hast noch ein wenig Zeit, darüber nachzudenken und dir verschiedene Möglichkeiten durch den Kopf gehen zu lassen. Ich finde nur, dass Zusammenziehen und dir hier Arbeit in der Nähe suchen die bessere Möglichkeit ist. So würden wir uns täglich sehen und du könntest zu deinen Eltern fahren, um sie zu besuchen.“ Sakura schmunzelte. „Und was, wenn meine Eltern das nicht gutheißen?“ „Das werden sie und selbst wenn nicht, dann haben sie nicht das Recht, dir etwas zu verbieten“, sagte Madara selbstsicher. „Zum einen bist du eine erwachsene, zur Reflexion fähige Frau und in der Lage, lebenswichtige Entscheidungen zu fällen. Zum anderen werde ich schon dafür sorgen, dass sie es gutheißen.“ In diesem Moment wurde Izuna wach. Erst war ihm seltsam zumute, doch das legte sich innerhalb von wenigen Sekunden. Er tastete nach Sakuras Sitz, beugte sich vor und fragte: „Kannst du nachsehen, ob sie geschrieben hat?“ „Du bist aufgewacht? Ja, natürlich, ich werde gleich nachschauen“, versicherte sie ihm. Izuna hatte sie vor zwei Wochen kennen gelernt und seitdem tauschten sie täglich Nachrichten im Portal aus. Sie war drei Jahre älter als er, lebte eine halbe Stunde Zugfahrt entfernt und hatte ihre richtigen Beine nicht mehr. Das hielt sie allerdings nicht davon ab zu arbeiten; sie war Hautärztin und bewegte sich auf mechanischen Beinen fort, deren Aufbau und Funktionsweise sie Izuna bereits hinreichend geschildert hatte. Izuna war davon schwer fasziniert. Ins Gespräch gekommen waren sie aufgrund ihrer Vorliebe für die gleiche Art von Literatur. Nicht er, sondern sie hatte ihn angeschrieben und Sakura hatte Izuna ihre Nachricht vorgelesen. Er war wahnsinnig aufgeregt gewesen und hatte Sakura gebeten, sogleich eine detaillierte Antwort zu tippen, die er ihr vorsagte. Von einem Treffen war noch nicht die Rede gewesen. Izuna traute sich nicht, sie darauf anzusprechen, hoffend, dass sie diesen Schritt machen würde, genauso wie sie den ersten Schritt getan hatte. „Sie hat noch nicht zurückgeschrieben“, informierte Sakura ihn und schmunzelte, als er sich leise grummelnd in den Sitz lehnte. Kurz darauf begann er, in der gepackten Tasche nach einer Wasserflasche zu kramen. Insgeheim hatte Sakura vor, Izunas Bekanntschaft zu fragen, ob sie einander nicht im echten Leben treffen wollten, wenn diese es in ihrer nächsten Nachricht nicht selbst tun würde. Izuna selbst würde Sakura darum nicht bitten, deshalb würde sie die Angelegenheit selbst in die Hand nehmen müssen, sonst würde das Geschreibe ewig weitergehen. Oder es würde aufhören und die Hautärztin würde nicht erfahren, dass Izunas Herz immer einen Sprung in die Höhe vollführte, wann immer Sakura ihm sagte, dass elektronische Post für ihn gekommen war. * Sakura wohnte im fünften Stock, in einer recht lauten Gegend; die Fenster der Wohnung gingen auf einen Parkplatz, danach kam eine U-Bahnhaltestelle, der Eisenbahngleise folgten. Auch wenn man hier jahrelange lebte und eigentlich längst daran gewöhnt sein müsste, vermochte man manchmal dennoch nicht bei geöffnetem Fenster zu schlafen, weil es so laut war. Im Sommer, wenn die brütende Hitze kam, äußerst fatal. Die Dreizimmerwohnung erreichten Madara, Izuna und Sakura mit dem Aufzug. Sakura hatte ihre Eltern angerufen, als Madara am Straßenrand geparkt hatte, und so stand die Tür in die Wohnung der Harunos weit offen. Mebuki stand im Türrahmen, bekleidet mit einem langen, feierlichen Rock und einer Bluse, und begrüßte erst ihre Tochter, die sie in eine Umarmung zog, dann Madara, dem sie die Hand reichte und ihm dabei fest in die Augen sah. Auch Izuna schüttelte sie die Hand. Da sie natürlich wusste, dass er blind war, hatte sie seine Hand einfach ergriffen, um sie zu schütteln. Izuna tastete sich die geöffnete Tür entlang und erfühlte kurz darauf winzige Erhebung an der Wand des Flurs, dann den Lichtschalter. Er stützte sich neben dem Lichtschalter mit der Hand ab und entledigte sich eigenständig seiner Schuhe, die Sakura ihm abnahm und sie in den Schrank zu ihrer Linken stellte. Mebuki und Sakura veranstalteten eine kurze Führung, bei welchen Izuna alle drei Zimmer, das Bad, die Toilette und die Küche ertasten konnte, und die vor der kleinen Küche endete, die gegenüber der Eingangstür lag. Sakuras Vater war noch nicht zu Hause, weshalb Sakura Izuna in ihr Zimmer führte. Madara dagegen wurde gebeten, in die Küche zu kommen, da Mebuki Hilfe brauchte. Natürlich ging es nicht darum, seine Kräfte zur Verfügung zu stellen; Mebuki beabsichtigte, den Partner ihrer Tochter auszufragen. Ihr erster Eindruck von ihm war gut gewesen, doch sie wollte sich vergewissern, dass ihre Tochter an den Richtigen geraten war. Nicht anderes hatte Sakuras Vater Kizashi Haruno im Sinn, als er eine halbe Stunde später nach Hause kam. Im Wohnzimmer, das für den Besuch hergerichtet worden war, traf er auf seine Frau, seine Tochter, deren Freund und dessen Bruder. Sämtlicher Staub war noch gestern beseitigt worden. Auf dem runden Tisch am Fenster, der nur zu besonderen Anlässen gedeckt wurde, standen bereits Teller und Gläser; Madara und Sakura hatten Mebuki beim Herrichten des Tisches geholfen. Madara stand auf, als Kizashi eintrat, und reichte ihm die Hand. Kizashi sah Madara in die Augen. „Ich hoffe“, sagte er ernst, „dass du meine Tochter glücklich machen wirst. Es ist doch nicht schlimm, dass ich dich duze, oder?“ Stille trat ein. Kizashis Händedruck war fest. Er lachte unerwartet und ließ von Madaras Hand ab. Erleichtert atmete Sakura aus. Beinahe hätte sie ihm den typischen, überfürsorglichen Vater tatsächlich abgekauft. Er war sonst nie so gewesen und hatte ihren Ex-Freund damals mit einem Nicken begrüßt, als dieser an der Küche vorbeigegangen war. Izuna, der neben ihr saß, grinste, da er anhand des ernsten Tonfalls selbst geglaubt hatte, auf Madara würde nun eine Art väterliche Probe warten, die er bestimmt bestanden hätte. „Lasst uns setzen“, schlug Kizashi vor. „Sakura hat mir geschrieben, dass ihr mit leeren Bäuchen auf meine Ankunft wartet.“ Sie zogen zum Tisch um. Izuna wurde näher zum Fenster gesetzt und Madara und Sakura nahmen links und rechts von ihm Platz. Sakuras Mutter hatte viele verschiedene Gerichte zubereitet und eine Torte gekauft, um ihren Besuch zu verwöhnen. Obwohl Madara sie erst das zweite Mal im Leben gesehen hatte und sie ihn jetzt erst als Sakuras Partner kennen lernten, hatte er das Gefühl, sie alle wären seit langer Zeit eine Familie. Sie gingen miteinander mit einer merkwürdigen Vertrautheit um, die ihm einerseits gefiel, ihn andererseits aber in Irritation versetzte. Nichtsdestotrotz fühlte er sich hier wohl. Sie reichten einander die Teller und jeder tat sich etwas von allen Gerichten auf. Madara hielt sich zurück und antwortete nur dann, wenn er nach etwas gefragt wurde. Meist waren es Fragen zu seinem Beruf, und als Kizashi und Mebuki zu Ohren kam, dass Madara bald seine Dissertation fertighaben würde, wollten sie aus dem Staunen gar nicht herauskommen. Details konnte Madara ihnen nicht anvertrauen; er hatte Dinge lieber erst fertig, ehe er über sie lang und breit sprach. Nicht, dass er abergläubisch wäre – es war einfach seine Eigenart. Im Gegensatz zu seinem Bruder blühte Izuna in seiner Rolle als Konversationspartner regelrecht auf; Sakuras Eltern wussten ihn genau wie Sakura selbst aus der Reserve zu locken. Sie stellten ihm keine Fragen zu seiner Verfassung, sondern womit er sich beschäftigte, welches Essen er mochte oder derlei, und Izuna erzählte, erzählte und erzählte. Als das Dessert auf den Tisch kam, war Izuna bereits heiser, dafür froh gestimmt und verzehrte die aufgetaute, teure Torte mit Appetit und strahlender Miene. Glücklicher war nur Madara – aber dem merkte man das nicht an. „Wollen wir spazieren gehen?“, fragte Sakura Madara, als sie die benutzen Teller stapelte und sämtliches Besteck auf den obersten Teller legte. „Ich könnte dir die Gegend zeigen. Wenn Izuna nichts dagegen hat natürlich.“ Izuna hatte in der Tat nichts dagegen, weswegen Madara und Sakura für eine halbe Stunde verschwanden. Sie drehten eine großzügige Runde um das Gebäude und redeten über das Essen und Sakuras Eltern. An einem Punkt ergriff Madara, ohne etwas zu sagen oder Sakura anzusehen, ihre Hand und drückte sie. Später gingen Kizashi und Madara gemeinsam auf den Balkon. Die Sonne ging unter und warf hellrotes Licht auf das große Gebäude, welchem der Balkon zugewandt war. „Was hast du mit meiner Tochter vor, wenn der Vertrag abgelaufen ist?“, fragte er, und Madara wunderte sich, dass Kizashi sich dafür interessierte, wo er und Sakura sich auf der Autofahrt hierhin darüber unterhalten hatten. Wenn er darüber nachdachte, war es aber nicht verwunderlich, dass Kizashi nachfragte. Sakura war seine einzige Tochter und er sorgte sich um ihre Zukunft. „Wir haben darüber auf den Weg hierher gesprochen“, sagte Madara. Er beobachtete, wie sich das hellrote Licht langsam zurückzog. „Sakura ist eine erwachsene Frau. Sie kann ihre eigenen Entscheidungen fällen, weshalb ich nicht um Erlaubnis bitten werde. Dafür möchte ich dich fragen: Was hältst du davon, wenn deine Tochter zu mir zieht?“ Er pausierte und verschränkte die Arme vor der Brust. „Persönlich finde ich, dass es die beste Möglichkeit ist.“ Kizashi schloss die Augen und atmete lächelnd die Luft ein. Madara gefiel ihm. „Ist es nicht ein wenig merkwürdig, bereits so früh zusammenzuziehen?“, fragte er gegen. „Was den Durchschnitt betrifft, mag das durchaus zutreffen. Auf uns trifft das nicht zu. Im Prinzip ist Sakura bereits vor Monaten bei mir eingezogen und es hat keine Zwischenfälle gegeben. Ich bezweifle, dass es zwischen uns in Zukunft zu einem so schweren Streit kommen wird, dass wir uns trennen sollten. Und wenn doch – dann werde ich das vorherige Zusammenleben mit ihr nicht bereuen… Nein, ich werde dafür sorgen, dass deine Tochter und ich glücklich sind.“ Kizashi sah Madara an und er hatte keine Zweifel daran, dass dieser Mann seine Tochter glücklich machen würde. Finanziell wären beide abgesichert, und auch sonst bat Madara Sakura viel und würde es auch weiterhin tun. Kizashi und Mebuki hatten ihn analysiert: Er wirkte auf den ersten Blick alles andere als lebhaft, aber er kümmerte sich um die, die ihm viel bedeuteten. „Ich weiß nicht, was ich von dieser Idee halten soll. Es ist für Sakura wirklich am günstigsten, weiterhin bei dir zu leben und sich in deiner Nähe eine feste Arbeitsstelle zu suchen.“ Wiederum sah Kizashi das Ganze dennoch sehr kritisch, weil Sakura und Madara noch nicht lange ein Paar waren. „Aber du hast es schon richtig gesagt. Sakura ist eine erwachsene Frau und kann für sich selbst entscheiden. Wenn sie zu dir ziehen möchte, dann werden weder ich noch Mebuki ihr im Weg stehen. Übrigens glaube ich, dass meine Frau da ähnlich denkt. Lass uns wieder rein.“ Das Licht hatte sich zurückgezogen und die Sonne ging unter. Künstliche Helle füllte die Wohnung, und Mebuki begann gemeinsam mit Sakura, Sakuras Zimmer für die Nacht fertigzurichten. Sakura würde gemeinsam mit Madara auf der Matratze schlafen, während Izuna ihr frisch bezogenes Bett in Anspruch nehmen durfte. Das Bett stand am Fenster und konnte unmöglich zwei Menschen beherbergen. Weil Sakura aber unbedingt neben Madara einschlafen wollte, würden beide die Nacht auf der Luftmatratze verbringen, die Kizashi für sie aufpumpte. Izuna war von allen am meisten erschöpft, weswegen er sich sogleich ins Bett legte. Er setzte sich die Kopfhörer auf, um ein Hörbuch weiterzuhören, während Madara und Sakura es sich auf der Matratze bequem machten und zu reden anfingen. „Was hast du mit meinem Vater auf dem Balkon besprochen?“, fragte Sakura ihn. Ihr Blick war gerichtet auf die Lampe auf ihrem Nachttisch, die den Bereich um das Bett nur schwach erleuchtete. „Über uns“, antwortete Madara, der die Decke über seinen Körper ausbreitete. „Deine Eltern sind in Ordnung.“ Sakura lächelte, rollte sich auf ihn drauf und küsste ihn auf den Mund. „Sie finden auch, dass du in Ordnung bist.“ Kapitel 19: ------------ [center"]* Vor dem Frühstück loggte sich Sakura ohne Izuna in das Portal ein und schaute, ob die Hautärztin geschrieben hatte. Das hatte sie in der Tat und ging auf so ziemlich alles ein, was sie ihr geschrieben hatten, verlor aber kein Wort über ein Treffen. Auf Sakura wirkte es, als würde sie darauf warten, dass Izuna sie darauf ansprach. Den Charakter eines Menschen, den man nur online und via Schriftverkehr kannte, war schwer einzuschätzen, aber Sakura hatte das Gefühl, dass sie recht schüchtern war, obwohl sie tagtäglich mit verschiedenen Menschen zu tun hatte. Izuna war gerade im Bad und putzte sich die Zähne, während Madara auf dem Balkon war und mit Kizashi sprach. Es schien bereits jetzt zum Ritual zu werden, dass die beiden Männer auf dem Balkon standen und miteinander redeten. Kizashi, selbst ein Gelegenheitsraucher, hatte Madara eine Zigarette angeboten, Madara hatte aber abgelehnt mit den Worten, er rauche nicht mehr. Gedankenverloren tippte Sakura, die noch in ihrem Nachthemd auf der Matratze lag, gegen ihr Mobiltelefon. Sollte sie ohne Izuna eine kurze Nachricht tippen? Sollte sie die Frage nach einem Treffen in der nächsten langen Nachricht stellen? Oder sollte sie Izuna vorher fragen? Was, wenn er es mitbekäme, dass sie ohne sein Wissen nach einem Treffen gefragt hatte? Als Izuna sich in das Zimmer hineintastete, sagte Sakura: „Sie hat geschrieben. Ich lese es dir gleich vor, aber meinst du nicht, wir sollten sie nach einem Treffen fragen?“ „Mhm“, meinte Izuna und tastete mit den Füßen nach der Matratze, um sie zu umgehen. „Nein. Lass uns, wenn wir morgen beide wieder zu Hause sind, auf die Nachricht antworten. Wenn sie in ihrer Antwortnachricht dann nichts schreibt, dann machen wir das in der nächsten.“ Sakura zuckte die Schultern. Sie hatte soeben die Entscheidung gefällt, in der nächsten Nachricht nach einem Treffen zu fragen. Diesen Tag sollten sie wie auch den gestrigen überwiegend mit Essen und Gesprächen verbringen. Sakura überzeugte Izuna nach dem Vorlesen der Nachricht sogar davon, gemeinsam mit ihr hinauszugehen und in der Gegend zu spazieren, da um diese Zeit kaum Autos oder Menschen anzutreffen waren. Mit langsamen Schritten, den mitgenommenen Langstock weit, aber langsam ausfächernd, bewegte Izuna sich über den Bordstein und hörte Sakuras Beschreibung der Gegend zu. Sie hatte sich bei ihm eingehakt. Sakura war für ihn wie ein Navigationssystem, das einem den Weg zu einem unbekannten Ziel vorsagte. Izuna war sehr konzentriert bei der Sache und versuchte, sich die Stellen, an denen sein Langstock gegen etwas stieß, zu merken. Der Spaziergang hatte Izuna beflügelt und bereichert, weil er nach der zweiten Runde um das Gebäude wusste, wo der Großteil der Hindernisse lag und sicher sicherer und schneller bewegte als beim Drehen der ersten Runde. Madara und Izuna fuhren am frühen Abend heim, ausgestattet mit einigen Gläsern voller Gerichte, und Sakura, die eine Verabredung mit Ino hatte, kam am Sonntagabend mit dem Zug nach. Sogleich setzte sie sich gemeinsam mit Izuna an das Verfassen einer Nachricht an die Hautärztin. Momentan war das die einzige Person, zu der Izuna Kontakt hatte. Das war auch gut so, fand Sakura, da sie fest daran glaubte, dass zwischen den beiden noch etwas werden könnte, und so konnte er sich nur auf sie fokussieren. Izuna hatte sich alles, was sie ihm gestern vorgelesen hatte, gemerkt. Nichtsdestotrotz las Sakura Satz für Satz durch und fragte dann, was sie dazu schreiben sollte, und Izuna sagte ihr alles vor. Am Ende las Sakura die gesamte Mail noch einmal laut vor und eliminierte die Fehler, die ihr auffielen. „Dann schicke ich das ab“, log sie. Sie ließ das Nachrichtenfenster offen, und als sie sich sicher sein konnte, dass Izuna mit einem Hörbuch beschäftigt war, vervollständigte sie die Nachricht mit ihren eigenen Worten. * Einen Tag vor dem Treffen war Izuna unruhig. So sehr, dass er leichte Bauchschmerzen hatte und sein Herz sich anfühlte, als würde es jeden Moment platzen. Er konnte sich auf nichts konzentrieren, konnte für keine Sekunde still sitzen, bewegte sich die ganze Zeit rastlos von Zimmer zu Zimmer, rang die verschwitzten Hände oder fuhr sich durch das Haar. Izuna dachte nur an das bevorstehende Treffen. Er dachte daran, dass er mit dem Bus fahren musste, dachte daran, dass wenn er Sakura nicht hätte, er dazu überhaupt nicht imstande wäre, den Busbahnhof alleine aufzusuchen und den richtigen Bus zu finden. Ohne Sakura wäre der bloße Gedanke daran, einen anderen, etwas weiter weg wohnenden Menschen kennenzulernen befremdlich, denn Madara hätte dafür keine Zeit. Izuna dachte auch daran, dass er die Hautärztin zwar riechen, tasten und hören, aber nicht sehen würde können. Aber er würde sie so gerne sehen. Seine Nervosität war unmöglich zu übersehen, und Sakura versuchte, mit ihm zu reden. Sie hatte eins und eins zusammengezählt und vermutete richtig, dass es die Aufregung vor dem Treffen mit der Frau war, die auf mechanischen Beinen lief. „Izuna“, sprach sie ihn an, als er an ihr vorbeiging. Er hörte sie nicht, blieb nicht stehen, sondern ging in die Küche, wohin Sakura ihm eilig folgte und ihn abermals beim Namen nannte, nun in einem ungehaltenen Tonfall. Izuna wirbelte herum und blaffte: „Was?!“ Für einen kurzen Moment trat Schweigen ein. „Es tut mir leid“, sagte Izuna dann und seufzte schwer. „Ich… Ich weiß nicht, ob ich das kann. Dorthin fahren. Sie besuchen, sie wahrnehmen, aber nicht sehen.“ Gegen Ende hatte er die Stimme gesenkt und den letzten Satz genuschelt. „Ich bin ganz panisch.“ „Du bist nur aufgeregt“, setzte Sakura zum Beschwichtigen an, „das ist alles.“ „Nein, das ist nicht alles.“ Izuna schluckte. Sein Körper erzitterte immer wieder bei dem Gedanken an den Morgen. „Ich kann sie morgen nicht treffen. Bitte sag das Treffen ab.“ „Ist das dein Ernst?“, fragte Sakura ungläubig nach. „Izuna, das geht doch nicht. Sie freut sich darauf, dich zu sehen. Wie kommt das denn an, wenn wir ein Treffen vorschlagen und es dann absagen?“ Sakura zuckte zusammen und schlug sich mit der Hand vor den Mund. Vor lauter Fassungslosigkeit hatte sie sich verplappert, und nun würde Izuna ganz sicher komplett durchdrehen. Izuna hatte nicht der geringsten Verdacht geschöpft, als Sakura ihm fröhlich verkündet hatte, dass die Hautärztin nach einem Treffen gefragt habe. Aber Izuna drehte nicht durch. Sakuras Worte hatten ihn nur in Bruchstücken erreicht, und er antwortete: „Das kann passieren. Sag ihr, ich habe Bauchschmerzen.“ „Der Klassiker. Unter Frauen“, meinte Sakura und verdrehte die Augen. „Was ist los? Wenn du wirklich aufrichtig wünschst, dass ich das Treffen absage, dann werde ich das tun. Aber ich möchte wissen, was mit dir los ist.“ Eine Vermutung hatte Sakura bereits auch hierbei, und auch mit dieser Vermutung lag sie nur zu richtig.  Abermals war es so etwas wie ein Rückfall. Izuna hatte Angst, sorgte sich, dachte zu viel nach und resignierte. Es war nur allzu verständlich, dass ihm unwohl wurde. Aber das Treffen absagen, das war die falsche Entscheidung, fand Sakura und tat ihre Meinung auch laut kund. Izuna hatte sich an den Tisch gesetzt und schwieg. Sakura nahm gegenüber von ihm Platz, verschränkte die Arme vor sich und fragte ruhig: „Möchtest du wirklich, dass ich das Treffen absage? Frag dich, ob du dir da wirklich sicher bist, Izuna. Ich mache es nur, wenn du dir zu hundert Prozent sicher bist und mir alles erklärst.“ Izuna druckste noch einige Augenblicke herum, ehe er Sakura die Wahrheit offenbarte. Anfänglich suchte er mühevoll nach Worten, dann sprudelte alles aus ihm nur so heraus. Er bemitleidete sich selbst. Es wirkte, als würde er es bereuen, nicht sehen zu können, und als würde er sich selbst die Schuld dafür geben, dass er erblindet war, so als hätte er sich selbst dazu entschieden. Nachdem alles seitens Izuna gesagt worden war, fühlte er sich nicht erleichtert; er fühlte sich nur noch mehr aufgeregt und verlangte, dass sie das Treffen absagen sollte. Nach kurzem Überlegen sagte Sakura: „Gut. Ich werde das Treffen absagen.“ Daraufhin stand Izuna auf und ging in sein Zimmer, ohne ein weiteres Wort an Sakura zu richten. Er verblieb sehr lange allein auf seinem Bett, und als Sakura klopfte, gab er ihr keine Antwort. Das Gesicht hatte er im Kissen vergraben und dachte darüber nach, dass er ein Wrack war. Sakura hatte die Materialen und Instrumente besessen, um ihn zu reparieren, aber er zerfiel immer wieder in seine Einzelteile, nach kurz oder lang. Wäre er kein Mensch, sondern ein Gegenstand, hätte man ihn nach dem letzten Auseinanderfallen entsorgt und durch etwas Neues ersetzt. „Ich habe dir Essen gemacht.“ Er drehte sich um und die trockenen Spuren unter seinen Augen verrieten ihr, dass er geweint hatte. „Hast du abgesagt?“, fragte er mit dünner Stimme. „Ja.“ „… Gut.“ Izuna stand auf, um zu essen. „Als wir bei meinen Eltern waren, warst du ausgelassen“, bemerkte sie nach einer Weile. „Du hast geredet und gelacht und was eigentlich gut gelaunt.“ Izuna ließ seinen Löffel sinken und sagte: „Das ist nicht dasselbe. Das merkst du daran, dass ich keine Panikattacke hatte, als wir kurz vor dem Aufbruch waren. Ich denke, es war eine schlechte Idee, sich auf Singleportalen anzumelden.“ Sakura schnaubte. „Das war eine wunderbare Idee und du hast wunderbar mitgemacht! Sag nicht, dass es eine schlechte Idee war. Ich habe sehr viel Zeit und Mühe darin investiert, dir Nachrichten vorzulesen und Nachrichten für dich zu tippen.“ „Sei ehrlich, Sakura: Das hast du nicht gerne gemacht. Du hättest deine Zeit mit anderen Dingen verbringen können, als mir dabei zu helfen, Nachrichten an Leute zu verfassen, die sich nach der dritten Mail sowieso nicht mehr melden.“ „Zufälligerweise bin ich immer noch deine Pflegerin und muss deinen Wünschen nachkommen. Ich werde dafür bezahlt.“ „Siehst du. Du machst es, weil du es musst.“ Nun reichte es Sakura. Sie sprang vom Stuhl auf und sah wütend auf Izuna, sich wünschend, dass er ihren Ausdruck sehen oder zumindest auf irgendeine Art und Weise fühlen könnte. „Du sagst das Treffen wegen einer Panikattacke ab? Gut. Das kann ich verstehen. Aber dass du so mit mir redest, das… das verbitte ich mir! Wir kennen uns schon lange genug, damit du weißt, dass ich dich gerne habe und dir gerne zur Seite stehe. Dass ich dir helfe, hat nichts mit der Bezahlung zu tun, sondern damit, dass ich das möchte!“ Izuna hörte, wie sie davonschritt, mit schnellen und energischen Schritten, und er machte sich auch nicht die Mühe, sie aufzuhalten. Stattdessen holte er tief Luft und warf den Kopf über die Stuhllehne. Er hatte es, wieder einmal, geschafft, Sakura zu vergraulen. Der Duft der Suppe, die sie ihm zubereitet hatte, schwappte zu ihm hinüber und legte sich um seine Nase. Sie sprachen immer noch nicht miteinander, als Madara kam. Sakura wärmte ihm Essen auf und bereitete Tee vor. „Was ist los?“, wollte Madara wissen, der sofort gesehen hatte, dass etwas mit Sakura nicht stimmte. Ihre Bewegungen waren hektisch und sie wich seinen Blick oft aus. „Izuna?“, fragte er das Erste, was ihm durch den Kopf ging. Sakura nickte. Am Küchentisch, während er zu Abend aß, erzählte sie ihm, was passiert war. „Ich verstehe“, meinte Madara, nachdem er sich den Mund mit einer Serviette abgeputzt hatte. Er blieb erstaunlich ruhig. „Ich werde mit ihm gleich reden. Wir verschieben einfach die Überraschung auf einen anderen Tag, wenn er wieder klar denken kann.“ Sakura sah nach unten. „Was, wenn er sich über die Überraschung gar nicht freuen wird? Oder dass er sich darüber freut und am Tag vorher… na ja. Vielleicht haben wir uns geirrt und er ist für solche Überraschungen noch nicht zu haben, nicht stabil genug. Wir hätten das nicht in Angriff nehmen sollen.“ Er legte die Arme um sie und strich ihr über den Rücken. Als er sich von ihr löste, sah er ihr in die grünen Augen. „Mach dir keine Sorgen.“ Das war alles, was er sagte, bevor er zu Izuna ging. Madara fand ihn am Tisch sitzend vor. Izuna hörte dem Vorleser zu. Da er die Lautstärke nicht sonderlich hoch eingestellt hatte, hörte er, wie die Tür auf- und wieder zugemacht wurde. Izuna schob die Kopfhörer nach unten und fragte: „Bist du es, Madara?“ „Ja, ich bin soeben nach Hause gekommen.“ „Ich nehme an, du hast schon mit Sakura gesprochen“, sagte Izuna kühl. „Ja, das habe ich.“ Madara setzte sich an den Tisch. „Rede mit mir darüber, als hättest du mit Sakura vorher nicht gesprochen“, bat er seinen jüngeren Bruder.       Izuna dachte an den Vergleich, der ihm in den Sinn gekommen war, als er im Bett gelegen hatte. Er tippte die Tischkante mit dem Zeigefinger an und kratzte daran mit seinem Nagel. „Ich bin ein Wrack, Bruder. Sakura hat die Materialen und Instrumente, um mich zu reparieren, aber ich zerfalle immer wieder in meine Einzelteile, nach kurz oder lang. Wäre ich kein Mensch, sondern ein Gegenstand, hätte man mich nach dem letzten Auseinanderfallen entsorgt und durch etwas Neues ersetzt“, zitierte er das Gedachte mit einigen wenigen Veränderungen. Madara atmete tief durch. Solche Worte von seinem eigenen Fleisch und Blut zu hören schmerzte und bedrückte einen sehr; die Empfindung war besonders intensiv, da Izuna solche Worte schon seit langem nicht hatte fallen gelassen. Madara wusste nicht, was er sagen sollte, weshalb lange Stille zwischen ihnen herrschte. In den Köpfen dagegen tobten die Gedanken wie entlaufene Pferde: Madara dachte über Izuna und sein Leben und den Vergleich, und Izuna fragte sich, ob das, was er soeben laut ausgesprochen hatte, nicht zu weit gegangen war. Aber das war nun einmal die Sicht, die er auf die Dinge hatte. „Ich bezweifle, dass alles irgendwann zu hundert Prozent positiv sein wird, Madara. Das ist alles.“ „Du solltest dich in erster Linie nicht mit einem Gegenstand vergleichen. Du bist kein Gegenstand. Du bist ein Mensch, Izuna. Mein Bruder. Ein Gegenstand ist statisch, ein Mensch dagegen ist dynamisch. Du weißt, was ich damit meine. Daneben vergisst du, dass einem auch an Gegenständen etwas liegen kann, seien sie noch so alt und verbraucht. Aber du bist nicht alt und verbraucht. Es ist vollkommen normal, sich manchmal von einer Situation überwältigen zu lassen und aufgeregt zu sein.“ Er pausierte und betrachtete seinen Bruder ausgiebig. „Denk doch bitte nach. Wie fröhlich du bei den Harunos gewesen bist.“ „Ich habe bereits Sakura gesagt, dass das kein Vergleich dazu ist.“ „Dann hast du genauso wenig das Recht, Vergleiche anzustellen wie ich“, konterte Madara ruhig. „Dann hast du nicht das Recht, dich als ein Wrack zu bezeichnen, das immer wieder auseinanderfällt. Zumal das ein sehr abstrakter Vergleich ist, während mein Vergleich mit dem Aufenthalt bei den Harunos real ist.“ Izuna vergrub das Gesicht in den Handflächen. Er wirkte gestresst. „Kannst du mich allein lassen?“, fragte er angestrengt. Sein Kopf dröhnte von allen Seiten und ihm war, als würde sein Gehirn von Händen zerdrückt werden. „Bitte.“ Madara stand auf und legte seinem Bruder die Hand auf die Schulter. „Ja, das werde ich. Versprich mir nur, dass du dir ein paar Gedanken zu dem machst, was ich und Sakura dir gesagt haben, wenn du nicht mehr so aufgewühlt bist. Du selbst kannst dir mehr helfen, als du denkst. Mehr als ein anderer. Denk dran, du hast selbst gesagt, dass du arbeiten möchtest und selbstständiger sein wirst. Und das kannst du auch hinkriegen.“ Kapitel 20: ------------ [center"]* Die nächsten Tage verhielt sich Izuna Madara und Sakura gegenüber recht distanziert. Madara blieb ruhig, denn er glaubte fest daran, dass Izuna nur eine Weile reflektieren musste. Sakura wunderte sich sehr darüber, wie ruhig Madara in dieser Angelegenheit war. Früher wäre er voller Sorge gewesen und hätte Gespräche mit seinem Bruder gesucht. Izuna redete wenig mit ihnen, ging aber den gleichen Dingen nach, denen er auch sonst nachging. Am zweiten Tag brach er sogar ganz alleine nach draußen auf, um zu spazieren. Sakura bekam überhaupt nicht mit, dass er die Wohnung verließ, und sie fiel aus allen Wolken, als sie ihn eine halbe Stunde später durch die Eingangstür treten sah. „Warst du etwa ganz allein draußen?“, fragte sie verdutzt. Er nickte nur und ging auf sein Zimmer, während Sakura alleine im Flur zurückblieb und es noch nicht fassen konnte, dass Izuna tatsächlich alleine die Wohnung verlassen hatte. Einerseits war es natürlich mehr als löblich; andererseits hatte er das doch nur gemacht, damit er Sakura nicht um sich haben musste. Mit gelegentlichen Unterbrechungen dachte Izuna daran, was Sakura und Madara gesagt hatten, und auch dachte er daran, dass er, seit er das Treffen hatte absagen lassen, keinen Kontakt zu der Hautärztin hatte. Dabei sehnte er sich danach, ihr Nachrichten schicken zu lassen und ihre Nachrichten vorzulesen zu bekommen. Er vermisste ihre Worte und hoffte innerlich, dass sie seine Worte ebenfalls vermisste. Sakura hatte das Treffen abgesagt, hatte aber nach einem neuen Termin gefragt. Izuna hatte sie davon natürlich nicht in Kenntnis gesetzt. Die kommende Woche passte nicht, erst die Woche danach könnte sie sich mit Izuna treffen. Sie fand es schade, dass das Treffen nicht stattfinden konnte, schien es Izuna aber nicht übel zu nehmen. Sakura hatte kurz davor gestanden, der Frau die Wahrheit zu sagen, hatte es aber Izuna zuliebe sein gelassen. Die Hautärztin hatte sie darüber in Kenntnis gesetzt, dass sie die kommende Woche auch nicht antworten könnte; es blieb genug Zeit für Izuna, das Ganze noch einmal gründlich zu überdenken. Am vierten Tag, als Sakura Mittagessen für Izuna zubereitete, betrat er lautlos die Küche, und als Sakura sich vom Herd wegdrehte und Izuna am Esstisch sitzen sah, stieß sie erschrocken einen überraschten Laut hervor und ließ den Pfannenwender fallen. „Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe“, sagte er. Sakura hob den Pfannenwender auf. „Was schleichst du hier auch wie ein Geist herum“, tadelte sie ihn scherzhaft, und merkwürdiger hätte das Ganze nach der Auseinandersetzung und der tagelangen Distanz nicht wirken können. Sakura versuchte so zu tun, als wäre nichts gewesen. Jetzt, da er offenbar bereit war, wieder mit ihr zu reden, wollte sie ihn nicht unter tadelnden Worten begraben. „Ist alles in Ordnung?“, fragte Izuna vorsichtig nach. „Ja, natürlich.“ Vielleicht hatte sie zu dick aufgetragen. „Nachdem du das Treffen abgesagt hast, hat sie etwas zurückgeschrieben?“, fragte Izuna langsam. „Hast du geschaut?“ Sakura machte den Herd aus. „Ja, habe ich. Und ja, hat sie.“ Sakura machte eine Pause. „Sie war sehr enttäuscht darüber, dass das Treffen nicht stattfinden konnte.“ Izuna senkte den Kopf und rang unter dem Tisch die Hände. „Ich verstehe“, sagte er. „Ich habe ihr gesagt, dass es dir nicht gut geht, und sie wollte wissen, wie es mit übernächster Woche aussieht.“ Izuna schwieg und lauschte den Geräuschen in der Küche, die durch Sakuras Bewegungen verursacht wurden. Schließlich setzte sie sich neben Izuna an den Tisch. „Sie sagte, sie kann auch hierher kommen.“ Es war bereits die zweite Lüge an diesem Tag und Sakura fühlte sich alles andere als gut dabei. Nein, die Frau mit den mechanischen Beinen hatte nichts davon gesagt, hierherkommen zu wollen. Aber Sakura war voller Zuversicht. Wenn Izuna seine Ängste größtenteils abgelegt hatte, würde Sakura fragen, ob es der Hautärztin möglich war, hierher zu kommen. „Wirklich?“, fragte Izuna ungläubig und hob den Kopf, senkte ihn dann aber wieder gleich. „Wie… stellst du dir eigentlich so ein Treffen zwischen mir und einer Frau vor, Sakura?“, wollte er dann wissen. „Ich meine in erster Linie die Organisation und den Ablauf.“ „Ganz einfach: Wir vereinbaren gemeinsam Ort und Zeit, Madara oder ich liefern dich dorthin ab, lassen euch alleine und holen dich ab, wenn das Treffen zu Ende ist. Für den Fall der Fälle hast du ein Handy, kannst uns beide immer erreichen und sagen, ob es vielleicht länger dauert oder du früher abgeholt werden willst.“   Izuna rang abermals die Hände. Plötzlich ließ er es sein und dachte an die Zeit, als er noch hatte sehen können. Wie sehr er sich verändert hatte. Er war unsicher, voller Selbstzweifel, obwohl er davor seiner Sache immer sicher gewesen war und sich gelegentlich sogar überschätzt hatte. Izuna dachte an den Vergleich mit dem Wrack und dachte daran, dass ein Wrack erst zum Wrack werden musste. Izuna seufzte. „Ich würde sie… schon gerne sehen.“ „Dann werde ich das auch schreiben.“ „Nein! Was, wenn ich wieder absagen will? Was dann?“ Sakura schwieg. „Das klingt jetzt nicht sonderlich empathisch“, sprach sie dann, „aber sag das Treffen nicht ab. Du kannst durchdrehen, du kannst schreien, und egal was dir durch den Kopf gehen sollte: Sag es nicht ab. Sonst kannst du dein blaues Wunder erleben.“ Izuna schmunzelte. „Muss ich jetzt vor dir Angst haben?“ „Solltest du“, sagte Sakura in gestellt mahnendem Ton. Kannst du mir etwas versprechen?, wollte sie ihn fragen, überlegte sich das aber sogleich anders. Nein, sie wollte ihm kein Versprechen abnehmen. Wenn er das Versprechen nicht würde halten können, würde es ihm noch mieser gehen als sonst. „Hör zu, Izuna. Ganz egal was passiert, bemühe dich bitte, dich von uns nicht tagelang zu distanzieren. Ich weiß, dass man manchmal Zeit für sich braucht. Aber versuch bitte, dich in dieser Hinsicht zu kontrollieren.“ „… Ja. Okay.“ „Gut. Dann lass uns jetzt essen.“ „Meinst du, dass es so einfach ist?“, wollte Izuna wissen. „Einfach nicht abzusagen?“ „Denk erstmal nicht dran und lass mich die Sache für dich regeln.“ * Madara schlug mit seiner flachen Hand sachte gegen seine gebundene Dissertation. Er hatte sie heute abgeholt. Insgesamt hatte er drei Exemplare drucken lassen, was ihn eine hohe Summe Geld gekostet hatte. Nur ein Exemplar war für ihn selbst gedacht. „Herzlichen Glückwunsch“, sagte Sakura, lehnte sich auf dem Sofa zu Madara hinüber und küsste ihn auf den Mund. Alle drei Bewohner des Hauses saßen im Wohnzimmer. „Es ist ein wenig zu früh, um zu gratulieren, findest du nicht?“, wollte Madara wissen, als sich ihre Lippen lösten. Sakura schüttelte den Kopf und nahm die gereichte Dissertation entgegen. Stolze 437 Seiten war sie lang – davon einundzwanzig Seiten Quellenverzeichnis –, gedruckt auf schneeweißen Blättern, um die sich ein schwarzer Einband schloss. Für eine Publikation musste Madara seine Dissertation um knappe zweihundert Seiten kürzen, aber es machte ihm nicht besonders viel aus, schließlich würde sein Werk dann in mehr als einer Sprache erhältlich sein. „Ich schätze, Izuna und ich haben nun neuen Lesestoff“, kommentierte Sakura und gab das Buch an Izuna weiter, der bis jetzt still dagesessen hatte. Izuna tastete über den Buchrücken entlang und befühlte die frischgedruckten Blätter. „Stimmt“, meinte er in Bezug auf Sakuras Aussage. „Daran hatte ich gar nicht gedacht, aber ich will wirklich wissen, was mein Bruder alles geschrieben hat.“ Sakura sah zu Izuna herüber und dann zu Madara. Gestern erst hatten die beiden darüber gesprochen, wie sie Izuna die Angst vor dem Treffen ein wenig nehmen konnten. Das Treffen war morgen und Izuna hatte seit gestern kalte Füße. Sie würden sich in einem Café in der Stadt treffen, in einem, das sich direkt neben einem Parkhaus befand. Erst hatte Sakura überlegt, dass es das Beste wäre, das Ganze nicht zum Thema zu machen und so zu tun, als wäre da kein allzu besonderes Ereignis für ihn in Anmarsch. Doch sie war zu dem Schluss gekommen, dass es der völlig falsche Weg war. Es war besser, mit Izuna darüber zu reden. Nicht im Detail, und er durfte nicht massiv herausgefordert werden, aber sie mussten es thematisieren. Sakura nahm das Buch, reichte es an Madara zurück und drückte Izunas Hand. „Ich weiß, dass du nervös und aufgeregt bist“, sagte sie. „Und ich bin sehr stolz, dass du dich bis jetzt nicht dazu entschlossen hast, das Treffen abzusagen.“ Izuna lächelte schwach. „Danke.“ Kurz vor dem Einschlafen hatte er gestern Panik bekommen, hatte sich aber so gut es ging zusammengerissen und an Sakura und Madara gedacht. Was sie für ihn getan hatten und was er ihnen schuldete. Sein Zustand hatte sich nicht augenblicklich gebessert. Er hatte eine gute Stunde im Bett gelegen und ruhig nachgedacht, bevor eine Besserung eingetreten und die Angst durch Vorfreude ersetzt worden war. An eben dieser Vorfreude versuchte er sich festzuhalten; eben diese Vorfreude machte ihm Hoffnungen. Sie würden gemeinsam in die Stadt fahren. In der Zeit, in der Izuna mit seinem Date beschäftigt sein würde, würden Madara und Sakura zuerst bummeln gehen und dann ein Restaurant besuchen. Sie hatten allerdings nicht vor, sich allzu weit vom Parkhaus und dem Café zu entfernen, zumindest nicht beim ersten Mal. Am nächsten Tag inspizierte Sakura Izunas Garderobe und suchte einige Sachen aus. Lang und breit beschrieb sie ihm, wie die Ober- und Unterteile aussahen, welche Farbe sie hatten, und Izuna befühlte die Stoffe. Was in die engere Auswahl gekommen war, wurde anprobiert, und schließlich entschieden sie sich für eine schwarze Hose und ein dunkelblaues Hemd. Die langen Ärmel krempelte Sakura sauber hoch und stopfte das Hemd in die Hose. „Ich habe das Gefühl, das sieht blöd aus“, kommentierte Izuna, und Sakura lachte. „Nein, das sieht sehr gut aus. Wir könnten das Hemd aber auch nur auf der einen Seite in die Hose stecken. Könnte der neuste Schrei werden.“ Sakura sagte das so ernst, dass Izuna kurz auflachen musste. Sakura klopfte ihm auf die Schulter, und in dem Moment betrat Madara das Zimmer. „Seid ihr fertig?“, wollte er wissen. „Wir müssen gleich los.“ Bevor sie das Haus verließen, sprühte Sakura ihn mit Madaras Parfüm ein. Im Auto wurde er von Sakura in Gespräche verwickelt, und als sie in das Parkhaus einfuhren, war die Aufregung kaum zu ertragen. Selbstständig stieg Izuna aus, seinen Langstock in den Händen, und verharrte an Ort und Stelle, dem Geräusch von Autoreifen lauschend. Erst als Sakura sich bei ihm einhakte, kam Regung in sein Gesicht und seine Glieder. Schritt für Schritt legten sie den Weg zum Aufzug zurück und fuhren in den Erdgeschoss. Sakura und Izuna gingen voraus, Madara machte nur einige Schritte, bis er den beiden mitteilte, dass er hier auf Sakura warten würde. „Wir stehen vor dem Café“, verkündete Sakura nur wenige Momente später, und Izuna drehte verwundert den Kopf zu ihr. „Schon?“, wollte er wissen. „Ja, wir stehen vor dem Eingang. Ich kann die Hautärztin sehen.“ Izunas Herz schlug nun noch schneller als zuvor und er glaubte, vor Aufregung nicht genug Luft zu bekommen. „Es wird alles gut werden“, versicherte Sakura ihm. „Wir gehen jetzt gemeinsam rein und ich liefere dich ab.“ Izuna nickte zaghaft. Er war blass geworden und atmete schwer. Sakura griff nach seiner Hand und drückte sie. „Wenn du möchtest, dass ich beim ersten Mal dabei bin, kann ich bleiben“, sagte sie sanft. Izuna verneinte und sammelte sich. „Danke, aber ich möchte es alleine hinkriegen.“ Er machte einen Schritt auf den Eingang zu und Sakura folgte ihm. Verschiedenste Eindrücke stürzten auf Izuna nieder, als sie das Café betraten. Er versuchte, sich auf Sakuras Berührung und auf ihre Stimme zu konzentrieren, bis sie an dem Tisch ankamen, an dem seine Verabredung saß. Es war Sakura, die die Hautärztin zuerst begrüßte, dann erst wurde sie von Izuna gegrüßt und sie reichten einander die Hand. Es war eine kleine Hand mit verhältnismäßig langen Fingern und kurzen Nägeln. Die Handinnenfläche war ein wenig rau, wahrscheinlich dadurch, dass sie sich auf der Arbeit öfter die Hände desinfizieren musste. Izuna setzte sich. „Ich werde euch zwei jetzt alleine lassen“, sagte Sakura lächelnd und verschwand. Izuna musste sich zurückhalten, um nicht ein Geh nicht! auszurufen, und schluckte seine Verzweiflung hinunter. „Du bist aufgeregt, nicht wahr?“, wurde er gefragt. „Ja“, murmelte Izuna. Er nahm sich vor, seine gesamte Aufmerksamkeit auf sein Date zu richten. „Dann lass uns erstmal etwas bestellen“, schlug sie vor, und Izuna nickte. Er versuchte, sie sich vorzustellen. Er wusste, dass sie grüne Augen hatte und rote Haare. Ihre Statur war normal und ihre Beine waren mechanisch. Er wusste von ihren Hobbys und Vorlieben, von ihrem Beruf, und dennoch konnte er sich nicht dazu aufraffen, ein Gespräch zu beginnen. Als die Bedienung verschwand, fragte sein Gegenüber: „Du hast dich nicht mit vielen Menschen getroffen, seit du erblindet bist, nicht wahr?“ Izuna verneinte. „Ehrlich gesagt ging es mir das letzte Mal wegen meiner Aufregung schlecht. Deshalb konnte ich das Treffen nicht wahrnehmen. Danke, dass du Verständnis gezeigt hast. Ich habe versucht, mich dieses Mal zusammenzureißen und mich auf das Treffen einzustellen.“ Ab diesem Augenblick entstand zwischen ihn ein langes und tiefgründiges Gespräch, von dem Izuna auf dem Heimweg in allen Einzelheiten erzählte, obwohl seine Stimme bereits nach dem Verlassen des Café hinreichend rau und kratzig vom vielen Reden gewesen war. Madara freute sich für seinen Bruder, und Sakura freute sich für ihren Freund, und keinem der beiden machte es etwas aus, dass Izuna sich öfter wiederholte. Sobald sie zu Hause angekommen waren, war Izuna erste Station die Küche, um sich etwas zu trinken zu holen. Sakura folgte ihm. Als er seine Hände auf den Küchentisch legte, erfühlte er Papier unter seinen Fingerkuppen. Er strich über die Oberfläche, um ganz sicher zu gehen, dann fragte er: „Was ist das?“ „Was meinst du?“ „Hier liegt Papier auf dem Tisch.“ Sakura zuckte zusammen. Papier… Sie hätte es eigentlich wegräumen müssen. Sakura sah wenige Augenblicke lang auf die zwei ausgedruckten Blätter, die auf dem Tisch vor Izuna lagen. Dann trat sie an den Tisch heran und nahm die zwei ausgedruckten Blätter an sich. „Das ist nichts Besonderes“, log sie, „etwas, das Madara ausgedruckt hat, es aber nicht mehr braucht.“ Ihr war mehr als unwohl, Izuna anzulügen. Dennoch brachte sie die Blätter weg, versteckte sie in ihrem Zimmer und kehrte dann in die Küche zurück. Izuna saß immer noch am Tisch und schien sich keinen Millimeter bewegt zu haben. Sie schien sich unauffällig gegeben zu haben, denn er machte nicht den Eindruck, Verdacht geschöpft zu haben. „Du hast mich angelogen“, stellte er plötzlich nüchtern fest, und Sakuras Nackenhaare stellten sich auf. „W-Was meinst du?“ Izuna grinste. „Sag schon. Was waren diese Blätter?“ Sakura biss sich auf die Lippe. „Nichts Besonderes.“ Izuna schnaubte. „Ach bitte“, sagte er. „Ich höre und spüre ganz genau, dass das eine Lüge ist. Worum handelt es sich bei den Blättern, die du gerade weggebracht hast?“ Madara kam in die Küche und wunderte sich über die vorherrschende Atmosphäre. Sakura versuchte, mit ihrer Mimik und Gestik zu kommunizieren, aber Madara hatte keine Ahnung, was sie von ihm wollte. Sakura schloss die Augen und seufzte resigniert. „Er hat die Blätter entdeckt.“ Kapitel 21: ------------ [center"]* „Wieso macht ihr so ein Aufheben um die Blätter?“, wollte Izuna wissen, als Madara an ihm vorbeiging, offensichtlich zu Sakura. Er vermutete richtig, dass es sich nicht um etwas Unbedeutendes bei dem Papier handelte. „Es sollte ursprünglich eine Überraschung werden“, antwortete Madara. Er tauschte Blicke mit Sakura aus und fügte dann hinzu: „Wir wollen mit dir für ein paar Tage verreisen.“ Sakura sah Madara mit großen Augen an. Es erstaunte sie, dass er so unverblümt geworden war. „Verreisen?“ „Ans Meer, Izuna.“ Izuna stockte irritiert. „Ans Meer?“, wiederholte er, so als begreife er die Bedeutung der Worte nicht. „Verstehe ich das richtig? Ihr habt vor, mit mir zusammen ans Meer zu fahren?“ „Es sollte eigentlich eine Überraschung werden“, erklärte Sakura an Madaras Stelle. „Nachdem du verlangt hast, das erste Treffen mit der Hautärztin abzusagen, habe ich mich gefragt, ob wir das Ganze nicht vorerst verwerfen sollten. Aber Madara war dagegen.“ Sakura lächelte schief. „Ich schätze, nun ist es keine Überraschung mehr.“ „Wann… Wann wollen wir denn fahren? Oder besser gesagt: Wann hattet ihr vor, zu fahren?“, erkundigte Izuna sich. Er klang weder sonderlich begeistert noch klang er wie jemand, dem der Gedanke von Grund auf missfiel. Izuna wirkte eher wie jemand, der mit einer unerwarteten Wahrheit konfrontiert worden war und sie nun zu akzeptieren suchte. „Anfang August“, sagte Sakura. Izuna dachte an das Meer. Er dachte an die Klassenfahrt, die schon lange Jahre zurück lag. Er dachte an das Mädchen, mit dem er Händchen gehalten hatte – es hatte Angst davor gehabt, zu tief ins Meer hineinzugehen. Und Izuna dachte an die zahlreichen Geschichten vom Meer, die er gelesen hatte; an die Beschreibungen des magischen Rauschens, der wunderbaren Luft, des warmen Sandes unter den Fußsohlen. Aber er dachte auch an die beschriebenen Stürme und Katastrophen, an Schiffbrüche, und dennoch war das Meer ein Ort, an den er hinwollte. Über das Meer lesen war seine Art und Weise gewesen, seiner Sehnsucht nachzujagen. „Möchtest du mitfahren?“ Izunas Kopf zuckte hoch. „Ja, natürlich!“, rief er wie im Reflex aus und spürte, wie ihn ein Gefühl der nie zuvor dagewesenen Lebendigkeit befiel. Leidenschaftlich, fast schon feierlich fügte er an: „Natürlich!“ Er passte in diesem Augenblick überhaupt nicht hinter den Esstisch, sondern hinter einem Rednerpult auf einem Podium. „Ich könnte sofort meine Sachen packen!“ Madara und Sakura lachten und er drückte sie seitlich an sich. „Lief doch besser als erwartet“, meinte Madara später, als sie im Wohnzimmer unter sich waren. Sakura tippte auf ihrem Mobiltelefon herum, während Madara in einem dünnen Büchlein las. Sakura summte zustimmend. „Es macht mich wirklich froh, ihn glücklich zu sehen.“ Neben dem Spaziergang bei Wind und Wetter, dem Lesen und den sportlichen Einheiten dreimal die Woche kam bald eine weitere Beschäftigung hinzu, die zur Konstante wurde: Telefonieren. Nach dem zweiten erfolgreichen Treffen, das auf Wunsch der Frau mit den mechanischen Beinen am gleichen Ort stattfand wie beim ersten Mal und bei dem Izuna von Anfang an viel selbstsicherer war, erhielt Izuna ihre Telefonnummer und sie begannen, einmal in der Woche und einmal am Wochenende miteinander zu telefonieren. Die Telefonate waren gefüllt mit unterschiedlichsten Themen, aber am meisten redeten sie über Literatur. Sie beide schienen die gleichen Bücher gelesen zu haben, denn wann immer der eine einen Titel nannte, sagte der andere: An das Buch kann ich mich erinnern, ja! Was mir besonders im Kopf geblieben ist, ist… Und dann redeten sie unermüdlich über Funktionen und Motivationen. Manchmal waren ihre Telefonate nur vierzig Minuten lang, und manchmal redeten sie zwei Stunden quasi ununterbrochen, bevor sie sich voneinander verabschiedeten. Gelegentlich wurde Izuna bei seinen Telefonaten von Sakura oder Madara belauscht, und Letztere besprachen die eine oder andere Sache im Schlafzimmer vor dem Schlafengehen. Die Zeit verging für jeden von ihnen schnell. Eltern sahen ihrem Kind beim Erwachsenwerden zu, sahen ihm dabei zu, wie er Neues entdeckte und darüber staunte – und Madara und Sakura sahen Izuna dabei zu, wie er Stück für Stück zu dem Leben zurückkehrte, das er vor dem Eintreten der Blindheit geführt hatte. Gelegentlich schien Izuna zu vergessen, dass er irgendwann in der Lage gewesen war zu sehen, so sehr gewöhnte er sich an seinen Zustand und das Wahrnehmen der Dinge um ihm herum mit den anderen Sinnen. Wenn er sich aber an manchen Tagen die Zeit in Erinnerung lief, als er mit seinen Augen die Welt hatte erfassen können, ließ er es zu, traurig zu sein und in Nostalgie zu verfallen, aber er ließ es nicht zu, dass er andere mit seiner Traurigkeit verletzte. Er hatte Menschen an seiner Seite, die mit ihm auch durch schwierige Zeiten gehen würden. *[/] Am Tag der Abreise konnte Izuna nicht die Füße still halten. Unaufhörlich ging er in der Wohnung auf und ab. Die Koffer waren bereits gestern gepackt worden und standen im Wohnzimmer. Es handelte sich um zwei kleine Koffer, und mehr brauchte man nicht für einen Kurzurlaub, den man überwiegend am Meer verbringen würde. Sie würden mit dem Auto fahren. Die Fahrt würde zweieinhalb Stunden dauern. Izuna hätte nicht gedacht, jemals wieder so aufgeregt zu sein. Doch es war eine positive Aufregung, die an Vorfreude gekoppelt war. Er konnte es kaum erwarten, an den Strand zu gehen, durch den Sand zu wandern, die frische Luft einzuatmen und neue Eindrücke zu sammeln. Vier Tage würden sie im Hotel bleiben und er würde nach der ersten Nacht dort jeden Tag morgens und abends an den Strand gehen. „Wir können los“, hörte er Sakuras Stimme. Mittlerweile konnte er einordnen, aus welchem Raum eine Person zu ihm sprach. Sie hatte Madaras Schlafzimmer verlassen und war nun im Flur. Mit hinter dem Rücken verschränkten Händen eilte er geschmeidig wie eine Katze in den Flur. „Gut“, sagte er lakonisch, als er anhielt. Beinahe wäre er in Sakura hineingelaufen, die nach seinen Oberarmen griff, so als wollte sie ihn aufrichten, nachdem er umgefallen war. Madara und Sakura trugen beide Koffer zum Auto und Madara verstaute das Gepäck im Kofferraum. Wie auch die letzten Male saß Izuna hinten, ausgestattet mit Musik und Hörbüchern. Zur Vorbereitung auf den Urlaub hatte Sakura ihm stundenlanges Meeresrauschen und Vogelschreien heruntergeladen, die er auch während der Fahrt hörte. Sie kamen am späten Abend am Hotel an. Ihr Hotelzimmer verfügte über zwei Räume, ein Badezimmer und einen Balkon. Izuna durfte ein ganzes Zimmer für sich alleine haben, und er entschied sich für das, das dem Balkon am nächsten stand. Izuna setzte sich auf die weiche Matratze und zückte sein Mobiltelefon, um seine Freundin anzurufen. Sie hatte ihn darum gebeten, sie anzurufen, sobald sie im Hotel angekommen waren. Sie waren seit einem Monat ein festes Paar und hatten sich für die Zukunft so einiges vorgenommen. Die drei waren nach der Reise reichlich erschöpft, sodass sie sich ein gutes halbes Stündchen ausruhten, bevor Madara und Sakura sich zum Spazierengehen entschlossen. Izuna wollte nicht mit, hatte aber keinerlei Probleme damit, auf sich alleine gestellt zu sein für einen kleinen Zeitraum. Madara und Sakura sahen sich zuerst im Hotel um, inspizierten den Speisesaal und das Schwimmbecken und gingen dann erst nach draußen. Direkt gegenüber befand sich ein weiteres Hotel. Eine Allee verlief rechts scheinbar in die Unendlichkeit; links waren nur einige Bäume präsent, hinter denen ein tintenfarbener Himmel lag. Dort war der Strand. Sie würden morgen gemeinsam dorthin aufbrechen. Sie hielten Hände und genossen den Abend, der still und angenehm lau war. „Hast du nachgedacht?“ Sakura sah zu Madara. „Ja“, antwortete sie, ohne sicherzugehen, was er meinte. Es gab sonst nichts, worüber sie sich Gedanken hätte machen müssen. Sie konnte es selbst kaum glauben, aber die Beziehung zwischen ihm und ihr war alles in allem unkompliziert. In den letzten Monaten hatten sie ein einziges Mal eine Auseinandersetzung gehabt, bei der sie ihn getriezt hatte. Aber die Auseinandersetzung war nicht ausgeartet. Vielleicht würde das in Zukunft anders aussehen, aber aus der gegenwärtigen Perspektive betrachtet bestand zwischen ihnen kein hohes Konfliktpotenzial. Sakura lächelte verlegen. „Es wird sich merkwürdig anhören, wenn ich es ausspreche.“ Madara hielt an und Sakura tat es ihm nach. Sie sahen einander in die Augen und Sakura konnte mit Sicherheit sagen, dass er wusste, wofür sie sich entschieden hatte. „Ich würde schon sehr gerne mit dir zusammenziehen. Mit euch. Ich werde mich in der Nähe nach Jobs umsehen. Und meine Eltern wissen alles. Sie machen sich Sorgen und ich denke, das werden sie die erste Zeit nach dem Umzug auch tun. Aber sie haben… Sagen wir es so: Deren Segen haben wir.“ Madaras Gesicht war ausdruckslos, was Sakura verunsicherte. „Stimmt etwas nicht? Hast du es dir anders überlegt oder wieso machst du so ein Gesicht?“, wollte sie sichtlich nervös wissen. Sie fühlte sich zurück in die Zeit versetzt, als sie zu den Uchiha-Brüdern gekommen war. Sie dachte daran, wie einschüchternd Madaras Präsenz gewesen war und wie unheimlich er gewirkt hatte. Madara lachte rau, und Sakuras Rücken rann ein eiskalter Schauer herab. Sanft legte er ihr die Hände auf die Schultern. Seine Lippen umspielte die Andeutung eines Lächelns. „Das ist schön“, sagte er und küsste sie auf die Stirn. Mehr sagte Madara nicht. Vielleicht wäre eine andere Frau an Sakuras Stelle enttäusch gewesen. Aber Sakura war es nicht. Sie hatte von Anfang an nicht mit Freudensprüngen und überschwänglichen Umarmungen gerechnet. Das war nicht Madaras Art. Tief in seinem Inneren war er froh, erleichtert und glücklich darüber, dass Sakura zu ihm ziehen würde, das wusste sie. Er ergriff ihre Hand und die fuhren den Spaziergang fort. * Izuna hatte die halbe Nacht nicht geschlafen; zu groß war die Aufregung gewesen. Dennoch fühlte er sich an diesem Morgen erstaunlich wach und war voller Energie, darauf eingestellt, zum Strand aufzubrechen. Doch zuerst stand das Frühstücken im Speisesaal an, danach wurde das Wichtigste organisiert, die Körperstellen, die der Sonne ausgesetzt sein würden, dick eingecremt, und kurz vor elf brachen Madara, Sakura und Izuna schließlich zum Strand auf. Sie mussten nichts weiter tun, als nach dem Verlassen des Hoteleingangs nach links abzubiegen und dann dem Fußgängerweg geradeaus zu folgen, der sie innerhalb weniger Minuten zum Strand brachte. Eine Treppe führte hinein in den Sand. Izunas Herz klopfte freudig, als er die Stufen langsam herunterstieg. Schließlich kamen seine Füße mit Sand in Berührung und es war für ihn, als hätte er ein neues Land, wenn nicht gar eine neue Welt betreten. Der Sand war nicht heiß, sondern noch lauwarm, und jetzt erst drang zu ihm das Rauschen des Meeres herüber. Nie hätte er gedacht, sich eines Tages am Meer wiederzufinden. Aber er hätte auch nie gedacht, eine Frau kennenzulernen, die über seine Blindheit hinwegsah. Er sagte sich selbst, dass es die absolute Reizüberflutung sei. Madara und Sakura breiteten an einem günstigen Plätzchen Tücher aus und installierten den Sonnenschirm. Izuna blieb im Sand stehen und glaubte, jedes Korn zu erfühlen. Er störte sich nicht an der Gegenwart der anderen Anwesenden. „Ich glaube, er ist hin und weg“, bemerkte Sakura leise mit einem Lächeln, als sie sich setzte. Madara wollte gerade etwas erwidern, als er eine ihm zu bekannte Stimme vernahm. Er wollte es nicht so recht wahrhaben, als Hashirama in einer bunten Badehose vor ihm stand, und zweifelte an seiner visuellen Wahrnehmung. Innerhalb weniger Sekunden erfuhren Madara, Sakura und Izuna, dass Hashirama mit seiner Frau seit drei Tagen hier war und noch vier vor sich hatte. „Ich freue mich, dich hier anzutreffen. Was für ein schöner Zufall! Du kamst mir nie wie der Strandurlaubsmensch vor.“ Izuna ließ sich von Hashiramas unerwartetem Erscheinen nicht aus der Ruhe bringen, sondern drehte sich um und sagte: „Ich würde gerne ins Meer gehen.“ Von allen wurde er angesehen, und schließlich stand Sakura auf. „Ich komme mit dir.“ Madara wurde zurückgelassen und starrte ungläubig auf Sakura und Izuna, die sich nach ihm nicht einmal umdrehten. Sie hatten ihn im Stich gelassen. Jetzt musste er sich mit Hashirama ganz alleine abgeben. „Mito und ich haben uns nach langer Zeit endlich Urlaub gegönnt. Die Kinder haben wir bei den Großeltern gelassen“, sagte Hashirama gut gelaunt, und Madara seufzte. Man konnte Hashirama nicht entkommen, nicht einmal, wenn man ans Meer fuhr. „Hat denn deine Ehefrau nichts dagegen, dass du hier bist und nicht bei ihr?“, fragte Madara trocken und sah an Hashirama vorbei zu Mito Senju, die mit einem Buch ausgestattet auf einem Handtuch lag. „Ach was. Ich bleibe auch nicht lange, falls es eine versteckte Aufforderung gewesen war“, winkte Hashirama ab. „Hör zu, ich wollte mit dir über etwas sprechen.“ Hashirama machte es sich etwas bequemer unter Sakuras und Madaras Schirm. „Es geht um Änderungen bei den Modulen.“ „Schon wieder?“, fragte Madara gereizt. Hashirama nickte, hob aber abwehrend die Hände, als er Madaras finsterem Blick begegnete. „Dieses Mal ist das nicht meine Initiative, es haben sich viele Studenten beschwert. Und ich wollte mich mit dir beraten, bevor ich handele.“ Madara hob die Brauen, dachte nach und erwiderte: „... Ich verstehe. In Ordnung, dann lass uns reden.“ Madara sah kurz zu Izuna und Sakura, um zu wissen, was die beiden machten, bevor er seine Aufmerksamkeit Hashirama widmete. Sakura und Izuna waren kurz davor, ins Wasser hineinzugehen. Sakura hatte sich bei ihm eingehakt und wartete darauf, dass er den ersten Schritt tat oder etwas sagte. Erst Izunas linker, dann rechter Fuß fand den Weg in den feuchten Sand. Das Meer hatte sich zurückgezogen und schnellte nun vor, begrub seine Füße unter der lauwarmen Nässe. Izuna bekam Gänsehaut. Die nächsten Schritte machte er nicht sofort, sondern wartete ein wenig, und als seine Gesichtszüge von Entschlossenheit eingenommen wurden, ließ Sakura von ihm ab. „Ich bin hier“, teilte sie ihm mit, obwohl er nicht vermutet hätte, dass sie sich vollends von ihm entfernen würde, und beobachtete ihn bei seinen nächsten zwei Schritten. Izuna spürte, wie das Wasser seine Füße umschmeichelte, sich kurz zurückzog, nur um dann wiederzukehren wie eine Geliebte. „Ich wünschte, sie wäre jetzt hier, ehrlich gesagt“, sagte er zu Sakura. „Ich bin mir sicher, dass ihr die Möglichkeit bekommen werdet, zusammen an den Strand zu fahren“, versicherte Sakura ihm und drehte den Kopf nach Madara, der immer noch von Hashirama belagert wurde. Izuna hätte stundenlang so stehen können, bis alles Blut in seine Beine geflossen war. Sakura hatte aber anderes im Sinn. Da es am Strand viele Steine gab, animierte sie Izuna zu einem Spiel: Izuna sollte in die Hocke gehen, Steine aufsammeln und sie würde ihm beschreiben, wie die Steine aussahen, die er aufgehoben hatte. Die schönsten Steine würden sie mit nach Hause nehmen. Eine halbe Stunde später kehrten sie zu Madara zurück. Hashirama war fort. Izuna legte sich auf ein Tuch und vergrub die Hände in den Sand, der im Schatten deutlich kühler war. Er hatte so einige schöne Steine gefunden und fühlte sich wohl. Madara und Sakura redeten über etwas, aber Izuna verstand nicht, worüber. Er fühlte sich so wohl, dass er mit einem seligen Ausdruck im Gesicht einnickte. Epilog: -------- * „Dein Zug fährt ein.“ Madara küsste Sakura auf die Lippen und sie umarmte ihn. Sie spürte, wie er die Hände in ihre Manteltaschen steckte, dachte sich allerdings nichts bei. Der einfahrende Zug wirbelte ihre Haare durcheinander. Sie waren zusammen mit Izuna hierhergekommen, aber er hatte es nach dem Abschied von Sakura vorgezogen, im Auto zu warten. „Ich bin Sonntagabend wieder da“, sagte Sakura und strich sich einige Strähnen hinters linke Ohr. Die Menschen ergossen sich aus den geöffneten Zugtüren auf den Bahnsteig und Sakura wartete, bis alle eingestiegen waren, ehe sie selbst den Zug betrat. Sie hatte keinen Koffer dabei, sondern nur ihre Tasche. Sakura suchte sich einen Sitzplatz am Fenster, von dem aus sie Madara sehen konnte. Sie winkte ihm zu, er nickte nur. Sie lebte jetzt seit vier Monaten mit Izuna und Madara zusammen. Es war ein Freitag und Sakura fuhr in ihre Heimatstadt, wo sie Freunde und Familie treffen würde. Es kam Bewegung in den Zug und sie sah, dass Madara ihr zuwinkte. Sie winkte abermals und lächelte ihm zu. Eine gute Viertelstunde später griff sie in ihre Manteltasche und stellte verwundert fest, dass sich dort ein Gegenstand befand, der nicht hingehörte. Sie fischte ihn heraus. Es handelte sich um eine Kette. Izuna und Sakura hatten damals am Meer unter anderem einen dunklen, fast schwarzen und einen grünlichen Stein gefunden. Diese Steine hatte Madara zu einem Anhänger umfunktionieren lassen. Sie hatten weder ihre ursprüngliche Form noch ihr Gewicht, sodass sie sich auf Sakuras Körper nicht schwer anfühlten, als sie sich die Kette anlegte. Sakura fischte ihr Mobiltelefon aus der Tasche und wunderte sich nicht, als sie eine Nachricht von Madara entdeckte. Es war Izunas Idee. 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