Schwarzgrün von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 11: ------------ [center"]* Unter seinen Füßen knirschte es. Es war nicht Schnee, der unter seinen gefütterten Schuhen nachgab. Von der funkelnden, weißen Pracht war nur wenig übrig geblieben. Am Sonntag waren sie erschienen, in hohen Mengen und von der Größe junger Erbsen: Regentropfen, denen ein Temperaturanstieg vorausgegangen war. Es machte den Anschein, als hätte jemand literweise Eiskaffee verschüttet.   Izuna ließ sich von Sakura sagen, dass es um sie herum nichts als Matsch gebe und der Himmel grau sei. Sie klang ein wenig gereizt und er verstand sie. Der Gehweg war geräumt und bestreut worden und war bedenkenlos begehbar – dennoch ließen beide Vorsicht walten. Das ständige knirschende Geräusch verknüpfte er gedanklich mit dem Zerknüllen von Papier, und unwillkürlich wurde er in eine Zeit versetzt, in der er als kleiner Junge und Jugendlicher Listen an Dingen erstellt hatte, die er unbedingt hatte machen wollen. Jede der Listen, auf denen waghalsige Aventüren, bei denen seiner Mutter ganz schwindelig geworden war, Hand in Hand mit Berufswünschen eingingen, zerknüllte er Monate später. Jedes Jahr aufs Neue hatte er sich gedacht, er hätte seine vollendete, perfekte Form erreicht und würde wissen, was er vom Leben wollte, und jedes Jahr aufs Neue war er eines Besseren belehrt worden. Irgendwo in seinem Zimmer befand sich die letzte jener Listen, die er angefertigt hatte. Sie war nicht lang. Ans Meer fahren hatte er damals in sauberer Schrift geschrieben und an die Klassenfahrt gedacht, auf der er das allererste Mal mit Meer und Strand in Kontakt gekommen war. Aber nicht nur damit, er hatte auch das allererste Mal Händchen mit einem Mädchen gehalten. Seit dem nicht mehr. An die Einsamkeit gewöhnte er sich und die Themen Liebe und Beziehung wurden ab dem Morgen, an dem er im Nebel aufwachte, ohnehin irrelevant. „Hier müsste doch irgendwo eine Bank sein, oder?“, fragte er Sakura mit gerunzelter Stirn. Die junge Frau war überrascht und erfreut über Izunas Worte. Sie blieben stehen. Er konnte sich mittlerweile gut orientieren, zumindest in der näheren Umgebung des Wohngebäudes. „Tatsächlich, ja“, antwortete sie ihm. „Sie ist sehr nass. Willst du dich hinsetzen?“ Jetzt erst fiel ihr auf, dass Izuna ein wenig in sich zusammengesackt war. „Ist alles in Ordnung?“ Sie war besorgt, und Izuna war in diesem Augenblick unendlich froh, sie da zu haben, zu wissen, dass seine Verfassung gesehen wurde und sie nicht kalt ließ. Es war ihre Arbeit, ihre Verpflichtung, aber er wusste, dass sie sich um sein Wohlergehen aufrichtig bemühte. Er wollte sich ihr anvertrauen, zeitgleich war er sich unsicher, denn er hatte darüber nie mit irgendjemandem gesprochen. Nicht einmal mit seiner Mutter, als er noch eine gehabt hatte, und nicht einmal mit Madara. Er merkte, wie sich in seinem Hals ein Kloß formierte. Er schluckte und richtete seinen Kopf in Sakuras Richtung. „Ich würde mich gerne hinsetzen, ja.“ Sie fand in ihrer Jackentasche eine Packung mit Taschentüchern vor, mit denen sie die Bank so gut es ging von Nässe befreite. Sakura hatte sich mittlerweile damit arrangiert, dass er auf einige ihrer Fragen nicht gleich einging, sondern Zeit brauchte, und die gab sie ihm auch, ohne auf ihn einzureden. So saßen sie eine Weile lang auf der Bank. Manchmal fiel eine Schneeschicht von den Ästen der kahlen Bäume in der Nähe und durchbrach die kirchliche Stille, die zwischen ihnen herrschte. Er erhob die Stimme in dem Moment, in dem sie es am allerwenigstens erwartet hatte. „Denkst du, mich wird jemals eine Frau mögen?“ Seine Frage überrumpelte sie. Ein überraschter Laut entglitt ihren Lippen, bei dem Izuna leicht den Mund verzog. Bestimmt fragte sie sich, wie er darauf kam. Mit einem Mal stempelte er diese Frage, kaum dass Sakura adäquat darüber hatte nachdenken können, als blödsinnig ab und wünschte, er hätte sie nie ausgesprochen. Er wollte nicht einmal eine Antwort hören, er konnte sich gut vorstellen, dass sie ihm aufmunternd zusprechen würde, nur damit Hoffnung in ihm glomm und Resignation keine Option war. Selbstverständlich würde sich keine Frau auf ihn einlassen – wo sollte er in erster Linie überhaupt eine kennenlernen? Und wenn doch, so würde es zu Schwierigkeiten kommen. Konnte man jemanden mögen, von dem man nicht wusste, wer er ist? Aussehen gehörte zu einer Person genauso dazu wie ihr Charakter, ihre Vorstellungen und Ansichten – nach wie vor war Izuna überzeugt davon, dass man einen Menschen, den man nicht sah, nicht vollständig kannte und es niemals tun würde. Er mochte Sakura. Er schätzte ihre Taten. Er konnte mit ihr reden. Aber es fehlte etwas. Das würde immer der Fall sein. Entgegen seiner Erwartungen begann Sakura, von ihrer Arbeit zu erzählen: „Ich habe vor etwa einem Jahr eine junge Blinde betreut. Sie war jünger als du.“ Sakura blickte in den Himmel, während sie sprach, so als sähe sie die Reflektion der Frau im hellen Grau. „Sie hatte einen Freund, und er liebte sie wirklich sehr. Sie kannten sich schon vorher. Er hätte sie in keiner Lebenslang im Stich gelassen und sie liebten sich genauso sehr wie vorher. Ich erinnere mich auch ganz genau an einen Mann, der eine herzensgute Freundin fand. Er hat Frauen getroffen, obwohl er blind war. Selbstverständlich würde sich nicht jeder darauf einlassen. Das ist auch vollkommen in Ordnung und es ist falsch, diese Menschen zu verurteilen, letztendlich geht es um individuelle Präferenzen. Es gibt aber nun einmal Menschen, die über eine Einschränkung hinwegsehen können oder bereit sind, viel Geduld, Zeit und Verständnis mitzubringen.“ Sakura wusste nicht, weshalb, aber als sie sich Izunas Frage ein weiteres Mal durch den Kopf gehen ließ, dachte sie an Madara. Sie dachte an den gestrigen Abend, an seine Umarmung und seinen Duft, und ihr wurde ganz merkwürdig. Das Ereignis war zu einem Traum geworden, an den sie sich heute Morgen nicht mehr hatte erinnern können. Jetzt war ihr alles wieder eingefallen. Sie hatte Madara heute noch nicht gesehen und sah einem möglichen Aufeinandertreffen mit ihm gemischten Gefühlen entgegen. Wäre Izuna nicht Madaras Bruder gewesen, sie hätte sich ihm vielleicht anvertraut. Immerhin hatte er ihr davon erzählt, was ihn gerade beschäftigte. Izuna stand auf. „Ich würde gerne noch ein wenig draußen bleiben.“ Sie führten ihren Spaziergang fort. Während Izuna über Sakuras Worte nachdachte, versuchte die junge Frau, nicht über eine mögliche Kollision mit Madara nachzudenken. Irgendwann, das wusste sie allerdings, würden sie einander gegenüberstehen. Sie atmete tief durch und glaubte, seinen Geruch aufgenommen zu haben. * Als er nach Hause kam, war es kurz vor Mitternacht. In Izunas Zimmer war das Licht aus und er wollte seinen Bruder nicht wecken; im Kühlschrank fand er die Reste des heutigen Abendessens vor, die er unter geschlossener Tür erwärmte und verzehrte. Beim Verlassen der Küche sah er einen schmalen Balken aus künstlichem Licht vor Sakuras Tür, an die er nach wenigem Zögern klopfte. Es kam keine Antwort. Auch beim zweiten Mal klopfen nicht. Da griff er nach der Klinke. „Frau Haruno?“ Spätestens jetzt hatte er mit einer Reaktion gerechnet, aber die kam nicht, und so betrat er ihr Zimmer und stellte fest, dass die junge Pflegerin mit Musik in den Ohren eingeschlafen war.   Sie lag auf dem Bett, die Augen geschlossen, der Mund leicht offen. Ihre linke Gesichtshälfte versank im Kissen; die Züge waren weich, entspannt und glänzten leicht aufgrund der Cremeschicht, die sie jeden Abend vor dem Schlafengehen auftrug. Ihre Haut musste weich und geschmeidig sein. Die Beine, die in einer langen, grauen Hose steckten, hatte sie an den Körper gezogen, und die Hände ruhten zu lockeren Fäusten geballt neben ihr. Gedämpft vernahm er die Musik. Sakuras Schultern hoben sich auf einmal im Schlaf und sie zog die Beine etwas enger an den Körper heran. Es war nicht warm in ihrem Zimmer. Madara ergriff die Decke und breitete sie über Sakuras ganzen Körper aus. Ein blasses Lächeln erblühte unter ihrer Stupsnase und Madara ging davon aus, dass sie von etwas Angenehmem träumte. Da schlug sie plötzlich die Lider auf und ihre Blicke begegneten sich. Sakura begriff im ersten Moment nicht, dass sie Madara vor sich hatte, und als ihr bewusst wurde, dass der Herr des Hauses in ihrem Zimmer stand und sie soeben zugedeckt hatte, wurden ihre Wangen warm und gewannen an Farbe. Die Wärme breitete sich in ihrem gesamten Leib aus und sie glaubte unter ihm und der dicken Winterdecke zu schwitzen. Dennoch verblieb sie unter ihr und sah zu Madaras Füßen. Ein Ohrhörer rutschte aus ihrem Ohr und da erst vernahm sie die Musik, die nun in ihr anderes Ohr floss. Sakura entfernte den Stöpsel und schielte zu Madara hoch, der sogleich Abstand zwischen ihnen schuf, indem er zurücktrat. „Es tut mir leid, dass ich Sie aufgeweckt habe. Ich hatte einige Male geklopft, aber Sie antworteten nicht.“ Die Wärme wurde derart unerträglich, dass Sakura sich aus der Bettdecke schälte und sich aufsetzte. Ihr war, als säße sie nackt vor ihm, unterdrückte aber den Impuls, nach der Decke zu greifen und sie über ihre Schultern zu werfen. „Nein, nein, ist schon in Ordnung“, brachte sie mit kratziger Stimme hervor. „Es ist gut, dass Sie mich aufgeweckt haben.“ Sie griff nach ihrem MP3-Player und stoppte das aktuelle Lied. „Es war heute sehr schön mit Izuna“, fing sie an zu erzählen und lächelte ihm zu. Sie erzählte, damit er nichts sagen konnte, damit er die Unterhaltung nicht in Bahnen lenken konnte, die sie nicht einschlagen wollte. „Das ist schön.“ Madara entging Sakuras sonderbares Verhalten nicht. Sie redete und redete und schien nicht zu wollen, dass er zum Sprechen kam. Ihm war sogar, als hielte sie einen Monolog. Er hörte ihr dennoch zu; schließlich drehte sich in ihrer Rede alles um seinen Bruder, der langsam, aber sicher auftaute. Und dennoch wünschte er sich, sie wären für wenigstens wenige Minuten von Izuna weggekommen und hätten über etwas anderes geredet – nur ganz kurz. War es ein Fehler gewesen, sie zu umarmen? War diese Umarmung der Grund, warum sie sich so seltsam gab? Als Sakura endete, war ihre Kehle ausgedörrt und ihr Herz schlug unkontrolliert gegen ihren Brustkorb. Madara hatte regungslos und schweigsam wie eine Statue vor ihr gestanden. Er nickte, um ihr zu verstehen zu geben, dass er alles vernommen hatte. Er wusste nicht, was er sagen sollte; er würde sich nur wiederholen, wenn er die Beziehung zwischen Sakura und Izuna bewerten würde. Müdigkeit war über ihn gekommen. Er war müde und ein wenig enttäuscht. Er hätte sie gerne noch einmal umarmt. „Bestellen Sie das, was nötig ist. Lassen Sie mich dann nur die Rechnung sehen.“ Er ging zur Tür und wünschte ihr noch eine gute Nacht, ehe er auf den Gang trat und die Tür hinter sich schloss. Seine Finger verharrten für wenige Sekunden an der Türklinke, während Sakura sich ins Bett fallen ließ und einen Seufzer der Erleichterung ausstieß. [center"]* Obwohl Izuna blind war, war ihm innerhalb weniger Tage aufgefallen, dass etwas sowohl mit seinem Bruder als auch mit seiner Pflegerin nicht stimmte. Mal mieden sie sich, mal suchten sie die Nähe des jeweils anderen: Madara bemühte sich um ein Gespräch beim gemeinsamen Essen – Sakura antwortete kurz angebunden; Sakura bemühte sich um ein Gespräch beim gemeinsamen Essen – Madara gab sich lakonisch. Ihr Verhältnis zu ihm hätte er allerdings als wie gewohnt beschrieben, und so grübelte und grübelte der jüngere der Uchiha-Brüder, bis er eine geeignete Hypothese aufstellte und bald genug Beweise hatte, die seine Vermutung bestätigten. Aber er ließ sich nichts anmerken und stellte keine Fragen. Als er am Abend des zwanzigsten Januars – sie saßen gerade am Tisch und aßen – erneut gefragt wurde, ob er zum Kolloquium mitkommen wolle, lehnte er ab. „Wirst du hingehen?“, fragte er Sakura, und die junge Frau warf Madara einen undefinierbaren Blick zu. „Dein Bruder möchte sicherlich, dass ich bei dir bleibe.“ „Ich komme daheim jetzt weitaus besser zurecht“, redete Izuna weiter und trank den Rest seiner Suppe aus. „Ich fände es nicht schlimm, für ein paar Stunden alleine gelassen zu werden.“ Es stimmte: Izuna war im Umgang mit vielen Sachen sicherer geworden und Madaras Sorgen und Ängste hatten sich reduziert. Dennoch war das Wissen, seinen Bruder das erste Mal seit langer Zeit bewusst für mehrere Stunden alleine zu lassen, eigenartig. „Ich würde mich unter so vielen Menschen, die ich nicht kenne, die ich nicht sehen kann, nicht wohlfühlen. Und das weißt du auch, Bruder.“ Madara wischte sich mit einer Serviette über die Lippen und schob die eben geleerte Schüssel von sich. „Ja, ich weiß. Danke für das Essen, Frau Haruno. Es war gut.“ Izuna hatte es sich angewöhnt, ganz genau hinzuhören, wenn die beiden miteinander verbal kommunizierten; Madara sprach zu Sakura wie zu einer Vertrauten, seine Stimme weich. Diese Feststellung biss sich allerdings mit dem Frau Haruno, das Distanz vermittelte. Ein einziges Mal, Izuna wusste nicht, wann genau, hatte er sie geduzt, Madara selbst war es aber nicht aufgefallen. Izuna appellierte weiterhin an Madara – und auch an Sakura. Er tat es ungezwungen; er wollte nicht, dass sie ihn durchschauten. Auch wenn er es visuell nicht erfassen konnte, glaubte er, dass, während er sprach, Madara und Sakura einander hin und wieder ansahen. Oh, er wusste doch ganz genau, dass Madara es sich wünschte. Madara wollte, dass Sakura kam, Madara wollte, dass sie ihn in Aktion erlebte. Und Izuna wollte nicht, dass Madara seinetwegen auf Sakuras Anwesenheit beim Großkolloquium verzichten musste. „Ich werde Sie hinfahren“, wandte sich Madara schließlich an Sakura nach langem Abwägen. „Aber wir werden dich regelmäßig versuchen zu erreichen. Wenn du nicht beim zweiten Mal rangehen solltest, werden wir umgehend zurück nach Hause fahren. Einverstanden?“ Izuna bejahte und lächelte in sich hinein. * Sie war gerade damit fertiggeworden, ihren Wimpern Farbe und Schwung zu verleihen, als es an der Tür klopfte. „Herein.“ Eilig überprüfte sie, ob alle Tuben, Tiegel und Dosen verschlossen waren und sprang auf die Beine. Madara betrat ihr Zimmer in einem schwarzen Anzug und fragte sie, ob sie bereit sei. Sakura hatte sich eine hellblaue Bluse und eine schwarze Hose angezogen. Ihre Haare, die sie schon seit einer Weile nicht mehr hatte kürzen lassen und es bald unbedingt tun musste, hatte sie zu einem strengen Pferdeschwanz gebunden. Sie sah aus wie eine junge Dozentin und das gefiel ihm. Ihr Make-up war dezent und betonte besonders ihre grünen Iriden. „Ich bin fertig, Herr Uchiha.“ „Dann sollten wir uns auf den Weg machen.“ Izuna war im Flur und hörte mit an, wie die beiden anderen in Mantel und Jacke schlüpften. Eine Hand legte sich auf seine Schulter und dem Gewicht und der Größe nach zu urteilen war es Madaras Hand. „Wir werden dich anrufen, wenn wir angekommen sind“, sagte Madara. „Dann noch einmal vor Beginn der Veranstaltung und direkt danach.“ Es fiel ihm schwer, seinen Bruder zurückzulassen. „Ich komme zurecht“, versuchte Izuna seinen Bruder amüsiert zu beruhigen und hielt sein Mobiltelefon hoch. Als Madara und Sakura fort waren, zog er sich auf sein Zimmer zurück und begann sich auszumalen, wie es zwischen ihnen weitergehen würde. Es war eine gefühlte Ewigkeit her, dass Madara sich das letzte Mal für eine Frau interessiert hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)