Schwarzgrün von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 4: ----------- [center"]* Im Zustand schrecklichster Unsicherheit, die ihn mit den Zähnen knirschen und auf der Unterlippe kauen ließ, setzte er einen Fuß vor den anderen. Die empfundene Hilflosigkeit zwang ihn zur Kommunikation mit Sakura; sie bestand zwar aus verneinen, bejahen und kurzen Aussagen seinerseits, doch Sakura war mehr als froh darüber, dass sich der jüngere Uchiha-Bruder nicht gänzlich reserviert verhielt. Izuna hatte das Gefühl, mehrere Kilometer hinter sich gebracht zu haben. Dabei befanden sie sich immer noch auf dem Etagenflur und steuerten den Aufzug an. Seine linke Hand war behandschuht, seine rechte, blass und dünn, tastete über die weiße Wand. Sie war kalt. Izunas Fingerkuppen stießen immer wieder auf winzige runde Erhebungen, die sich wie Beulen anfühlten. Als er noch hatte sehen können, war ihm diese Wand ebenmäßig und glatt erschienen. Die Welt außerhalb seines Zimmers war so anders, seit Izuna nicht mehr in der Lage war, deutliche Linien und Formen wahrzunehmen; sie fühlte sich fremd an. „Wir sind gleich am Aufzug“, sagte Sakura. Sie bewegten sich langsam und Sakura wich nicht von seiner Seite. Sie rief den Aufzug erst, als die beiden neben der Tür zum Stehen gekommen waren. Izuna machte vorsichtig einen Schritt nach vorne, vernahm ein dumpfes Geräusch. Es war entstanden, als er seinen Fuß auf den Aufzugboden gesetzt hatte. Sich kurz über die Lippen leckend, setzte er auch seinen zweiten Fuß in den Aufzug. Er hörte, wie Sakura eintrat und einen Knopf betätigte. Die Aufzugtüren schlossen sich. Sakura sah ihn an. Izuna lehnte an der gegenüberliegenden Wand und starrte nach oben, zur hellen Fahrstuhlbeleuchtung. Sie betrachtete ihn aufmerksam, sein Haar, sein Gesicht. Das Haar war ein wenig fettig, das Gesicht fahl, eingefallen. Und traurig. Sie nahm die Augen von ihm und strich sanft über den Langstock, den sie Izuna nach seinem eigenen Wunsch erst nach dem Verlassen des Gebäudes geben würde. Draußen streifte sich Izuna die Kapuze seiner schwarzen, gefütterten Jacke über. Sakura fragte ihn, ob sie ihm den Stock geben solle, und er bejahte. Während der Fahrt in das Erdgeschoss hatte er über die junge Pflegerin nachgedacht. Über sein Verhalten von vorhin und über das Telefonat mit Madara sowie die Vereinbarung, die Madara angesprochen hatte. Ja, es war ihm höchst zuwider, einen fremden Menschen um sich zu haben, aber es war ihre Arbeit. Würde er sie vergraulen, würde ihm das sein Bruder sicherlich übel nehmen. Madara vertraute ihr anscheinend. Aber Madara konnte sie, im Gegensatz zu ihm, sehen: Er konnte in ihre Augen schauen, konnte ihre Gesichtszüge lesen, sah, was sie tat, wenn sie gerade nicht in seiner Nähe war. Er hatte seinem Bruder immer bedingungslos vertraut. In dieser Angelegenheit jedoch fiel es ihm schwer. Sie reichte ihm den einteiligen Langstock und er umfasste ihn mit beiden Händen. Vor einer Weile, als er noch schemenhaft hatte sehen können, hatte er an einem Schulungsprogramm teilgenommen. Er wusste, wie er mit dem Langstock umzugehen hatte, obwohl er nicht viel mit ihm getan hatte. Er positionierte das Ende des Stocks auf den Boden und atmete tief durch. Er tat es für Madara. Nicht für sich, nein. So viel bedeutete er sich selbst nicht mehr. Und er mochte diesen Stock nicht. Er beschrieb einen imaginären Fächer mit seinem Hilfsinstrument und setzte sich in Bewegung. Als er sechzehn Jahre alt gewesen war, war er auf einem vollen Bahnsteig aus Versehen über den Stock eines Blinden gestolpert und hatte das teuere Instrument kaputt gemacht. Der Mann war auf dem Weg zur Arbeit gewesen, zur Arbeit. In Izunas Vorstellung war es ein Unmögliches gewesen, blind zu sein und zu arbeiten. Der Mann hatte sogar sein eigenes Büro, zu dem ihn Izuna begleitete. Er hatte ein sehr schlechtes Gewissen, auch wenn er sich nicht als Schuldiger sah; die Menschen verhielten sich auf Bahnsteigen einfach unmöglich. Zu Hause habe er einen Ersatz, wurde Izuna von dem Mann versichert. Seine Mutter könne ihn am Ende des Tages abholen. Der Mann war froh darüber, dass Izuna nicht einfach weggelaufen war. Das sei schon einmal vorgekommen. Die Begegnung mit dem blinden Arbeiter hatte sich in Izunas Gedächtnis eingebrannt. Er hatte sich den Mann als Beispiel, als Vorbild nehmen wollen. Madara, dem er davon erzählt hatte, erinnerte ihn einige Male an die Begegnung, versuchte, seinem Bruder Mut zu machen. „Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass manche Dinge nicht von allen Menschen realisierbar sind.“ Das waren die Worte, die Izuna an seinen Bruder richtete. Das waren die Worte, die Madara klarmachten, dass sein Bruder aufgegeben hatte, dass er sich verändert hatte. Ein breiter Weg aus Steinen führte um das Haus herum, vorbei an einem kleinen Kinderspielplatz, der leer dastand, einer grauen Wiese, auf der im Sommer Kinder tollten, und Müllcontainern. Blätterlose Bäume säumten sporadisch den Weg, und die Spitzen der dunklen Äste berührten sich schüchtern. Im Hintergrund der farblose Himmel. Izuna sah ihn nicht, aber er glaubte, ihn mit jeder Faser seines Körpers zu spüren. Sakura dagegen sah ihn, und sie wünschte, dass es entweder bereits Frühling wäre oder Schneeflocken im Sonnenlicht funkelten.   Izuna hatte das Gefühl, dass eine halbe Ewigkeit vergangen war, seitdem er das letzte Mal draußen gewesen war. Sich draußen aufhalten unterschied sich tatsächlich vom Aufenthalt im Zimmer bei geöffnetem Fenster und gelüftetem Zimmer. Man fühlte sich lebendiger. Das wache Gefühl in den Beinen, der Boden unter den Füßen. Die Kälte legte sich auf die Wangen wie Reif. Man fühlte sich aber auch weitaus unsicherer als in den eigenen vier Wänden. Er bewegte sich schleppend. Manchmal kam Izuna zum Halt, verharrte für einige Sekunden an Ort und Stelle und brachte seine Beine dann wieder in Bewegung. Manchmal vergaß er, dass Sakura anwesend war, ihm auf Schritt und Tritt folgte und auf ihn aufpasste wie die Mutter auf ihr kleines Kind, und erst wenn sie etwas sagte, wurde er sich ihrer Gegenwart wieder gewahr. Manchmal kam er sich albern vor: So oft war er diesen Weg entlang gegangen, auch mit Madara zusammen. Er hatte sich auf den Spaziergängen stets bei seinem Bruder eingehakt, da er eine Abneigung gegenüber dem Stock entwickelt hatte. Auf ihrem Spaziergang trafen die beiden auf einen nicht angeleinten Hund. Der Hund, ein junges, aufgeregtes Tier mit goldfarbenem Fell, lief, als er Izuna und Sakura erblickte, auf die beiden zu, umkreiste sie, schnüffelte an ihnen und schlug mit seinem Schweif freundlich durch die Luft. Izuna erstarrte auf der Stelle, beinahe vergaß er zu atmen, so sehr hatte er sich erschreckt. Sakura bemerkte sein großes Unbehagen, ging in die Knie, um die Aufmerksamkeit des Hundes ausschließlich auf sich selbst zu lenken. Sie fuhr ihm durch das weiche Fell, sprach liebevoll zu ihm und erkundete aufmerksam die Umgebung, suchte nach dem Besitzer des Hundes. Er erschien bald in ihrem Blickfeld, und als er seinen Hund sah, eilte er zu Sakura, entschuldigte sich mehrfach bei ihr. „Er beißt nicht, wirklich“, beteuerte der junge Mann. Er hatte das Tier bereits angeleint und kratzte sich verlegen am Kopf. Sakura winkte ab und bat den Mann darum, das nächste Mal aufmerksamer zu sein. Der Hund habe ihre Begleitung erschreckt. Auch bei Izuna entschuldigte sich der Mann. Izuna antwortete nicht, sondern betastete den Griff des Langstocks, um seinen Schrecken und seine innere Aufregung abzubauen. Als sich der Besitzer zusammen mit seinem Hund entfernt hatte, sagte Sakura: „Wir können unseren Spaziergang fortsetzen, wenn Sie möchten. Wir können allerdings auch zurück nach Hause gehen.“ „Nach Hause“, lautete die knappe Antwort. Sakura nahm seinen Wunsch hin. Als sie wieder daheim waren, bot die junge Pflegerin Izuna an, sich zu duschen. Er nahm das Angebot an. Es war vier, wenn nicht fünf Tage her, dass er sich das letzte Mal gewaschen hatte. Nicht, dass er seine Hygiene geflissentlich vernachlässigte, doch da er die meiste Zeit ohnehin nur saß und sich kaum bewegte, fühlte er sich sauber, zudem schwitzte er kaum. Er fuhr sich einige Male durch das Haar und stellte fest, dass es sich leicht fettig anfühlte. Eine unangenehme Empfindung ergriff von ihm besitzt, er schüttelte sie rasch ab. Er ging in sein Zimmer, und Sakura warf einen Blick auf ihr Handy. Madara hatte ihr geschrieben. Frau Haruno, ich hoffe, dass Izuna Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereitet und dass der Spaziergang gelungen war. Sakura verfasste rasch eine Antwort, in der sie schrieb, dass Madara sich keine Sorgen zu machen brauche. Alles sei in bester Ordnung, der Spaziergang ein kleiner Erfolg. Nachdem sie die Nachricht abgeschickt hatte, machte sie sich an die Zubereitung des Mittagessens heran; zuerst würde sie eine Suppe kochen. Während die Suppe kochte, bereitete sie alles im Bad vor, erkundigte sich, ob Izuna bestimmte Kleidung tragen wolle, die sie ihm bereitlegen konnte. Als alles vorbereitet worden war und Sakura ihn darum gebeten hatte, nach ihr zu rufen, wenn er etwas benötige, schloss er sich im Bad ein und entkleidete sich gemächlich. Seine Hände ertasteten die Türen, sein rechter Fuß glitt sachte über den Boden und stieß gegen den Duschrand. Izuna kletterte in die Dusche, verschloss die Türen und ließ das Wasser auf seinen Körper prasseln. Wasser. Er hatte sich von klein auf mehr zu Feuer hingezogen gefühlt, wie sein Bruder auch. Doch Wasser, Wasser im flüssigen Zustand und großen Mengen war faszinierend. Madaras und Izunas Eltern hatten bis zu zweimal monatlich die große Wanne mit warmem Wasser füllen lassen, und die beiden Brüder hatten nichts lieber gemacht, als tauchen zu spielen. Er hatte anfänglich Angst, die Augen unter Wasser zu öffnen. Irgendwann, als sein Bruder ihn deshalb neckte, tauchte er unter und riss die Augen auf. Er sah verschwommen. Es war ihm bald unangenehm in den Augen und so tauchte er wieder auf. Ein späteres Stadium seiner fortschreitenden Blindheit hatte Izuna mit dem Aufenthalt unter Wasser verglichen. ___ Mit nassem Haar saß Izuna am Tisch und bewegte seine Finger wie jemand, der eben aus einer tiefen Starre erwacht war. Als Sakura mit dem Mittagessen hereinkam, schüttelte sie beim Anblick Izunas den Kopf. Sie stellte das Tablett vor Izuna ab und sagte: „Sie könnten sich ernsthaft erkälten.“ Eine verbale Reaktion erhielt sie nicht, dafür drehte Izuna seinen Kopf zu ihr. „Ich würde Ihnen zumindest die Spitzen abtrocknen, wäre das in Ordnung?“, fragte sie. Sie dachte, er würde Einwände erheben, doch kein Wort kam über seine Lippen. Bevor sie das Zimmer betreten hatte, hatte er nachgedacht. Sie verschwand, und Izuna glaubte, sie vergrault zu haben. Ein schlechtes Gewissen hatte er jedoch nicht. Sakura kam mit zwei Handtüchern zurück. Sie informierte ihn darüber, dass sie sein Haar jetzt abtrocknen werde, trocknete mit dem einen Handtuch sanft und ohne großartige Reibung die Spitzen ab. Das andere Handtuch legte sie auf Izunas Schultern. „Ich habe nicht zugestimmt“, sagte Izuna. Er hatte ruhig gesprochen. Er war nicht wütend oder derlei, vielmehr drifteten seine Gedanken sekündlich ab. Die junge Frau sagte eine Weile nichts. „Weder bejahten noch verneinten Sie, also ging ich davon aus, dass es Ihnen egal ist“, antwortete sie dann, gerade als Izuna ein wenig nervös geworden war, und klärte ihn auf, was er da vor sich habe und wo das Besteck liege. „Wissen, Sie, ich denke, Ihr Bruder wird sich weitaus mehr Sorgen machen, wenn Sie sich erkälten, als er es jetzt schon tut.“ Ihre Antwort überraschte ihn so sehr, dass Izunas Mund einige Sekunden lang offen stand. Es war, eigentlich, ein logischer Schluss, und er wusste nichts darauf zu erwidern, selbst nach längerem Nachdenken. Und so widmete er sich seinem Mittagessen, das aus gebratenen grünen Bohnen, Avocadoscheiben und Nudelsuppe bestand. ___ Madara kam gegen 20:00 Uhr zurück. Sakura trat aus ihrem Zimmer, als er sich seiner Schuhe entledigte. Aus irgendeinem Grund wirkte er weitaus bedrohlicher als bei ihrem ersten Treffen, und sie war sich nicht sicher, ob sie ihn grüßen sollte. Er war gerade so anders als gestern Abend. Sein Haar wirkte voluminöser, wilder, sein Gesicht war hart wie Stein. Er wirkte größer. Nicht menschlich, sondern tatsächlich wie ein ungebändigtes Tier. Sein Blick fiel nur kurz auf sie. Wortlos rauschte er an ihr vorbei in sein Büro, und ein seltsamer Geruch erreichte sie, den ihre Nase nicht einordnen konnte. War es sein eigener Duft? Gestern hatte er anders gerochen. Madara verweilte nur wenige Sekunden in seinem Büro. Sein nächstes Ziel war die Küche. Sakura zuckte zusammen, als sie den Kühlschrank aufgehen hörte, und begab sich in die Küche. Unsicher sagte sie: „Es ist etwas vom Abendessen übrig geblieben. Wenn Sie möchten, kann ich es Ihnen warm machen.“ Er sah sie an. Ihr kam es vor, als wäre ihre Anwesenheit nicht erwünscht, als hätte sie ihn mit ihren Worten erzürnt. Sie war sich sehr sicher, dass es nicht an ihr lag, dennoch verspürte sie großes Unbehagen. Beinahe Angst. Madara bemerkte, dass Sakura sich unwohl fühlte. Er senkte die Lider, atmete hörbar aus und sagte: „Guten Abend, Frau Haruno. Sie können mir etwas davon warm machen, ja.“ Er klang gereizt. Sie zögerte, und erst als er sich an den Tisch setzte, seinen Kopf in die Hände legte und sich entschuldigte – für was genau, sagte er nicht –, lud Sakura Essen auf einen Teller und stellte diesen in die Mikrowelle. Sobald er von ihren gefüllten Teigtaschen probiert hatte, erweichten seine Gesichtszüge und seine Augen weiteten sich ein Stück. Er fragte, woraus genau die Füllung bestand, und sie erwiderte, die Füllung bestehe aus Ei, Rindfleisch und Gewürzen. Keine Frage, diese junge Frau konnte sehr gut kochen. „Sie müssen nicht die ganze Zeit stehen“, richtete er das Wort an sie, als er die zweite Teigtasche zu seinem Mund führte. Das letzte Mal gegessen hatte er am frühen Nachmittag. Sie setzte sich. Unter dem Tisch spielte sie mit ihren Fingern, in ihrem Kopf überlegte sie, ob es eine gute Idee wäre, Madara zu fragen, ob alles in Ordnung sei. Offensichtlich war es das nicht ganz, sie hätte allerdings gerne gewusst, weshalb er heute so anders war als gestern. „Es hatte keine Probleme mit Izuna gegeben, nicht wahr?“ Madara hatte aufgegessen und sich in den Stuhl zurückgelehnt. Man konnte nicht behaupten, dass der erste Arbeitstag seit Wochen besonders schön gewesen war. Derart viele Studenten, derart viel Stress. Und am Ende des Tages auch noch Hashirama, der ihn auf dem Parkplatz abgefangen hatte. Madara konnte sich in dem Moment nicht zusammenreißen und so verließ seine Kehle ein Laut, der von Genervtsein zeugte: ein langes, tiefes Eh. Zum Glück wollte Hashirama seine Nase dieses Mal nicht in seine privaten Angelegenheiten stecken; er hatte eine legitime Frage zum sprachwissenschaftlichen Kolloquium, die Madara folgendermaßen beantwortete: „Negativ, Hashirama.“ Und dann war er auch schon ins Auto gestiegen. Madara hatte den Eindruck, dass Sakura sich von ihm eine Erklärung für sein Verhalten erhoffte. Besonders viel Lust, darüber zu reden, hatte er gerade nicht. Und überhaupt war er zu keiner Erklärung verpflichtet. „Nein, es gab keine weiteren Probleme“, antwortete Sakura überrascht. Es schien, als würde sich eine Konversation aufbauen, wie am gestrigen Tag auch. Sie rekonstruierte den Tagesablauf und berichtete detailliert von Izunas Umgang mit ihr und vom Spaziergang. Während sie erzählte, entspannte sich Madara ein wenig. Gleich würde er eine Dusche nehmen, sich umziehen und Izuna aufsuchen. „Das hört sich gut an“, kommentierte Madara, nachdem Sakura geendet hatte. „Ich hoffe sehr, dass er Sie vollständig akzeptiert.“ Sakura lächelte. „Ja, das wäre schön.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)