Intellexi von Pertaret ================================================================================ Kapitel 6: ----------- „Wie heißt du?“, fragte Jittah ihn unvermittelt. Tammo zuckte kurz zusammen. Er schluckte hastig das faserige Fleisch hinunter. „T-Tammo“, nuschelte er. Jittah nickte, als Zeichen, dass er verstanden hatte. „Ich bin Jittah und der Typ da neben dir ist Rikigaku“ Rikigaku hob die Hand und grinste breit. „Yo!“ „Ich weiß“, sagte Tammo „Ich hab von euch gelesen“. Und endlich sprudelte die eine Frage, die ihm schon die ganze Zeit auf der Zunge lag, aus ihm heraus: „Was geht hier vor?“ Jittah und Rikigaku sahen sich an. Nun war es ihre Aufgabe, ihm alles zu erklären. Es würde nicht einfach werden. Nein, ganz und gar nicht. „Hör zu“, begann Rikigaku „du hast also von uns gelesen, das heißt du weißt, dass wir Charaktere eines Romans sind, nicht wahr?“ Tammo nickte und setze zu einer neuen Frage an, doch Rikigaku sprach gleich weiter. „Nur weil wir der Fantasie unseres Autors entsprungen sind, heißt das nicht, dass wir nicht real sind, verstehst du?“ Tammo schaute ihn verständnislos an. „Aaaaaargh!“, Rikigaku raufte sich die Haare „wieso müssen wir ihn einweisen?! Es gibt genügend andere die das viel besser könnten! Hilf mir Jittah!“ Jittah hob abwehrend die Hände und kassierte dafür einen `Was für ein toller Freund du bist`-Blick von Rikigaku. „Also nochmal, wir leben. Wir sind nicht nur Tinte auf totem Papier. Es gibt viele Bücher über unsere Geschichte und unser Leben, die sind ziemlich tot und nichts weiter als Bücher. Aber es gibt zu jeder Geschichte ein Seelenbuch. Das ist unsere Essenz, darin leben unsere Seelen. Verstehst du? Und du sprichst grad mit uns durch das Seelenbuch. Also deine Seele ist sozusagen in dem Buch und kann mit unseren Seelen kommunizieren und hier alles sehen und anfassen und so weiter…“ Rikigaku griff sich an den Kopf. „Oh Mann, ich war noch nie gut darin, Dinge zu erklären.“ Doch Tammo begriff, wovon er sprach. Hatten sich die Bücher in den Regalen nicht warm angefühlt, als ob Leben in ihnen steckte? Hatten sie ihm nicht zugeflüstert? Es war unglaublich und schwer zu erfassen. So viele Fragen brannten auf Tammos Zunge. Wie war das möglich? Wie kam es, dass er jahrelang diese Bibliothek besucht hatte, aber nie zuvor die Seelenbücher bemerkt hatte? Wurden sie deshalb so sorgfältig in der Bibliothek verwahrt, weil sie lebendig waren und geschützt werden mussten? Wie kam es, dass andere Menschen das Flüstern der Bücher anscheinend nicht gehört hatten? Tammo starrte ins Feuer und versuchte, seine Gedanken zu sortieren. Er bemerkte, wie Jittah und Rikigaku sich hilflos über seinen Kopf hinweg ansahen und mit den Schultern zuckten. Dann stellte Tammo eine weitere Frage: „Wieso hab ich die… die Seelenbücher nicht früher wahrgenommen?“ „Hmmm“, machte Rikigaku „das weiß tatsächlich niemand so genau. Viele vermuten es hängt davon ab, wann sich die Vorstellungskraft eines Menschen vollkommen entwickelt hat. Manche denken dagegen, dass es eine Art Resonanz zwischen den Seelen des Menschen und der Bücher gibt, die sich entwickelt, wenn der Mensch mit seinen Erfahrungen reift. Aber genau weiß das keiner. Manchmal sind es kleine Kinder, die nicht einmal lesen können, die mit den Büchern in Kontakt treten können, manchmal sind die Menschen aber auch schon sehr alt, bis sie das erste Mal die Seelenbücher wahrnehmen. Die meisten Menschen bemerken uns aber nie“ Tammo nickte. Menschen waren halt unterschiedlich. Kein Wunder, dass es keine Regeln gab, nach denen sie die Seelenbücher wahrnehmen konnten. Und es wunderte ihn auch nicht, dass er, mit der Fantasie, die er hatte, die Seelen der Bücher wahrnehmen konnte. „Also werden die Seelenbücher gesammelt und gesondert aufbewahrt, um sie vor fahrlässigen Lesern zu schützen, die nicht wissen, was sie in Händen halten?“ Jittah und Rikigaku sahen sich noch einmal an. Langsam wurden Tammos Neugier und Wissensdurst geweckt und es fiel ihm leichter, Fragen zu stellen und mit den beiden Charakteren zu reden. „Jaaa…“, Rikigaku zögerte. Jittah sprang für ihn ein. „Nun ja, zum einen das. Aber Menschen sind eher die geringere Bedrohung für uns.“ Tammo sah ihn fragend an. „Seelenbücher sind geballte kreative Energie. Sie eignen sich als Nahrung für Bücherwürmer.“ „Bücherwürmer…“, Tammo sah Jittah fragend an, dann schweifte sein Blick zu Rikigaku. „Sie fressen unsere Seelen, um zu überleben. Das ist das Schlimmste was einem Seelenbuch passieren kann.“ Sein Blick verfinsterte sich. „Wurde es einmal gefressen, verschwindet die gesamte Existenz dieser Geschichte. Niemand wird sich je wieder an diese Geschichte erinnern. Es ist das unwiderrufliche Ende. Schlimmer als der Tod. Wir gehen dann einfach in die Existenzlosigkeit über.“ Ein bedrücktes Schweigen folgte Rikigakus Erklärung. Jittah und er schauderten. „Niemand erinnert sich mehr an die Geschichte?“, hakte Tammo nach. „Niemand“. Tammo fragte sich, ob er vielleicht eine Geschichte, die er irgendwann mal gelesen hatte, schon auf diese Weise vergessen hatte. Er dachte eine Weile angestrengt nach, dann fiel ihm ein, dass da keinen Sinn ergab. Er würde sich so oder so nicht erinnern. Es war schrecklich. Eine ganze Welt, verschluckt vom Nichts, all die Charaktere, all die Freunde, die er gemacht hätte. In Tammo entwickelte sich eine Abscheu gegenüber den Bücherwürmern. Wie konnte man so etwas wundervolles, wie eine Geschichte vernichten und auslöschen? „Aus diesem Grund“, setzte Jittah an, „gibt es Menschen in deiner Welt, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Seelenbücher vor den Würmern zu beschützen und gegen diese Viecher zu kämpfen. Das sind die Buchritter. Und du wirst jetzt einer davon“ Ein breites Grinsen zeigte sich auf seinem Gesicht. „Enttäusche uns nicht und rette schön brav unser Leben“ „Ja, genau, verunsichere ihn noch mehr“, fuhr Rikigaku seinen Kumpel an. „Wir können dich nicht dazu zwingen, uns zu helfen, aber es gibt nicht viele wie dich, die mit uns sprechen können und nur die Menschen aus eurer Welt können die Bücherwürmer besiegen. Wir bestehen zwar aus kreativer Energie, aber können sie nicht wie ihr nutzen. Wir bitten dich darum. Und ich denke, ich spreche im Namen aller Seelenbücher, denn wir sind dankbar für jeden, der uns zur Seite steht.“ Tammo kam kaum noch hinterher. Rikigaku war nicht der Typ, der andere um Hilfe bat, das wusste er aus seiner Geschichte. Es musste also wirklich sehr ernst sein. Aber wie sollte er, ein kleiner, mickriger Sechzehnjähriger, gegen wilde Bestien kämpfen, um ganze Welten zu retten? Das war so klischeehaft, dass es schon fast weh tat. „Bitte“, wiederholte Rikigaku und auch Jittah sah ihn erwartungsvoll an. „Du wirst nicht allein sein. Viele Charaktere helfen den Buchrittern so gut sie können und wir werden an vorderster Front mit dir kämpfen“ „Ich…“ Tammo öffnete und schloss den Mund wie ein Fisch. Er war sprachlos. Er musste definitiv erst einmal eine Nacht darüber schlafen und alles verarbeiten. Das war alles zu viel. Wie kam er hier überhaupt wieder heraus? Es war alles zu fantastisch, um es zu glauben, doch Tammo tat es dennoch. Er nahm das alles so schnell an, weil er sich schon sein Leben lang so etwas gewünscht hatte. Er wollte, dass es wahr war. Es war aufregend, in diesen Welten konnte er Freunde finden und Abenteuer erleben, er musste nur den einen Schritt wagen. Doch gerade weil es ihm so real vorkam, hatte er auch Angst vor den Gefahren, die so ein Abenteuer barg. Er war immer nur Zuschauer gewesen, aber nie hatte er sich in der Rolle des Hauptcharakters gesehen. „Ich möchte nach Hause“, sagte Tammo schwach und es war ihm egal, für was für ein Weichei Jittah und Rikigaku ihn halten würden. Mit einem Stechen in der Brust sah Tammo, wie die Enttäuschung sich auf den Gesichtern dieser sonst so taffen Jungs breit machte. Tammo sah weg. „Dir steht es jederzeit frei zu gehen.“, antwortete Jittah monoton. „Du musst einfach nur an deine reale Welt und Alltäglichkeiten denken, dann solltest du zurück in deinen Körper gelangen.“ „Ich… muss darüber nachdenken. Ich kann nicht… Ich…“, Tammo brach ab. Rikigaku und Jittah sahen ihn mit unergründlichen Mienen an. Tammo stand langsam auf und machte ein paar unsichere Schritte von den beiden weg. Dann begann er an sein zu Hause und sein kuscheliges Bett zu denken, denn genau da wollte er jetzt hin. Er sehnte sich nach dem warmen Kakao seiner Mutter und die weichen Kissen auf seiner Schlafstatt. Um ihn herum begann wieder alles zu verschwimmen, der Wald löste sich auf, die Regale des dritten Stockwerks der Bibliothek kamen zum Vorschein und dann stand er wieder dort, mit dem dicken Buch in den Händen. Er schlug es schnell zu und stellte es zurück an seinen Platz. Dann verließ er hastig den Saal. Das alles war so unheimlich real. Es machte ihm Angst. Er drehte den Schlüssel im Schloss, nachdem er die große Tür geschlossen hatte und sprang fast die Treppe herunter. Er sah auf seine Armbanduhr. Es war erst halb acht, doch Tammo kam es vor, als ob eine Ewigkeit verstrichen wäre. In einer halben Stunde würde die Bibliothek schließen. Er holte seine Jacke aus dem Lagerraum, verabschiedete sich von Frau Reisig, die noch an der Ausleihe saß und machte sich so schnell wie möglich auf den Weg nach Hause. Glücklicherweise stürmte es nicht mehr so heftig, doch als Tammo zu Hause ankam, war er dennoch vollkommen durchnässt. Er konnte nur schwer einschlafen. Seine Gedanken schwirrten und schienen seinen Kopf auseinander reißen zu wollen, weil sie nicht genug Platz hatten. Morgen würde er aufwachen und dann bemerken, dass das alles ein abgefahrener Traum war. Eine coole Idee für einen Abenteuerroman vielleicht. In dieser Nacht träumte Tammo von Jittah und Rikigaku. Von ihren enttäuschten Gesichtern, von ihrer Verzweiflung, von ihrem Tod und von seiner eigenen Angst, sie zu vergessen und sich nie wieder an sie erinnern zu können. Das wollte er nicht zulassen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)