Intellexi von Pertaret ================================================================================ Kapitel 3: ----------- Die Zeit zog dahin, draußen war das Wetter genauso verregnet wie zu dem Zeitpunkt, als Tammo bei der Bibliothek angekommen war. Mal hörte das stetige Prasseln der Regentropfen für einige Zeit auf, dann begann es wieder gegen die Fensterscheiben zu klopfen und der Wind pfiff sein eigenes, langsames Lied. Zwar war Tammo flink bei seiner Arbeit, doch dauerte es auch seine Zeit einhundert bis zweihundert Bücher einzusortieren. Draußen war es so trüb, dass kaum Licht in das Gebäude der Bibliothek schien und sie zusätzlich durch die Deckenlampen erleuchtet wurde, die ein warmes und angenehmes Licht verströmten. Soweit Tammo das beurteilen konnte, war er allein im zweiten Stockwerk. Die anderen Bibliothekare waren wohl auf der ersten Ebene und im Erdgeschoss zugange und auch die Putzfachkräfte waren noch nicht bis in den zweiten Stock vorgedrungen. Er war ganz allein hier oben inmitten all der Bücher. Nun hatte Tammo alle Bücher vom Wagen in die Regale eingeräumt, die in den zweiten Stock gehörten. Es lagen lediglich eine handvoll Bücher aus dem ersten Stock und sage und schreibe ein Buch aus dem Erdgeschoss auf dem Wagen. Es war Zeit, mit dem Aufzug in das untere Stockwerk zu fahren und seine Arbeit zügig zu beenden, um einer neuen Aufgabe nachzugehen. Tammo war stolz auf sich, dass er so gut mit der Arbeit in der Bibliothek zurechtkam und es freute ihn auch immer sehr, wenn er von Frau Leimgießer gelobt wurde. Behutsam manövrierte er den Wagen an den Regalen vorbei zum Aufzug, darauf bedacht, nirgendwo mit dem Gefährt anzuecken und dabei möglicherweise Bücher zu beschädigen. Er war nun fast beim Aufzug, als ihm die Treppe zu seiner Linken wieder ins Auge sprang, die in den dritten Stock führte. Das Quietschen der Wagenräder verstummte, als Tammo den Wagen anhielt und die Treppe hinauf sah. Er war ganz allein hier oben, keiner der anderen Bibliothekare arbeitete auf dieser Ebene. Er fragte sich, ob er… Es würde niemandem auffallen, wenn er kurz hinter die Absperrung trat und nach oben ging, um zu schauen, was sich im dritten Stock für Schätze und Kostbarkeiten verbargen… Nein, nein! Das ging nicht! Auf dem Schild stand „Unbefugten ist der Zutritt untersagt“ und er als bloße Aushilfe war definitiv unbefugt. Nicht einmal allen der fest angestellten Bibliothekare war es erlaubt einen Fuß in die Räumlichkeiten der Sammlung zu setzen. Wieso sollte er sich über diese Regel hinwegsetzen? Das war respektlos seinen Arbeitskollegen gegenüber. Ganz zu schweigen davon, dass er damit wahrscheinlich seine Stelle als Aushilfsbibliothekar verlieren würde und möglicherweise sogar Hausverbot bekam. Und das, das wäre in der Tat eine schreckliche Katastrophe für Tammo. Schließlich handelte es sich bei der Bibliothek um sein zweites zu Hause und eine weitere Bücherei gab es in dieser Kleinstadt nicht. Frau Reisig und Frau Leimgießer wären sicherlich sehr enttäuscht von ihm und er könnte die missbilligenden Blicke auf ihren Gesichtern kaum ertragen, zumal sie ihm gegenüber immer so wohlwollend gewesen waren. Doch seine Neugierde war groß. Sehr groß. So groß, dass er sich einbildete, die alten Folianten würden aus dem oberen Stockwerk zu ihm herunterrufen, ihn zu sich locken, ihn überreden. Ein leises Wispern klang in seinen Ohren, flüsterte ihm von fantastischen Geschichten, lockte ihn. War es wirklich nur Einbildung? Tammo bekam eine Gänsehaut. Ohja, er war neugierig und wissensdurstig, aber er war auch immer ein lieber und braver Junge gewesen und hatte sich weder seinen Eltern noch Lehrern oder anderen Respektpersonen widersetzt. Wozu auch? Wenn er freundlich fragte, wurden ihm meist die Dinge ermöglicht, die er wollte. Und wenn ihm doch etwas verboten wurde, dann hatte das einen guten und logischen Grund. Oben wäre die Tür zum Saal vermutlich eh verschlossen und er hätte darauf wetten können, dass Dr. Angbard den einzigen Schlüssel besaß. Doch das Wispern aus dem oberen Stock schien ihm lauter zu werden, es machte ihm fast Angst. Wenn die Tür oben abgeschlossen war, machte es eh keinen Sinn, nachzuschauen. Aber er könnte wenigstens hochgehen und lauschen, ob er sich in dem Wispern täuschte und vielleicht würde er durch die Tür den Geruch nach alten Büchern vernehmen. Die Aufregeung pulsierte durch seinen Körper. Sollte er es wagen oder sollte er nicht? Das Herz schlug ihm bis zum Hals und er begann zu schwitzen. Seit wann widersetze er sich den Regeln von Erwachsenen? War das so eine Art pubertäre Rebellionsphase? Zögernd hob er die Hand, um die Absperrung anzuheben und drunter zu schlüpfen. Sie bewegte sich langsam und wie von allein, als wäre sie nicht länger ein Diener seines Körpers sondern ein Vasall der Neugierde. Das Blut rauschte in seinen Ohren, er war angespannt vor freudiger Erregung, den geheimnisvollen Büchern im dritten Stock näher zu kommen und vor Furcht, dass negative Konsequenzen aus seinem Handeln entstehen konnten. Plötzlich hörte er, wie sich die Türen des Aufzugs öffneten. Hastig und erschrocken zog er seine Hand zurück, noch bevor sie die Kordel berühren konnte, und legte sie auf den Haltegriff des Wagens. Das war knapp! Aus dem Aufzug rollte ein Wagen, der mit Büchern befüllt war und dahinter folgte ihm Frau Leimgießer. Es war heute ihr letzter Arbeitstag in der Bibliothek. „Ach du meine Güte, Tammo! Hast du mir gerade einen Schrecken eingejagt! Ich dachte, hier oben sei niemand.“ Sie lachte herzlich. Tammo zwang sich langsam und regelmäßig zu atmen. Wäre Frau Leimgießer auch nur zehn Sekunden später aus dem Fahrstuhl gestiegen, hätte sie ihn dabei ertappt, wie er sich in den dritten Stock hinauf schlich. Wie hätte er das bloß erklären sollen, ohne wie ein verzogener Bengel zu wirken? „Oh, das tut mir Leid! Ich wollte Sie nicht erschrecken.“, erwiderte Tammo etwas atemlos. Er wusste, dass er sehr rot im Gesicht war, Frau Leimgießer würde etwas bemerken. „Du bist ja ganz rot im Gesicht, geht es dir nicht gut?“ Nichts entging einer Autorin mit einer außerordentlichen Beobachtungsgabe. Genau dafür bewunderte er sie so sehr, doch in diesem Moment wünschte er, sie würde ihre Umgebung nicht so detailliert wahrnehmen. „Ah! Eh…“, Tammo wurde noch heißer. Er würde jetzt lügen müssen. Weder konnter er das gut, noch machte er das gern. „Ich weiß nicht, vielleicht habe ich mir heute im Regen doch eine Erkältung eingefangen.“ Frau Leimgießer schrieb seine unsichere Stimme seiner Unterkühlung zu. Sie seufzte. „Du bist ein intelligenter und schnell lernender Junge, aber wann erinnerst du dich endlich daran, einen Regenschirm mitzunehmen?“ Tammo freute sich über das Lob, dass sie ihm machte und er beruhigte sich langsam. Sie hat nichts bemerkt. Es ist alles gut. Ich zieh einfach nie wieder so einen Unsinn ab und ich brauch keine Angst mehr zu haben. „Du solltest lieber nach Hause gehen, wenn es dir nicht gut geht.“ „Nein, nein, es ist schon okay, so schlecht geht es mir auch wieder nicht. Ich werde doch immer so schnell rot. Ich sehe bestimmt schlimmer aus als es mir geht!“ Und das stimmte wahrscheinlich sogar. Sie wünschten einander noch einen angenehmen Arbeitstag, danach stieg Tammo in den Fahrstuhl, während Frau Leimgießer ihren Wagen zu den Regalreihen schob. Tammo schämte sich für seinen Verhalten. Er ging seiner Arbeit nun besonders fleißig nach, um seinen Fehler wieder gut zu machen, auch wenn das niemand so wahrnehmen würde. Dennoch half es ihm, sein Gewissen zu beruhigen. Aber war Neugierde und Wissensdurst wirklich ein Fehler? Flüsterte eine leise Stimme in ihm, die er aber schnell verbannte. Als seine Schicht zu ende war, ging er noch nicht nach Hause. Er wollte sich im ersten Stock in die Jugendbuch- und Fantasyabteilung verkriechen, um ein Buch weiterzulesen, dass er am Samstag begonnen hatte. Die Bibliothek hatte dort ein Paar Sitzsäcke für die Jugendlichen verteilt und so machte er es sich auf einem von ihnen gemütlich, um die Zeit bis zum Feierabend seiner Kollegen zu überbrücken. Es war zwar erst früher Nachmittag, doch draußen war es wegen des Wetter schon sehr dunkel und der Regen hörte nicht auf herabzufallen. Er prasselte gegen die Scheiben und der Wind wehte die gelben Herbstblätter der Kastanien an die Fenster. Tammo ließ sich vom Lied des Herbstes einlullen und genoss sein Buch. Später würde er sich noch richtig von Frau Leimgießer verabschieden, denn sie war so etwas wie seine Mentorin gewesen. Er hoffte, ihr irgendwann einmal wieder zu begegnen und freute sich schon, ihre Bücher zu lesen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)