Yu-Gi-Oh! The Last Asylum von -Aska- ================================================================================ Kapitel 63: Turn 58 - Paradigms ------------------------------- Turn 58 – Paradigms     In Dubio pro Reo. Im Zweifel für den Angeklagten. Etwas, wovon Anya nicht viel hielt, als sie völlig erschöpft in ihrem Hotelzimmer ankam. Der lange Fußmarsch hatte selbst sie ziemlich ausgezehrt, zumindest den Teil ihrer Kraft, der nach der unfreiwilligen Begegnung mit Zed noch übrig gewesen war. „Wo warst du so lange!?“, klagte Zanthe, der von seinem Bett direkt neben der Tür aufsprang. „Hast du dein Deck gefunden? Hier ist es definitiv nicht, ich habe alles abgesucht.“ „Ich weiß wer mein Deck hat“, zischte sie und stieß ihn beiseite, als er ihr entgegen kam, „es wurde gestohlen.“ Verdutzt wurde er zurückgelassen. „Gestohlen? Von wem?“ „Keinen Blassen, wie das Miststück heißt, aber ich werde sie finden. Wo ist der Laptop, den Matt gekauft hat?“ Unter einem wütenden Schnaufen setzte sich Anya an den kleinen Tisch vor dem Panoramafenster und ließ sich von Zanthe den Apparat vor die Nase setzen. „Was hast du vor?“, fragte er neugierig.   Während sie ihn aufklappte und anschaltete, erzählte sie Zanthe, was ihr alles widerfahren war. Dass sie und Melinda herausgefunden haben, dass die junge Frau im roten Kleid keine Journalistin sein konnte, da nur männliche Vertreter der Fachpresse eingeladen waren. Und demnach ihre Einladung gefälscht gewesen sein musste, sie sich als jemand anderes ausgegeben hatte. Dazu gesellte sich dann noch etwas Undying-Spaß. „Jetzt gibt es also schon drei von denen“, kommentierte Zanthe, „aber cool. Jetzt wissen wir, wie wir sie fertig machen können. „Ich glaube, die Masche funktioniert kein zweites Mal.“ Schließlich öffnete Anya ihr Postfach und zeigte Zanthe die E-Mail von Melinda mit den Kameraaufnahmen. „Egal, die sind jetzt nebensächlich. Sieh dir das an.“ „Jap, die war doch an unserem Tisch“, erkannte der sie wieder. „Hat nicht viel geredet, sondern viel lieber mit ihrem Smartphone gespielt. Ich glaube, sie hat auch Fotos gemacht, wenn keiner hinsah.“ „Ich schicke das Zeug jetzt Nick, soll der sich darum kümmern.“ Anya öffnete ihr Skype-Programm und sah nach, ob in ihrer sehr 'übersichtlichen' Freundesliste Nicks Name grün unterlegt war. Was er war, im Gegensatz zu Abbys. Sofort schrieb Anya ihn an und schickte die Datei.   Fünf Minuten später hatte sie einen Anruf, den sie prompt entgegen nahm. Sie sah Nicks übergroßes Gesicht, wie er in die Kamera starrte, hinter ihm ein Schrank voller Akten. „Hallo Darling“, flirtete er sie sofort an, „vermisst du mich jetzt schon so sehr, dass du mich auf Arbeit anschreibst?“ Anya runzelte verärgert die Stirn. Obwohl es hier bereits Abend war, musste Nick wohl dank Zeitverschiebung noch im Büro hocken. „Nein, aber viel zu tun kannst du ja nicht haben, wenn du skypen kannst. Ich hab ein Problem.“ Nick machte mit der Schulter eine Bewegung, vermutlich benutzte er gerade seine Maus. Nachdenklich sah er an der Kamera vorbei, dann gewannen seine Züge eine leichte Boshaftigkeit. „Ah, ich seh' schon, sie ist hübsch. Eifersüchtig?“ „Nicht diese Sorte von Problem“, sagte Zanthe und beugte sich über Anyas Schulter, „die Gute ist ein Langfinger und hat Anyas Deck gestohlen.“ Sofort schreckte Nick auf, wurde ernst. „Sag das nochmal.“ „Die Tante war nicht auf der Party eingeladen, auf der wir gestern waren. Sie hat sich unter falscher Identität reingeschmuggelt“, erklärte Anya, „der Flohpelz sagt, sie habe während meines Duells mit den Schnösel-Geschwistern Fotos gemacht.“ „Davon habe ich bereits gelesen. Mein Plan hat wunderbar funktioniert, nicht wahr?“, lobte sich Nick selbstherrlich. „Du bist drin, ohne dass es jemand wagen wird, das ändern zu wollen.“ „Ja ja, gut gemacht“, überging Anya den Punkt mit der Dankbarkeit wie gewohnt, „jedenfalls, nach dem Duell ist sie mit mir zusammengestoßen. Da muss es passiert sein.“ Er hakte nach: „Und du bist dir da völlig sicher?“ „Seitdem ist es verschwunden. Eine andere Erklärung gibt es dafür nicht.“ Anya schlug auf den Tisch. „Nick, finde diese Ratte für mich. Egal wie!“ Der legte seine Ellbogen auf den Tisch und faltete die Hände. „Nur mit diesen unscharfen Aufnahmen? Das wird nicht leicht, selbst für mich nicht.“ „Wenn es dir weiterhilft: Außer mir scheint keiner etwas besonders Wertvolles zu vermissen. Melinda wird mich aber informieren, falls noch jemand sein Deck verloren hat.“ „Du meinst also, man kann einen Massendiebstahl ausschließen?“ Nick schloss die Augen. „Also bist nur du das Opfer. Zumindest etwas.“ Zanthe fiel dazu noch etwas ein: „Vielleicht Kali?“ „Nee, die ist kleiner gewesen als diese Dumpfralle. Außerdem würde diese Schnepfe das nicht hinter meinem Rücken tun, denk an die Male zuvor“, schloss Anya jene sofort aus. „Die hat mich immer wissen lassen, dass sie es war.“ Was Nick mit einem Kopfschütteln quittierte. „Ich würde sie nicht gleich von der Liste streichen, aber du hast nicht Unrecht. Es wäre untypisch für sie, jetzt wo sie sich dir offenbart hat. Anya, beantworte mir eine Frage.“ „Ja?“ Nick öffnete seine Lider. „Hast du Karten benutzt, von denen nicht jeder weiß?“ Da das Mädchen ihn nur fragend ansah und nicht verstand, übernahm Zanthe die Antwort. „Hat sie und das nicht zu knapp. [Angel Wing Dragon] und Heavy T, die beiden Artefakte.“ Anya ging ein Licht auf. „Ach so! Und [Gem-Knight Turquoise], die Karte vom Jinn.“ „Vielleicht handelt es sich hierbei gar nicht um ein gezieltes Verbrechen, sondern eine Affekttat. Du sagtest, sie hat Fotos gemacht? Nur von dir?“ Der schwarzhaarige Werwolf nickte. „Definitiv. Melindas Pendelmonster haben sie kalt gelassen, das hat man ihr angemerkt. Sie hat aber keine Fragen gestellt.“ „Natürlich nicht, das wäre dann doch zu auffällig“, überlegte Nick, „nun gut, sie ist unsere Hauptverdächtige. Ich werde sehen, was ich für dich tun kann.“ Anya sah ihn eindringlich, aber gleichwohl gebieterisch an. „Beeil' dich! Bis zum Turnierauftakt sind es nur noch sechs Tage.“ „Könnte knapp werden. Anya, du solltest dir ein Deck besorgen, falls du deins nicht rechtzeitig wiederbekommst“, riet ihr Sandkastenfreund. „Ich krieg' es doch wieder, oder?“ Nick nickte. „Natürlich wirst du. Das verspreche ich dir. Ich würde gerne noch länger mit dir reden, aber mein 'Arbeitgeber' steht in der Tür und da er mich mit seinen Rehaugen so herzzerreißend ansieht, kann ich gar nicht anders als ihm meine ungeteilte Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.“ Seine Worte trieften nur so vor Zynismus. Anya stöhnte. „Kann der sich nicht einfach verpissen? Tch! Aber okay, danke für deine Hilfe. Mal wieder …“ „Stets zu Diensten. Bis später.“   Damit beendete er die Konversation, Anya schloss den Chat und das Skype-Programm. „Also eins muss man ihm lassen“, sagte Zanthe und es klang, als fielen ihm seine Worte schwer, „wenn du ihn brauchst, kümmert er sich um dich.“ Die Blonde starrte auf das Display des Laptops. „Yeah …“ Plötzlich spürte sie, wie die Hand des Werwolfs auf ihrer Schulter lag. „Zerbrich' dir nicht deinen Hohlkopf. Wenn einer es schaffen kann, dann Mr. Neurotisch. Eigentlich wäret ihr ein richtig süßes Paar, wenn man's recht bedenkt.“ „Huh!? Spinnst du!? Wie kommst du denn jetzt da-“ Anya gähnte mitten im Satz. „-rauf.“ Anstatt ihr eine Antwort zu geben, grinste Zanthe lediglich schelmisch. „Ist doch egal. Kümmere dich lieber um wichtigere Sachen. Du stinkst nämlich schon genauso wie er. Geh duschen.“ „Hmpf!“ Anya stand auf und schubste den schwarzhaarigen Kopftuchträger beiseite. Zugegeben, er hatte schon fiesere Kommentare vom Stapel gelassen, aber nichtsdestotrotz gehörte er allein für den Gedanken, dass sie und Nick … oh Gott, er gehörte wirklich …! „Ich geh duschen und leg mich dann pennen. Ich bin stundenlang gelaufen!“ Sie steuerte das Badezimmer an. „Wenn Summers kommt, erzähl ihm ruhig alles. Aber wenn eine von euch Pappnasen mich dabei weckt …“ Vor der Tür ins Bad drehte sie sich noch einmal zu Zanthe um und fuhr sich vielsagend mit dem Finger über die Kehle. „Ja ja“, winkte er ab, „hab's kapiert. Wir lassen dir deinen Schönheitsschlaf. Auch wenn's für den längst zu spät ist.“ Wofür er die an diesem Abend letzte Aussage Anyas vor den Bug geknallt bekam: Ihren Lieblingsfinger. Zu interessanteren Reaktionen war sie in diesem Moment einfach zu müde gewesen.   ~-~-~   „… und wieso fragen wir nicht gleich den Sammler?“, wollte Zanthe in einem engstirnigen Tonfall wissen. Matt erwiderte genervt: „Er war es, durch den wir überhaupt die Adresse haben. Wüsste er mehr, hätte er uns das längst mitgeteilt.“ Während Anya träge mit ihrem Frühstückstablett in den Händen auf den gemeinsamen Tisch zusteuerte, nicht wissend, wieso die beiden schon wieder im Begriff waren, sich in die Wolle zu kriegen, drehten sich schon die ersten anderen Gäste des Hotels zu ihnen um. „Was bringt dich dazu, das zu glauben? Vielleicht spielt er nur ein Spiel mit uns?“ „Weil es in seinem Interesse wäre, wenn wir schnell an die nächste Karte kommen.“ Matt funkelte Zanthe an. „Das ist doch wirklich nicht so schwer zu verstehen.“   Als Anya sich an den Tisch setzte, demselben wie gestern, welcher durch die gläserne Fassade zu ihrer Rechten den Blick auf die Straße gewährte, gab sie ein langgezogenes Stöhnen von sich. „Will ich überhaupt wissen, worum es hier geht?“ „Deine nächste Zielperson“, antwortete Matt ihr direkt und biss in sein Marmeladenbrötchen. Zanthe fügte bissig hinzu: „Unsere hübsche Hälfte des Deppenduos hat ein bisschen was herausgefunden. Wer der Kerl ist, den du suchst. Oder war. Oder was auch immer.“ „Und?“ Anya schnitt nebenbei unter quietschendem Teller ihr Steak. Generell widmete sie ihrem Frühstück den größten Teil ihrer Aufmerksamkeit, so schien es. „Ich habe den Namen herausgefunden. James Carrington, 71, niederem Adels, stammt ursprünglich aus Großbritannien, ist aber vor einigen Jahren übergesiedelt“, zählte Matt die Fakten auf. „Okay?“ Die Blonde sah mit einem Stück Fleisch im Mund auf. „Dann schnapp' dir das Artefakt?“ „Erstens: Wieso ich?“ „Na du kümmerst dich doch schon drum, oder?“ So wie Anya es formulierte, klang es wie eine Selbstverständlichkeit. „Nach dem letzten Mal verzichte ich darauf, nochmal deine Duelle auszutragen.“ Die Kälte, mit der Matt dies gesagt hatte, lockerte glatt Anyas Lippen, sodass ihr Steakhappen auf den Teller fiel. Unangenehmes Schweigen machte sich breit. Anya ließ den Kopf hängen. Drazen … musste sie ausgerechnet jetzt daran erinnert werden? „... war nicht so gemeint“, lenkte Matt versöhnlich ein, als er sie so sah, „ich habe nur Angst, dass wieder etwas passieren könnte. Der ist immerhin auch nicht mehr der Jüngste.“ Zanthe indes hielt sich lieber aus dem Gespräch heraus, so schien es. Er sah lediglich abwechselnd die beiden anderen an, wobei er seinen Ellbogen auf die Tischkante gestemmt hatte und sein Kinn auf der Faust abstützte. „Ich auch“, gestand Anya leise, „aber ...“ „Ich weiß. Wir müssen es auf einen Versuch ankommen lassen.“ Matt legte sein Brötchen auf den Teller zurück. „Lass mich das machen, solange du dein Deck nicht wieder hast. Zanthe hat es mir vorhin erzählt.“ „D-danke.“ „Es gibt nur ein Problem“, fand der Schwarzhaarige schließlich die Überleitung zum Streit zwischen ihm und dem Werwolf, „Mr. Carrington wurde seit Jahren nicht mehr gesehen. Es gehen Gerüchte herum, er sei erkrankt und würde das Haus nicht verlassen, aber …“ Jetzt setzte Zanthe doch ein: „Matt hat mit einigen Mitarbeitern gesprochen, aber die wissen auch nichts darüber. Nur dass vor einigen Jahren alle mit einem Schlag entlassen wurden.“ „Ungefähr zu der Zeit, als man Mr. Carrington das letzte Mal gesehen hat“, fügte Matt hinzu. Der Werwolf schnalzte mit der Zunge. „Also -ich- finde, wir sollten den Sammler dazu befragen. Irgendetwas wird er uns sicher sagen können, immerhin wird er eine Menge an Nachforschung betrieben haben, um uns überhaupt die Infos zu diesem Typen zu beschaffen.“ Sofort schnellte Anya auf, klatschte die Hände auf den runden Tisch. „Nie im Leben! Dem krieche ich nicht in den Arsch! Wir kriegen das auch ohne ihn hin!“ „Du meinst, Matt kriegt das hin. Du hast bisher erstaunlich wenig dafür getan, einen der Hüter zu finden“, versetzte Zanthe ihr sofort einen Seitenhieb. Anyas Finger krallten sich in die Tischdecke, doch die harten Fakten, welche auf die Namen Nick, Matt und Alastair hörten, vielleicht auch mit der ein oder anderen Zanthe-Silbe dazwischen, verhinderten unmittelbare Kollateralschäden. Stattdessen ließ sich Anya wieder in den Stuhl fallen und funkelte den Kopftuchträger zornig an. „Was denn, ist doch so!“, blieb der ebenso stur wie sie. „Ich werde für ein paar Tage wegfahren“, erklärte Matt, nachdem abzusehen war, dass Anya wieder Notiz von ihrer Umwelt nahm. Die beiden drehten sich zu ihn um. „Zwei Leute habe ich noch, mit denen ich gerne vorher sprechen würde.“ Der Ex-Dämonenjäger griff nach der Kaffeetasse neben seinem Teller. „Der Gärtner meinte, dass die Carringtons sich plötzlich über Nacht eigenartig verhielten, besonders Mr. Carrington. Wenig später sind sie hierher umgezogen, wie gesagt ohne ihre Angestellten.“ Anya schnaubte. „Der Gärtner war's! Nur falls der Alte bereits tot sein sollte.“ „Wie lange willst du denn wegbleiben?“, hakte Zanthe nach. „Nur ein paar Tage, vielleicht eine Woche, länger nicht.“ Anya verschlang nebenbei den Rest ihres Steaks mit einem Happs. Noch beim Kauen sagte sie: „Bisch schum Start desch Turniers sind esch noch ein paar Tage. Wäre cool, wenn ich bisch dahin mein Deck schamt der dritten Wäschterkarte hätte.“ Die beiden sahen sie nur stumm mit einem leichten Anflug von Ekel an, nicht zuletzt weil ihr der Speichel beim Sprechen nur so um die Ohren flog. „Ich hab die Handschuhe noch, die du mir gegeben hattest. Wenn es also zu einem Duell kommen sollte, bin ich vorbereitet.“ Matt sah auf sein halbes Brötchen, das etwas von Anyas 'Manieren' abbekommen hatte. Mit Fingerspitzen schob er den Teller von sich weg. „Ich, ähm, bin dann mal oben, meinen Rucksack packen.“ Kaum war er aufgestanden, rückte auch Zanthe seinen Stuhl nach hinten. „Dann gehe ich an dieser Stelle auch mal.“ Als die Blonde mehr als irritiert zu ihm aufschaute, erwiderte er glucksend: „Den Hundeblick kannste dir sparen, du kommst nicht mit. Ich will die Stadt alleine unsicher machen! Bye bye!“ Sprachs, hob die Hand noch zum Gruß und huschte dann eiligen Schrittes aus dem Restaurant des Hotels. „Und was mach ich jetzt!?“, rief Anya ihm sauer hinterher. Beantwortete sich die Frage aber selbst, indem sie sich Matts angefangenes Brötchen schnappte.   ~-~-~   Ganz zu Anyas Ärgernis blieb Matt länger weg als erwartet und gab auch keine Rückmeldung, wie denn der aktuelle Stand bezüglich des Hüters war. Und auch Zanthe schien lieber alleine unterwegs zu sein und nahm Anya nur gelegentlich zu seinen Ausflügen mit. Die entweder in Klamottenläden, Buchhandlungen oder irgendwelche Clubs führten, die Anya entweder gar nicht erst reinließen – nicht, dass sie eine Wahl gehabt hätten – oder spätestens nach fünf Minuten rausschmissen. Das Mädchen war ja froh, dass der Flohpelz sich derart schnell in das alltägliche Leben einfügte und aus sich und dem Hotelzimmer herausging, aber irgendwie blieb sie dabei mächtig auf der Strecke. Was Anya tierisch ärgerte, da -ihr- dadurch verdammt langweilig war. Was sicher anders wäre, wenn sich Nick, dieser Trottel, mal bei ihr melden würde. Aber wie Matt schien der es mit Kontakt halten neuerdings nicht allzu genau zu nehmen.   Als Anya auch drei Tage nach ihrem Kriegsrat immer noch keine Rückmeldung von Nick erhalten hatte, entschied sie sich, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. So saß sie am späten Nachmittag von Zanthe flankiert am runden Tisch in ihrem Hotelzimmer, den Laptop vor der Nase. Es dauerte eine Weile, bis Nick auf ihre Videoanrufe reagierte, aber schließlich schaltete sich seine Webcam ein und Anya konnte sein Gesicht auf dem Bildschirm betrachten. „Hallo Schatz, vermisst du mich so sehr, dass du mir gleich 57 Anfragen schickst?“, fragte Nick um Humor bemüht. „Harper, wo ist mein-“ „Pro Minute!“, fügte er gleich weitaus weniger beherrscht hinzu. Anya saß mit offenem Mund da. „... Deck?“ „Autsch, da ist jemand zur Abwechslung mal gar nicht in Flirtstimmung“, hörte sie Zanthe hinter sich sticheln. „Sag bloß, er hat jemand Neues kennengelernt?“ Nick schnalzte auf den Kommentar hin genervt mit der Zunge. „Nein, es gibt nur Menschen, die müssen für ihr Geld schwerer arbeiten als andere und haben deswegen wenig Zeit.“ Die Blonde klackerte ungeduldig mit ihren Fingerspitzen auf dem Mouse Pad. „Sehr interessant, Harper, wirklich. Wir finden es toll, dass du endlich einen Job hast. Aber das ist jetzt nicht das Thema!“ Nick blinzelte genau einmal. Nein wirklich, es war erstaunlich, wie lange er die Augen offen halten konnte, ohne die Lider auch nur minimal zu bewegen. So sehr, dass selbst Anya mulmig zumute wurde. „Und?“, fragte sie herrisch. „Hast du es? Ist es schon unterwegs hierher?“ „Anya“, murmelte er und faltete die Hände vor der Kamera ineinander, „ich habe dein Deck noch nicht ausfindig machen können.“   Man hätte eine Stecknadel auf den Boden fallen hören können. „Sag was!“, forderte Zanthe den jungen Mann auf. „Irgendwas! Ich glaube, ihre Festplatte ist schon wieder abgestürzt!“ Einen tiefen Seufzer von sich gebend, griff Nick nach seiner Maus. „Es ist nicht so, dass ich völlig erfolglos war. Seht euch das an.“ Vor den beiden öffnete sich ein kleines Fenster. In ihm wurde ein Video abgespielt, genauer gesagt Aufnahmen von der Feier. Zu sehen war ein großes Bogentor, dahinter schien ein Taxi zu parken. „Kannst du uns verraten, was wir da sehen?“ Doch die Frage Zanthes erübrigte sich, als eine undeutlich zu sehende Gestalt in einem Abendkleid auf das Taxi zu kam und in der Beifahrerseite verschwand. Genau als das Taxi losfuhr, stoppte Nick das Video. „Was ihr da seht“, antwortete Nick, „ist unsere diebische Elster, wie sie die Party verlässt. Schaut euch das Taxi an.“ „Ja, und?“, fragte Anya nun grimmig. „Mein Deck wird wohl kaum noch da drin sein!“ „Nein, aber man kann das Nummernschild lesen. Darüber konnte ich das Taxiunternehmen ausfindig machen, zu dem es gehört.“ Nick lehnte sich zurück und schlug die Beine über den Tisch übereinander, direkt in die Kamera gerichtet. „Und damit konnte ich wiederum per GPS die Route des Taxis verfolgen. Sie ist zum Hotel Adversary gefahren und hat dort zweifelsohne genächtigt.“ Zanthe beugte sich über Anyas Schulter. „Ich hab's! Von dort kannst du sie weiterverfolgen, da sie mit Kreditkarte gezahlt hat und du jetzt ihre Transaktionen überwachen kannst.“ „Gar nicht dumm. Richtig. Wenn sie wieder mit jener etwas bezahlt, werde ich sofort wissen, wo sie sich befindet. Und entsprechende Gegenaktionen einleiten.“ Ein böses Schnauben drang aus Anyas Nase. „Und wo ist dann das Problem?“ „Das Problem“, wiederholte Nick besonders stark betont, „ist, dass sie seitdem nicht mehr mit Karte gezahlt hat. Und solange sie das nicht tut, wird es schwer bis unmöglich für mich, sie zu finden.“ Er nahm die Füße wieder vom Tisch und beugte sich nach vorn. „Anya, ich sage es nur ungern, aber du solltest dich langsam um eine Alternative bemühen.“ „Eine was?“ Das Wort gab es in ihrem Wortschatz nicht! „Du brauchst ein Ersatzdeck, solange dein altes MIA ist.“ Nick zeigte mit dem Finger direkt über den Bildschirm auf Anya. „Also wirst -du- dir heute neue Karten kaufen. Lass dir von Levrier und Zanthe beim Deckbau helfen.“ Bei diesen Worten entglitt die Miene des schwarzhaarigen Werwolfs glatt. „Oh bitte nicht! Alles nur das nicht!“ Auch das durchsichtige Abbild [Gem-Knight Pearls] schaltete sich ein, welches Nick weder hören noch sehen konnte.   Irgendeiner von uns wird dabei sterben. Ich weiß es!   Zu ihrer beider Glück kämpfte Anya noch mit der Einsicht, dass Nick vielleicht Recht haben könnte. Was, wenn sie ihr Deck nicht rechtzeitig zurückbekam? Dann … Nein, sicher würde diese dumme Schnepfe sich bald irgendein Handtäschchen mit extra viel Platz für Diebesgut kaufen! Und dann würde Nick sie finden! Es musste so sein!   ~-~-~   Zwei Tage später, Matt war inzwischen mit keinerlei hilfreichen Hinweisen zurückgekehrt, musste Anya sich der Erkenntnis stellen: Die diebische Elster war anscheinend nebenbei Stripperin, so viel Bargeld musste die haben, um ihren Lebensstandard oder was auch immer aufrecht zu erhalten. Nichts, gar nichts! Keine Spur von ihr. Die war bestimmt schon irgendwo in Mexiko untergetaucht, mit -ihrem- Deck! Da die Vorrunde des Turniers morgen beginnen würde, blieb Anya keine Wahl mehr. Sie musste sich von irgendwoher Karten beschaffen. Anstatt aber Nicks Ratschlag zu befolgen und sich welche zu kaufen, hatte Anya eine weitaus effektivere Methode im Sinn, um konkurrenzfähig zu bleiben …   So fand sie sich auf der Dachterrasse eines Nobelhotels wieder, auf welcher dank des schönen Wetters und des Pools hier oben reger Betrieb herrschte. Valerie blickte von ihrer Liege auf, nahm die Sonnenbrille ab. „Ich soll dir mein Deck leihen?“ „Nur solange ich meines nicht zurückhabe“, erwiderte Anya verloren, wie sie da vor ihr stand. Ja, dachte sie sich nebenher, reck deine dicken Euter doch noch mehr in mein Blickfeld in diesem engen, weißen Badeanzug, der so viel verhüllte und doch kaum Raum für Spekulationen zuließ. Als ginge es ihr nicht schon dreckig genug! Dämliche Schnepfe! „Ich find's schön, dass du hierher zu uns gekommen bist, aber …“, zögerte Valerie, nach den richtigen Worten suchend. Um Himmels Willen, die dumme Kuh sollte endlich nein sagen, dann war das Ding gegessen. Wäre ja auch schlimm genug, ausgerechnet in ihrer Schuld zu stehen. Fast schon hoffte Anya daher auf jene Antwort. „Ich meine, da wir uns schon das ein oder andere Mal duelliert haben, weißt du ja, wie meine Gishkis funktionieren. Zumindest, wenn du es nicht längst wieder vergessen hast … Aber das geht leider nicht, ich nehme auch am Turnier teil, wie du weißt“, erlöste Valerie sie kurz darauf, „tut mir wirklich leid, Anya.“ Marc, in seiner roten Badeshorts und mit einem Strohhut auf dem Kopf, neben ihr auf einer zweiten Liege sitzend hob die Hand. „Dasselbe gilt auch für mich, fürchte ich.“ „Großartig“, brummte Anya und wandte sich von ihnen ab. „Eure Decks könnten meins sowieso nie ersetzen …“ Betrübt sah Valerie der Blonden nach, wie sie frustriert von dannen schlürfte.   „Unmöglich!“, weigerte sich Matt etwa eine Stunde später, als sie zusammen auf ihrem Hotelzimmer waren und nebeneinander auf Matts Bett in der Mitte saßen. „Die Evilswarm sind von dunkler Macht erfüllt, schon vergessen? Die kann ich nicht in fremde Hände geben.“ „Wäre doch genau das Richtige für mich!“, protestierte Anya wütend und legte ihren Arm um seine Schulter. „Komm schon, Kumpel, tu's für die gute alte Anya.“ „In deinen Händen will ich sie am allerwenigsten wissen!“, ließ der sich aber nicht beirren und sprang auf. „Das ist für dich das Beste, glaub mir!“ „Ui, Mommy und Daddy streiten sich!“, stichelte Zanthe amüsiert, während er am kleinen Tisch im Zimmer saß und seinen Faust Band 1 weiterlas. Anya schnaufte. „Dann leih du mir eben mein Deck, Flohzirkus. Etwas anderes außer viele Monster zu beschwören tun deine Sternenritter eh nicht, das kann selbst ich mir merken!“ Der Kopftuchträger legte das Buch beiseite und sah sie altklug an. „Deine Selbsteinschätzung in allen Ehren, aber diese Karten kriegt niemand in die Hände. Sie haben einen genauso persönlichen Wert wie deine Gem-Knights, wenn nicht sogar einen noch größeren. Ich hoffe, du verstehst das.“ Tat das Mädchen nicht. Stattdessen blinzelte sie verdutzt ob der für Zanthes Verhältnisse ziemlich eisigen, statt der erwarteten frechen Absage. Wenn er so verbissen reagierte, musste da wohl etwas dran sein. Also konnte sie ihn auch vergessen.   Als Nicks Gesicht über den Bildschirm flimmerte, machte Anyas Herz aus Stein einen ungewollten Hüpfer. Er, ihr Mann für alles, würde sie auch diesmal nicht im Stich lassen. Bestimmt! „Was gibt’s denn? Ich habe gleich ein Meeting“, sagte er ungewohnt nervös. „Nur eine Bitte, Harper! Ich brauch dein Deck!“ Er sah sie verständnislos an. „Anya, ich habe dir genug Geld zukommen lassen, damit du einen ganzen Kartenladen leerkaufen könntest. Kauf dir deine Gem-Knights einfach neu, dann hast du sogar dein Deck.“ Anya schüttelte aber vehement den Kopf. „Nein, das wäre nicht dasselbe. Ich brauch dein Deck. Es ist extrem stark, du hast mich damals mühelos plattgewalzt.“ „Anya, dieses Deck ist zu kompliziert für dich. Bitte, wenn du Karten brauchst, besorg' sie dir selbst.“ „Aber-!“ „Ich muss jetzt los. Wir hören uns später. Bye.“ Und ehe Anya sich versah, wurde das Skype-Gespräch beendet. Zanthe, der ihr gegenüber am Tisch saß, klappte demonstrativ vor ihrer Nase das Buch zu und zog wortlos, aber breit grinsend von dannen.   „Oh? Aber natürlich helfe ich dir!“, kam da schließlich von Abby die Erlösung. Anya streichelte überglücklich den Hörer in ihrer Hand, als sie wenig später in einer Nische der Hotellobby vor dem alten, schwarzen Münztelefon stand. „Danke. Wenigstens eine, auf die man sich verlassen kann.“ „Ich schicke meine Karten gleich mit der Post los. Aber werden sie auch rechtzeitig zum Turnierbeginn ankommen?“ Plötzlich machte Anya große Augen. „Uhm … wie lange dauert das denn?“ „Naja, also, von London nach Ephemeria City …“ Kurzum: Nein, das Paket würde es vermutlich nicht rechtzeitig schaffen.   „Mein Deck?“, fragte Melinda wenige Minuten später etwas verdutzt am anderen Ende der Leitung. „Dann hast du deines wohl nicht mehr gefunden, huh?“ „Noch nicht, aber das kommt noch. Aber da das Turnier bald beginnt, brauche ich zumindest vorübergehend Ersatz.“ Melinda lachte betreten. „Naja, ich würde dir gerne meine Performapals leihen, aber als Turnierorganisatorin gäbe es da nur Probleme.“ „Muss doch keiner wissen, dass es ausgerechnet deine sind.“ „Doch. Vater wird es sofort merken. Im Moment sind sie noch Einzelexemplare.“ Vorsichtig fragte sie: „Meinst du, dass Henry …?“ „Der ist zurzeit in Livington und kommt erst zum ersten Spiel der Hauptrunde wieder. Tut mir leid, Anya.“ Wütend zischend beendete die das Gespräch kurz darauf. Wieder zwei Personen weniger! Langsam gingen ihr die Optionen aus!   Selbst ihr eigenes Elysion suchte Anya in ihrer Verzweiflung auf. So stand sie Levrier in Form [Gem-Knight Pearls] auf dem Mosaik der Erde gegenüber und sah ihn flehend an. „Kannst du deine Heroics für eine Weile verborgen?“ „Schön, dass du endlich auf die Idee kommst, mich zu fragen, Anya Bauer“, erwiderte er eine Spur gekränkt und verschränkte die Arme. Anyas Miene hellte sich hoffnungsfroh auf. „Kannst du?“ „… nein. Außer natürlich Nick Harper erfindet einen Elysion-kompatiblen 3D-Drucker.“ Doch schon mitten im Satz war Anya in einer dichten Rauchwolke verschwunden, so schnell hatte sie ihre innere Zuflucht wieder verlassen.   Ihre Faust neben das Münztelefon gegen die Wand schlagend, stieß Anya einen unmenschlichen Wutschrei aus. „Verdammte Scheiße, das gibt’s doch nicht!“ Sich von dem Apparat abwendend, rauschte sie wie ein Sommergewitter an der Rezeption vorbei, auf den Ausgang zu. Tolle Freunde waren das!   Wo willst du hin?   Levrier erschien an ihrer Seite und folgte dem Mädchen. „Muss-zerstören! Irgendwas!“   Zu schade, dass Zed uns schon angegriffen hat. Ich bin mir sicher, du würdest ihr das Un aus dem Undying prügeln, Anya Bauer. Habe ich Recht?   „Mrgh!“ Anya nahm den Aufheiterungsversuch ihres Freundes gar nicht wahr. Gerade als die große Tür des Hotels sich öffnete und sie wütend heraus stampfen wollte, kam ihr jemand entgegen und stieß beinahe mit dem Mädchen zusammen. Das zischte aber einfach weiter, an jener in einem weißen Kleid gekleideten Person vorbei, auf deren Haupt ein gleichfarbiger Sommerhut thronte. Mit sich trug sie zwei Einkaufstüten. „Anya!“ Die Gerufene erkannte die Stimme sofort, flüchtete am Pagen vorbei in die nächstbeste Richtung, doch die junge Frau rannte der Blonden bereits hinterher. „Warte doch!“ „Halt die Klappe, Redfield! Ich will allein sein. Geh jemand anderem mit deinem Schicki-Micki-Scheiß auf die Nerven!“ Während Valerie ihr trotzdem folgte, nahm sie ihre Sonnenbrille ab. „Bist du noch sauer wegen vorhin? Hör mal-!“ Doch Anya hörte nicht mehr. Sie rannte förmlich davon, sodass Valerie es schließlich unter lautem Seufzen aufgab, ihre Freundin zu verfolgen. Levrier drehte sich zu ihr um und zuckte in einer um Entschuldigung bittenden Geste mit den Schultern. Die Schwarzhaarige seufzte. „Dabei wollte ich doch nur …“ Sie warf resignierend einen Blick in die Tüte, die voller Duel Monsters-Produkte war.   ~-~-~   Als Anya am frühen Abend in ihr Hotelzimmer zurückkehrte, durfte sie feststellen, dass Valerie an dem runden Tisch in der Ecke saß und scheinbar auf sie wartete. Von Matt und Zanthe dagegen war keine Spur zu sehen. „Na endlich!“, sprang die junge Frau ungeduldig auf. Und erschrak mitten auf ihrem Weg zu Anya, dass deren rechtes Auge geschwollen war. Als die Blonde das bemerkte, drehte sie ab, rauschte an Valerie vorbei. „Was hast du gemacht!?“, fragte die ihr hinterher. „Geht dich nichts an, Redfield! Geh nachhause!“ Anya stellte sich vor das Panoramafenster mit dem Blick auf die Stadt. Wütend funkelte sie den Wolkenkratzer gegenüber an, der wieder einmal Claires Werbung für Motorräder zeigte. „Eigentlich wollte ich mit dir zusammen ein neues Deck bauen, aber da du nicht zurückgekommen bist, habe ich die Sachen, die ich dafür eingekauft habe, wieder zurückgebracht“, stellte Valerie erbost klar. Anya schnalzte mit der Zunge. „Schön für dich …“ „Du verhältst dich verdammt undankbar, Anya! Keiner von uns kann etwas dafür, dass dir dein Deck gestohlen wurde!“ Valerie wurde lauter. „Und du kannst nicht von uns erwarten, dass wir dir unsere geben.“ Als ihre Freundin daraufhin nichts erwiderte, näherte sich Valerie ihr vorsichtig. „Hör zu. Ich bin hier, weil ich etwas mit dir unternehmen möchte. Vielleicht weißt du es bereits, aber heute findet in der Altstadt ein kleines Fest statt, um den Start des Turniers zu feiern.“ Mit abweisendem Blick drehte sich Anya zu ihr um. „Und?“ „Ich will, dass du mich begleitest“, forderte Valerie sie auf, „dort gibt es auch Stände, die Duel Monsters-Karten verkaufen. Es ist deine letzte Chance, jetzt noch ein Deck zu bekommen.“ „Nie im-!“ „Wenn du nicht mitkommen willst, schön“, unterbrach Valerie sie scharf und verschränkte die Arme, „ich zwinge dich nicht. Aber anstatt dich hier zu verkriechen und dich über deinen Verlust selbst zu bemitleiden, solltest du vorwärts blicken. Spaß haben.“ Die beiden schauten einander tief in die Augen, was in einen regelrechten Anstarr-Wettbewerb ausartete. Den Valerie schließlich gewann, als Anya sich wegdrehte. „Tch. Meinetwegen …“ „Sehr gut. Vielleicht bringt dich das auf andere Gedanken.“   ~-~-~   Als Anya zusammen mit Valerie aus dem Taxi stieg, musste sie insgeheim staunen. Vor ihr offenbarte sich eine schmale Straße. Zwischen den Häusern hingen bunte Girlanden, Lichterketten, sogar Planen mit verschiedenen Aufschriften die die Leute zum Spaß haben aufforderten. Und dutzende Leute, die sich an den kleinen Ständen erfreuten, die vor den Häusern aufgebaut waren.   Nachdem Valerie den, aus ihr völlig unverständlichen Gründen, leicht verängstigten Taxifahrer bezahlt hatte und dieser umdrehte, zeigte sie geradeaus. „Das hier ist nur der Anfang. Dort hinten gibt es noch viel mehr.“ „Hmpf!“ Zwar zog Anya mit, als ihre Erzrivalin voraus ging, doch Lust hatte sie auf dieses dämliche Fest keine. Hin und wieder sahen sie sich kurz an, was so verkauft wurde. Schmuck, Andenken, der übliche Kram halt. Sie liefen die Straße entlang mit dem Ziel, den Hauptplatz der Altstadt zu erreichen. Normalerweise war es ein riesiger Markt mit Springbrunnen, so erzählte Valerie, der sich gleich neben einer Kirche befand. Aber heute war er das Zentrum der Festivitäten. „Ich lade dich nachher auf einen kleinen Besuch bei einem der Imbisse ein“, bot die Schwarzhaarige in ihrem weißen Sommerkleid gut gelaunt an. Anya nickte nur knapp. All die Leute, die an ihnen vorbeizogen … welche von denen würden ihre Gegner sein, so ging es ihr durch den Kopf. Unterwegs kamen sie auch an ein paar Kartenhändlern vorbei. Sie alle boten neben dem regulären Zeug auch besondere Promokarten an, wenn man bei ihnen kaufte. Extra erschaffen für diesen Tag. Anya zeigte kein Interesse und lief jedes Mal stur weiter, wenn Valerie vor einem dieser Stände halt machte.   Die beiden gingen schließlich eine ganze Weile nebeneinander her, ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Mittlerweile hatte Valerie anscheinend ihr Ziel geändert, denn sie schlurften nun zusammen durch einen grünen Park, der ebenfalls bunt erstrahlte durch aufgehängten Lampions zwischen den Laternen und all den anderen Attraktionen wie Hüpfburgen für Kinder, Lotterieständen und anderen Attraktionen. Sie beobachteten die vielen verschiedenen Stände, die die Straße füllten und die Besucher, die für das Fest vor dem eigentlichen Turnierbeginn angereist waren. Es wurden zunehmend mehr. „Ob die hier Hot Dogs haben?“, wunderte sich Anya nach einer Weile, weil sie bisher keinen solchen Stand entdeckt hatte. Valerie sah zu ihr herüber. „Bestimmt. Aber bevor wir danach suchen, habe ich eine Bitte.“ Erstaunt wirbelte Anya herum. „Egal was es ist, die Antwort lautet nein.“ „Wie gut dass ich dich darum bitten wollte, unbedingt -kein- Foto mit mir hier zu machen.“ Ohne dass die Blonde ihre Zustimmung gegeben hatte, hakte sich ihre Erzrivalin vergnügt bei ihr ein und zerrte sie mit sich. „Was soll das!?“ „Wie schade, dass du nein gesagt hast“, gluckste Valerie, „nun kommen wir nicht drum herum.“ Mit sanfter Gewalt, die Anya mit einem erfolglosen Tritt nach dem Fuß der Schwarzhaarigen vergelten wollte, schleifte Letztere das Gespann zu einer kurzen Schlange, die sich vor einer Leinwand aufgebaut hatte. Dort wurden von einem Fotografen Bilder geschossen, mit dem Panorama von Ephemeria City als Hintergrund. In seiner Mitte die riesige Arena, in welcher das Turnier stattfinden würde. „Ich dachte, das wäre ein schönes Andenken für uns“, meinte Valerie. Da bemerkte sie, dass Anya den Kopf hängen ließ. „Dass du keine Lust hast ist mir klar, aber danach fragt jetzt keiner.“ „Du musst dir keine Mühe geben, Redfield …“ „Natürlich muss ich das. Wir sind Freundinnen, auch wenn dir das hin und wieder entfällt. Da ist es nur natürlich, dass ich dich aufheitern möchte.“ Valerie hielt Anya am Arm fest und stellte sich vor sie. „Ersetzen wird es dein Deck nicht. Aber das Wichtigste hast du noch nicht verloren.“ Trotzig sah die Kleinere auf. „Und das wäre!?“ „Uns! Uns alle. Mich, Matt, Zanthe, Nick, natürlich auch Marc, Abby sowieso … und selbst Levrier ist noch da.“ Plötzlich riss Anya sich von ihr los. „Ach ja!? Und wieso helft ihr mir dann nicht!? Keiner von euch will mir sein Deck leihen! Und die, die es wollen, schaffen es nicht rechtzeitig. Abgesehen davon waren zwei der Artefakte in meinem Deck und die sind jetzt weg! Ohne sie werde ich sterben!“ Irritiert von dem Ausbruch, begannen andere Leute hinter ihnen zu tuscheln.   Statt darauf einzugehen, wiederholte Valerie ihren Griff und zerrte Anya mit sich. Sie waren mittlerweile die Nächsten in der Schlange. Ehe Anya widersprechen konnte, legte Valerie an dem kleinen Kassentresen eine 5-Dollar-Note hin und nahm die Blonde mit zur Leinwand. „Seit wann bist du eine Dramaqueen, Anya?“, fragte sie dabei ernst. „Gar nicht!“ „Dann verhalte dich nicht wie eine. Wir werden dein Deck zurückbekommen, da bin ich mir absolut sicher. Nick arbeitet dran“, sagte sie und bekam einen grimmigen Unterton, „und wenn er will, kann er ziemlich … verbissen sein.“ „Schon, aber-!“ Valerie schnitt ihr ins Wort. „Und wir anderen helfen dir auch, jeder auf seine Weise. Dass es nicht immer so laufen kann, wie du es willst, musst du akzeptieren. Ohne Melinda hättest du jetzt nicht mal einen Anhaltspunkt. Wo wärst du jetzt, wenn Matt und Zanthe dir nicht dauernd beistehen würden? Hat Abbys Rat dir jemals geschadet? Will Levrier nicht immer nur dein Bestes?“ Kleinlaut gab Anya zu: „N-nein, also, ich weiß nicht …“ „Dann sag nie wieder, wir würden dich im Stich lassen.“ Mit einem Stoß ins Kreuz sorgte Valerie dafür, dass Anya gerade neben ihr stand. Dann legte sie ihren Arm um die Hüften des Mädchens und lächelte glücklich in die Kamera. „Also lächle.“ „Tch, meinetwegen …“ Es blitzte schließlich.   Die beiden warteten einen Augenblick und holten sich dann das Foto am Kassenstand ab. Natürlich war es Anya nur mäßig gelungen, ein Lächeln aufzusetzen. Ihre grimmige Art konnte eben nichts und niemand so leicht in die Schranken verweisen, auch eine strahlende und mit den Fingern ein V formende Valerie nicht. „Sieht doch gut aus“, meinte die dennoch zufrieden. „Beim nächsten Mal wird’s bestimmt noch besser.“ Anya, die ihr Bild in den Händen hielt, schnaufte. „Wenn's eins gibt …“ „Wird es“, versicherte ihr Valerie fest.   Die beiden zogen weiter, sahen sich die Stände etwas genauer an. Valerie kaufte ein Souvenir für ihren Vater und noch einigen anderen Kram für Bekannte. Davon in Versuchung geführt, überlegte auch Anya langsam, ihrer Mutter ebenfalls etwas mitzubringen. Aber was? Der Stand, vor dem sie gerade standen, verkaufte neben Postkarten, Mützen und einigen Duel Monsters-Figuren nichts wirklich Interessantes. Gerade wollte sie nach einer „Red Eyes Black Dragon“-Figurine greifen, da stieß ihr Valerie in die Seite. „Guck mal.“ „Lass das, Redfield“, fauchte Anya, folgte aber der Aufforderung. Sie drehte sich zur Seite und bemerkte, dass ein Vorankommen mittlerweile kaum noch möglich war, da lauter Leute mitten auf und um den Gehweg standen und irgendetwas beobachteten. Die Mädchen lösten sich von dem Verkaufsstand und gesellten sich zu den Leuten. „Das ist ja Marc!“, staunte Valerie nicht schlecht. „Ich hab mich schon gewundert wo er bleibt!“   Tatsächlich, ihr inoffizieller Ehemann stand mit aktivierter Duel Disk inmitten eines kleinen Platzes und schien mitten in einem Duell zu stecken. Neben ihnen befand sich ein großer Springbrunnen, der selbst um diese Uhrzeit noch hohe Fontänen aus den dutzenden Fischmäulern schoss, die gen Himmel gestreckt waren. „Wer ist sein Gegner?“, fragte Anya, die aufgrund ihrer Körpergröße Schwierigkeiten hatte, etwas zu sehen. „Ich glaube … oh! Das ist doch …!“ „Ach warte, lass mich mal!“ Ein paar Stöße, Fußtritte und Beleidigungen später hatte Anya den beiden einen Platz in der ersten Reihe verschafft. Nun sahen sie deutlich, wer sich da duellierte.   In einer blauen Sportjacke stand der schwarzhaarige Marc einem jungen, strohblonden Jungen gegenüber. Dieser, zum Erstaunen Anyas, saß im Rollstuhl und wurde von einer ebenso blonden Frau begleitet, die in einem schwarzen Kostüm steckte. Er selbst hatte Krankenhauskleidung an, mehr noch, wurde er zusätzlich mit einem Beatmungsgerät durch die Nase am Leben gehalten. An seinem Rollstuhl war eine Duel Disk befestigt, die er vor sich ausgebreitet hatte. „Wer ist das denn?“ „Othello Nikoloudis. Er hat auch eine Einladung zum Turnier erhalten“, antwortete Valerie plötzlich mit belegter Stimme. „Er war auf der Feier nicht dabei gewesen. Keiner wusste bisher, ob er wirklich teilnehmen wird.“ Anya runzelte die Stirn. „Pah, von der Intensivstation aufs Siegertreppchen, huh?“ Darauf erwiderte Valerie nichts. „Du bist dran“, meinte Marc derweil und nickte seinem Gegner freundlich zu. Vor ihm befand sich ein Monster, das Anya schon lange nicht mehr gesehen hatte – [Lavalval Ignis], seine alte Paktkarte von Isfanel. Es war ein düsterer Krieger, dessen Kopf nichts anderes als eine lodernde Flamme war. Da keine Lichtkugeln um ihn kreisten ging Anya davon aus, dass er sein Xyz-Material bereits verbraucht hatte. Zu Marcs Füßen befanden sich zudem zwei gesetzte Karten. Sein Blatt war leer.   Lavalval Ignis [ATK/1800 DEF/1400 {3} OLU: 0]   [Marc: 3500LP / Othello: 3800LP]   „Wie lange geht das Duell schon?“, fragte Valerie neugierig. „Schon eine ganze Weile. Die beiden machen es sich ziemlich schwer“, antwortete ein Zuschauer ihr beiläufig. Anya verschränkte abwartend die Arme. „Aber dein Lover ist im Vorteil.“ Damit spielte sie auf Othellos Feld an, das leer war. Dieser zog in jenem Moment auf eine fünfte Handkarte auf. Seine Begleiterin flüsterte ihm etwas ins Ohr, doch er schüttelte so vehement den Kopf, dass sein schulterlanges, glattes Haar hin und her wippte. „Hey, helfen ist unfair!“, fauchte Anya wütend.   Sie wollte ihm nicht helfen, sondern hat ihn gebeten aufzuhören.   Als Levriers Stimme in Anyas Kopf erklang, zuckte diese ungewollt zusammen, hatte sie überhaupt nicht mit ihm gerechnet. „Huh? Warum?“ Sieht so jemand aus, der um diese Uhrzeit draußen sein sollte?   Anya warf einen skeptischen Blick auf den jungen Mann. Er zeigte gerade zwei Karten vor und verkündete mit kratzender, schwacher Stimme. „Ich aktiviere zwei Pendelkarten. Den Magier, der die Sterne liest: [Stargazer Magician] mit dem Pendelbereich 1! Und den Magier, der die Zeit versteht: [Timegazer Magician] mit dem Pendelbereich 8!“ Zwei menschliche Gestalten tauchten links und rechtens neben ihm auf. Der eine Magier war ganz in Weiß gekleidet, trug einen Hut und verhüllte seinen Mund. In der Hand hielt er einen langen Stab, den er in der Mitte festhielt. An seinen Enden befanden sich kurze Auswüchse. Der rechte Magier kam dagegen komplett in Schwarz daher, trug ebenfalls einen Hut und verdeckte seinen Mund durch ein rotes Halstuch. An seinem rechten Arm befand sich ein Klingenblatt, das einmal um ihn herum führte und fast einen perfekten Kreis schloss.   <1> Othellos Pendelbereich <8>   Beide wurden von blauem Licht erfasst, das unter ihnen in die Höhe schoss und sie mit sich trug. „Moment, das kenne ich doch!“, murmelte Anya. „Der will-!“ Als die beiden Magier weit über Othello schwebten, erklärte der: „Pendulum Scale set! Pendulum Summon! Erwache, Odd-Eyes!“ Ein regelrechtes Effektfeuerwerk begann. Ein Loch bildete sich zwischen den Magiern, um welches dutzende Energieellipsen leuchteten. Aus ihm schoss ein roter Blitz, der vor Othello einschlug und die Form eines gleichfarbigen Drachen annahm. Dieser war nicht nur größer als ein Mensch, nein, er besaß auch keine Schwingen, sondern lediglich metallische Auswüchse, die jenen ähnelten. An ihnen befand sich auf jeder Seite eine Kugel. Die linke rot, die rechte grün, waren sie spiegelverkehrt zur heterochromen Augenfarbe des Monstrums.   „Odd-Eyes“ [ATK/2500 DEF/2000 (7)]   Valerie tat es Anya gleich und verschränkte die Arme, auch wenn ihre Körperhaltung viel eleganter ausfiel. „Da die Stufe im Pendelbereich liegt, war die Beschwörung rechtens. Wer hätte gedacht, dass schon jetzt jemand diese neuen Karten wirklich nutzen würde. Besonders nach der Vorstellung neulich …“ „Soll er doch. Marc macht ihn trotzdem platt!“ „Du hast Recht“, nickte die Schwarzhaarige und streckte die Faust in die Höhe, „los Marc, davon lässt du dich doch nicht beeindrucken, oder?“   Der bemerkte die beiden daraufhin und zeigte ihnen mit erhobenem Daumen, dass er guter Dinge war. Was Valerie dazu brachte, ihn noch mehr anzufeuern. Derweil verkündete Othello leise. „Odd-Eyes greift [Lavalval Ignis] an. Spiral Strike Burst!“ Augenblicklich begann der Drache in seinem Maul rote Energie aufzuladen, peitschte wild mit seinem dornigen Schweif. „Nicht so hastig, Freundchen!“ Marc schwang den Arm über eine seiner gesetzten Karten aus, die sich erhob. „Dein Drache hat heute noch nicht in den Spiegel geschaut! Sonst wäre ihm nämlich aufgefallen, dass ihm ein paar Angriffspunkte fehlen. Ich aktiviere [Mirror Wall] und-!“ Zu Marcs Erstaunen tauchte unerwartet der schwarze [Timegazer Magician] vor Othello auf. Dieser streckte sein Klingenblatt nach vorn, wodurch für einen kurzen Moment der Eindruck entstand, das Ziffernblatt einer Uhr würde in ihm aufflackern. „Du kannst keine Fallenkarten aktivieren, solange [Timegazer Magician] in meiner Pendelzone liegt und ein Pendelmonster gerade angreift“, lautete Othellos Erklärung dazu. Marc aber grinste nur neckisch, als die Falle sich postwendend wieder selbst verdeckte. „Dann liegt er dort eben nicht mehr. Ich aktiviere meine zweite verdeckte Karte, [Twister]!“ Vor dem schwarzen Magier erschien plötzlich der weiße und drehte in hoher Geschwindigkeit seinen Stab gegen den Uhrzeigersinn. Die Karten vor Marcs Füßen rührten sich keinen Millimeter. „Auch das geht nicht, denn [Stargazer Magician] verhindert unter derselben Bedingung Zauberkartenaktivierungen.“ Dementsprechend wich Marc einen Schritt zurück. „Mist, der geht dann wohl durch!“ Und das tat er. Der Drache feuerte einen roten Energiestrahl, umhüllt von schwarzen Flammen auf den von Anya getauften 'Ghostrider' [Lavalval Ignis] ab. Othello rief kehlig: „Reaction Force!“ Die Kugeln an den metallischen Auswüchsen seines Drachen begannen zu leuchten und ehe Marc sich versah, wurde der Angriff durch eine goldene Flamme verstärkt. Ignis wurde zerfetzt. Schützend hielt sich der schwarzhaarige Kinnbartträger den Arm vors Gesicht, als er anschließend zum Ziel des Angriffs wurde.   [Marc: 3500LP → 2100LP / Othello: 3800LP]   Als dieser dann auf seine Duel Disk starrte, traf ihn der Schlag. „Unmöglich! Ich habe viel zu viele Lebenspunkte durch diesen Angriff verloren!“ „Nein. Odd-Eyes fügt im Kampf mit Monstern doppelten Schaden zu.“ „Doppelten!?“, fiel Marc aus allen Wolken. Der junge Mann im Rollstuhl nickte knapp. „So ist es, das ist Reaction Force. Ich setze meine vorletzte Handkarte und beende diesen Zug.“ Jene schob er in seine vor ihm befindliche Duel Disk, welche sich vor seinen Füßen materialisierte.   Plötzlich begann er unkontrolliert zu husten, sodass seine Begleiterin ihm eindringlich zuredete. Doch mit erhobener Hand wies er ihre Einwände ab. „Es geht schon.“ „Ich will dich ja nicht zum Aufgeben animieren, aber vielleicht wäre es wirklich das Beste, wenn wir an dieser Stelle aufhören“, schlug auch Marc besorgt vor. Othello schüttelte den Kopf. Freundlich, aber mit Nachdruck antwortete er: „Danke, aber die letzten paar Züge schaffe ich auch noch.“ „Was hat er denn?“, fragte Anya derweil Valerie. Die überlegte kurz. „Ein Unfall, soweit ich mich recht entsinne. Vor einigen Jahren, aber ich kenne keine Details. Seitdem sitzt er im Rollstuhl.“ „Aha“, erwiderte die Blonde mäßig beeindruckt. „Wen juckt's, soll er froh sein, dass er noch lebt.“   Marc derweil zog seine nächste Karte und betrachtete sie überrascht. Dann sah er herüber zu den beiden Mädchen und zeigte ihnen den erhobenen Daumen. Valerie winkte strahlend zurück. Dagegen verstand Anya erst, warum er ausgerechnet sie dabei angesehen hatte, als der Schwarzhaarige die Karte auf sein D-Pad legte. „Seht alle her! Da genau fünf Feuer-Monster auf meinem Friedhof liegen, kann ich ihn beschwören: [Pyrorex The Elemental Lord]!“ Eine wahre Feuerexplosion ereignete sich hinter Marc, tauchte den gesamten Brunnenplatz in rotes Licht. Hinter ihm erhob sich eine gar furchteinflößende Kreatur, über drei Meter groß. Vom Kopf an über den Rücken hin bis zum Schweif stand der gepanzerte T-Rex in Flammen.   Pyrorex The Elemental Lord [ATK/2800 DEF/2200 (8)]   Valerie staunte nicht schlecht. „Die Karte kenne ich gar nicht! Moment! Sag bloß, die hast du ihm zu unserer Hochzeit geschenkt?“ „Ja … du hast die Wasser-Version, Abby das Erd-Pendant“, nuschelte Anya verlegen. Mussten die beiden das jetzt noch hinausposaunen? Umso schlimmer noch, als Redfield ihre Hand um Anyas Schulter legte. „Wer hätte gedacht, dass du auch eine derart großzügige Seite an dir haben kannst?“ „Klappe, Redfield!“ Während sich Anya versuchte loszureißen, begann die Zuschauermeute zu tuscheln. Grund dafür war, dass Marc plötzlich regungslos verharrte und seinen Zug nicht fortsetze. Auch Valerie fiel dies schließlich auf, nachdem Anya sie unsanft von sich geschubst hatte. „Marc? Was ist los?“, rief sie ihm zu. Der reagierte im ersten Moment gar nicht, schüttelte dann aber den Kopf und sah fragend zu ihr herüber. „Hm?“ „Dein Zug“, erinnerte sie ihn. „Oh! Ja, natürlich!“ Marc wandte sich an seinen an den Rollstuhl gebundenen Gegner. „Tut mir leid, ich war gerade mit den Gedanken woanders. Da ich Pyrorex beschworen habe, aktiviert sich jetzt sein Effekt!“ Die Bestie hinter ihm streckte ihre Klaue aus und ließ darüber einen Feuerball erscheinen. Zu diesem erklärte Marc: „Er zerstört sofort ein Monster auf dem Feld und teilt dessen Angriffspunkte auf uns als Schaden auf! Los!“ Unter einem tiefen Ausruf schleuderte Pyrorex den Feuerball auf seinen Feind, den roten, flügellosen Drachen. Im Flug wuchs die Flamme auf die Besorgnis erregende Größe eines Medizinballes an und löste bei Kontakt eine donnernde Explosion aus, die sich bis zu Marcs Spielfeldseite ausweitete.   [Marc: 2100LP → 850LP / Othello: 3800LP → 2550LP]   „Damit kann ich dich jetzt direkt angreifen!“, hallte es durch den Rauch. „Gut gespielt, Kleiner, aber das war's! Direkter Angriff, Pyrorex!“ Noch während den Zuschauern der Blick auf das Spielfeld durch den Rauch verwehrt blieb, sahen sie auf Marcs Seite etwas Rotes, Großes leuchten. Es waren die Flammen an Pyrorex' Körper, welcher über Marc hinweg sprang und die andere Seite anzielte. Mitten im Lauf machte er offenbar eine 180°-Drehung und schlug mit seinem Schweif nach Othello. In jenem Moment lichtete sich der Rauch durch den entstandenen Luftzug. Der Schweif des Dinosauriers prallte an einer blauen Energiekuppel um den jungen Mann ab, initiiert von drei Priesterinnen in ebenso blauer Robe, die leise eine Formel immer und immer wieder wiederholten. „[Waboku]“, benannte Othello die vor ihm aufrecht stehende Falle, „sie verhindert, dass ich diesen Zug über Kampfschaden erleide.“ „Da war ich dann wohl etwas zu vorlaut, was?“, grinste Marc und rieb sich verlegen den Hinterkopf. Derweil kehrte sein Monster zu ihm zurück. „Gut abgewehrt. Du bist gleich am Zug. Aber erst aktiviere ich meine verdeckte Karte [Twister]!“ Die links vor ihm liegende Karte sprang auf, offenbarte sich als Schnellzauberkarte, aus der ein Wirbelsturm geschossen kam. „Für 500 Lebenspunkte zerstöre ich eine offene Zauberkarte.“ Sofort wurden verwirrte Ausrufe aus dem Publikum laut, während der Wirbel über das Spielfeld fegte. Othello besaß gar keine offenen Zauberkarten. Doch sie wurden eines besseren belehrt, als der Sturm plötzlich in die Höhe schoss und den in der rechten Energiesäule befindlichen [Timegazer Magician] anvisierte. Der in Schwarz gekleidete Magier wurde mitgerissen, das blaue Licht um ihn herum schwand augenblicklich. „Keine Pendelbeschwörungen mehr für dich“, schloss Marc letztlich zufrieden.   [Marc: 850LP → 350LP / Othello: 2550LP]   Einige der Zuschauer gaben erstaunte Laute von sich, hatten sie nicht begriffen, dass [Timegazer Magician] in Othellos Pendelzone ebenfalls als Zauberkarte behandelt wurde.   Der junge Mann im Rollstuhl zog im Anschluss mit abwesendem Blick eine zweite Handkarte auf und betrachtete sie nachdenklich. Dann zeigte er sie vor. „Ich beschwöre den [Doomstar Magician].“ Damit legte er dessen Karte auf die Monsterkartenzone vor sich. Dementsprechend erschien vor ihm ein Magier, komplett in schwarzem Ledermantel samt dazu passender Hose und Hemd gekleidet.   Doomstar Magician [ATK/1800 DEF/300 (4)]   Jener hob auf Befehl Othellos hin den langen Zauberstab in die Höhe, welcher in einem blauen Kristall mündete. So erklärte der junge Mann: „Sein Effekt lässt mich durch das Abwerfen einer Karte von meinem Blatt ein Monster in den Pendelzonen zerstören.“ Er entledigte sich seiner letzten Handkarte, indem er sie in den Friedhofsschlitz auf der linken Seite der vor ihm liegenden Duel Disk schob. Gleichzeitig stieg von der anderen Hand des Magiers rötlicher Nebel auf, welcher vom Kristall an seinem Zauberstab absorbiert wurde. „Aber …?“ Marc sah irritiert auf. Es gab nur ein Pendelmonster auf dem Feld, den [Stargazer Magician]. Und jeder wurde schließlich auch wie ein Vogel vom Himmel geschossen, als der [Doomstar Magician] eine Lichtkugel aus der Spitze des Stabs auf ihn abfeuerte. Der weiße Hexer zersprang in tausend Stücke, die blaue Lichtsäule um ihn schwand. Othello sagte dazu: „Als Nebeneffekt darf ich eine Karte ziehen.“   Gleichzeitig dazu murrte Anya: „Pah! Zu mehr sind diese Pendeldinger echt nicht gut, huh?“ Es kam selten genug vor, aber Valerie stimmte ihrer Freundin nachdenklich zu. „Ich muss zugeben, dass sie mir neulich auch der Party auch etwas … schwach erschienen. Aber …“ Ihre Miene gewann etwas Nachdenkliches und es geschah, was geschehen musste. Sie widersprach Anya doch in gewisser Hinsicht. „Das Potential ist da. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das alles ist.“ Dafür erntete sie von Anya nur ein skeptisches Schnaufen.   Alldieweil hatte Othello wie angekündigt eine Karte gezogen und zeigte diese vor. „Sehr gut. Ich aktiviere die Zauberkarte [Pendulum Restoration].“ Sein Magier begann bläulich aufzuleuchten und stieg ebenfalls in einer Säule aus Licht auf. Anstatt aber seinen nicht existierenden Pendelbereich preiszugeben, löste er sich in weißen Funken auf. Die Zuschauer staunten lautstark. „Ich muss ein Monster opfern, um zwei 'zerstörte' Pendelmonster mit demselben Attribut zurückzuerhalten. Dafür darf ich in diesem Zug nur sie in den Pendelzonen aktivieren.“ Marc verkrampfte sich. „Moment … das heißt-!“ „Oh nein!“, stieß auch Valerie besorgt hervor. Der junge Mann im Rollstuhl zeigte, was die beiden und vermutlich ein Großteil der Anwesenden sans Anya längst erkannt hatten. Er hielt [Stargazer Magician] und [Timegazer Magician] in den Händen und legte beide auf die Zonen am äußersten Rand seiner Duel Disk aufs Feld. „Richtig … sie kehren wieder! Pendulum Scale set!“, rief Othello und anhand seiner leisen, leicht zittrigen Stimme merkte man, wie erschöpft er zu sein schien. In blauen Lichtsäulen stiegen der weiße und der schwarze Hexer in die Höhe, stellten damit die Ausgangssituation wieder her.   <1> Othellos Pendelbereich <8>   „Wo ist da der Sinn!?“, beschwerte sich Anya derweil, die all die Aufregung nicht verstand. „Er hat keine Monster mehr auf der Hand, wie will er da noch welche beschwören!?“ „Oh Anya …“, murmelte Valerie neben ihr mitleidig. „Du hast es wirklich schon vergessen, oder?“ Die Blonde blickte sie grimmig von der Seite an. „Was?“ „Hast du denn nicht darauf geachtet, -woher- er die beiden Magier genommen hat?“ „Na vom Friedhof!“ Valerie schüttelte den Kopf. „Nein … nicht von da …“   Der junge Mann im Rollstuhl streckte den Arm in die Höhe, während die Hand der Frau an seiner Seite auf seiner Schulter lag. Auch wenn sie stolz lächelte, brachten ihre ins Leere starrenden Augen doch nur Trauer zum Ausdruck. „Pendulum Summon! Kehre von meinem Extradeck zurück, Odd-Eyes!“ Großes Staunen unter den Zuschauern. Zwischen den beiden Magiern begann ein riesiges, blaues Kristallpendel zu schwingen. Über seinem Ursprung öffnete sich ein schwarzes Loch, das von aberdutzenden Energieellipsen umrandet war, die einander überlagerten. Selbst Anya stand der Mund weit offen. „Was macht der da!? Seit wann kann man etwas, das weder Fusions-, Synchro- oder Xyz-Monster ist, im Extradeck verstauen!? Geschweige denn von dort beschwören, ohne-!?“ Valerie seufzte. „Anya, du hast nicht gut aufgepasst bei dem, was Henry erklärt hatte. Pendelmonster werden ins Extradeck geschickt, wenn sie das Spielfeld verlassen. Und können von dort per Pendelbeschwörung zurückgerufen werden. Auch seine beiden Magier waren dort, bevor er sie sich zurückgeholt hat.“ Daraufhin erinnerte sich Anya daran, dass Melinda auch irgendetwas in der Art erwähnt hatte. „'kay, das ist dann wohl kacke für Marc.“ Aus dem geöffneten Loch schoss ein einzelner, roter Blitz, der vor Othello einschlug und zu dem roten Drachen wurde, an dessen hornartigen Auswüchsen auf dem Rücken die unterschiedlich gefärbten Kugeln befestigt waren.   „Odd-Eyes“ [ATK/2500 DEF/2000 (7)]   Othello hob seine Handfläche über den Spielplan vor ihm. „Spiral Strike Bur … st!“, befahl er, wobei ihm die Stimme versagte. Sein Drache lud einen roten Energiestrahl in seinem Maul auf. „Das reicht nicht, um den Badass-Dino zu besiegen!“, protestierte Anya. „Das Ding ist zu schwach!“ Der allgemeine Konsens der Zuschauer war derselbe. Sie alle sahen voller Verwunderung dabei zu, wie der Drache in seinem Maul Energie auflud. Anstatt auf ihre Einwürfe einzugehen, hielt der junge Mann mit dem dunkelblonden, schulterlangen Haar seine Hand über den Friedhofsschlitz. Eine einzelne Karte schoss daraus hervor, die er aufnahm und vorzeigte. Es gab erstaunte Ausrufe aus dem Publikum. Sich noch einmal zusammenreißend, brach Othello hervor: „Ich verbanne … [Dreamgazer Magician] … von meinem Friedhof. Erhöhe den Angriff eines pendelbeschworenen Monsters um … 500.“ Wie aus dem Nichts tauchte hinter seinem Drachen ein transparenter, weiblicher Magier auf, gekleidet in einer himmelblauen Robe, an dessen Saum in regelmäßigen Abständen weiße Bänder hingen. An seiner gleichfarbigen Haube war ein weißer Schleier angebracht, welcher seinen Mund verdeckte.   „Warte!?“, keuchte Anya und zeigte auf das Monster, während sie Valerie ansah. „Ist das nicht auch ein Pendelmonster!? Eben sagst du noch, die gehen statt auf den Friedhof ins Extradeck und nun das!?“ Valerie schlug die Hand vors Gesicht. „Anya … Das gilt nur, wenn Pendel vom Feld auf den Friedhof geschickt werden. Der ist aber durch [Doomstar Magicians] Effekt abgeworfen worden ...“   Die Traumseherin streckte derweil ihre Hände aus, zwischen denen eine Glaskugel schwebte. Auf ihr befand sich ein rot leuchtendes, quer liegendes Auge, von dem sich in alle Richtungen Schlangenlinien ausbreiteten. Gleichzeitig dazu begann auf der blauen Kugel in Odd-Eyes Stirn besagtes Auge ebenfalls zu leuchten. In dem Moment stieß dieser seine rot-schwarze Energieattacke aus und feuerte sie auf Pyrorex.   „Odd-Eyes“ [ATK/2500 → 3000 DEF/2000 (7)]   Anya breitete wütend die Arme aus. „Trotzdem wird das nicht reichen, um Marc zu besiegen!“ Valerie aber wusste es besser. Erstickt entgegnete sie: „Doch, wird es …“ Der Strahl schlug in die Brust des Flammendinosauriers ein und löste eine dunkle Explosion aus, wobei die Begleiterin Othellos erklärte: „Der Effekt von Odd-Eyes wirkt! Es wird doppelter Kampfschaden ausgeteilt, genannt Reaction Force!“ Aus der Explosion schoss eine dunkle Schockwelle, die Marc erfasste und im wahrsten Sinne des Wortes durchflutete.   [Marc: 350LP → 0LP / Othello: 2050LP]   Während die Zuschauer zu applaudieren begannen und die Hologramme sich auflösten, stand besonders Anya mit offenem Mund da. „Alter Falter, diese Pendelviecher sind ja doch zu was nütze!“ „Melinda hat eben nur die Light-Variante präsentiert. Mit genug von ihnen kannst du jede Runde eine ganze Armee beschwören.“ Valerie schien sich gefangen zu haben und klatschte ebenfalls. „Ich bin gespannt, wie sich das noch entwickeln wird.“   Zeitgleich war Marc auf den jungen Othello zugegangen und reichte ihm lächelnd die Hand. „Gut gespielt, Kleiner. Da hab' ich mich wohl etwas überschätzt.“ Wortlos nickte der Strohblonde und schüttelte sie kurz und schwächlich, ehe seine Managerin sich einmischte. „Danke, aber er sollte sich jetzt wirklich ausruhen.“ Othello senkte sein Haupt, als seine Begleiterin den Rollstuhl wendete und mit ihm abzog.   Während Marc noch ein paar Worte des Abschieds loswurde, kamen Anya und Valerie ihm entgegen. Letztere fiel ihrem Liebsten schließlich um den Hals, was Anya mit einem genervten Augenrollen quittierte. „Das war doch nicht schlecht“, lobte seine Verlobte den Schwarzhaarigen, als sie ihn losließ. „Aber wie kommst du dazu, dich ausgerechnet mit ihm zu duellieren?“ Marc strich sich über die Stirn. „Ach, das war seine Idee, er hat mich angesprochen. Konnte ihm das nicht abschlagen.“ Neckisch erwiderte Valerie: „Deswegen musst du aber nicht gleich absichtlich verlieren!“ „Habe ich nicht! … Tut mir Leid, Valval, ich habe mich echt blamiert, kann das sein?“ „Quatsch!“, schalt diese ihn harsch. „Du hast dein Bestes gegeben.“ „Wenn das mein Bestes ist, komme ich im Turnier nur nicht sehr weit, fürcht' ich. Stimmt doch, oder Anya?“ Die Blonde wirbelte zu ihnen um, da sie sich zwischenzeitlich mit den Händen in den Hosentaschen abgewandt hatte. „Huh? Nee, so überstehst du nicht mal die Vorrunden.“ Marc grinste bestätigt. „Da hast du's.“ Anders als Valerie, die ihre Freundin tadelnd ansah. „Sagt genau die Richtige. Die, die nicht mal ein Deck hat.“   Jene ließ den Kopf hängen. „Immer noch Salz in die Wunde, huh, Redfield?“ Sofort hatte sie wieder den unliebsamen Arm der Größeren um ihre Schultern liegen. Jene piekste sie dazu noch mit dem Zeigefinger in die Seite. „Kopf hoch. Deswegen bin ich doch überhaupt erst mit dir hierher gekommen, schon vergessen? Wir kaufen dir jetzt eins!“ „Will keins …“, brummte Anya. „Sollen wir uns lieber nach einem Sarg umschauen?“, wurde Valerie nun deutlicher. „Glaub mir, Anya, du willst eins. Und du brauchst eins, wenn du Claire herausfordern willst.“ Mit einem Schritt zur Seite löste Anya sich, drehte sich ihrer Erzrivalin zu. „Weiß ich selbst. Aber ich hasse es! Etwas, das ich nicht kenne …Aber ich kann nicht einfach das Deck von einem von euch nachbauen. Das wäre … falsch. Und ihr wusstet das.“ Valerie begann auf den kreisrunden Springbrunnen in der Mitte zuzulaufen. In alle vier Himmelsrichtungen gingen schmale Wege von ihm ab, die zu kleinen Marktständen führten. Damit war er sozusagen das Zentrum des Parks und des Festes. „Schön, dass du das einsiehst. Ich kann mir vorstellen, dass du kein Freund von Veränderungen bist. Aber es muss sein.“ Anya zuckte mit den Schultern, als sie und Marc ihr folgten. „Ja ja … Meinst du, ich könnte es mit Pendelviechern probieren?“ Zu dritt setzten sie sich an den Rand des Brunnens, während Valerie sich bereits mit ausgestrecktem Hals nach einem Kartenstand umsah. „Davon würde ich dir abraten. Sie sind ziemlich kompliziert und auch wenn ich nicht bezweifle, dass du das Konzept -irgendwann- verstehst, ist -irgendwann- doch ein bisschen zu spät.“ „... war das gerade eine Beleidigung?“, fragte Anya trocken. „So ähnlich“, zwinkerte Valerie ihr zu, „aber im Ernst, du brauchst doch etwas Einfaches, in dem du aufgehen kannst.“   Einfach, begann das Mädchen nachzudenken, während Valerie ihre Gedankengänge erklärte. Hieß das, sie war zu dumm für umfangreichere Strategien? Zugegeben, mit den Ritualmonstern ihrer Erzrivalin würde sie vermutlich selbst jetzt nicht klarkommen, obwohl sie sie bereits mehrfach in Aktion erlebt hat. Die Laval-Monster von Marc erschienen da auf den ersten Blick einfacher, doch wenn Anya ehrlich war, musste sie zugeben, dass das täuschte. Marc musste genau drauf achten, wann er welche Monster auf den Friedhof schickte. So rekapitulierte sie die Decks ihrer Freunde der Reihe nach und kam zu der Erkenntnis, dass tatsächlich hinter jedem mehr steckte, als die reinen Effekte vermuten ließen. Bei Matt war entscheidend, welchem seiner Xyz-Monster er Vorrang geben sollte, Nicks Deck verstand sie sowieso nicht so recht und selbst Henrys erschien ihr auf einmal viel komplizierter. Zwar bereute sie nicht, die anderen um Hilfe gebeten zu haben, aber es stimmte schon. Sie brauchte etwas Eigenes, etwas, das ihren Stärken entsprach. Wenn sie nur wüsste, welche das überhaupt waren …   „… magst du Dinos?“, fragte Marc sie nebenbei. „Wenn ja, hätte ich da eine Idee.“ „Ich glaub, das könnte zu ihr passen“, stieg Valerie in die Überlegung mit ein. In dem Moment stach Anya etwas ins Auge. Unter den vielen Leute, die an den Ständen warteten, fiel eine Person besonders auf. Und es war, als wäre dieser Moment von Gott selbst geplant gewesen, denn genau in diesem Moment drehte jene sich zu Anya um. Kleiner als die meisten anderen dort, war er es, der Zwerg. Logan. Mit einem Schaschlik-Spieß in der Hand, am Mund angesetzt. Ihre Blicke trafen aufeinander. Anya wurde eiskalt, kamen doch sofort die Erinnerungen an ihren Streit hoch. Seitdem hatten sie nichts mehr voneinander gehört. „Ich muss mal kurz wohin“, stotterte sie benommen und erhob sich. Valerie und Marc, die nebeneinander auf dem Brunnen saßen und Händchen hielten, blickten verdutzt zu ihr hoch. Letzterer fragte: „Haben wir was Falsches gesagt?“ „Wir sagen immer was Falsches“, stichelte Valerie, „aber ich glaub, ich versteh schon.“ Anya aber hörte gar nicht mehr hin, sondern steuerte bereits immer schneller werdenden Schrittes auf Logan zu, der sie beobachtete und sich nicht von der Stelle rührte. Dass Anya auf ihrem Weg ein paar Besucher aus dem Weg stoßen musste war ihr nur recht. Denn in dieser Zeit hatte sie die Gelegenheit, all ihren angestauten Frust wieder hochkochen zu lassen und, und-!   Als sie direkt vor ihm stand, der er mit seinen knapp einem Meter fünfundsechzig Körpergröße nur wenige Zentimeter größer als Anya war, blieben dem Mädchen die Worte im Halse stecken. Einzig ein klammes „Hi“ brachte sie hervor. Was natürlich ausschließlich an dem leckeren Geruch gebratenen Fleisches lag! „Hi“, erwiderte er von genauso mangelndem, diplomatischem Geschick. „Machst'n du hier?“ Als wäre nichts gewesen! Anya traute ihren Ohren kaum! Wie konnte der Zwerg es wagen, sie völlig gleichmütig, absolut nicht nachtragend, einfach zu fragen- „Sicher, dass du dich nicht verlaufen hast, Kleine? Bist'n bisschen weit weg von Zuhause.“ „Kleine!?“, überschlug Anya sich völlig. Es war nur eine Eingebung, ein Reflex, nein, ein gottgewollter Impuls, aber Anyas Fuß krachte derart fest in den Grillstand neben den beiden, dass der Holztresen vor ihnen einfach nachgeben musste. Noch während der Verkäufer das Unheil erfasste und seine Stimme zu heben begann, übertönte Anya ihn mühelos. „Alter, was läuft in deiner Liliputanerwelt nicht rund!? Erst haust du ab und stellst mich als Lügnerin hin, dann meldest du dich nicht und jetzt fragst du mich, was -ich- hier zu suchen habe!?“ „Junges Fräu-“ Anyas Genick knackte, als sie den Kopf zum Verkäufer herum ruckte und ihn mit gefährlich weit geöffneten Augen anvisierte. „Was!?“ „Sie-!“ „Ich habe jetzt keine Zeit für deinen Fraß, Spatzenhirn! Such dir jemand anderes, den du mit dem Zeug vergiften willst!“ Anya packte ganz nebenbei Logan am Arm. Dabei zog sie noch den bereits liebevoll angestauten Rotz in der Nase hoch und spuckte ihn vor den Stand. „Arrivederci, Schweinebacke!“   Ihr unfreiwilliger Begleiter wurde abrupt fortgerissen, als sie begann, ihn über den halben Marktplatz zu zerren. Dabei natürlich lauthals fluchend, schimpfend, klagend. Willenlos ließ Logan es über sich ergehen, auch wenn der Schweiß auf seiner Stirn davon zeugte, dass die erstaunten Blicke seiner Mitmenschen ihm dennoch unangenehm waren. Irgendwann blieb Anya kurz vor dem Eingangstor des Parks stehen und atmete tief durch, da ihr zwischenzeitlich sogar die Stimme weggeblieben war. So viel gezetert hatte sie schon lange nicht mehr, verdammt, sie kam wirklich aus der Übung. „Fertig?“, hakte Logan nach. Anya sah ihn über die Schulter böse funkelnd an. „Nein! Scheiße, was willst -du- hier!?“ „Was denkst du wohl? Dem Legacy Cup beiwohnen. Hab' eine Freikarte für alle Spiele geschenkt bekommen.“ Zur Demonstration zog er diese aus seiner braunen Lederjacke. Anya riss sie ihm aus der Hand, betrachtete sie kurz, ehe sie ihm postwendend unsanft gegen die Brust stieß. „Schön für dich!“ „Nachtragend wegen neulich, was?“ „Du bist einfach abgehauen!“ Er erwiderte trocken: „Und du hast den Porsche in seine Einzelteile zerlegt.“ „Was hat das damit zu tun? Nick hat das längst bezahlt, oder nicht?“, beklagte Anya sich nun in einem erstaunlich humaneren, gar verletzten Tonfall. „Ich hatte … ich hatte keine Ahnung, was ich danach machen sollte.“ „Einfach keine Lügen mehr erzählen, in Ordnung? Mach das mit Kindern, aber nicht mit Erwachsenen.“ Trotzdem reichte er ihr die Hand. „Frieden?“ Anya aber hatte bereits den Mund geöffnet, um alles andere als Worte der Versöhnung loszuwerden. Jedoch hielt Levriers Stimme in ihrem Kopf sie glücklicherweise zunächst davon ab.   Denk an das, was ich dir gesagt habe. Er ist unschuldig. Du kannst ihn nicht in deine Welt hineinziehen. Nutze lieber die Chance, die sich ohne diese Wahrheiten bietet, Anya Bauer.   Die stieß die angesammelte Luft durch ihren Mund aus. Der Typ sah sie nicht gerade lächelnd an, aber dieses leicht Grimmige war bei Logan eben Standard. Man, sie musste ja doch zugeben, seine buschigen Koteletten vermisst zu haben. Ein wenig. Unbedeutend wenig, natürlich. Aber Anya wusste darüber hinaus nicht, ob sie ihrer oder Levriers Eingebung folgen sollte. So ließ sie die Zeit verstreichen, bis Logan seine Hand wegzog. „Wie du meinst“, murmelte er in einem nicht zu deutenden Tonfall. „Es ist nur“, begann Anya wieder leicht ins Stottern zu geraten, als ihre viel höher als sonst klingende Stimme sich zu überschlagen drohte, „ich wollte cool sein.“ Ich wollte cool sein, wiederholte Anya in ihren Gedanken und hätte in diesem Moment am liebsten ihren Kopf auf eine der Steinplatten unter ihnen geschlagen. „Du bist cooler, wenn du bei der Realität bleibst“, sagte Logan, „und deine ist auch so ungewöhnlich genug. Denk nicht, dass der Typ eben das mit seinem Stand auf sich sitzen lässt.“ „Pah, soll er doch!“ Stolz reckte Anya ihre mangelhaft ausgeprägte Brust vor. „Eine Anya Bauer wird doch wohl noch mit so einem Loser fertig!“   Und wie sie da standen, voreinander auf dem Gehweg, im Licht der Laternen, fühlte Anya sich seltsam befreit. Logan hatte ihr verziehen, ohne zu ahnen, dass es nichts zu verzeihen gab. Doch Levrier hatte wohl Recht: Die Wahrheit war zu viel für ihn. Zumindest ein Teil davon, denn eins musste Anya schließlich schelmisch grinsend loswerden: „Ach ja, nur damit du's weißt, ich bin für den Legacy Cup qualifiziert.“ „Weiß ich. Hat deine Freundin mir erzählt.“ „Welche Freundin!?“, fiel Anya aus allen Wolken. „Abby hieß sie. Sie hat mich vorgestern angerufen und gebeten, ein Auge auf dich zu werfen, da sie befürchtet, du könntest in diesem ganzen Rummel etwas untergehen. Von ihr habe ich auch das Ticket.“   Die Blonde traute ihren Ohren kaum. Abby hat das alles arrangiert? Völlig unmöglich! Das hieß, natürlich war das möglich, denn Abby war genau die Sorte Mensch, die hinter ihrem Rücken solche Dinge ausheckte. Bestimmt hatte sie auch auf Logan eingeredet und ihn besänftigt. Natürlich, jetzt ergab das alles einen Sinn! Aber woher hatte Abby so ein Ticket? Und woher wusste sie überhaupt von Logan!?   „Kann echt nicht glauben, dass du dich für den Legacy Cup qualifiziert hast“, gluckste jener derweil, „wenn deine Freundin nicht so derart penetrant gewesen wäre, hätte ich das für eine weitere Spinnerei gehalten.“ Anya war aber in diesem Moment meilenweit weg. Nicht zuletzt, weil Levrier längst den Gedanken aussprach, der noch mühevoll ihren eigenen Gehirnwindungen entschwinden musste.   Abigail Masters hat sicherlich keinen Zugang zu so einer Karte. Eine solche kostet über 1.000$, wie du vor der Abreise in der „Weekly Duel“ gelesen haben dürftest, die ihr in eurem Kartenladen verkauft. … tu nicht so, ich weiß, dass du dich an ihnen vergreifst, wenn Mr. Nico Palmer dich alleine lässt.   Mal wieder hatte Anya nicht mit derart viel Input von Levrier gerechnet, besonders hinsichtlich ihrer Freizeitgestaltung auf der Arbeit. Aber er traf den Nagel auf den Kopf, denn so viel Geld hatte Abby nicht mal eben in der Tasche, auch wenn kein Zweifel bestand, dass sie es in der Not für Anya ausgeben würde. „Das ist Warenkunde!“, nuschelte Anya leise und wandte sich von Logan ab, „Irgendwo muss ich doch den ganzen Scheiß auswendig lernen, den ich verkaufe!“ Sich kurz zu ihrem Begleiter umdrehend, rief sie: „Muss mal kurz telefonieren.“ „Dann geh ich kurz noch etwas erledigen.“ Während er ebenfalls abdrehte, wirbelte Anya wieder herum.   Und wieso lernst du dann nichts dazu? Wie auch immer, worauf ich hinaus will ist, dass jemand anderes die Karte gekauft haben muss. „Jemand wie Nick“, sprudelte es aus Anya heraus. „Na logo, er kennt den Zwerg. Aber wieso, er hasst ihn doch!?“   Dich hasst er nicht. Zumal ich den Eindruck habe, als wolle er neben Zanthe Montinari und Matthew Summers noch jemanden um dich wissen, der Acht auf dich gibt. Wissend, dass Abigail Masters geschickter darin ist, Menschen zueinander zu führen, hat er ihr diese Aufgabe überlassen.   Anya sah herüber zu Logan, der derweil an den ersten Stand am Rand des Weges gegangen war und dort scheinbar etwas kaufte, während er an seinem Schaschlik-Spieß nagte. „Diese beiden …“ Manchmal frage ich mich, was du getan hast, um ihre Freundschaft zu gewinnen. Bevor du minimal erträglich wurdest.   Unerwarteterweise zuckte Anya nur mit den Schultern und gluckste. „Weiß ich auch nicht so genau.“ Schließlich entschied sie sich zu Logan zurückzukehren. Jener kam ihr mit etwas in seiner Hand entgegen, als sie zu den Ständen herüber schlendern wollte. „Hab 'ne Bitte. Sag deiner Freundin nicht, was ich dir eben erzählt habe“, meinte er, „sollte eigentlich unter uns bleiben.“ „Tch! Typisch Abby. Spielt Friedenstaube und will nicht mal Lob dafür.“ Als Anya bemerkte, dass Logan sie streng anstarrte, da damit seine Frage nicht beantwortet war, raunte sie: „Fein, meinetwegen, wenn's euch glücklich macht!““ Für einen kurzen Moment zierte ein zufriedenes Lächeln seine Lippen. Dann reichte er Anya jenes Etwas – eine Deckbox. „Für dich. Von deiner misslichen Lage hat sie mir nämlich auch erzählt.“ Völlig verdattert gaffte Anya ihr Gegenüber zunächst wortlos an, ehe sie die rote Box entgegennahm und öffnete. Dort drin war ein Deck! Und dazu noch eines, das sie bereits kannte, war doch die oberste Karte dort drinnen [Battlin' Boxer Lead Yoke]. „Das ist deins!“ Für jemand wie Anya, die sonst Besitztümer ausschließlich mit 'meins' angab, war jener überraschte Ausruf praktisch unvorstellbar. Und sie setzte sogar noch einen drauf, dass selbst Levrier sprachlos blieb. „Das kann ich nicht annehmen!“ „Du sollst es ja nicht behalten. Ich leihe es dir nur aus, solange du dein altes Deck nicht zurück hast.“ Seine Mundwinkel zuckten, während er die Blonde betrachtete. „Kommt mir vor, als hätte ich das schon mal gesagt.“ Anya senkte den Kopf und betrachtete die Deckbox in ihrer Hand. Ihre Finger drückten sich fest in das Plastikgehäuse. „… danke.“     Turn 59 – Glory Der große Tag ist gekommen. Das Turnier beginnt und die Teilnehmer finden sich in der größten der Arenen von Ephemeria City ein. Anyas Vorrunden zeigen einen unerwarteten Verlauf und darüber hinaus erwartet sie noch eine alles andere als willkommene Überraschung in Form eines Kontrahenten, mit dem sie nicht gerechnet hätte. Derweil begegnet Zanthe … Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)