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Stolen Dreams Ⅳ

von

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1. Kapitel

Sankt Petersburg war eine wunderschöne Stadt. Vor allem im Winter, wenn die Straßen mit feinem Puderschnee bedeckt und bunten Lichtern verziert waren, sah sie aus, als wäre sie einem Märchen entsprungen. Misha liebte diese Stadt und noch viel mehr liebte er es, seine Verwandtschaft in Russland zu besuchen. Er und seine Mutter kamen ursprünglich auch aus Russland, aber nachdem sie sich von Mishas Vater getrennt und einen neuen Mann kennengelernt hatte, der aus Deutschland stammte, war sie mit ihm und Misha in sein Heimatland gezogen. Ihr damals 3-jähriger Sohn war davon anfangs nicht gerade begeistert gewesen, aber mit der Zeit hatte er gelernt, dass er seine neuen Lebensumstände wohl oder übel akzeptieren musste, und mittlerweile sogar Gefallen daran gefunden, dass es zwei Plätze auf der Welt gab, die er sein Zuhause nennen konnte.

Im Kindergarten hatte Misha ein Mädchen namens Hannah kennengelernt, das zu seiner besten Freundin geworden war. Die beiden hatten die gleiche Grundschule und das gleiche Gymnasium besucht und nun saßen sie im Mathematikunterricht der gleichen Lehrerin.
 

„Hat das jetzt jeder verstanden?“, fragte Frau Kammer und deutete auf die Gleichung, die sie an die Tafel geschrieben und schon zwanzigmal erklärt hatte. Von der Klasse kam ein bejahendes Gemurmel, aber als die Lehrerin daraufhin eine Frage zu der Gleichung stellte, herrschte plötzlich Stille.

Misha seufzte genervt. Er hatte die Aufgabe schon längst verstanden und ihre Lösung lag ihm bereits auf der Zunge, aber er traute sich nicht, den Arm zu heben und sein Wissen der Klasse mitzuteilen. Allein der Gedanke, wie ihn alle anstarren würden, ließ ihn vor Angst erschauern.

„Gut, dann noch mal von vorne“, sagte Frau Kammer, ehe sie das wiederholte, was sie in dieser Stunde schon gefühlte hundert Male gesagt hatte. Die restlichen dreißig Minuten verbrachte sie mit dem Versuch, ihre Klasse ein klein wenig schlauer zu machen, doch weil niemand ihr zuhörte oder an einem Fortschritt interessiert war, scheiterte ihr Vorhaben.
 

Als Nächstes stand Biologie auf dem Stundenplan. Obwohl die Klasse sich dafür in einen anderen Raum begeben musste und von einem anderen Lehrer unterrichtet wurde, blieb die Situation dieselbe. Einer redete und niemand hörte zu.

Während der alte Sack vor der Tafel über Zellen sprach, kritzelte Misha ein paar Tiere in seinen Collegeblock und sah leicht verträumt zu Alexander, der sich unauffällig mit seinem besten Freund Felix unterhielt. Die beiden waren die beliebtesten Jungs der Klasse und bildeten ein unzertrennliches Duo, das jeder zu einem Trio machen wollte, indem er oder sie sich selbst ergänzte. Fast jedes Mädchen träumte davon, mit Alex oder Felix zusammen zu sein, und fast jeder Junge wünschte sich, mit ihnen befreundet sein. Es gab zwar auch einige Schüler, die das nicht wollten, aber die konnte man an der Hand abzählen und es war offensichtlich, dass sie die beiden nur ablehnten, weil sie neidisch waren.
 

Alexander schien zu bemerken, dass er beobachtet wurde. Seine bernsteinfarbenen Augen huschten zu Misha, der daraufhin sofort den Blick abwandte und so tat, als müsste er sich dringend Notizen zu dem Gesagten machen.

Scheiße, dachte er, als er spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Ich hasse es, wenn ich erröte. Und was soll Alex jetzt von mir denken? Dass es mir peinlich ist, wenn er mich ansieht? Oder dass ich ein Streber bin, weil ich dem Lehrer zuhöre? Oder dass--?

„Misha“, zischte Hannah leise und stupste ihn vorsichtig mit dem Ellenbogen an. „Fängst du schon wieder an, dir wegen jeder Kleinigkeit einen Kopf zu machen?“

„Woher weißt du das?“, murmelte Angesprochener ertappt.

„Ich kann es dir ansehen.“
 

Fuck, wenn sie es sehen kann, wird Alex es auch sehen können und mich für einen komischen Freak halten.

Hannah seufzte. „Misha, hör auf, so verdammt sensibel zu sein. Du solltest wirklich lernen, nicht ständig auf Empfang zu sein.“

„Ich versuch's ja. Aber das ist nicht wie bei einem Computer, bei dem man eine Einstellung ändert.“

Sie holte Luft, um etwas zu erwidern, doch genau in diesem Moment drehte sich der Lehrer zu der Klasse und bat nachdrücklich um Ruhe. So eine lockere Zurechtweisung war eigentlich nichts, dem die Schüler Folge leisten würden, aber der alte Sack war dafür bekannt, dass er in besonders lauten und ungehorsamen Klassen gerne mit Extrahausaufgaben um sich schmiss, und niemand wollte derjenige sein, der seinen Klassenkameraden unnötige Arbeit bescherte, weshalb augenblicklich Ruhe herrschte.
 

Erleichtert, dass das Gespräch mit Hannah somit beendet war, fügte Misha ein paar Tiere zu seiner Sammlung im Collegeblock hinzu, sah anschließend zur Uhr und stellte entgeistert fest, dass seit Beginn der Stunde gerade mal sieben Minuten vergangen waren.

Es fühlt sich aber wie mehrere Stunden an.

Verstohlen schaute er erneut zu Alexander, der gedankenverloren eine Spinne betrachtete, die über die Wand krabbelte. Als sie in seine Reichweite kam, ergriff er sie vorsichtig und hielt sie in die Richtung von Lena, die in der Reihe vor ihm saß.

„Guck mal, ich habe ein Pokémon gefangen.“

Angesprochene drehte sich zu ihm herum und blickte auf seine ausgestreckte Hand. Kaum hatte sie das kleine Tier als Spinne identifiziert, gab sie einen grellen Schrei von sich und sprang von ihrem Platz auf, wobei ihr Stuhl laut scheppernd umkippte.
 

„Was ist denn nun schon wieder?“, fragte der Lehrer und drehte sich zu Lena um. Während sie und Alex sich darüber stritten, wer die Schuld an der Störung des Unterrichts trug, nutzte Misha die Gelegenheit, um Alexander zu bewundern. Ihn die ganze Zeit anzustarren, wäre sicherlich auffällig gewesen, aber wenn alle Augenpaare auf ihn gerichtet waren, fiel niemanden auf, dass Alex von Misha verehrt wurde. Letzterer hätte stundenlang die schönen Augen seines Klassenkameraden betrachten können... oder seine sportliche Figur, seine weich aussehenden Haare, sein perfekt geformtes Profil, seine attraktive Frisur, sein--“

„Wie kann man nur so verdammt nervig sein?“, riss Hannah ihren Freund aus dessen Tagträumen. „Wenn ich eine Spinne sehe, schreie ich doch auch nicht gleich herum.“

„Uh-hm“, murmelte Misha zustimmend, ehe er seine braunen Augen von dem Gott in Menschengestalt abwandte und stattdessen auf seinen Collegeblock sah.
 

Er musste zugeben, dass er sich in Alexander verliebt hatte, aber er würde nicht einmal im Traum genug Mut aufbringen, um seinem Schwarm näherzukommen. Alex wusste wahrscheinlich nicht einmal von Mishas Existenz und das war auch gut so, denn Misha würde vor Nervosität tot umfallen, wenn Alex ihn ansprechen würde.

Nachdem der anstrengende Biologieunterricht überstanden war, ging Misha gemeinsam mit den anderen Jungs seiner Klasse zur Umkleide, um sich für den Sportunterricht umzuziehen. Das zu tun, kostete ihn eine Menge Überwindung, weil er Sport über alles hasste. Mathematik und Naturwissenschaften fand er leicht, aber in Sport war er eine absolute Niete.

„Ziehst du dich nicht um?“, vernahm Misha plötzlich Alex' angenehm klingende Stimme. Zuerst dachte er, dass er ihn angesprochen hatte, und kalter Angstschweiß bildete sich auf seiner Stirn, aber als er sich zu dem Größeren umdrehte, stellte er erleichtert fest, dass Alexander nicht mit ihm, sondern mit Riley geredet hatte.
 

Riley war ein vergleichsweise kleiner Junge, der aus Amerika kam, nur selten sprach und noch seltener lächelte. Meistens saß er schweigend irgendwo am Rande und wurde – genau wie Misha – von niemanden beachtet. Letzterer hatte damit kein Problem, weil er es hasste, die Aufmerksamkeit anderer Menschen zu kriegen, aber Riley sah nicht besonders glücklich aus. Misha wusste allerdings nicht, ob das an mangelnder Aufmerksamkeit oder an etwas ganz Anderem lag, und er war zu schüchtern, um nachzufragen.

„Nein“, murmelte Riley, ohne Alex dabei anzusehen. „Ich habe meine Sportzeug vergessen.“

„Davon abgesehen, dass es ''mein Sportzeug'' heißt, ist das jetzt schon das dritte Mal in Folge, dass du es vergessen hast“, erwiderte Alexander. „Sei mal ehrlich, warum drückst du dich vor Sport?“

Riley antwortete nichts, sondern schnappte sich seine Tasche und verließ die Umkleide. Alex sah ihm irritiert hinterher und schüttelte verständnislos den Kopf.
 

Der Sportunterricht fand heute draußen statt. Zuerst übte der Lehrer mit seinen Schülern das Speerwerfen, das so wie immer ablief: Misha schaffte es nicht einmal, den Speer mit der Spitze nach unten im Boden zu versenken, ein paar Jungs beschwerten sich, dass die Mädchen für die gleiche Entfernung bessere Noten bekamen, und Alex warf seinen Speer über das Maßband hinaus und traf die Büsche, die am Rand des Sportplatzes wuchsen. Die Eins war ihm sicher.

Nachdem der Lehrer sich Notizen zu der Leistung seiner Schüler gemacht und Riley ausgeschimpft hatte, weil dieser mal wieder ohne Sportzeug erschienen war, verkündete er den nächsten Programmpunkt, den Misha bereits befürchtet hatte.

Volleyball.

Oh Gott, ich hasse dieses Spiel. Volleyball gehört verboten.

Mishas Groll gegen das ansonsten sehr beliebte Spiel hing mit der Tatsache zusammen, dass er immer als Letzter gewählt wurde. Niemand wollte ihn in seinem Team haben, weil er weder hoch springen noch gut mit dem Ball umgehen konnte und generell total unsportlich war.
 

Wie der Zufall es wollte, landete Misha in Alex' Team. Er gab sich Mühe und versuchte sein Bestes, aber obwohl er den Ball sogar einige Male traf, was für seine Verhältnisse eine Meisterleistung war, kam er sich wie eine deprimierende Enttäuschung vor. Er behinderte Alex und traute sich nicht einmal, ihm ins Gesicht zu sehen, aus Angst, dass er Abneigung in diesen wundervollen bernsteinfarbenen Augen erkennen würde.

Als der Lehrer endlich mit einem Pfiff das Ende des Spieles verkündete, hätte Misha am liebsten jemanden vor Freude umarmt und sich anschließend in einer Ecke verkrochen, wo ihn niemand finden konnte. So unauffällig wie möglich zog er sich um und flüchtete dann zu Hannah, die in der Pausenhalle auf ihn wartete.

Hannah war seine beste Freundin und die einzige Person, bei der Misha richtig aufgehen konnte. Wenn er mit ihr sprach, plagten ihn weder Angst noch Scham und er fühlte sich einfach nur frei und glücklich.
 

Viele dachten, dass Misha und Hannah ein Paar wären, aber das stimmte nicht. Die beiden waren sich bloß sehr ähnlich; sie standen nicht gerne im Mittelpunkt, lehnten Partys und Menschenmassen ab und waren die ruhigen, aber schlauen Schüler, die von den vorlauten Idioten in ihrer Klasse oft als Streber bezeichnet wurden.

Misha war mit seiner Situation zufrieden, aber nicht selten wünschte er sich, etwas mehr Selbstbewusstsein zu besitzen. Dann würde er sich am Unterricht beteiligen, sich mehr trauen und auch Alexander kennenlernen können. Auch wenn viele davon ausgingen, dass Misha dumm sei, weil er sich nie meldete, wusste er, dass das nicht der Wahrheit entsprach. Er war intelligent, selbstständig und nicht weniger wert als andere Menschen, nur mit dem Selbstbewusstsein haderte es eben noch ein bisschen.
 

„Hast du deine Geschichtshausaufgaben gemacht?“, fragte Hannah, als sie sich neben ihren besten Freund in den Klassenraum setzte.

Misha nickte und beobachtete, wie die Lehrerin mit dem Unterricht begann und ihre Schüler bat, die Bücher auf Seite 52 aufzuschlagen. Die Jugendlichen taten, was von ihnen verlangt wurde, und erblickten das Gemälde von einem König in einem Gewand, das vielmehr an ein billiges Kleid als an ein elegantes Kleidungsstück erinnerte.

„Sieht der schwul aus“, kommentierte Alex das Bild, woraufhin die Klasse leise zu kichern begann. Eigentlich fand Misha Alexanders Humor lustig, aber diesmal musste er nicht lächeln.

Bin ich nicht auch schwul, weil ich mich in einen Jungen verliebt habe?

Nein, bestimmt nicht.

Alex ist eine Ausnahme; normalerweise stehe ich auf Mädchen. Ja, so ist es.
 

Wenig später sollten sich die Schüler in Gruppen einteilen, um eine Aufgabe zu bearbeiten, und Misha musste ein weiteres Mal feststellen, dass heute nicht sein Tag war. Zuerst hatte er Volleyball spielen müssen und nun kam er auch noch mit Felix und Alexander in eine Gruppe. Glücklicherweise war Hannah auch noch dabei, denn sonst wäre Misha wahrscheinlich ohnmächtig vom Stuhl gekippt.

Das Bearbeiten der Aufgabe verlief erstaunlich gut. Hannah übernahm für Misha das Reden, der vor Nervosität kein Wort zustande brachte und sich stattdessen mit Nicken oder Kopfschütteln verständigte. Während sie gemeinsam den Text im Buch lasen, konnte Misha sich kaum auf die einzelnen Sätze konzentrieren und musste sich selbst zur Ruhe zwingen, was einfacher gesagt als getan war.

Es ist so ruhig – verdächtig ruhig – gleich wird etwas Schlimmes passieren. Bestimmt fällt mir der Stift aus der Hand und dann wird Alex mich für einen tolpatschigen Idioten halten...
 

Er konnte das aufgeregte Schlagen seines Herzens am ganzen Körper spüren und fühlte, wie seine Handflächen zu schwitzen begannen. Am liebsten wäre er aus dem Raum gesprintet und ganz weit weggerannt, aber das wäre mehr als nur auffällig gewesen.

„Ihr seid ja schon ziemlich weit gekommen“, wurde Mishas Gruppe gelobt, als die Lehrerin an seinem Tisch vorbeikam. „Möchtet ihr eure Ergebnisse gleich vorstellen?“

Ihm wäre bei diesen Worten fast das Herz stehen geblieben. Er sollte vorstellen? Vor der ganzen Klasse?!

Bevor Misha sich einen Grund ausdenken konnte, warum die Lehrerin lieber eine andere Gruppe auswählen sollte, bejahte Felix die Frage und bekam von der Lehrerin eine Folie und einen Folienstift gereicht.

„Wer möchte schreiben?“, fragte er, woraufhin Misha so schnell seine Hand hob, als würde sein Leben davon abhängen. Er wusste, dass er gerade so wirkte, als wäre er stumm, aber das war ihm lieber, als irgendwelche unverständlichen Sätze zu stottern und komisch angeguckt zu werden.
 

Die Präsentation war ziemlich gut, was aber größtenteils daran lag, dass sie von Alex und Felix gehalten wurde. Misha und Hannah saßen währenddessen an ihrem Tisch und waren heilfroh, nicht vorne am Pult stehen zu müssen.

Nachdem die Präsentation gehalten und die restliche Unterrichtszeit mit Einzel- und Partnerarbeit verbracht worden war, wollte die Lehrerin die Hausaufgaben verkünden, doch Alexander ließ sie nicht einmal zu Wort kommen.

„Ihnen ist schon klar, dass die niemand machen wird, oder?“

„Echt?“, fragte sie irritiert. „Warum denn nicht?“

„Vielleicht weil wir nächste Woche in Russland sind?“

„Wirklich? Das wusste ich gar nicht...“

Alex und Felix warfen sich gegenseitig vielsagende Blicke zu, ehe ein Mädchen aus der mittleren Reihe sich schließlich dazu bereit erklärte, ihre Lehrerin über die Klassenfahrt aufzuklären.
 

Nach dem Geschichtsunterricht mussten die Schüler nur noch eine Stunde Physik hinter sich bringen. Diese fing schon super an, denn der Lehrer teilte den Test aus, der letzte Woche geschrieben worden war.

„Hätten Sie uns den nicht nach der Klassenfahrt zurückgeben können?“, beschwerte sich Lena und schaute abwertend auf das Blatt Papier, das sie sofort in ihrem Collegeblock verschwinden ließ.

„Nein“, antwortete der Lehrer. „Ich wollte euch ein kleines Andenken mitgeben.“

Als er bei Mishas Tisch vorbeikam, überreichte er ihm seinen Test, welcher der beste der ganzen Klasse war, und sagte: „Ich möchte nach dem Unterricht kurz mit dir sprechen.“
 

Alle anderen Schüler waren augenblicklich still und sahen zu Misha, dem das Herz in die Hose rutschte. Er wollte seinen Test so schnell wie möglich in seiner Tasche verschwinden lassen, aber da hatte Sven bereits einen Blick auf die Note geworfen.

„Du hast eine Eins?“, fragte er erstaunt.

„Nein, ich tu nur so“, erwiderte Misha viel schnippischer, als es eigentlich hatte klingen sollen. Er wollte doch nur seine Ruhe haben und von niemanden angesprochen werden...

„Aber wenn du den Stoff kannst, warum meldest du dich dann nie?“, hakte Sven nach. „Oder hast du bei jemanden abgeschrieben?“

„N-nein, ich--“

„Ruhe!“, mischte sich der Lehrer ein, wofür Misha ihm unglaublich dankbar war. „Holt eure Unterlagen hinaus und packt den Test weg oder wir schreiben hier und jetzt den nächsten!“

2. Kapitel

„Sie wollten mich sprechen?“, fragte Misha schüchtern, nachdem alle anderen Schüler den Klassenraum verlassen hatten.

„Ja“, antwortete der Lehrer. „Es geht um deine Noten. In Physik werden keine Klassenarbeiten geschrieben, was für dich ein großer Nachteil ist, weil du mündlich irgendwo zwischen Fünf und Sechs herumeierst und in jedem Test eine Eins schreibst. Als ich deinen ersten Test korrigiert habe, musste ich immer wieder auf den Namen schauen, um sicherzugehen, dass wirklich du diesen Test geschrieben hast.“

„...“

„Das kann so nicht weitergehen, Misha. Mit diesem Mangel an mündlicher Beteiligung ruinierst du dir die Note.“

„Ich weiß.“

„Warum meldest du dich nicht einfach?“

Misha seufzte. Er hatte diese Frage schon so oft gehört, dass er bereits vor langer Zeit mit dem Zählen aufgehört hatte.
 

„Weil ich es nicht kann“, antwortete er. „Ich kann nicht reden, wenn ich dabei angesehen werde.“

„Aber es ist doch normal, wenn man ein wenig schüchtern ist. Du musst deine Angst bloß überwinden.“

Misha hätte am liebsten den Kopf geschüttelt. Das, was er wahrnahm, war keine Angst und auch keine Nervosität, sondern blanke Panik. Augenkontakt fühlte sich für ihn so an, als würde man mit einer geladenen Waffe auf ihn zielen oder ihn nackt auf eine Bühne stellen. Er wusste, dass das nur in seinem Kopf stattfand und dass er sich in seine Angst hineinsteigerte, aber das änderte nichts an dem Gefühl.

„Okay. Ich werde versuchen, mich mehr zu melden“, sprach er die Sätze aus, die er jedes Mal benutzte, wenn jemand von ihm verlangte, sich aktiver am Unterricht zu beteiligen. Er ließ es so glaubwürdig wie möglich klingen und schaffte es schließlich, seinen Lehrer zu überzeugen.

„Gut. Das wäre dann auch alles, was ich mit dir zu besprechen hatte. Schönes Wochenende und viel Spaß auf der Klassenfahrt.“

„Danke.“
 

»Und? Was wollte der Alte von dir?«

Betrübt schaute Misha auf die Textnachricht, die er von Hannah erhalten hatte. Hannah fuhr mit dem Bus zur Schule, weshalb sie leider nicht auf Misha hatte warten können.

»Das Übliche«, schrieb er zurück. »Ich soll mich mehr melden und so.«

»Verstehe.«

Deprimiert seufzend legte Misha das Handy zur Seite und machte es sich auf seinem Bett gemütlich. Hier, in seinem eigenen Zimmer, fühlte er sich sicher und geborgen. Die Wände waren für ihn wie riesige Mauern, die ihn vor Fremden und deren neugierigen Blicken schützen.

Manchmal frage ich mich wirklich, wo diese Angst vor anderen Menschen herkommt, dachte er. Ich habe keinen Grund, solche Panik zu haben, und in meinem Leben ist auch nichts passiert, das irgendwie ein Trauma oder Ähnliches ausgelöst haben könnte.
 

Misha beschloss, sich abzulenken, indem er den Fernseher anschaltete, was sich jedoch als schlechte Idee herausstellte, weil das Programm nur Müll im Angebot hatte. Dokumentationen, die das, was man innerhalb einer Viertelstunde lernen könnte, in einen zwei Stunden langen Film verpackten, Spielfilme, nach denen kein Hahn mehr krähte, Nachrichten voller Propaganda, Talkshows, in denen sich unwichtige Menschen über Filmstars das Maul zerrissen, und Werbung, die versprach, dass alle Sorgen sich in Luft auslösen würden, wenn man doch nur ihr dummes Produkt kaufte... Misha konnte fast schon spüren, wie seine Gehirnzellen abstarben. Er schaltete den Ton ab, damit er das sinnfreie Gelaber der Waschmittel-Tante nicht länger ertragen musste, und ging zu dem Regal, in dem er seine Lieblingsfilme aufbewahrte. Seine Sammlung bestand größtenteils aus fremdsprachigen Filmen, weil er Sprachen unglaublich interessant fand. Japanisch hatte es ihm besonders angetan; es besaß so einen angenehmen Klang und irgendwie niedlich aussehende Schriftzeichen.
 

Misha war gerade in der dritten Folge eines Anime vertieft, den er bestimmt schon zwanzigmal gesehen hatte, als seine Mutter das Zimmer betrat und einen großen Haufen frisch gewaschener Wäsche auf sein Bett schmiss. Sie warf einen flüchtigen Blick auf den Bildschirm, realisierte, dass die Untertitel fehlten, und schaute dann verwundert zu ihrem Sohn, der sie gar nicht bemerkt hatte.

„Verstehst du, was die da sagen?“, fragte sie, woraufhin Misha den Kopf in ihre Richtung drehte.

„Nicht alles, aber das meiste“, antwortete er und erhoffte sich ein kleines Lob oder zumindest einen erstaunten Gesichtsausdruck, doch alles, was er von ihr bekam, war ein stummes Nicken. Kaum hatte sie das Zimmer verlassen, gab er ein enttäuschtes Seufzen von sich und begann, die Wäsche in seinen Schrank zu räumen.

Manchmal wünschte sich Misha, dass seine Eltern ihm mehr Aufmerksamkeit schenken würden, aber er konnte es ihnen nicht übel nehmen, dass sie ihn weniger als seinen kleinen Bruder Jan beachteten, weil Letzterer unter Autismus litt und sein Umgang deswegen nicht immer einfach war.
 

Jan hatte eine tägliche Routine und wenn diese nicht eingehalten wurde, war mit Wutanfällen, Sturheit und seltsamem Verhalten zu rechnen, das Außenstehende nicht nachvollziehen konnten. Misha liebte seinen Bruder und wusste, dass er nichts für seine Krankheit konnte, aber von Zeit zur Zeit fand er es schon unfair, dass sein Bruder ständig eine Sonderbehandlung bekam und sich die ganze Welt nur um ihn zu drehen schien.

Vor allem dass Mom meinen letzten Geburtstag vergessen hat, war alles andere als schön...

Misha schaltete den Fernseher aus und ging ins Esszimmer, wo er den Tisch deckte und gelegentlich zu Jan sah, der einige Bauklötze aufeinander stapelte, nur um sie anschließend wieder abzubauen und erneut zusammenzulegen. Eine sinnvolle Handlung war darin nicht zu erkennen, aber Jan schien es zu gefallen, was man ihm allerdings nicht anmerken konnte, weil er nur selten lächelte.
 

Ratlos seufzend stellte Misha einige Getränke auf den Tisch, als sich plötzlich eines seiner schlimmsten Feinde zu Wort meldete.

Das Telefon.

Wie ein ehemaliger Soldat, der unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung litt und soeben ein Geräusch vernommen hatte, dass ihn an den Krieg erinnerte, sprang Misha vom Stuhl auf und starrte voller Angst auf das klingelnde Ding, das nicht nur ihm, sondern auch Jan Unbehagen bereitete. Der Kleine deutete auf das Telefon, murmelte etwas Unverständliches und machte eine Geste, die Misha nicht verstehen konnte.

Scheiße, wer könnte das sein?, fragte sich der 16-Jähirge und ging zögernd auf das Telefon zu. Was soll ich sagen? Und was soll ich tun, wenn--?

Misha schüttelte den Kopf, als könnte er dadurch seine Sorgen loswerden, ehe er nach dem nervigen Ding griff, es so weit wie möglich von sich weghielt und zu seiner Mutter trug, die am Herd stand und das Mittagessen kochte.
 

„Mom, das Telefon klingelt“, sagte er und ignorierte den verständnislosen Blick, den er dafür bekam. Ihm war klar, dass er gerade ziemlich bescheuert wirken musste, aber das war ihm lieber, als mit dem Anrufer reden zu müssen.

„Na und? Worauf wartest du noch? Geh doch einfach ran.“

„Aber--“

„Misha, ich kann jetzt nicht“, erwiderte sie leicht gestresst, woraufhin Misha bewusst wurde, dass es keinen Sinn hatte. Er wandte sich von ihr ab, hielt sich den kabellosen Hörer, der ihm wie eine tickende Zeitbombe vorkam, ans Ohr und drückte den grünen Kopf.

„Ähm... h-hallo?“

„Hi, ich bin's.“ Gott sei Dank, es ist bloß Dad. „Ich wollte nur sagen, dass ich heute ein bisschen später nach Hause komme.“

„Okay.“
 

Nachdem Misha ein wenig Smalltalk mit seinem Stiefvater geführt und danach aufgelegt hatte, brachte er das Telefon zurück an seinen rechtmäßigen Platz und setzte sich an den Tisch. Seine Mutter stellte die Pfanne auf den Topfuntersetzer und ging zu Jan, um ihn zum Esstisch zu bringen, doch der Junge wollte nicht, weil es anscheinend irgendetwas gab, das ihn störte.

„Fang schon mal ohne mich an“, sagte sie zu ihrem älteren Sohn, ehe sie sich um den jüngeren kümmerte.

Misha seufzte betrübt. Das war nicht das erste Mal, dass er eine Tätigkeit, die man eigentlich als Familie machte, alleine durchführen musste, aber er wusste, dass es nichts bringen würde, sich darüber zu beschweren. Jan war halt nicht normal und niemand trug die Schuld daran.

Den Rest des Wochenendes nutzte Misha, um seine Sachen zu packen, ein paar neue italienische Wörter zu lernen und mit Hannah zu schreiben, die anscheinend die einzige Person war, die für Mishas Angst Verständnis zeigte. Er hatte bereits versucht, mit seinen Eltern darüber zu reden, aber sie hatten ihn abgewiesen und gesagt, dass es normal wäre, manchmal ein wenig nervös zu sein.

Die haben doch gar keine Ahnung...
 

Am Montagmorgen war Misha so aufgeregt, dass er beinahe seine Tasche vergaß. Nach ein paar Komplikationen schaffte er es aber doch, alles Nötige mitzunehmen und rechtzeitig an der Bushaltestelle aufzutauchen, an der er sich mit Hannah treffen wollte. Gemeinsam fuhren sie zu dem Treffpunkt der Klasse, wo allerdings erst die Lehrerin und eine handvoll Schüler standen.

Nachdem die restlichen Schüler eingetroffen und in den Bus gestiegen waren, fuhr die Klasse nach Polen, wo sie übernachtete, um am nächsten Tag Litauen und Lettland zu durchqueren und anschließend in Sankt Petersburg anzukommen. Auf engsten Raum mit einem Haufen Menschen eingesperrt zu sein, zu denen er lieber Abstand halten würde, war die reinste Qual für Misha, aber wenigstens hatte er Hannah bei sich, an die er sich klammerte, als wäre sie seine siamesische Zwillingsschwester.

Den ersten richtigen Tag der Klassenfahrt wurde in einem langweiligen Museum verbracht. Als die Klasse gegen Mittag endlich das stickige und mit alten Bildern ausgestellte Gebäude verlassen durfte, eilten die Schüler zum Bus, der sie zur nächsten Station bringen sollte.
 

Während Hannah in ihr Handy vertieft war und mit ihrer Mutter Nachrichten austauschte, schaute Misha geistesabwesend aus dem Fenster und fragte sich, ob er wohl zufälligerweise auf seinen leiblichen Vater treffen würde. Dieser wohnte nämlich auch in Sankt Petersburg, allerdings nicht im Touristenviertel.

Seine braune Augen wanderten zu den Vögeln, die über den hellgrauen Himmel flogen. Misha hatte schon oft darüber nachgedacht, wie es wohl wäre, wenn er all seine Sorgen hinter sich lassen, vom Boden abheben und einfach davonfliegen könnte. Vögel mussten sich nicht am Unterricht beteiligen oder auf ihren autistischen Bruder Rücksicht nehmen, sondern konnten den ganzen Tag lang das tun, worauf sie Lust hatten, und einen Ort, der ihnen nicht gefiel, verlassen und zum nächsten fliegen.

Sobald ich 18 und mit der Schule fertig bin, werde ich von zu Hause ausziehen und mir genau wie diese Vögel einen Ort suchen, an dem ich mich wohl fühle.
 

Der Bus war mittlerweile auf einem Platz angekommen, auf dem ein großes Gebäude stand. Misha vermutete, dass es eine Lagerhalle war, womit er richtig lag, wie er wenige Augenblicke später feststellte. Zuerst dachte er, dass Frau Kammer sich eine komische Sehenswürdigkeit ausgesucht hatte, aber als sein Blick zu der Lehrerin huschte, bemerkte er, dass auch sie irritiert war.

Irgendetwas ist hier faul.

Plötzlich gingen die Lichter an der hohen Decke der Lagerhalle an und erleuchteten sie bis in den letzten Winkel. Erst jetzt waren die dunkel gekleideten Männer sichtbar, die den Bus umzingelt hatten und bewaffnet waren.

Scheiße. Das ist gar nicht gut.

Misha holte sein Handy hervor, um die Polizei zu rufen, doch bevor er das tun konnte, erhob sich der Busfahrer, der anscheinend auch zu den Männern gehörte, von seinem Platz, und holte seine Waffe hervor, mit der er drohend auf die Schüler zielte.
 

„Alle raus hier“, befahl er. „Hände hinter den Kopf. Gehorcht oder ich mach' euch kalt.“

Die Schüler taten, was von ihnen verlangt wurde, und verließen nacheinander den Bus. Die Männern nahmen ihnen die Handys ab und legten ihnen Handschellen an, ehe sie sie in kleine Gruppen aufteilten, die aus vier bis fünf Schüler bestanden.

Misha hatte noch nie in seinem Leben so viel Angst gehabt. Diese Situation war sogar noch schlimmer als sein Vortrag über Flüsse in Deutschland gewesen, den er zusammen mit Hannah in Erdkunde hatte halten müssen.

Hannah...

Er sah zu ihr und erkannte, dass sie zitterte. Ihr Gesicht war kreidebleich und sie schaute sich nervös um, als würde sie erwarten, jeden Moment von irgendetwas angefallen zu werden.

„Scheiße... was haben die mit uns vor?“

Ihre Stimme war kaum mehr als ein leises Flüstern.

„Ich weiß es nicht“, gestand Misha.
 

Gemeinsam mit zwei Mädchen, mit denen Misha so gut wie noch nie etwas zu tun gehabt hatte, wurden die beiden in einen der Kleintransporter gescheucht und einige Zeit durch die Gegend gefahren. Schließlich kamen sie im Untergeschoss eines Gebäudes an, wurden durch einige Gänge geführt und zu zwei Zimmer gebracht. Die beiden Mädchen kamen in das eine, Misha und Hannah in das andere.

Endlich wurden sie alleine gelassen, aber Hannah sah nicht so aus, als würde es ihr besser gehen. Ihr blasses Gesicht hatte jegliche Farbe verloren und sie erweckte den Eindruck, sich jeden Moment übergeben zu müssen. Am liebsten hätte Misha sie vorsichtig in den Arm genommen, aber die Handschellen machten dieses Vorhaben unmöglich. Schüchtern sah er sich um und stellte fest, dass es in diesem fensterlosen Raum nichts gab außer einer Lampe an der Decke, die ab und zu flackerte.

Plötzlich begann Hannah zu weinen.

„Ich will nach Hause“, schluchzte sie und Misha hätte ihr nur allzu gerne geholfen.

„Wenn die Männer wiederkommen, werde ich versuchen, mit ihnen zu sprechen“, sagte Misha. „Ich weiß noch nicht genau, was ich tun soll, aber wir werden bestimmt wieder nach Hause kommen. Das verspreche ich dir.“

3. Kapitel

„Andrej, hast du von der neuen Ware gehört?“

„Nein. Mein letzter Besuch liegt fast ein Jahr zurück. Außerdem habe ich Wichtigeres zu tun als zu überprüfen, was gerade so im Angebot ist.“

„Dann lass es mich dir erzählen. Vor wenigen Stunden wurde eine ganze Schulklasse hierher transportiert. Deutsch, jung, unverbraucht – nur das Beste vom Besten halt.“

„Eine ganze Klasse? So etwas muss doch risikoreich sein.“

„Ist es auch, aber wenn man genug Macht und das nötige Kleingeld hat, die Medien zum Schweigen zu bringen, lässt sich das machen. Allerdings ist so eine Schulklasse eher selten; es kommt höchstens einmal im Jahr vor, dass man sich einen ganzen Bus voller Schüler schnappt, anstatt einzelne herauszupicken... aber so kann man wenigstens sichergehen, dass man größtenteils Jungfrauen erwischt und nicht irgendwelche dreckigen Straßenkinder, die schon unzählige Male benutzt wurden.“
 

Viktor warf einen Blick auf seine goldene Armbanduhr.

„Es ist gleich so weit. Wollen wir gehen?“, fragte er.

Andrej nickte und setzte sich gemeinsam mit seinem blonden Freund in Bewegung. Die beiden gingen durch einen langen Flur, ehe sie eine große Halle erreichten, in der sich viele Stühle für die Zuschauer und eine große Bühne befanden. Letztere wurde hinter einem dunkelroten Vorhang verborgen, der jeden Moment nach oben gezogen werden würde, um die ''Ware'' zu zeigen.

Viktor musste schmunzeln. War es moralisch verwerflich, Menschen aus Ware zu bezeichnen? Wahrscheinlich schon. Interessierte ihn das? Nicht im Geringsten.

Wenige Minuten nachdem er und Andrej auf zwei Stühlen in einer der hinteren Reihen Platz genommen hatten, betrat ein Mann die Bühne und rasselte die Einleitung für die kommende Auktion herunter. Kurz daraufhin wurden die schweren Vorhänge nach oben gezogen und die Jugendlichen gezeigt.
 

Neugierig ließ Viktor seine grünen Augen über die ''Ware'' schweifen. Von links nach rechts betrachtete er jeden Sklaven kurz, doch leider musste er feststellen, dass keiner von ihnen sein Interesse weckte. Falsches Geschlecht, zu jung, zu alt, einfach nicht ansprechend – es war nichts Passendes dabei. Ein Sexsklave war nichts, das man sich nach langem Überlegen kaufte; man musste schon beim ersten Anblick wie gefesselt von dem Sklaven sein, sonst war damit zu rechnen, dass man nach dem Kauf Gefallen an der Errungenschaft verlor.

Viktor wollte Andrej gerade sagen, dass diese Auktion für die Katz sei, als er bemerkte, dass die eisblauen Augen seines Freundes auf eine bestimmte Person gerichtet waren. Viktor folgte seinem Blick und blieb bei einem Jungen mit hellbraunen Haaren und goldbraunen Augen hängen. Der Kleine war wirklich sehr hübsch, das musste Viktor zugeben, aber wegen seinem Äußeren würden viele für ihn bieten und Viktor hatte keine Lust, ungewöhnlich viel Geld auszugeben, nur um am Ende festzustellen, dass jener Sklave doch nicht der richtige war.
 

Das Erste, was er tat, nachdem der Zuchtmeister endlich seine langweilige Rede beendet hatte, war, zu einem der Tische zu gehen und sich am Sekt zu bedienen. Er nahm ein zweites Glas, um es Andrej zu bringen, doch dieser saß nicht mehr auf seinen Platz, sondern steuerte geradewegs auf die Bühne zu.

Okay, das kam jetzt unerwartet. Ich habe ja gewusst, dass er eine Schwäche für rebellische Knaben besitzt, die sich nichts gefallen lassen, aber trotzdem hätte ich nicht damit gerechnet, dass... ach, was soll's.

Viktor folgte seinem Freund und gesellte sich zu ihm.

„Da bist du ja“, sagte er und drückte ihm das Glas in die Hand. „Ich hätte nicht gedacht, dass du dir auch mal einen Sklaven zulegst, Andrej.“

Angesprochener zuckte bloß mit den breiten Schultern und nippte an seinem Glas.

„Ich habe bis jetzt nichts Passendes gefunden. Aber vielleicht taugt der hier was.“
 

Nachdem die Auktion zu Ende war, wollte Viktor eigentlich nach Hause gehen, doch in einem der Korridore traf er auf ein bekanntes Gesicht.

„Marius“, begrüßte er den Italiener, den er überall wiedererkennen würde. Marius war schon über fünfzig Jahre alt, hatte braune Augen und schwarze Haare, die so fettig waren, dass man denken könnte, er würde Angst vor Shampoo haben.

„Viktor“, erwiderte er grinsend, wobei seine weißen Zähne zum Vorschein kamen. „Was machst du hier?“

„Nichts Besonderes; war mit 'nem Freund hier. Und du?“

„Nun, wie du vielleicht weißt, kehre ich morgen nach Italien zurück. Ich wollt' mir ein kleines Andenken mitnehmen, um ihn eventuell 'nem Verwandten zu schenken, aber irgendwie... werde ich nicht fündig. Ich brauche einen Knaben, welcher der italienischen Sprache mächtig ist.“
 

„Verstehe... nun, glücklicherweise bin ich mit dem Besitzer dieses Clubs befreundet; ich werde sehen, was sich machen lässt.“

Wie ein kleines Kind grinsend, dem man eine große Torte versprochen hatte, folgte Marius dem Russen, der zielstrebig zu einem Büro marschierte. Viktor begrüßte seinen Freund, lenkte das Gespräch nach einigen Floskeln auf Marius' Anfrage und bekam eine zufriedenstellende Antwort.

„Tatsächlich ist mir zu Ohren gekommen, dass sich unter den entführten Schülern zwei Stück mit guten Fremdsprachenkenntnissen befinden“, antwortete der Besitzer des Clubs, der ein unansehnlicher und fetter Mann war, den niemand anfassen, aber jeder als sein Geschäftspartner haben wollten. „Wir haben die beiden Jungs von den anderen getrennt und sie in einen separaten Raum befördert. Eigentlich wollte ich sie erst in ein paar Tagen verkaufen, aber es ist gut, dass du jemanden gefunden hast, der besonderes Interesse an ihnen – oder vielleicht auch nur einen von ihnen – besitzt.“
 

Kurz daraufhin wurden Marius und Viktor zu jenem Raum geführt. Hinter der abgeschlossenen Tür, die nun geöffnet wurde, waren zwei Jugendliche verborgen, welche die Erwachsenen unsicher ansahen und sich zuvor leise flüsternd miteinander unterhalten hatten.

Der eine hatte einen sportlichen und durchschnittlich großen Körper, braune Haare und große blaue Augen, die Viktor nicht sehr ansprechend fand. Er war mehr der Fan von dunklen Augen, weil sie meistens warm und sanft wirkten.

Der andere Junge schien eher unscheinbar und unauffällig zu sein. Mal davon abgesehen, dass er einen hageren und unsportlich wirkenden Körper besaß, sah er wie der Durchschnitt vom Durchschnitt aus: Er war nicht so hübsch, dass man sich nach ihm umdrehen würde, aber auch nicht so hässlich, dass man bei seinem Anblick angewidert die Nase rümpfen müsste. Seine Augen waren langweilig braun – nicht haselnussbraun, strahlend hellbraun, mysteriös dunkelbraun oder rehbraun, sondern einfach nur braun – und seine kurzen Haare hatten die gleiche Farbe.
 

Obwohl der Junge so ungewöhnlich und uninteressant war, dass Viktor ihn beinahe übersehen hätte, spürte der Russe, dass der Knabe eine gewisse Neugierige in ihm weckte. Zögernd ging er auf ihn zu und wollte gerade sein Kinn anheben, um ihn sich besser ansehen zu können, als der Mann, der sie zu den Raum geführt hatte, warnend räusperte.

„Sorry“, murmelte Viktor und ging einige Schritte zurück. Er hatte ganz vergessen, dass er die Ware nicht anfassen durfte.

Darüber nachdenkend, was an dem Jungen so interessant war, drehte er sich zu Marius um und erkannte, dass dieser anscheinend Gefallen an dem Schüler mit den blauen Augen gefunden hatte, von denen Viktor so abgeneigt war.

„Kannst du Italienisch sprechen?“, fragte er ihn.

Der Junge nickte schüchtern und schob ein kleines „Sì“ hinterher.

„Sehr schön!“ Marius klatsche begeistert in die Hände und bedankte sich bei Viktor, der sich verabschiedete und beschloss, nach Andrej zu suchen.
 

Als er ihn fand, war Andrej gerade damit beschäftigt, seine neuste Errungenschaft – er hatte sich den hübschen Sklaven tatsächlich gekauft – zu rügen. Als er seinen Freund erblickte, ließ er den Jungen jedoch links liegen, um seine Aufmerksamkeit auf Viktor lenken zu können.

„Er sieht ziemlich mitgenommen aus“, sagte der Blonde und deutete auf den Sklaven. „Fast schon traumatisiert.“

„Ja, das glaube ich auch“, erwiderte Andrej gelassen.

„Dann... Hättest du nichts dagegen, wenn ich ihn mir kurz ausleihe?“

„Doch, das hätte ich. Es sei denn, Sascha möchte noch einmal erfahren, was passiert, wenn man meine Befehle missachtet.“

„Nein“, wimmerte Sascha eingeschüchtert.

„Na, dann hätten wir das ja geklärt“, sagte Andrej und tätschelte dem Jungen den Kopf, was ihm überhaupt nicht zu gefallen schien. Sascha sah wütend und ängstlich zugleich aus, doch seine Angst war anscheinend stärker als seine Wut, weil er sich sonst gewehrt hätte.
 

Viktor ließ sich auf einem freien Sessel nieder, da er keine Lust hatte, sich die Beine in den Bauch zu stehen. Während er sich ein wenig mit Andrej unterhielt, betrachtete er dessen Sklaven neugierig und fragte sich, wie er sein Spielzeug behandeln würde, wenn er denn eins hätte.

Eigentlich gibt es nur zwei Wege: Entweder man geht rücksichtsvoll mit der anderen Person um und hofft, dass sie sich irgendwann zu sexuellen Handlungen breit erklärt, oder man setzt seinen eigenen Willen durch und muss damit rechnen, dass der Sklave sich früher oder später das Leben nimmt.

Ich für meinen Teil finde beide Möglichkeiten gleichermaßen abstoßend. Warum gibt es keinen Mittelweg?

Und dann kam ihm eine Idee, die ihn zu dem unscheinbaren Jungen zurückführte.

Ich könnte nach diesem Mittelweg suchen. Einen Sklaven, der mich interessiert, gibt es ja schon, und dass er über gute Fremdsprachenkenntnisse verfügt, macht ihn sogar noch besser.
 

Misha hatte Angst. Er war von Hannah getrennt und gemeinsam mit Fabian in einen anderen Raum gebracht worden, der ebenfalls keine Fenster oder Möbel besaß. Nach einiger Zeit waren zwei Männer gekommen; der eine hatte die Jugendlichen begafft und der andere hatte Fabian mitgenommen. Misha hatte verstanden, was die beiden Erwachsenen gesagt hatten, doch er war vor Furcht nicht in der Lage gewesen, auch nur den leisesten Mucks von sich zu geben.

Und nun war er schon wieder alleine. Fabian befand sich allem Anschein nach in den Händen des Mannes mit den ungewöhnlich fettigen Haaren und Misha hatte keinen blassen Schimmer, was er jetzt tun sollte. Ihm waren wortwörtlich die Hände gebunden und dieses Gefühl von Machtlosigkeit ärgerte ihn.

Er fragte sich, was Hannah gerade machte. War sie schon verkauft worden? Oder wartete sie in einem der Räume auf Misha und hoffte, dass er sich beeilen würde, um sie beide zu befreien?

Ich kann hier nicht so tatenlos herumsitzen.

Wie sich herausstellte, konnte Misha das sehr wohl. Er hatte sogar gar keine andere Wahl, was seine Laune nicht im Geringsten besserte.
 

Plötzlich wurde die Tür erneut geöffnet und der blonde Mann, den Misha schon vorhin gesehen hatte, trat ein. Er kam auf den Jungen zu, betrachtete ihn nachdenklich und nickte dann entschlossen.

Bevor Misha darüber nachdenken konnte, was diese Geste bedeuten könnte und an wen sie gerichtet war, wurde ihm ein feuchtes Tuch auf Mund und Nase gepresst. Er verlor das Bewusstsein, ehe er es eine unbekannte Anzahl von Minuten zurückerlangte und sich in einem fremden Haus wiederfand. Jemand hatte ihm die Handschellen abgenommen.

„Schön dass du endlich aufgewacht bist“, sagte der blonde Russe, der in einem Sessel saß, während Misha auf der Couch lag.

Anstatt etwas Sinnvolles zu erwidern, sah der Dunkelhaarige sich in dem Zimmer um und stellte fest, dass es ein gewöhnliches Wohnzimmer war. Im Kamin, das einige Meter von dem Sofa entfernt war, loderte ein kleines Feuer und an den Wänden hingen einige Rahmen mit Fotos, Bildern und Zeitungsausschnitten.
 

„Ich bin Viktor“, fuhr der Ältere fort. „Und wie heißt du?“

„Misha“, antwortete der Junge, der sich wunderte, beim Sprechen weder stottern noch stammeln zu müssen. Einen Satz, der aus wenigen Silben bestand, konnte er vor Fremden aussprechen – auch wenn er nur in Ausnahmesituationen freiwillig den Mund aufmachte – aber alles, was darüber hinausragte, war zu viel verlangt.

Ratlos sah er Viktor an und hoffte, dass dieser seine Gedanken lesen und die unausgesprochenen Fragen beantworten würde, doch der Russe schwieg ebenfalls.

„Haben Sie... mich gekauft?“, fragte Misha schließlich und gab sich Mühe, deutlich und verständlich zu sprechen, was einfacher als gesagt war, weil Mishas Gedanken wie eine Schar aufgeschreckter Vögel umherkreisten und viel zu schnell für seine Zunge waren.

„Ja, du bist jetzt mein Eigentum. Ich verspreche dir, dass ich dich nicht vergewaltigen werde, aber als Gegenzug erwarte ich, dass du keine Dummheiten begehst. Das heißt: Du wirst keinen Fluchtversuch wagen und das tun, was ich dir sage. Hast du das verstanden oder muss ich dir erst eine Tracht Prügel verpassen, damit wir uns einig werden?“
 

„Passt schon.“

Viktor nickte und erhob sich von seinem Sessel. Mit gemächlichen Schritten verschwand er in einem benachbarten Zimmer, das vermutlich ein Büro war, wie Misha sehen konnte, als er sich nach vorne lehnte und einen flüchtigen Blick durch die bloß einen dünnen Spalt breit geöffnete Tür warf.

Zögernd stand er vom Sofa auf und begann, sich im Haus umzusehen. Jetzt nach einem Ausgang zu suchen und nach draußen auf die Straße zu rennen, war das mit Abstand Dümmste, was er tun könnte, weil Viktor mit einem Fluchtversuch rechnen, ihn sofort wieder nach drinnen holen und anschließend verprügeln würde, worauf Misha getrost verzichten konnte. Während er vorsichtig durch das Haus tappte, saß Viktor in seinem Büro und führte ein Telefonat mit Sophia, die eine Freundin von ihm war.

„Ich glaube, du hast ein Problem. Hier in Kostroma sind Menschen, die nach dir suchen.“

„Dann lass sie suchen“, entgegnete Viktor unbeeindruckt. „Hast du mal die Entfernung von Kostroma nach Sankt Petersburg berechnet? Warum sollte es mich interessieren, wenn hunderte von Kilometer entfernt ein paar Spinner nach mir suchen?“

„Wie du meinst. Aber beschwer dich hinterher nicht bei mir, wenn dir etwas zustößt.“

4. Kapitel

„Wow, es ist wunderschön.“

Begeistert schaute Hannah sich die vom feinen Puderschnee bedeckten Kuppeln der Auferstehungskirche an. Misha hatte zuerst daran gezweifelt, ob es eine gute Idee war, seine beste Freundin mit nach Sankt Petersburg zu nehmen, weil Hannah dafür bekannt war, Kälte nicht ausstehen zu können, aber mittlerweile freute er sich darüber, sie mitgenommen zu haben. Für ihn gehörte es zur Routine, in den Weihnachtsferien seinen Vater zu besuchen, und da seine Mutter nicht mitkommen und Misha nicht alleine fahren wollte, kam es ihm sehr gelegen, dass Hannah den Wunsch besaß, ihn zu begleiten.

„Ich wollte schon immer mal nach Russland“, schwärmte sie. Zu dem Zeitpunkt, als sie mit Misha vor der Auferstehungskirche stand, waren sie und er 14 Jahre alt und keiner der beiden ahnte, dass sie in fast zwei Jahren eine Klassenfahrt nach Russland machen würden.
 

„Ich persönlich würde gerne mal nach Japan fliegen“, erwiderte Misha. „Oder nach Italien. Oder nach Frankreich. Oder--“

„Mach doch gleich eine Weltreise“, kicherte Hannah. „Oder lass uns zusammen eine machen. Nur wir beide. Wenn wir erwachsen sind.“

„Okay.“

Sie beiden lächelten verlegen, ehe sie sich von der Kirche abwandten, über den Fußweg gingen, der am Mikhailovsky Garden grenzte, und eine Brücke überquerten, die den Gribojedow-Kanal überbrückte. Während Misha mit den Gedanken in Frankreich und dessen Sehenswürdigkeiten war, schien Hannah an etwas Anderes zu denken. Immer wieder warf sie ihm einen nervösen Blick zu, was Misha aber nicht bemerkte. Die beiden Schüler schlenderten gemächlich über die Brücke und spürten, wie der Schnee unter ihren Füßen knirschte.

„Kalt heute, nicht wahr?“
 

„Uh-hm“, machte Misha und sah zu Hannah, die ziemlich rot im Gesicht war. Denkend, dass das bloß an der Kälte lag, ging er ein paar Schritte nach vorne, als ihm bewusst wurde, dass Hannah stehen geblieben war.

„Was ist?“, fragte er und drehte sich zu ihr um.

„Ich... ähm... Es gibt da etwas, das ich dir sagen möchte.“

„Dann... sag es mir?“

Anscheinend hatte er etwas Falsches gesagt, denn Hannah warf ihm einen bösen Blick zu, ehe sie sich wieder entspannte. Unsicher kam sie auf ihn zu, sodass sich nur noch ein halber Meter zwischen ihnen befand.

„Mach bitte mal die Augen zu“, bat sie ihn.

„Ähm... okay.“

Misha tat wie geheißen. Er war ein wenig nervös, weil er nicht wusste, mit was er zu rechnen hatte, als er plötzlich ein weiches Lippenpaar auf seinem Mund spürte und--
 

Misha wurde aus dem Schlaf gerissen, als die Tür zu seinem Zimmer auf einmal aufflog und mit einem lauten Knall gegen die Wand prallte. Vor Schreck rutschte er ein Stückchen nach hinten und bevor er realisieren konnte, dass er zuvor auf der Bettkante gelegen hatte, war er bereits auf dem Boden aufgekommen.

„Autsch“, murmelte er und rieb sich den schmerzenden Hinterkopf.

Viktor, der ins Zimmer gerauscht kam und in gewisser Weise für Mishas Unfall verantwortlich war, nahm darauf herzlich wenig Rücksicht.

„Misha, ich muss gleich los“, sagte er eilig. „Du wirst hierbleiben und keinen Blödsinn anstellen, verstanden? Ich bin gegen Mitternacht wieder da.“

Kaum hatte er das gesagt, verließ er das Zimmer auch schon wieder, allerdings war zu hören, wie er in der Mitte des Flures anhielt und zurückkam.
 

„Ach ja: Solltest du irgendetwas anstellen, nehme ich das als Einwilligung, dich bestrafen zu dürfen“, sagte er mit einem zweideutigen Grinsen, ehe er erneut verschwand und diesmal das Haus wirklich verließ.

Der Typ hat vielleicht Nerven. Hat es so eilig, dass er mich aus dem Bett schmeißt, aber um mit mir über Sex zu reden, ist dann natürlich wieder Zeit...

Nachdem Misha gehört hatte, wie Viktors Auto aus der Einfahrt gefahren war, befreite er sich aus der hellen Bettdecke, die sich während des Falls um seine schlanken Beine gewickelt hatte, und ging in die Küche, wo er das Gefrierfach öffnete. Heraus holte er eine Tüte Spinat, die er sich zum Kühlen seiner Beule auf dem Kopf legte, und eine Packung Speck, die wenige Augenblicke später gemeinsam mit einem Ei in der Pfanne landete.
 

Glücklicherweise hatte Viktor kein Problem damit, dass Misha kochte, was dem Jungen aus einem bestimmten Grund sehr gelegen kam. Wenn es etwas gab, dass er in der Anwesenheit Fremder noch schlimmer fand als sprechen, dann war es essen. Allein der Gedanke, Nahrung zu sich zu nehmen und dabei von anderen Menschen beobachtet zu werden, ließ Misha vor Angst erschauern. Er wollte nicht dabei gesehen werden, einfach weil... weil es halt unangenehm war. Ihm war bewusst, dass diese Angst unbegründet und sinnlos war, aber das änderte nichts daran, dass er sie wahrnahm.

Zum Glück hat Viktor dafür Toleranz gezeigt. Natürlich fand er es komisch, dass ich in seiner Anwesenheit keinen einzigen Bissen heruntergekriegt habe, aber er hat sich damit einverstanden erklärt, dass ich entweder vor oder nach ihm esse, solange ich überhaupt irgendetwas zu mir nehme.
 

Misha fischte seine Toastscheibe aus dem Toaster, legte sie zu dem Ei und dem gebratenen Speck und setzte sich an den Tisch, um sein Frühstück zu genießen. Während er aß, dachte er an seinen Traum, der sich vor knapp zwei Jahren wirklich so zugetragen hatte.

Hannah sagte mir damals, dass sie mich lieben würde. Ich habe ihr dann vorsichtig erklärt, dass sie für mich ''nur'' eine Freundin ist – zufälligerweise auch die beste und einzige – und ich denke, ich habe das auch ganz gut rübergebracht, ohne sie zu verletzen. Selbstverständlich war sie danach etwas niedergeschlagen, aber wenige Stunden nach dem Kuss tat sie so, als hätte es ihn nie gegeben, und ich tat es ihr gleich, sodass wir beide nie wieder über die Sache gesprochen haben.

So langsam überkam Misha der Verdacht, dass er eventuell doch schwul sein könnte. Die einzige Person, in die er sich je verliebt hat, war ein Junge, und-- Nein. Ich bin mir sicher, dass ich irgendwann ein nettes Mädchen kennenlerne, in das ich mich dann verliebe. Ich und schwul? Niemals. Das wäre doch... lächerlich.
 

Er verschlang die Reste seines Frühstücks und stellte das dreckige Geschirr in die Spülmaschine. Gerade wollte er die Küche verlassen, als plötzlich das Klingeln eines Telefons zu hören war und Misha so sehr erschrak, dass ihm der Spinat vom Kopf fiel.

Ich HASSE Telefone!

Das verdammte Ding mit allen Schimpfwörtern bewerfend, die Misha auf die Schnelle in den Sinn kamen, hob er den Spinat vom Boden auf und näherte sich dem Telefon, das schrill vor sich hin klingelte. Er überlegte, ob er den Anruf entgegennehmen oder das Gemüse auf dem Teil platzieren sollte, um es so zum Schweigen zu bringen, doch bevor er sich entscheiden konnte, hörte das Klingeln auf und das Piepen des Anrufbeantworters war zu hören.

„Viktor? Ich bin's.“ Die leicht verzerrte und nervös klingende Stimme gehörte eindeutig einer Frau, aber Misha hatte sie noch nie zuvor gehört. „Bitte sag mir, dass du noch nicht unterwegs bist! Ich weiß jetzt, wer nach dir sucht. Bitte ruf mich so schnell wie möglich zurück – es ist wichtig!“
 

Den Worten folgte ein weiteres Piepen, ehe Stille im Flur herrschte. Irritiert starrte Misha das Telefon an, während er die Tüte mit Spinat an sich drückte, als wäre sie ein Schutzschild.

Ähm... okay. Das schien wichtig zu sein. Zu blöd nur, dass Viktor schon außer Haus ist. Wenn ich es nicht vergesse, werde ich ihm Bescheid sagen, sobald er wieder hier ist.

Misha ging in sein Zimmer zurück, zog sich an und machte sich mit dem Spinat, den er inzwischen wieder auf seiner Beule platziert hatte, zu der Heizung im Wohnzimmer auf, die wegen ihrer Wärme sein Lieblingsplatz war. Er lehnte sich gegen die angenehm warmen Stäbe, seufzte entspannt und fing an, das zu tun, was er schon getan hatte, seitdem er zu Viktor gekommen war: Einen Plan austüfteln, wie er und Hannah wieder nach Hause kommen würden.
 

Es gibt eine Menge Dinge, die ich beachten muss. Das Ziel ''nach Hause gehen'' besteht aus mehreren Teilen und wenn auch nur einer davon nicht funktioniert, wird der ganze Plan schiefgehen.

Also... zuerst muss ich von Viktor fliehen, ohne dass er es mitbekommt. Er ließ mich in den letzten Tagen oft alleine zu Hause, von daher müsste das kein Problem sein. Zuvor muss ich herausfinden, wo Hannah ist, und sobald ich das weiß und dieses Haus verlassen habe, muss ich zu ihr gehen und sie befreien. Dass wir beide fliehen können, ohne von jemanden bemerkt zu werden, ist extrem unwahrscheinlich, und selbst wenn es uns gelingen sollte, stehen wir dann immer noch vor dem Problem der Abreise. Man braucht über acht Stunden, um mit dem Flugzeug von Sankt Petersburg nach Nordrhein-Westfalen zu fliegen, aber wo zur Hölle sollen wir ein Flugzeug herkriegen? Mit dem Auto bräuchte man mehr als einen Tag, doch auch das könnte schwierig werden, weil weder Hannah noch ich einen Führerschein haben. Und den Weg zu Fuß zurückzulegen, kommt nicht infrage, weil wir dann entweder erfrieren oder gefunden werden.
 

Misha seufzte und kämpfte gegen die Hoffnungslosigkeit an, die ihn bedrängte. Dass er und Hannah jemals wieder zu ihren Familien kommen würden, erschien unmöglich...

Eine Sache erscheint so lange unmöglich, bis sie passiert. Die Leute im Mittelalter haben es auch für unmöglich gehalten, den Mond zu besuchen, also reiß dich zusammen, Misha! Hannah ist auf dich angewiesen – sie spricht kein Russisch und hat auch keinen Vater, der in der Nähe wohnt und-- Natürlich! Mein Vater! Er kann die Polizei rufen und uns nach Hause bringen!

Ermutigt von seinem Einfall konzentrierte Mishas sich auf die verbliebenen Probleme und machte auch dort Fortschritte.

In den zwei Tagen, die ich jetzt schon bei Viktor bin, war er ständig mit anderen Menschen beschäftigt. Entweder war er unterwegs oder er wurde besucht oder er hat telefoniert – allem Anschein nach hat der Kerl viele Kontakte. Mich würde es nicht wundern, wenn er auch mit den Menschenhändlern verkehrt... vielleicht weiß er ja, an wen Hannah ''verkauft'' wurde.
 

Misha löste sich von der Heizung, packte den Spinat, der in der Zwischenzeit aufgetaut war, zurück in das Gefrierfach und versuchte, sich Zugang zu Viktors Büro zu verschaffen, doch leider war die Tür abgeschlossen.

Wäre ja auch zu einfach...

Währenddessen begann das Telefon zu klingen. Genau wie beim ersten Anruf reagierte Misha sofort; sein Herz schlug fünfmal so schnell – oder zumindest fühlte es sich so an, als würde es fünfmal so schnell schlagen – seine Handflächen schwitzten und sein ganzer Körper bereitete sich darauf vor, so schnell wie möglich von der Gefahrenquelle wegzurennen. Misha fand es albern, dass er ein klingelndes Stück Plastik mit Kabeln als eine Bedrohung wahrnahm, aber er konnte diese Angst nicht abschalten.
 

Der Anrufbeantworter aktivierte sich mit einem nervigen ''Piep!'', ehe eine leicht verzerrte Stimme zu hören war, die anscheinend einem Mann gehörte.

„Viktor!“ Der Anrufer lachte bellend. „Come va?“ Er lachte erneut. „Eigentlich wollte ich mich nur noch mal für deine Hilfe von neulich bedanken. Dieser Junge ist ein Prachtexemplar; ohne dich wäre ich wahrscheinlich nie auf ihn gestoßen... wie du weißt, bin ich nicht mehr in Russland, aber ich werde dich anrufen, sobald ich mal wieder vorbeikomme. Ciao!“

Ich würde meine rechte Hand darauf verwetten, dass das dieser Mann war, der Fabian ''gekauft'' hat. Fabian tut mir echt leid. Ich kannte ihn kaum, aber er hat so ein Schicksal sicherlich nicht verdient.
 

Misha ließ von der Tür ab, spielte mit dem Gedanken, den Stecker des Telefons aus der Wand zu reißen, und entschied sich dagegen, weil er keinen Ärger von Viktor kriegen wollte.

Hat er, bevor er gegangen ist, nicht etwas in der Richtung gesagt? ''Wenn du einen Fehler machst, habe ich das Recht, dich zu bestrafen''... oder so? Ich bin mir sicher, dass er irgendetwas gesagt hat, aber ich kann mich nicht mehr richtig daran erinnern.

Misha kehrte zu seinem Platz vor der Heizung zurück und dachte über Fabian nach.

Fabians ''Käufer'' – offensichtlich ein Italiener – meinte, er sei nicht mehr in Russland... das bedeutet vermutlich, dass er Fabian mitgenommen hat. Ich kann nur hoffen, dass Hannah nichts Ähnliches passiert ist, denn sollte sie Sankt Petersburg verlassen, würde das die Suche nach ihr um ein Vielfaches erschweren.

Er schaute aus dem Fenster und beobachtete den Schnee, der in Form unzähliger Flocken zu Boden rieselte.

Hoffentlich geht es ihr gut.
 

Misha verbrachte den Rest des Tages damit, über seine Flucht nachzudenken, wobei er jedoch keine nennenswerten Erfolge erzielte. Sobald er frei wäre, müsste er zu seinem Vater – das war alles, bei dem Misha sich bis jetzt sicher war. Alles andere hing von zahlreichen Faktoren ab, von denen noch viel zu viele unbekannt waren.

Es macht mich wahnsinnig, nur hier herumzusitzen und nichts zu tun, aber das ist alles, was ich momentan machen kann. Jetzt direkt eine Flucht zu wagen, wäre bloß kontraproduktiv, weil Viktor mir dann nicht mehr vertrauen würde.

Apropos Viktor: Er meinte zwar, dass er mich nicht vergewaltigen will, aber auf mich macht er den Eindruck, dass sein Geduldsfaden jeden Tag ein Stückchen kürzer wird. Wahrscheinlich ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis er sein Versprechen über Bord wirft und mich... nein, ich sollte nicht daran denken. Eigentlich kann ich mich mit dem Gedanken anfreunden, mit einem Mann zu schlafen, aber ich möchte mein erstes Mal an eine Person verlieren, die ich liebe, und nicht an jemanden, der mich nur wegen meinem Körper will...
 

... der nebenbei bemerkt nichts ist, das jemand begehren würde. Ich meine: ich bin nicht übergewichtig oder unglaublich hässlich, aber als Augenweide würde ich mich auch nicht bezeichnen.

Hannah hat mal gesagt, ich sei wie eine Kiwi; außen langweilig und braun, aber innen interessant und... sie hat noch ein Adjektiv genannt, aber an das kann ich mich nicht erinnern. Es war auf jeden Fall nicht ''grün''.

Wie dem auch sei, Viktor ist schon ein komischer Kauz. Außer ihm hätten sich wohl nur eine handvoll Leute für mich entschieden. Ich will damit nicht sagen, dass ich mich für etwas Minderwertiges halte, aber niemand würde sich auf den ersten Blick in meinen Charakter verlieben, weshalb es nur mein Aussehen ist, auf das sich ''Käufer'' konzentrieren.
 

Misha wälzte sich in seinem Bett hin und her und driftete irgendwann in einen unruhigen Schlaf ab, doch er konnte nur wenige Stunden ruhen, weil das Telefon mitten in der Nacht zum dritten Mal klingelte und den Jungen aus dem Schlaf riss.

Ich.

Hasse!

TELEFONE!

Vor Wut kochend stieg Misha aus dem Bett, schlug die Tür auf und stampfte auf das klingelnde Ding zu, dass er am liebsten mit einem Baseballschläger verdroschen hätte. Sein Zorn war so stark, dass er seine Angst gar nicht mehr spürte.
 

Er streckte seine Hand nach dem Hörer aus, um den Anrufer aus vollen Lungen anzuschreien, aber er kam einige Sekunden zu spät. Das Piepen, welches Misha sicherlich nie wieder aus dem Kopf kriegen würde, ertönte und der Anrufbeantworter wurde aktiviert.

„Viktor?“ Die Stimme war männlich, unbekannt und irgendwie... schön. Hätte Misha die Gelegenheit gehabt, mit dem Anrufer zu reden, hätte er ihm geraten, Synchronsprecher zu werden.

„Sag mal, kann es sein, dass du dich langweilst? Ich versuche schon seit mehreren Stunden, dich zu erreichen, um mit dir über diese merkwürdigen Nachrichten zu reden, die du mir heute geschickt hast, aber du ignorierst mich. Ohne Scheiß – was soll das?“

Moment. Meinte Viktor nicht, dass er vor Mitternacht wieder zu Hause sei?

Während der Mann mit der angenehmen Stimme weitersprach, sah Misha auf die Uhr und erkannte, dass es schon zwei Uhr morgens war.

Irgendwie habe ich ein schlechtes Gefühl bei der Sache...

5. Kapitel

Die Sonne war gerade erst aufgegangen und warf die ersten Strahlen auf Sankt Petersburg, als Artjom aus dem Schlaf gerissen wurde, weil sein Handy klingelte. Müde stöhnend und mit geschlossenen Augen streckte er seine Hand nach dem nervigen Ding aus, tastete sich über seinen Nachttisch und kriegte das Smartphone schließlich zu fassen.

„Ja?“, nuschelte er verschlafen.

„Ich bin's“, antwortete eine weibliche und leicht verzerrte Stimme. Sie gehörte Katja, der zwei Jahre älteren Schwester von Artjom. „Könntest du bitte zu mir kommen? Es ist dringend.“

„Wenn's unbedingt sein muss...“

Nachdem Artjom erfahren hatte, wo Katja sich gerade aufhielt, quälte er sich aus dem Bett und machte sich fertig. Katja hatte ziemlich angespannt und ernst geklungen, was bedeutete, dass das Frühstück aus Zeitgründen heute ausfallen musste, sowohl für Artjom als auch für Charly, seinen vierbeinigen Freund und Mitbewohner.
 

Artjom stieg in sein Auto und fuhr zu seinem Ziel, das eine Lagerhalle in der Nähe des Hafens war. Während die Sonne sich hinter den Häusern erhob und den Himmel in ein hübsches Rosa verfärbte, das der Farbe von Zuckerwatte glich, parkte er vor der Lagerhalle, wo auch einige andere Autos standen, und betrat den Bau, in dem bereits einige Menschen zugange waren.

„Da bist du ja endlich“, begrüßte Katja ihn gereizt. „Ich warte schon viel zu lange auf dich.“

„Ist ja gut“, beschwichtigte Artjom und näherte sich seiner Schwester. Er wollte erfahren, warum sie ihn hierher bestellt hatte, aber als er einen Blick auf den Boden warf und erkannte, was Katja zuvor betrachtet hatte, klärte sich die Frage von alleine.

„Ach du Scheiße...“

„Das kannst du laut sagen“, erwiderte Katja. „Wir haben ihn vor einer knappen halben Stunde hier gefunden.“
 

Artjom hörte ihr zu, doch ihre Worte kamen kaum bei ihm an. Starr vor Schreck schaute er auf Viktor – oder vielmehr auf das, was von Viktor noch übrig war.

„Was meinst du, wie lange haben sie ihn gefoltert?“

„Das weiß ich nicht“, erwiderte Katja. „Und um ehrlich zu sein, will ich es auch gar nicht wissen.“

Obwohl Artjom die Leiche seines besten Freundes mit eigenen Augen erblickte, konnte er nicht glauben, dass Viktor wirklich tot war. Gestern hatte er noch per SMS komische Nachrichten von ihm erhalten, sich mitten in der Nacht, als die letzte Nachricht bei ihm eingetroffen war, bei ihm beschwert und danach nicht mehr von ihm gehört.

Viktor musste gewusst haben, dass er sterben wird... aber er hat nie ein Wort darüber erwähnt, wer der Täter sein könnte.

„Denkst du, es waren die Amis?“, fragte Katja mit kritischem Blick auf dem verstümmelten Leichnam, der fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt war.
 

„Das halte ich für eher unwahrscheinlich, aber ich würde es trotzdem nicht ausschließen... was hast du jetzt vor?“

„Ich werde mit Andrej darüber reden.“

Artjom nickte und sah zu den anderen Anwesenden, die aller chinesischer Herkunft waren. Unter ihnen befand sich auch Winston, der ein guter Freund und entfernter Verwandter von Artjom und Katja war.

„Ich werde zu Viktors Wohnung fahren und mich dort umsehen“, sagte Artjom. „Vielleicht finde ich ja irgendetwas, das uns einen Hinweis liefern kann.“

Katja antwortete nicht, was Artjom als Anlass nahm, sich von ihr abzuwenden und zum Ausgang der Lagerhalle zu gehen. Als er nach draußen ins Sonnenlicht schritt, hielt seine Schwester ihn jedoch zurück.

„Artjom!“
 

„Ja?“

„Pass auf dich auf.“

Artjom fand es ein wenig albern, dass er solche Ermahnungen von Katja erhielt – immerhin war er schon 25 und kein naives Kind mehr – aber er konnte es ihr nicht verübeln. Er und sie hatten auch drei ältere Brüder gehabt, die aber bereits gestorben waren. Der letzte Todesfall lag nur ein knappes Jahr zurück und hatte seine Spuren in der Familie hinterlassen.

„Mach ich“, raunte Artjom, ehe er in sein Auto stieg und zu Viktors Haus fuhr, für das er glücklicherweise einen Schlüssel besaß. Nachdem er das Gebäude betreten hatte, machte er sich geradewegs zum Büro auf, das er ebenfalls aufschließen musste, und begann, das kleine Zimmer zu durchwühlen. Lange musste er nicht suchen; in der obersten Schublade des Schreibtisches lag ein Brief, der an ihn adressiert war.

Hoffentlich steht da etwas Nützliches drin.

Er öffnete ihn und begann zu lesen.
 

»Hallo, Artjom. Solltest du das hier lesen, bedeutet das, dass ich nicht mehr lebe. Mir wäre es am liebsten, wenn du diesen Brief nie zu Gesicht bekommen würdest, aber für den unangenehmen Fall, dass du ihn gerade in deinen Händen hältst, wollte ich dir eine wichtige Nachricht hinterlassen.«

Es folgte eine Ansammlung zahlreicher Buchstaben, die aus verschiedenen Alphabeten stammten. Artjom konnte damit nichts anfangen und wusste nicht einmal, ob jene Schriftzeichen echt oder fiktiv waren.

»Ich überlasse dir alles, was ich besitze, alter Freund. Nicht dass du es gebrauchen könntest, aber ich weiß nicht, was ich sonst mit dem ganzen Zeug machen soll.

PS: Der niedliche Junge mit den braunen Haaren heißt Misha. Ich habe ihn mir vor ein paar Tagen gekauft. Hoffe, er stört dich nicht und du kannst irgendetwas mit ihm anfangen. Wenn nicht, gibt ihn einfach zurück; er ist noch unbenutzt.«
 

Artjom las sich den Brief dreimal durch und suchte die unbeschriebenen Stellen nach weiterem Text ab, doch er fand keinen. Dieses Blatt, dessen Nachricht zu einem Drittel aus unlesbaren Zeichen bestand, war alles, was Viktor ihm hinterlassen hatte.

Ich bin nun also der Besitzer eines Sklaven... okay.

Artjom hatte schon oft mit dem Gedanken gespielt, sich ein persönliches Spielzeug zuzulegen, aber bis jetzt hatte er sich immer dagegen entschieden, weil er nicht irgendeinen Sklaven, sondern einen ganz besonderen haben wollte.

Das Problem ist, dass alle Sexsklaven mehr oder weniger gleich sind. Man kauft sie, missbraucht sie, woraufhin sie nur noch die Hälfte wert sind, und verliert schließlich nach gewisser Zeit das Interesse an ihnen. Ich möchte einen Sklaven haben, der einen interessanten Charakter besitzt, aber wie soll ich auf dem ersten Blick erkennen, wer eine solche Persönlichkeit sein Eigen nennt und wer nicht?
 

Artjom bemerkte, dass seine Schwäche für außergewöhnliche Dinge sich auch bei seinem Haustier durchgesetzt hatte. Charly war keine gewöhnliche Katze, kein normaler Hund, kein gebräuchliches Nagetier, sondern ein seltener und echt cooler--

„Da bist du ja.“

Erschrocken wirbelte Artjom herum und erblickte einen kleinen Jungen, der sich verschlafen die Augen rieb.

„Ich habe mir schon Sorgen um dich gemacht“, fuhr der Kleine fort, dessen Alter Artjom auf 13 oder 14 schätzen würde. „Ursprünglich meintest du doch, dass du vor Mitternacht wieder hier seist, nicht wahr, Viktor?“

Als er keine Antwort bekam, hielt der Junge inne, sah zu Artjom – und realisierte schlagartig, dass es nicht Viktor war, der vor ihm stand.
 

Artjom richtete seine grünen Augen auf den Brief, den er immer noch in der Hand hielt, und las die letzten Zeilen erneut.

„Du... bist Misha, stimmt's?“

Misha antwortete nicht, sondern starrte wie gebannt auf den Fremden, der in Viktors Büro stand. Wer war das, wie war er hierher gekommen und warum kannte er seinen Namen?

„Wo ist Viktor?“, wollte der Junge wissen, der sich große Mühe gab, seine Angst zu verstecken. Mit Viktor war er einigermaßen gut klargekommen, sodass er sich mit ihm unterhalten konnte, was ihm sonst nur bei seiner Familie und bei Hannah möglich war, aber bei dem Unbekannten war es wie bei allen anderen Fremden; ihre bloße Anwesenheit bereitete Misha panische Angst.

„Viktor musste kurzfristig verreisen“, antwortete der Mann. „Ich soll solange auf dich aufpassen.“

„Sie... haben gestern... hier angerufen... nicht wahr?“
 

„Ja, habe ich. Warte – verstehst du Russisch?“, fragte Artjom, dem etwas Komisches aufgefallen war. Als Misha vor wenigen Augenblicken in das Büro getreten war, hatte er Deutsch gesprochen, aber die Nachricht, die Artjom seinem besten Freund hinterlassen hatte, war auf Russisch verfasst worden. Wenn Misha sie verstand, müsste das bedeuten, dass er sowohl der deutschen als auch der russischen Sprache mächtig war.

Misha schüttelte den Kopf. Dass er Russisch beherrschte, wollte er sich als Ass im Ärmel aufheben und zu seinem Vorteil machen. Wenn Artjom nicht wusste, dass Misha ihn verstehen könnte, würde er vielleicht etwas sagen, dass nicht für die Ohren des Jungen bestimmt war, aber ihm weiterhelfen könnte.

„Und wie hast du dann herausgefunden, dass ich gestern hier angerufen habe?“

„Ihre Stimme“, antwortete Misha, der sein Gegenüber als den Mann mit der schönen Stimme wiedererkannt hatte. „Sie ist... einzigartig.“
 

„Ähm... danke.“ Artjom ließ den Brief unauffällig in seiner Jackentasche verschwinden. „Wie wäre es, wenn du dich anziehst und dann zu mir kommst? Ich wohne in einem anderen Viertel und habe keine Lust, jeden Tag hin und her zu pendeln, um nach dir zu sehen.“

Misha nickte, ehe er das Büro verließ und ein paar Augenblicke später angezogen zurückkehrte. Ihm war nicht anzusehen, ob er es gut oder schlecht fand, nun einen neuen ''Besitzer'' zu haben, aber Artjom kümmerte es sowieso nicht, was der Kleine von ihm hielt. Er fand den Jungen so langweilig und uninteressant, dass er ihn am liebsten – genau wie Viktor vorgeschlagen hatte – wie einen Fehlkauf zurückgeben würde, aber so respektlos mit dem Eigentum seines besten und nun toten Freundes umzugehen, kam Artjom irgendwie falsch vor, weshalb er sich dazu entschied, Misha fürs Erste zu behalten. Sollte er seine Entscheidung bereuen, könnte er ihn immer noch zu einer anderen Zeit zurück zu den Menschenhändlern bringen.
 

Misha wusste nicht, was er von dem Fremden halten sollte. Dass er die nächsten Wochen bei ihm verbringen würde, eröffnete ihm neue Möglichkeiten, aber er wusste nicht, ob es eine gute oder schlechte Veränderung war.

„Ich glaube, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt“, sagte der Mann, als er gemeinsam mit Misha, der auf der Rückbank saß, durch die Straßen fuhr. „Mein Name lautet Artjom und ich bin ein guter Freund von Viktor.“

„Leben Sie... alleine?“

„Nein, Charly wohnt auch bei mir. Hoffentlich mögt ihr euch; sie ist nämlich nicht sonderlich angetan von fremden Menschen.“

Sie tickt wie ich, dachte Misha, doch dann fiel ihm etwas Seltsames auf.

„Sagten Sie ''sie''? Ich dachte... Charly sei ein Name... für einen Jungen.“

„Ist es auch, aber eigentlich heißt sie Charlotte – das spricht man ''Charlott'' aus, weil sie aus Frankreich kommt – doch der Name war mir zu lang, weshalb ich sie Charly nenne.“
 

„Verstehe.“

Schüchtern warf Misha einen Blick in den Rückspiegel und betrachtete Artjom genauer. Er war groß, aber nicht riesig, kräftig und muskulös, sah aber nicht wie ein Gorilla aus, und nicht gerade hässlich. Wäre Misha nicht in der Situation, in der er sich momentan befand, und hätte er keine Furcht vor Menschen, die er nicht schon mehrere Jahre lang kannte, hätte er es sicherlich in Erwähnung gezogen, Artjom näherzukommen, aber dank der jetzigen Umstände musste er sich um wichtige Probleme kümmern.

„Sind Ihre Haare... von Natur aus... schwarz?“

„Ja“, antwortete Artjom geistesabwesend. „Meine Großmutter mütterlicherseits war Chinesin; in den zwei Generationen, die mit ihr verwandt sind, gab es nur schwarze Haare, und mich würde es nicht wundern, wenn meine Kinder die gleiche Haarfarbe besäßen... wenn ich denn welche hätte.“
 

Misha nickte, schaute gelangweilt aus dem Fenster – und vergaß beinahe zu atmen, als er das Haus seines Vaters erblickte. Er fuhr direkt daran vorbei und war vor Überraschung nicht in der Lage, auch nur den leisesten Mucks von sich zu geben.

„Ist es noch weit?“, fragte er und bemerkte gar nicht, dass er diesmal nicht langsam hatte reden müssen.

„Nein, wir sind so gut wie da“, antwortete Artjom, der keinen blassen Schimmer hatte, welche Hoffnungen er in Misha gerade geweckt hatte.

Ich bin fast am Ziel!, dachte der Junge begeistert und unterdrückte einen Freudenschrei. Wie praktisch, dass Artjom hier in der Nähe wohnt – aus seinem Haus auszubrechen und zu Dad zu gelangen, wird sicherlich ein Kinderspiel!

Artjom parkte vor einer schnieken Villa, deren Äußeres von Misha sofort nach einer potenziellen Fluchtmöglichkeit abgesucht wurde.
 

Im Erdgeschoss gibt es Fenster, die groß genug sind, um durch sie hindurch zu steigen... jetzt muss ich nur noch herausfinden, ob man sie von innen abschließen kann und dann so schnell wie möglich zu Dad laufen. Leider bin ich von Natur aus alles andere als sportlich, aber diese winzige Strecke müsste selbst ich in kurzer Zeit zurücklegen können.

Zu wissen, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis er wieder in Sicherheit war, raubte Misha den letzten Nerv. Aufgeregt und mit einer undefinierbaren Energie gefüllt, folgte er Artjom in die Villa und ließ sich von ihm sein Zimmer zeigen, in dem er von nun an wohnen würde. Auf dem Weg dorthin sah Misha sich unauffällig die Fenster an und stellte überwältigt vor Freude fest, dass sie nicht mit Schlössern versehen waren.

Großartig! Alles, was jetzt noch fehlt, ist eine Gelegenheit!

Zufälligerweise ließ diese Gelegenheit nicht lange warten. Gegen Abend erschien Artjom in Mishas Zimmer; er trug einen feinen Anzug und sagte dem Jungen, dass er erst in ein paar Stunden wiederkommen würde.
 

„Am besten bleibst du einfach in diesem Raum und stellst nichts Blödes an. Solltest du auf die törichte Idee kommen, während meiner Abwesenheit das Weite zu suchen, werde ich dich so lange verprügeln, bis du nicht mehr richtig laufen kannst“, sagte Artjom. „Ich mag zwar harmlos aussehen, aber das bin ich nicht. Tu also nichts, das dich unglücklich machen könnte.“

„Keine Sorge, ich werde nicht fliehen, weil ich weiß, dass das unmöglich ist“, log Misha, ohne dabei rot zu werden. „Du musst wirklich keine Bedenken haben; Viktor hat mich auch immer unbeaufsichtigt für mehrere Stunden alleine gelassen.“

„Schön dass du so vernünftig bist.“ Artjom verließ das Zimmer, kam jedoch kurz daraufhin wieder, weil er etwas Wichtiges vergessen hatte. „Was Charly angeht: sie schläft noch, weshalb ich euch erst morgen einander vorstellen werde. Es wäre nett von dir, wenn du nicht laut bist und sie schlafen lässt.“

„Okay.“
 

Misha beobachtete, wie Artjoms Auto die Einfahrt verließ, und wartete ein bisschen, um nicht von ihm auf frischer Tat ertappt zu werden, falls er – aus welchen Gründen auch immer – noch einmal zurückkommen sollte. Nach einer Viertelstunde war er sich sicher, dass er nun einen Fluchtversuch wagen könnte, als er plötzlich ein komisches Geräusch hörte, das wie das Trippeln von Stöckelschuhen klang. Es waren aber keine langsamen und regelmäßigen Schritte, sondern viele kleine, was Misha ein wenig irritierte. Er wusste nicht, ob er sich ein hastig rennendes Kleinkind – Artjom hatte doch keine Kinder – oder eine Frau – Charlotte? – mit High Heels vorstellen sollte, und dann war zu allem Überfluss auch noch ein Laut zu vernehmen, das einem Bellen ähnelte, aber definitiv nicht von einem Hund stammte.

Was zur Hölle ist das? Ein Monster?

Was auch immer dort vor der Zimmertür hockte, kratzte kurz an dem Holz, ehe es das Interesse verlor und mit dem gleichen Trippeln von dannen zog, sodass es wieder ruhig war und das einzige Geräusch weit und breit Mishas rasender Herzschlag darstellte.
 

Ich kenne kein Tier, das solche Laute von sich gibt – dieses Wesen kann nur ein Monster gewesen sein, was ein weiterer guter Grund ist, diese Villa so schnell wie möglich zu verlassen.

Misha öffnete vorsichtig die Tür, spähte ängstlich durch den dunklen Flur und stellte erleichtert fest, dass das Ungeheuer sich nicht in der Nähe befand. Zur Probe schnalzte er ein paar Mal mit der Zunge, woraufhin jedoch nichts passierte.

Die Luft scheint rein zu sein.

Auf leisen Sohlen schlich Misha ins Erdgeschoss und öffnete eines der großen Fenster. Er hatte ein schlechtes Gefühl bei der Sache, weil ihm das hier verdächtig einfach erschien, als er plötzlich ein leises Fauchen hörte, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Panisch zitternd kletterte er auf die Fensterbank und sah zurück in das Haus. In dem Zimmer war es stockdunkel; Misha konnte nichts sehen, sondern nur dieses unheimliche Geräusch hören, das ihn vor Angst erschauern ließ.

Ich sollte lieber den Abgang machen, dachte er und verschwand in der tiefen Nacht.

6. Kapitel

Artjom hatte das Kasino gerade erst betreten, als er spürte, wie sein Handy zu vibrieren begann.

Bitte lass es nicht das sein, für das ich es halte, dachte er und nahm den Anruf entgegen.

„Ich bin's, Boss“, begrüßte ihn eine männliche Stimme. „Es geht um den Jungen, den wir bewachen sollten.“

„Er ist geflohen, nicht wahr?“

„Äh... jain. Er hat's versucht, aber ist nur wenige Meter weit gekommen. Wir haben ihn jetzt hier bei uns. Was sollen wir machen?“

„Sperrt ihn in einen fensterlosen Raum und sorgt dafür, dass er ihn nicht verlässt. Ich komme erst in ein paar Stunden wieder.“

„Okay, Boss.“

Artjom legte auf, ließ das Handy in seiner Tasche verschwinden und schüttelte seufzend den Kopf. Zwar kannte er Misha noch nicht lange, aber er hatte ihn für einen vernünftigen Jungen gehalten, der wusste, was gut für ihn war.
 

Das Kasino, in dem Artjom sich befand, glich einem gigantischen Palast und war ein beliebter Treffpunkt der Mafia. Der Russe musste nicht lange suchen, um Katja zu finden, mit der er sich unterhielt, ehe die beiden gemeinsam zu einem anderen Raum gingen, in dem die Versammlung stattfinden sollte, die man zur Sicherheit als Feier tarnte.

An dem breiten Tisch, an dem eine ganze Großfamilie hätte sitzen können, hatten Andrej und ein paar andere wichtige Mitglieder schon Platz genommen. Artjom und Katja setzten sich zu ihnen und warteten, bis alle, deren Anwesenheit erwartet wurde, ebenfalls eingetroffen waren, bevor sie anfingen, über Viktor und dessen Tod zu sprechen. Artjom hatte den Abschiedsbrief mitgenommen und reichte ihn herum, doch niemand konnte etwas mit den Schriftzeichen anfangen. Jemand schlug vor, dass Artjom mehreren Übersetzern die Sache überlassen sollte, aber die Mehrheit stimmte dagegen, weil es Außenstehende nichts anging, was in diesem Brief stand, der eventuell wertvolle und vertrauenswürdige Informationen enthielt.
 

„Wahrscheinlich stecken die Amis dahinter“, knurrte Valentin, ein großer muskulöser Mann mit dunkelbraunen Haaren, braunen Augen und einem mürrisch aussehenden Gesicht. Er war der zweitmächtigste Mann der Mafia und – genau wie Katja – ein potenzieller Nachfolger für das Oberhaupt der Familie.

„Vermuten kannst du vieles, aber wie sieht es mit Beweisen aus?“, entgegnete Katja.

Valentin antwortete nicht, sondern warf Andrej einen vielsagenden Blick zu, den dieser erwiderte.

„Was habt ihr vor?“, wollte Katja wissen, aber keiner der beiden schien erpicht darauf zu sein, sie in den Plan einzuweisen. „Was auch immer es ist – ich hoffe, ihr habt gründlich darüber nachgedacht. Wenn es die Amerikaner nicht waren und wir ihnen einen Grund geben, uns zu hassen, haben wir ein Problem.“

„Immerhin tue ich irgendetwas, anstatt mir hier den Mund fusselig zu reden, was niemanden weiterbringt“, sagte Valentin und schenkte Katja ein süffisantes Lächeln, das mit einem wütenden Blick quittiert wurde.
 

Bevor die beiden sich gegenseitig an die Gurgel gehen konnten, was sicherlich geschehen wäre, wenn niemand es verhindert hätte, brachte Artjom das Gespräch wieder zum Thema Viktor.

„Ich werde herausfinden, wer für seinen Tod verantwortlich ist“, sagte er. „Und wenn es das Letzte ist, was ich tue.“

„Gut, mach das“, erwiderte Katja unbeeindruckt und nippte an ihrem Getränk.

Nachdem die Versammlung endete, die größtenteils friedlich verlaufen war, wenn man das Wortgefecht zwischen Valentin und Katja außer Acht ließ, wollte Artjom nach Hause gehen und sich um Misha kümmern, aber ein Mann namens Roman hielt ihn davon ab.

„Weißt du, Artjom, ich war vor einigen Tagen bei Viktor und habe gehört, dass er sich einen Sklaven zugelegt hat. Mal aus reinem Interesse: Was hast du mit dem Knaben vor?“

„Das weiß ich noch nicht.“

„Nun, es wäre doch Verschwendung, ihn nicht für seine Zwecke zu verwenden, nicht wahr? Falls du einen Käufer für ihn suchst, kannst du mich gerne anrufen“, sagte Roman, ehe er Artjom zuzwinkerte und sich von ihm abwandte.
 

Kaum war Artjom in seiner Villa angekommen, zog er sich um, sodass er den feinen Anzug loswurde und stattdessen gewöhnliche Klamotten trug, und ging zu den beiden Hünen, die er damit beauftragt hatte, heimlich auf Misha aufzupassen. Er bedankte sich bei ihnen und beobachtete, wie sie das Anwesen verließen, ehe er zu einem bestimmten Raum ging, den Schrank öffnete und einen Rohrstock herausholte, mit dem er sich selbst einige Male auf die Hand schlug, um die Härte zu testen.

Anschließend machte er sich zu dem Raum auf, in dem Misha eingesperrt war, und betrat ihn.

„Na, mein Kleiner, hat dir dein Ausflug Spaß gemacht?“, fragte er gespielt fröhlich, was Misha nervös schlucken ließ.

„Ich... wollte nicht abhauen... wirklich nicht.“

„Nein, natürlich nicht. Du wolltest bloß einen Schneemann bauen, nicht wahr?“

Misha machte sich ganz klein und drückte sich gegen die Wand, doch leider konnte er nicht mit ihr verschmelzen, was er jetzt wirklich gerne getan hätte.
 

Rücksichtslos packte Artjom ihn an den braunen Haaren und zerrte ihn zu Mishas Zimmer, wo er sich auf der unteren Bettkante niederließ und den zappelnden und sich wehrenden Jungen über seine Knie legte.

„Was haben Sie jetzt vor?!“

„Dich so lange verprügeln, bis du nicht mehr richtig laufen kannst – genau wie ich es dir versprochen habe.“

Als Misha den Rohrstock erblickte, weiteten sich seine braunen Augen und jegliche Farbe wich aus seinem Gesicht. Sein Widerstand wurde noch stärker, aber für Artjom stellte es keine allzu große Herausforderung dar, die halbe Portion unter Kontrolle zu halten.

„Ich habe dich gewarnt, Misha. Ich habe dir gesagt, dass du nicht weglaufen sollst, und du hast es trotzdem getan. Was jetzt passiert, hast du dir selbst zuzuschreiben.“

„Nein, es war keine Absicht! Da war ein komisches Tier in Ihrer Villa – es wollte mich fressen!“

Artjom musste unwillkürlich lachen.
 

„Du meinst, da war ein Monster in meiner Villa? Hier gibt es nur ein Monster, Misha, und das wird dir jetzt zeigen, was passiert, wenn du es nicht respektierst.“

Kaum hatte Artjom seinen Satz beendet, holte er mit dem Rohrstock aus und erwischte den Jungen direkt über den Kniekehlen. Misha schrie auf vor Schmerz und zappelte wie ein Fisch auf dem Trockenen, aber das hielt Artjom nicht davon ab, ein weiteres Mal zuzuschlagen. Diesmal traf er eine Stelle, die wenige Zentimeter von den Kniekehlen entfernt war und sich auf dem Oberschenkel befand. Misha schrie erneut auf und begann zu weinen.

„Hör auf!“, flehte er. „Das tut weh!“

„Das soll auch wehtun“, zischte Artjom, ehe er abermals ausholte. Mit jedem Schlag näherte er sich dem Gesäß, welches er ebenfalls mit dem Rohrstock bearbeitete. Insgesamt hatte Misha mindestens zwei Dutzend Hiebe ertragen und in jedem von ihnen hatte genug Kraft gesteckt, um einen gigantischen Bluterguss zu hinterlassen. Mishas Beine und Hintern würden in den nächsten Wochen nicht wiederzuerkennen sein und laufen würde er damit ganz bestimmt auch nicht können.
 

„Nur damit du es weißt: Das war bloß der erste Teil deiner Strafe. Ich bin mit dir noch lange nicht fertig.“

Mit diesen Worten stieß Artjom den wimmernden Jungen grob von seinem Schoß. Er erhob sich vom Bett und trat Misha mit voller Wucht in die Rippen, ehe er das Zimmer verließ und die Tür hinter sich abschloss.

Am liebsten hätte Misha erleichtert ausgeatmet, aber er konnte nichts tun, außer ein mitleiderregendes Schluchzen von sich zu geben. Noch nie zuvor in seinem Leben hatte er solche Qualen ertragen müssen; seine Kehrseite fühlte sich an, als hätte man sie angezündet oder die Haut gewaltsam vom Fleisch getrennt.

Vor Schmerzen winselnd kroch er zur nächstbesten Ecke, wo er sich zusammenkauerte und seinen Tränen freien Lauf ließ. Er hatte Angst, dass Artjom noch etwas Schlimmes mit ihm anstellen würde – etwas, das noch schlimmer war als die Hiebe mit dem Rohrstock – aber er machte sich noch mehr Sorgen um Hannah, schließlich könnte man ihr Dinge angetan haben, die noch grausamer als das waren, was Misha hatte erdulden müssen.
 

Als Artjom wiederkam, war es mitten in der Nacht. Er knipste das Licht an, woraufhin Misha das Gesicht hinter seinen angewinkelten Beinen versteckte – um seine Netzhaut zu schützen, aber auch um Artjom nicht ansehen zu müssen – und vor Angst zu zittern begann.

Der Russe setzte sich auf die Bettkante und schnippte, als würde er einen Hund zu sich rufen.

„Komm hierher“, sagte er, doch Misha rührte sich nicht vom Fleck, sodass Artjom sich gezwungen sah, ihn an den Haaren zu packen und gewaltsam zu sich zu zerren. Der Kleine schrie vor Panik, doch eine kräftige Ohrfeige brachte ihn zum Schweigen.

Grob wurde Misha zu Boden gestoßen. Artjom nahm wieder auf der Kante des Bettes Platz und thronte wie ein König vor dem Jungen. Wie ein tyrannischer Herrscher, der gleich das Todesurteil seines Untertanen aussprechen würde, blickte der Ältere auf Misha nieder und zog etwas aus seiner Hosentasche, das er dem Braunhaarigen vor die Hände schmiss. Es waren Fotos.

„Du weißt, wer diese Personen sind, nicht wahr?“, fragte Artjom.
 

Voller Entsetzen starrte Misha auf die drei Bilder. Das erste zeigte seine Mutter, seinen Stiefvater und Jan, das zweite seinen leiblichen Vater und dessen Familie und das dritte Hannah mit ihren Eltern und ihren Geschwistern.

„Ich habe herausgefunden, dass dein Vater nicht weit von hier entfernt wohnt“, sagte Artjom. „Du wolltest du ihm gehen, stimmt's?“

Misha brachte vor Angst kein einziges Wort hervor, was Artjom als Anlass nahm, ihm eine weitere Ohrfeige zu verpassen.

„Antworte mir!“

Misha nickte und hielt sich die schmerzende Wange.

„Hör zu, Kleiner: Ich weiß, dass du nicht freiwillig hier bist und möglichst schnell zu deiner Familie zurück willst, aber daraus wird nichts. Wenn die Polizei von dir Wind kriegt – und das wird sie mit Sicherheit, wenn du fliehst – stecken ich und der gesamte Rest meiner Familie in ernsten Schwierigkeiten. Und – große Überraschung – das möchte ich um jeden Preis verhindern.“
 

Er deutete auf die Fotos.

„Solltest du noch ein einziges Mal versuchen, zu fliehen oder die Polizei zu verständigen, werde ich dafür sorgen, dass innerhalb einer Woche jeder einzelne dieser Menschen das Zeitliche segnet. Und das wäre nicht sehr schön, schließlich hat dein kleiner Bruder Jan sein ganzes Leben noch vor sich, nicht wahr?“

Misha spürte, wie er leichenblass wurde. Auch wenn er es nicht wahrhaben wollte, war er sich sicher, dass Artjom keine leere Drohung aussprach. Dieser Mann hatte vor wenigen Stunden ein wehrloses Kind verprügelt – jemand wie er würde bestimmt nicht vor der Ermordung eines anderen wehrlosen Kindes zurückschrecken.

„Was hältst du von einer Abmachung, Misha? Du bringst meine Familie nicht in Gefahr und dafür werde ich deine nicht in Gefahr bringen.“

Der Junge antwortete nicht, sondern begann vor Angst zu weinen.

„Ich lasse dir die Fotos hier, damit du darüber nachdenken kannst“, sagte Artjom ungerührt, ehe er sich vom Bett erhob, das Zimmer verließ, die Tür abschloss und einen verzweifelten Misha zurückließ.
 

Am nächsten Morgen sah die Welt anders aus, aber nicht besser. Misha hatte die ganze Nacht damit verbracht, sich die Augen aus dem Schädel zu weinen, und keine einzige Sekunde geschlafen. Artjom hingegen schien ausgeschlafen und bester Laune zu sein; gegen zehn Uhr betrat er Mishas Zimmer und bemerkte, dass der Junge mal wieder in der Ecke saß.

„Komm hierher“, befahl er und ging zum Bett.

Vorsichtig richtete Misha sich auf. Er musste sich an der Wand abstützen und leise ächzen, als er sich Artjom humpelnd näherte. Jeder einzelne Schritt jagte eine Welle des Schmerzes durch seinen Körper, was die wenigen Meter, die zwischen Ecke und Bett lagen, zu einer gewaltigen Qual machte.

„Sehr schön“, lobte Artjom, wofür Misha ihm am liebsten ins Gesicht geschlagen hätte. „Und jetzt zieh dich aus.“

Der Kleine schüttelte trotzig und entsetzt den Kopf, woraufhin die Geduld des Russen ein jähes Ende nahm. Zornig stieß er Misha aufs Bett und hielt ihn mit der rechten Hand unten, während er mit der linken seinen Gürtel öffnete und ihm kurz daraufhin die Hose nach unten bis zu den Kniekehlen zog.
 

Misha schrie vor Angst und wehrte sich heftiger denn je, aber sein Widerstand wurde mit einem kräftigen Schlag auf den Hintern abrupt beendet. Artjom hatte ausgerechnet die Stelle getroffen, die er gestern mehrmals mit dem Rohrstock erwischt hatte; Misha fühlte sich, als hätte eine Biene, die so groß wie ein Auto war, ihren Stachel brutal in seinen Körper gerammt, und jaulte vor Schmerz.

Während der Junge vor Scham und Qualen am liebsten gestorben wäre, betrachtete Artjom zufrieden die zahlreichen bunten Stellen, die überall auf der Rückseite von Mishas Oberschenkeln zu sehen war. Die Haut war rot, violett und stellenweise auch blau und Artjom war sich sicher, dass Mishas Hintern genauso schlimm aussah, aber er würde nicht so weit gehen, ihm auch noch die Unterwäsche auszuziehen.

„Lass dir das eine Lehre sein“, sagte er, ehe er von dem vor Angst wimmernden Jungen abließ. „Wenn du fertig mit dem Geheule bist, kannst du zum Essen kommen. Frühstück ist fertig.“

7. Kapitel

Misha erschien nicht zum Frühstück, was Artjom als Anlass nahm, nach dem Jungen zu sehen. Er fand ihn in seinem Zimmer, wo er sich wieder angezogen hatte, aber immer noch auf dem Bett lag und leise schluchzte.

Irgendwie habe ich Mitleid mit dem Kleinen. Es ist nicht so, dass ich ihn hasse oder ihm unbedingt wehtun will, aber er muss lernen, dass er nicht einmal an eine Flucht denken darf.

„Komm schon, Misha, du musst etwas essen. Wenigstens ein bisschen.“

„...“

„Soll ich dich tragen, damit du deine Beine nicht belasten musst?“

„...“

Unschlüssig ging Artjom zum Bett. Er beugte sich nach vorne, um Misha vorsichtig auf die Beine zu ziehen, doch kaum hatte er den Jungen berührt, fing dieser plötzlich an, wie am Spieß zu schreien und wild um sich zu treten. Sofort machte Artjom einen Satz nach hinten und beobachtete, wie Misha sich die Hände auf den Kopf legte, als befürchtete er, dass die Decke jeden Moment einstürzen würde. Aus seinen panischen Schreien wurde ein klägliches Wimmern und der Junge glich mittlerweile vielmehr einem kleinen Häufchen Elend als einem Menschen.
 

„Okay, ist ja gut, ich lasse dich ja schon in Ruhe! Beruhige dich!“, rief Artjom erschrocken und verließ das Zimmer. Er schloss sicherheitshalber die Tür hinter sich ab und wollte sich gerade auf den Weg in die Küche machen, als sein Handy zu klingeln begann.

„Ja?“

„Hi, ich bin's.“

Diese Stimme... das ist Jason!

Jason gehörte zu amerikanischen Mafia, die von den Russen verdächtig wurde, Viktor ermordet zu haben. Seit seinem Tod herrschte zwischen den Amerikanern und den Russen eine starke Spannung, die beiden Seiten zu schaffen machte und neutrale Kommunikation verhinderte. Was verlangte Jason also genau jetzt, wo die zwei Organisationen am wenigsten voneinander wissen wollten?

„Was gibt's?“

„Wir... ähm... brauchen einen Arzt. Kennst du vielleicht jemanden, der zu euch gehört und geeignet wäre? Wir können nämlich nicht zu einem öffentlichen Krankenhaus gehen.“
 

Artjom dachte kurz nach. Er kannte in der Tat jemanden, der Jason weiterhelfen könnte, aber er wusste nicht, ob es so eine gute Idee wäre, potenzielle Schädlinge zu einer hilfreichen Person zu schicken.

„Um was geht es denn?“

„Wir haben hier einen Verletzten, der zuvor von euch entführt wurde. Ich glaube nicht, dass die Ärzte sehr erfreut sein werden, ein Kind zu sehen, das gesucht wird. Und dass es verletzt ist, wird die Wahrscheinlichkeit steigern, dass die Ärzte sich nicht bestechen lassen.“

Verstehe... Es wäre auch für uns nicht gut, wenn ein Entführter seine Freiheit zurückgewinnt, also sollte ich ihnen wohl lieber helfen.

„Ja, ich kenne da eine Ärztin namens Ellen, die offiziell nicht mehr arbeitet und sich inoffiziell nur mit uns beschäftigt.“

Artjom nannte die Adresse, woraufhin Jason sich bedankte und auflegte.

Habe ich das Richtige getan? Wenn sie Ellen umbringen, haben wir eine gute Ärztin weniger. Und es wäre echt schade, sie nicht mehr an Bord zu haben.
 

Nach hastigem Überlegen beschloss Artjom, dass es am besten wäre, selbst zu Ellen zu fahren, um zu sehen, was die Amerikaner wirklich vorhatten. Ohne Misha Bescheid zu sagen – für den Jungen stellte es sowieso keinen Unterschied dar, ob Artjom sich in seiner Villa befand oder nicht – verließ er das Gebäude und fuhr zu Ellen, die in einem anderen Viertel von Sankt Petersburg lebte. Während er sich in einem Hinterzimmer versteckte und zur Kenntnis nahm, dass Jason ihn nicht angelogen hatte und sich tatsächlich nur um einen Jungen sorgte, der etwa in Mishas Alter war, saß Misha immer noch auf seinem Bett und weinte sich die Augen aus dem Kopf. Er hatte unerträgliche Schmerzen und fühlte sich gedemütigt und machtlos. Sein Wunsch, gemeinsam mit Hannah fliehen zu können, hatte sich wie Rauch in Luft aufgelöst – es gab kein Zurück. Weder für ihn noch für Hannah.

Aber ich habe es ihr doch versprochen!
 

Als Artjom wieder nach Hause kam, war es fast zwölf Uhr.

Zeit fürs Mittagessen, entschied er und erkannte, dass seine Haushälterin bereits mit dem Kochen begonnen hatte.

„Ich dachte mir, Pelmeni wären doch ganz nett“, sagte sie, während sie den Teig zubereitete und Charly, die auf der Theke saß und nach Essen bettelte, mit dem Ellbogen zur Seite schob. „Könntest du sie bitte von hier wegbringen? Ich würde die Anzahl der Haare im Teig gerne auf ein Minimum reduzieren.“

„Klar doch“, erwiderte Artjom, ehe er Charly hochhob, sie in seinem Büro absetzte und dort einsperrte, damit sie sich von der Küche fernhielt.

Ich sollte Misha davon überzeugen, am Mittagessen teilzunehmen, dachte er. Ich kann verstehen, dass er Angst vor mir hat, aber seine letzte Mahlzeit liegt schon einige Zeit zurück und ich will nicht, dass er plötzlich umkippt. Weil sein Zimmer ein Badezimmer besitzt, hat er jederzeit freien Zugang zum Trinkwasser, aber ich bezweifle, dass er, seitdem er hier ist, schon etwas getrunken hat, weil er sich immer, wenn ich vorbeischaue, in dieser einen Ecke aufhält.
 

Artjom ging zu Mishas Zimmer, schloss die Tür auf und stellte fest, dass der Junge mal wieder – oder immer noch – an seinem üblichen Platz saß.

„Du magst die Ecke, nicht wahr?“

Von Misha kam nur ein klagendes Schluchzen. Er hatte seine zierlichen Arme um seine angewinkelten Beine geschlungen und das Gesicht hinter den Knien verborgen. Artjom stand mehrere Meter von ihm entfernt, aber er konnte trotzdem sehen, dass Misha vor Angst zitterte.

„Würdest du bitte da herauskommen? Das Essen ist bald fertig und ich werde es dir ganz bestimmt nicht nach oben bringen.“

„...“

„Hast du keinen Hunger?“

„...“

„Zügle deine Begeisterung, Misha. Ich komme ja gar nicht mehr zu Wort, wenn du mich hier in Grund und Boden redest.“

„...“

„Nicht witzig? Gut, dann halt nicht.“
 

Artjom wandte sich zum Gehen ab, doch er hatte nicht einmal die Tür erreicht, als er beschloss, dass es so nicht weitergehen konnte. Misha musste etwas essen, sonst würde er früher oder später zusammenbrechen.

„Hast du wenigstens etwas getrunken, während ich weg war?“

„...“

„Okay, ich hab's verstanden, du redest anscheinend nicht mehr mit mir, weil du zu gut für mich bist oder so.“

Er ging auf Misha zu, bis er direkt vor ihm stand, und verschränkte wütend die muskulösen Arme vor der Brust.

„Nur damit du es weißt: Es gibt da einen Mann namens Roman, der dafür bekannt ist, seine Sexsklaven richtig mies zu behandeln, und dich gerne kaufen würde. Bis jetzt habe ich nicht zugelassen, dass er dich in seine Finger bekommt, also könntest du ruhig etwas Dankbarkeit zeigen.“
 

Vielen Dank, Artjom, dass du mich beinahe in die Ohnmacht geprügelt hast. Du weißt gar nicht, wie dankbar ich dir deswegen bin, dachte Misha, doch kein einziges Wort kam über seine Lippen.

„Hör endlich auf, beleidigt zu sein“, zischte Artjom. „Es ist deine Schuld, dass ich dir wehtun musste. Ich habe das nicht gerne gemacht, wirklich nicht, aber du lässt mir keine andere Wahl, wenn du meine Familie in Gefahr bringst.“

„Ich hasse dich.“

Artjom blinzelte verwirrt. Hatte Misha ihm gerade geantwortet oder hatte er sich das bloß eingebildet?

„Wie dem auch sei, ich möchte, dass du etwas isst. Entweder folgst du mir freiwillig oder ich werde dich zum Esszimmer tragen. Was ist dir lieber?“

Misha antwortete nicht, sondern rappelte sich zögernd auf und schaute eisern zu Boden, sodass ihm seine braunen Haare in die Stirn fielen.
 

Artjom widerstand dem Drang, dem Jungen die Haare hinter das Ohr zu streichen und machte sich zum Esszimmer auf. Er ging extra langsam, damit Misha mit ihm Schritt halten konnte, und hörte, dass der Junge humpelte, sehr unregelmäßige Schritte machte und gelegentlich leise ächzte oder stöhnte.

„Bist du dir sicher, dass ich dich nicht tragen soll?“, fragte er leicht besorgt, aber Misha schüttelte trotzig den Kopf. Er würde lieber so lange gehen, bis seine Beine bluten würden, als sich freiwillig in die Nähe dieses Grobians zu begeben.

„Dann halt nicht“, raunte Artjom und führte Misha in das Esszimmer, dessen Tisch bereits gedeckt worden war. Der leckere Geruch von gefüllten Teigtaschen lag in der Luft und ließ Artjom das Wasser im Mund zusammenlaufen. Während er sich an den Tisch setzte und erwartungsvoll seinen Teller ansah, ließ Misha sich möglichst weit entfernt von dem Russen nieder und machte keinerlei Anstalten, seinen Teller, der einen ganzen Meter zu weit rechts für ihn stand, zu sich zu ziehen.
 

„Misha, ich werde gleich wütend. Du wirst jetzt etwas essen!“

Der Junge rührte sich nicht vom Fleck, obwohl er Hunger hatte und förmlich spüren konnte, wie sein Magen sich selbst verdaute. Unter normalen Umständen wäre er sicherlich in der Lage gewesen, etwas zu essen, aber selbst wenn er Artjom nicht abgrundtief hassen würde, hätte er nicht einmal das Besteck anfassen können. In der Anwesenheit anderer Menschen zu essen, war für ihn eine unüberwindbare Herausforderung; da konnte Artjom sagen, was er wollte, Misha würde selbst unter Zwang keinen einzigen Bissen herunterkriegen können.

„Junger Mann, entweder wirst du jetzt etwas essen oder du gehst in dein Zimmer zurück und wirst frühstens übermorgen die nächste Gelegenheit bekommen, etwas zu essen zu kriegen“, knurrte Artjom in der Hoffnung, Misha zur Nahrungsaufnahme zu bewegen, doch seine Worte erzielten nicht die gewünschte Wirkung.

Schweigend rutschte Misha von seinem Stuhl und verließ humpelnd das Esszimmer. Artjom hätte am liebsten einen Teller nach ihm geworfen, doch er ließ es bleiben.
 

Misha hätte schreien können vor Schmerz. Die gewaltigen Blutergüsse an seinen Beinen machten so etwas Simples wie Fortbewegung zu einer kaum ertragbaren Qual, die Misha wohl oder übel auf sich nehmen musste, um zu seinem Zimmer zu gelangen.

Auf halben Weg passierte er einen Raum, dessen Tür geschlossen war. Eigentlich wollte er ganz normal an ihr vorbeigehen, aber er hielt augenblicklich inne, als plötzlich ein vertrautes Geräusch zu hören war.

Das Trippeln des Monsters.

Misha lief es eiskalt den Rücken hinunter. Er fragte sich, ob er weitergehen und das leise Tippen ignorieren sollte, doch sein Bedürfnis, mehr über das Monster herauszufinden, war größer. Neugierig öffnete er die Tür und erblickte ein ordentlich eingerichtetes Büro.

Ich bin mir ganz sicher, dass das Trippeln aus diesem Raum kam.
 

Zögernd betrat Misha das Zimmer und sah sich um, doch er konnte weit und breit kein Lebewesen entdecken. Das Geräusch der Stöckelschuhe – natürlich waren es keine Schuhe, aber Misha wusste nicht, woher das Geräusch sonst kam – war verstummt, was es noch schwieriger machte, das Monster zu orten.

Mishas braune Augen blieben an einem gefalteten Stück Papier hängen, das auf dem Schreibtisch lag. Alles in ihm schrie, dass er sich von dem Blatt fernhalten sollte, aber sein Körper bewegte sich wie von alleine, als er den Zettel nahm, entfaltete und las.

Oh mein Gott... Viktor ist tot?!

Artjom meinte doch, er wäre bloß verreist...

''Wenn nicht, gibt ihn'' – damit bin ich gemeint – ''einfach zurück; er ist noch unbenutzt.''

Ich bin doch kein Gegenstand!
 

Wütend und enttäuscht zugleich starrte Misha auf den Brief. Dass Viktor nicht mehr lebte, bedeutete, dass er bei diesem gewalttätigen Arsch namens Artjom bleiben musste, was ja wirklich glänzende Aussichten waren.

Sein Blick wanderte zu der Mitte des Papiers, wo eine Menge komischer Striche waren. Misha konnte mit ihnen nicht viel anfangen, aber wenn er das Blatt um siebzig Grad nach links drehte, sahen die Striche ein bisschen wie japanische Schriftzeichen aus, die--

„Anscheinend besitzt du ein Talent dafür, dich in Schwierigkeiten zu bringen.“

Scheiße!

Misha legte den Brief eilig zurück auf den Tisch und drehte sich zu Artjom um, der im Türrahmen stand und fuchsteufelswild aussah. Ohne zu zögernd ging der Ältere auf den Jungen zu und schlug ihm mit so einer Wucht ins Gesicht, dass Mishas Nase heftig zu bluten begann.
 

Der Kleine hätte sich gerne nach vorne gebeugt, damit die Blutmassen abfließen konnten, aber Artjom machte ihm da einen Strich durch die Rechnung, als er den Jungen am Hals packte und seinen Kopf gewaltsam nach oben drückte.

„Sieht dieses Zimmer so aus, als wäre es für deine Augen bestimmt?“, knurrte der Größere zornig.

„Nein“, ächzte Misha, während er gezwungenermaßen sein eigenes Blut schlucken musste. „Es tut mir leid.“

„Oh, glaub mir, es wird dir gleich noch viel mehr leidtun.“

Nur durch devotes Betteln und mehreren Entschuldigungen gelang es Misha, den Rohrstock nicht ein zweites Mal ertragen zu müssen. Ganze zehn Minuten stand er flehend, weinend und blutend vor Artjom, der ihn rügte und schließlich losließ, woraufhin Misha sofort die Flucht ergriff. In seinem Mund befand sich der metallische und leicht süßliche Geschmack seines eigenen Blutes und ihm war speiübel.
 

Kaum hatte der Junge das Büro verlassen, nahm Artjom Viktors Brief und verstaute ihn in seinem Safe. Zuvor drehte er das Blatt auf die Seite, wie er es bei Misha gesehen hatte, doch die Striche sahen für ihn immer noch gleich aus.

Könnte es sein, dass der Junge diese Schriftzeichen lesen kann? Ich sollte ihn bei Gelegenheit fragen.

Nachdem der Brief vor neugierigen Kindern in Sicherheit gebracht worden war, kehrte Artjom ins Esszimmer zurück und beendete seine Mahlzeit. Anschließend fütterte er Charly, die zuvor aus dem Büro geflohen und ständig auf den Esstisch gesprungen war, um nach einer Möglichkeit zu suchen, etwas von den Teigtaschen stibitzen zu können, und führte ein kurzes Telefonat mit Katja, die ihm erzählte, dass der Junge, der bei den Amerikanern war und Riley hieß, mit dem Plan zu tun gehabt hatte, von dem bei der gestrigen Versammlung kurz die Rede gewesen war.

„Lass mich raten: Valentin hat Riley foltern lassen?“

„Vermutlich“, erwiderte Katja. „Ich weiß auch nicht, was er sich dabei gedacht hat – das war wirklich das Dümmste, was er hätte tun können.“
 

„Uh-hm. Beliebt hat er sich mit der Aktion sicherlich nicht gemacht.“

„Nun, es ist passiert und lässt sich nicht mehr ändern. Wie geht es mit Viktors Brief voran?“

„Ich bin immer noch dabei, die Schriftzeichen zu entschlüsseln“, gestand Artjom, ehe er noch ein paar Sätze sagte, das Gespräch beendete und auflegte.

Ich sollte Misha um Rat fragen. Vielleicht weiß er ja etwas, das mir weiterhelfen könnte.

Artjom ging zu Mishas Zimmer, doch der Junge saß weder auf dem Bett noch in seiner üblichen Ecke. Stattdessen befand er sich im anliegenden Badezimmer, wo er sich über das Waschbecken beugte und würgte. Der Russe fragte sich, was Mishas Magen wohl loswerden wollte – schließlich hatte er seit einem Tag nichts zu essen bekommen – doch dann beobachtete er geschockt, wie keine unappetitliche Mischung aus Essen und Magensäure, sondern etwas Anderes ins Waschbecken spritzte.

Blut.

8. Kapitel

Artjom konnte sich noch gut daran erinnern, wie sein ältester Bruder gestorben war. Man hatte ihn vergiftet und etwa eine halbe Stunde nach der Einnahme des Getränks, das er nicht hätte zu sich nehmen sollen, hatte er Blut gespuckt, bis er qualvoll erstickt war. Artjom wusste noch ganz genau, wie er hilflos neben ihm gestanden hatte und nichts anderes hatte tun können, als seinem Bruder beim Sterben zuzusehen. Der blutige Speichel, die widerlichen Geräusche, die Panik in den Augen des Sterbenden... alles war auf einmal wieder da. Artjom kam es so vor, als müsste er das Ereignis ein weiteres Mal erleben; es war schrecklich.

Reiß dich zusammen!, sagte er sich selbst und schaffte es schließlich, sich aus eigener Kraft aus seinem Flashback zu reißen.

Misha hatte währenddessen seinen gesamten Magen entleert. Er würgte, bis es nichts mehr zum Würgen gab, ehe er sich den Mund auswusch, um den ekelhaft bitteren Geschmack von Magensäure loszuwerden, und das Blut in den Abfluss spülte, damit Artjom von der ganzen Sache nichts mitbekam.
 

„Nicht erschrecken, Misha“, sagte plötzlich eine tiefe Stimme hinter dem Jungen. Die Worte erzielten nicht die gewünschte Wirkung; Misha zuckte ängstlich zusammen, als er spürte, wie Artjom die Hände auf seinen Rücken legte, und begann zu zittern.

„Ganz ruhig, Kleiner.“

Bei jeder Person, mit der er vertraut war, hätte Misha es sicherlich als beruhigend empfunden, wenn ihm jemand sanft über den Rücken strich, aber bei Artjom verspürte Misha eine ganz andere Wirkung. Er fühlte sich bedroht und wäre am liebsten mit dem Waschbecken verschmolzen. Verunsichert schaute er in den Spiegel und sah, dass der Ältere direkt hinter ihm stand, leichenblass im Gesicht war und nervös schluckte.

„Hast du irgendwo Schmerzen?“, fragte er. „Oberhalb der Gürtellinie, meine ich.“

Misha konnte nicht sprechen. Wie ein Kaninchen, das sich in einer Schockstarre befand, stand er vor Artjom und betete zu Gott, dass der Russe ihn in Ruhe lassen würde.
 

„Bitte antworte mir.“

Der Junge spürte, wie sich kalter Angstschweiß auf seiner Stirn bildete. Er atmete stoßweise, zitterte wie Espenlaub und konnte seinen eigenen Herzschlag, der wild hämmerte, deutlich hören. Seine Knie fühlten sich an, als würden sie aus Gummi bestehen und jeden Moment einknicken.

„Misha, bitte.“

Als Artjoms Hände, die dem Jungen regelmäßig über den Rücken gestrichen hatten, auf einer Stelle verharrten, gelang es dem Kleinen, sich endlich aus seiner Starre lösen zu können. So unerwartet und plötzlich wie ein Blitz fing er an, sich zu bewegen. Er gab einen Schrei von sich, der dem Todesschrei eines Kaninchens ähnelte, schlug um sich und schaffte es irgendwie, sich von Artjom zu entfernen und unter den Waschbecken zusammenzukauern. Wie ein kleines Häufchen Elend saß er dort und hob abwehrend die Arme vor sein Gesicht, das er auch mit seinen angewinkelten Beinen zu schützen versuchte.
 

„Misha, komm bitte daraus“, sagte Artjom, der nun das volle Ausmaß der Konsequenzen seiner Bestrafung erblickte, die anscheinend zu heftig gewesen war. „Ich werde dir auch nicht wehtun, versprochen.“

Der Junge glaubte ihm kein Wort. Er wusste nicht, mit welcher seiner Handlungen er diesmal Artjoms Zorn auf sich gelenkt hatte, aber er wusste, dass er sich nicht freiwillig ausliefern würde. Zwar konnte er dem Mann nicht entkommen, aber das war noch lange kein Grund, die Strafe nicht hinauszuzögern.

„Ich möchte dich doch nur zu einem Arzt bringen.“

Misha schüttelte trotzig den Kopf. Artjom hatte auf einen Arzt verzichtet, als Misha vor Schmerzen geschrien und gehumpelt hatte, also warum sollte er seine Meinung nun ändern?

„Junger Mann, entweder kommst du jetzt freiwillig daraus oder wir werden es auf die harte Tour machen müssen.“

Angesprochener wimmerte leise und schluchzte vor Angst.

„Na gut, du hast es so gewollt. Nur damit du es weißt: Das hier war deine Entscheidung und nicht meine.“
 

Kaum hatte Artjom seinen Satz beendet, griff er nach Mishas Händen und zog den Jungen gewaltsam unter dem Waschbecken hervor. Der Kleine schrie und zappelte, doch ein kräftiger Schlag gegen die Schläfe bereitete seinem Widerstand ein jähes Ende.

Misha ächzte vor Schmerz. Ihm war schwindelig, das Badezimmer schwankte hin und her und viele bunte Punkte tanzten vor seinen braunen Augen herum. Nur am Rande nahm er wahr, dass Artjom ihn vorsichtig hochhob und durch das Haus trug. Er versuchte, sich aus seinem Griff zu winden, aber der Russe war ihm haushoch überlegen, was körperliche Stärke anging.

„Hörst du jetzt endlich mit dieser verdammten Gegenwehr auf?“, zischte er und schüttelte Misha kurz, damit der Junge aufhörte, sich wie ein Fisch auf dem Trockenen zu winden.

Der Kleine gab sich geschlagen. Er begann vor Angst zu schluchzen und das Gesicht hinter seinen zierlichen Händen zu verbergen, damit er Artjom nicht ansehen musste.

„Ich weiß wirklich nicht, was dein Problem ist oder warum du jetzt schon wieder weinst. Alles, was ich will, ist dich zu einem Arzt zu bringen – was gibt es daran zu bemängeln?“
 

Misha antwortete nicht, aber Artjom hatte auch keine Antwort erwartet. Letzterer hatte den Jungen mit einem Arm unter den Kniekehlen und dem anderen unter dem Rücken getragen, doch nun warf er sich den Kleinen über die Schulter, damit er eine Hand frei hatte, um seinen Schlüsselbund aufzulesen. Er stellte fest, dass Misha noch weniger wog als er erwartet hatte, und ging zu seinem Auto, auf dessen Rückbank er den Jungen absetzte, der sofort von ihm wegzukrabbeln versuchte, jedoch von ihm aufgehalten wurde.

„Misha, ich möchte jetzt, dass du mir zuhörst“, sagte Artjom eindringlich und hielt ihn nicht zu feste, aber auch nicht zu vorsichtig an den Handgelenken fest. „Du willst nicht, dass ich dir noch einmal mit dem Rohrstock den Hintern versohle, oder?“

Misha schüttelte den Kopf.

„Gut. Und ich will nicht, dass du während der Fahrt irgendetwas Dummes tust. Denkst du, wir können uns gegenseitig einen kleinen Gefallen tun?“

Er nickte.
 

„Okay“, sagte Artjom viel sanfter als er zuvor geklungen hatte. Er wollte Misha behutsam über die Wange streichen, aber weil dieser ruckartig den Kopf wegdrehte, blieb Artjom nichts anderes übrig, als den Jungen in Ruhe zu lassen, in sein Auto zu steigen und loszufahren.

Während der Fahrt tat Misha nichts, über das Artjom sich beschweren könnte, aber dafür musste er nach dem Parken feststellen, dass er vor einem neuen Problem stand. Misha in das Auto hineinzutun, war keine Herausforderung gewesen, aber ihn aus selbigem herauszuholen, war eine ganz andere Sache.

„Würdest du bitte da rauskommen?“, fragte er, woraufhin Misha den Kopf schüttelte und sich mit dem Ärmel die Tränen von der Wange wischte. Er drückte sich selbst gegen die rechte Autotür, während Artjom an der linken stand und ganz genau wusste, dass ein Seitenwechsel zwecklos wäre, weil Misha es ihm gleichtun und ebenfalls die Autotür wechseln würde.

„Junger Mann, es reicht jetzt. Komm aus dem verdammten Auto heraus oder ich...“
 

Artjom hatte den Satz nicht einmal beendet, als er erkannte, dass er es nur noch schlimmer gemacht hatte. Misha hatte sich bei den Worten noch kleiner gemacht und erneut zu weinen angefangen. Mit Zwang erreichte man bei ihm absolut gar nichts.

Eigentlich bin ich ein Fan von Gewalt, weil sie Probleme schnell und effektiv zugleich löst, aber Misha scheint eine Ausnahme zu sein.

Gut, ich sollte zumindest versuchen, mich ihm auf eine gewaltfreie Art und Weise zu nähern.

Auch wenn ich keine Ahnung habe, wie man mit Kindern umgehen muss...

„Misha, siehst du diese Villa da?“, fragte Artjom und deutete auf das prachtvolle Gebäude hinter sich. „Dort lebt eine Ärztin namens Ellen, zu der ich dich jetzt bringen will, weil ich mir Sorgen um dich mache. Würdest du also bitte kooperieren, anstatt dich zu weigern?“

Misha schien nicht überzeugt zu sein, aber er sah zu Ellens Haus, was Artjom als Fortschritt sah.
 

„Vertrau mir, dort erwartet dich nichts Schlimmes. Könntest du jetzt bitte zu mir kommen?“

Der Junge schüttelte den Kopf.

„Und warum nicht?“, fragte Artjom ungeduldig. „Denkst du, dass ich dich verarsche? Dass das hier bloß eine Pappattrappe oder ein Bordell ist, an das ich dich verkaufen will?“

Davon war Misha anscheinend überzeugt.

„Das war ein Scherz, Kleiner. Wenn ich sage, dass dort eine Ärztin wohnt, dann wohnt da auch eine Ärztin. Ich mag brutal sein, aber ich bin kein Lügner.“

Misha rührte sich immer noch nicht vom Fleck. Artjom seufzte genervt und fragte sich, was er jetzt tun sollte.

„Ich verstehe wirklich nicht, was dein Problem ist. Liegt es an mir oder glaubst du mir nicht, dass ich dich zu einer Ärztin bringen will?“

Der Kleine schluckte nervös. Er wollte Artjom antworten, aber er konnte es nicht. Seine Zunge klebte an seinem Gaumen und seine Lippen waren ebenfalls zusammengeschweißt.
 

Artjom war mit seinem Latein am Ende. Er hatte es auf die unfreundliche und freundliche Art versucht – was blieb ihm jetzt noch übrig?

„Okay, letzter Versuch, bevor ich dich gewaltsam aus dem Wagen zerren werde: Was muss ich tun, damit du freiwillig kommst?“

Misha dachte kurz nach. Artjom war in der Tat kein Lügner und jemand, der gerne Kompromisse vereinbarte. Wenn Misha das zu seinem Vorteil nutzte, könnte er herausfinden, wo Hannah war, was den ersten Schritt der Flucht darstellte.

„Sag mir... wo Hannah ist.“

„Netter Versuch, Kleiner. Du hast doch nicht ernsthaft erwartet, dass ich dir jetzt den Namen und die Adresse der Person nenne, die Hannah gekauft hat, oder?“

„Nur... die Stadt.“

„Na gut, das werde ich dir sagen können. Hannah befindet sich in Moskau.“
 

Misha biss sich auf die Unterlippe. Moskau war eine zehnstündige Autofahrt von Sankt Petersburg entfernt, aber immer noch in Russland, was für Misha eine wertvolle Information war. Zögernd krabbelte er auf Artjom zu, bis er sich in dessen Reichweite befand, und ließ sich widerstandslos von ihm hochheben.

„Na bitte, es geht doch“, sagte der Ältere und tätschelte Misha den Kopf. „War das jetzt so schwer?“

Der Kleine nickte, woraufhin Artjom genervt die Augen verdrehte und zum Eingang der Villa marschierte. Er klingelte an der Tür, die wenige Augenblicke später von Ellen geöffnet wurde.

Neugierig betrachtete Misha die Ärztin. Sie befand sich vermutlich in ihren späten Dreißigern oder frühen Vierzigern. Ihre schulterlangen Haare waren braun, genau wie ihre Augen, die Artjom misstrauisch beäugten.

„Du warst doch vor wenigen Stunden erst hier“, sagte sie auf Deutsch – anscheinend war sie eine Muttersprachlerin – zu Artjom. „Was willst du dieses Mal?“
 

„Es geht um den Jungen“, erwiderte der Russe und deutete mit einem Nicken zu Misha. „Ich habe vorhin gesehen, wie er Blut erbrochen hat. Es scheint ihm nicht gut zu gehen.“

„Könnte das vielleicht daran liegen, dass du ihn schlecht behandelt hast? Ich habe von Katja gehört, dass... du Andrej manchmal imitierst.“

Artjom seufzte. Er hasste es, mit seinem Cousin verglichen zu werden, doch eigentlich hatte Katja recht. Andrej und Artjom waren sich in der Tat ziemlich ähnlich.

„Kann sein“, murmelte er, woraufhin Ellen seufzte und ihn zu ihrem Behandlungszimmer führte, das zur Hälfte auch ein Büro war.

„Leg den Jungen auf der Couch dort ab und dann verschwinde. Ich möchte bei meiner Arbeit nicht gestört werden.“

Artjom tat, was von ihm verlangt wurde. Er wollte Misha zum Abschied kurz durch die weichen Haare wuscheln, aber der Kleine schlug seine Hand weg und schien heilfroh zu sein, endlich Abstand zu dem Russen gewonnen zu haben.
 

„Is' ja gut, ich verpiss' mich doch schon“, zischte Artjom gereizt und verließ den Raum. Er würde dem Jungen gerne ein wenig Respekt einprügeln und gleichzeitig wollte er ihn in den Arm nehmen und ihm sagen, dass alles gut wäre. Es war ein komisches Gefühl, das Artjom da verspürte. Einerseits fühlte er sich zu Misha hingezogen, aber andererseits gab es mehr als genug Gründe, den Kleinen einfach wie ein überdrüssig gewordenes Haustier abzugeben.

Er hasst mich, er verachtet mich, er ist respektlos und rebellisch, er sorgt bloß für Ärger, er mischt sich in Angelegenheiten ein, die ihn nichts angehen, er... ist verdammt niedlich. Vor allem, dass er nicht so vorlaut und arrogant ist, gefällt mir. Ich habe schon so viele Jugendliche kennengelernt, die meinten, toll und besonders zu sein, und in Wirklichkeit waren sie ganz gewöhnliche Menschen und sterbenslangweilig.

Mein Vater hat mal gesagt, dass man sich vor ruhigen Leuten in Acht nehmen soll, weil das diejenigen sind, die nachdenken, bevor sie ihr Maul aufreißen oder zur Tat schreiten. Ich habe das Gefühl, dass Misha der lebende Beweis für diese Lebensweisheit ist. Hinter dieser unauffälligen Fassade versteckt sich eindeutig etwas.
 

Plötzlich fiel Artjom auf, warum er so angetan von dem Jungen war. Er besaß eine Schwäche für außergewöhnliche Dinge, was auch den Grund darstellte, warum er schon 25 Jahre alt war und trotzdem noch keinen Partner gefunden hatte, mit dem er es länger als zwei Monate aushielt.

Ich sollte mich langsam entscheiden. Entweder werde ich Misha aufgeben und ihn zu den Menschenhändlern zurückbringen oder ich werde mich zusammenreißen und meine Beziehung zu ihm auf Vordermann bringen, damit wir irgendwann mal andere Dinge tun können, als uns gegenseitig abzulehnen.

Eigentlich wollte ich mir mit der Suche nach einem geeigneten Partner noch Zeit lassen, aber Misha ist jemand, mit dem ich mir eine Beziehung durchaus vorstellen könnte. Er hat etwas Mysteriöses an sich, das ich gerne erforschen würde.

Nein, ihn direkt zu meinem Partner zu machen, ist zu voreilig. Ich sollte damit beginnen, ihn zu meinem Sklaven zu ernennen. Keine Ahnung, ob er davon begeistert sein wird, aber-- Oh. Mir ist gerade etwas Wichtiges eingefallen, das ich vollkommen vergessen habe.

Viktor.

9. Kapitel

„Und?“, fragte Artjom ungeduldig, als Ellen nach einer gefühlten Ewigkeit aus ihrem Behandlungszimmer kam. „Wie geht es ihm?“

„Besser als ich vermutet habe. Als du mir sagtest, er hätte Blut erbrochen, dachte ich zuerst an ein Magengeschwür oder innere Verletzungen, aber wie sich herausstellte, hatte der Kleine bloß Nasenbluten. Ich habe ihn zur Sicherheit geröntgt – ihm geht es prima... wenn man von den Blutergüssen, dem Schlafmangel und den Kreislaufproblemen absieht.“

„Von den Blutergüssen weiß ich, aber die beiden anderen Sachen sind mir neu.“

„Nun, Schlafmangel entsteht durch zu wenig Schlaf und Kreislaufprobleme durch eine schlechte körperliche Verfassung, deren Ursache beispielsweise Hunger sein kann. Darüber hinaus ist mir aufgefallen, dass der Junge ungewöhnlich ängstlich ist. Ich habe ihm nach der Untersuchung ein Beruhigungsmittel verabreicht, damit er zu zittern aufhört, und er ist nach wenigen Minuten eingeschlafen.“

„War die Dosis zu hoch?“
 

„Nein. Ich denke eher, dass ihn die Angst am Schlafen und Essen gehindert hat. Natürlich kann auch etwas Anderes vorgefallen sein – weiß der Himmel, was du mit dem armen Knaben angestellt hast – aber meine Theorie erscheint mir nicht unwahrscheinlich.“

„Verstehe... also geht es ihm eigentlich gut und er braucht keine Behandlung?“

„Nein, aber an deiner Stelle würde ich ihm etwas zu essen geben, sonst wird er früher oder später zusammenbrechen.“

„Okay. Danke“, erwiderte Artjom, ehe er sich zum Behandlungszimmer aufmachte und dort einen schlafenden Misha vorfand, der in einem Sessel lag und sich wie eine Katze eingerollt hatte. Mit allergrößter Vorsicht hob Artjom den Jungen hoch und trug ihn zum Auto.

„Noch einmal Danke für deine Hilfe“, sagte er im Vorbeigehen zu Ellen. „Du hast was gut bei mir.“

„Ach wirklich? Dann wünsche ich mir, dass du dieses Kind besser behandelst. Das ist jetzt schon der zweite Junge an diesem Tag, der verprügelt wurde und wahrscheinlich nichts getan hat. Sieh ihn dir doch an, der hat nicht einmal genug Kraft, um sich zu wehren.“
 

Artjom hörte ihr nur noch mit einem Ohr zu und legte Misha vorsichtig auf der Rückbank seines Autos ab. Anschließend fuhr er nach Hause, wo er feststellen musste, dass der Junge in der Zwischenzeit aufgewacht war.

„Muss ich dich wieder mit etwas anlocken oder kommst du diesmal freiwillig?“, fragte Artjom, der die linke Autotür geöffnet hatte.

Misha antwortete nicht, sondern stieg aus der rechten aus und humpelte barfuß zur Eingangstür. Ihm war anzusehen, dass er starke Schmerzen hatte und sich lieber ausgeruht hätte, anstatt sich durch den eisigen Schnee zu kämpfen, doch er ging tapfer weiter und wartete darauf, dass Artjom die Haustür aufschloss.

„Warum rennst du denn jetzt vor mir weg?“, wollte der Ältere wissen. „Darf ich dich daran erinnern, dass ich dich vorhin zu einer Ärztin gebracht habe?“

„Darf ich dich daran erinnern, dass du der Grund bist, warum ich zu einer Ärztin musste?“, erwiderte Misha im gleichen Tonfall. „Und dass es mir blendend ginge, wenn es dich nicht gäbe?“
 

„Also... so langsam machte ich mir ernsthafte Sorgen um dich. Seit wann redest du so viel auf einmal?“

„Halt die Klappe und mach endlich die Tür auf. Es ist kalt!“

„Wag es nicht, jetzt respektlos zu werden.“

„Nenn mir einen Grund, warum ich dich respektieren sollte.“

„Den Grund wirst du gleich auf deinem Hintern wiederfinden, wenn du nicht ganz schnell deinen Ton änderst!“

„Du willst mich verprügeln? Na los, dann tu's doch, Wichser! Schlag mich, weil du inkompetent bist, mit Worten zu kommunizieren!“

Misha hatte keinen blassen Schimmer, woher er den Mut nahm, so mit Artjom zu reden, aber er wusste, dass er seine bissigen Bemerkungen lieber für sich hätte behalten sollen. Ehe er sich versah, wurde er an den braunen Haaren gepackt und durch die Villa gezerrt, die Artjom inzwischen aufgeschlossen hatte.
 

„LASS MICH LOS!“

„Das hättest du dir vorher überlegen sollen, Misha.“

„Du blöder Pisser! Wegen einer Kleinigkeit schlägst du mich grün und blau, aber ich darf dich nicht einmal kritisieren!“

„Das Leben von mir, meiner Familie und meinen Freunden in Gefahr zu bringen, ist keine Kleinigkeit. Außerde--“

„Und was ist mit meiner Familie?! Hast du jemals an die gedacht?! Ist dir nie in den Sinn gekommen, dass meine Freunde sterben könnten, weil sie an skrupellose Arschlöcher wie dich geraten sind, von denen sie zu Tode geprügelt werden?!“

Artjom erwiderte nichts, sondern zerrte Misha zu dem Raum, in dem der Schrank stand, aus dem der Rohrstock entnommen worden war. Während er mit der einen Hand den immer noch zappelnden Jungen festhielt, öffnete er mit der anderen die Schranktür und holte ein Paddle heraus, das er Misha vor das Gesicht hielt.
 

„Holz, dreißig Zentimeter lang und 15 Millimeter dick“, erklärte er und schwenkte es einmal durch die Luft, woraufhin eine Art Pfeifen zu hören war. „Weil ich heute einen guten Tag habe, überlasse ich dir die Wahl: Entweder werde ich dir damit“, er schwenkte das Paddle erneut und beobachtete zufrieden, wie Misha nervös schluckte, „so lange auf den nackten Hintern schlagen, bis dir das Blut an den Beinen herunterläuft, oder du wirst etwas ganz Bestimmtes für mich tun.“

Misha konnte sich bereits denken, was Artjom von ihm wollte. Er verzog angewidert das Gesicht und schüttelte den Kopf.

„Kleiner, das war keine Frage, die man bejahen oder verneinen kann. Entscheide dich oder ich werde es für dich tun.“

„Nein!“

„Von mir aus können wir auch gerne beides machen, wenn das so weitergeht.“

Misha spürte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen. Er hatte die Wahl – entweder würde Artjom ihn verprügeln oder missbrauchen. Das war wie die Wahl zwischen Pest und Cholera.
 

Schmerz oder Scham... das ist beides ätzend, aber ich sollte mich für Letzteres entscheiden. Mit ein wenig Glück gibt sich dieses kranke Schwein mit einem Hand- oder Blowjob zufrieden und kommt nicht auf die Idee, mir meine Unschuld zu nehmen.

„Entscheidest du dich jetzt endlich?“, zischte Artjom ungeduldig, woraufhin Misha auf das Paddle deutete, den Kopf schüttelte und sich die Tränen aus dem Gesicht wischte.

„Weise Entscheidung.“ Artjom legte das Paddle zurück an seinen ursprünglichen Platz und schloss den Schrank ab. Anschließend lockerte er seinen Griff, damit er Misha nicht versehentlich wehtat, aber immer noch festhielt, und zog den Jungen Richtung Küche.

Misha bereute seine Entscheidung. Dass Artjom ihn in einen anderen Raum bringen wollte, musste bedeuten, dass er ihn nicht nur missbrauchen, sondern noch ganz andere Dinge mit ihm anstellen wollte, die so abartig und pervers waren, dass Misha nicht darüber nachdenken wollte.

Scheiße... hätte ich gewusst, dass er auf krankes Zeug steht, hätte ich mich lieber für die Schmerzen entschieden.
 

„Ich... hab' meine Meinung geändert“, stammelte Misha ängstlich, aber Artjom interessierte das herzlich wenig.

„Nein, dafür ist es jetzt zu spät“, sagte er. „Auf den Hin-und-Her-Trick habe ich keine Lust, Misha, das kannst du dir sparen.“

„Nein! Lass mich los!“

Der Junge begann zu zappeln, zu treten und zu schreien. Er schlug um sich, als würde sein Leben davon anhängen, doch es nutzte alles nichts. Artjom hielt ihn weit genug von sich weg, damit er nicht verletzt wurde, und wartete, bis der Kleine keuchend zusammenbrach und erneut zu weinen anfing.

„Kann es sein, dass du unter einer Verhaltensstörung leidest?“, fragte Artjom irritiert. „Ohne Scheiß, hast du gerade einen Anfall bekommen oder was sollte das? Und warum weinst du jetzt schon wieder?“

Misha antwortete nicht, sondern schüttelte den Kopf. Artjom, der nicht wusste, wie er diese Geste interpretieren sollte, warf sich den Kleinen über die Schulter und ging mit ihm zur Küche.
 

Eigentlich habe ich mich vor nicht allzu langer Zeit dazu entschieden, dem Jungen eine Chance zu geben, aber mittlerweile bereue ich diese Entscheidung. Ein Partner, der interessant und mysteriös ist, gefällt mir, aber ein Partner, der komische Probleme hat und ständig eine Sonderbehandlung braucht, ist sogar noch schlimmer als ein 08/15-Teenager, der--

„Bitte, Artjom, ich will das nicht.“

„Mir egal.“

„Können wir... uns nicht... auf etwas einigen?“

„Die einzige Vereinbarung, auf die ich mich einlasse, ist, dass es gleich Ohrfeigen hagelt, wenn du nicht sofort aufhörst, mich zu nerven.“

Scheiße... es hat keinen Sinn; er wird mich missbrauchen. Wahrscheinlich habe ich noch eine Chance, dass er von mir ablässt, wenn ich weder Gefallen noch Gegenwehr zeige und so reglos wie eine Leiche unter ihm liege. Vielleicht wird ihn das davon abhalten, mich zu-- Moment... was wollen wir denn in der Küche?

Misha schaute verwundert zu Artjom, der ihn vorsichtig auf einem Stuhl absetzte und anschließend neben ihm an dem Tisch Platz nahm.
 

„Du wirst jetzt etwas essen“, sagte er befehlerisch. „Es ist mir völlig egal, was du dir aussuchst, aber ich werde mich nicht zufriedengeben, ehe du nicht eine ganze Mahlzeit zu dir genommen hast.“

Aus Mishas Irritation wurde Entgeisterung.

„Hättest du das nicht vorher sagen können?“, zischte er wütend. „Ich dachte, du wolltest mich vergewaltigen.“

„Mal ganz davon abgesehen, dass ich kein Kinderschänder bin, bekomme ich langsam, aber sicher den Verdacht, dass du mehrere Persönlichkeiten besitzt. Manchmal stotterst du, manchmal redest du ganz normal, manchmal sprichst du gar nicht... und deine Stimmungsschwankungen sind auch besorgniserregend.“

„Ich weiß“, murmelte Misha betrübt. „Mir fällt es schwer... mich in der Anwesenheit anderer Menschen... richtig zu verhalten. Das Sprechen ist nicht einfach... und das Essen auch nicht.“

„Ähm, okay... wie dem auch sei, was möchtest du essen?“
 

Misha zuckte mit den Schultern.

„Hast du irgendwelche Allergien oder Ähnliches?“

Er schüttelte den Kopf.

„Ist es okay, wenn ich dir die Pelmeni von heute Mittag warm mache?“

Er nickte.

„Gut.“

Wenige Minuten später stand ein Teller mit dampfenden Teigtaschen vor Misha. Artjom legte ihm auch Besteck vor die Nase und setzte sich zurück an den Tisch.

„Na los, iss. Ich warte.“

„Ich... kann nicht.“

„Und warum nicht? Weil ich es wage, dich dabei zu beobachten? Verdammt, Misha, was ist dein Problem? Iss dein Essen oder ich werde wütend.“

Angesprochener stieß vorsichtig seine Gabel in eine der gefüllten Teigtaschen und bewegte sie zu seinem Mund, hielt jedoch auf halbem Weg inne, sah Artjom unsicher an und schüttelte den Kopf.
 

Wenn das so weitergeht, werde ich den Jungen wirklich noch abgeben. Ohne Scheiß, sein Verhalten ist nicht niedlich oder interessant, sondern bloß nervig.

Ungeduldig nahm Artjom dem Kleinen die Gabel aus der Hand. Er griff nach dem Messer, schnitt die Teigtasche in der Mitte durch, damit sie zu einem mundgerechten Stück wurde, und hielt sie Misha vor die Lippen.

„Mund auf.“

Der Junge gehorchte nur zögernd und höchst widerwillig. Er legte seine zierliche Hand auf die von Artjom, als würde er befürchten, dass der Ältere ihm die Gabel in den Mund rammen wollte, und zog die halbierte Teigtaschen behutsam mit den Zähnen von dem Kopf der Gabel. Langsam begann er zu kauen und wurde dabei knallrot, weil Artjom ihn eindringlich anstarrte.

„Es ist dir wirklich peinlich, beim Essen beobachtet zu werden?“, fragte der Russe neugierig und irritiert zugleich. „Und ich dachte, du würdest dich bloß zieren.“

Er beugte sich näher zu Misha, woraufhin dieser beschämt den Kopf abwandte und sich die Hand vor den Mund hielt, um die Bewegungen seines Kiefers zu verbergen. Auch wenn er wusste, dass Artjom ihn gar nicht hatte missbrauchen wollen, wäre ihm das Paddle jetzt lieber gewesen, weil das wenigstens nicht so verdammt peinlich war.
 

Als der Größere erkannte, dass er es mit seiner Neugierde nur noch schlimmer gemacht hatte, lehnte er sich wieder zurück, legte die Gabel auf dem Teller ab und widmete sich seinem Handy.

„Sorry dass ich gerade so aufdringlich war. Iss einfach weiter; ich werde dich auch nicht ansehen, versprochen.“

Während Artjom das Internet nach Verhaltensstörungen durchstöberte, die Mishas Verhalten ähnelten, aber nicht fündig wurde, vernahm er gelegentlich das leise Klimpern von Metall auf Porzellan und kaum hörbare Kaugeräusche. Schließlich legte Misha das Besteck so vorsichtig auf dem Tisch ab, als könnte es jeden Moment explodieren, und räusperte sich leise.

„Bist du fertig?“, fragte Artjom und löste die grünen Augen von seinem Handy, woraufhin er die Antwort auf seine überflüssige Frage sah und zufrieden lächelte. „Gut. Und was möchtest du jetzt machen? Nachtisch essen? Ins Bett gehen?“

„Duschen.“

„Okay.“

Artjom hob Misha behutsam hoch und trug ihn nach oben in sein Zimmer, das auch ein anliegendes Badezimmer besaß.
 

„Soll ich dir vielleicht helfen? Wegen den Verletzungen, meine ich.“

Sag mal, geht's noch? Wenn du dir unbedingt nackte Kinder ansehen willst, dann mach das gefälligst woanders und nicht bei mir, du krankes Schwein, dachte Misha, doch seine Lippen blieben geschlossen und sein Gesicht verzerrte sich zu einer angewiderten Miene.

„Is' ja gut, das war doch nur ein Vorschlag“, erwiderte Artjom genervt und beobachtete, wie der Junge ins Badezimmer humpelte.

Misha machte sich nicht die Mühe, die Tür hinter sich abzuschließen, weil er wusste, dass sein ''Gastgeber'' einen Ersatzschlüssel besaß. Er schälte sich aus seiner Kleidung, warf immer wieder einen nervösen Blick Richtung Tür und verschwand schließlich in der Duschkabine, durch deren Wände man zum Glück nicht sehen konnte. Darauf bedacht, vorsichtig mit seinen Wunden umzugehen, machte er das Wasser an und setzte sich auf den Boden, weil ihm das irgendwie beim Nachdenken half. Er fühlte sich, als würde er im Regen sitzen.

Als Misha sich eine knappe Viertelstunde später wieder erhob, wurde ihm bewusst, dass er Artjoms Hilfe vielleicht besser hätte annehmen sollen, denn dank seines überaus empfindlichen Körpers und unerwarteten Kreislaufproblemen bekam er plötzlich Kopfschmerzen. Bunte Punkte tanzten vor seinen Augen umher und bevor er sich versah, hatte er bereits das Bewusstsein verloren.

10. Kapitel

Mit Viktors Brief in seiner Tasche, den er Misha zeigen wollte, machte sich Artjom zu dem Zimmer des Jungen auf, setzte sich auf das Bett und wartete. Der Kleine duschte gerade, aber Artjom fand es ein wenig seltsam, dass das Prasseln des Wasser schon seit mehreren Minuten gleich klang und sich nicht veränderte, was es eigentlich tun müsste, weil der Aufprall anders war, wenn Misha sich bewegte... oder bewegen sollte.

„Misha?“, fragte Artjom und klopfte gegen die Tür des anliegenden Badezimmers. „Brauchst du noch lange?“

Es kam keine Antwort, was den Dunkelhaarigen noch mehr verunsicherte. Er machte die Tür auf, wunderte sich, dass man sie nicht abgeschlossen hatte, und sah zur Dusche – wo ein bewusstloser Misha lag.

Bevor Artjom in der Lage war, zu fluchen oder sich zu fragen, wie es zu dieser Situation gekommen war, hatte er den Abstand zwischen sich und dem Jungen bereits überwunden und das Wasser abgestellt. Misha lag zusammengekrümmt auf dem Boden, seine Augen und sein Mund waren geschlossen, er atmete, aber ansonsten sah er alles andere als gut aus. Er war ganz blass im Gesicht, zitterte vor Kälte – wie lange lag er schon da? – und wegen seiner bleichen Haut stachen die Blutergüsse umso mehr hervor, deren Entstehung Artjom zutiefst bereute. Eigentlich besaß Misha eine makellose Haut... nur am Gesäß und an den Oberschenkeln hatte sich alles blau und violett verfärbt.
 

Der Ältere überprüfte zur Sicherheit Mishas Puls und Atmung, ehe er den Jungen mit allergrößter Vorsicht aus der Dusche nahm, nicht minder vorsichtig abtrocknete und zu seinem Bett trug. Das Handtuch war schon recht durchnässt, weshalb er ins Badezimmer zurückkehrte, das erste Handtuch achtlos auf den Boden warf und ein zweites holte, mit dem er Misha behutsam über den Rücken rubbelte, um ihn ein wenig zu wärmen.

Plötzlich klopfte es an der Tür; es war Artjoms Haushälterin.

„Ich habe leider schon wieder vergessen, welches Futter ich Charly abends geben soll“, klagte sie. „Ist es--?“

„Vergiss Charly mal für fünf Sekunden“, unterbrach Artjom sie. „Du weißt doch, wo die Wärmflaschen herumliegen, oder?“

„Äh... ja?“

„Könntest du eine mit Bezug vorbereiten und mir bringen? Danke.“

Artjom wartete keine Antwort ab, sondern wandte sich wieder Misha zu, der langsam zu sich kam und zu husten begann. Er wurde von dem Älteren auf die Seite gedreht, damit ihm das Husten leichter fiel, und besorgt gemustert.
 

„Du machst vielleicht Sachen“, murmelte Artjom. „Kotzt Blut, kippst um... was kommt als Nächstes? Ein epileptischer Anfall?“

Misha erwiderte nichts. Benommen öffnete er seine braunen Augen und sah sich in dem halbdunklen Zimmer um, ehe sein Blick an dem Russen hängen blieb.

„Was... ist passiert?“

„Du bist beim Duschen ohnmächtig geworden und beinahe ertrunken – das ist passiert“, antwortete Artjom gelassen, während Mishas Angst wie eine Rakete in die Höhe schoss.

Ich... bin ohnmächtig geworden?

Oh Gott, wie peinlich!

Und Artjom hat mich nackt gesehen! Er--!

„Ist alles okay?“, fragte der Größere. „Du bist total rot im Gesicht.“

Misha war nicht in der Lage, darauf eine vernünftige Antwort zu geben. Seine Zunge klebte ihm am Gaumen, sein Mund war staubtrocken und sein Körper versuchte gleichzeitig vor Kälte zu zittern und vor Angst zu erstarren. Am liebsten wäre er erneut ohnmächtig geworden und nie wieder zu sich gekommen.
 

„Eigentlich wollte ich dich noch etwas Wichtiges fragen, aber das können wir auch auf morgen verschieben“, sagte Artjom und sah, dass Misha das Handtuch auf seinen Bauch presste, um seinen Intimbereich zu bedecken. Der Junge sah so verdammt niedlich aus, wie er da saß... nackt, hilflos, schüchtern, verängstigt.

„Hör zu, Kleiner: Es tut mir leid, dass ich dir solche Schmerzen zugefügt habe. Um meinen Willen durchzusetzen, greife ich gerne zur Gewalt, was bei dir aber keine gute Idee war.“

„...“

„Weißt du... es gibt da wichtige Dinge, um die ich mich kümmern muss. Ich habe darüber nachgedacht, dich zurück zum Sklavenmarkt zu bringen oder dich an einen Bekannten von mir zu verkaufen, aber irgendwie... bin ich damit nicht zufrieden. Mir wäre es ehrlich gesagt lieber, wenn du bei mir bleiben würdest und wir beide noch mal von vorne beginnen könnten, aber das wird nur funktionieren, wenn auch du darin eine Chance siehst. Ich überlasse die Wahl also dir: Entweder ich oder ein anderer Mann.“
 

Misha schluckte nervös. Artjom war nicht gut genug, um bei ihm bleiben zu wollen, aber auch nicht schlecht genug, um von ihm wegzuwollen. Wenn er wüsste, wer sein neuer ''Besitzer'' sein würde, wäre die Entscheidung sicherlich einfacher gewesen, aber weil die Zukunft ungewiss war, stand Misha vor einem Problem.

Es gibt drei Möglichkeiten. Ich könnte Artjoms Angebot annehmen und einen noch schlimmeren Mann oder meine Rettung nie kennenlernen oder ich gehe das Risiko ein und lande entweder in der Hölle oder im Himmel. Oder ich komme zu jemanden, der wie Artjom ist, was die vierte Möglichkeit wäre.

„Du musst dich nicht jetzt entscheiden; ich gebe dir noch ein paar Tage Zeit“, fügte Artjom hinzu. „Wie dem auch sei; ich habe eine Salbe, die bei Blutergüssen hilft. Hast du etwas dagegen, wenn ich...?“

Misha schüttelte den Kopf, woraufhin Artjom sich vom Bett erhob und das Zimmer verließ, um jene Salbe zu suchen. Wenige Minuten später kam er mit der Wärmflasche, die ihm seine Haushälterin gegeben hatte, und einer Tube zurück.
 

„Hier. Dir ist bestimmt kalt“, sagte Artjom und überreichte Misha die mit einem weichen Stoff bezogene Wärmflasche. „Am besten legst du dich auf den Bauch.“

Der Junge tat, was von ihm verlangt wurde, presste sich die Wärmflasche an die Brust und deckte sich mit dem flauschigen Handtuch zu, das er über sein Gesäß zog, damit Artjom nur seine Beine sehen konnte. Er zuckte zusammen, als er spürte, wie die kühle Salbe seine geschundene Haut berührte, konnte sich jedoch schnell entspannen, weil er eine sofortige Linderung der Schmerzen wahrnahm. Was auch immer Artjom da vorsichtig auf den Unterseiten seiner Oberschenkel verteilte, es war herrlich.

Misha fühlte sich so wohl, dass er beinahe eingeschlafen wäre, aber dann bemerkte er, dass Artjom das Handtuch umfasste und nach oben schieben wollte.

„Nein!“, rief der Junge erschrocken und griff so schnell nach dem Handgelenk des Russen, als würde sein Leben davon abhängen. „Nicht... dort.“

„Kleiner, ich kann verstehen, dass du nicht entblößt vor mir liegen möchtest, aber dort hast du nun mal auch Wunden.“
 

„Nein.“

„Doch.“

„Nein.“

„Ich möchte dir doch nur helfen.“

„Nein.“

„Aber das muss doch wehtun. Bist du dir sicher, dass ich aufhören soll?“

„Ja.“

„Na gut, wie du meinst“, sagte Artjom, ehe er die Salbe auf dem Nachttisch ablegte und begann, sich bis auf die Unterwäsche auszuziehen.

„Was... machst du da?“

„Ich habe mich soeben dazu entschlossen, heute Nacht bei dir zu schlafen. Wenn man bedenkt, was dir in den letzten 24 Stunden schon alles passiert ist, würde es mich nicht wundern, wenn da noch etwas kommt, und ich möchte dabei sein, damit ich das Schlimmste verhindern kann.“
 

Misha fand, dass das eine ziemlich billige Ausrede war, um neben ihm im Bett liegen zu können, doch er sagte nichts dazu, sondern verkroch sich unter der Decke und umklammerte die Wärmflasche wie ein Faultier oder Koala es bei einem Ast tun würde. Als er spürte, wie die Matratze sich veränderte, weil Artjom sich auf sie gelegt hatte, verlagerte er sich zum Rand und starrte die Wand an, um den Russen nicht ansehen zu müssen.

Der Kleine hatte einen anstrengenden Tag hinter sich und war verdammt müde, aber das Wissen, dass Artjom nur einen knappen Meter von ihm entfernt war, ließ ihm keine Ruhe. Seit einer gefühlten Ewigkeit lag er wach auf der Matratze und traute sich nicht, seinen Körper wenden, obwohl die Seite, auf der er mehrere Stunden lang gelegen hatte, schon ziemlich wehtat.

Ich darf mich nicht umdrehen. Sobald ich mich auch nur um einen einzigen Millimeter bewege, wird Artjom wach werden und... ich habe keine Ahnung, was er dann tun wird, aber ich will es auch gar nicht wissen!

Irgendwann wurde es so unangenehm, dass Misha doch sein Gewicht verlagern musste. So langsam und unauffällig wie es ihm nur möglich war, drehte er sich auf die andere Seite und fühlte sich dabei, als würde er explodieren, wenn er zu voreilig war.
 

Trotz der Schwierigkeiten schaffte er es schließlich und war heilfroh, es hinter sich gebracht zu haben. Er rechnete damit, den Rest der Nacht mehr oder weniger in Frieden verbringen zu können, doch plötzlich erschien wie aus dem Nichts ein Paar warmer großer Hände, die Misha vorsichtig in Artjoms Richtung zogen.

Der Junge wusste nicht, was er tun sollte, und erstarrte. Auf halbem Weg wurde er von den Händen losgelassen. Er fühlte sich wie eine Maus, die von einer Katze, die nicht hungrig, sondern nur gelangweilt war, als Spielzeug genutzt worden war, und rollte im Schneckentempo zurück an seinen ursprünglichen Platz. Lange konnte er dort jedoch nicht verweilen, weil Artjom ihn erneut von dieser Stelle wegzerrte und in seine Richtung zog. Dabei war er extrem vorsichtig, aber Misha konnte sich trotzdem keinen Reim darauf machen, was das hier werden sollte.

Verdammt noch mal, lass mich in Ruhe, du blöder Pisser! Es ist schon schlimm genug, dass du neben mir schläfst, da musst du mich nicht auch noch begrapschen! Außerdem liege ich hier vollkommen nackt, was ein weiterer Grund ist, warum du Abstand zu mir halten sollst!

Ein weiteres Mal versuchte Misha, sich zur Kante des Bettes zu bewegen, doch er wurde abermals von Artjom aufgehalten und diesmal nicht losgelassen – sondern an ihn gedrückt.
 

Scheiße... was hat der Typ vor?!

Der Junge spürte, wie sich kalter Angstschweiß auf seiner Stirn bildete. Zwar fasste der Ältere ihn – noch – nicht an seinen privaten Körperzonen an, aber er hatte einen Arm um ihn geschlungen und drückte ihn sanft gegen seine muskulöse Brust. Als er dann auch noch anfing, Misha eine Haarsträhne aus der Stirn zu streichen, wurde es dem Kleinen zu viel.

„Lass mich los!“, schrie er und schlug Artjoms kräftigen Arm von sich weg, als wäre dieser eine Würgeschlange. „Nimm deine dreckigen Finger von mir, du Kinderschänder!“

„Scheiße, hast du mich erschrocken“, kam es gelassen von Artjom. „Ich dachte, du würdest schlafen.“

„Ja, das habe ich gemerkt.“

„Es ist nicht so, wie du denkst. Ich--“

„Nein, natürlich nicht!“, rief Misha außer sich vor Wut. „Du wolltest mir ganz bestimmt nicht zwischen die Beine packen, nein, gar nicht!“

„Nein, ich--“
 

„Was ist eigentlich falsch bei dir?! Bist du so notgeil, dass du deine Hände nicht einmal fünf Minuten lang bei dir behalten kannst?!“

„Jetzt--“

„Ich habe mich entschieden! Ich will, dass du mich an deinen komischen Freund verkaufst, denn der wird mir wahrscheinlich wenigstens Bescheid sagen, wenn er mich vergewaltigen will! Du hingegen tust erst so, als würdest du dich um mich sorgen, nur um mein Vertrauen dann auszunutzen!“

„Grundgütiger“, murmelte Artjom und knipste die Lampe an, die auf dem Nachttisch stand. „Kennst auch etwas zwischen ''gar nichts sagen'' und ''laut herumschreien''? Ich bin nicht taub, aber wenn du so weitermachst, werde ich es bald.“

„Lass mich in Ruhe“, knurrte Misha, in dessen braunen Augen sich Tränen sammelten. „Ich will nicht, dass du mich anfasst.“

„Wäre dir eine Platzwunde oder ein großer zusätzlicher Bluterguss etwa lieber?“

„Ist das dein scheiß Ernst? Ich habe die Wahl zwischen unfreiwilligen Berührungen und Schmerzen? Darf ich dich daran erinnern, dass du dich erst kürzlich bei mir entschuldigst hast, weil--?“
 

„Warte, du verstehst das falsch. Ich rede nicht von einer Bestrafung, sondern von dem, was passieren könnte, wenn du aus dem Bett fällst. Mir ist vorhin aufgefallen, dass du genau auf der Kante lagst. Ich habe versucht, dich in die Mitte zu schieben, damit du nicht gleich auf dem Fußboden liegst, aber du bist immer wieder zur Kante gerollt, weshalb ich dich schließlich umarmt habe, um dich bei mir zu behalten.“

„Also...“, sagte Misha und runzelte die Stirn. „Entweder bist du jemand, der sich innerhalb kürzester Zeit sehr gute Ausreden zurechtlegen kann, oder jemand, der eigentlich nichts Böses im Sinn hat, aber sich nicht richtig ausdrücken kann.“

„Wer weiß, vielleicht hat es auch damit zu tun, dass du meine Worte falsch verstehst“, erwiderte Artjom schnippisch. „Vorhin dachtest du ja auch, dass ich dich vergewaltigen will, obwohl du bloß etwas essen solltest.“

„Du sagtest, dass ich etwas Bestimmtes für dich tun sollte. Wer würde da nicht an Sex denken?“

„Was kann ich denn dafür, dass du nur an das eine denkst? Auch egal – es ist mitten in der Nacht. Lass uns den Streit vergessen und stattdessen schlafen. Von mir aus lasse ich dich auch gerne aus dem Bett fallen, wenn dir das lieber ist.“
 

„Sorry dass ich so überreagiert und dich angeschrien habe... ich möchte nicht aus dem Bett fallen, aber so nahe neben dir zu liegen, ist auch nicht gerade angenehm.“

Artjom lächelte und wuschelte dem Jungen kurz durch das weiche Haar, ehe er sich von der Matratze erhob und zum Schrank ging, aus dem er eine dicke Wolldecke holte. Er legte sie wie einen Mantel über Misha und kehrte ins Bett zurück. Nachdem er das Nachtlicht ausgeschaltet hatte, umfasste er vorsichtig die schmale Taille des Kleinen und zog ihn zu sich.

„So besser?“, fragte er und spürte, wie Misha es sich neben ihm auf der Matratze gemütlich machte.

„Ja“, wisperte der Junge, der von der Wolldecke fast verschlungen wurde. Langsam fühlte er sich wohler, weil er von der zusätzlichen Decke gewärmt wurde und neben Artjom liegen konnte, ohne direkten Körperkontakt zu haben, da die Wolldecke sich zwischen ihnen befand.

Der Ältere seufzte entspannt und strich dem Jungen einmal über den Kopf, ehe er seinen muskulösen Arm um Misha schlang und dort ruhen ließ. Den Kleinen so nahe bei sich zu haben, war etwas, an das er sich durchaus gewöhnen könnte.

Und erneut ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich ihn behalten werde, um einige Prozent gestiegen.

11. Kapitel

Als Misha am nächsten Morgen aufwachte, war es schon hell draußen. Er streckte seine müden Gliedmaßen, ehe er sich die Wolldecke über den Kopf zog und vollkommen unter ihr verschwand. Sie kam ihm wie eine schützende Höhle vor, in der es warm und sicher war.

Misha gähnte und beschloss, noch ein bisschen zu dösen, weil Artjom noch nicht aufgewacht war und das Frühstück ruhig warten konnte. Außerdem war es gerade so gemütlich und--

Seine erdrückende Müdigkeit löste sich restlos in Luft auf, als er ein bekanntes Geräusch vernahm. Es war der Laut von Stöckelschuhen, die zügig und regelmäßig über den Flur schritten und sich Mishas Zimmer näherten. Der Junge hoffte, dass das Monster einfach weitergehen würde, doch dann hörte er, wie jemand auf der anderen Seite der Tür bellte. Es war dieses seltsame Bellen, das eindeutig nicht von einem Hund stammen konnte.

„Artjom! Artjom, wach auf!“

Der Kleine rüttelte so lange an der breiten Schulter des Russen, bis dieser seine grünen Augen öffnete und Misha genervt ansah.

„Du besitzt besser einen guten Grund, mich geweckt zu haben.“

„Das Monster!“, flüsterte der Junge ängstlich. „Es ist hier!“
 

„Das hast du nur geträumt.“

„Nein, habe ich nicht!“

„Verdammt, Misha, es gibt keine Monster.“

„Aber da ist etwas hinter der Tür... es bellt und faucht... und es macht diese Geräusche“, erwiderte der Kleine trotzig und tippte mit den Fingernägeln auf den Nachttisch, um die Stöckelschuhe zu imitierten.

Artjom dachte kurz nach, ehe er plötzlich zu lachen begann und vor Belustigung fast aus dem Bett fiel.

„Das ist nicht lustig“, fauchte Misha wütend, doch der Ältere schüttelte nur schmunzelnd den Kopf und stieg aus dem Bett. „Warte! Wo willst du hin? Lass mich nicht alleine!“

„Schon gut, Kleiner, ich denke, du wirst fünf Minuten lang ohne mich auskommen.“

„Und... was hast du jetzt vor?“

„Dir mein Monster zeigen.“

Artjom verschwand aus dem Zimmer, machte die Tür hinter sich zu und kam einige Minuten später mit einer Packung Hundeleckerchen wieder.
 

Misha hatte sich währenddessen aufrecht hingesetzt und die warme Decke um seinen nackten Körper gewickelt. In seinem Blick lag Misstrauen, aber auch Neugierde, als Artjom sich zu ihm aufs Bett setzte und mit der Tüte kraspelte.

Zuerst herrschte Stille, doch dann war zu hören, wie ein Wesen durch den Flur preschte. Die Stöckelschuhe klackerten mit Rekordgeschwindigkeit über den gefliesten Boden. Misha rechnete damit, dass jeden Moment ein Ungeheuer durch die Wand brechen würde, aber allem Anschein nach war das Monster nicht stark genug, um Wände zum Fall zu bringen. Es stoppte vor der Tür, kratzte an ihr und bellte.

„Ist das dein sogenanntes Monster?“, fragte Artjom amüsiert, woraufhin Misha schüchtern nickte und sich hinter dem Russen versteckte, weil die Geräusche an der Tür immer ungeduldiger klangen.

„Keine Sorge, Kleiner, Charly ist vollkommen ungefährlich, solange du sie nicht provozierst oder am Schwanz ziehst.“

„Moment mal... Charly ist ein Tier?“

„Ja. Ich habe doch nie gesagt, dass sie ein Mensch ist.“

„Du hast aber auch nie gesagt, dass sie kein Mensch ist.“
 

Artjom lachte erneut und drückte Misha die Packung mit den Leckerchen in die Hand, bevor er sich vom Bett erhob, zur Tür ging und sie öffnete.

Kaum war diese nur einen Spalt breit offen, schoss das Monster ins Zimmer. Es war enttäuschend klein – nicht einmal so groß wie eine Katze – und eindeutig ein Raubtier. Sein schlanker Körper besaß sandfarbenes Fell, eine spitze Schnauze, lange zierliche Beine, dunkle Augen, einen buschigen Schwanz und gigantische Ohren. Auf seinen Krallen, die beim Gehen das Geräusch der Stöckelschuhe machten, rannte es ins Zimmer, suchte nach Artjom und sprang diesen begeistert an, als es ihn gefunden hatte.

„Ganz ruhig, Charly“, lachte der Dunkelhaarige. „Wenn du Futter willst, musst du zu Misha gehen; ich habe nichts... na komm, zu Misha!“

Er deutete auf den Jungen, woraufhin das Tier sich verunsichert umsah und aufs Bett sprang.

„Keine Sorge, sie beißt nicht. Gib ihr einfach ein oder zwei von den Dingern, dann ist sie zufrieden.“

Misha tat wie geheißen und holte ein Leckerchen aus der Tüte, das er dem Wesen vorsichtig hinhielt.
 

„Das ist ein Fuchs, oder?“, fragte er und beobachtete, wie das Tier an seinen Fingern schnüffelte und ihm den Happen aus der Hand nahm, wobei die feinen Schnurrhaare seine Haut streiften.

„Ein Fennek, um genau zu sein“, antwortete Artjom. „Du kannst sie ruhig streicheln, sie beißt nicht.“

Misha kraulte Charly vorsichtig hinter den großen Ohren und wunderte sich, wie er vor so einem winzigen Tier hätte Angst haben können. Hoffentlich dachte Artjom jetzt nichts Komisches über ihn...

„Monster... du hast vielleicht eine Fantasie, Kleiner.“

„Woher hätte ich denn wissen sollen, dass das nur ein Fennek ist?“

„Stimmt. So ein Fuchs ist ein recht ungewöhnliches Haustier und ich weiß nicht einmal, ob er in Russland überhaupt als Haustier zugelassen ist“, sagte Artjom und setzte sich neben Misha auf das Bett, woraufhin Charly sofort zu ihrem Besitzer ging und sich auf dessen Schoß niederließ.

„Sie ist echt süß, nicht wahr? Ich hatte gedacht, dass sie ein wenig wilder und gefährlicher ist, aber manchmal benimmt sie sich echt wie eine Katze oder ein Hund.“

„Uh-hm“, machte Misha, der sein Gewicht verlagert und sich dabei versehentlich auf eine besonders verletzte Stelle seines Hintern gesetzt hatte. „Was mich aber eher wundert, ist, dass du Tiere anscheinend besser als Menschen behandelst.“
 

„Höre ich da etwa Neid?“

„Nein, ich meinte nur, dass-- Ah! Lass mich los!“

Bevor Misha es verhindern konnte, wurde er von Artjom gepackt und auf dessen Schoß gezogen. Er strampelte, schlug um sich und sah im Augenwinkel, dass Charly sich schnell vor den Händen und Füßen des Jungen in Sicherheit brachte.

„Das ist nicht lustig, Artjom! Lass mich los!“

„Jetzt stell dich nicht so an. Erst beschwerst du dich, dass ich Charly bevorzugen würde, und nun, wo ich versuche, euch gleich zu behandeln, bist du auch unzufrieden.“

Misha gab auf und nutzte seine verbliebene Kraft und Bewegungsfreiheit, um die Decke festzuhalten, in der sein immer noch nackter Körper steckte.

„Ich schwöre dir, wenn du es wagst, meinen Hintern anzufassen, bist du tot.“

Artjom lachte über diese leeren Worte nur, ließ Mishas Gesäß aber trotzdem in Ruhe und legte sich den Kleinen über den Schoß, damit seine verwundete Kehrseite nach oben zeigte und er sie nicht belasten musste.

„Du besitzt wirklich einen Hang zu Übertreibungen, Kleiner. Mal davon abgesehen, dass ich weiß, wie Jungs in deinem Alter untenrum aussehen, habe ich dich gestern schon nackt gesehen, als du in der Dusche lagst.“
 

Das schien nicht die Antwort gewesen zu sein, die der Kleine sich gewünscht hatte. Er verkrampfte sich vor Scham, sodass er starr wie ein Brett auf Artjoms Oberschenkeln lag, und krallte beide Hände wie ein Besessener in den Saum der Decke.

Der Ältere ignorierte das Verhalten des Jungen und begann, ihm über den Kopf zu streichen, wie er es zuvor bei Charly gemacht hatte. Seine warme Hand wanderte gemächlich über Nacken, Schultern und Wirbelsäule des Braunhaarigen und blieb auf der Taille liegen, die er behutsam anfasste.

„Du kannst jetzt damit aufhören, mich zu begrapschen“, knurrte Misha gereizt. „Ich weiß, dass du gerade daran denkst, mich zu ficken. Dein unschuldiges Getue kannst du dir für jemand anderen aufheben.“

„Dich ficken? Das ist in der Tat kein schlechter Gedanke, aber ich dachte eigentlich eher daran, dass jetzt ein guter Zeitpunkt wäre, deine Wunden erneut zu behandeln.“

„Vergiss es“, zischte Misha und sah wütend zu Artjom hoch. „Du wärst der Letzte, von dem ich mich entjungfern lassen möchte.“

„Weißt du, woran mich das erinnert? An meinen Kumpel Roman, der dich gerne kaufen würde. Wärst du lieber sein Sklave, wenn du mich so abstoßend findest?“
 

Misha antwortete nicht, sondern vergrub das Gesicht in das Laken und begann zu weinen.

„Dann tu es doch einfach“, schluchzte er, ließ die Decke los und legte die Hände neben seinem Kopf ab. „Mach schon, vergeh dich an einem wehrlosen Kind. Ich bin sowieso zu schwach, um dich davon abzuhalten.“

„Heißt das, ich darf mich jetzt endlich um deinen Hintern kümmern?“

Während Misha erneut schwieg und noch verzweifelter weinte, schlug Artjom vorsichtig die Decke zurück und entblößte den übel zugerichteten Po des Jungen. Er strich dem Kleinen mit der linken Hand beruhigend über die Stelle zwischen den Schulterblättern und holte mit der rechten die Salbe vom Nachttisch. Die Tube mit nur einer Hand aufzumachen, war nicht gerade einfach, aber dennoch machbar. Artjom nahm etwas von der Salbe auf die Finger und rieb mit allergrößter Vorsicht die bunt verfärbte Haut des Jungen ein, der immer noch schluchzte und sich nicht von der Stelle rührte.

Darauf bedacht, nicht versehentlich zu viel Druck auf die Verletzungen auszuüben und Misha so noch mehr Schmerzen zuzufügen, behandelte Artjom auch die geschundenen Beine und tätschelte dem Kleinen abschließend lobend den Kopf.

„Ich bin fertig“, verkündete er. „Am besten bleibst du hier liegen und lässt die Salbe einziehen. Ich werde währenddessen Charly füttern.“
 

Eine halbe Stunde später befand sich Misha im Esszimmer und hielt Charly davon ab, seine Waffeln zu essen. Artjom saß währenddessen auf dem gegenüberliegenden Platz, trank einen Kaffee und gab sich größte Mühe, Misha bei der Nahrungsaufnahme nicht anzugucken. Natürlich kam ihm das albern vor, aber es kostete ihn nichts, also sprach auch nichts dagegen, dieser Bitte nachzukommen.

Nachdem der Kleine fertig war, wurde er von Artjom hochgehoben und zum Büro getragen.

„Ich dachte, hier darf ich nicht hin.“

„Und ich dachte, du könntest nicht normal sprechen“, erwiderte der Größere ruhig. „Aber anscheinend kannst du es doch. Aber du machst es unterbewusst und merkst es nicht einmal.“

„Ich... nein, schon gut.“

„Wie dem auch sei, ich möchte, dass du dir das hier anschaust.“

Er überreichte dem Kleinen Viktors Brief, einen Bleistift und Schmierpapier für Notizen.

„Aber... das ist der gleiche Fetzen, wegen dem du mir gestern ins Gesicht geschlagen hast. Soll ich wirklich...?“

„Ja, du sollst ihn übersetzen. Wenn du es richtig machst und mir ein brauchbares Ergebnis lieferst, werde ich dir sogar einen Gefallen tun.“
 

„Welchen Gefallen?“

„Das darfst du dir aussuchen.“

„Kannumizuanabrin?“, schoss es aus Misha heraus, ehe er langsamer wiederholte: „Kannst du mich zu Hannah bringen?“

Artjom seufzte. „Sollte ich das nächste Mal nach Moskau fahren, werde ich dich mitnehmen, okay?“

Misha nickte und senkte seinen Blick auf den Brief. Er hob ihn hoch, drehte ihn zur Seite und machte sich ein paar Notizen auf dem Schmierblatt. Artjom warf einen Blick darauf; was der Junge da schrieb, ergab für ihn keinen Sinn, aber der Kleine schien damit etwas anfangen zu können.

Wenige Minuten später war Misha fertig. Stolz, aber dennoch schüchtern, weil das Ergebnis falsch sein könnte, überreichte er Artjom das Schmierpapier, auf dem sich neben vielen komischen Strichen auch lateinische Buchstaben befanden.

„Das ist eine Adresse“, stellte der Ältere fest. „Oder zumindest ein Teil davon. Mit dem Straßennamen und der Nummer kann ich etwas anfangen, aber eine Postleitzahl oder Stadt wäre echt nett. Steht da ansonsten nichts?“
 

„Eigentlich schon, aber ich muss etwas im Internet nachsehen, um das zu überprüfen.“

Artjom zögerte nicht lange, sondern setzte sich vor seinen Laptop und platzierte Misha auf seinem Schoß. Während der Kleine nach koreanischen Schriftzeichen und einem Übersetzer suchte – was zur Hölle sollte das werden? – legte Artjom das Kinn auf Mishas Schulter ab und schlang seine Arme um die schmale Taille des Kleinen, der kurz erstarrte, aber dann weitermachte, weil er möglichst schnell zu Hannah wollte.

„Ich unterbreche dich ja nur ungern, Kleiner, aber was machst du da?“

„Die Striche auf dem Zettel sind japanische und koreanische Schriftzeichen. Japanische kann ich lesen, koreanische nicht, aber anscheinend ergeben Letztere das hier“, antwortete Misha und drückte auf den Lautsprecher des Übersetzers, woraufhin eine roboterartige und seltsam klingende Stimme zu hören war, die mit zusätzlichen Lauten und einer recht abenteuerlichen Betonung und Aussprache sagte: „Hauptstadt von Russland.“

„Uh-hm“, machte Artjom. „Was für ein Zufall, dass das die gleiche Stadt ist, in der Hannah gerade ist.“

„Soll das heißen, du glaubst mir nicht? Aber es steht hier, siehst du? Genau da!“
 

Artjom verglich Viktors Gekritzel mit den koreanischen Schriftzeichen auf dem Bildschirm und musste zugeben, dass sie sich wirklich ähnelten.

„Na gut, ich glaube dir“, sagte er und spürte, wie sein Mund sich zu einem Lächeln verzog. Vor einer Viertelstunde war er noch vollkommen ahnungslos gewesen und nun besaß er eine Adresse, was ein hilfreicher Hinweis darstellte. Er war so gut drauf, dass er Misha am liebsten auf die Wange oder die Stirn geküsst hätte, aber bevor er darüber entscheiden konnte, ob es eine gute Idee wäre, diesen Plan in die Tat umzusetzen, klingelte es plötzlich an der Tür.

„Möchtest du nicht schauen... wer das ist?“, fragte Misha verunsichert, als Artjom sich nicht in Bewegung setzte.

„Öffne niemals die Tür, wenn du keinen Besuch erwartest“, antwortete der Ältere, ehe er den Jungen vorsichtig von sich herunter schob, den Laptop zuklappte und aus dem Fenster sah, wo er Romans Auto in seiner Einfahrt erblickte.

„Is' nur 'n Freund von mir“, murmelte er. „Keine Ahnung, was der von mir will; am besten hältst du dich im Hintergrund und streichelst Charly oder so.“
 

Nachdem Artjom seinen Wüstenfuchs auf dem Schreibtisch gefunden, ihn Misha in die Arme gedrückt und beide aus dem Büro gescheucht hatte, schloss er die Tür hinter ihnen zu und ging zur Haustür, deren Klingel gerade erneut gedrückt wurde.

„Was willst du?“, zischte Artjom genervt.

„Dir auch einen schönen guten Morgen“, erwiderte Roman. „Ich bin hier, weil ich wissen wollte, ob du dich entschieden hast. Wegen dem Jungen, meine ich.“

„Nein, ich bin mir noch nicht sicher.“

„Ach Artjom, was gibt es denn da so lange zu überlegen? Ich zahle dir einen netten Batzen Kohle und dafür gibst du mir den Kleinen, mit dem du doch sowieso nichts anfangen kannst, so wie ich dich kenne“, flötete Roman, ehe er sich an dem Dunkelhaarigen vorbeischob und dessen Haus betrat. „Ah, da ist er ja“, sagte er, als er Misha im Flur erblickte, und pfiff, als würde er einen Hund rufen wollen. „Komm mal her, Kleiner.“

Angesprochener erstarrte, als wäre er von einem Blitz getroffen worden. Charly, die sich immer noch in seinem Armen befand, warf Roman einen giftigen Blick zu, fauchte wie eine Katze, sprang Misha aus den Händen und lief zu ihrem Besitzer.
 

Artjom war so sehr mit seinem Gast beschäftigt gewesen, dass er noch keine Gelegenheit gehabt hatte, die Haustür zuzumachen. Er griff gerade nach der Türklinke, als Charly plötzlich an ihm vorbeischoss und nach draußen flüchtete.

„Charly, komm zurück. Ich habe jetzt keine Zeit für einen Spaziergang“, fluchte er und folgte seinem Fuchs, der begeistert im Schnee herumtollte und sich erst nach mehreren Minuten einfangen ließ.

''Wüstenfuchs'', haben sie gesagt, knurrte Artjom gedanklich und ging nach drinnen. ''Kann Kälte nicht ausstehen'', haben sie gesagt.

Er strich sich die Schneeflocken aus dem rabenschwarzen Haar, machte die Haustür hinter sich zu und setzte Charly auf dem Boden ab, als auf einmal ein greller Schmerzensschrei durch das Haus hallte.

Diese Stimme... das ist Misha!

Artjom stürmte ins Wohnzimmer und riss die Tür mit so einer Wucht auf, dass sie lautstark gegen die Wand prallte. Schneller als Charly auf der Jagd überwand Misha den Abstand zwischen sich und dem Älteren und klammerte sich an ihn, als würde sein Leben davon abhängen.

„Sag ihm, dass er mich in Ruhe lassen soll“, flehte er. „Bitte, Artjom, ich will bei dir bleiben!“

Angesprochener sah irritiert zu Roman, der beschwichtigend die Hände hob.
 

„Ich habe nichts gemacht, wirklich nicht.“

„Er hat mir an den Hintern gefasst“, zischte Misha leise und presste sich noch fester an Artjom. „Und mir eine Ohrfeige verpasst, als ich seine Hand weggeschlagen habe.“

„Und warum hast du gerade so geschrien?“, wollte der Ältere wissen, woraufhin der Kleine schüchtern das Gesicht in seiner Brust vergrub.

„Er hat sich in meine Blutergüsse gekrallt“, murmelte er gedämpft. „Es hat sich angefühlt, als würde er mir die Haut abreißen wollen.“ Ängstlich hob Misha den Blick und sah den Russen mit seinen schönen haselnussbraunen Augen an. „Bitte, Artjom, gib mich nicht weg. Ich will bei dir bleiben.“

„Also“, sagte Roman, der währenddessen nähergekommen war, „wie viel willst du für den Kleinen?“

„Vergiss es“, erwiderte Artjom abweisend und legte schützend einen Arm um Misha. „Ich werde ihn dir nicht überlassen.“

„Aber warum denn nicht? Lass dich von seinem Schrei nicht irritieren; der Bengel will dich bloß verarschen.“

Das halte ich für sehr unwahrscheinlich, aber selbst wenn es so sein sollte, hätte Misha einen guten Grund dafür.

„Der Junge gehört mir“, sagte Artjom mit fester Stimme. „Das ist mein letztes Wort.“

12. Kapitel

Roman war mitsamt seinen gierigen Händen verschwunden, aber Misha fühlte sich immer noch unwohl. Er verkroch sich in sein Zimmer, wo er eigentlich seine Ruhe haben wollte, aber Artjom folgte ihm.

„Ist alles okay bei dir?“, fragte der Ältere besorgt und ergriff Mishas Handgelenk, um den Jungen vom Weglaufen abzuhalten.

Der Kleine nickte bloß und schüttelte Artjoms warme Hand so hastig von sich, als hätte ein Hund die Zähne in seinem Unterarm versenkt. Er wollte alleine sein, vor Artjom flüchten und sich am liebsten auf einen anderen Planeten teleportieren, wo ihm nichts und niemand etwas anhaben konnte.

„Was ist denn los?“, wunderte sich Artjom. „Hat Roman mehr getan, als dich nur angefasst, oder gibt es einen anderen Anlass, warum du so...?“

Misha schüttelte den Kopf und erstarrte zu einer Salzsäule, als der Größere erneut nach seinem Arm griff. Hätte er die Wahl zwischen dem Russen und einer Giftschlange gehabt, hätte er sich ohne zu zögern für Letztere entschieden.
 

Artjom vermutete, dass Misha wegen Roman noch ein wenig gestresst und durcheinander war. Er drückte den Kleinen vorsichtig an sich und strich ihm beruhigend über den Rücken, aber das schien dem Jungen nicht zu gefallen. Er spannte sich an, wandte den Kopf ab und zeigte so viel Begeisterung und Zuneigung, als hätte man ihn dazu gezwungen, einen Kaktus zu umarmen.

„Ich habe dich auch lieb, Kleiner“, zischte Artjom leicht genervt. „Darf ich dich daran erinnern, dass du wegen mir nicht zu Roman musst?“

Misha antwortete nicht, sondern versuchte, sich aus Artjoms Griff zu befreien.

„Ich verlange doch gar nicht, dass du mir vor Glück weinend um den Hals fällst, aber ein bisschen Dankbarkeit wäre schon angebracht, oder?“

Der Kleine spürte, wie sein Puls immer schneller wurde. Kalter Angstschweiß bildete sich auf seiner Stirn, ihm war übel und seine Knie fühlten sich an, als bestünden sie aus Pudding. Wortlos ging er an Artjom vorbei, zog sich ins Badezimmer zurück, schloss sich ein und presste sich die Hand auf den Mund, um sein Schluchzen zu ersticken.
 

Misha hatte keinen blassen Schimmer, was mit ihm los war, aber er wusste, dass dies einer der Momente war, die er auch schon öfters in der Schule erlebt hatte. Völlig egal, wie klein und unbedeutend der Auslöser war, er stieß Misha in eine Spirale aus Angst, Nervosität und Unruhe, aus der es für den Jungen kein Entkommen gab. Er steigerte sich in seine Panik herein, hatte einen Nervenzusammenbruch, weinte ein bisschen und hoffte, das der nächste Auslöser noch auf sich warten ließ.

Misha konnte hören, wie Artjom auf der anderen Seite der Tür seufzte.

„Ich hole dich dann später zum Abendessen, okay?“

Ohne auf eine Antwort zu warten, die er sowieso nicht bekommen hätte, verließ Artjom das Zimmer. Misha wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus seinen braunen Augen und würde seine Angst am liebsten zum Mond schießen. Was würde er nicht alles dafür tun, einfach reden und handeln zu können, ohne vorher und nachher unzählige Male darüber nachdenken zu müssen, was die Menschen um ihn herum von ihm dachten...
 

Mishas Angst war so schlimm, dass er sich erst am nächsten Morgen aus seinem Zimmer traute. Er frühstückte gemeinsam mit Artjom, der Misha weder anschaute, noch zu seinem gestrigen Verhalten ausfragte, wofür der Junge ihm sehr dankbar war, und trank ein Glas Orangensaft.

„Danke, dass du mich nicht zu Roman geschickt hast“, murmelte Misha schüchtern, als er mit dem Essen fertig war, und bereute seine Worte sofort. War es richtig gewesen, Artjom auf das Thema anzusprechen, oder hätte er lieber seine Klappe halten sollen?

„Wie schön, dass du erkannt hast, was ich gestern für dich getan habe“, erwiderte Artjom gelassen. „Übrigens habe ich das nicht aus reiner Nächstenliebe getan. Du weißt, wie die Sache läuft – dir bleibt Roman erspart, aber dafür bist du jetzt mein Sklave. Das heißt, du tust, was ich dir sage, und bereitest mir keine Schwierigkeiten, verstanden?“

„Ja... und du wirst mich nicht missbrauchen, nicht wahr?“

„Ich bin hier derjenige, der die Regeln macht, aber ja, vergewaltigen werde ich dich nicht. Solltest du mir allerdings nicht gehorchen, wirst du damit rechnen müssen, mehrere Tage lang nicht richtig gehen zu können.“
 

Als Misha verstand, was damit gemeint war, seufzte er frustriert.

„Du hast gesagt, dass es dir leidtun würde. Du sagtest, du wolltest mir keine Gewalt mehr antun und noch mal von vorne anfangen. Das war gelogen, stimmt's?“

„Nein. Wir fangen auch von vorne an, aber--“

„Sagt wer?“

„Was?“

„Wer sagt, dass wir von vorne anfangen? Mein Hintern tut immer noch weh.“

„Aber ich habe mich doch entschuldigt“, antwortete Artjom in einer Stimmlage, die so klang, als würde er Misha daran erinnern müssen, dass der Tag 24 Stunden besaß, was dem Jungen den Rest gab. Er griff nach seinem leer getrunkenen Glas, hielt es von sich weg und ließ es fallen, woraufhin es auf dem gefliesten Boden aufkam und in mehrere Teile zerbrach.

„Tut mir leid, Glas“, sagte er und sah auf die Scherben herab, ehe sein Blick zu Artjom wanderte. „Na so etwas aber auch... anscheinend ist es trotz meiner Entschuldigung immer noch kaputt.“

„Na so etwas aber auch“, imitierte der Ältere Mishas Ton. „Anscheinend kannst du es kaum abwarten, von mir übers Knie gelegt zu werden.“
 

„Wenn du es nicht lassen kannst, dann tu es doch. Von mir aus schlag mich, bis du mich ins Krankenhaus bringen musst, aber wag es nicht, mir die Schuld dafür zu geben. Es ist deine Entscheidung, die Hand gegen mich zu erheben, also auch deine Verantwortung.“

Artjom sagte zuerst nichts, sondern schob seinen Stuhl nach hinten, sodass Platz zwischen ihm und dem Tisch war.

„Komm her“, befahl er und deutete auf die Stelle vor seinen Füßen.

Misha seufzte. Er fragte sich, ob der Russe lernfähig war, stellte sich vor ihn und kniff die Augen zusammen, um die Ohrfeige – oder was auch immer er gleich bekommen würde – nicht kommen sehen zu müssen. Er rechnete damit, jeden Moment ein stechendes Brennen auf seiner Wange zu spüren, aber stattdessen schlangen sich plötzlich zwei kräftige Arme um seine Taille und drückten ihn gegen Artjom.

Misha vergaß beinahe zu atmen. Er fühlte Artjoms Brust an seiner Stirn, die muskulösen Oberschenkel rechts und links an seiner Hüfte, die starken Hände auf seinem Rücken und das gut ertastbare Sixpack an seinen Händen, die er aus Reflex vor seinen Oberkörper gehalten hatte.
 

„Kleiner, wirst du dich in der Anwesenheit anderer Leute respektlos gegenüber mir verhalten?“

„N-nein.“

„Wirst du mit irgendjemanden über Sachen sprechen, die Fremde nichts angehen, wie zum Beispiel die Adresse aus Viktors Brief?“

„Nein.“

„Wirst du andere Dinge tun, die unnötigen Ärger für mich bedeuten?“

„Nein.“

„Gut. Dann hast du auch nichts zu befürchten.“

Artjom küsste Misha flüchtig auf die Stirn, ehe er ihn vorsichtig von sich wegschob, vom Stuhl aufstand und in die Küche ging, wo er Charly fütterte. Der Junge stand wie angewurzelt da, doch kaum hatte er sich aus seiner Schockstarre reißen können, flüchtete er in sein Zimmer und brach lachend und weinend zugleich auf seinem Bett zusammen.

Was zur Hölle war das gerade? Woher habe ich den Mut, vor Artjoms Augen ein Glas zu zerschmettern, und warum zum Geier hat er mich geküsst? Das muss der seltsamste Traum sein, den ich je hatte.
 

Misha machte es sich auf der Matratze gemütlich und spürte, wie seine Lider immer schwerer wurden. Er wurde schläfrig, aber die Müdigkeit, die er wahrnahm, kam ihm irgendwie nicht natürlich, sondern erzwungen vor. Leicht verwirrt machte er sich ins Badezimmer auf und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, aber was sonst immer half und die Maßnahme war, die Misha normalerweise ergriff, um sich morgens aus dem Halbschlaf zu befördern, schlug fehl. Er fühlte sich immer noch müde und es wurde langsam, aber sicher schlimmer.

Was ist denn jetzt los? ''Grundlose'' Übelkeit oder Kopfschmerzen kenne ich, aber Müdigkeit ist noch nie ein Symptom meiner Angst gewesen.

Plötzlich erinnerte Misha sich an den Moment, in dem er die Küche betreten hatte. Sein Getränk hatte zu diesem Zeitpunkt schon auf dem Tisch gestanden und war bereits gefüllt gewesen. Misha hatte sich dabei nichts gedacht, doch jetzt wurde ihm bewusst, dass Artjom ihm möglicherweise ein Schlafmittel verabreicht haben könnte.

Aber warum sollte er das tun?

Misha dachte über Artjoms Beweggründe nach und erkannte, dass es nur eine einzige Möglichkeit gab.
 

Artjom wollte ihn weggeben. Zu Roman.

Deswegen hatte er ihn vorhin auch umarmt. Das war eine Verabschiedung gewesen.

Und aus Angst, dass Misha etwas gegen seinen ''Weiterverkauf'' unternehmen wollen würde, hatte er den Jungen betäubt. Alles ergab auf einmal Sinn.

Dieser blöde Wichser...

Ich weiß, dass die Vermutung, dass ich zu Roman muss, ziemlich weit hergeholt ist, aber es gibt keinen anderen Grund, warum Artjom das tun sollte.

Misha beschloss, dass er sich das nicht gefallen lassen konnte. Seine immer stärker werdende Müdigkeit ignorierend verließ er das Zimmer und machte sich in das Esszimmer auf, weil er Artjom dort zum letzten Mal gesehen hatte. Er musste jedoch nicht einmal den ersten Flur durchqueren, um den Russen zu treffen, was gewiss kein Zufall sein konnte.

„Wohin des Weges, Kleiner?“

„Spar dir die Tour, Artjom!“, fauchte Misha wütend, ehe er sich zur Ruhe zwang und gefasster hinzufügte: „Warum hast du mir Schlafmittel verabreicht? Willst du mich zu Roman bringen?“
 

Angesprochener gab ein enttäuschtes Knurren von sich.

„Ich hätte wissen müssen, dass das nur bei Charly funktioniert. Auch egal, früher oder später wirst du umkippen, völlig egal, wie stark du dagegen ankämpfst.“

„Du--!“

„Reg dich ab, wir fahren nicht zu Roman, sondern... zu einem anderen Ort.“

„Aber warum hast du--?“

„Weil ich darauf verzichten kann, dass du während der Autofahrt auf dumme Ideen kommst.“

„Aber ich werde nicht--!“

„Sorry, Kleiner, aber die meisten Dinge gelingen besser, wenn man sie selbst in die Hand nimmt.“

Misha verzog eine wütende Miene und verschränkte die Arme vor der Brust, aber Artjom konnte ihn nicht ernst nehmen. Er kniff den Jungen in die Wange und lächelte ihn an, als würde er ein niedliches Tierbaby erblicken.

„Lass das!“, rief Misha außer sich vor Wut. „Hör auf, mich wie ein gottverdammtes Tier zu behandeln! Vielleicht ist dir das noch nicht aufgefallen, aber ich bin ein Mensch!“
 

Misha war so wütend, dass er Artjom in Stücke hätte reißen können, aber er wusste, dass er im Gegensatz zu dem Russen bloß eine kleine wehrlose Maus war, während der Ältere wie ein Fuchs vor ihm stand und sich bei der Vorstellung, sein Gegenüber für seine Bedürfnisse zu benutzen, genüsslich die Lippen leckte.

Der Junge erschauerte vor Ekel und Unbehagen. Momentan hatte er keine Chance gegen Artjom, aber eines Tages würde er die Gelegenheit bekommen, dem Dunkelhaarigen all die Schmerzen heimzuzahlen. Er würde dafür sorgen, dass Artjom, Roman und die ganzen anderen Kinderschänder ins Gefängnis kamen und er mit Hannah zurück nach Deutschland kehren konnte – da war er sich sicher.

„Ich hasse dich“, zischte Misha gereizt, ehe er sich von Artjom abwandte und in seinem Zimmer verschwand, wo er sich in seiner Ecke niederließ und sich fest vornahm, gegen seine Müdigkeit anzukämpfen. Dieser Pisser namens Artjom würde ihn absolut nirgendwo hinbringen.

Misha war bewusst, dass er die meisten Dinge, die er sich vornahm, nicht schaffte – ein hervorragendes Beispiel dafür war der Vorsatz, besser im Volleyball zu werden – doch er wollte nicht aufgeben.
 

Nein, ich darf nicht nachgeben. Wenn ich jetzt einschlafe, werde ich wahrscheinlich in einem dunklen Keller aufwachen... gefesselt, nackt und wehrlos vor Roman liegend, der...

Misha drückte die Stirn gegen seine Knie und begann zu weinen. Wie zur Hölle sollte er sein Schicksal abwenden? Er war nichts weiter als eine erbärmliche, kleine und schwache Heulsuse, die nicht einmal genug Mut aufbringen konnte, ihrem Schwarm näherzukommen oder sich in der Anwesenheit anderer Menschen nicht wie der letzte Idiot zu verhalten.

„Charly, komm zurück.“

Misha hob den Kopf und sah, wie Charly durch die Tür kam, die der Junge nicht geschlossen hatte, und sich auf seinem Schoß verkroch. Wenige Augenblicke später folgte Artjom, der leicht genervt zu sein schien.

„Es reicht jetzt, Charly. Ich weiß, dass du nicht gerne in einem Auto sitzt, aber das ist mir egal. Du wirst mitkommen, genau wie Misha.“

Als wäre der Fuchs in der Lage, seinen Besitzer zu verstehen, stieß er ein wütendes Fauchen aus und kletterte auf die Schulter von Misha, der Artjom nicht minder feindseliger anstarrte als Charly es tat.
 

„Und was willst du nun machen?“, fauchte der Junge herausfordernd. „Uns beide grün und blau schlagen, weil wir es wagen, einen eigenen Willen zu besitzen?“

„Nein, werde ich nicht. Schau dir das kleine Ding doch an; es ist mir körperlich um Welten unterlegen.“

„Redest du mit mir oder mit Charly?“

„Ich--“ Artjom brach ab, fuhr sich müde über das Gesicht und erkannte, dass der Junge recht hatte. Genau wie Charly war er dem Russen hilflos ausgeliefert und vollkommen von ihm abhängig... und mit seiner niedlichen Art machte er Charly auch Konkurrenz.

„Kleiner, wir fahren nicht zu Roman“, sagte Artjom sanft und ging vor Misha in die Hocke, um dem Kleinen durch die weichen Haaren zu wuscheln, was dem Jungen jedoch nicht zu gefallen schien. „Warum sollte ich dich weggeben, wenn ich gestern noch verdeutlicht habe, dass du bei mir bleibst?“

„Weil du... dich umentschieden haben könntest“, murmelte Misha, dem es immer schwerer fiel, die Augen offen zu halten.

„Eigentlich wollte ich dir nicht sagen, wo wir hinfahren, aber vielleicht ist es keine so schlechte Idee, dir ein wenig Vertrauen entgegenzubringen. Misha, wir fahren nach Moskau.“

13. Kapitel

Dass Misha eingeschlafen war, wurde ihm erst bewusst, als er aufwachte. Er öffnete seine braunen Augen und fand sich in einem weichen Bett wieder, das in einem halbdunklen Raum stand, welcher vermutlich ein Hotelzimmer war, weil die Einrichtung sehr gut dazu passte. Vor allem die Bilder von russischen Sehenswürdigkeiten waren ein eindeutiger Hinweis; in Artjoms Haus hatte Misha kein einziges davon gesehen.

Der Junge setzte sich aufrecht hin und sah, dass Artjom vor einem großen Fenster saß, das sich gegenüber dem Bett befand. Der Mond schien durch das Glas und umrandete die Gestalt des Russen mit einer dünnen Linie aus weißem Licht.

Misha erinnerte sich an das, was heute Morgen geschehen war. Einerseits erleichterte es ihn, dass er nicht in Romans Keller aufgewacht war, aber andererseits hatte er noch ein ernstes Wörtchen mit Artjom zu reden. Dass der Ältere ihn wie einen ungezogenen Hund behandelte, ging eindeutig zu weit.
 

Misha kletterte aus dem Bett und ging auf Artjom zu, der ihm den muskulösen Rücken zudrehte. Kaum erreichte er den Größeren, holte er mit dem Fuß aus und trat ihm mit voller Wucht in die Rippen.

„Du bist wirklich so schwach, wie du aussiehst“, war alles, was Artjom sagte. Misha wollte nach seinen schwarzen Haaren greifen und ihm sein Knie ins Gesicht rammen, aber bevor es dazu kam, hatte Artjom bereits seinen Oberkörper umgedreht und Mishas Handgelenk gepackt.

„Kleiner, gib's auf. Ich bin mit vier älteren Geschwistern und einem Cousin, der ebenfalls älter als ich ist, aufgewachsen und habe mich täglich mit ihnen geprügelt. Was du da versuchst, kannte ich schon, als ich nur halb so alt wie du war. Außerdem--“

„Lass mich los, Arschloch!“

„Da ist wohl jemand mit dem falschen Fuß aufgestanden“, murmelte Artjom und wehrte mit Leichtigkeit Mishas andere Hand ab, die nach seinem Gesicht zu schlagen versuchte.
 

Der Junge trat erneut nach dem Russen, was Letzteren jedoch nur zum Lachen brachte.

„Du bist so niedlich, wenn du dich wehrst“, schmunzelte er und kniff Misha in die Wange, was dem Jüngeren den Rest gab. Wie ein räudiger Hund schnappte er nach Artjoms großer Hand und biss so fest zu, dass er es knacken hören konnte.

Artjoms Lächeln wurde schwächer, erstarb jedoch nicht.

„Lass los“, befahl er bedrohlich ruhig, aber Misha dachte nicht einmal daran. Er knirschte mit den Zähnen und konnte den unverwechselbaren Geschmack von Blut schmecken.

„Na gut, du hast es nicht anders gewollt.“

Bevor Misha sich versah, hatte Artjom ihm seine Hand entrissen, sie zu einer Faust geballt und dem Jungen in den Bauch gestoßen. Während der Kleine vor Schmerz keuchte und sich zusammenkrümmte, stand Artjom auf und packte ihn am Arm.
 

Was dann geschah, passierte so schnell, dass Misha es erst realisierte, als er quer durch das Zimmer flog, gegen die Wand prallte und anschließend auf dem Boden aufkam. Zuerst war er so geschockt, dass er vor Entsetzen keinen Ton hervorbrachte, aber dann setzte der Schmerz ein, der so stark war, dass Misha am liebsten geschrien hätte. Doch weil er Artjom diesen Triumph nicht gönnte, presste er sich die Hände auf den Mund und erstickte seine Klagelaute, sodass nur ein leises Winseln zu hören war.

„So – jetzt weißt du, was passiert, wenn man mich nervt“, sagte Artjom und ging auf Misha zu, der unwillkürlich zu weinen begonnen hatte. „Ach komm, stell dich nicht so an. Ich war elf, als mein Cousin das Gleiche mit mir gemacht hat, weil ich auf die dumme Idee gekommen bin, ihm sein Feuerzeug zu klauen, das er zum Rauchen braucht, und damals bin ich deswegen auch nicht in Tränen ausgebrochen.“
 

Die Tatsache, die Artjom zu erwähnen vergessen hatte, war, dass ausschließlich jeder in seiner Familie von Natur aus einen muskulösen Körperbau besaß. Seine Gene gaben ihm einen unfairen Vorteil, von den Misha nicht profitieren konnte, weil er den zierlichen Elfenkörper seiner Mutter geerbt hatte. Dem Jungen zu sagen, dass er die Gewalt einfach wegstecken sollte, war also so sinnfrei, wie einer Maus eine Wunde zu verpassen, die einen Fuchs nur leicht verletzen würde, und sich dann zu wundern, warum sie starb.

Misha krümmte sich zusammen und schwieg. Er spürte, wie die Tränen seine braunen Augen verließen, quer über seinen Nasenrücken rannen und auf den Boden tropften. Nur einen knappen Meter von seinem Gesicht entfernt war eine vom Mondlicht beschienene Wand, auf welcher der Schatten von Artjom zu erkennen war. Der Russe sah stumm auf den Jüngeren nieder, ehe er sich auf den Boden kniete und eine Hand auf Mishas Taille legte.
 

„Reiß dich zusammen und geh wieder ins Bett. Wir müssen morgen früh raus, weil wir noch fünf Stunden Fahrt vor uns haben.“

Noch fünf Stunden? Das ist nur die halbe Fahrt von Sankt Petersburg nach Moskau. Und wenn Artjom heute fünf Stunden mit Fahren verbracht hat, was ist dann in der restlichen Zeit geschehen, in der ich geschlafen habe?

Artjom wollte Misha hochheben und zum Bett tragen, aber kaum hatte seine andere Hand den Jungen berührt, richtete dieser sich auf und stieß den Russen von sich weg.

„Nimm deine dreckigen Finger von mir“, zischte der Kleine gereizt.

„Dreckig? Ich habe mir erst vor einer halben Stunde die Hände gewaschen und--“

„Sag mal, bist du dumm oder tust du nur so? Du weißt ganz genau, wie ich das meine. Nimm deine gierigen Grapscher von mir, mit denen du was weiß ich schon wie viele Kinder gegen ihren Willen angefasst hast.“
 

„Ich bitte dich, sehe ich aus wie ein Kinderschänder?“

„Nein, du verhältst dich bloß wie einer.“

Artjom verdrehte genervt die Augen und ließ von dem Jungen ab. „Grundgütiger, solche Stimmungsschwankungen gehören in ein Guinnessbuch.“

„Ja, gemeinsam mit deinem Charakter, der einer der hässlichsten ist, die ich je gesehen habe.“

„Uh-hm“, murmelte Artjom unbeeindruckt und streichelte Charly, die es sich auf dem Bett bequem gemacht hatte.

„Du bist ein sadistisches Arschloch, das immer anderen die Schuld gibt, um zu verbergen, das es nichts alleine auf die Reihe kriegt. Außerdem bist nicht zufrieden, ehe alle nach deiner Pfeife tanzen und jeder sich dir unterordnet. Und wenn ich es wage, dich mit Logik oder grundlegenden Menschenrechten zu konfrontieren, schlägst du mich grün und blau, obwohl ich dir körperlich um Welten unterlegen bin.“

„Du klingst, als würdest du über einen Diktator reden“, schmunzelte Artjom belustigt.
 

„Nein, ich rede bloß über den Idioten, der sich über mich lustig macht, weil er nicht zugeben kann, dass ich recht habe! Übrigens: ich bin mir sicher, dass der Brief nicht das letzte Rätsel war, das Viktor dir stellen wird, und da du nicht einmal die Zeichen entziffern konntest, wirst du bei allem anderen sicherlich auch scheitern! Außerdem--!“

„Okay, was muss ich tun, damit du mit diesem Gezeter aufhörst? Ich habe keinen Bock, gleich Anschiss von einem Zimmernachbarn zu bekommen, weil du meinst, mitten in der Nacht das ganze Hotel zusammenschreien zu müssen.“

„Lass mich ausreden! Ich--!“

„Misha, es reicht jetzt“, fauchte Artjom ernst. „Sei still oder ich werde wirklich wütend.“

„Ich glaube, du wolltest eher sagen: ''Mir sind schon vor fünf Minuten die Gegenargumente ausgegangen und weil ich zu faul und dumm bin, mit dir zu diskutieren, werde ich dich zusammenschlagen'', nicht wahr?“
 

Als Misha wieder zu sich kam, fühlte sein Kopf sich an, als würde ihn jemand mit einem Presslufthammer bearbeiten. Seine Schläfen pochten, er hatte den Geschmack von Blut im Mund und seine Gliedmaßen schmerzten so schlimm wie er es noch nie zuvor erlebt hatte. Langsam setzte er sich aufrecht hin und bemerkte, dass er in einem Badezimmer saß, dessen weiße Fliesen mit Blut bedeckt waren.

Was... was ist passiert?

Irritiert schaute Misha sich um, bis sein Blick an der Vorderseite seines ehemals grauen Pullovers hängen blieb, an der mehrere rote Flecken zu sehen waren. Er zog den Stoff nach oben, spähte vorsichtig auf seine Haut – und vergaß beinahe vor Entsetzen zu atmen.

Mishas Bauch sah aus, als hätte Artjom ihn mit Wasserfarben bemalt. Rote, blaue und violette Flecken tummelten sich an der Haut, gingen ineinander über und schienen einen Krieg miteinander zu führen, wer am meisten von der Oberfläche einnehmen durfte. Hätte sich das Ganze auf einer Leinwand abgespielt, wäre man sicher in der Lage gewesen, das Gemälde teuer zu verkaufen, aber auf einem menschlichen Körper wirkte es einfach nur grausam.
 

In der verzweifelten Hoffnung, dass er sich alles nur einbildete, drückte Misha vorsichtig auf eine gerötete Stelle, doch der Schmerz war ein eindeutiger Beweis, dass genau das geschehen war, was Misha befürchtet hatte: Artjom hatte ihn--

Plötzlich näherten sich Schritte. Misha hatte gerade noch genug Zeit, unter das Waschbecken zu flüchten – nicht das beste Versteck, aber das Einzige, das der Junge auf die Schnelle finden konnte – als die Tür geöffnet wurde und Artjom das Bad betrat.

Misha spürte, wie sein Herz sich beschleunigte. Seine Nackenhärchen richteten sich auf, seine Handflächen begannen zu schwitzen und seine Kehle fühlte sich auf einmal ganz trocken an. Er kniff die Augen zusammen und hob schützend die Hände vor das Gesicht, aber das hielt Artjom nicht davon ab, den Kleinen an den Armen zu packen und unter dem Waschbecken hervorzuziehen.

Misha brachte vor Angst kein Wort heraus. Er hörte sein Herz panisch gegen seinen Brustkorb hämmern und spürte Artjoms Atem in seinem Gesicht.
 

„Glaub mir, hätte ich gewusst, dass du so verdammt nervig und anstrengend bist, hätte ich dich persönlich zu Roman gebracht“, sagte der Ältere. „Das würde ich jetzt auch nur allzu gerne nachholen, aber in deinem momentanen Zustand bist du nicht mehr wert als ein kleiner Straßenköter.“

Grob stieß er Misha von sich weg, sodass der Junge gegen die Wand knallte und sich den Hinterkopf aufschlug.

„Ich bin bald wieder da“, zischte Artjom und ging zurück zur Tür. „Bis dahin wirst du das hier“, er deutete auf die Blutspuren am Boden, „aufgeräumt haben. An deiner Stelle würde ich mich beeilen.“

Kaum war er verschwunden, schnappte Misha nach Luft und schaute zur Tür, als vermutete er, dass Artjom sofort zurückkommen würde, doch draußen war es still. Der Junge wartete einige Minuten, die er nutzte, um sich zu beruhigen und seinen Körper nach weiteren Wunden abzusuchen, ehe er begann, das Blut mit Klopapier aufzuwischen.
 

Er brauchte nicht sonderlich lange, um seine Aufgabe zu erfüllen, aber wenn später die Putzfrau vorbeikam, würde diese sich bestimmt wundern, wie zwei Gäste es geschafft haben, bei einer einzigen Übernachtung mehr als eine ganze Rolle Klopapier zu benutzen.

Misha hatte sogar noch genug Zeit, duschen zu gehen und sich das Blut vom Körper zu waschen. Während er auf dem Boden saß und das rötliche Wasser betrachtete, das im Abfluss verschwand, dachte er über Artjom und dessen Verhalten nach. Der Russe war ihm noch nie richtig sympathisch gewesen, aber in den letzten zwölf Stunden hatte er sich wirklich verändert. Er war plötzlich viel aggressiver und--

Zum zweiten Mal fuhr Misha fast aus seiner Haut, als er Artjoms schwere Schritte hörte. Panisch griff er nach dem Hahn, um das Wasser abzustellen, und vernahm im gleichen Moment, wie die Tür zum Badezimmer geöffnet wurde.

Artjom hatte eine Plastiktüte in der Hand. Er legte sie auf dem Boden ab, riss die Tür zur Duschkabine auf und zog Misha heraus, als wäre dieser ein ungezogener Hund.
 

Anstatt sich mit Worten zu beklagen, wie ein normaler Mensch es getan hätte, gab Misha einen animalischen Schrei von sich und zappelte wie ein Fisch auf dem Trockenen. Die Schmerzen und die Angst ließen ihn vergessen, dass sein Gegenüber jemand war, mit dem er sich verständigen konnte, und versetzten ihn in blanke Panik. Für ihn war Artjom nicht mehr der herzlose Grobian, sondern das, wovor Misha sich immer gefürchtet hatte, wenn er unter Menschen gewesen war.

„Halt die Schnauze!“, keifte der Ältere und verpasste dem Jungen eine Ohrfeige. „Ich habe jetzt keine Zeit für dein Theater.“

Misha holte Luft, um erneut zu schreien, aber genau in diesem Moment klopfte es an der Tür. Sofort schlang Artjom einen Arm um den Jungen und hielt ihm den Mund zu, was Mishas Panik jedoch nur verschlimmerte. Der Kleine begann zu hyperventilieren; er bekam keine Luft mehr und strampelte, als würde sich eine Würgeschlange um seinen Hals winden.
 

Weil Misha damit beschäftigt war, um sein Leben zu kämpfen – das entsprach zwar nicht der Wahrheit, aber so fühlte es sich an – kriegte er nur kleine Bruchteile von dem Gespräch zwischen Artjom und der anderen Person mit, die vermutlich eine Putzfrau war, die fragte, wann sie das Zimmer reinigen konnte und warum jemand geschrien hatte.

„Nur eine Spinne“, rief Artjom und boxte Misha in die Rippen. „Keine Sorge, ich kümmere mich schon darum. Ist es in Ordnung, wenn Sie in einer Stunde wiederkommen?“

Die Antwort nahm Misha nicht wahr, weil die Schmerzen an seinem Brustkorb seine Sinne trübten, aber anscheinend war die Putzfrau mit Artjoms Vorschlag einverstanden, denn sonst wäre der Russe jetzt wesentlich gestresster.

„Halt dein verdammtes Maul“, zischte er und drückte Misha grob auf den Boden. Während er ihn mit einer Hand festhielt, griff er mit der anderen nach einem Handtuch und begann, den Jungen abzutrocknen, was einfacher gesagt als getan war, weil der Jüngere sich anstellte, als würde das Handtuch in Flammen stehen.
 

Artjoms Reaktion darauf war vorauszusehen. Einige Augenblicke und zahlreiche Schläge später krümmte Misha sich zusammen und gab nur noch leises Winseln von sich.

„So langsam kriege ich wirklich Lust, dich einfach zu entsorgen“, murmelte Artjom und blickte angewidert auf den Jungen nieder, der wie Espenlaub zitterte und verzweifelt schluchzte. „Du meinst, dass ich einen hässlichen Charakter hätte, aber dabei bist du selbst bloß eine einfallsreiche Heulsuse, die sofort den Schwanz einklemmt, sobald--“

Artjoms Handy klingelte und unterbrach ihn. Genervt seufzend ging er ran und ließ von Misha ab, dem er einen Befehl erteilte, bevor er das Badezimmer verließ.

„In der Tüte sind frische Klamotten. Trockne dich ab und zieh dich an; wir fahren bald los.“

Nachdem Artjom verschwunden war, richtete sich Misha zögernd auf und tat, was von ihm verlangt worden war, weil er weiteren Stress vermeiden wollte, auch wenn er bezweifelte, dass sein Verhalten etwas an Artjom ändern würde.
 

Er packte seine alten Klamotten, an denen viel zu viel Blut haftete, um behaupten zu können, es wäre nur ein wenig Nasenbluten gewesen, in die Plastiktüte und wusch sich die Tränen aus dem Gesicht, als Artjom zurückkam.

„Halleluja“, sagte der Ältere. „Du hast es tatsächlich geschafft, eine Aufgabe zu erledigen, ohne zu schreien, zu heulen oder deine übliche Tour abzuziehen. Ich bin stolz auf dich.“

„...“

„Hör zu, Kleiner: Wenn ich dich ein weiteres Mal durch die Lobby trage und behaupte, du würdest immer noch oder schon wieder schlafen, wäre das ein wenig auffällig. Ich möchte von dir, dass du mir folgst und dich unauffällig verhältst, okay? Falls jemand fragt, sagst du, dass du mein jüngerer Bruder bist und...“

„... gelogen“, murmelte Misha kaum hörbar.

„Was?“

„Du hast gelogen“, wiederholte er etwas lauter, aber immer noch leise. „Du sagtest, ich hätte nichts zu befürchten, solange ich dich in Anwesenheit anderer Leute respektiere, keine Geheimnisse verrate und dir keinen Ärger mache.“
 

„Nun, das war bevor ich erkannt habe, dass du ein hoffnungsloser Fall bist.“

„Nein, das kann nicht sein... dein Versprechen ist gerade mal 24 Stunden her. Außerdem bist du jemand, der sich an seine Abmachungen hält und--“

Plötzlich fiel es Misha wie Schuppen von den Augen. Er drehte sich zu Artjom um und sah ihm zum ersten Mal, seit er von ihm verprügelt worden war, ins Gesicht.

„Du hast Angst“, erkannte er. „Irgendetwas ist passiert und um sicherzugehen, dass ich keinen Scheiß mache, drohst du mir mit Gewalt.“

„Halt die Klappe.“

„Ich sage doch nur die Wahr--“

Ein heftiger Schlag ins Gesicht brachte Misha zum Schweigen.

„Halt dein verdammtes Maul. Noch ein einziges Wort und du wirst es bereuen, überhaupt den Mund aufgemacht zu haben.“

Misha schwieg. Er wusste nicht, wer oder was Artjom bedrohte, aber er hoffte, dass es den Russen auf qualvollste Art und Weise umbrachte.

14. Kapitel

Die Schmerzen, die Misha dank Artjom verspürte, waren so stark, dass man sie nicht in Worte fassen konnte. Schweigend und gelegentlich vor Schmerz ätzend trottete der Junge nehmen Artjom durch die Flure des Hotels, in dem die beiden übernachtet hatten.

„Du redest nur, wenn du etwas gefragt wirst“, schärfte der Ältere dem Kleinen ein. „Und passt auf, was du sagst. Ein einziges falsches Wort und Jan wird morgen nicht aufwachen.“

Bei der Erwähnung seines Halbbruders stiegen Misha die Tränen in die Augen. Er blieb stehen und funkelte Artjom sowohl wütend als auch traurig und verzweifelt an.

„Was soll das? Was habe ich getan, um diese Behandlung zu verdienen?“

„Halt die Schnauze und komm mit.“

„Artjom, ich bin nicht dein Feind!“
 

Angesprochener überwand den Abstand zwischen sich und Misha und erhob die Hand, um ihn mit voller Wucht eine zu scheuern, aber weil er nicht allzu auffällig für die Frau sein wollte, die in genau diesem Moment ihr Zimmer verließ, verzichtete er auf die Ohrfeige und packte Misha stattdessen am Oberarm.

Eigentlich hatte er dabei nicht vorgehabt, dem Kleinen wehzutun, aber dem gequältem Wimmern nach zu urteilen hatte er es trotzdem hinbekommen.

„Stell dich nicht so an“, zischte er genervt und zerrte Misha Richtung Lobby.

Der Junge wollte gerade erwidern, dass Artjom mit seinem vollkommen gesunden und unverletzten Körper gut reden hatte, doch als er die Eingangshalle betrat, zog etwas anderes seine Aufmerksamkeit auf sich. Etwas, vor dem er sich noch viel mehr als vor einem aggressiven Russen namens Artjom fürchtete.
 

Menschen.

Sie waren überall. An den Türen, der Rezeption, den Automaten, den Regalen mit den Zeitschriften und Flyern – es wimmelte nahezu von ihnen.

Instinktiv ergriff Misha Artjoms Hand. Sein Herz

hämmerte gegen seine Brust, als wäre er einen Marathon gelaufen, kalter Angstschweiß bildete sich auf seinem Gesicht und es lief ihm eisig den Rücken herunter.

Oh Gott, oh Gott, oh Gott... wie soll ich mich verhalten? Und was soll ich machen, wenn mich einer von ihnen anspricht? Oder ich versehentlich jemanden anremple? Oder mir irgendetwas Peinliches passiert?
 

Misha schaute starr zu Boden und hielt mit Artjom Schritt, der sich zur Rezeption bewegte. Tausende Reize prasselten wie starker Regen auf ihn nieder. Das Blättern einer Zeitschrift, das Kichern eines jungen Mädchens, das Husten einer weit entfernt stehenden Person, das Geräusch von den Rollen eines Koffers, die hastige Bewegung von einem Mann, der anscheinend niesen musste, das--

Misha bemerkte erst, dass er die Rezeption erreicht hatte, als er beinahe dagegen lief. Sich unruhig umschauend hoffte er, dass niemand ihn dabei beobachtete hatte, und zum ersten Mal seit mehreren Tagen schien er Glück zu haben.

„Ich hoffe, Sie haben Ihren Aufenthalt genossen“, sagte die Hotelangestellte, ehe ihr Blick zu Misha wanderte. „Na, wenn das nicht die kleine Schlafmütze von gestern ist. Hast du gut geschlafen, kleiner Mann?“
 

Hätte Misha die Aufgabe bekommen, eine Liste mit allen von ihm verhassten Dingen zu erstellen, hätte sich ganz oben Artjom und direkt darunter ''von Fremden angesprochen werden'' befunden. Er hasste es nicht nur, er verabscheute es.

Was sollte er darauf antworten? Erwartete die Frau überhaupt eine Antwort oder hatte sie eine rhetorische Frage gestellt? Und wie sollte die Antwort aussehen? Ausführlich oder kurz, direkt oder umschreibend oder doch lieber--?

Misha nickte und hoffte, die Frau nie wieder in seinem ganzen Leben sehen zu müssen. Eine Antwort, die keinen Gebrauch von Stimme machte, war eine gute Antwort, denn sie schloss die Möglichkeit aus, dass Misha zu schnell oder zu undeutlich redete oder sich versprach.
 

Zum Glück wurde der Junge nicht noch weiter in das Gespräch verwickelt. Kaum hatten er und Artjom die Lobby verlassen, gab er ein erleichtertes Seufzen von sich und ließ die Hand des Russen los.

„Alles okay bei dir?“, fragte der Ältere in einem nicht besorgt, sondern genervt klingenden Ton, der darauf schließen ließ, dass Artjom keine Lust und Zeit für Mishas Probleme hatte.

„Ja“, sagte der Kleine. „Ich... es fällt mir bloß nicht einfa--“

„Interessiert mich nicht. Steig ins Auto.“

Warum hast du dann gefragt, Arschloch?

Misha wollte sich auf der Rückbank niederlassen, um einen möglichst großen Abstand zu Artjom zu gewinnen, doch der Größere verlangte, dass er sich auf den Beifahrersitz setzte, damit er ihn besser im Auge haben konnte.
 

Der Junge seufzte. Seine Angst verschwand langsam, aber dafür spürte er seine Schmerzen stärker denn je. Hinzu kam, dass er fror – in Artjoms Auto war es so kalt wie in einer Garage – und Hunger und Durst litt. Das letzte Mal, dass er etwas zu sich genommen hatte, war bestimmt schon einen ganzen Tag her.

„Artjom, k-könnte ich vielleicht etwas zu trinken ha--?“

„Nein. Halt die Klappe“, fauchte der Ältere und verließ den Parkplatz. Bis zur Autobahnauffahrt herrschte Schweigen im Fahrzeug, aber dann sprach Misha die Frage aus, die ihn schon die ganze Zeit beschäftigte.

„Warum hasst du mich?“

Seine Stimme klang nicht vorwerfend, sondern unschuldig. Unschuldig wie ein kleines Gänseblümchen, das zwischen zwei Pflastersteinen sprießte und vorbeigehende Menschen grüßte.
 

„Ich hasse dich nicht“, antwortete Artjom ehrlich.

„Aber warum bist du dann so gemein zu mir?“

Artjoms rechtes Auge zuckte kurz. Er krallte seine Finger in das Lenkrad und presste die Kiefer so feste aufeinander, dass seine Zähne leise knirschten.

„Artjom?“

Obwohl Misha sich nicht von der Stelle rührte, schien seine Präsenz zu wachsen. Wie die Wahrheit hinter einer riesigen Lüge kroch seine Anwesenheit über Artjoms Schulter und streifte sein Ohr.

„W-was ist los? Habe ich etwas Falsches gesagt?“

Artjom seufzte. Misha konnte es nicht wissen. Woher auch?

„Ich hasse nicht dich, sondern...“

„Ja?“
 

„... den Einfluss, den du auf mich ausübst.“

„Einfluss?“

Misha hatte beim besten Willen nichts falsch gemacht. Er war vollkommen unschuldig, aber gerade die Unschuld war es, die Artjom so aufregte. Diese reine Unschuld, gepaart mit der stillen Persönlichkeit, dem niedlichen Aussehen, der hohen, aber nicht arroganten Intelligenz und anderen Dingen, die Misha so charmant und attraktiv machten.

Artjom lächelte leicht und sagte dem Jungen mit einer Geste, dass er näherkommen sollte. Alles schien friedlich zu sein, doch kaum hatte Misha sich über die Handbremse gebeugt, holte Artjom aus und rammte dem Kleinen seinen Ellbogen ins Gesicht. Das Knacken einer brechenden Nase war nicht zu hören, aber dafür ein spitzer Schmerzensschrei, gefolgt von einem klagenden Winseln.

''Es tut mir leid, Misha. Ich wollte das nicht tun.''
 

Die Worte lagen Artjom auf der Zunge, doch er schluckte sie herunter und knurrte wütend: „Ich weiß echt nicht, wie oft ich dir noch sagen muss, dass du die Schnauze halten sollst.“

Er warf einen Blick auf den Jungen und ließ sich nicht anmerken, wie schockierend der Anblick für ihn war.

Sowohl die Handbremse als auch das Handschuhfach und das Fenster an der Seite waren mit ein paar kleinen Bluttropfen gesprenkelt. Misha hielt sich die blutende Nase, eine kleine Pfütze hatte sich auf seiner Handfläche gebildet.

Entweder war es die plötzliche Bewegung oder der Geruch von Blut oder beides gewesen – eins davon hatte Charlys Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Der Fennek, der die Zeit bis jetzt gut versteckt in Artjoms Rucksack, der auf der Rückbank lag, verbracht hatte, sprang mit einem flinken Satz auf die Rückenlehne vom Beifahrersitz und landete keine zwei Sekunden später auf Mishas Schoß.
 

Der Junge holte erschrocken Luft, doch kaum sah er, wer ihm da einen Besuch abstattete, entspannte er sich wieder. Er streichelte mit seiner sauberen Hand vorsichtig Charlys helles Fell und verzog seine Lippen zu einem traurigen Lächeln, als sie ihm das Blut vom Kinn leckte.

Artjom seufzte frustriert. Er hätte nichts lieber getan, als Misha zu umarmen, ihn auf die Stirn zu küssen und sich bei ihm zu entschuldigen, aber er durfte der Versuchung nicht nachgehen. Die Anziehungskraft dieses Jungen war wie ein Moor, in dem Artjom zu versinken drohte.

Dass er abhängig war, hatte der Russe schon früher bemerkt, aber erst gestern wahrhaben wollen. Völlig egal, über was er nachdachte oder was er machte – Misha wucherte wie Unkraut in seinen Gedanken.
 

Artjoms Schwester Katja hatte mal behauptet, dass man Dinge mindestens hundertmal tun musste, um sie zur Gewohnheit zu machen, woraufhin Artjom ihr gesagt hatte, dass sie es mal mit Heroin versuchen sollte – das brauchte eindeutig weniger als hundert Anwendungen, um zur Angewohnheit zu werden. Katja hatte das nicht lustig gefunden und nun verstand Artjom auch warum. Denn jetzt war er abhängig. Anhängig von einer Person, die er erst seit wenigen Tagen kannte. Was war das? Komische Nebenwirkung der Kopfschmerztablette, die er vor 'ner Woche eingenommen hatte? Oder die Art und Weise, wie seine Psyche den Tod seines besten Freundes verarbeitete? Oder vielleicht--?

„Ähm... A-artjom?“

„Was?“, zischte der Russe so gereizt, dass Misha erschrocken zusammenzuckte.

„K-könn-könntest du eventuell ein bisschen langsamer fahren?“
 

Artjom warf einen Blick auf die Anzeige hinter dem Lenkrad und stellte leicht irritiert fest, dass er ohne es zu merken mit einer Geschwindigkeit von knapp 186 Stundenkilometern über die Autobahn raste. Es grenzte an einem Wunder, dass er noch nicht geblitzt oder von der Polizei angehalten worden war.

„Danke“, hauchte der Junge, nachdem Artjom sein Tempo der Höchstgeschwindigkeit angepasst hatte.

Der Ältere musste schmunzeln. Wie der Kleine sich bedankte und dabei so vorsichtig zu Artjom lugte, war einfach nur niedlich...

Bevor der Schwarzhaarige wusste, was er tat, hatte er eine Hand auf Mishas Oberschenkel gelegt. Durch den dünnen Stoff der Jeans hindurch spürte er die Wärme und das starke Zittern des Jüngeren. Nur allzu gern hätte er ihm ein paar aufmunternde Worte geschenkt und ihm seine wärmende Jacke geliehen, aber er durfte jetzt nicht nachgeben.
 

Während Artjom darüber nachdachte, ob er seine Hand zurückziehen oder dort liegen lassen sollte, schluckte Misha nervös und blickte auf die fremden Finger nieder, die sich für ihn etwa so angenehm wie die Berührung einer gigantischen Spinne anfühlten. Er wollte schreien und sie von sich abschütteln, aber die Angst, dass Artjom sich das nicht gefallen lassen würde, hinderte ihn daran.

„Du möchtest immer noch zu deiner Freundin Hannah, oder?“

„Ähm... ja“, murmelte Misha schüchtern.

„Dafür müsstest du mir aber einen Gefallen tun.“

„Aber... du hast mir doch versprochen, dass--“

„Und ich weiß auch schon, was ich von dir möchte.“

Misha hatte eine böse Vorahnung, die sich bestätigte, als Artjoms Hand nach oben zu der Hüfte des Jungen wanderte. Die Spinne krabbelte vorwärts und streifte Mishas Haut mit ihren haarigen Beinen.
 

„W-wir hatten aber etwas anderes ausgema-- Aah!“

Misha schrie vor Schmerz auf, als Artjoms Finger sich in sein Fleisch krallten und dabei die Wunde aufrissen, die heute Morgen erst zu bluten aufgehört hatte.

„Vergiss, was wir ausgemacht haben“, knurrte Artjom. „Du wirst tun, was ich dir sage.“

„...“

„Keine Sorge, ich möchte es nicht jetzt, sondern später, wenn wir zu Hause sind... obwohl, mir ist gerade etwas Besseres eingefallen.“

Misha folgte Artjoms Blick und sah ein Schild, das eine bald zu erreichende Raststätte ankündigte. Er hatte noch knapp fünf Kilometer – umgerechnet in Artjoms Geschwindigkeit wären das etwa zweieinhalb Minuten – um sich etwas zu überlegen, das ihn davor bewahren würde, seine Unschuld auf unfreiwillige und höchst brutale und grausame Art und Weise zu verlieren.

„Artjom, es reicht.“

„Halt die Schnauze.“
 

„Du bist nicht du selbst!“

„Und du bist im Begriff, dich sehr unglücklich zu machen.“

„Du hast mir versprochen, dass du dich niemals an einem Kind vergreifen würdest!“

„...“

„Du hast mir versprochen, dass ich vor dir nichts zu befürchten habe, solange ich mich benehme!“

„Sei still.“

„Du bist überhaupt nicht der Artjom, den ich kennengelernt habe! Was ist mit dir passiert?!“

„Halt endlich dein verdammtes Maul.“

„Was ist los mit dir? Und was muss ich tun, damit du wieder normal wirst?!“

Misha hatte mit Schmerzen oder zumindest Beleidigungen gerechnet, aber Artjom schwieg. Er nahm seine Hand von Mishas Oberschenkel, wischte das Blut, das an seiner Hand haftete, an einem Taschentuch ab und nahm die Ausfahrt, die zur Raststätte führte.
 

„Bitte, Artjom... so etwas Abartiges würdest du nicht tun.“

Angesprochener antwortete nicht. Seine Drohung war so leer wie Mishas Magen. Er konnte den Jungen nicht missbrauchen, selbst wenn er es gewollt hätte, denn das Letzte, was er momentan verspürte, war das Bedürfnis, seine Libido zu befriedigen.

„Artjom, ich... ich fühle mich komisch.“

Es hatte den Russen schon mehr als genug Überwindung gekostet, den Jungen zu schlagen. Wie der Kleine geschrien und geweint hatte... es war schrecklich gewesen.

„Ar... Artjom.“

Und das ganze Blut – Artjom überraschte es, dass Misha noch nicht zusammengebrochen war, aber er wusste auch, dass er dieses Glück nicht zulange herausfordern durfte. Sonst hatte er ein ernstes Problem.
 

Während Artjom möglichst weit weg von dem kleinen Gebäude parkte, wo man etwas essen und eine Toilette benutzen konnte, bemerkte er gar nicht, dass es Misha immer schlechter ging. Der Kleine lehnte den Kopf gegen die Fensterscheibe und atmete flach. Ihm war ganz seltsam und er fühlte sich, als hätte man sämtliche Kraft aus ihm herausgesaugt. Er nahm wahr, dass Artjom gedankenverloren zur Tankstelle blickte und zu sprechen begonnen hatte, aber er konnte die Worte nicht verstehen. Sie kamen ihm vor, als würden sie sich immer weiter von ihm entfernen und im Nirgendwo verschwinden.

Misha schloss die Augen und spürte, wie sein Bewusstsein sich verabschiedete. Das Letzte, was er fühlte, waren die ganzen Schmerzen, die ihn schon seit geraumer Zeit plagten, und Charlys feuchte Nase, die vorsichtig seine Wange berührte.

15. Kapitel

„Weißt du, Misha, es macht mir keinen Spaß, dir wehzutun. Wirklich nicht. Aber... ich fühle mich, als würde ich sonst die Kontrolle über mich verlieren. Ich weiß, dass das nicht deine Schuld ist und dass es unfair ist, dich dafür leiden zu lassen, und es tut mir auch leid, aber... ich weiß nicht, wie ich sonst damit umgehen soll.“

„...“

„Schon gut, du musst nichts sagen. Ich wüsste auch nicht, was ich darauf antworten sollte.“ Artjom seufzte. „Hör zu, lass uns erst einmal nach Moskau kommen und deine Wunden versorgen und dann sehen wir weiter, okay? Ich denke, es wäre das Beste für uns, wenn wir keine Zeit mehr miteinander verbringen und getrennte Wege gehen würden. Ich kann versuchen, dich zu jemanden zu bringen, der nicht so brutal ist, aber versprechen kann ich dir leider nichts.“ Er schüttelte den Kopf und hörte Charlys aufgeregtes Fiepen. Vermutlich dachte sie, dass Zeit zum Aussteigen war. „Es tut mir wirklich leid, Misha. Ich wollte dir nicht wehtun. Ich weiß, dass dir diese Entschuldigungen nicht viel helfen werden, aber... Charly, es reicht jetzt.“
 

Entgegen Artjoms Hoffnung verstummte der Wüstenfuchs nicht, sondern wurde nur noch lauter. Der Russe drehte sich zu ihr, um ihr etwas strenger einzuschärfen, dass sie noch eine lange Fahrt vor sich hatten, doch als er sich zu dem kleinen Tier wandte, erkannte er, dass Charlys Aufregung nicht der Umgebung galt.

„Scheiße... Misha!“

Der Junge sah alles andere als gut und lebendig aus. Seine Haut war außergewöhnlich blass, außer an den Augen, unter denen sich dunkle Ringe zeigten, und an den Stellen, wo sichtbare Blutergüsse prangten.

Artjom streckte die Hände nach Misha aus, doch genau in diesem Moment bemerkte er, dass noch etwas Blut an der Hand haftete, deren Finger er vorhin in Mishas Oberschenkel gekrallt hatte. In den kleinen Furchen seiner Hand hing die rote Flüssigkeit; es waren bloß Striche, doch sie fühlten sich wie Nadeln an, die sich in Artjoms Brust bohrten und ihn tiefste Reue verspüren ließen.

„Schau, was du getan hast“, wisperten sie hasserfüllt. „Das ist ganz allein deine Schuld.“
 

Misha, es tut mir leid!

Mit allergrößter Vorsicht nahm Artjom den Jungen, zog ihn zu sich und legte ihn auf seinem Schoß ab. Er fühlte, wie das Blut das Jungen durch seine Kleidung drang und mit seiner Haut in Berührung kam, was das schlimmste Gefühl war, das er je wahrgenommen hatte. Die ganze Zeit hatte der Kleine unbeschreibliche Schmerzen erleiden müssen und das nur, weil Artjom sich zu ihm hingezogen fühlte.

„Es tut mir leid“, wisperte der Ältere, obwohl ihm bewusst war, dass Misha ihn nicht hören konnte. „Es tut mir so leid. Ich wollte dir nicht wehtun.“

Er platzierte den Kopf das Jungen auf seiner Brust und strich ihm vorsichtig durch das braune Haar. Selbst an diesem hing geronnenes Blut.

Darauf bedacht, sich nicht zu sehr zu bewegen, um nicht versehentlich noch mehr von Mishas Wunden aufzureißen, zog Artjom seine Jacke aus und legte sie über den Jüngeren. Am liebsten würde er ihm all die Schmerzen abnehmen, aber das lag außerhalb seiner Macht.
 

Im Augenwinkel sah Artjom, dass ein weiteres Auto die Raststätte erreichte. Es parkte in der Nähe der Tankstelle und spuckte einen Mann aus, der in dem Gebäude verschwand und wenig später mit einem dampfenden Pappbecher wiederkam.

Artjom seufzte. Er ignorierte Charlys besorgtes Winseln, schlang vorsichtig seine muskulösen Arme um Mishas zierlichen Körper, küsste den Jungen auf die Stirn und hoffte, dass er bald wieder zu sich kommen würde.

Charlys Gefiepe wurde währenddessen immer nerviger. Der Fennek kratzte an der Autotür, nieste, schnupperte an Mishas getrocknetem Blut, das am Handschuhfach hing, und sah seinen Besitzer erwartungsvoll an.

„Nein, Charly. Ich habe jetzt keine Zeit für dich.“

Als Antwort kam bloß ein langes Winseln.

„Lass mich in Ru--“
 

Artjom verstummte, als er spürte, wie sich das kleine Häufchen Elend auf seinem Schoß regte. Zuerst holte Misha nur Luft, um gequält zu ächzen, und dann öffnete er seine Augen und richtete sich auf, sodass er ein wenig Abstand zu Artjom gewann.

Er sagte nichts, doch seinem Blick war anzusehen, dass es eine Menge gab, das er seinem Gegenüber gerne mitgeteilt hätte, und selbst Artjom verstand, dass nichts davon freundlich oder positiv gewesen wäre. Wahrscheinlich hielt Misha bloß die Klappe, weil er auf weitere Schmerzen oder Schläge getrost verzichten konnte.

Der Russe wollte dem Jungen vorsichtig über die Wange streichen, aber der Kleine schlug seine Hand weg und sah ihm herausfordern in die grünen Augen.

„Bist du jetzt zufrieden?“

Artjom runzelte fragend die Stirn.

„Ich habe dich gefragt, ob du zufrieden bist. Hast du erreicht, was du wolltest?“
 

Angesprochener öffnete den Mund, um eine Antwort zu formulieren, aber er wusste nicht, was er sagen sollte. Ein Teil von ihm wollte nicken, Misha von sich wegstoßen und ihn auf Abstand halten, während der Rest von Artjom vor Misha auf die Knie sinken und sich entschuldigen wollte.

„Ich hasse dich“, knurrte der Junge, als er erkannte, dass er von Artjom keine Antwort bekommen würde. „Und ich weiß, dass das auf Gegenseitigkeit beruht. Ich habe verstanden, dass du mich verabscheust – du kannst jetzt aufhören, mich wie deinen Feind zu behandeln.“

„Ich hasse dich nicht.“

„Artjom, du hast mich mehrmals in die Ohnmacht geprügelt und mir damit gedroht, meinen Bruder umzubringen und mich zu vergewaltigen. Das ist mehr als nur Hass.“

„Ich hasse dich nicht“, wiederholte Artjom und legte seine rechte Hand auf Mishas Rücken.

Uns trennen nur zwei oder drei Dezimeter. Ich will ihn an mich drücken. Ich will ihn umarmen. Ich will ihn küssen. Ich will sein Gesicht anfassen. Ich--
 

Mit einem groben Stoß beförderte er den Jungen zurück auf den Beifahrersitz.

„Sei froh, dass ich noch keine Gelegenheit hatte, meine Drohung in die Tat umzusetzen“, fauchte er gereizt. „Bleib dort sitzen und halt die Klappe. Ich will von dir nichts mehr hören.“

Mit diesen Worten startete er den Motor, ehe er die Raststätte verließ und auf die Autobahn zurückkehrte. Er wollte sein Haus in Moskau möglichst schnell erreichen, damit er nicht mehr mit diesem verdammten Jungen im Auto eingesperrt war, aber nach nicht einmal einer Stunde Fahrt geriet er in einen Stau, der sich so schnell nicht auflösen würde.

Scheiße.

Misha hatte währenddessen keinen einzigen Laut von sich gegeben. Er saß ruhig auf dem Sitz, streichelte Charly, die sich auf seinem Schoß niedergelassen hatte, und fragte sich, was er mit Artjoms Jacke tun sollte, die er immer noch auf den Schultern trug. Einerseits war sie schön warm, aber andererseits haftete der Geruch des Russen an ihr, was Misha vor Angst und Wut zittern ließ.
 

Artjom seufzte. Sie standen schon seit einer Viertelstunde hier und nichts hatte sich bewegt. Ein paar Leute aus den vorderen Autos waren sogar schon ausgestiegen und redeten miteinander.

Sein Blick wanderte unwillkürlich zu Misha, der, als er bemerkte, dass er beobachtet wurde, nervös schluckte und sich gegen die Autotür presste, in der Hoffnung, Artjom könnte ihn dort nicht erreichen.

Der Russe seufzte erneut und wünschte, etwas – irgendetwas – würde passieren, damit er und der Junge sich nicht gegenseitig anschweigen mussten, doch das Einzige, was geschah, war, dass der Kleine sich zaghaft auf die Unterlippe biss und ein paar Autos neben und hinter Artjoms Wagen hielten.

„Wenn du auch nur daran denkst, jemanden auf uns aufmerksam zu machen, werde ich--“

„Hatte ich nicht vor.“

„Lass mich ausreden!“, zischte Artjom und schlug mit der geballten Faust so feste gegen das Lenkrad, dass Charly aufschreckte und fluchtartig auf der Rückbank verschwand. Misha wäre ihr nur allzu gerne gefolgt.
 

„Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du die Klappe halten sollst?“

Dass Artjom seine Stimme erhob, war unnötig; Der aggressive Ausdruck in seinen grünen Augen reichte vollkommen aus, um den armen Jungen einzuschüchtern, der zu zittern begann und die Hände schützend vor das Gesicht hob, weil er erwartete, dass Artjom seinen Worten jeden Moment Nachdruck verleihen würde.

Der Russe konnte sich kaum noch beherrschen. Dein Kleinen so verängstigt und hilflos zu sehen, erweckte in ihm den Wunsch, sich bei Misha zu entschuldigen und ihn vorsichtig zu trösten, aber er musste sich zusammenreißen. Wenn er jetzt nachgab, würden diese Gefühle nur noch stärker werden und Artjom zu einer willenlose Marionette machen, deren Ziel es war, die Wünsche ihres Angebeteten zu erfüllen. Und dann war es nur noch eine Frage der Zeit, bis Misha ihn ausnutzte oder er vor Liebe so blind sein würde, dass--
 

„A-artjom, da...“, murmelte der 16-Jährige verunsichert, woraufhin Angesprochener sich zu ihm drehte und ihn sanft fragen wollte, was denn los war, aber dann erkannte, dass der Junge nicht ihn, sondern etwas anderes anstarrte, das sich direkt neben oder hinter Artjoms Kopf befand.

Im selben Augenblick klopfte jemand an die Fensterscheibe. Der Russe fuhr herum und sah eine Frau, die er nicht beschreiben konnte, weil sie nichts Besonderes an sich hatte und deswegen für ihn so langweilig war, dass er sie vergessen würde, sobald sie sich von ihm abwandte.

Für Artjom waren Menschen wie Bäume. Wenn man sie genau betrachtete, würde man sicherlich genug Merkmale feststellen, um sie auseinanderzuhalten, aber Artjom hatte weder Zeit noch Lust, auf diese Unterschiede zu achten. Aus seiner Sicht waren alle Menschen, die er gar nicht oder nur wenig kannte, ein und dieselbe Person. Nur Leuten, die ihm nahestanden oder etwas Besonderes waren, gelang es, sich von dem Wald abzuheben und zu einer Pflanze zu werden, die der Russe sich merken konnte.
 

Misha zum Beispiel – während alle Menschen in Artjoms momentaner Umgebung bloß Bäume darstellten, war der Junge wie die farbenfrohe Blüte eines Hibiskus: Hübsch, exotisch, interessant, attraktiv, lockend.

Obwohl Artjom lieber seinen Gedanken über den Jungen nachgegangen wäre, ließ er das Fenster herunterfahren und begrüßte die Frau, die vor seiner Tür stand.

„Guten Morgen“, lächelt er. „Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“

„Hallo. Ich wollte nur fragen, ob alles okay ist. Gerade eben sah es so aus, als hätten Sie und der Junge einen Streit und deswegen wollte ich nur vorbeischauen und-- oh, Sie sind ja voller Blut!“

Artjom musste nicht nach unten zu schauen, um zu wissen, welches Blut die etwa vierzigjährige Frau soeben entdeckt hatte. Es war Mishas Blut, das auf seine Brust gelangt war, als er den Kleinen vorhin auf seinen Schoß gesetzt hatte.
 

„Ach das“, er tat so, als würde er verlegen lachen, „das ist bloß Nasenbluten. Ich Idiot habe mir die Nase am Lenkrad gestoßen, als ich unter den Sitz gegriffen habe. Keine Sorge, es sieht schlimmer aus als es ist.“

Die Frau lachte ebenfalls und wandte sich nun an Misha, der den Reißverschluss von Artjoms Jacke, die er immer noch trug, zugemacht hatte, sodass man das mehr als nur auffällige Blut auf seiner Kleidung nicht sehen konnte.

„Hallo, kleiner Mann. Du sieht blass aus. Ist alles okay?“

Der Junge nickte und lächelte dabei so unbeschwert, dass er sogar Artjom für einen Moment überzeugte.

„Ja, mir geht es gut. Ich kann bloß kein Blut sehen.“

„Geht mir genauso“, lachte die Frau, ehe sie plötzlich todernst wurde und fragte: „Kleiner, kennst du diesen Mann?“

Misha runzelte die Stirn und sah so aus, als hätte man ihn gefragt, ob er es für möglich halten würde, dass Mäuse Jagd auf Füchse machen.
 

„Natürlich kenne ich ihn – das ist Arthur, mein Cousin.“

„Denken Sie, dass ich ein fremdes Kind im Auto sitzen habe, oder was sollte das?“, fügte Artjom gleichermaßen irritiert, aber mit einem belustigten Unterton hinzu.

„Tut mir leid“, kicherte die Frau peinlich berührt. „Ich lese in letzter Zeit viele Krimis, in denen es um entführte Kinder geht. Mein Gehirn spielt mir Streiche und lässt mich denken, dass hinter jeder Ecke ein Verbrechen lauert. Es tut mir wirklich leid.“

„Nun – lieber einmal zu viel als einmal zu wenig nachfragen. Solche Monster gibt es schließlich wirklich“, erwiderte Artjom gut gelaunt, doch kaum hatte er sich von ihr verabschiedet und das Fenster wieder nach oben fahren lassen, knurrte er: „Diese blöde Schlampe würde sowohl mir als auch ihr selbst einen Gefallen tun, wenn sie bei ihren scheiß Büchern bleibt. Aber das gerade eben hast du echt gut gemacht, Misha. Ich bin beeindru-- Misha?“
 

Misha sah aus, als hätte er einen Nervenzusammenbruch. Er beugte sich nach vorne, presste sich die Hände auf die Ohren und starrte geistesabwesend auf seine Schuhe.

„Hey, ist alles okay?“

„Sie... sie hat mit mir gesprochen. Und mich angesehen.“ Er löste sich aus seiner Starre und sah Artjom mit seinen hübschen braunen Augen an, in denen sich Tränen bildeten. „D-denkst du, sie kommt zurück?“

„Ich hoffe nicht“, antwortete der Russe verwundert. „Ist alles in Ordnung bei dir?“

Misha nickte und blinzelte sich die Augen trocken. Sein Herz raste, als wäre er innerhalb einer Minute zweihundertmal ums Auto gerannt und alles in ihm schrie danach, sich irgendwo zu verstecken, wo es sicher vor fremden Menschen war, die sich mit ihm unterhalten wollten. Warum musste diese blöde Kuh ihn ansprechen? Warum konnte sie nicht stattdessen die Person nehmen, die keine Panikattacke bekam, wenn man sie nur ansah?
 

Misha atmete tief durch und fragte sich, wie es es wohl war, ganz normal mit fremden Leuten reden und ihnen sogar in die Augen sehen zu können. Er war so sehr in seine Gedanken und seine Angst vertieft, dass er Artjoms Anwesenheit vollkommen vergaß und erst zurück in die Realität befördert wurde, als zwei kräftige Arme ihn am Oberkörper packten und auf Artjoms Schoß zogen.

„Du brauchst keine Angst zu haben, Kleiner. Was du gesagt hast, war richtig. Du hättest es nicht besser machen können.“

Misha schätzte es, dass Artjom ausnahmsweise mal darauf verzichtete, ihn grundlos zu schlagen, aber auf seinem Schoß zu sitzen und seine muskulösen Arme um sich geschlungen zu spüren, war ungefähr so angenehm, wie in ein Wasserbecken voller hungriger Haie und giftiger Quallen geworfen zu werden.

Warum kann der Typ mich nicht mal für fünf Minuten in Ruhe lassen?
 

Artjom strich Misha beruhigend über den Rücken und ignorierte, dass der Junge sich verkrampfte und offensichtlich unwohl fühlte. Dass der Kleine Angst vor ihm hatte, war eine Sache, aber dass er sich vor Fremden fürchtete, eine ganz andere, weil das etwas war, das außerhalb Artjoms Kontrolle lag.

Der Russe legte sein Kinn auf Mishas Kopf ab und genoss das Gefühl der weichen Haare und den angenehmen Körperduft, der leider mit dem Geruch von Blut vermischt war. Was würde er nur alles dafür opfern, seinem Verlangen nachgeben zu können und Misha näher an sich zu drücken... und ihn zu küssen... und einen Arm um seine Taille zu schlingen... und durch seine braunen Haare zu fahren... und--

„Oh Junge, was machst du bloß mit mir?“, wisperte er gedankenverloren und strich dem Kleinen sanft über die Wange, was Misha den Rest gab.

„Artjom, i-ich... ich hab' Angst, dass die Frau zurückkommt. Ka-kannst du mich bitte loslassen?“

Er versuchte sich aus den Griff des Russen zu winden, aber dieser dachte nicht einmal daran, von seiner persönlichen Droge abzulassen.
 

„Au... nicht so fest. D-du tust mir weh.“

Misha wollte die starken Arme wegdrücken und sich aus den Fängen des Älteren befreien, doch je mehr er sich bewegte, desto mehr presste Artjom ihn an sich und übte dabei Druck auf die Verletzungen des Jungen aus, dessen Schmerzen immer schlimmer wurden.

„Bitte, Artjom! Hör auf!“

„Sei still“, knurrte Angesprochener und warf einen Blick in den Außenspiegel, in dem er sehen konnte, wie die Frau von vorhin am Steuer ihres Autos saß und in ein Buch vertieft war. „Halt endlich die Klappe.“

Als Misha erkannte, dass es sinnlos war, sackte er in sich zusammen und begann zu weinen. Er hasste es, ständig zu flennen, aber noch mehr hasste er seine Machtlosigkeit gegenüber Artjom. Dieses Arschloch konnte tun, was auch immer er wollte, und ihm schien es auch noch Spaß zu machen, Misha Schmerzen zuzufügen.
 

Als Artjom das leise Schluchzen hörte, lockerte er widerwillig seinen Griff und ließ Misha zurück auf den Beifahrersitz kriechen, wo der Junge sich wie ein kleines Häufchen Elend zusammenkauerte und die Tränen aus seinen feuchten Augen wischte. Sein Gesicht sah schon wieder ungesund blass aus und Artjom wartete nur darauf, dass der Junge erneut das Bewusstsein verlor.

„Hey, Kleiner.“ Er beugte sich zu ihm rüber und strich ihm vorsichtig über die fahle Wange. „Sobald wir in Moskau sind, kümmern wir uns erst mal um dich, okay?“

Von Misha kam keine Reaktion, außer dass eine Träne über sein Gesicht lief. Artjom verwischte sie, bevor sie das Kinn erreichen konnte, und strich Misha noch einmal durch die braune Mähne, ehe er von ihm abließ und erleichtert erkannte, dass die Autos am Horizont langsam in Bewegung kamen. Als der Stau sich auflöste, startete er den Motor und warf einen besorgten Blick zu Misha, nicht einmal ahnend, dass es neben der Frau mit den Krimis noch eine weitere Person gab, die ein Auge auf Misha und Artjom geworfen hatte.

16. Kapitel

„In fünf Minuten sind wir da.“

Misha wusste weder, was er darauf erwidern sollte, noch ob Artjom überhaupt eine Antwort erwartete. Der Russe hatte sich seit dem Stau zusammengerissen und seine verdammten Finger von dem armen Jungen gelassen, der dafür, dass er endlich mal seine Ruhe hatte, unglaublich dankbar war.

Misha war todmüde und so erschöpft, als wäre er die ganze Fahrt über neben dem Auto hergelaufen, aber die Angst, dass Artjom seine Hände nicht bei sich lassen konnte, hinderte ihn am Einschlafen. Außerdem hatte er Hunger, Durst und Schmerzen und trotz Artjoms Jacke war ihm kalt.

Der Russe steuerte auf eine Kreuzung zu, die wie ein Pluszeichen geformt war. Zwar schien weit und breit kein anderes Fahrzeug zu sein, aber weil die Ampel ihr rotes Licht zeigte und er kein Risiko liebender Vollidiot war, hielt er vor der Haltelinie.

Wie es aussah, hatte der Schnee, der in Sankt Petersburg jede freie Oberfläche bedeckte, Moskau und dessen Umgebung noch nicht erreicht. Trotzdem war es unangenehm kalt und Misha zitterte vor Kälte. Alles, was er sich wünschte, war ein warmes Bad, eine leckere Mahlzeit, ein starkes Schmerzmittel und irgendetwas, das Artjom ans andere Ende der Welt befördern würde.
 

Misha zuckte erschrocken zusammen, als etwas Festes mit weicher Oberfläche ohne Vorwarnung seine Wange streifte. Es war Artjoms Handrücken, was ihn eigentlich nicht wundern sollte. Dieses kranke Schwein nutzte jede Gelegenheit, die es kriegen konnte, um seine gierigen Hände nach Misha auszustrecken, der Artjoms Hand am liebsten weggeschlagen hätte. Nicht nur das – er würde dem Russen gerne den Arm brechen, ihn anschreien und aus dem Auto werfen.

„Wie geht es dir?“, fragte der Ältere und bemerkte gar nicht, dass die Ampel gerade grün wurde.

Was ist das für eine Frage? Davon abgesehen, dass ich kurz davor bin, das Bewusstsein zu verlieren, geht es mir blendend.

„Hey.“ Artjom legte seine Hand unter Mishas Kinn und wollte den Jungen somit zwingen, ihn anzusehen, aber der Kleine starrte so krampfhaft zur Seite, als würde ein Blick in Artjoms grüne Augen ihn umbringen.

Der Größere sah ein, dass es sinnlos war, und ließ von Misha ab, der sich sofort gegen die Autotür presste, um einen möglichst großen Abstand zu dem unkontrollierbaren Monster zu gewinnen.

Die Ampel wurde wieder rot.
 

„Du hättest mir ruhig sagen können, dass du Russisch sprichst“, wechselte Artjom das Thema und schaltete auf seine Muttersprache um. „Hätte mir erspart, unsere ganzen Gespräche übersetzen zu müssen.“

Von Misha kam immer noch keine Antwort. Er saß einfach nur da, schaute zu seinen Füßen und zitterte leicht.

Artjom gab auf und sah zur Ampel, die in genau diesem Moment auf grün umsprang. Er trat aufs Gaspedal und hatte schon fast die Mitte der Kreuzung erreicht, als plötzlich wie aus dem Nichts ein anderes Auto von der rechten Straße kam. Dass mit dem fremden Fahrzeug etwas nicht stimmte, war schon auf dem ersten Blick zu erkennen: Erstens fuhr es viel zu schnell, zweitens schwankte es auf der leeren Straße hin und her, was vermuten ließ, dass der Fahrer betrunken war, und drittens schenkte es der roten Ampel auf seiner Bahn keine Beachtung.

Glücklicherweise konnte Artjom das Schlimmste verhindern. Er beschleunigte sein Auto und überquerte gerade noch rechtzeitig die Straße – nur eine Haaresbreite von seinem Heck entfernt schoss der andere Wagen vorbei.

Wer auch immer der Fahrer war, er schien erkannt zu haben, dass es beinahe einen Unfall gegeben hätte. Nachdem er fast mit Artjoms Auto kollidiert wäre, machte er einen großen Schlenker und krachte seitlich gegen die Ampel.
 

„Was für ein Penner“, knurrte Artjom, während er anhielt und halb auf dem Bürgersteig parkte. Er stieg aus, ging auf den anderen Fahrer zu, der gerade lallend die Tür öffnete und von seinem Sitz fiel, und packte den Kerl am Kragen. „Hör mir zu, Arschloch. Dass du mein Auto ruinierst, den Schaden übernehmen musst und dich damit in Schulden stürzt, die du niemals abbezahlen können wirst, ist eine Sache, aber dass du einen bestimmten Jungen verletzt, ist etwas anderes. Ich würde dir hier und jetzt den Schädel einschlagen, wenn ein gewisser Jemand nicht hier wäre.“

Mit diesen Worten stieß er den Trunkenbold, der gar nicht verstand, was passiert war, grob zu Boden und kehrte in sein eigenes Auto zurück, wo ihm sofort auffiel, dass Misha sich verändert hatte.

Der Kleine zitterte so stark, dass auch sein Sitz zu vibrieren begann, und war leichenblass. Artjom vermutete, dass es mit der brenzligen Situation zu tun hatte, aber als er Misha tröstend in den Arm nehmen wollte, schrie der Junge so panisch auf, als hätte man ihn in Brennnesseln geschubst.

Artjom verstand nicht, was los war, aber wäre er in der Lage gewesen, sich in das kleine Häufchen Elend hineinzuversetzen, hätte er es sofort kapiert.

Misha hatte Angst, dass der Ältere seine Wut an ihm auslassen würde. Eigentlich würde der Russe so etwas niemals tun, aber er hatte in den letzten Tagen noch ganz andere Sachen gemacht, die er sonst nicht tat.
 

Obwohl es Artjom störte, nichts gegen Mishas Angst tun zu können, ignorierte er ihn fürs Erste und fuhr zu seinem Haus, das nur wenige Straßen entfernt war.

„Warte hier“, wies er den Jungen an, ehe er sich seine Tasche und Charly schnappte, die das Auto unbedingt verlassen wollte und so ein lautes Theater veranstaltete, dass man sein eigenes Wort kaum verstehen konnte, und mit ihnen im Haus verschwand.

Misha beobachtete, wie der Russe die Haustür hinter sich zumachte. Für einen kurzen Moment spielte er mit dem Gedanken, aus dem Wagen zu springen und sich aus dem Staub zu machen, aber er konnte sich noch gut daran erinnern, was passiert war, als er das letzte Mal fliehen wollte. Artjom hatte ihn so lange und heftig mit einem Rohrstock geschlagen, dass Mishas Hintern und Beine so aussahen, als hätte er sich auf einen Stuhl niedergelassen, auf dessen Sitzfläche sich rote, blaue und violette Farbe befand, die noch feucht war.

Misha seufzte und schaute sich um. Artjoms Haus stand in einer ziemlich ruhigen Nachbarschaft. Es hatte einen großen Garten und war locker hundert oder mehr Meter von allen anderen Häusern entfernt, mit einer einzigen Ausnahme, die auf der anderen Straßenseite stand und nicht bewohnt zu sein schien.
 

Es dämmerte langsam. Einige Vögel flogen von einem Baum zum anderen und in einem Haus in der Ferne wurde das Licht angeschaltet. Ein Auto hielt vor dem Haus, das Artjoms gegenüberstand, aber der Fahrer stieg nicht aus.

Misha sah vorsichtig zu ihm, doch alles, was er von hier aus erkennen konnte, war der Umriss einer Person mit hellem Haar.

Ich weiß nicht, wer das ist, aber ich könnte ihn oder sie auf mich aufmerksam machen und dazu bringen, die Polizei zu rufen, damit... nein. Artjom ist kein Amateur. Er wird mit einer kriminellen Organisation in Verbindung stehen, die weiß, wie man gewisse Leute zum Schweigen bringt.

Misha ballte seine Hände frustriert zu Fäusten und knirschte mit den Zähnen. Er durfte nicht aufgeben. Eines Tages würden er und der Rest seiner Klasse wieder frei sein und die Verbrecher, die für diesen Albtraum verantwortlich waren, in den Nachrichten sehen. Und Misha würde Artjom im Gefängnis besuchen kommen und ihn als Kinderschänder bezeichnen, damit die anderen Insassen dem Russen alles heimzahlen würden, was er ihm angetan hatte. Und dann--
 

Misha erschrak fast zu Tode, als die Tür neben ihm plötzlich geöffnet wurde. Es war nur Artjom, der seine Wiederkehr auch angekündigt hatte, aber trotzdem wäre dem Jungen beinahe das Herz stehen geblieben. Wahrscheinlich weil sein Unterbewusstsein den Älteren schon längst nicht mehr als Person, sondern als unberechenbares Monster wahrnahm.

„Lass mich“, fauchte der Junge, als Artjom seine Arme nach ihm ausstreckte, um ihn aus dem Auto zu heben und ins Haus zu tragen. „Ich kann alleine gehen.“

„Gut. Dann tu das“, erwiderte der Größere schnippisch und trat zur Seite, damit Misha aussteigen konnte.

Der Kleine ahnte, dass Artjom beleidigt war und gleich etwas Unangenehmes geschehen würde, und er sollte recht behalten. Kaum hatte er ein paar Schritte gemacht, die dank seiner Wunden die reinste Folter waren, nahm ihm ein gezielter erster Tritt gegen den rechten Knöchel das Gleichgewicht und ein zweiter – diesmal gegen die Hüfte – stieß ihn grob zu Boden, auf dem Misha seitlich landete. Der Untergrund bestand aus harten und mit totem Laub bedeckten Stein, doch als der Junge auf ihm aufkam, fühlte es sich so an, als wäre er auf mehrere Nägel gefallen. Kläglich wimmernd krümmte er sich zusammen und hielt sich die schmerzende Seite.
 

„Steh auf, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit“, knurrte Artjom ungeduldig und verpasste Misha einen dritten Tritt, der aber nicht viel brachte, außer dass das Winseln lauter wurde.

Dieses blöde sadistische Arschloch... er erinnert mich an meinen Halbbruder Jan, der, sobald irgendetwas passiert, dass ihm nicht gefällt, und sei es auch noch so unwichtig und irrelevant, sofort die Beherrschung verlieren und anfängt, zu schreien und um sich zu schlagen. Der einzige Unterschied ist, dass Jan nichts dafür kann. Er wurde so geboren und wünscht sich sicherlich ständig, ein normaler Junge zu sein, aber dieser Wichser hier tut das aus freiem Willen. Und dann besitzt er auch noch die Dreistigkeit, mir vorzuwerfen, es wäre meine Schuld, weil ich ihn provoziert hätte. Ich habe noch nie in meinem ganzen Leben so viel Hass gegenüber einer Person verspürt.

Misha hatte keine Ahnung, wie falsch er mit dieser Annahme lag. Artjom hasste es, dem Jungen Schmerzen zuzufügen, und das genauso sehr, wie Misha die Schmerzen hasste. Aber Artjom konnte nicht anders. Er musste sich wehren. Sonst würden die Ranken, die Mishas Anziehungskraft um seine Gliedmaßen geschlungen hatte, ihn wie eine Marionette lenken und zu Dingen bewegen, die nicht nur Artjom, sondern auch dessen Familie ins Verderben stürzen würden.
 

Der Russe hob den immer noch wimmernden Jungen vom Boden auf und trug ihn ins Haus. Als er die Tür hinter sich zumachte, warf er einen Blick auf das fremde Auto, das er vorhin bemerkt hatte, doch es war verschwunden.

Er half Misha dabei, Schuhe und Jacke auszuziehen, und setzte ihn auf der Couch im Wohnzimmer ab, wo er ihn dazu aufforderte, sich die Kleidung vom Oberkörper zu streifen.

„Warum?“

„Weil du verletzt bist und ich mich um deine Wunden kümmern möchte.“

Misha schwieg, aber sein Blick sagte: „Wohl eher damit du dich an meinem Leid ergötzen kannst, nicht wahr?“

„Kleiner, zieh dich aus.“

„N-nein, ich--“

„Komm, lass mich mal sehen.“

Der Junge hatte mit dieser freundlichen Tonlage nicht gerechnet, sondern etwas viel Aggressives erwartet, was jedoch nichts daran änderte, dass er von diesem Grobian nicht angefasst werden wollte.

„Nein. Ich möchte das nicht“, sagte er tapfer – und bereute seine Worte sofort.
 

„Kann es sein, dass du in Wirklichkeit von mir gezwungen werden willst und das bloß nicht zugeben kannst? Zieh dich aus, Misha. Das ist ein Befehl und keine Bitte.“

„Dir ist es doch egal, was ich mache. Du wirst mich so oder so schlagen.“

„Junger Mann, treib es nicht zu weit.“

Angesprochener entledigte sich seines Pullovers, aber mit Gehorsamkeit hatte diese Handlung nichts zu tun.

„Und? Zufrieden? Wahrscheinlich nicht.“ Er nahm Artjoms Hand und drückte sie gegen die Wunde an seiner Seite, die beim Fall vor wenigen Minuten aufgerissen war und nun leicht blutete. „Hier! Genau das gefällt dir doch, nicht wahr? Du findest es geil, mich leiden zu sehen. Na los, reib dir mit meinem Blut den Schwanz ein und hol dir einen runter! Das ist es doch, was du willst, du krankes Schwein! Du bist bloß zu feige, es zuzugeben, weil du weißt, wie abartig das ist!“

„Wie zur Hölle“, sagte Artjom, der Misha eigentlich schlagen wollte, aber von dieser obszönen Wortwahl vollkommen aus dem Konzept gebracht worden war, „bist du auf die Idee gekommen, ich würde so etwas erregend finden?“

„Heute Morgen im Auto hast du mich geschlagen und bluten gesehen – und das Nächste, was dir eingefallen ist, war der Wunsch, mich zu ficken.“
 

Artjom erwiderte nichts, sondern entzog Misha seine Hand, an der das warme Blut des Jungen haftete. Er konnte sich an die Drohung, den Kleinen zu missbrauchen, noch erinnern, aber er wusste auch, dass es eine leere Drohung gewesen war. Artjom hätte sie niemals in die Tat umsetzen können, selbst wenn er es gewollt hätte. Der Grund, warum er sie überhaupt ausgesprochen hatte, war, dass ihm die Möglichkeiten, Misha von sich wegzustoßen, ausgegangen waren.

Während der Russe schwieg und gedankenverloren das Blut an seiner Hand betrachtete, fing Misha zu weinen an.

„Schau mich an“, flüsterte er heiser. „Ich sehe aus, als wäre ich von einer Bestie angefallen worden. Später werde ich scheußliche Narben haben, die mich jedes Mal an das Monster erinnern werden, dem ich sie zu verdanken habe... vorausgesetzt, ich überlebe den Scheiß. Wenn du nämlich so weitermachst, wirst du mich noch diese Woche begraben können.“

Artjom wusste nicht, was er tun sollte. Vielleicht wäre es das Beste für beide Parteien, Misha von seinem Leid zu erlösen, aber es war jetzt schon klar, dass er das nicht machen konnte. Er hatte diese Hibiskusblüte von ihrem Strauch gepflückt, ihr die Blütenblätter einzeln herausgerissen und sie zwischen Schuhsohle und Asphaltboden zerquetscht, aber ihr den Rest geben – das konnte er nicht.
 

„Ich gehe den Verbandskasten holen“, sagte Artjom nach mehreren Minuten Stille. Er ging in die Küche und durchsuchte dort die Schränke, doch konnte das blöde Ding nirgendwo finden. Das letzte Mal, dass er es gebraucht hatte, lag bestimmt schon fünf Jahre oder noch länger zurück.

Charly hockte vor der Spüle und leckte die Dose mit Katzenfutter sauber, die Artjom ihr vorhin spendiert hatte, bevor er zurück zum Auto gegangen war. Als er näherkam, um den Schrank über der Spüle zu durchstöbern, schnappte Charly besitzergreifend nach der Dose und knurrte bedrohlich. Sie befürchtete, dass der Russe ihre Mahlzeit klauen würde, aber Artjom hatte kein Interesse an einer schleimigen Masse, die angeblich aus Hühnchen bestand. Eigentlich konnten die Hersteller behaupten, was sie wollten – niemand würde je prüfen, ob das Futter wirklich nach Huhn schmeckte.

Artjom durchschritt die Tür, welche in den Flur führte, und entdeckte den Verbandskasten endlich, als er auf einmal ein komisches Geräusch aus dem Wohnzimmer hörte. Es klang, als wäre etwas auf den Boden gefallen... oder jemand.

„Misha?“, rief Artjom, doch er wusste bereits, was passiert sein musste. Misha hatte schon wieder das Bewusstsein verloren.

17. Kapitel

Als Misha wieder zu sich kam, wurde ihm bewusst, dass sich etwas verändert hatte. Sein Körper war nicht mehr in blutverschmierte Kleidung, sondern in einen weichen Bademantel gehüllt und jemand trocknete ihm mit einem flauschigen Handtuch vorsichtig das haselnussbraune Haar ab. Außerdem konnte er fühlen, dass seine Verletzungen mit Pflastern und Verbänden versorgt worden waren und sich eine kühlende und schmerzlindernde Salbe auf den Blutergüssen an seiner Kehrseite befand.

Zuerst dachte Misha, dass er in einem Krankenhaus war, Artjoms Festnahme die große Runde in den Nachrichten machte und seine Eltern, die sich sonst immer nur um Jan kümmerten, ihm heilfroh, dass sie ihren anderen Sohn zurückgekommen hatten, um den Hals fielen, aber dann vernahm er ein Geräusch, das er überall wiedererkennen würde.

Charlys Winseln.

„Ich habe jetzt keine Zeit für dich“, sagte Artjom, der Misha allem Anschein nach ausgezogen, gebadet und verarztet hat, obwohl er die mit Abstand letzte Person war, von der Misha nackt gesehen werden wollte.
 

Der Junge öffnete seine braunen Augen und richtete sich vorsichtig auf. Artjom machte keine Anstalten, ihn daran zu hindern, aber selbst ein Blinder hätte das Verlangen nach dem 16-Jährigen in seinem Blick gesehen.

„Wie geht es dir?“

„W-weiß nich'“, krächzte der Junge. „Kann ich... etwas zu trinken haben?“

„Warte hier.“ Artjom ließ das weiße Handtuch fallen, mit dem er den Jungen zuvor sanft abgetrocknet hatte, und ging in die Küche. „Aber kipp dieses Mal nicht um, ja?“, fügte er hinzu, ehe er durch die Tür schritt und keine Minute später mit einem Glas und einer Wasserflasche wiederkam, die er vor Misha auf dem Wohnzimmertisch abstellte.

„Ich bin zu faul, jetzt noch einzukaufen und etwas zu kochen“, sagte er, während der Junge gierig trank. „Was hältst du davon, wenn wir uns was bestellen? Ich bin für Pizza... oder für Sushi.“

Misha erwiderte nichts, selbst wenn er Einsprüche gehabt hätte. So etwas traute er sich nicht, auch nicht bei Menschen, zu denen er ein neutrales oder positives Verhältnis hatte. Und davon abgesehen war es ihm egal, was bestellt wurde, solange er nicht an die Tür gehen musste, wenn es dann klingelte.
 

„Du hast recht“, sagte Artjom, obwohl Misha nichts gesagt hatte. „Wir sollten beides bestellen.“

Er überschlug die Beine, holte sein Handy hervor und wählte eine bestimmte Nummer. Währenddessen trank Misha die halbe Flasche leer und beobachtete, wie Charly mit ihren hellen Krallen so hektisch an der Terrassentür kratzte, dass Artjom gar keine andere Wahl hatte, als mitten im Anruf aufzustehen und Charly herauszulassen, die wie ein Blitz in der Dunkelheit verschwand.

Nachdem der Russe dem Lieferservice seine Bestellung und Adresse genannt hatte, setzte er sich neben Misha auf die Couch. Die beiden schwiegen.

„Sind die Verbände zu fest oder zu locker?“, fragte der Ältere nach einigen Minuten unbehaglicher Stille.

„Nein, sie sind gut“, antwortete Misha. „B-bist du... bist du jetzt wieder der nette Artjom?“

„Ich kann mich ehrlich gesagt nicht daran erinnern, je nett zu dir gewesen zu sein.“

„Ich meine netter als sonst.“

„Ja, vermutlich.“

Erneut verstrichen ein paar Minuten.

„Wirst du mich zu Hannah bringen?“, sprach Misha schließlich die Frage aus, die ihm schon die ganze Zeit auf der Seele lag.
 

„Mal schauen. Wenn du bis dahin brav bist und mir nichts dazwischenkommt.“

„Und was genau ist... ''brav''?“

„Das Übliche: Behandle mich respektvoll – insbesondere, wenn wir nicht unter uns sind – und tue nichts, das meine Familie gefährdet. Bleib einfach so wie jetzt, nur ein wenig höflicher.“

Hat er gerade wirklich ''respektvoll'' und ''höflich'' gesagt? Es grenzt an einem Wunder, dass er diese Wörter und ihre Bedeutung kennt.

„Was habe ich bis jetzt falsch gemacht?“

„Außer der eine Fluchtversuch von damals... eigentlich nichts.“

„Und warum hast du mich dann geschlagen?“

Artjom schwieg und starrte auf seine Hand, an der mehrere kleine Wunden waren, die von Misha stammten, der den Russen gestern, als sie noch im Hotel waren, vor Wut und Verzweiflung in die Hand gebissen hatte.

„Ich schlage dich nicht, weil es mir Spaß macht oder du es verdient hättest... sondern aus einem anderen Grund.“

„Und der wäre?“
 

Artjom holte Luft, um Misha die Wahrheit zu sagen, die er sowieso nicht für alle Ewigkeit für sich behalten konnte, als plötzlich etwas Sandfarbenes durchs Wohnzimmer schoss und in der Küche verschwand.

„Nicht schon wieder“, zischte Artjom genervt, während Misha keine Ahnung hatte, was los war.

Der Russe erhob sich vom Sofa und schloss alle Türen im Erdgeschoss, um Charly einzukesseln, die zurück ins Wohnzimmer flüchtete und etwas im Maul trug.

„Charly, gib das her!“

Charly dachte nicht einmal daran, ''das'' herzugeben. Wie ein pubertierender Teenager, der gegen den Willen seiner Eltern zum ersten Mal Alkohol trank, ließ sie das Ding, das sie ins Haus getragen hatte, fallen, stellte sich schützend davor und fauchte Artjom mit so einer Wut an, das Misha für einen kurzen Moment dachte, er hätte seinen Hass gegenüber Artjom auf magische Art und Weise auf den Fennek übertragen.

Dem Schwarzhaarigen gelang es irgendwie, den wütend fauchenden Fuchs in eine Hand und das unbekannte Objekt in die andere Hand zu kriegen.

„Oh Gott, Charly, musste das wirklich sein? Als ob ich dir nicht genug Futter geben würde.“
 

Obwohl jeder Schritt eine Qual für Misha war, löste der Junge sich ebenfalls von der Couch und ging zu Artjom, an dessen Arm er sich festhalten musste, um nicht umzufallen.

Was Charly erbeutet hatte, war eine Feldmaus. Misha fand, dass das winzige Tier mit seinem braunen Fell, den süßen Pfötchen, der großen Stirn, dem kleinen Näschen, den dunklen Augen und dem zierlichen Gesicht unglaublich niedlich aussah, und ahnte nicht einmal, dass Artjom das Gleiche dachte, wenn er Misha betrachtete.

„Ist sie tot?“

„Scheint so.“

„Oh...“

„Tja, so ist das Leben.“

Artjom trug den Leichnam in die Küche, wo er ihn im Biomüll entsorgen wollte, aber dank Misha, der ihn ansah, als würde er ein Baby ermorden wollen, änderte er im letzten Moment seine Meinung und ging in den Garten, wo er die Maus außerhalb Charlys Reichweite ablegte, die Schaufel aus dem Schuppen holte und ein Loch grub, um der Feldmaus eine halbwegs ordentliche Beerdigung ermöglichen zu können.
 

„Du hast keine Ahnung, wie sehr meine Schwester sich über mich lustig machen würde, wenn sie hier wäre“, sagte Artjom, während er das Loch wieder zuschüttete und dabei von Misha beobachtet wurde, der auf der Terrasse stand, sich an der Wand abstützte und mit seinem zu großen Bademantel wie ein Gespenst aussah.

„Deine Schwester? Stimmt, du hattest mal erwähnt, dass du ältere Geschwister hast.“

„Mal? Das war gestern.“

„Kann sein... wie ist das so, der Jüngste zu sein?“

„Früher war es scheiße, jetzt ist es unwichtig... was vor allem daran liegt, dass von den vier nur noch eine lebt.“

Misha wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Er hatte seine Frage nur gestellt, weil er sich nicht vorstellen konnte, wie seine Familie aussähe, wenn zuerst Jan und dann er auf die Welt gekommen wären.

„Das... ähm... tut mir leid.“

„Schon gut“, erwiderte Artjom und klopfte die Erde platt, ehe er die Schaufel achtlos fallen ließ und nach drinnen ging, um sich die Hände zu waschen.
 

„Und was mit deinen Eltern?“, fragte Misha und folgte dem Russen.

„Auch tot.“

„Hast du außer deiner Schwester auch Verwandte, die... du weißt schon... noch leben?“

„Meinen Cousin und meinen Großvater. Warum willst du das alles wissen?“

„Nur so.“

Die beiden kehrten zum Sofa zurück. Charly gesellte sich zu ihnen und war so gelassen drauf, als wäre nichts passiert.

„Du kleines Biest“, murmelte Artjom und kraulte sie hinter den großen Ohren. „Kein Wunder, dass Misha dich Monster nennt.“

„Das habe ich nur, weil ich nicht wusste, was für ein Tier sie ist.“ Und davon abgesehen weiß ich jetzt, wer hier das wahre Monster ist. „Jetzt mal was anderes – müsste unser Essen nicht schon längst hier sein?“

„Nein, die brauchen immer so lange. Aber dafür wissen sie, wie man gutes Essen macht.“

„Artjom, ist... ist irgendetwas passiert, während ich ohnmächtig war?“

„Außer dass ich kurz davon entfernt war, den Notarzt zu rufen, weil du einfach nicht wieder aufgewacht bist... nein, eigentlich nicht.“
 

Misha wusste nicht, warum Artjom grundlos böse und jetzt genauso grundlos wieder nett war, aber er hoffte, dass der Russe möglichst lange so blieb.

Eine knappe Viertelstunde später klingelte es an der Tür. Artjom verschwand im Flur und kam kurz daraufhin mit zwei Pizzaschachteln und einer großen Tüte Sushi wieder. Misha staunte nicht schlecht. Das war eine Familienportion. Und in der Tüte befand sich nicht nur Sushi, sondern auch zwei Stäbchen mit Dango, die vermutlich jeder Kunde erhielt, dessen Bestellung einen gewissen Wert erreichte. Misha war total aufgeregt. Er hatte Dango bis jetzt nur in japanischen Zeichentrickserien gesehen und mehrmals seine Mutter gebeten, auch mal welche zu machen, aber sie hatte sich geweigert, weil sie befürchtete, die unbekannte Speise würde Jan schaden. Nicht weil er eine Allergie haben könnte, sondern weil er nach seiner ersten Frikadelle fast drei Tage lang verwirrt gewesen war und sich so komisch benommen hatte, dass Mom kurz davor gewesen war, ihn ins Krankenhaus zu bringen.

Während Artjom Teller, Besteck und Gläser holte und das Essen vor sich auf dem Tisch ausbreitete, ließ Misha seinen Blick über die beiden Pizzen – eine mit schwarzen Oliven und eine mit Schinken und Ananas – und das Sushi schweifen.
 

„Ist das nicht ein bisschen viel?“, fragte er zaghaft.

„Du unterschätzt mich und meinen Hunger“, erwiderte Artjom gelassen und begann mit der Pizza Hawaii. „Ich hoffe, du magst Ananas. Wenn nicht, ist es mir auch egal; du hast keine Ahnung, wie oft ich mich schon mit meiner Schwester darüber gestritten habe. Sie sagt immer, Ananas habe auf Pizzen nichts verloren.“

„Komische Frau“, murmelte Misha, ehe er sich von beiden Pizzen ein Stück auftat und zu essen begann. Danach war er schon satt, aber das Essen schmeckte so lecker, dass er nicht aufhören konnte. Er bediente sich am Sushi und ließ im Anschluss einen der Dangospieße in seinem Magen verschwinden. Danach war ihm schlecht und sein Bauch fühlte sich so rund an, als wäre er im achten Monat schwanger.

„Ich dachte, du kannst vor anderen Menschen nicht essen?“, sagte Artjom, während er mit seinen Stäbchen nach einem Stück Sushi mit Lachs griff.

Misha sagte dazu nichts. Es stimmte, er konnte nicht essen, wenn ihn andere Menschen dabei beobachteten, aber Artjom hatte für ihn den Status Mensch schon lange verloren. In seiner Anwesenheit zu essen, war genauso problemlos wie in der Anwesenheit von Charly, die gerade zum sechsten Mal etwas vom Tisch zu klauen versuchte.
 

„Verzieh dich“, zischte Artjom. „Das ist nichts für dich. Und davon mal abgesehen, habe ich dich vorhin erst gefüttert. Außerdem hast du nach der Aktion von eben echt nichts mehr von mir zu erwarten.“

Charly, die absolut gar nichts verstanden hatte, fuhr mit ihrer Bettelei fort, bis Artjom schließlich nachgab und ihr den Rand von seinem Pizzastück reichte. Der Russe verschlang eine Scheibe Sushi, in der sich Avocado befand, ehe er die Stäbchen auf seinem Teller ablegte und sich zurücklehnte. Er hatte fast das Dreifache von dem gegessen, was in Mishas Magen verschwunden war, aber trotzdem gab es ein paar Reste.

„Und? Wie fandest du es?“, fragte Artjom, um die peinliche Stille zu verdrängen, die bloß von Charlys Kau- und Schmatzgeräuschen unterbrochen wurde.

„Ziemlich lecker“, antwortete Misha. „Aber...“

„Ja?“

„Sorry wegen dem Themawechsel... aber wir haben vorhin über etwas gesprochen und... du wolltest mir etwas sagen.“

„...“

„Warum hast du mich geschlagen?“
 

Weil mich zu dir hingezogen fühle und diese Gefühle außer Kontrolle geraten.

Weil ich Angst davor habe, was du mit mir machen könntest.

Weil du Macht über mich hast, gegen die ich mich nicht wehren kann.

„Lass uns ins Bett gehen“, sagte Artjom. „Es ist schon spät.“

„Aber--“

Misha brach ab, weil er sah, dass es keinen Zweck hatte. Betrübt schweigend beobachtete er, wie Artjom die Überreste ihrer Mahlzeit in die Küche trug und danach ins Wohnzimmer zurückkehrte.

„Kommst du?“

„K-kann ich nicht hier schlafen?“, murmelte der Kleine vorsichtig. „Hier, auf der Couch?“

Der Blick, den er daraufhin bekam, gefiel ihm überhaupt nicht. Artjom sah aus, als wäre er im Begriff, wieder aggressiv zu werden.

„Wegen meinen Verbänden, meine ich“, fügte Misha eilig hinzu. „W-wenn sie sich lösen und me-mein Blut--“
 

„Schon gut, das stört mich nicht.“

Damit schien der Frieden fürs Erste bewahrt worden zu sein. Der Junge wehrte sich nicht dagegen, als Artjom ihn hochhob und in die obere Etage trug, aber sein Körper zitterte unkontrolliert. Die Angst, dass der Russe wieder seine unausstehliche Seite zeigen würde, hockte wie eine Zecke in Mishas Nacken. Er fürchtete sich nicht nur vor den Schmerzen, sondern auch davor, dass Artjom entweder mit voller Absicht oder aus Versehen über die Stränge schlagen und Misha umbringen würde. Wenn--

„Du zitterst“, sagte Artjom und strich dem Jungen tröstend über den Rücken. „Was ist los?“

„N-nichts. Ich frage mich nur, wie es Hannah geht.“

„Sie ist bei einem guten Bekannten von mir. Es müsste also nicht schwierig werden, sie zu besuchen.“

Artjom ging ins Schlafzimmer und blieb vor dem Bett stehen, wo er innehielt und Misha direkt ansah. Seine grünen Augen besaßen die Farbe der Baumkronen eines Waldes, der so tief war, dass er sich gut zum Verstecken von Leichen eignete.

„I-ist alles o-okay?“, stotterte Misha beunruhigt, aber alles, was Artjom daraufhin tat, war den Blickkontakt zu unterbrechen. Dieser Junge brachte ihn um den Verstand und das konnte er nicht länger tolerieren.

18. Kapitel

Das Erste, was Artjom tat, als er am nächsten Morgen aufwachte, war mit geschlossenen Augen nach Misha zu suchen und ihn zu sich zu ziehen, aber die Stelle, auf welcher der Junge gestern Abend noch gelegen hatte, war nun kalt und leer. Artjom öffnete seine grünen Augen und sah sich um. Misha konnte nur hier oder im Badezimmer sein; die andere Tür, die zum Flur führte, hatte er abgeschlossen, damit der Kleine nicht unbemerkt abhauen konnte.

Artjom wollte ins Bad gehen, um dort nach seiner persönlichen Droge zu schauen, aber als er sich erhob, erkannte er, dass das gar nicht nötig war. Misha lag vor dem Bettende auf dem Boden, wo man ihn von Artjoms Position aus nicht sehen konnte.

„Willst du dich etwa vor mir verstecken?“

Das kleine, in Verbände gewickelte Häufchen Elend rührte sich nicht vom Fleck. Es schluckte nervös und presste ängstlich die Augen zu. Die ganze Nacht lang hatte es auf dem kalten Boden gelegen, weil ihm das lieber war als sich in der Reichweite dieses brutalen Grobians zu befinden, der sich gerade über das Bett beugte, Misha hochhob und ihn neben sich auf die Matratze zog.
 

„Was hast du da unten gemacht, hm?“

„M-mich vor dem Monster versteckt“, antwortete Misha mit zitternder Stimme und hoffte, dass Artjom dachte, die Rede sei von Charly, die auf einem der Kopfkissen schlief und gelegentlich mit den großen Ohren zuckte.

Der Ältere ging nicht weiter darauf ein und legte einen Arm um Misha, dessen Unbehagen selbst einem Blinden nicht entgangen wäre. Er ließ seine Hand unter das dünne T-Shirt gleiten, strich dem Kleinen zärtlich über die Brust und küsste ihn sanft in den Nacken, was den Jungen zu Stein erstarren ließ. Er war vor Angst wie gelähmt und konnte sich erst aus seiner Starre lösen, als er spürte, wie Artjoms Hand zu den blau, violett und rot gefleckten Rippen wanderte.

„Kö-könntest du das bitte lassen?“, murmelte Misha schüchtern. „Ich... mag das nicht.“

Als Antwort biss Artjom ihn in den empfindlichen Nacken, woraufhin der Junge versuchte sich von ihm zu befreien, was natürlich genau so endete, wie alle anderen Auseinandersetzungen bis jetzt geendet hatten.
 

Artjom verpasste Misha einen kräftigen Tritt und beförderte ihn auf den harten Boden, wo der Kleine sich deutlich hörbar das linke Knie aufschlug und gequält ächzte. Ein starker Schmerz schoss durch sein Bein. Er begann zu weinen und kippte zur Seite um, während Artjom angespannt auf den Jungen herabsah und sich mit aller Macht davon abhielt, Misha tröstend über den Rücken zu streichen und ihn in den Arm zu nehmen.

Charly schreckte auf und sprang vom Bett. Sie sah sich alarmiert um, ehe sie neugierig an Mishas braunem, sicherlich nach Blut riechendem Haarschopf schnupperte und danach zu Artjom schaute. Ihre großen, braunen, fast schwarzen Augen schienen zu sagen: „Was in Gottes Namen ist dein Problem?“

„Halt die Klappe!“, knurrte Artjom, woraufhin Misha zusammenzuckte und sofort verstummte, unwissend, dass er gar nicht gemeint war.

Der Russe stieg aus dem Bett und seufzte genervt.

„Komm, wir stehen jetzt auf. Ich habe heute etwas Wichtiges vor.“
 

Misha rührte sich nicht von der Stelle, sondern blieb reglos liegen und schniefte manchmal leise. Auch als Artjom ihn vorsichtig an den Armen packte und auf die Beine zog, zeigte sich keine Spannung in seinem Körper.

„Ich halte das nicht mehr aus“, wisperte er kaum hörbar, während ihm Tränen vom Kinn tropften. „Gib mir endlich den Gnadenstoß.“

Oh Misha...

„Ich habe keine Zeit für den Blödsinn“, fauchte Artjom und stieß den Jungen grob Richtung Bett, wobei das T-Shirt des Kleinen verrutschte und die ganzen Blutergüsse und Verbände zum Vorschein kamen.

Hör endlich auf damit!, hörte Artjom seine eigene Stimme in seinem Kopf kreischen. LASS IHN IN RUHE!

Artjom hielt das nicht mehr aus. Er wollte Misha an den Haaren packen und sein Gesicht mit voller Wucht gegen den gefliesten Boden rammen, aber gleichzeitig wollte er ihn auch umarmen und--
 

„Steh auf und zieh dich an“, presste er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. Seine Stimme klang wegen der ganzen Anspannung ziemlich rau. „Wir machen uns jetzt fertig und fahren dann los, verstanden?“

Mit diesen Worten wandte er sich von dem kleinen Häufchen Elend ab, das sich immer noch nicht von der Stelle gerührt hatte, und ging nach unten in die Küche, wo er sich einen Kaffee machte und wieder runterzukommen versuchte.

So kann das nicht weitergehen. Dieses ewige Hin und Her macht mich krank; ganz zu schweigen von dem, was es mit Misha anstellt.

Gedankenverloren nippte er an seiner Tasse und ließ Charly in den Garten. Während sie ein wenig in der Erde scharrte und in den Sommerflieder neben dem kleinen Schuppen mit den Gartenwerkzeugen pinkelte, lief er die Terrasse auf und ab und dachte über Misha und seine Beziehung zu ihm nach. Er war so sehr in seine Gedanken vertieft, dass er gar nicht bemerkte, dass er von jemandem beobachtet wurde, der nicht erst seit jetzt ein Auge auf Artjom geworfen hatte.
 

Charly lief zurück zu ihrem Besitzer, als sie plötzlich innehielt, die Ohren spitzte und über den Zaun Richtung Straße sah, wo sich ein einziges Auto befand. Artjom stieg von der Terrasse und stellte sich vor den Zaun, der die Einfahrt von dem Garten trennte. Wer auch immer dort in dem fremden Wagen hockte, hatte jetzt einen perfekten Blick auf Artjom, der gelassen in seinem Garten stand, nur mit einer dunklen Boxershorts gekleidet war und eine Kaffeetasse in der Hand hielt.

„Verzieh dich“, knurrte Artjom, der nicht wusste, wer die Person im Auto war, aber eine ungute Vorahnung hatte.

Als hätte jene Person ihn gehört, erwachte der Motor mit einem brummenden Geräusch zum Leben und das Fahrzeug fuhr davon. Artjom sah ihm hinterher, bis es aus seinem Sichtfeld verschwand, ehe er ins Haus zurückkehrte und ins Schlafzimmer ging, wo Misha immer noch vor dem Bett lag und sich nicht von der Stelle rührte.

„Welchen Teil an ''Steh auf und zieh dich an'' hast du nicht verstanden?“, fauchte er ungeduldig und zerrte den Jungen grob auf die Beine, der, sobald Artjom ihn losließ, wie eine leblose Puppe in sich zusammenbrach und nicht gerade sanft auf dem Boden aufkam.
 

Zuerst dachte Artjom, Misha wäre ohnmächtig, aber der Kleine war bei vollem Bewusstsein. Er zog ihn erneut nach oben, aber diesmal überließ er ihn nicht sich selbst, sondern legte ihn vorsichtig auf dem Bett ab.

„Ich weiß nicht, was das werden soll, aber es nervt. Hör auf damit.“

Misha antwortete nicht. Sein linkes Knie war gerötet und leicht geschwollen.

„Hier sind deine Klamotten“, fuhr Artjom unbeirrt fort und warf Misha seine Kleidung zu, die nur einen knappen Meter entfernt auf dem Boden lag. „Zieh dich endlich an.“

Artjom fischte ein paar Kleidungsstücke für sich aus seiner Tasche, verschwand damit im Badezimmer und kam eine halbe Stunde später frisch geduscht und angezogen aus dem Bad. Misha hingehen lag immer noch in seiner Unterwäsche und seinem T-Shirt auf dem Bett und starrte ausdruckslos auf einen bestimmten Punkt der Zimmerdecke.

„Sag mal, willst du mich provozieren oder was soll das werden?“
 

Von Misha kam immer noch keine Reaktion. Auch als Artjom ihm eine Ohrfeige verpasste, machte er keine Anstalten, sich zu wehren oder zu protestieren, woraufhin der Größere allmählich verstand, dass seine Handlungen nicht nur auf Mishas Körper Verletzungen hinterließen.

„Kleiner, ich werde mich heute mit einer jungen Frau treffen und mit ihr etwas Wichtiges besprechen. Und danach können wir vielleicht zu Hannah gehen, okay?“

Alles, was Artjom damit erreichte, war, dass Misha stumm zu weinen begann.

„Schön, du hast gewonnen. Was soll ich tun, damit du wieder normal wirst?“

Langsam, aber sicher wurde dem Älteren bewusst, dass er nicht der Erste mit diesem Gedanken war. So hilflos, ratlos und verzweifelt, wie er sich jetzt fühlte, musste sich auch Misha gefühlt haben, als Artjom ihn immer und immer und immer wieder geschlagen hatte.

Wie in einer Trance hob er den Kleinen hoch und drückte ihn behutsam an sich. Er schlang seine kräftigen Arme um den zierlichen, vor Angst und Kälte bebenden Körper und vergrub das Gesicht in Mishas Halsbeuge.
 

Artjom verharrte mehrere Minuten in dieser Position. Er wünschte sich, dass der Junge den Kopf gegen seine Schulter lehnen und die grazilen Fingerchen unsicher in seine Jacke krallen würde, aber Misha tat nichts dergleichen, sondern hing reglos wie eine Leiche in seinen Armen und zitterte mal mehr und mal weniger stark.

„Komm schon, Kleiner. Wir bringen dieses Treffen jetzt hinter uns und danach fahre ich dich zu Hannah, okay? Was hältst du davon?“

Von Misha kam keine Antwort. Artjom wusste nicht, was er jetzt noch tun könnte. Er löste sich von dem Jungen, zog ihn an, ordnete mit der Hand vorsichtig das braune Haar und trug ihn anschließend zum Auto, wo er ihn auf dem Beifahrersitz absetzte und anschnallte. Er kam sich vor, als würde er keinen 16-Jährigen, sondern eine lebensgroße Puppe mit sich herumtragen.

„Falls irgendetwas ist, sagst du es einfach, okay?“

„...“

„Ach Misha.“ Er seufzte. „Es tut mir leid.“
 

Die Fahrt dauerte etwa eine Dreiviertelstunde, in der Artjom Alleinunterhalter spielen musste. Misha schwieg und bewegte sich nicht, von gelegentlichem Blinzeln und nervösem Schlucken mal abgesehen.

„Die Frau, die hier wohnt, heißt Sina“, sagte der Ältere, als er vor einem großen Hochhaus parkte. „Ich kenne sie nicht, aber anscheinend war sie eine Bekannte von Viktor.“

„K-kann ich im Auto warten?“

Artjom war sich im ersten Moment nicht sicher, ob er sich die Stimme eingebildet hatte oder Misha wirklich aus seiner Starre erwacht war. Er sah zu dem Jungen, der geistesabwesend auf das Handschuhfach starrte, und widerstand dem Drang, ihm über die blasse Wange zu streichen.

„Nein, das geht nicht. Ich habe Bedenken, dass du in meiner Abwesenheit auf blöde Ideen kommen wirst. Außerdem möchte ich dich bei mir haben“, antwortete der Größere und schaltete den Motor ab. „Kannst du alleine gehen oder soll ich dich wieder tragen?“
 

Das Schweigen, das er daraufhin erhielt, nahm er seufzend hin und stieg aus dem Auto. Mit Misha auf dem Arm betrat er das Gebäude und stellte sich in den Fahrstuhl, in dem eine Frau mit ihrem jungen Sohn stand.

„Mama, warum guckt der Junge so traurig?“, fragte der Dreikäsehoch, woraufhin seine Mutter ihn mit einem tadelnden Blick strafte und ihn zwei Etagen höher aus dem Fahrstuhl zerrte.

„Lass mich runter“, sagte Misha, sobald die beiden verschwunden waren.

„Wie du meinst“, erwiderte Artjom, als der Jüngere sich plötzlich an ihn krallte. „Alles okay?“

„Ja... ich dachte, du würdest mich fallen lassen.“

Artjom verdrehte die Augen, obwohl er Mishas Angst nachvollziehen konnte, und setzte den Jungen vorsichtig ab. Der Kleine ächzte leise und entlastete sein linkes Knie.

„Sorry wegen heute Morgen... und wegen den anderen Tagen, an den ich dir Schmerzen zugefügt habe.“

Misha sagte nichts. Artjom konnte sich so viel entschuldigen wie er wollte – das würde absolut nichts ändern.
 

Der Ältere seufzte. „Wie lange kennen wir uns schon?“

„Seit... einer Woche, glaube ich“, murmelte Misha, der seine Finger zum Zählen verwendet hatte und nicht fassen konnte, dass eine einzige Woche bei diesem Monster gereicht hatte, seinen gesunden Körper zu einem Fall für die Intensivstation zu machen.

„Eine Woche, hm?“ Artjom war ebenfalls verwundert, aber aus einem anderen Grund. Es hatte für ihn nur eine Woche gedauert, von seiner persönlichen Droge abhängig zu werden, gegen die er sich trotz dem bereits entschiedenen Kampf noch zu wehren versuchte. Selbst jetzt kämpfte er gegen das Verlangen an, Misha gegen die Spiegelwand des Fahrstuhls zu drücken, sein hübsches Gesicht mit Küssen zu übersehen und seine Hände über die weiche Haut des Jungen wandern zu lassen.

Gott, ist das abartig. Der Kleine ist 16 und halbtot. Was ist falsch bei mir, dass ich mich zu so jemanden hingezogen fühle?

„Misha, wenn ich dich fragen würde, ob ich dich küssen darf, was würdest du sagen?“

Angesprochener wandte den Blick nicht von der Fahrstuhltür ab. „Ich glaube, das kannst du dir denken“, sagte er. „Aber... wenn du nicht so ein Unmensch wärst, hättest du wahrscheinlich eine Chance gehabt.“

19. Kapitel

Misha saß in einem grasgrünen Sessel und starrte gedankenverloren zu Boden. Die Wohnung, in der er sich befand, gehörte einer jungen Frau namens Sina, die eine ehemalige Bekannte von Viktor war. Sina und Artjom hockten nebenan im Büro. Misha konnte hören, dass sie miteinander sprachen, aber was genau sie sagten, verstand er nicht. Eigentlich interessierte ihn das auch gar nicht – er wollte bloß hier weg.

Weg von diesem kranken Monster, das sich in einer menschlichen Hülle versteckte und alles, was es berührte, verfaulen und verrotten ließ. Mishas Körper war das beste Beispiel dafür. Artjom hatte ihn ruiniert. Selbst wenn jetzt, in genau dieser Sekunde, ein Notarzt die Tür eintreten, Misha versorgen und ins nächste Krankenhaus bringen würde, gäbe es keine Garantie dafür, dass der Junge sich je vollständig erholen würde. Sein Leib war in Verbände gehüllt, mit Pflastern beklebt und mit so vielen Wunden übersät, dass er das Zählen schon lange aufgegeben hatte. Er sah aus, als wäre er von wilden Tieren angefallen und mehrere Male überfahren worden.
 

Misha verstand nicht, warum es ‘‘Menschen‘‘ wie Artjom gab. Wie zur Hölle konnte man es mögen, anderen Leuten zu schaden, insbesondere wehrlosen Minderjährigen? War es das Gefühl von Kontrolle? Brauchte Artjom eine Bestätigung seiner körperlichen Überlegenheit? Oder besaß er einfach nur einen kranken Fetisch, der ihn Erregung verspüren ließ, wenn er andere in die Ohnmacht prügelte und Unmengen an Blut aus ihren Körpern holte? Misha würde es wahrscheinlich nie verstehen.

Ihm liefen schon wieder die Tränen über das Gesicht. Hastig wischte er sie weg und presste sich Daumen und Zeigefinger auf die Tränendrüsen, damit er nicht erneut zu weinen begann, weil er panische Angst davor hatte, von Sina dabei erwischt zu werden. Er wusste, dass er jetzt andere Probleme hatte, aber das war seiner Angst egal – sie vertrat die Meinung, dass es nichts Schlimmeres gab, als aufzufallen. In seinem Kopf spielte sich das Szenario ab, dass Sina auf ihn zukam und fragte, ob alles okay sei, und diese Vorstellung ließ ihn vor Furcht erzittern.
 

Eine Weile später verstummten die beiden Erwachsenen und verließen das Büro. Während Sina in die Küche ging und dort vermutlich einen Kaffee aufsetzte, trottete Artjom ins Wohnzimmer und blieb vor Misha stehen, dem er zärtlich über die Wange strich.

Dem Jungen fiel es wirklich schwer, nicht zurückzuweichen. Es fühlte sich an, als würde Artjom mit einem Messer über die weiche Haut streichen und jeden Moment ausholen und zustechen. Misha meinte bereits spüren zu können, wie das Metall sich durch seine Wange bohrte, in seine Zunge stach und seinen ganzen Mund mit Blut füllte.

„Alles okay, mein Kleiner?“

Halt die Klappe, Arschloch. Ich bin nicht dein Kleiner. Mir geht es einfach nur beschissen und du darfst dreimal raten, wer dafür verantwortlich ist, du krankes--

Misha sah, dass Sina ihren Kopf durch den Türrahmen steckte, und schob sofort Artjoms Hand von sich weg. Er wollte nicht auffallen. Auf gar keinen Fall.
 

„Möchtest du Zucker oder Milch dazu haben?“

„Nur Milch, danke“, antwortete Artjom, ohne sie anzusehen. Seine grünen Augen ruhten auf Misha, der nervös schluckte und sich verkrampfte.

„Kann ich dir auch etwas anbieten?“

Ugh, sie hat mich angesprochen. Das musste ja passieren.

„N-nein, danke“, sagte Misha und bereute seine Worte sofort. Er hatte sie ganz komisch betont und bestimmt auch viel zu leise und undeutlich gesprochen und höflich hatten sie irgendwie auch nicht geklungen.

Falls Misha tatsächlich etwas falsch gemacht hatte, dann ließ Sina sich das nicht anmerken. Sie nickte bloß und verschwand wieder in der Küche.
 

„Willst du dich nicht zu uns setzen?“, fragte Artjom und streckte seine Hand erneut nach Misha aus. Diesmal waren die haselnussbraunen Haare dran.

„N-nein. Ich möchte nicht“, sagte Misha und erschauerte bei dem Gefühl, wie Artjom ihm durch das Haar wuschelte. Es fühlte sich an, als würden Würmer und Läuse über seine Kopfhaut krabbeln.

„Komm, stell dich nicht so an.“

Misha hätte am liebsten genervt geseufzt, als Artjom ihn aus dem Sessel zog und Richtung Büro zerrte. Warum fragte der Penner überhaupt, wenn er sich sowieso nicht für Mishas Meinung interessierte? Hatte er wirklich nichts Besseres zu tun?

Im Büro angekommen nahm Artjom auf dem Sessel vor dem Schreibtisch Platz und beförderte Misha auf seinen Schoß. Der Junge wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken. Er fühlte sich wie eine Prostituierte.
 

Kurze Zeit später betrat Sina den Raum und stellte ein Tablett mit zwei Tassen auf dem Tisch ab, ehe sie sich hinter ihn auf dem Stuhl niederließ und irgendetwas sagte. Misha hörte ihr nicht zu. Seine Gedanken drehten sich darum, wie er Artjom zusammenschlagen und demütigen würde, wenn er in der Lage dazu wäre. Er hasste diesen Kerl. Und das in einem Ausmaß, von dessen Existenz er nicht einmal gewusst hatte.

Artjom legte eine Hand auf Mishas Rücken. Der Kleine wollte ihm die Finger einzeln brechen und sie danach Stück für Stück abschneiden. Dieses Monster sollte nie wieder jemanden schlagen können.

„Ich glaube, das wäre dann alles“, sagte Sina schließlich. Misha hatte keine Ahnung, wie lange sie und Artjom schon geredet hatten. „Kann ich dir sonst noch irgendwie helfen?“

„Ja. Viktor hat erwähnt, dass du ein altes Handy von ihm besitzen würdest. Kann ich es haben?“
 

Sina setzte eine nachdenkliche Miene auf und fuhr sich durch das kurze, dunkle Haar. Sie griff in die oberste Schublade ihres Schreibtisches und holte einen Stapel Münzen hervor, die sie in einer Reihe über den Tisch verteilte.

„Lass uns ein Spiel spielen“, sagte sie, nachdem die letzte Münze – Misha würde auf eine alte, nicht mehr benutzte Währung aus dem letzten Jahrhundert tippen – mit einem leisen ‘‘Klack‘‘ auf der Tischplatte landete. „Wir werden jetzt abwechselnd Münzen ziehen. Du kannst dir bei jedem Zug eine, zwei oder drei nehmen; das ist vollkommen dir überlassen. Das Gleiche gilt übrigens für mich. Derjenige, der die letzte Münze kriegt, hat gewonnen.“

„Tut mir leid, Sina, aber ich habe dafür keine Zeit. Kann ich bitte das Handy haben?“

„Meinst du das hier?“, erwiderte sie leicht neckend und holte ein Smartphone aus der Tasche ihres Pullovers. „Klar. Aber nur, wenn du mich besiegst. Komm schon, es ist wirklich nicht schwer. Du darfst sogar bestimmen, wer anfängt.“
 

Hätte Misha sich außerhalb Artjoms Reichweite befunden, würde er ihn jetzt auslachen. Er spähte unauffällig zu Artjoms Gesicht, auf dem eine genervte Miene lag, und zählte anschließend die Münzen. Es waren 16 Stück.

„Wenn‘s unbedingt sein muss“, stöhnte Artjom lustlos. „Ich fang‘ an.“

Er nahm sich drei Münzen, woraufhin Sina eine nahm. Es dauerte nicht lange, bis genau das passierte, womit Misha gerechnet hatte: Sina hielt die letzte Münze in der Hand und sah schief lächelnd zu Artjom, der die Arme vor der Brust verschränkte und mürrisch das Gesicht verzog.

„Noch ‘ne Runde?“

Artjom antwortete nicht, sondern packte Misha, schob ihn von seinem Schoß und setzte ihn im anderen Sessel ab. Es folgten drei weitere Runden, die Artjom alle verlor. Danach versuchte es mit der Taktik, Sina anfangen zu lassen, aber das änderte nichts daran, dass er den Kürzeren zog.
 

„Okay, du hattest deinen Spaß“, zischte er nach der fünften oder sechsten Runde. „Ich gebe auf. Kann ich jetzt das scheiß Handy haben?“

„Nö“, antwortete Sina, die sich anscheinend nicht bewusst war, dass Artjom sie jeden Moment erwürgen könnte. Misha hatte das Ganze am Anfang noch unterhaltsam gefunden, aber mittlerweile fand er es nicht mehr lustig. Es würde entweder damit enden, dass Sina im Krankenhaus landete oder dass Artjom sie verschonte und seine Wut später an Misha ausließ.

„Sina, ich meine das ernst“, sagte Artjom und legte die Hände auf den Tisch, als würde er mit einem Geschäftspartner reden. „Ich habe bereits genug Zeit mit diesem Blödsinn verschwendet. Gib mir das verdammte Handy.“

„Nur noch eine Runde, okay? Ich hole uns auch neuen Kaffee.“
 

Ohne auf eine Antwort zu warten, stand sie auf, griff nach dem Tablett und verließ das Büro. Zurück blieb ein nervös schluckender Junge, der sich denken konnte, dass das hier nicht gut enden würde, und ein sich auf die Unterlippe beißender Artjom, der sich wie der letzte Vollidiot vorkam. Das Problem war nicht, dass ihm die nötige Intelligenz fehlte, sondern dass Mishas Anwesenheit ihn ablenkte. Ständig musste er daran denken, dass er sich zu dem Kleinen hingezogen fühlte, sich überhaupt nicht dagegen wehren konnte und mit seinen Taten eine Beziehung unmöglich gemacht hatte. Misha ist niedlich, er hasst mich, ich liebe ihn und hasse mich dafür, er wird meine Gefühle niemals erwidern, weil ich ihn so entstellt habe, er sieht trotz seiner Wunden niedlich aus – das waren die Punkte, aus denen der Kreis bestand, den Artjoms Gedanken zum hundertsten Mal abliefen. Er fühlte sich, als hätte er die Kontrolle über sich selbst verloren.

„Ich wünschte, wir hätten uns niemals kennengelernt“, sagte er zu Misha, der am liebsten erwidert hätte, dass dieser Wunsch auf Gegenseitigkeit beruhte. „Hast du ‘ne Idee, wie der Scheiß funktioniert? Ich will hier nicht übernachten.“
 

„I-ich glaube schon“, stammelte Misha und wandte ängstlich den Blick ab. „Lass Sina anfangen und dann versuch, bei jedem Zug… es halt so zu machen, dass ihr zusammen vier nimmt.“

„Also soll ich drei nehmen, wenn sie eine nimmt?“

Misha nickte. „D-das ist aber nur eine Vermutung. Ich kann mich auch irren.“

„Wird schon schiefgehen“, murmelte Artjom verbittert und lehnte sich in den Sessel zurück. Ihm wurde das echt zu blöd.

Eine knappe Minute später kam Sina mit frischem Kaffee wieder. „Logik liegt dir nicht so, oder?“, neckte sie Artjom, der das bloß mit einem genervten Blick quittierte. Misha hätte Sina am liebsten gebeten, die Klappe zu halten und Artjom einfach zu geben, was er verlangte. Jeden Satz, den sie aussprach, würde er später sicherlich am Körper spüren.
 

Sina legte die Münzen zurecht, nur um danach zwei wegzunehmen. Artjom nahm ebenfalls zwei. Er folgte Mishas Ratschlag und hatte keine Minute später die letzte Münze vor sich liegen.

„Glückwunsch“, flötete Sina, wofür Artjom ihr gerne ins Gesicht geschlagen hätte. „Hier ist dein Preis.“

Artjom nahm das Handy wortlos entgegen und forderte Misha dazu auf, mit ihm mitzukommen. Er wandte sich zum Gehen ab und hatte schon fast den Türrahmen erreicht, als sich Sina auf einmal räusperte.

„Keine Ahnung, was für Informationen Viktor auf seinem Handy hat, aber du scheinst nicht der Einzige zu sein, der sie sich anschauen möchte. Ich bin seit zwei Wochen nicht vor die Tür gegangen, aus Angst, dass mich jemand angreifen könnte. Gönn mir einfach meine halbe Stunde Spaß, okay?“
 

„Danke für den Kaffee“, war alles, was Artjom darauf erwiderte, ehe er Misha an die Hand nahm und die Wohnung verließ.

„Kannst du ihr nicht irgendwie helfen?“, fragte der Junge zaghaft. „Stell doch wenigstens sicher, dass sie genug Lebensmittel ha--“

Die Ohrfeige, der er dafür erhielt, hallte im ganzen Flur wieder und nahm ihm das Gleichgewicht. Er prallte gegen die harte Wand und rutschte gequält ächzend an ihr herab.

„Sag mir nicht, was ich zu tun habe“, fauchte Artjom gereizt. „Ich nehme keine Befehle entgegen und erst recht nicht von dir. Und jetzt komm endlich – ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.“

Anstatt zu gehorchen, krümmte Misha sich zusammen und begann zu weinen. Artjom packte ihn mit einer Hand an den Haaren und zerrte ihn nach oben, während er ihm mit der anderen den Mund zuhielt, damit er nicht schreien und die Bewohner der anderen Apartments auf sich aufmerksam machen konnte. Rücksichtslos schleifte er ihn durch den Flur und stieß ihn in den leeren Fahrstuhl, wo Misha sofort von ihm wegkroch und sich in eine Ecke zurückzog.
 

„Störrisches Blag“, zischte Artjom verachtend und betätigte den Knopf für das Erdgeschoss. „Es ist mir echt ein Rätsel, warum ich mich noch mit dir abgebe. Ich hätte dich Roman überlassen sollen.“

Von Misha kam bloß ein mitleiderregendes Schluchzen. Die Art und Weise, wie sein zierlicher Körper bebte und sich so klein wie nur möglich machte, ließ Artjom den Wunsch verspüren, ihn vom Boden aufzusammeln, auf den Arm zu nehmen und ihm so lange über den Rücken zu streichen, bis er mit dem Weinen aufhörte.

Wag es nicht.

Ehe Artjom sich versah, saß er neben Misha auf dem Boden und strich ihm über den Kopf. Er hatte gar nicht wahrgenommen, wie er sich niedergelassen und seine Hand ausgestreckt hatte.

Schlag ihn. Kratz ihn. Knall seinen Kopf gegen die Wand.
 

„Kleiner, wir werden jetzt nach Hause fahren und dort ein paar Dinge erledigen. Beziehungsweise: Ich werde ein paar Dinge erledigen. Und rate mal, was wir danach machen.“

Misha antwortete nicht, sondern wimmerte leise.

„Komm schon, du weißt es“, fügte Artjom hinzu und strich ihm das Stirnhaar aus den Augen, woraufhin der Junge die Arme sinken ließ, sich die Tränen vom Gesicht wischte und den Größeren mit einer Mischung aus Angst und Feindseligkeit anstarrte.

„Ich will nicht zu Hannah.“

„Aber… warum nicht? Du nervst mich deswegen schon seit mehreren Tagen.“

„Weil ich es mir niemals verzeihen könnte, wenn sie einem Menschen wie dir begegnet. Es reicht, dass du mich umbringst, du krankes Scheusal.“

20. Kapitel

Misha hatte Ruhe schon immer genossen. Es gab nichts Schöneres, als wenn seine Umgebung verstummte und in den Hintergrund rückte und er scheinbar alle Zeit der Welt hatte, seinen Kopf frei zu kriegen und sich in seinen Gedanken zu verlieren. Er stand im Garten, entspannte sich langsam, atmete die kalte Luft ein. Seine nackten Füße fühlten sich schon taub an, aber das störte ihn nicht. Er seufzte und ballte seine Hände zu lockeren Fäusten; versuchte die Kraft zu spüren, die er von seinem Körper gekannt hatte, als dieser noch unversehrt war, aber anstelle des gewohnten Gefühls nahm er nur Schmerzen und das Ziehen verkrampfter Muskeln wahr. Seine dünnen Beine zitterten, ehe sie wie dünne Zweige abknickten und Misha auf seine Knie niedersank. Kurz darauf folgte der Rest und er fiel wie eine leblose Puppe zu Boden. Die dünne Schneeschicht, die sich innerhalb der letzten Stunde gebildet hatte und spätestens am Abend verschwunden sein würde, schmolz und durchnässte seine Kleidung.

Misha machte sich keine Mühe, sich aufzurichten, sondern drehte sich so, dass er auf dem Rücken lag, und schloss seine braunen Augen. Er spürte, wie hauchfeine Schneeflocken auf seinem Gesicht landeten; es fühlte sich an, als würden kalte Blütenblätter auf ihn niederrieseln.
 

Mehrere Minuten vergingen, bevor er seine müden Augen wieder öffnete. Verträumt starrte er in den schneeweißen Himmel. Das Beobachten der abertausenden Flocken hatte etwas Beruhigendes an sich. Er stellte sich vor, wie er sterben und dann vom Schnee bedeckt werden würde. Wie die ganze Umgebung unter einem weißen Schleier verschwand. Wie der Schnee erst im Frühling schmolz und von Misha dann nur noch ein Skelett übrig war. Wie Krokusse und Schneeglöckchen zwischen seinen Rippen sprießten und nichts mehr da war, das Artjom hätte brechen, schlagen, kratzen oder zerstören können.

Misha spürte, wie sich Tränen in seinen Augen bildeten. Der Himmel und die unzähligen Schneeflocken verschwammen zu einem einzigen Weißton und als sie wieder scharf und erkennbar wurden, rannen kleine Wasserperlen über seine Wangenknochen. Die Spur, die sie hinterließen, war erst warm, doch wurde schnell immer kälter, bis sie ebenso kalt war wie der Rest von Mishas geschundenen Körper. Seine Haut war mittlerweile so kalt, dass sie sich taub anfühlte, aber das störte ihn nicht. Im Gegenteil – es war eine willkommene Abwechslung im Vergleich zu den Schmerzen der vergangenen Tage.
 

„Misha? Was machst du denn da?“

Beim Hören jener Stimme hätte Misha am liebsten aufgeschrien. Sein Unterbewusstsein hatte alles, was wie Artjom aussah, roch oder klang, schon längst mit Stress und Schmerzen verbunden und bevor er es überhaupt bemerkte, spannten sich seine Muskeln an und sein Herz begann zu rasen.

„Was ist passiert? Bist du ohnmächtig geworden? Was machst du überhaupt hier im Garten?“

Misha musste zugeben, dass er keine Ahnung hatte, warum er ausgerechnet im Garten lag. Nachdem er und Artjom von dem Besuch bei Sina nach Hause gekommen waren, hatte sich der Ältere ins Schlafzimmer zurückgezogen, während Mishas Beine ihn in den Garten getragen hatten, einfach so.

„Ist alles okay?“

Misha antwortete nicht, sondern ließ sich wortlos von Artjom auf die Füße ziehen. Jede einzelne Bewegung, auch die, die nicht von ihm verursacht wurden, tat ihm weh. Er hätte sich am liebsten wieder hingelegt.
 

„Mir geht‘s super“, antwortete er und machte sich vor Schmerz leise ächzend auf den Weg ins Wohnzimmer. Artjom folgte ihm und machte die Tür, die zum Garten führte, hinter sich zu.

„Was hältst du davon, ins Bett zu gehen? Ich glaube, ein bisschen Ruhe würde dir guttun.“

Das Einzige, was mir guttun würde, wäre eine Fahrt ins Krankenhaus, dachte Misha, dem Artjoms fürsorglicher Tonfall tierisch auf die Nerven ging. Er verprügelte ihn regelmäßig, da war das gelegentliche Erkundigen von Mishas Wohlbefinden wirklich sinnlos.

Anstatt seine Gedanken auszusprechen, nickte er nur schweigend und ging zur Treppe.

„Warte“, hielt Artjom ihn zurück. „Wegen Hannah... willst du wirklich nicht zu ihr?“

„Keine Ahnung“, sagte Misha, ohne überhaupt zugehört zu haben, und taumelte nach oben. Jeder Schritt quälte ihn und erinnerte ihn daran, mit was für einem Monster er hier unter einem Dach lebte.

Mit verbitterte Miene blieb Misha vor dem Bett stehen. Er zog seinen Pullover aus, der an manchen Stellen noch feucht vom Schnee war, und wollte sich gerade an seinem Gürtel zu schaffen machen, als er plötzlich im Augenwinkel etwas bemerkte. Artjom stand im Türrahmen.
 

„Du und Hannah – in welcher Beziehung steht ihr eigentlich zueinander?“

„Ich habe dir nie von ihr erzählt. Du warst derjenige, der herausgefunden hat, dass wir uns kennen, und mich damit erpresst hat, ihr etwas anzutun.“

„Du hast meine Frage nicht beantwortet.“

„Muss ich auch gar nicht, wenn du dir diese Informationen doch einfach beschaffen kannst.“

„Dich zu fragen geht schneller. Also, seid ihr echt nur Freunde? Oder ist da mehr?“

„Wir sind echt nur Freunde. Und selbst wenn da mehr wäre – das können wir jetzt vergessen“, antwortete Misha genervt. Er hätte Artjom gerne gefragt, warum ihn das so brennend interessierte, als ihm die Antwort auf einmal selbst einfiel.

Artjom suchte nach einem Anlass, Misha erneut anzugreifen. Und was würde sich dafür besser eignen als Eifersucht?

„Artjom, zwischen mir und Hannah läuft nichts. Du musst wirklich nicht eifersüchtig auf sie sein.“

„Eifersüchtig?“ Das Scheusal lachte. „Glaub mir, sie ist die letzte Person, auf die ich eifersüchtig wäre.“
 

Misha wusste, dass er sich nicht auf die Provokation dieses Idioten einlassen durfte, aber der Frust, der sich schon seit mehreren Tagen ansammelte, ließ sich kaum bändigen.

„Ein falsches Wort über meine Freundin und ich--“

Er wurde von Artjoms bellenden Lachen unterbrochen.

„Was dann, hm? Was willst du dann machen?“

Misha schwieg. Er würde dann alles machen, was er gegen Artjom tun konnte. Nämlich gar nichts.

„Kleiner, sag schon. Wovor muss ich mich fürchten, wenn ich deine kleine Freundin beleidige?“

„Vor gar nichts. In deiner Haut zu stecken, ist schon das Schlimmste, was jemandem widerfahren kann.“

Artjom lachte erneut auf, kam langsam auf Misha zu und verschränkte die Arme vor der Brust, als er ihn erreichte.

„Mag sein, aber vertrau mir – es ist immer noch besser als ein hässlicher, kleiner Wicht zu sein, der... wie sage ich das...“ Er tat so, als würde er angestrengt nach den richtigen Worten suchen. „... nicht gerade die besten Zukunftsaussichten hat.“
 

So sehr es Misha auch missfiel, diese Worte trafen ihn. Er hatte schon mehrere Stunden seines Lebens damit verbracht, auf ein Wunder zu hoffen, das ihn größer, stärker, attraktiver und vor allem mutiger und selbstbewusster machen würde. Und dass Artjom Mishas missliche Lage erwähnt hatte, wäre wirklich nicht nötig gewesen.

Misha gab sein Bestes, sich nicht zu etwas Unüberlegtem verleiten zu lassen, aber die Art und Weise, wie Artjom überlegen auf ihn herabsah und schmunzelte, ihn belächelte, machte ihn rasend. Bevor er sich zurückhalten konnte, hatte er bereits ausgeholt – und Artjom eine Ohrfeige verpasst.

Die Rechnung ließ nicht lange auf sich warten. Er bekam genau das, was er dem Älteren gegeben hatte, nur mit einem Vielfachen der Kraft. Misha verlor das Gleichgewicht, landete mit dem Rücken auf der eckigen Bettkante und glitt dann zu Boden. Seine Wange brannte und sein Rücken fühlte sich an, als hätte ihm jemand ein Messer zwischen zwei Wirbel gerammt. Vor Schmerz winselnd und stöhnend krümmte er sich zusammen und hoffte, dass die neue Verletzung nichts Schlimmes war. Er hätte auch mit dem Hals auf der Bettkante aufkommen können; das hätte ihn locker umgebracht oder für den Rest seines Lebens in einen Rollstuhl befördert. Entweder war sich Artjom dieser Gefahr nicht bewusst oder sie interessierte ihn schlichtweg nicht.
 

„Du kotzt mich so an“, knurrte der Russe aggressiv. „Seitdem du bei mir bist, habe ich nichts als Ärger mit dir.“

Er ballte die Hände zu Fäusten und knirschte mit den Zähnen. Während ein Teil von ihm Misha am Kragen seines T-Shirts packen und solange auf ihn einschlagen wollte, bis der Junge nicht mehr atmete, wollte ein anderer Teil von ihm Misha in den Arm nehmen und nie wieder loslassen. Er konnte es in seinen Händen fühlen. Seine Knöchel schmerzten, als würde die Wucht seiner Faust Knochen brechen lassen, und seine Fingerspitzen kribbelten, als würde er damit über weiche, von Blutergüssen verfärbte Haut streichen.

Artjom bemerkte erst jetzt, wie kurz er davor war, den Verstand zu verlieren. Es fühlte sich an, als würden zwei gewaltige Kräfte an seinen Rippen zerren und ihn auseinanderreißen wollen. Er versuchte sich zu wehren, doch wusste nicht einmal, wie genau er das anstellen sollte.

Heftig atmend trat er einige Schritte zurück. Sein ganzer Körper zitterte und das Gefühl, dass gleich etwas aus seinem Brustkorb ausbrechen würde, wurde immer stärker. Misha schien davon nichts mitzubekommen. Er lag immer noch auf dem Boden, wimmernd, schluchzend, verängstigt, nicht ahnend, das Artjom gleich etwas tun würde, das all seine anderen Taten in den Schatten stellte.
 

Er ging auf Misha zu und trat ihm mit voller Wucht in den Rücken, etwa da, wo die Nieren lagen. Der Kleine schrie auf, aber das hinderte Artjom nicht daran, sich auf ihn draufzusetzen und auf seinen Oberkörper und sein Gesicht einzuschlagen. Letzteres versuchte Misha zu schützen, indem er seine Hände davor hielt, aber gegen Artjoms enorme Kraft konnte er nichts ausrichten.

Artjom wusste überhaupt nicht, was gerade geschah. Er verstand, dass er erbarmungslos auf Misha einschlug und vermutlich auf dem besten Weg war, ihn von seinem Leid zu erlösen, aber diese Gewalt... kam nicht von ihm. Das war nicht er. Er veranlasste diese Bewegungen nicht, das war jemand anderes.

Was... was passiert hier?

Artjom stand knappe zwei Meter von Misha und der Person entfernt, die sein eineiiger Zwillingsbruder hätte sein können. Er sah, wie sie immer und immer wieder auf den armen Jungen einschlug, und wollte das natürlich verhindern, aber eine unsichtbare Wand befand sich zwischen ihm und das, was sich vor ihm abspielte.

„Lass ihn in Ruhe!“, schrie er dieses... ‘‘Ding‘‘ an, das er selbst war, und hämmerte mit den Fäusten gegen die Barriere, doch es war zwecklos. Er konnte nichts anderes tun, als sich selbst dabei zu beobachten, wie er Misha immer weiter zusetzte.
 

„HÖR AUF!“

Seine Stimme überschlug sich fast vor Panik. Er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, warum und wie er die Kontrolle über seinen Körper verloren hatte und weshalb er sich selbst sah, als wäre er ein anderer, und ob das hier alles überhaupt der Realität entsprach oder ein Albtraum der ganz üblen Sorte war. Seine Fäuste schlugen mit so einer Wucht gegen die Wand, dass er das Gefühl hatte, seine Knochen würden jeden Moment zerschmettern, aber dieser Schmerz war nichts im Vergleich zu der Machtlosigkeit, zusehen zu müssen, was mit Misha geschah. Mittlerweile hoffte er für den Jungen, dass er das Bewusstsein verlor, damit er die Qualen nicht länger ertragen musste.

Obwohl er wusste, dass es keinen Sinn hatte, schrie Artjom weiter. Er flehte, drohte, bettelte, doch es brachte nichts. Sein anderes Ich konnte ihn nicht hören.

Artjom hatte sich noch nie in seinem Leben so furchtbar gefühlt. Er sank auf die Knie, die Hände immer noch auf der unsichtbaren Barriere, auf der nun Blutflecken zu sehen waren. Am ganzen Leib zitternd starrte er auf den Mann, der er selbst war, und beobachtete, wie er endlich – endlich! – von Misha abließ...
 

... nur um ihn anschließend am Hals zu packen.

„NEIN!“

Artjom konnte sich denken, was ‘‘er‘‘ vorhatte. Er schlug erneut auf die Wand ein und schrie sich die Seele aus dem Leib, aber das führte zu nichts, wie bereits erwartet.

Misha war zu Artjoms Entsetzen nicht ohnmächtig geworden, sondern hatte die Tortur mit vollem Bewusstsein wahrgenommen. Als er spürte, wie sich zwei kräftige Hände um seinen Hals legten und ihm die Luftzufuhr verwehrten, versuchte er sich zu befreien, aber die Schläge und die Schmerzen hatten ihm so stark zugesetzt, dass er sich kaum bewegen konnte. Seine zierlichen Händchen konnten gegen die groben Pranken nichts ausrichten und auch seine schwächlichen Klagelaute, die Artjom nur verschwommen hörte, halfen ihm nicht aus seiner Lage. Nachdem einige Sekunden verstrichen waren, begann er stärker zu zappeln und sich unter ‘‘Artjom‘‘ zu winden, aber das Scheusal ließ sich davon nicht beeindrucken. Artjom hatte keine andere Wahl, als hilflos zuzusehen, wie Misha in seinen letzten Augenblicken vergeblich nach Luft schnappte, ehe seine Gliedmaßen plötzlich erschlafften und er reglos liegen blieb. Selbst wenn Artjom wüsste, wie er sich selbst aufhalten konnte, war es dafür jetzt zu spät. Misha atmete nicht mehr.

21. Kapitel

Als Misha sein Bewusstsein wiedererlangte, spürte er weder die fremden Lippen auf seinen eigenen, noch die Hand um seinen Kiefer, noch die andere Hand, die ihm die Nase zuhielt, und erst recht nicht seine von Blut durchtränkte Kleidung, die wie eine zweite Haut an ihm klebte. Das erste und einzige Empfinden, das er wahrnahm, war das Verlangen nach Sauerstoff. Noch bevor er richtig zu sich gekommen war, riss er den Mund auf und schnappte nach Luft. Ein grausamer Schmerz jagte durch seinen Körper, doch Misha fehlte der Atem, um aufzuschreien. Hustend und japsend rang er nach Luft. Bei jedem Atemzug zuckten Schmerzen wie Blitze durch seinen Leib, aber der Sauerstoffmangel war schlimmer. Misha hörte erst auf, als er sich an seinem eigenen Blut verschluckte.

Immer noch leicht japsend öffnete er seine Augen, nein, nur ein Auge, denn das linke ließ sich nicht öffnen. Es schmerzte und das bisschen, das er damit sehen konnte, war verschwommen und rötlich.

„Misha.“

Zuerst hörte er Artjom und dann sah er ihn. Er kniete über ihn, die Augenpartie gerötet und leicht angeschwollen, als hätte er geweint, und sein Gesicht war kreidebleich.
 

Im ersten Moment hatte Misha keinen blassen Schimmer, was passiert war. Ihm ging es schlecht – also, noch schlechter als sonst – und Artjom sah aus, als würde er sich kurz vor oder hinter einem Nervenzusammenbruch befinden. Seine sonst so tiefe und ruhige Stimme war kaum mehr als ein heiseres Flüstern.

„Oh, Misha.“

Der Junge bekam nur am Rande mit, wie er vom Boden aufgesammelt und in den Arm genommen wurde. Artjom hielt ihn wie die Leiche eines geliebten Menschen, seine Hände zitterten sogar noch stärker als seine Stimme.

Misha verstand immer noch nicht, was los war. Er fühlte sich, als würde er jeden Moment sterben. Verwirrt versuchte er so gut wie es ihm mit einem Körper, der bei jeder Bewegung schmerzte, möglich war, seine Umgebung zu betrachten, während Artjom tatsächlich zu weinen anfing. „Es tut mir so leid“ und „Ich werde es nie wieder tun“, war aus seinem Schluchzen herauszuhören.

Allmählich erinnerte sich Misha an das, was vor nicht einmal zehn Minuten geschehen war. Artjom hatte ihn beinahe umgebracht. Hatte wie von Sinnen auf ihn eingeschlagen und ihn danach fast erwürgt.
 

Reflexartig versuchte Misha sich von Artjom zu befreien, aber alles, was er damit erreichte, war, dass der Ältere ihn noch fester an sich drückte. Er winselte vor Schmerz und spürte, wie Artjom ihn auf die Stirn küsste. Sein Atem war ganz heiß und Tränen tropften von seinem Kinn.

„Schhhht, Misha, es ist okay. Ich habe mich wieder unter Kontrolle. Du musst keine Angst mehr vor mir haben.“

Misha wurde tatsächlich ruhig, aber nicht, weil er Artjoms Worten Glauben schenkte, sondern weil ihm soeben etwas klar geworden war. Jedes Mal, wenn er erneut verletzt worden war, hatte er sich mit der Vorstellung getröstet, eines Tages freizukommen und Artjom nie wieder sehen zu müssen. Vielleicht würde ihm eines Tages die Flucht gelingen. Vielleicht würde die Polizei kommen und ihn hier herausholen. Er hatte immer damit gerechnet, dass er Artjom irgendwann hinter sich lassen und wieder in sein Leben zurückfinden könnte, aber jetzt, wo er halbtot in seinen Armen lag und das Gefühl hatte, Artjoms Hände würden ihm immer noch die Kehle zudrücken, wurde ihm bewusst, dass er niemals mit Artjom abschließen würde, sondern Artjom eher mit ihm.
 

Dieser Mann würde ihn umbringen.

Vielleicht nicht jetzt oder in den nächsten paar Stunden, aber mit etwas Glück noch in dieser Woche. Heute hatte er ihn fast erwürgt und morgen würde er womöglich einen Schritt weitergehen und Mishas Leben endgültig ein Ende setzen.

Der Junge gab keinen Mucks von sich. Er dachte an all die Dinge, die er noch vorgehabt hatte. Abitur, Studium, Arbeit, das erste eigene Geld verdienen, die Länder besuchen, für die er sich schon seit Jahren interessierte, die richtige Frau für ihn finden, eine Familie gründen, Zeit mit seinen Kindern verbringen, ein eigenes Haus kaufen, mit seiner Ehefrau alt werden und zufrieden auf sein Leben zurückblicken. Er hatte so viele Pläne gehabt, nur um jetzt herauszufinden, dass er nicht einmal seinen 17. Geburtstag erleben würde.

„Arh... Artjom“, hauchte Misha, aber es war so leise, dass es von Artjoms Schluchzen übertönt wurde. Er erlangte die Aufmerksamkeit des Größeren erst, als er dessen Hand ergriff.

„Was ist, mein Kleiner?“, fragte Artjom in einer so sanften Stimmlage, als würde er mit einem Kleinkind reden. Eine Träne haftete in seinen dunklen Wimpern.
 

„Ich möchte... dass du etwas für mich tust.“ Misha platzierte Artjoms Hand an seinem Hals, wo bereits die ersten Umrisse der entstehenden Würgemale zu sehen waren. „Tu es.“

„Misha.“

„Bitte. Ich halte das nicht mehr aus.“

Er kam Mishas Bitte nicht nach. Natürlich nicht. Warum hatte Misha es überhaupt versucht?

Artjom stand auf und legte den Jungen vorsichtig auf dem Bett ab.

„Ich fahre kurz weg und bin gleich wieder da. Du bleibst hier und wartest, okay?“

„...“

„Hier – Charly passt auf dich auf“, fügte er hinzu und griff nach dem Fennek, der gerade unter dem Bett hervorgekrochen kam. Kaum hatte er Charly neben Misha auf das Bett gesetzt, legte sie die großen Ohren an und schaute sich nervös um. Wahrscheinlich machte es ihr Sorgen, dass alles nach Blut roch.

„Es dauert wirklich nicht lange, Kleiner.“

Artjom strich Misha vorsichtig über den Kopf, wischte sich hastig die Tränen aus dem Gesicht und verließ dann den Raum. Der Junge sah ihm hinterher und überlegte, ob jetzt ein guter Zeitpunkt wäre, seinem Leid selbst ein Ende zu bereiten, als ihm eine bessere Idee kam.
 

~*~
 

Als Artjom die Apotheke erreichte, stieg er nicht sofort aus, sondern blieb im Auto sitzen und versuchte sich zu sortieren. Seine Hände zitterten immer noch und wollten partout nicht damit aufhören.

Was zur Hölle war da vorhin passiert? Und was sollte er machen, falls es noch einmal passierte?

Beten, dass Misha es überlebt.

Artjom krallte sich in das Lenkrad. Ihm wurde bei der Erinnerung, wie Misha leblos und blutend vor ihm gelegen hatte, ganz übel. Vor allem dass er nicht mehr geatmet hatte. So als wäre er...

Wie konnte ich es überhaupt erst so weit kommen lassen?

Ihm kam der Gedanke, dass er all diesen Ärger ohne Misha nicht hätte, aber das fühlte sich nicht wie ein vernünftiger Einwand, sondern wie ein störender Fremdkörper an. Artjom knirschte wütend mit den Zähnen. Er schloss die Augen und zwang sich, mehrere Male tief ein- und auszuatmen.

Ich werde jetzt in diese Apotheke gehen, ein paar Sachen kaufen, nach Hause fahren und mich um Misha kümmern. Vier Dinge, ganz einfach. Ich--

Er legte den Kopf in den Nacken und seufzte. Am liebsten hätte er sich mehrere Stunden lang in eine stille Ecke zurückgezogen, um sich mit seinen Schuldgefühlen und Gedanken auseinanderzusetzen, aber dafür hatte er jetzt keine Zeit. Er musste los.
 

Artjom prüfte, ob sein Portemonnaie dort war, wo es hingehörte – rechte Jackentasche, so wie immer – und verließ sein Auto. Sofort umhüllte ihn die eisige Kälte, die ihn leicht frösteln ließ. Es war kalt und windig und dem trostlos grauen Himmel nach zu urteilen würde sich das so schnell auch nicht ändern.

Das Erste, was Artjom vernahm, als er die Apotheke betrat, war ein lautes Quietschen. Er vermutete zuerst ein sterbendes Tier, doch wie sich herausstellte, handelte es sich bloß um ein kleines Kind, das sich darüber aufregte, die „bunten Luftballons“ nicht gekauft zu kriegen. Artjom hätte beinahe geschmunzelt, würde ihm der Schock nicht immer noch in den Knochen sitzen. Das hatte der Ladenbesitzer davon, die Kondome in einem Pappaufsteller direkt neben der Kasse zu präsentieren, als wären es Süßigkeiten.

Während das Kind einen Anfall kriegte und den Laden zusammenschrie, suchte Artjom das Zeug zusammen, das er brauchte. Als er alles beisammen hatte, verschwand der Schreihals mit seiner entnervten Mutter gerade zur Tür hinaus. Die junge Frau an der Kasse gab ein erleichtertes Seufzen von sich. Sie sah völlig fertig aus.
 

„Möchten Sie das alles kaufen?“, fragte sie leicht erstaunt, als Artjom die Waren vor ihr auf die Theke ablegte, und ließ ihren Blick über die Verbände, Pflaster, Wundsalbe und anderen Sachen wandern.

Unter normalen Umständen hätte Artjom jetzt eine sarkastische Antwort von sich gegeben („Nein, ich möchte es klauen“, klang doch nicht schlecht), aber momentan brachte er nicht einmal ein simples Lächeln zustande.

Was auch immer die Frau über Artjoms deprimierte Miene dachte, sie behielt es für sich und begann, die Waren zu scannen.

„Darf es sonst noch etwas sein?“

„Ja. Ich suche nach einem Schmerzmittel. Einem möglichst starken.“

„Kopfschmerzen, Bauchschmerzen oder--?“

Artjom lehnte sich ein Stückchen nach vorne, woraufhin die junge Frau verstummte.

„Schmerzen, die jemand hat, der das ganze Zeug hier braucht.“

Sie runzelte die Stirn. „Ähm... ich hätte da etwas, aber das ist rezeptpflichtig.“

„Keine Sorge, ein Rezept habe ich“, erwiderte Artjom ruhig und holte einen Geldschein aus seinem Portemonnaie.
 

„I-ich-ich kann das nicht anneh--“

„Nina!“, rief plötzlich eine männliche Stimme im Hintergrund. Artjom hob den Blick und sah einen nicht besonders großen, etwas älteren Mann mit Brille und Glatze aus dem Nebenraum kommen. Er huschte nach vorne zur Kasse und schubste die Frau, die ihn fast um einen ganzen Kopf überragte, leicht zur Seite.

„Sie brauchen ein Schmerzmittel, werter Herr? Wie stark soll es denn sein?“

„Geben Sie mir das stärkste, das Sie haben.“

„Kommt sofort!“

Er pflückte Artjom den Geldschein aus der Hand, verschwand hinter einem Regal und kam kurz daraufhin mit zwei Packungen Tabletten wieder, die er zu den anderen Sachen auf der Theke ablegte.

„Aber Chef, das können wir nicht machen!“, rief Nina erschrocken. „Wir--!“

„... können uns damit schöne Sachen kaufen“ beendete er ihren Satz und wedelte mit dem Schein vor ihrer Nase herum. „Stell dich nicht so an.“
 

Nina seufzte, gab auf und nannte Artjom den Preis.

„Kann ich Sie vielleicht für unser Angebot der Woche begeistern?“, fügte sie hinzu und deutete leicht beschämt auf die Kondome. „Denken Sie sich nichts dabei; mein Chef will, dass ich jeden Kunden darauf aufmerksam mache.“

„Danke, aber ich habe gerade keinen Bedarf“, sagte Artjom. Er bekam eine Tüte mit seinem Einkauf in die Hand gedrückt, verabschiedete sich und verließ die Apotheke.

„Wenn das jemand herauskriegt, wird der Laden dicht gemacht“, stöhnte Nina, sobald die Tür hinter Artjom ins Schloss gefallen war. „Stell dir mal vor, das wäre ein Bulle gewesen.“

„Bullen sehen nicht so aus; ich habe ein Gespür dafür“, erwiderte ihr Chef unbeeindruckt und ließ den Schein in seinem Portemonnaie verschwinden. „Außerdem--“

Die Tür ging auf und ein Mann Ende zwanzig betrat die Apotheke. Er hatte blonde Haare, grüne Augen und sah nicht gerade schlecht aus. Nina lächelte ihn freundlich an, doch der Mann schien weder an ihr noch an den Waren interessiert zu sein.
 

„Der Mann, der gerade eben hier war – was wollte er?“, fragte er mit seiner ernst und fordernd klingenden Stimme.

„Nun, was kann man in ‘ner Apotheke schon wollen?“, antwortete Ninas Chef. „Er hat eingekauft.“

„Was genau?“

„Das kann ich Ihnen nicht sagen. Schweigepflicht und so. Sie wissen schon.“

Der Mann seufzte und dachte kurz nach, während der Ladenbesitzer langsam ungeduldig wurde.

„Wollen Sie etwas kaufen oder nicht?“

„Ja, Ritalin.“

„Ritalin?“

„Tun Sie nicht so, als wüssten Sie nicht, was das ist“, sagte der blonde Mann ungeduldig. „Das Zeug, was eigentlich für Leute mit ADHS bestimmt ist, aber gern von Jugendlichen als Droge missbraucht wird. Ich hätte gerne eine Packung davon.“

„Lässt sich einrichten, aber dafür müsste ich einmal Ihr Rezept sehen.“
 

Der Mann lächelte und fischte ein paar Scheine aus seinem Portemonnaie. „Geht diese Art von Rezept auch?“

„Aber natürlich“, antwortete Ninas Chef und rieb sich die Hände. Er war im Begriff, seine gierigen Finger nach dem Geld auszustrecken, als der blonde Mann die Scheine plötzlich zurücktat und dafür etwas anderes herausholte – nämlich seine Dienstmarke.

„Scheiße, das ist ‘n Bulle.“

„Korrekt festgestellt“, sagte der Mann, dessen Lächeln schon längst erstorben war. „Hier ist der Deal: Ich vergesse das, was Sie gerade vorhatten, und dafür erzählen Sie mir, was der Mann mit den schwarzen Haaren hier wollte.“

Ninas Chef grummelte wütend, während Nina selbst vor Angst kein Wort hervorbrachte.

„Hat Verbände, Wundsalbe und so ‘n Kram gekauft. Haben ihm ‘ne Ladung Morphin mitgegeben. Keine Ahnung, für was er das braucht.“

„Verletzt sah er aber nicht aus, oder?“

Nina und ihr Chef schüttelten synchron die Köpfe, woraufhin der blonde Mann erneut seufzte und wortlos die Apotheke verließ. Hier nachzufragen, hatte ihn nicht weitergebracht, aber das machte nichts. Er würde sein Ziel auch auf anderen Wegen erreichen.



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Kommentare zu dieser Fanfic (159)
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Von:  Luzie_
2020-01-29T11:23:09+00:00 29.01.2020 12:23
Oh Mann, das ist mal wieder eine Lage... wenn das so weiter geht bringt er ihn wirklich um.... Wenn Hanna Misha sieht wird sie einen Schreck bekommen. Ich bin mir irgendwie sicher, dass sie nämlich früher oder später dort hin gehen.
Bin gespannt wie das mit der Polizei weiter geht.

Super Kapitel und ich freue mich echt darauf wenn es weiter geht
Von:  Arya-Gendry
2019-06-02T12:49:41+00:00 02.06.2019 14:49
Wieder ein super Kapitel.
Ob das so eine gute Idee war denn kleinen jetzt alleine zu lassen? Wer weiß was er vor hat. Zwar kann er nicht weg laufen, aber er kann immer noch die Polizei rufen. Bin mal gespannt was er getan hat.

Und dann die Sachen mit denn Polizisten. Obwohl es kann ja auch sein das er keiner ist. Bin schon gespannt wie es weiter geht. Und ob Artjom sich nun wirklich änderen wird. Denn wirklich glauben kann man ihn nicht.
LG.
Von:  Sundy
2019-04-30T16:06:57+00:00 30.04.2019 18:06
Juhuuu es geht weiter!!!!

Also dafür, dass Misha schon so viel gelitten hat ist sein Körper ganz schön stark. Also weil er nicht ohnmächtig geworden ist.
Von:  Onlyknow3
2019-04-29T08:55:41+00:00 29.04.2019 10:55
Dann hat er wenigstens dieses Mathürium überstanden. Die qualen haben ein ende.
Hoffe für den Kleinen ist es wirklich vorbei, doch wird es wohl nicht so sein.
Sonst wäre die Story zu enden. Schön das es ein neues Kapitel gibt.

LG
Onlyknow3
Von:  Liescha
2019-04-28T18:00:15+00:00 28.04.2019 20:00
Eeeeeendlich geht es weiter - hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben.
Ich hoffe sehr, Misha übersteht das ganze irgendwie. Und das langsam eine Wendung kommt. Ich kann sein leid nur schwer ertragen
Von:  Arya-Gendry
2019-04-27T18:46:31+00:00 27.04.2019 20:46
Hi
Freut mich das er weiter geht. ;)

Ich hoffe Micha wird nochmal aufwachen und Artjom ihn auch helfen egal wie. Wenn er Glück hat wacht der Kleine nochmal auf und Artjom lässt ihn endlich ihn Ruhe. Obwohl er braucht Hilfe mit seiner zweiten Persölichkeit. Denn wenn nicht ist es wohl nicht das letzte mal gewesen das sowas passiert.

Bleibt nur zu Hoffe das es denn kleinen troz allen gut und er es übersteht. Aber Artjom wird er nie verzeihen können. Egal was auch immer er nun vor hat oder wieder gut machen will.
LG.
Von:  Sundy
2018-09-24T13:44:19+00:00 24.09.2018 15:44
Das hat gesessen
Von:  Karokitty
2018-09-21T03:13:28+00:00 21.09.2018 05:13
Ich weiß nicht ob dieser satz nicht schlimm enden könnte Artjom ist gerade gereizt und mal wieder nicht herr seiner selbst..
Von:  Sumino
2018-09-20T21:44:42+00:00 20.09.2018 23:44
der arme bin echt gespannt wie die Wendung wird :/
Von:  Onlyknow3
2018-09-20T18:58:08+00:00 20.09.2018 20:58
Wenn Artjom, sich nicht um Misha kümmern möchte, warum lässt er ihn nich bei jemand anderem?
Misha will ja auch nicht bei ihm sein.
Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Antwort von:  Karokitty
21.09.2018 05:14
Weil Artjom ihn haben will. Selbsten wenn er es sich immer und immer wieder einreden will das es nicht so ist.


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