Stolen Dreams Ⅳ von Yukito ================================================================================ 21. Kapitel ----------- Als Misha sein Bewusstsein wiedererlangte, spürte er weder die fremden Lippen auf seinen eigenen, noch die Hand um seinen Kiefer, noch die andere Hand, die ihm die Nase zuhielt, und erst recht nicht seine von Blut durchtränkte Kleidung, die wie eine zweite Haut an ihm klebte. Das erste und einzige Empfinden, das er wahrnahm, war das Verlangen nach Sauerstoff. Noch bevor er richtig zu sich gekommen war, riss er den Mund auf und schnappte nach Luft. Ein grausamer Schmerz jagte durch seinen Körper, doch Misha fehlte der Atem, um aufzuschreien. Hustend und japsend rang er nach Luft. Bei jedem Atemzug zuckten Schmerzen wie Blitze durch seinen Leib, aber der Sauerstoffmangel war schlimmer. Misha hörte erst auf, als er sich an seinem eigenen Blut verschluckte. Immer noch leicht japsend öffnete er seine Augen, nein, nur ein Auge, denn das linke ließ sich nicht öffnen. Es schmerzte und das bisschen, das er damit sehen konnte, war verschwommen und rötlich. „Misha.“ Zuerst hörte er Artjom und dann sah er ihn. Er kniete über ihn, die Augenpartie gerötet und leicht angeschwollen, als hätte er geweint, und sein Gesicht war kreidebleich. Im ersten Moment hatte Misha keinen blassen Schimmer, was passiert war. Ihm ging es schlecht – also, noch schlechter als sonst – und Artjom sah aus, als würde er sich kurz vor oder hinter einem Nervenzusammenbruch befinden. Seine sonst so tiefe und ruhige Stimme war kaum mehr als ein heiseres Flüstern. „Oh, Misha.“ Der Junge bekam nur am Rande mit, wie er vom Boden aufgesammelt und in den Arm genommen wurde. Artjom hielt ihn wie die Leiche eines geliebten Menschen, seine Hände zitterten sogar noch stärker als seine Stimme. Misha verstand immer noch nicht, was los war. Er fühlte sich, als würde er jeden Moment sterben. Verwirrt versuchte er so gut wie es ihm mit einem Körper, der bei jeder Bewegung schmerzte, möglich war, seine Umgebung zu betrachten, während Artjom tatsächlich zu weinen anfing. „Es tut mir so leid“ und „Ich werde es nie wieder tun“, war aus seinem Schluchzen herauszuhören. Allmählich erinnerte sich Misha an das, was vor nicht einmal zehn Minuten geschehen war. Artjom hatte ihn beinahe umgebracht. Hatte wie von Sinnen auf ihn eingeschlagen und ihn danach fast erwürgt. Reflexartig versuchte Misha sich von Artjom zu befreien, aber alles, was er damit erreichte, war, dass der Ältere ihn noch fester an sich drückte. Er winselte vor Schmerz und spürte, wie Artjom ihn auf die Stirn küsste. Sein Atem war ganz heiß und Tränen tropften von seinem Kinn. „Schhhht, Misha, es ist okay. Ich habe mich wieder unter Kontrolle. Du musst keine Angst mehr vor mir haben.“ Misha wurde tatsächlich ruhig, aber nicht, weil er Artjoms Worten Glauben schenkte, sondern weil ihm soeben etwas klar geworden war. Jedes Mal, wenn er erneut verletzt worden war, hatte er sich mit der Vorstellung getröstet, eines Tages freizukommen und Artjom nie wieder sehen zu müssen. Vielleicht würde ihm eines Tages die Flucht gelingen. Vielleicht würde die Polizei kommen und ihn hier herausholen. Er hatte immer damit gerechnet, dass er Artjom irgendwann hinter sich lassen und wieder in sein Leben zurückfinden könnte, aber jetzt, wo er halbtot in seinen Armen lag und das Gefühl hatte, Artjoms Hände würden ihm immer noch die Kehle zudrücken, wurde ihm bewusst, dass er niemals mit Artjom abschließen würde, sondern Artjom eher mit ihm. Dieser Mann würde ihn umbringen. Vielleicht nicht jetzt oder in den nächsten paar Stunden, aber mit etwas Glück noch in dieser Woche. Heute hatte er ihn fast erwürgt und morgen würde er womöglich einen Schritt weitergehen und Mishas Leben endgültig ein Ende setzen. Der Junge gab keinen Mucks von sich. Er dachte an all die Dinge, die er noch vorgehabt hatte. Abitur, Studium, Arbeit, das erste eigene Geld verdienen, die Länder besuchen, für die er sich schon seit Jahren interessierte, die richtige Frau für ihn finden, eine Familie gründen, Zeit mit seinen Kindern verbringen, ein eigenes Haus kaufen, mit seiner Ehefrau alt werden und zufrieden auf sein Leben zurückblicken. Er hatte so viele Pläne gehabt, nur um jetzt herauszufinden, dass er nicht einmal seinen 17. Geburtstag erleben würde. „Arh... Artjom“, hauchte Misha, aber es war so leise, dass es von Artjoms Schluchzen übertönt wurde. Er erlangte die Aufmerksamkeit des Größeren erst, als er dessen Hand ergriff. „Was ist, mein Kleiner?“, fragte Artjom in einer so sanften Stimmlage, als würde er mit einem Kleinkind reden. Eine Träne haftete in seinen dunklen Wimpern. „Ich möchte... dass du etwas für mich tust.“ Misha platzierte Artjoms Hand an seinem Hals, wo bereits die ersten Umrisse der entstehenden Würgemale zu sehen waren. „Tu es.“ „Misha.“ „Bitte. Ich halte das nicht mehr aus.“ Er kam Mishas Bitte nicht nach. Natürlich nicht. Warum hatte Misha es überhaupt versucht? Artjom stand auf und legte den Jungen vorsichtig auf dem Bett ab. „Ich fahre kurz weg und bin gleich wieder da. Du bleibst hier und wartest, okay?“ „...“ „Hier – Charly passt auf dich auf“, fügte er hinzu und griff nach dem Fennek, der gerade unter dem Bett hervorgekrochen kam. Kaum hatte er Charly neben Misha auf das Bett gesetzt, legte sie die großen Ohren an und schaute sich nervös um. Wahrscheinlich machte es ihr Sorgen, dass alles nach Blut roch. „Es dauert wirklich nicht lange, Kleiner.“ Artjom strich Misha vorsichtig über den Kopf, wischte sich hastig die Tränen aus dem Gesicht und verließ dann den Raum. Der Junge sah ihm hinterher und überlegte, ob jetzt ein guter Zeitpunkt wäre, seinem Leid selbst ein Ende zu bereiten, als ihm eine bessere Idee kam. ~*~ Als Artjom die Apotheke erreichte, stieg er nicht sofort aus, sondern blieb im Auto sitzen und versuchte sich zu sortieren. Seine Hände zitterten immer noch und wollten partout nicht damit aufhören. Was zur Hölle war da vorhin passiert? Und was sollte er machen, falls es noch einmal passierte? Beten, dass Misha es überlebt. Artjom krallte sich in das Lenkrad. Ihm wurde bei der Erinnerung, wie Misha leblos und blutend vor ihm gelegen hatte, ganz übel. Vor allem dass er nicht mehr geatmet hatte. So als wäre er... Wie konnte ich es überhaupt erst so weit kommen lassen? Ihm kam der Gedanke, dass er all diesen Ärger ohne Misha nicht hätte, aber das fühlte sich nicht wie ein vernünftiger Einwand, sondern wie ein störender Fremdkörper an. Artjom knirschte wütend mit den Zähnen. Er schloss die Augen und zwang sich, mehrere Male tief ein- und auszuatmen. Ich werde jetzt in diese Apotheke gehen, ein paar Sachen kaufen, nach Hause fahren und mich um Misha kümmern. Vier Dinge, ganz einfach. Ich-- Er legte den Kopf in den Nacken und seufzte. Am liebsten hätte er sich mehrere Stunden lang in eine stille Ecke zurückgezogen, um sich mit seinen Schuldgefühlen und Gedanken auseinanderzusetzen, aber dafür hatte er jetzt keine Zeit. Er musste los. Artjom prüfte, ob sein Portemonnaie dort war, wo es hingehörte – rechte Jackentasche, so wie immer – und verließ sein Auto. Sofort umhüllte ihn die eisige Kälte, die ihn leicht frösteln ließ. Es war kalt und windig und dem trostlos grauen Himmel nach zu urteilen würde sich das so schnell auch nicht ändern. Das Erste, was Artjom vernahm, als er die Apotheke betrat, war ein lautes Quietschen. Er vermutete zuerst ein sterbendes Tier, doch wie sich herausstellte, handelte es sich bloß um ein kleines Kind, das sich darüber aufregte, die „bunten Luftballons“ nicht gekauft zu kriegen. Artjom hätte beinahe geschmunzelt, würde ihm der Schock nicht immer noch in den Knochen sitzen. Das hatte der Ladenbesitzer davon, die Kondome in einem Pappaufsteller direkt neben der Kasse zu präsentieren, als wären es Süßigkeiten. Während das Kind einen Anfall kriegte und den Laden zusammenschrie, suchte Artjom das Zeug zusammen, das er brauchte. Als er alles beisammen hatte, verschwand der Schreihals mit seiner entnervten Mutter gerade zur Tür hinaus. Die junge Frau an der Kasse gab ein erleichtertes Seufzen von sich. Sie sah völlig fertig aus. „Möchten Sie das alles kaufen?“, fragte sie leicht erstaunt, als Artjom die Waren vor ihr auf die Theke ablegte, und ließ ihren Blick über die Verbände, Pflaster, Wundsalbe und anderen Sachen wandern. Unter normalen Umständen hätte Artjom jetzt eine sarkastische Antwort von sich gegeben („Nein, ich möchte es klauen“, klang doch nicht schlecht), aber momentan brachte er nicht einmal ein simples Lächeln zustande. Was auch immer die Frau über Artjoms deprimierte Miene dachte, sie behielt es für sich und begann, die Waren zu scannen. „Darf es sonst noch etwas sein?“ „Ja. Ich suche nach einem Schmerzmittel. Einem möglichst starken.“ „Kopfschmerzen, Bauchschmerzen oder--?“ Artjom lehnte sich ein Stückchen nach vorne, woraufhin die junge Frau verstummte. „Schmerzen, die jemand hat, der das ganze Zeug hier braucht.“ Sie runzelte die Stirn. „Ähm... ich hätte da etwas, aber das ist rezeptpflichtig.“ „Keine Sorge, ein Rezept habe ich“, erwiderte Artjom ruhig und holte einen Geldschein aus seinem Portemonnaie. „I-ich-ich kann das nicht anneh--“ „Nina!“, rief plötzlich eine männliche Stimme im Hintergrund. Artjom hob den Blick und sah einen nicht besonders großen, etwas älteren Mann mit Brille und Glatze aus dem Nebenraum kommen. Er huschte nach vorne zur Kasse und schubste die Frau, die ihn fast um einen ganzen Kopf überragte, leicht zur Seite. „Sie brauchen ein Schmerzmittel, werter Herr? Wie stark soll es denn sein?“ „Geben Sie mir das stärkste, das Sie haben.“ „Kommt sofort!“ Er pflückte Artjom den Geldschein aus der Hand, verschwand hinter einem Regal und kam kurz daraufhin mit zwei Packungen Tabletten wieder, die er zu den anderen Sachen auf der Theke ablegte. „Aber Chef, das können wir nicht machen!“, rief Nina erschrocken. „Wir--!“ „... können uns damit schöne Sachen kaufen“ beendete er ihren Satz und wedelte mit dem Schein vor ihrer Nase herum. „Stell dich nicht so an.“ Nina seufzte, gab auf und nannte Artjom den Preis. „Kann ich Sie vielleicht für unser Angebot der Woche begeistern?“, fügte sie hinzu und deutete leicht beschämt auf die Kondome. „Denken Sie sich nichts dabei; mein Chef will, dass ich jeden Kunden darauf aufmerksam mache.“ „Danke, aber ich habe gerade keinen Bedarf“, sagte Artjom. Er bekam eine Tüte mit seinem Einkauf in die Hand gedrückt, verabschiedete sich und verließ die Apotheke. „Wenn das jemand herauskriegt, wird der Laden dicht gemacht“, stöhnte Nina, sobald die Tür hinter Artjom ins Schloss gefallen war. „Stell dir mal vor, das wäre ein Bulle gewesen.“ „Bullen sehen nicht so aus; ich habe ein Gespür dafür“, erwiderte ihr Chef unbeeindruckt und ließ den Schein in seinem Portemonnaie verschwinden. „Außerdem--“ Die Tür ging auf und ein Mann Ende zwanzig betrat die Apotheke. Er hatte blonde Haare, grüne Augen und sah nicht gerade schlecht aus. Nina lächelte ihn freundlich an, doch der Mann schien weder an ihr noch an den Waren interessiert zu sein. „Der Mann, der gerade eben hier war – was wollte er?“, fragte er mit seiner ernst und fordernd klingenden Stimme. „Nun, was kann man in ‘ner Apotheke schon wollen?“, antwortete Ninas Chef. „Er hat eingekauft.“ „Was genau?“ „Das kann ich Ihnen nicht sagen. Schweigepflicht und so. Sie wissen schon.“ Der Mann seufzte und dachte kurz nach, während der Ladenbesitzer langsam ungeduldig wurde. „Wollen Sie etwas kaufen oder nicht?“ „Ja, Ritalin.“ „Ritalin?“ „Tun Sie nicht so, als wüssten Sie nicht, was das ist“, sagte der blonde Mann ungeduldig. „Das Zeug, was eigentlich für Leute mit ADHS bestimmt ist, aber gern von Jugendlichen als Droge missbraucht wird. Ich hätte gerne eine Packung davon.“ „Lässt sich einrichten, aber dafür müsste ich einmal Ihr Rezept sehen.“ Der Mann lächelte und fischte ein paar Scheine aus seinem Portemonnaie. „Geht diese Art von Rezept auch?“ „Aber natürlich“, antwortete Ninas Chef und rieb sich die Hände. Er war im Begriff, seine gierigen Finger nach dem Geld auszustrecken, als der blonde Mann die Scheine plötzlich zurücktat und dafür etwas anderes herausholte – nämlich seine Dienstmarke. „Scheiße, das ist ‘n Bulle.“ „Korrekt festgestellt“, sagte der Mann, dessen Lächeln schon längst erstorben war. „Hier ist der Deal: Ich vergesse das, was Sie gerade vorhatten, und dafür erzählen Sie mir, was der Mann mit den schwarzen Haaren hier wollte.“ Ninas Chef grummelte wütend, während Nina selbst vor Angst kein Wort hervorbrachte. „Hat Verbände, Wundsalbe und so ‘n Kram gekauft. Haben ihm ‘ne Ladung Morphin mitgegeben. Keine Ahnung, für was er das braucht.“ „Verletzt sah er aber nicht aus, oder?“ Nina und ihr Chef schüttelten synchron die Köpfe, woraufhin der blonde Mann erneut seufzte und wortlos die Apotheke verließ. Hier nachzufragen, hatte ihn nicht weitergebracht, aber das machte nichts. Er würde sein Ziel auch auf anderen Wegen erreichen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)