Stolen Dreams Ⅳ von Yukito ================================================================================ 20. Kapitel ----------- Misha hatte Ruhe schon immer genossen. Es gab nichts Schöneres, als wenn seine Umgebung verstummte und in den Hintergrund rückte und er scheinbar alle Zeit der Welt hatte, seinen Kopf frei zu kriegen und sich in seinen Gedanken zu verlieren. Er stand im Garten, entspannte sich langsam, atmete die kalte Luft ein. Seine nackten Füße fühlten sich schon taub an, aber das störte ihn nicht. Er seufzte und ballte seine Hände zu lockeren Fäusten; versuchte die Kraft zu spüren, die er von seinem Körper gekannt hatte, als dieser noch unversehrt war, aber anstelle des gewohnten Gefühls nahm er nur Schmerzen und das Ziehen verkrampfter Muskeln wahr. Seine dünnen Beine zitterten, ehe sie wie dünne Zweige abknickten und Misha auf seine Knie niedersank. Kurz darauf folgte der Rest und er fiel wie eine leblose Puppe zu Boden. Die dünne Schneeschicht, die sich innerhalb der letzten Stunde gebildet hatte und spätestens am Abend verschwunden sein würde, schmolz und durchnässte seine Kleidung. Misha machte sich keine Mühe, sich aufzurichten, sondern drehte sich so, dass er auf dem Rücken lag, und schloss seine braunen Augen. Er spürte, wie hauchfeine Schneeflocken auf seinem Gesicht landeten; es fühlte sich an, als würden kalte Blütenblätter auf ihn niederrieseln. Mehrere Minuten vergingen, bevor er seine müden Augen wieder öffnete. Verträumt starrte er in den schneeweißen Himmel. Das Beobachten der abertausenden Flocken hatte etwas Beruhigendes an sich. Er stellte sich vor, wie er sterben und dann vom Schnee bedeckt werden würde. Wie die ganze Umgebung unter einem weißen Schleier verschwand. Wie der Schnee erst im Frühling schmolz und von Misha dann nur noch ein Skelett übrig war. Wie Krokusse und Schneeglöckchen zwischen seinen Rippen sprießten und nichts mehr da war, das Artjom hätte brechen, schlagen, kratzen oder zerstören können. Misha spürte, wie sich Tränen in seinen Augen bildeten. Der Himmel und die unzähligen Schneeflocken verschwammen zu einem einzigen Weißton und als sie wieder scharf und erkennbar wurden, rannen kleine Wasserperlen über seine Wangenknochen. Die Spur, die sie hinterließen, war erst warm, doch wurde schnell immer kälter, bis sie ebenso kalt war wie der Rest von Mishas geschundenen Körper. Seine Haut war mittlerweile so kalt, dass sie sich taub anfühlte, aber das störte ihn nicht. Im Gegenteil – es war eine willkommene Abwechslung im Vergleich zu den Schmerzen der vergangenen Tage. „Misha? Was machst du denn da?“ Beim Hören jener Stimme hätte Misha am liebsten aufgeschrien. Sein Unterbewusstsein hatte alles, was wie Artjom aussah, roch oder klang, schon längst mit Stress und Schmerzen verbunden und bevor er es überhaupt bemerkte, spannten sich seine Muskeln an und sein Herz begann zu rasen. „Was ist passiert? Bist du ohnmächtig geworden? Was machst du überhaupt hier im Garten?“ Misha musste zugeben, dass er keine Ahnung hatte, warum er ausgerechnet im Garten lag. Nachdem er und Artjom von dem Besuch bei Sina nach Hause gekommen waren, hatte sich der Ältere ins Schlafzimmer zurückgezogen, während Mishas Beine ihn in den Garten getragen hatten, einfach so. „Ist alles okay?“ Misha antwortete nicht, sondern ließ sich wortlos von Artjom auf die Füße ziehen. Jede einzelne Bewegung, auch die, die nicht von ihm verursacht wurden, tat ihm weh. Er hätte sich am liebsten wieder hingelegt. „Mir geht‘s super“, antwortete er und machte sich vor Schmerz leise ächzend auf den Weg ins Wohnzimmer. Artjom folgte ihm und machte die Tür, die zum Garten führte, hinter sich zu. „Was hältst du davon, ins Bett zu gehen? Ich glaube, ein bisschen Ruhe würde dir guttun.“ Das Einzige, was mir guttun würde, wäre eine Fahrt ins Krankenhaus, dachte Misha, dem Artjoms fürsorglicher Tonfall tierisch auf die Nerven ging. Er verprügelte ihn regelmäßig, da war das gelegentliche Erkundigen von Mishas Wohlbefinden wirklich sinnlos. Anstatt seine Gedanken auszusprechen, nickte er nur schweigend und ging zur Treppe. „Warte“, hielt Artjom ihn zurück. „Wegen Hannah... willst du wirklich nicht zu ihr?“ „Keine Ahnung“, sagte Misha, ohne überhaupt zugehört zu haben, und taumelte nach oben. Jeder Schritt quälte ihn und erinnerte ihn daran, mit was für einem Monster er hier unter einem Dach lebte. Mit verbitterte Miene blieb Misha vor dem Bett stehen. Er zog seinen Pullover aus, der an manchen Stellen noch feucht vom Schnee war, und wollte sich gerade an seinem Gürtel zu schaffen machen, als er plötzlich im Augenwinkel etwas bemerkte. Artjom stand im Türrahmen. „Du und Hannah – in welcher Beziehung steht ihr eigentlich zueinander?“ „Ich habe dir nie von ihr erzählt. Du warst derjenige, der herausgefunden hat, dass wir uns kennen, und mich damit erpresst hat, ihr etwas anzutun.“ „Du hast meine Frage nicht beantwortet.“ „Muss ich auch gar nicht, wenn du dir diese Informationen doch einfach beschaffen kannst.“ „Dich zu fragen geht schneller. Also, seid ihr echt nur Freunde? Oder ist da mehr?“ „Wir sind echt nur Freunde. Und selbst wenn da mehr wäre – das können wir jetzt vergessen“, antwortete Misha genervt. Er hätte Artjom gerne gefragt, warum ihn das so brennend interessierte, als ihm die Antwort auf einmal selbst einfiel. Artjom suchte nach einem Anlass, Misha erneut anzugreifen. Und was würde sich dafür besser eignen als Eifersucht? „Artjom, zwischen mir und Hannah läuft nichts. Du musst wirklich nicht eifersüchtig auf sie sein.“ „Eifersüchtig?“ Das Scheusal lachte. „Glaub mir, sie ist die letzte Person, auf die ich eifersüchtig wäre.“ Misha wusste, dass er sich nicht auf die Provokation dieses Idioten einlassen durfte, aber der Frust, der sich schon seit mehreren Tagen ansammelte, ließ sich kaum bändigen. „Ein falsches Wort über meine Freundin und ich--“ Er wurde von Artjoms bellenden Lachen unterbrochen. „Was dann, hm? Was willst du dann machen?“ Misha schwieg. Er würde dann alles machen, was er gegen Artjom tun konnte. Nämlich gar nichts. „Kleiner, sag schon. Wovor muss ich mich fürchten, wenn ich deine kleine Freundin beleidige?“ „Vor gar nichts. In deiner Haut zu stecken, ist schon das Schlimmste, was jemandem widerfahren kann.“ Artjom lachte erneut auf, kam langsam auf Misha zu und verschränkte die Arme vor der Brust, als er ihn erreichte. „Mag sein, aber vertrau mir – es ist immer noch besser als ein hässlicher, kleiner Wicht zu sein, der... wie sage ich das...“ Er tat so, als würde er angestrengt nach den richtigen Worten suchen. „... nicht gerade die besten Zukunftsaussichten hat.“ So sehr es Misha auch missfiel, diese Worte trafen ihn. Er hatte schon mehrere Stunden seines Lebens damit verbracht, auf ein Wunder zu hoffen, das ihn größer, stärker, attraktiver und vor allem mutiger und selbstbewusster machen würde. Und dass Artjom Mishas missliche Lage erwähnt hatte, wäre wirklich nicht nötig gewesen. Misha gab sein Bestes, sich nicht zu etwas Unüberlegtem verleiten zu lassen, aber die Art und Weise, wie Artjom überlegen auf ihn herabsah und schmunzelte, ihn belächelte, machte ihn rasend. Bevor er sich zurückhalten konnte, hatte er bereits ausgeholt – und Artjom eine Ohrfeige verpasst. Die Rechnung ließ nicht lange auf sich warten. Er bekam genau das, was er dem Älteren gegeben hatte, nur mit einem Vielfachen der Kraft. Misha verlor das Gleichgewicht, landete mit dem Rücken auf der eckigen Bettkante und glitt dann zu Boden. Seine Wange brannte und sein Rücken fühlte sich an, als hätte ihm jemand ein Messer zwischen zwei Wirbel gerammt. Vor Schmerz winselnd und stöhnend krümmte er sich zusammen und hoffte, dass die neue Verletzung nichts Schlimmes war. Er hätte auch mit dem Hals auf der Bettkante aufkommen können; das hätte ihn locker umgebracht oder für den Rest seines Lebens in einen Rollstuhl befördert. Entweder war sich Artjom dieser Gefahr nicht bewusst oder sie interessierte ihn schlichtweg nicht. „Du kotzt mich so an“, knurrte der Russe aggressiv. „Seitdem du bei mir bist, habe ich nichts als Ärger mit dir.“ Er ballte die Hände zu Fäusten und knirschte mit den Zähnen. Während ein Teil von ihm Misha am Kragen seines T-Shirts packen und solange auf ihn einschlagen wollte, bis der Junge nicht mehr atmete, wollte ein anderer Teil von ihm Misha in den Arm nehmen und nie wieder loslassen. Er konnte es in seinen Händen fühlen. Seine Knöchel schmerzten, als würde die Wucht seiner Faust Knochen brechen lassen, und seine Fingerspitzen kribbelten, als würde er damit über weiche, von Blutergüssen verfärbte Haut streichen. Artjom bemerkte erst jetzt, wie kurz er davor war, den Verstand zu verlieren. Es fühlte sich an, als würden zwei gewaltige Kräfte an seinen Rippen zerren und ihn auseinanderreißen wollen. Er versuchte sich zu wehren, doch wusste nicht einmal, wie genau er das anstellen sollte. Heftig atmend trat er einige Schritte zurück. Sein ganzer Körper zitterte und das Gefühl, dass gleich etwas aus seinem Brustkorb ausbrechen würde, wurde immer stärker. Misha schien davon nichts mitzubekommen. Er lag immer noch auf dem Boden, wimmernd, schluchzend, verängstigt, nicht ahnend, das Artjom gleich etwas tun würde, das all seine anderen Taten in den Schatten stellte. Er ging auf Misha zu und trat ihm mit voller Wucht in den Rücken, etwa da, wo die Nieren lagen. Der Kleine schrie auf, aber das hinderte Artjom nicht daran, sich auf ihn draufzusetzen und auf seinen Oberkörper und sein Gesicht einzuschlagen. Letzteres versuchte Misha zu schützen, indem er seine Hände davor hielt, aber gegen Artjoms enorme Kraft konnte er nichts ausrichten. Artjom wusste überhaupt nicht, was gerade geschah. Er verstand, dass er erbarmungslos auf Misha einschlug und vermutlich auf dem besten Weg war, ihn von seinem Leid zu erlösen, aber diese Gewalt... kam nicht von ihm. Das war nicht er. Er veranlasste diese Bewegungen nicht, das war jemand anderes. Was... was passiert hier? Artjom stand knappe zwei Meter von Misha und der Person entfernt, die sein eineiiger Zwillingsbruder hätte sein können. Er sah, wie sie immer und immer wieder auf den armen Jungen einschlug, und wollte das natürlich verhindern, aber eine unsichtbare Wand befand sich zwischen ihm und das, was sich vor ihm abspielte. „Lass ihn in Ruhe!“, schrie er dieses... ‘‘Ding‘‘ an, das er selbst war, und hämmerte mit den Fäusten gegen die Barriere, doch es war zwecklos. Er konnte nichts anderes tun, als sich selbst dabei zu beobachten, wie er Misha immer weiter zusetzte. „HÖR AUF!“ Seine Stimme überschlug sich fast vor Panik. Er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, warum und wie er die Kontrolle über seinen Körper verloren hatte und weshalb er sich selbst sah, als wäre er ein anderer, und ob das hier alles überhaupt der Realität entsprach oder ein Albtraum der ganz üblen Sorte war. Seine Fäuste schlugen mit so einer Wucht gegen die Wand, dass er das Gefühl hatte, seine Knochen würden jeden Moment zerschmettern, aber dieser Schmerz war nichts im Vergleich zu der Machtlosigkeit, zusehen zu müssen, was mit Misha geschah. Mittlerweile hoffte er für den Jungen, dass er das Bewusstsein verlor, damit er die Qualen nicht länger ertragen musste. Obwohl er wusste, dass es keinen Sinn hatte, schrie Artjom weiter. Er flehte, drohte, bettelte, doch es brachte nichts. Sein anderes Ich konnte ihn nicht hören. Artjom hatte sich noch nie in seinem Leben so furchtbar gefühlt. Er sank auf die Knie, die Hände immer noch auf der unsichtbaren Barriere, auf der nun Blutflecken zu sehen waren. Am ganzen Leib zitternd starrte er auf den Mann, der er selbst war, und beobachtete, wie er endlich – endlich! – von Misha abließ... ... nur um ihn anschließend am Hals zu packen. „NEIN!“ Artjom konnte sich denken, was ‘‘er‘‘ vorhatte. Er schlug erneut auf die Wand ein und schrie sich die Seele aus dem Leib, aber das führte zu nichts, wie bereits erwartet. Misha war zu Artjoms Entsetzen nicht ohnmächtig geworden, sondern hatte die Tortur mit vollem Bewusstsein wahrgenommen. Als er spürte, wie sich zwei kräftige Hände um seinen Hals legten und ihm die Luftzufuhr verwehrten, versuchte er sich zu befreien, aber die Schläge und die Schmerzen hatten ihm so stark zugesetzt, dass er sich kaum bewegen konnte. Seine zierlichen Händchen konnten gegen die groben Pranken nichts ausrichten und auch seine schwächlichen Klagelaute, die Artjom nur verschwommen hörte, halfen ihm nicht aus seiner Lage. Nachdem einige Sekunden verstrichen waren, begann er stärker zu zappeln und sich unter ‘‘Artjom‘‘ zu winden, aber das Scheusal ließ sich davon nicht beeindrucken. Artjom hatte keine andere Wahl, als hilflos zuzusehen, wie Misha in seinen letzten Augenblicken vergeblich nach Luft schnappte, ehe seine Gliedmaßen plötzlich erschlafften und er reglos liegen blieb. Selbst wenn Artjom wüsste, wie er sich selbst aufhalten konnte, war es dafür jetzt zu spät. Misha atmete nicht mehr. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)