Stolen Dreams Ⅳ von Yukito ================================================================================ 12. Kapitel ----------- Roman war mitsamt seinen gierigen Händen verschwunden, aber Misha fühlte sich immer noch unwohl. Er verkroch sich in sein Zimmer, wo er eigentlich seine Ruhe haben wollte, aber Artjom folgte ihm. „Ist alles okay bei dir?“, fragte der Ältere besorgt und ergriff Mishas Handgelenk, um den Jungen vom Weglaufen abzuhalten. Der Kleine nickte bloß und schüttelte Artjoms warme Hand so hastig von sich, als hätte ein Hund die Zähne in seinem Unterarm versenkt. Er wollte alleine sein, vor Artjom flüchten und sich am liebsten auf einen anderen Planeten teleportieren, wo ihm nichts und niemand etwas anhaben konnte. „Was ist denn los?“, wunderte sich Artjom. „Hat Roman mehr getan, als dich nur angefasst, oder gibt es einen anderen Anlass, warum du so...?“ Misha schüttelte den Kopf und erstarrte zu einer Salzsäule, als der Größere erneut nach seinem Arm griff. Hätte er die Wahl zwischen dem Russen und einer Giftschlange gehabt, hätte er sich ohne zu zögern für Letztere entschieden. Artjom vermutete, dass Misha wegen Roman noch ein wenig gestresst und durcheinander war. Er drückte den Kleinen vorsichtig an sich und strich ihm beruhigend über den Rücken, aber das schien dem Jungen nicht zu gefallen. Er spannte sich an, wandte den Kopf ab und zeigte so viel Begeisterung und Zuneigung, als hätte man ihn dazu gezwungen, einen Kaktus zu umarmen. „Ich habe dich auch lieb, Kleiner“, zischte Artjom leicht genervt. „Darf ich dich daran erinnern, dass du wegen mir nicht zu Roman musst?“ Misha antwortete nicht, sondern versuchte, sich aus Artjoms Griff zu befreien. „Ich verlange doch gar nicht, dass du mir vor Glück weinend um den Hals fällst, aber ein bisschen Dankbarkeit wäre schon angebracht, oder?“ Der Kleine spürte, wie sein Puls immer schneller wurde. Kalter Angstschweiß bildete sich auf seiner Stirn, ihm war übel und seine Knie fühlten sich an, als bestünden sie aus Pudding. Wortlos ging er an Artjom vorbei, zog sich ins Badezimmer zurück, schloss sich ein und presste sich die Hand auf den Mund, um sein Schluchzen zu ersticken. Misha hatte keinen blassen Schimmer, was mit ihm los war, aber er wusste, dass dies einer der Momente war, die er auch schon öfters in der Schule erlebt hatte. Völlig egal, wie klein und unbedeutend der Auslöser war, er stieß Misha in eine Spirale aus Angst, Nervosität und Unruhe, aus der es für den Jungen kein Entkommen gab. Er steigerte sich in seine Panik herein, hatte einen Nervenzusammenbruch, weinte ein bisschen und hoffte, das der nächste Auslöser noch auf sich warten ließ. Misha konnte hören, wie Artjom auf der anderen Seite der Tür seufzte. „Ich hole dich dann später zum Abendessen, okay?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, die er sowieso nicht bekommen hätte, verließ Artjom das Zimmer. Misha wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus seinen braunen Augen und würde seine Angst am liebsten zum Mond schießen. Was würde er nicht alles dafür tun, einfach reden und handeln zu können, ohne vorher und nachher unzählige Male darüber nachdenken zu müssen, was die Menschen um ihn herum von ihm dachten... Mishas Angst war so schlimm, dass er sich erst am nächsten Morgen aus seinem Zimmer traute. Er frühstückte gemeinsam mit Artjom, der Misha weder anschaute, noch zu seinem gestrigen Verhalten ausfragte, wofür der Junge ihm sehr dankbar war, und trank ein Glas Orangensaft. „Danke, dass du mich nicht zu Roman geschickt hast“, murmelte Misha schüchtern, als er mit dem Essen fertig war, und bereute seine Worte sofort. War es richtig gewesen, Artjom auf das Thema anzusprechen, oder hätte er lieber seine Klappe halten sollen? „Wie schön, dass du erkannt hast, was ich gestern für dich getan habe“, erwiderte Artjom gelassen. „Übrigens habe ich das nicht aus reiner Nächstenliebe getan. Du weißt, wie die Sache läuft – dir bleibt Roman erspart, aber dafür bist du jetzt mein Sklave. Das heißt, du tust, was ich dir sage, und bereitest mir keine Schwierigkeiten, verstanden?“ „Ja... und du wirst mich nicht missbrauchen, nicht wahr?“ „Ich bin hier derjenige, der die Regeln macht, aber ja, vergewaltigen werde ich dich nicht. Solltest du mir allerdings nicht gehorchen, wirst du damit rechnen müssen, mehrere Tage lang nicht richtig gehen zu können.“ Als Misha verstand, was damit gemeint war, seufzte er frustriert. „Du hast gesagt, dass es dir leidtun würde. Du sagtest, du wolltest mir keine Gewalt mehr antun und noch mal von vorne anfangen. Das war gelogen, stimmt's?“ „Nein. Wir fangen auch von vorne an, aber--“ „Sagt wer?“ „Was?“ „Wer sagt, dass wir von vorne anfangen? Mein Hintern tut immer noch weh.“ „Aber ich habe mich doch entschuldigt“, antwortete Artjom in einer Stimmlage, die so klang, als würde er Misha daran erinnern müssen, dass der Tag 24 Stunden besaß, was dem Jungen den Rest gab. Er griff nach seinem leer getrunkenen Glas, hielt es von sich weg und ließ es fallen, woraufhin es auf dem gefliesten Boden aufkam und in mehrere Teile zerbrach. „Tut mir leid, Glas“, sagte er und sah auf die Scherben herab, ehe sein Blick zu Artjom wanderte. „Na so etwas aber auch... anscheinend ist es trotz meiner Entschuldigung immer noch kaputt.“ „Na so etwas aber auch“, imitierte der Ältere Mishas Ton. „Anscheinend kannst du es kaum abwarten, von mir übers Knie gelegt zu werden.“ „Wenn du es nicht lassen kannst, dann tu es doch. Von mir aus schlag mich, bis du mich ins Krankenhaus bringen musst, aber wag es nicht, mir die Schuld dafür zu geben. Es ist deine Entscheidung, die Hand gegen mich zu erheben, also auch deine Verantwortung.“ Artjom sagte zuerst nichts, sondern schob seinen Stuhl nach hinten, sodass Platz zwischen ihm und dem Tisch war. „Komm her“, befahl er und deutete auf die Stelle vor seinen Füßen. Misha seufzte. Er fragte sich, ob der Russe lernfähig war, stellte sich vor ihn und kniff die Augen zusammen, um die Ohrfeige – oder was auch immer er gleich bekommen würde – nicht kommen sehen zu müssen. Er rechnete damit, jeden Moment ein stechendes Brennen auf seiner Wange zu spüren, aber stattdessen schlangen sich plötzlich zwei kräftige Arme um seine Taille und drückten ihn gegen Artjom. Misha vergaß beinahe zu atmen. Er fühlte Artjoms Brust an seiner Stirn, die muskulösen Oberschenkel rechts und links an seiner Hüfte, die starken Hände auf seinem Rücken und das gut ertastbare Sixpack an seinen Händen, die er aus Reflex vor seinen Oberkörper gehalten hatte. „Kleiner, wirst du dich in der Anwesenheit anderer Leute respektlos gegenüber mir verhalten?“ „N-nein.“ „Wirst du mit irgendjemanden über Sachen sprechen, die Fremde nichts angehen, wie zum Beispiel die Adresse aus Viktors Brief?“ „Nein.“ „Wirst du andere Dinge tun, die unnötigen Ärger für mich bedeuten?“ „Nein.“ „Gut. Dann hast du auch nichts zu befürchten.“ Artjom küsste Misha flüchtig auf die Stirn, ehe er ihn vorsichtig von sich wegschob, vom Stuhl aufstand und in die Küche ging, wo er Charly fütterte. Der Junge stand wie angewurzelt da, doch kaum hatte er sich aus seiner Schockstarre reißen können, flüchtete er in sein Zimmer und brach lachend und weinend zugleich auf seinem Bett zusammen. Was zur Hölle war das gerade? Woher habe ich den Mut, vor Artjoms Augen ein Glas zu zerschmettern, und warum zum Geier hat er mich geküsst? Das muss der seltsamste Traum sein, den ich je hatte. Misha machte es sich auf der Matratze gemütlich und spürte, wie seine Lider immer schwerer wurden. Er wurde schläfrig, aber die Müdigkeit, die er wahrnahm, kam ihm irgendwie nicht natürlich, sondern erzwungen vor. Leicht verwirrt machte er sich ins Badezimmer auf und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, aber was sonst immer half und die Maßnahme war, die Misha normalerweise ergriff, um sich morgens aus dem Halbschlaf zu befördern, schlug fehl. Er fühlte sich immer noch müde und es wurde langsam, aber sicher schlimmer. Was ist denn jetzt los? ''Grundlose'' Übelkeit oder Kopfschmerzen kenne ich, aber Müdigkeit ist noch nie ein Symptom meiner Angst gewesen. Plötzlich erinnerte Misha sich an den Moment, in dem er die Küche betreten hatte. Sein Getränk hatte zu diesem Zeitpunkt schon auf dem Tisch gestanden und war bereits gefüllt gewesen. Misha hatte sich dabei nichts gedacht, doch jetzt wurde ihm bewusst, dass Artjom ihm möglicherweise ein Schlafmittel verabreicht haben könnte. Aber warum sollte er das tun? Misha dachte über Artjoms Beweggründe nach und erkannte, dass es nur eine einzige Möglichkeit gab. Artjom wollte ihn weggeben. Zu Roman. Deswegen hatte er ihn vorhin auch umarmt. Das war eine Verabschiedung gewesen. Und aus Angst, dass Misha etwas gegen seinen ''Weiterverkauf'' unternehmen wollen würde, hatte er den Jungen betäubt. Alles ergab auf einmal Sinn. Dieser blöde Wichser... Ich weiß, dass die Vermutung, dass ich zu Roman muss, ziemlich weit hergeholt ist, aber es gibt keinen anderen Grund, warum Artjom das tun sollte. Misha beschloss, dass er sich das nicht gefallen lassen konnte. Seine immer stärker werdende Müdigkeit ignorierend verließ er das Zimmer und machte sich in das Esszimmer auf, weil er Artjom dort zum letzten Mal gesehen hatte. Er musste jedoch nicht einmal den ersten Flur durchqueren, um den Russen zu treffen, was gewiss kein Zufall sein konnte. „Wohin des Weges, Kleiner?“ „Spar dir die Tour, Artjom!“, fauchte Misha wütend, ehe er sich zur Ruhe zwang und gefasster hinzufügte: „Warum hast du mir Schlafmittel verabreicht? Willst du mich zu Roman bringen?“ Angesprochener gab ein enttäuschtes Knurren von sich. „Ich hätte wissen müssen, dass das nur bei Charly funktioniert. Auch egal, früher oder später wirst du umkippen, völlig egal, wie stark du dagegen ankämpfst.“ „Du--!“ „Reg dich ab, wir fahren nicht zu Roman, sondern... zu einem anderen Ort.“ „Aber warum hast du--?“ „Weil ich darauf verzichten kann, dass du während der Autofahrt auf dumme Ideen kommst.“ „Aber ich werde nicht--!“ „Sorry, Kleiner, aber die meisten Dinge gelingen besser, wenn man sie selbst in die Hand nimmt.“ Misha verzog eine wütende Miene und verschränkte die Arme vor der Brust, aber Artjom konnte ihn nicht ernst nehmen. Er kniff den Jungen in die Wange und lächelte ihn an, als würde er ein niedliches Tierbaby erblicken. „Lass das!“, rief Misha außer sich vor Wut. „Hör auf, mich wie ein gottverdammtes Tier zu behandeln! Vielleicht ist dir das noch nicht aufgefallen, aber ich bin ein Mensch!“ Misha war so wütend, dass er Artjom in Stücke hätte reißen können, aber er wusste, dass er im Gegensatz zu dem Russen bloß eine kleine wehrlose Maus war, während der Ältere wie ein Fuchs vor ihm stand und sich bei der Vorstellung, sein Gegenüber für seine Bedürfnisse zu benutzen, genüsslich die Lippen leckte. Der Junge erschauerte vor Ekel und Unbehagen. Momentan hatte er keine Chance gegen Artjom, aber eines Tages würde er die Gelegenheit bekommen, dem Dunkelhaarigen all die Schmerzen heimzuzahlen. Er würde dafür sorgen, dass Artjom, Roman und die ganzen anderen Kinderschänder ins Gefängnis kamen und er mit Hannah zurück nach Deutschland kehren konnte – da war er sich sicher. „Ich hasse dich“, zischte Misha gereizt, ehe er sich von Artjom abwandte und in seinem Zimmer verschwand, wo er sich in seiner Ecke niederließ und sich fest vornahm, gegen seine Müdigkeit anzukämpfen. Dieser Pisser namens Artjom würde ihn absolut nirgendwo hinbringen. Misha war bewusst, dass er die meisten Dinge, die er sich vornahm, nicht schaffte – ein hervorragendes Beispiel dafür war der Vorsatz, besser im Volleyball zu werden – doch er wollte nicht aufgeben. Nein, ich darf nicht nachgeben. Wenn ich jetzt einschlafe, werde ich wahrscheinlich in einem dunklen Keller aufwachen... gefesselt, nackt und wehrlos vor Roman liegend, der... Misha drückte die Stirn gegen seine Knie und begann zu weinen. Wie zur Hölle sollte er sein Schicksal abwenden? Er war nichts weiter als eine erbärmliche, kleine und schwache Heulsuse, die nicht einmal genug Mut aufbringen konnte, ihrem Schwarm näherzukommen oder sich in der Anwesenheit anderer Menschen nicht wie der letzte Idiot zu verhalten. „Charly, komm zurück.“ Misha hob den Kopf und sah, wie Charly durch die Tür kam, die der Junge nicht geschlossen hatte, und sich auf seinem Schoß verkroch. Wenige Augenblicke später folgte Artjom, der leicht genervt zu sein schien. „Es reicht jetzt, Charly. Ich weiß, dass du nicht gerne in einem Auto sitzt, aber das ist mir egal. Du wirst mitkommen, genau wie Misha.“ Als wäre der Fuchs in der Lage, seinen Besitzer zu verstehen, stieß er ein wütendes Fauchen aus und kletterte auf die Schulter von Misha, der Artjom nicht minder feindseliger anstarrte als Charly es tat. „Und was willst du nun machen?“, fauchte der Junge herausfordernd. „Uns beide grün und blau schlagen, weil wir es wagen, einen eigenen Willen zu besitzen?“ „Nein, werde ich nicht. Schau dir das kleine Ding doch an; es ist mir körperlich um Welten unterlegen.“ „Redest du mit mir oder mit Charly?“ „Ich--“ Artjom brach ab, fuhr sich müde über das Gesicht und erkannte, dass der Junge recht hatte. Genau wie Charly war er dem Russen hilflos ausgeliefert und vollkommen von ihm abhängig... und mit seiner niedlichen Art machte er Charly auch Konkurrenz. „Kleiner, wir fahren nicht zu Roman“, sagte Artjom sanft und ging vor Misha in die Hocke, um dem Kleinen durch die weichen Haaren zu wuscheln, was dem Jungen jedoch nicht zu gefallen schien. „Warum sollte ich dich weggeben, wenn ich gestern noch verdeutlicht habe, dass du bei mir bleibst?“ „Weil du... dich umentschieden haben könntest“, murmelte Misha, dem es immer schwerer fiel, die Augen offen zu halten. „Eigentlich wollte ich dir nicht sagen, wo wir hinfahren, aber vielleicht ist es keine so schlechte Idee, dir ein wenig Vertrauen entgegenzubringen. Misha, wir fahren nach Moskau.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)