Stolen Dreams Ⅳ von Yukito ================================================================================ 1. Kapitel ---------- Sankt Petersburg war eine wunderschöne Stadt. Vor allem im Winter, wenn die Straßen mit feinem Puderschnee bedeckt und bunten Lichtern verziert waren, sah sie aus, als wäre sie einem Märchen entsprungen. Misha liebte diese Stadt und noch viel mehr liebte er es, seine Verwandtschaft in Russland zu besuchen. Er und seine Mutter kamen ursprünglich auch aus Russland, aber nachdem sie sich von Mishas Vater getrennt und einen neuen Mann kennengelernt hatte, der aus Deutschland stammte, war sie mit ihm und Misha in sein Heimatland gezogen. Ihr damals 3-jähriger Sohn war davon anfangs nicht gerade begeistert gewesen, aber mit der Zeit hatte er gelernt, dass er seine neuen Lebensumstände wohl oder übel akzeptieren musste, und mittlerweile sogar Gefallen daran gefunden, dass es zwei Plätze auf der Welt gab, die er sein Zuhause nennen konnte. Im Kindergarten hatte Misha ein Mädchen namens Hannah kennengelernt, das zu seiner besten Freundin geworden war. Die beiden hatten die gleiche Grundschule und das gleiche Gymnasium besucht und nun saßen sie im Mathematikunterricht der gleichen Lehrerin. „Hat das jetzt jeder verstanden?“, fragte Frau Kammer und deutete auf die Gleichung, die sie an die Tafel geschrieben und schon zwanzigmal erklärt hatte. Von der Klasse kam ein bejahendes Gemurmel, aber als die Lehrerin daraufhin eine Frage zu der Gleichung stellte, herrschte plötzlich Stille. Misha seufzte genervt. Er hatte die Aufgabe schon längst verstanden und ihre Lösung lag ihm bereits auf der Zunge, aber er traute sich nicht, den Arm zu heben und sein Wissen der Klasse mitzuteilen. Allein der Gedanke, wie ihn alle anstarren würden, ließ ihn vor Angst erschauern. „Gut, dann noch mal von vorne“, sagte Frau Kammer, ehe sie das wiederholte, was sie in dieser Stunde schon gefühlte hundert Male gesagt hatte. Die restlichen dreißig Minuten verbrachte sie mit dem Versuch, ihre Klasse ein klein wenig schlauer zu machen, doch weil niemand ihr zuhörte oder an einem Fortschritt interessiert war, scheiterte ihr Vorhaben. Als Nächstes stand Biologie auf dem Stundenplan. Obwohl die Klasse sich dafür in einen anderen Raum begeben musste und von einem anderen Lehrer unterrichtet wurde, blieb die Situation dieselbe. Einer redete und niemand hörte zu. Während der alte Sack vor der Tafel über Zellen sprach, kritzelte Misha ein paar Tiere in seinen Collegeblock und sah leicht verträumt zu Alexander, der sich unauffällig mit seinem besten Freund Felix unterhielt. Die beiden waren die beliebtesten Jungs der Klasse und bildeten ein unzertrennliches Duo, das jeder zu einem Trio machen wollte, indem er oder sie sich selbst ergänzte. Fast jedes Mädchen träumte davon, mit Alex oder Felix zusammen zu sein, und fast jeder Junge wünschte sich, mit ihnen befreundet sein. Es gab zwar auch einige Schüler, die das nicht wollten, aber die konnte man an der Hand abzählen und es war offensichtlich, dass sie die beiden nur ablehnten, weil sie neidisch waren. Alexander schien zu bemerken, dass er beobachtet wurde. Seine bernsteinfarbenen Augen huschten zu Misha, der daraufhin sofort den Blick abwandte und so tat, als müsste er sich dringend Notizen zu dem Gesagten machen. Scheiße, dachte er, als er spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Ich hasse es, wenn ich erröte. Und was soll Alex jetzt von mir denken? Dass es mir peinlich ist, wenn er mich ansieht? Oder dass ich ein Streber bin, weil ich dem Lehrer zuhöre? Oder dass--? „Misha“, zischte Hannah leise und stupste ihn vorsichtig mit dem Ellenbogen an. „Fängst du schon wieder an, dir wegen jeder Kleinigkeit einen Kopf zu machen?“ „Woher weißt du das?“, murmelte Angesprochener ertappt. „Ich kann es dir ansehen.“ Fuck, wenn sie es sehen kann, wird Alex es auch sehen können und mich für einen komischen Freak halten. Hannah seufzte. „Misha, hör auf, so verdammt sensibel zu sein. Du solltest wirklich lernen, nicht ständig auf Empfang zu sein.“ „Ich versuch's ja. Aber das ist nicht wie bei einem Computer, bei dem man eine Einstellung ändert.“ Sie holte Luft, um etwas zu erwidern, doch genau in diesem Moment drehte sich der Lehrer zu der Klasse und bat nachdrücklich um Ruhe. So eine lockere Zurechtweisung war eigentlich nichts, dem die Schüler Folge leisten würden, aber der alte Sack war dafür bekannt, dass er in besonders lauten und ungehorsamen Klassen gerne mit Extrahausaufgaben um sich schmiss, und niemand wollte derjenige sein, der seinen Klassenkameraden unnötige Arbeit bescherte, weshalb augenblicklich Ruhe herrschte. Erleichtert, dass das Gespräch mit Hannah somit beendet war, fügte Misha ein paar Tiere zu seiner Sammlung im Collegeblock hinzu, sah anschließend zur Uhr und stellte entgeistert fest, dass seit Beginn der Stunde gerade mal sieben Minuten vergangen waren. Es fühlt sich aber wie mehrere Stunden an. Verstohlen schaute er erneut zu Alexander, der gedankenverloren eine Spinne betrachtete, die über die Wand krabbelte. Als sie in seine Reichweite kam, ergriff er sie vorsichtig und hielt sie in die Richtung von Lena, die in der Reihe vor ihm saß. „Guck mal, ich habe ein Pokémon gefangen.“ Angesprochene drehte sich zu ihm herum und blickte auf seine ausgestreckte Hand. Kaum hatte sie das kleine Tier als Spinne identifiziert, gab sie einen grellen Schrei von sich und sprang von ihrem Platz auf, wobei ihr Stuhl laut scheppernd umkippte. „Was ist denn nun schon wieder?“, fragte der Lehrer und drehte sich zu Lena um. Während sie und Alex sich darüber stritten, wer die Schuld an der Störung des Unterrichts trug, nutzte Misha die Gelegenheit, um Alexander zu bewundern. Ihn die ganze Zeit anzustarren, wäre sicherlich auffällig gewesen, aber wenn alle Augenpaare auf ihn gerichtet waren, fiel niemanden auf, dass Alex von Misha verehrt wurde. Letzterer hätte stundenlang die schönen Augen seines Klassenkameraden betrachten können... oder seine sportliche Figur, seine weich aussehenden Haare, sein perfekt geformtes Profil, seine attraktive Frisur, sein--“ „Wie kann man nur so verdammt nervig sein?“, riss Hannah ihren Freund aus dessen Tagträumen. „Wenn ich eine Spinne sehe, schreie ich doch auch nicht gleich herum.“ „Uh-hm“, murmelte Misha zustimmend, ehe er seine braunen Augen von dem Gott in Menschengestalt abwandte und stattdessen auf seinen Collegeblock sah. Er musste zugeben, dass er sich in Alexander verliebt hatte, aber er würde nicht einmal im Traum genug Mut aufbringen, um seinem Schwarm näherzukommen. Alex wusste wahrscheinlich nicht einmal von Mishas Existenz und das war auch gut so, denn Misha würde vor Nervosität tot umfallen, wenn Alex ihn ansprechen würde. Nachdem der anstrengende Biologieunterricht überstanden war, ging Misha gemeinsam mit den anderen Jungs seiner Klasse zur Umkleide, um sich für den Sportunterricht umzuziehen. Das zu tun, kostete ihn eine Menge Überwindung, weil er Sport über alles hasste. Mathematik und Naturwissenschaften fand er leicht, aber in Sport war er eine absolute Niete. „Ziehst du dich nicht um?“, vernahm Misha plötzlich Alex' angenehm klingende Stimme. Zuerst dachte er, dass er ihn angesprochen hatte, und kalter Angstschweiß bildete sich auf seiner Stirn, aber als er sich zu dem Größeren umdrehte, stellte er erleichtert fest, dass Alexander nicht mit ihm, sondern mit Riley geredet hatte. Riley war ein vergleichsweise kleiner Junge, der aus Amerika kam, nur selten sprach und noch seltener lächelte. Meistens saß er schweigend irgendwo am Rande und wurde – genau wie Misha – von niemanden beachtet. Letzterer hatte damit kein Problem, weil er es hasste, die Aufmerksamkeit anderer Menschen zu kriegen, aber Riley sah nicht besonders glücklich aus. Misha wusste allerdings nicht, ob das an mangelnder Aufmerksamkeit oder an etwas ganz Anderem lag, und er war zu schüchtern, um nachzufragen. „Nein“, murmelte Riley, ohne Alex dabei anzusehen. „Ich habe meine Sportzeug vergessen.“ „Davon abgesehen, dass es ''mein Sportzeug'' heißt, ist das jetzt schon das dritte Mal in Folge, dass du es vergessen hast“, erwiderte Alexander. „Sei mal ehrlich, warum drückst du dich vor Sport?“ Riley antwortete nichts, sondern schnappte sich seine Tasche und verließ die Umkleide. Alex sah ihm irritiert hinterher und schüttelte verständnislos den Kopf. Der Sportunterricht fand heute draußen statt. Zuerst übte der Lehrer mit seinen Schülern das Speerwerfen, das so wie immer ablief: Misha schaffte es nicht einmal, den Speer mit der Spitze nach unten im Boden zu versenken, ein paar Jungs beschwerten sich, dass die Mädchen für die gleiche Entfernung bessere Noten bekamen, und Alex warf seinen Speer über das Maßband hinaus und traf die Büsche, die am Rand des Sportplatzes wuchsen. Die Eins war ihm sicher. Nachdem der Lehrer sich Notizen zu der Leistung seiner Schüler gemacht und Riley ausgeschimpft hatte, weil dieser mal wieder ohne Sportzeug erschienen war, verkündete er den nächsten Programmpunkt, den Misha bereits befürchtet hatte. Volleyball. Oh Gott, ich hasse dieses Spiel. Volleyball gehört verboten. Mishas Groll gegen das ansonsten sehr beliebte Spiel hing mit der Tatsache zusammen, dass er immer als Letzter gewählt wurde. Niemand wollte ihn in seinem Team haben, weil er weder hoch springen noch gut mit dem Ball umgehen konnte und generell total unsportlich war. Wie der Zufall es wollte, landete Misha in Alex' Team. Er gab sich Mühe und versuchte sein Bestes, aber obwohl er den Ball sogar einige Male traf, was für seine Verhältnisse eine Meisterleistung war, kam er sich wie eine deprimierende Enttäuschung vor. Er behinderte Alex und traute sich nicht einmal, ihm ins Gesicht zu sehen, aus Angst, dass er Abneigung in diesen wundervollen bernsteinfarbenen Augen erkennen würde. Als der Lehrer endlich mit einem Pfiff das Ende des Spieles verkündete, hätte Misha am liebsten jemanden vor Freude umarmt und sich anschließend in einer Ecke verkrochen, wo ihn niemand finden konnte. So unauffällig wie möglich zog er sich um und flüchtete dann zu Hannah, die in der Pausenhalle auf ihn wartete. Hannah war seine beste Freundin und die einzige Person, bei der Misha richtig aufgehen konnte. Wenn er mit ihr sprach, plagten ihn weder Angst noch Scham und er fühlte sich einfach nur frei und glücklich. Viele dachten, dass Misha und Hannah ein Paar wären, aber das stimmte nicht. Die beiden waren sich bloß sehr ähnlich; sie standen nicht gerne im Mittelpunkt, lehnten Partys und Menschenmassen ab und waren die ruhigen, aber schlauen Schüler, die von den vorlauten Idioten in ihrer Klasse oft als Streber bezeichnet wurden. Misha war mit seiner Situation zufrieden, aber nicht selten wünschte er sich, etwas mehr Selbstbewusstsein zu besitzen. Dann würde er sich am Unterricht beteiligen, sich mehr trauen und auch Alexander kennenlernen können. Auch wenn viele davon ausgingen, dass Misha dumm sei, weil er sich nie meldete, wusste er, dass das nicht der Wahrheit entsprach. Er war intelligent, selbstständig und nicht weniger wert als andere Menschen, nur mit dem Selbstbewusstsein haderte es eben noch ein bisschen. „Hast du deine Geschichtshausaufgaben gemacht?“, fragte Hannah, als sie sich neben ihren besten Freund in den Klassenraum setzte. Misha nickte und beobachtete, wie die Lehrerin mit dem Unterricht begann und ihre Schüler bat, die Bücher auf Seite 52 aufzuschlagen. Die Jugendlichen taten, was von ihnen verlangt wurde, und erblickten das Gemälde von einem König in einem Gewand, das vielmehr an ein billiges Kleid als an ein elegantes Kleidungsstück erinnerte. „Sieht der schwul aus“, kommentierte Alex das Bild, woraufhin die Klasse leise zu kichern begann. Eigentlich fand Misha Alexanders Humor lustig, aber diesmal musste er nicht lächeln. Bin ich nicht auch schwul, weil ich mich in einen Jungen verliebt habe? Nein, bestimmt nicht. Alex ist eine Ausnahme; normalerweise stehe ich auf Mädchen. Ja, so ist es. Wenig später sollten sich die Schüler in Gruppen einteilen, um eine Aufgabe zu bearbeiten, und Misha musste ein weiteres Mal feststellen, dass heute nicht sein Tag war. Zuerst hatte er Volleyball spielen müssen und nun kam er auch noch mit Felix und Alexander in eine Gruppe. Glücklicherweise war Hannah auch noch dabei, denn sonst wäre Misha wahrscheinlich ohnmächtig vom Stuhl gekippt. Das Bearbeiten der Aufgabe verlief erstaunlich gut. Hannah übernahm für Misha das Reden, der vor Nervosität kein Wort zustande brachte und sich stattdessen mit Nicken oder Kopfschütteln verständigte. Während sie gemeinsam den Text im Buch lasen, konnte Misha sich kaum auf die einzelnen Sätze konzentrieren und musste sich selbst zur Ruhe zwingen, was einfacher gesagt als getan war. Es ist so ruhig – verdächtig ruhig – gleich wird etwas Schlimmes passieren. Bestimmt fällt mir der Stift aus der Hand und dann wird Alex mich für einen tolpatschigen Idioten halten... Er konnte das aufgeregte Schlagen seines Herzens am ganzen Körper spüren und fühlte, wie seine Handflächen zu schwitzen begannen. Am liebsten wäre er aus dem Raum gesprintet und ganz weit weggerannt, aber das wäre mehr als nur auffällig gewesen. „Ihr seid ja schon ziemlich weit gekommen“, wurde Mishas Gruppe gelobt, als die Lehrerin an seinem Tisch vorbeikam. „Möchtet ihr eure Ergebnisse gleich vorstellen?“ Ihm wäre bei diesen Worten fast das Herz stehen geblieben. Er sollte vorstellen? Vor der ganzen Klasse?! Bevor Misha sich einen Grund ausdenken konnte, warum die Lehrerin lieber eine andere Gruppe auswählen sollte, bejahte Felix die Frage und bekam von der Lehrerin eine Folie und einen Folienstift gereicht. „Wer möchte schreiben?“, fragte er, woraufhin Misha so schnell seine Hand hob, als würde sein Leben davon abhängen. Er wusste, dass er gerade so wirkte, als wäre er stumm, aber das war ihm lieber, als irgendwelche unverständlichen Sätze zu stottern und komisch angeguckt zu werden. Die Präsentation war ziemlich gut, was aber größtenteils daran lag, dass sie von Alex und Felix gehalten wurde. Misha und Hannah saßen währenddessen an ihrem Tisch und waren heilfroh, nicht vorne am Pult stehen zu müssen. Nachdem die Präsentation gehalten und die restliche Unterrichtszeit mit Einzel- und Partnerarbeit verbracht worden war, wollte die Lehrerin die Hausaufgaben verkünden, doch Alexander ließ sie nicht einmal zu Wort kommen. „Ihnen ist schon klar, dass die niemand machen wird, oder?“ „Echt?“, fragte sie irritiert. „Warum denn nicht?“ „Vielleicht weil wir nächste Woche in Russland sind?“ „Wirklich? Das wusste ich gar nicht...“ Alex und Felix warfen sich gegenseitig vielsagende Blicke zu, ehe ein Mädchen aus der mittleren Reihe sich schließlich dazu bereit erklärte, ihre Lehrerin über die Klassenfahrt aufzuklären. Nach dem Geschichtsunterricht mussten die Schüler nur noch eine Stunde Physik hinter sich bringen. Diese fing schon super an, denn der Lehrer teilte den Test aus, der letzte Woche geschrieben worden war. „Hätten Sie uns den nicht nach der Klassenfahrt zurückgeben können?“, beschwerte sich Lena und schaute abwertend auf das Blatt Papier, das sie sofort in ihrem Collegeblock verschwinden ließ. „Nein“, antwortete der Lehrer. „Ich wollte euch ein kleines Andenken mitgeben.“ Als er bei Mishas Tisch vorbeikam, überreichte er ihm seinen Test, welcher der beste der ganzen Klasse war, und sagte: „Ich möchte nach dem Unterricht kurz mit dir sprechen.“ Alle anderen Schüler waren augenblicklich still und sahen zu Misha, dem das Herz in die Hose rutschte. Er wollte seinen Test so schnell wie möglich in seiner Tasche verschwinden lassen, aber da hatte Sven bereits einen Blick auf die Note geworfen. „Du hast eine Eins?“, fragte er erstaunt. „Nein, ich tu nur so“, erwiderte Misha viel schnippischer, als es eigentlich hatte klingen sollen. Er wollte doch nur seine Ruhe haben und von niemanden angesprochen werden... „Aber wenn du den Stoff kannst, warum meldest du dich dann nie?“, hakte Sven nach. „Oder hast du bei jemanden abgeschrieben?“ „N-nein, ich--“ „Ruhe!“, mischte sich der Lehrer ein, wofür Misha ihm unglaublich dankbar war. „Holt eure Unterlagen hinaus und packt den Test weg oder wir schreiben hier und jetzt den nächsten!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)