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Luciana Bradley und die Sammlungen der Väter

von

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Auf den letzten Drücker

Auf den letzten Drücker

 

„12:59:43“ Luciana stand mit verschränkten Armen vor dem Labortisch von Doktor Xander, der mit Doppelschichtschutzhandschuhen in zwei Löchern eines Panzerglaskastens mit Pipetten herumhantierte und damit unaufhörlich neonfarbene Flüssigkeiten auf die Blaue Mauritius träufelte. Natürlich hatte Gabriel ihr die verdammte Aufgabe zukommen lassen, den Herrschaften aus der Magieforschungsabteilung die Briefmarke abzuschwatzen, obwohl jeder einzelne Mitarbeiter in diesem Labor sehr genau darüber in Kenntnis gesetzt worden war, dass die Experimentierperiode von genau sieben Tagen vor beinahe exakt einer Stunde beendet gewesen war. Was selbstverständlich keinen der hier Anwesenden davon abgehalten hatte, mal eben noch eine weitere Testphase einzuleiten.

     „Dreizehn Uhr, Doktor Xander, ich muss Sie jetzt wirklich bitten mir die –„

     BUUUUUMMMMMM

     Luciana machte einen mächtigen Hechtsprung rückwärts und rasselte zielgenau mit dem Kreuz gegen die Tischkante des nächsten Labortischs – Xander hatte sich, trotz der Explosion in dem Glaskasten, keinen Zentimeter vom Fleck bewegt und blickte nun entrüstet auf das kleine Stück Papier zwischen seinen Händen (insofern diese noch vorhanden waren, die dicken Handschuhe versperrten ihr jegliche Sicht, um den Zustand seiner Gliedmaßen bewerten zu können), welches nicht einmal einen winzigen Knick abbekommen hatte.

     „Versuch zweihundertfünfunddreißig führte zu keiner strukturellen Veränderung, Masse gleichbleibend, Radiokarbonmessung zeigt keine messbare Abweichung“, ratterte ein kleiner, dunkelblonder Mann rechts neben ihr herunter und notierte in rasanter Geschwindigkeit eine Menge Zahlen auf seinem Klemmbrett, dabei schaute er unaufhörlich von einem der drei Bildschirme vor sich zum anderen.

     „Dreizehn Uhr zwei, Doktor Xander, ich habe Ihnen nun schon mehrfach gesagt, dass die Übergabe um Punkt ein Uhr angesetzt ist, jetzt rücken Sie endlich die verdammte Briefmarke raus!“

     Mit ausgestreckter Hand und sehr genervtem Blick, stellte sie sich direkt vor den Glasbehälter, gegenüber des Doktors, der ganz offensichtlich weiterhin seinen Kurs durchzog, ihre Anwesenheit schlicht und ergreifend zu ignorieren.

     „Soll ich den Kasten selbst öffnen oder gleich meinen Paten holen?“

     Das schien Wirkung zu zeigen, denn Xander zog seufzend beide Hände aus den Handschuhen (die mit dem Glaskasten fest verbunden waren – erstaunlicherweise hatten seine Hände keinen sichtbaren Schaden abbekommen) und drückte dann einen roten Knopf an der Tischleiste, der einen sekundenlangen Dampfausstoß im Innern der Glaskammer auslöste. Als sich der Nebel gelegt hatte, bedeutete er seinem Assistenten den Sicherheitscode freizugeben und nachdem dieser eine ganze Weile auf einer Tatstatur eingetippt hatte, schwang die obere Glasklappe mit einem deutlich hörbaren Klickgeräusch auf. Luciana war drauf und dran in den Behälter zu greifen, da versperrten ihr Xanders Altersflecken überzogene Griffel den Weg.

     „Wenn wir nur noch weitere vierundzwanzig Stunden Aufschub bekommen könnten – Doktor Hamilton aus der Tränkeabteilung hat eine wirklich vielversprechende Theorie über -„

     „Nein!“, unterbrach sie ihn bestimmt und manövrierte ihre Finger in die Lücke zwischen seine Hände. Mit einer schnellen Bewegung schnappte sie nach der Mauritius - der Doktor sah plötzlich aus wie ein dreijähriger Bengel, dem sie den Lolly direkt aus dem Mund geklaut hatte.

     „Aber –„

     „Einen schönen Tag noch.“ Luciana beeilte sich Laborraum drei zu verlassen und über den elend langen Flur zum Fahrstuhl zu kommen. Den Affenzahn legte sie dabei nicht nur auf, weil ihre Armbanduhr schon dreizehn Uhr fünf anzeigte … diesen Übernerds das Forschungsobjekt zu entreißen, auf das einige, laut Aussage ihres Paten, schon ein Leben lang gewartet hatten (erstens schienen Horkruxe weniger häufig vorzukommen, zweitens konnte ‚ein Leben lang‘ bei einigen in der Magieforschung gut und gerne mehrere Jahrhunderte bedeuten), könnte diese Fanatiker auf die abwegigsten Ideen bringen und bevor sie hinterrücks zu Boden getackelt werden konnte, zog sie es vor, auf dem schnellsten Weg den größtmöglichen Abstand zu gewinnen. Am besten gleich das Land verlassen, was gerade praktischerweise sowieso als nächstes auf dem Plan stand.

     Als die Fahrstuhltüren zu glitten, sackten ihre Schultern ein ganzes Stück herab und ihre gesamte Haltung entspannte sich sichtlich. Es verhielt sich ja nicht so, dass sie in den letzten beiden Ordenssitzungen dieser Woche, die nach der Auktion stattgefunden hatten, von Vorwürfen der meisten Mitglieder bombardiert worden war, weil sie es nicht bewerkstelligt hatte, ihren Paten von der Idee abzubringen, den Horkrux auf eigene Faust zu zerstören (oder es zumindest zu versuchen) – dabei hatte sie es sogar geschafft, ihn davon abzuhalten, aus den angedachten sieben Tagen Testphase einen ganzen Monat zu machen. Hätten Dumbledore und Co. auch nur eine Minute dieser Gespräche selbst führen müssen, hätten sie sich jeglichen schnippischen Kommentar dahin gesteckt, wo keine Sonne mehr scheint. Erstaunlicherweise hatte eigentlich nur Snape seinen Rand gehalten und war, zur Krönung der Nettigkeit, sogar einmal für sie in die Bresche gesprungen, als Black einen ganz besonders fiesen Spruch in ihre Richtung geschossen hatte – obwohl, wahrscheinlich hatte er nur die Gelegenheit beim Schopfe gepackt, mit seinem Lieblingserzfeind eine Runde Zickenwalzer zu tanzen.

     Seufzend ließ Luciana die kleine Briefmarke in ihre Jeanstasche gleiten, lehnte sich gegen die Metallkabine und wartete ungeduldig, bis der Fahrstuhl endlich sein Ziel erreichen würde – dabei fühlte sie plötzlich, wie ihr Bein ein Stück absackte. Das winzige Stück Papier in ihrer Tasche musste deutlich weniger als ein Gramm auf die Waage bringen und trotzdem hätte sie schwören können, in diesem Moment einen Backstein am Schenkel hängen zu haben. Dazu ging von der Stelle, an der der Horkrux liegen musste, eine starke Wärme aus – waren doch nicht alle Chemikalien bei der Dekontamination entfernt worden? Oder hatte das rein gar nichts mit irgendwelchen Experimenten zu tun und die Hitze war eine der Eigenschaften eines Horkruxes? War dieses Gefühl ähnlich dem, ein Dunkles Mal zu tragen, wurde es heiß oder schmerzte es nur?

     Gleich in der Nacht nach der Auktion hatte Luciana keinen Schlaf finden können, ganz egal wie oft und lange sie sich hin und her gewälzt hatte. Und als selbst drei volle Kapitel aus Geschichte der Zauberei nicht den gewünschten Müdigkeitseffekt gebracht hatten, hatte sie sich auf den Weg hinunter in die Krankenstation gemacht, in der Sir Rennoc noch immer sein Krankenbett hüten musste. Doch dieser hatte Abstand davon genommen, ihr Auskunft darüber zu erteilen, wem seiner Meinung nach Severus Snapes Loyalität galt. Wie üblich hatte er es vorgezogen, ihr den Rat zu geben, sich selbst eine Meinung darüber zu bilden, ohne Einfluss von den Urteilen anderer Personen.

     Aber ganz umsonst hatte sie nicht den Weg angetreten, denn Rennoc hatte ihr ein paar sehr interessante Dinge über das Dunkle Mal erzählt, das Markenzeichen von dem Schwarzen Führer. Luciana hatte davon bisher nur aus dem Tagespropheten und der Zaubereigeschichte der Neuzeit lesen können und selbst da wurde es nur beiläufig erwähnt, da die Zaubererwelt offenbar sehr genau wusste, wovon die Rede war. Dabei hatte sie es nur einmal selbst zu Gesicht bekommen – am Abend des kleinen Marihuana-Keks-Debakels, auf dem linken Unterarm von Professor Snape, in Form eines Tattoos. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie noch keine Ahnung gehabt, mit was für einem Zeichen er sich auf Lebzeiten hatte brandmarken lassen.

     Nach dem Sturz von Voldemort, der das Ende des ersten Kriegs zur Folge gehabt hatte, war laut Rennoc das Tattoo ähnliche Gebilde auf den Armen seiner engsten Vertrauten verschwunden, was das Zaubereiministerium vor die unmögliche Aufgabe gestellt hatte, wirkliche Kriegsverbrecher von denen zu unterscheiden, die behauptet hatten, entweder unter einem Imperius-Fluch gestanden oder durch Erpressung für Voldemort gearbeitet zu haben. Das Dunkle Mal tauchte erst Jahre später wieder auf der Haut der noch übrig gebliebenen Todesser auf, erst kaum erkennbar, gleich einer feinen Narbe, mittlerweile wieder wie frisch gestochen. Dabei hatte es nicht nur eine Kennungsfunktion – laut Rennoc war Voldemort in der Lage über das Mal Treffen einzuberufen und manchmal, wenn er wirklich, wirklich wütend war, konnte er darüber sogar ein schmerzendes Brennen aussenden. Ein faszinierendes Stück Magie, wie er gesagt und dem noch hinzugefügt hatte, dass es sich bei dem Schwarzen Führer zweifelsohne um einen sehr begabten und intelligenten Zauberer handelte.

     Was wieder die Frage in ihr aufkommen ließ, was Snapes wahre Absichten waren, den Orden, den ‚Dunklen Lord‘ und letztendlich auch sie selbst betreffend. Er schien genügend Verachtung für seine Mitmenschen aufbringen zu können, um ausreichend Energie zu haben, diese jahrelange Scharade aufrecht zu erhalten, die Antipathie gegenüber dem gesamten Haus Gryffindor gaben einen Vorgeschmack auf sein Potential, eine bestimmte Gruppierung pauschalisierend abzustempeln und verhielt es sich nicht so, dass sie ihn von Voldemort ausschließlich als ‚der Dunkle Lord‘ hatte sprechen hören? Gehörte nicht eine ordentliche Portion Respekt oder sogar Hochachtung dazu, nicht ein einziges Mal von diesem Titel abweichen zu können, selbst wenn er in Gesellschaft einer ganzen Horde Widerstandskämpfer gegen genau jenen Lord war? Was bewegte einen jungen Mann dazu, sich einer Bewegung anzuschließen, die die Ideologie vertrat, die einzig wahre Krönung der Schöpfung zu sein und sich einen Spaß daraus machte, die Lebewesen um sie herum zu quälen, die es ihrer Meinung nach nicht wert waren, dieselbe Luft mit ihnen Atmen zu dürfen, mit dem Ziel alles zu unterwerfen, was nicht den Mindestanforderungen eines reinen Zauberer-Stammbaums vorweisen konnte?

     Was, wenn Gabriel mit seiner Befürchtung richtig lag und Snape an seinen Lord Informationen „Miss Bradley“ weitergab? Wie weit war sie dann von der Schlussfolgerung entfernt, dass ihre, höchst komplizierte Beziehung zu ihm, nichts weiter als ein besonders niederträchtiger Versuch seinerseits war, ihr Vertrauen zu gewinnen, um den Standort der UOWV herauszubekommen oder andere wichtige Details, die sie wusste oder beides? Das ergab Sinn, wieso sollte er sich sonst auf eine siebzehnjährige Schulgöre einlassen „Miss Bradley“, die ihm bisher nichts als Ärger und Blamage eingebracht hatte, keinen lupenreinen Familienstammbaum vorlegen konnte und die er nicht einmal mochte? Es war nur logisch, dass er beim letzten Mal das Weite gesucht hatte, bevor er sich mit der Person am Morgen auseinandersetzen musste, die er widerwillig und zum Mittel „Miss-„ des Zwecks bestiegen hatte – Und wie abwegig war die Annahme, dass das Scheusal aus der Nokturngasse sie gar nicht zufällig zweimal in Folge überfallen hatte? Snape war sicher in der Position, die Anhänger Voldemorts zu befehligen und was gab es Besseres, um das Vertrauen einer Person zu erlangen, als dieser den Retter in der Not vorzugaukeln? War er von Beginn an auf sie angesetzt worden, seitdem er erfahren hatte, dass sie nach Hogwarts kommen würde? Wie schwierig war es, herauszubekommen wer ihr Pate war, diese Information musste er erhalten haben, gleich nachdem ihre Aufnahme an der Schule besprochen worden war … Der Horkrux war überhaupt nicht sicher bei Dumbledore, der alte Kauz vertraute Snape blind, ihm fehlte der Durchblick, er hatte sich täuschen lassen und somit wäre es bestimmt besser, wenn sie selbst –

     „Luciana!“

     Ein Paar schwarze Augen erschien in ihrem Sichtfeld, an ihrer Schulter spürte sie eine Hand, die sie leicht schüttelte. Wie zum Teufel war sie in die Küche des Grimmauldplatz gekommen?! Und warum starrte sie Snape mit diesem seltsamen Blick an? Korrektur, da Luciana gerade ihre Umgebung inspizierte – Dumbledore, der schräg hinter dem Professor stand, beäugte sie ähnlich komisch, genau wie Professor McGonagall, Doge und Mrs Weasley.

     „Geben Sie mir die Briefmarke, Miss Bradley“, sagte Snape ruhig, aber bestimmt, ganz als würde er behutsam auf ein scheues Tier einreden. In diesem Augenblick lief ein Schweißtropfen ihre Stirn herunter, ihr beschleunigter Atem ging stoßweise, ihr Puls raste, ihre Finger bebten und hielten dabei die Blaue Mauritius im Klammergriff. Mit einer blitzschnellen Bewegung schob sie Snape diese Ausgeburt der sieben Höllenkreise entgegen, der sie, ohne eine Sekunde zu zögern, entgegennahm und an Dumbledore weiterreichte.

     „Was für ein abgefuckter Scheißtripp“, murmelte sie und griff beim nächsten Wimpernschlag nach ihrer Zigarettenschachtel.

 

*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*

 

„Oh und ich muss noch einmal zurück und meine Koffer holen, ich habe für heute Abend ein Zimmer im Tropfenden Kessel reserviert, dann wird es morgen früh nicht wieder so stressig mit Gabriel – Johnny hat eh keine Zeit, meinte er.“

     Mrs Weasley stellte Luciana einen Teller heiße Kartoffelsuppe vor die Nase und legte ein paar Scheiben gerösteten Toast daneben. Nach zwei Zigaretten und einer Tasse Kamillentee hatte sich Lucianas Zustand wieder halbwegs normalisiert - was auch immer in der halben Stunde geschehen sein mochte, in der sie in den Fahrstuhl getreten war, bis zu dem Moment in der Küche des Grimmauldplatzes.

     „Kindchen, du hast deine Koffer schon im Kaminzimmer abgestellt, als du angekommen bist“, bemerkte Mrs Weasley vorsichtig und nahm ihr gegenüber Platz. „Bist du sicher, das alles wieder beim Alten ist?“

     „Faszinierend – also wenn man nervige Arbeiten erledigt und nicht mal was davon mitbekommt, sollte ich Professor Dumbledore die Mauritius mal öfter abschwatzen.“ Dafür kassierte sie einen sehr scharfen Blick. „Sorry, das war unangebracht.“

     Mrs Weasley ließ einen langgezogenen Seufzer hören und wischte nachdenklich die Hände an ihrer Schürze ab.

     „Und du kannst dich an gar nichts erinnern?“

     Luciana schüttelte den Kopf und schob sich einen Löffel Kartoffelsuppe in den Mund – die selbstverständlich köstlich war, alles was diese Frau bisher fabriziert hatte, konnte mit jedem Gericht in einem ihrer Lieblingsrestaurants mithalten.

     „Ich habe die Briefmarke abgeholt, bin dann in den Aufzug und im nächsten Moment stand ich hier in der Küche. Okay, vielleicht war ich etwas in Gedanken, aber das erklärt keinen Blackout von einer halben Stunde … wobei –„

     „Wobei?“, hakte Mrs Weasley nach und Luciana ließ den Löffel sinken. Sie waren allein in der Küche, die anderen hatten den Grimmauldplatz verlassen, sobald die Übergabe stattgefunden und sie ihnen mehrfach versichert hatte, dass es ihr gut ging. Und bei der Dame vor ihrer Nase war es ihr weniger unangenehm offen zu sprechen, als bei einigen anderen Personen, die vor ein paar Minuten noch anwesend gewesen waren.

     „Am Anfang habe ich einfach ein wenig gegrübelt, aber dann – ich weiß nicht, es ist schwer zu beschreiben …“

     „Du hattest das Gefühl, die Gedanken in deinem Kopf sind nicht deine eigenen?“ Darauf konnte sie Mrs Weasley nur verblüfft ansehen und leicht nicken. „Ja, meine Jüngste, Ginny, hat in ihrem ersten Jahr auf Hogwarts eine sehr … schlimme Erfahrung mit einem Gegenstand von du-weißt-schon-wem gemacht.“ Mrs Weasley schluckte; es schien ihr sehr schwer zu fallen, über diese Angelegenheit zu reden. „Sie spricht kaum darüber, aber so hat sie es beschrieben.“

     „Ich habe es erst gar nicht bemerkt“, begann Luciana nach einem Moment der Stille. „Irgendwann wurde das Zeugs in meinem Kopf immer konfuser.“ Was nicht unlogisch bedeutete, das war ihr sehr wohl bewusst. Aber sobald ihr Snape die Mauritius abgenommen hatte, wirkten alle paranoiden Ideen, die sie noch vor ein paar Sekunden gehabt hatte, abwegiger denn je. Natürlich war sie in der Nacht nach der Auktion zu Sir Rennoc gegangen, um ihn nach seiner Meinung zu fragen, letztendlich wäre es allerdings gleich gewesen, hätte er ihr mit allen Mitteln versucht begreiflich zu machen, dass Snape auf der Seite des Schwarzen Führers stehen würde – sie hätte ihm sowieso nicht geglaubt. Sie hatte mehr im Sinn gehabt, sich mit einer Person austauschen zu können, die Snape nicht wie die Pest hasste und hatte letztendlich mehr Informationen bekommen, als ihr lieb gewesen waren. Das einzige, was ihr die letzte Stunde wirklich an Erkenntnis gebracht hatte, war ein kleiner Vorgeschmack darauf, wie gefährlich dieser Schwarze Führer wirklich sein musste und wie weit seine Macht über seinen Tellerrand hinausgehen konnte.

     „Meinen Sie Professor Dumbledore wird mit dem Horkrux fertig?“

     Mrs Weasley setzte ein aufmunterndes Lächeln auf und erhob sich wieder von ihrem Platz, um gleich ein paar Tassen auf dem Tisch einzusammeln (die Frau konnte keine fünf Minuten still sitzen bleiben).

     „Da mach dir mal keine Sorgen. Dumbledore ist der mächtigste Zauberer dieser Zeit und wird einen Weg finden, ganz bestimmt.“

     Luciana schnappte wortlos nach einem Stück Brot und kaute gedankenverloren auf der etwas harten Kruste herum – sie fragte sich, was der Horkrux wohl in dem alten Mann wachrufen würde.

 

*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*

 

Nach dem Mittagessen verabschiedete sie sich von Remus (und Black, der in letzter Zeit zu so etwas wie dem Schatten des Werwolfs mutiert war), lehnte das dritte Mal in Folge Mrs Weasleys Angebot ab, die Nacht im Grimmauldplatz zu verbringen, um am nächsten Morgen gemeinsam mit den anderen zum King’s Cross Bahnhof zu fahren (der Vorschlag hatte beinhaltet im Mädchenzimmer zu schlafen, ergo bei Ginevra und Granger - danke, aber nein danke) und verließ mit ihren zwei Koffern und dem leeren Vogelkäfig das Hauptquartier des Phönixordens.

     Die Besorgungen in der Winkelgasse hatte sie nun bis auf den allerletzten, möglichen Tag geschoben und auch wenn Gabriel bei dieser Ankündigung beide Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hatte, befand sie ihre Entscheidung für äußerst gut gewählt. An diesem Samstagnachmittag begegnete sie keinem einzigen Schüler in der Einkaufsgasse der Magier, die Läden schienen allesamt spärlich besucht und auch die meisten Verkäufer machten den Eindruck, sehr froh darüber zu sein, die sommerliche Hogwartsinvasion hinter sich gebracht zu haben. Ihr erster Besuch galt der Gringotts Bank, in der sie zwei Beutel Monetas-Nachschub aus ihrem Verließ einsteckte, bevor sie sich dem Minimarathon durch den guten alten Einzelhandel stellte. Die längste Zeit verbrachte sie in der einzigen Buchhandlung (von dem Second-Hand-Laden abgesehen) der kleinen Einkaufsmeile, da ein älterer Herr mit verwaschenem, blass rotem Spitzhut und einem Monokel im linken Auge die einzige Verkäuferin in dem Geschäft scheinbar stundenlang für sich beanspruchte und sie demnach gezwungen war, sich eigenhändig durch die Regale ohne erkennbares System zu prügeln.

     „Das macht dreiunddreißig Galleonen und fünfzehn Sickel.“ Mit einem tiefen Durchatmen konnte sich Luciana gerade eben davon abhalten, eine empörte Schimpftirade vom Stapel zu lassen, auch wenn diese Summe bei weitem nicht so hoch ausfiel, wie beim Schulbücherkauf vom letzten Jahr. Allerdings hatte sie dort alle Bücher bis einschließlich der fünften Stufe kaufen müssen und jetzt waren es nur fünf Exemplare! Widerwillig schob sie der Verkäuferin (übrigens dieselbe von ihrem letzten Einkauf bei Flourish & Blotts) vierunddreißig goldene Geldstücke über den Tresen (alleine das Abzählen beanspruchte eine halbe Ewigkeit – was hatten diese Zauberfunzeln gegen Scheine? Oder zumindest einen höheren Wert, wenn man seine Währung unbedingt auf Münzen beschränkt lassen wollte?) und nahm, nachdem sie das Wechselgeld erhalten hatte, die kleine Tüte entgegen.

     Als nächstes bog sie, wie versprochen, bei Weasley’s Zauberhafte Zauberscherze ab, allerdings schien genau dieses Geschäft all die Zauberer und Hexen zu beherbergen, die sie in der restlichen Winkelgasse nicht zu Gesicht bekommen hatte. Mit anderen Worten, der Laden war gerammelt voll und das nicht einmal, wie man hätte vermuten können, von einem sonderlich jungen Publikum, denn dieses schien sich, einen Tag vor Antritt in das neue Schuljahr, wirklich anderorts den letzten Tag der Ferien zu vertreiben. Nein, offenbar nutzten die älteren Generationen die jugendfreie Gasse aus, um zeugenfrei den eigenen Bedarf an Würgzungen-Toffees, Juxzauberstäben und sogar Nasch-und-Schwänzleckereien aufzustocken (das Letztere in offensichtlicher Vorfreude darüber, dem Chef ‚mal so richtig ordentlich auf den Schreibtisch reihern zu können‘, wie sie einem kurzen Gespräch zwischen zwei Herren in ihren Vierzigern hatte entnehmen können). George und Fred bemühten sich zwar händeringend ein paar Minuten Zeit für sie aufzubringen, doch nach der gleich dritten Unterbrechung von ganz besonders ungeduldigen Kunden schlug Luciana vor, das Treffen auf ein Frühstück am nächsten Tag zu verschieben, bevor sie sich auf den Weg zum Bahnhof machen würde.

     Mit einer Gratisbox Kotzpastillen und Kollapskeksen in der Tasche, steuerte sie die letzte Station ihrer Einkaufstour an, als sich im Vorbeilaufen links neben ihr eine Ladentür öffnete und ein wohlbekannter Junge mit dunkelblondem Haar auf die Gasse trat.

     „Hallo Luciana!“ Hinter Neville Longbottom kam eine ältere Dame mit grauem Karokleid, einer riesenhaften, roten Handtasche und einem zerschlissenen Hut (auf dem irgendein ausgestopftes Federvieh saß; Luciana wandte bei dem Anblick schnell den Blick ab) aus dem Bekleidungsladen und musterte sie von oben bis unten.

     „Hey Neville“, grüßte sie ihren Klassenkameraden und streckte der Frau ihre Hand entgegen. „Luciana Bradley, Neville und ich sind in derselben Klasse.“ Mit dieser Erklärung schien die Frau zufrieden gestellt zu sein, wobei ihr strenger Blick nur ein wenig freundlicher wurde.

     „Augusta Longbottom, hocherfreut“, sagte die Dame und schüttelte ihre Hand mit ordentlichem Griff dahinter. „Ich bin Nevilles Großmutter. Hast du auch deine Bücherliste verklüngelt, oder kann es einen anderen Grund geben, solch bedeutende Besorgungen auf den letzten Drücker zu machen?“ Diese Bemerkung schien mehr gegen ihren Enkel zu schießen und weniger gestellt aus wirklichem Interesse. Neville war derweil puterrot angelaufen, während er scheinbar aufmerksam seine Schuhspitzen betrachtete - Luciana bekam eine winzige Vorstellung, wie der etwas zerstreut wirkende, schüchterne Junge genau an dieser Stufe der Persönlichkeitsentwicklung gekommen war.

     „Nein, ich dachte mir einfach kurz vor knapp wird es nicht so voll hier und wie es aussieht, scheint der Plan aufzugehen.“

     „Nun ja, das ist wirklich eine willkommene Abwechslung, ich habe die Winkelgasse in all den vielen Jahren noch nie so leer gesehen“, bemerkte Mrs Longbottom und Neville sah darauf ein wenig hoffnungsvoller aus. „Ausgenommen natürlich bei dem ersten Schreckenszug von du-weißt-schon-wem, weißt du, die Leute sind nicht umsonst umsichtiger und vermeiden unnötig aus ihren Häusern zu gehen.“

     „Ehm –„

     „Aber du bist viel zu jung um das zu wissen, Neville hier selbstredend auch. Sind deine Eltern noch in einem anderen Geschäft?“ Die alte Dame sah sie durchdringend an. Wenn das so weiter ging, würde sie genau wie Neville Fuß scharrend in der Ecke stehen – man was hatte das Weib eine Autorität am Leib.

     „Ich bin volljährig und daher –„

     „Du kommst mit uns“, sagte Mrs Longbottom, wie aus der Pistole geschossen. „Albus würde es gar nicht gerne sehen, wenn einer seiner Schüler alleine unterwegs ist.“

     „Das ist wirklich nett von ihnen“, begann Luciana vorsichtig, wobei sich Mrs Longbottom schon wieder in Bewegung gesetzt hatte, genau wie ihr Enkel, der ihr mit einem Schritt Abstand folgte, „aber ich muss nur noch in die Apotheke.“

     „Das trifft sich hervorragend, dorthin sind wir ebenfalls unterwegs.“ Nach ein paar Sekunden weiteren, durchdringenden Starrens begab sie sich an Nevilles Seite, der überhaupt nicht den Eindruck machte, als sei das Verhalten seiner Großmutter etwas Besonderes.

     „Warst du schon bei Madame Malkins?“, fragte er nach einem Moment der Stille, in der Luciana schon Pläne schmiedete, wie sie die alte Dame abhängen können würde. „Wir waren bestimmt eine ganze Stunde da drin und ich habe dich nicht gesehen.“

     „Was, wegen der Schuluniform?“ Neville nickte. „Die habe ich letztes Jahr gekauft, ich wachse nicht mehr, seit … mh, bestimmt seit ich fünfzehn bin.“ Und wo sie gerade bei dem Thema waren, nahm sie ihren Klassenkameraden ein wenig genauer in Augenschein. Der Junge hatte in den paar Wochen wirklich einige Zentimeter zugelegt und wirkte somit weitaus weniger mopsig, als vor Ferienbeginn.

     „Oh, da hast du es ja gut. Großmutter musste mir einen ganzen Satz neuer Hosen und Hemden kaufen, selbst meine Roben waren zu kurz.“ Ja, und darüber schien diese weitaus weniger erfreut, als ihr Nach-Nachwuchs.

     „Sag mal –„, sagte Luciana und legte ihre Stirn dabei in Falten, „wieso wollt ihr eigentlich in die Apotheke? Also ohne dir aufn Schlips treten zu wollen, aber hast du die Zaubertränke Prüfung ernsthaft mit einem O bestanden?“ Neville starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an, schüttelte heftig seinen Kopf und versuchte ihr mit Handgesten irgendetwas begreiflich zu machen, doch da war es schon zu spät.

     „Neville“, schnappte Mrs Longbottom entrüstet und richtete sich das notdürftig konservierte Tier auf dem Haupt, „hat ein Mies in Zaubertränke bekommen und ein Annehmbar in Verwandlungen und Geschichte der Zauberei. Dabei war Frank, sein Vater, so begabt in Zaubertränke und auch für seine verblüffenden Verwandlungen hat er immer ein beachtenswertes Wort der Anerkennung von seinen Lehrern gekriegt und –„ Luciana murmelte Neville mehrfach ein ‚Es tut mir so leid‘ entgegen, bis sie den Eingang der Apotheke erreicht hatten und seine Großmutter noch immer nicht den Lobgesang auf ihren Sohn beendet hatte. Und wäre das allein nicht schon Demütigung genug, folgte für den armen Knaben der nächste Tritt in den Hintern im Innern des spärlich beleuchteten Ladenlokals. Sie hätte fast nicht bemerkt, dass Neville, kurz nach der Eingangstür, wie angewurzelt stehen geblieben war und mit vor Schreck geweiteten Augen einen bestimmten Punkt an der gegenüberliegenden Regalwand fixiert hatte, da Luciana selbst die Gelegenheit beim Schopfe packen wollte, ein wenig Abstand zwischen sich und die schrullige Lady zu bringen, doch dann bemerkte sie ihn selbst.

     „Hallo Professor“, flötete sie scheinbar gut gelaunt und war dabei hin und her gerissen, Mitleid für ihren Klassenkameraden zu empfinden oder ein wenig Schadenfreude aufzubringen, da Snape sich mit einem tiefen Durchatmen und sehr angenervtem Blick zu ihr umdrehte.

     „Miss Bradley“, sagte er, für den Ausdruck in seinem Gesicht doch recht neutral, dann glitt sein Blick über sie hinweg, „und Mr Longbottom.“ Für einen sehr kurzen Moment zog er fragend eine seiner Augenbrauen in Höhe und musterte Luciana dabei prüfend – was ihm währenddessen durch den Kopf ging, war selbstverständlich ein Rätsel, genau wie die, mit hoher Wahrscheinlichkeit, spitze Bemerkung, ausgefallen wäre, zu der er gerade ansetzte, als sich auch schon Mrs Longbottom von der Seite anpirschte. Snape musterte die alte Frau für einen kaum wahrnehmbaren Moment und jemand, der nicht so gut darin geschult war wie Luciana seine noch so kleinsten Regungen zu bemerken, wäre sicher nicht aufgefallen, dass seine Augen sich bei dem Anblick des Huts und der Handtasche weiteten.

     „Ist das ein Lehrer von dir, Neville?“

     Neville machte unterdessen den Eindruck, sich gleich auf den grauen Steinboden zu seinen Füßen erbrechen zu müssen – ob die violetten Enden der Nasch-und-Schwänz-Leckereien auch halfen, wenn man das eigentliche Brechmittel gar nicht gegessen hatte?

     „Das ist Professor Snape, Lehrer für Zaubertränke“, beantwortete Luciana die Frage, nachdem ein ganzer Moment seltsame Stille folgte. „Professor, das ist Mrs Longbottom, Mr Longbottoms Großmutter.“ Die alte Dame griff darauf sofort die Hand des Professors und begann los zu plappern, für Luciana die Gelegenheit sich aus der Schusslinie zu begeben, Neville beim Arm zu packen und ihn zum nächsten Regal zu schleifen (es fühlte sich mehr danach an, eine unbewegliche Schaufensterpuppe zu bewegen, als einen lebendigen Menschen).

     „Ruhig atmen, Neville“, sagte sie in Flüsterstimme und zog ihren Zutatenzettel aus der Umhängetasche. „Morgen geht es wieder zur Schule und du hast bis Weihnachten Schonzeit.“ Es dauerte ein wenig, bis die erste Reaktion von ihm kam, in Form eines kurzen Nickens. Allerdings schien er im Moment noch nicht davon auszugehen, die anstehende Fahrt nach Schottland überhaupt antreten zu können.

     „Snape wird dich bestimmt nicht in die Scheiße reiten.“ Jetzt sah Neville sie an, als habe sie vollkommen den Verstand verloren – nicht ganz unbegründet, also Strategiewechsel. „Und sieh mal, deine Oma lässt ihn sowieso nicht zu Wort kommen, was soll da schon schief gehen?“

     Tatsächlich liefen die nächsten Minuten so ab, dass Luciana sich ein Körbchen unter dem Kassentresen schnappte, kreuz und quer in dem, von ihnen vier abgesehen, vollkommen menschenleeren Laden lief (so langsam fragte sie sich, ob überhaupt ein Verkäufer anwesend war) und dabei immer wieder im Slalom um Snape und Mrs Longbottom balancierte, während sie in den umliegenden Regalen ihre Zaubertrankzutaten zusammensuchte. Wenn dabei ihr Blick an Snape hängen blieb, fiel überdeutlich auf, wie schnell seine Nasenflügel von unbeweglich zu bebend und seine Hautfarbe von blass zu fleckig übergangen war, wobei er selbst kaum ein Wort zu sprechen schien – das Reden übernahm weiterhin Mrs Schrullig und das mittlerweile in Qualität auf-totes-Tier-einreden (wer konnte schon mit Bestimmtheit sagen, wie sie an ihren Hut gekommen war …).

     „Zwei Dutzend Lenkpflaumen, Miss Bradley“, durchdrang die Stimme von Snape den Raum und keine zwei Sekunden später angelte ein durch und durch von schwarzem Stoff bedeckter Arm ein volles Glas mit den dunkelrot verschrumpelten Früchten, direkt über ihrem Kopf und ersetzte das, welches sie gerade beinahe leer gemacht hatte. Ein Seitenblick auf ihre Liste verriet, dass dunkelgrün auf Pergament-gelb dort etwas von einem Dutzend Lenkpflaumen stand. Mrs Longbottom stand noch immer in der Mitte der Apotheke und beäugte das Schauspiel vor ihrer Nase, wohl in der freudigen Erwartung, gleich ihren Monolog weiterführen zu können. Nun ja, Luciana war kein Unmensch und Snape hatte schon beinahe so etwas wie eine verzweifelte Miene aufgesetzt, zumindest insofern sie dies beurteilen konnte, da er noch immer mit den Zutaten vor seiner Nase beschäftigt war.

     „Oh, zwei Dutzend“, sagte sie deutlich und schaute demonstrativ auf die Liste. „Gut, dass Sie es bemerkt haben.“

     „Geben Sie schon her“, fauchte Snape dann und schnappte sich den Zettel aus ihrer Hand, „bevor ich Sie im gesamten nächsten Schuljahr mit Trankzutaten versorgen muss!“

     Tief durchatmen wiederholte sie nun ein paar Mal im Geiste und setzte ein sehr eingefrorenes Lächeln auf – das Ablenkungsmanöver schien jedenfalls seine Wirkung zu zeigen, denn kurz nachdem Snape angefangen hatte, den Rest ihrer Liste mit ihr zusammen aus den Regalen zu suchen, wandte sich Mrs Longbottom Neville zu und begann selbst mit ihrem Einkauf.   

     „Wie können Sie es wagen mir diese … diese Person auf den Hals zu hetzen?“, zischte er ihr leise zu, nachdem noch zwei weitere Kunden den Laden betreten hatten und der Geräuschpegel in dem Raum wesentlich zugenommen hatte.

     „Ah, ich bin wieder Schuld, schon Recht“, sagte sie und achtete ebenso darauf, einen Flüsterton anzuschlagen. „Es ist ja auch nicht so, dass die Alte mich seit Malkins selbst als Geisel genommen hat.“ Snape vollführte darauf sein Ein-Brauen-Non-Verbal-Fragezeichen. „Die Dame ist offenbar der Meinung, ich könnte die fünfzig Meter zur Apotheke nicht alleine laufen.“

     „Soll heißen Sie sind alleine unterwegs und haben sich nicht mit den Longbottoms zum Einkauf getroffen?“ Diese Frage stellte er mal wieder auf seine unnachahmliche Art und Weise, die einem das Gefühl vermittelte, gerade den größten Bockmist verzapft zu haben.

     „Sir, es fünf Uhr am Spätnachmittag, ich bin nicht mal in die Nähe der Nok-„

     „Ich habe Ihnen schon einmal etwas zu den Warnungen des Ministeriums gesagt und mich dabei nicht auf offensichtlich zwielichtige Ortschaften wie die Nokturngasse beschränkt.“ Damit schmiss er aufgebracht eine abgepackte Tüte getrocknetes Diptam in ihren Korb. „Die Zwischenfälle geschehen bei Tag, wie auch bei Nacht, was meinen Sie, wieso hier niemand alleine auf den Straßen ist?“

     Luciana lag schon eine spitze Bemerkung auf der Zunge, wieso sie ganz genau wusste, warum er dabei eine der wenigen Ausnahmen bildete, als ihr in den Sinn kam, warum er gerade schon wieder einen kleinen Aufstand probte. Durch das letzte Jahr in der Schule und vor allem mit den Ordenssitzungen, hatte sie ihn gut genug kennengelernt, um mittlerweile sagen zu können, dass er sich im Normalfall keine zwei Pfennig für das Wohl seiner Mitmenschen interessierte. Natürlich musste er jedem auf die Nase binden, wenn er einen besseren Vorschlag hatte oder einem anderen ein Fehler unterlaufen war, aber er pflegte die Leute ins offene Messer laufen zu lassen, insofern damit keine ‚wichtige Mission‘ gefährdet war. Was sie zu dem Schluss kommen ließ, dass er sich Sorgen um sie machte und das war ja schon irgendwie niedlich.

     Letztendlich seufzte Luciana und schmiss im Vorbeilaufen drei Bezoare in den Einkaufskorb, bevor sie sich ihm wieder zuwandte. „Ich schätze das muss erstmal in meinem Schädel ankommen – ich spaziere draußen alleine rum, seitdem ich weiß wie man die Bunkertür öffnen kann und das habe ich ziemlich schnell herausbekommen“, sagte sie und musste bei den letzten Worten Schmunzeln. Ja, herauszukommen war die eine Sache gewesen, aber für den Weg hinein hatte sie bis zum Morgengrauen gebraucht – Gabriel hatte bis dato schon ganze fünf Suchtrupps auf den Weg geschickt. „Aber selbst wenn mir bei dem Gedanken schon das Grauen kommt: Ich gehe gleich zusammen mit den Longbottoms wieder aus dem Laden, die zehn Meter, ohne Umwege, in den Tropfenden Kessel und hoch auf mein Zimmer.“

     Snapes Gesicht verdüsterte sich mit einem Schlag.

     „Was jetzt?“, fragte sie genervt. „Was ist daran wieder falsch?“

     „Offensichtlich haben Sie auch nicht aufmerksam den Tagespropheten studiert, ich frage mich, wieso ich mir überhaupt die Mühe mache.“ Ja, das Thema hatte sie vor nicht einer Minute selbst schon durchgekaut. Übrigens sprach er trotzdem weiter. „Gatria Menkar, Sekretärin des Zaubereiministers, ist letzte Woche spurlos verschwunden, nachdem sie ihr Zimmer im Tropfenden Kessel bezogen hat.“ Das erklärte jedenfalls, wieso sie die Zaubererkneipe vor ein paar Stunden beinahe Menschenleer vorgefunden hatte.

     „Na dann kann ich ja von Glück sagen, dass ich weder eine bekannte Person bin, noch in einer anderen Weise für den Schwarzen Führer interessant sein könnte, immerhin sollte niemand wissen, wer mein Pate ist.“

     „Vielleicht wäre dem so, wenn Doktor Steinhardt nicht auf die äußerst clevere Idee gekommen wäre, Sie mit auf die Auktion zu nehmen“, schnarrte Snape, dieses Mal achtete er besonders darauf, keine ungebetenen Zuhörer zu haben und lehnte sich nah an sie heran, in der scheinbaren Absicht ein Glas Molchaugen zu begutachten – dabei driftete ihr selbstverständlich ein Schwall Au-de-Tränkemeister in Nasenlöcher, „und ich kann Ihnen nur gratulieren, Miss Bradley, Sie scheinen einen Bewunderer zu haben.“

     Luciana schluckte schwer. „Rabastan oder Rodolphus?“, flüsterte sie tonlos.

     „Der Zweite und ich erspare Ihnen die Obszönitäten, die er unaufhörlich zu äußern pflegt.“

     Für einen Augenblick spürte sie einen kalten Schauer über den Rücken laufen, gefolgt mit einer Faust, die ihren Magen im Klammergriff zu halten schien, dann schüttelte sie diese unsinnigen Emotionen, mit einer gewaltigen Klatsche von der Logikfraktion, ab.

     „Okay, wahrscheinlich habe ich im letzten Jahr nicht wirklich den Eindruck auf Sie gemacht, aber ich bin, im Normalfall, wirklich in der Lage auf mich selbst aufzupassen. Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass Sie –„

     „Kehren Sie über Nacht nach Hause zurück, Miss Bradley“, sagte Snape, interessanterweise ohne jegliche Schärfe oder Befehlston in der Stimme.

     „Tut mir leid, aber das wird nicht passieren“, ah, da kam auch gleich wieder der angesäuerte Herr Professor zum Vorschein. „Nicht, dass ich mich vor Ihnen rechtfertigen müsste, aber erstens ist das Zimmer schon bezahlt, zweitens habe ich seit Wochen keine einzige Nacht mehr durchgeschlafen, weil mir andauernd irgendein Idiot eine unaufschiebbare Aufgabe aufs Auge drückt und drittens halte ich überhaupt nichts davon, Dinge, die ich tun möchte, sein zu lassen, weil etwas passieren könnte.“

     „Das ist der unsinn-„

     „Zimmer eins sieben, Sir“, unterbrach Luciana ihn sofort, bevor er doch noch seine Selbstbeherrschung verlor und jeder Zeuge ihrer kleinen Unterhaltung werden würde. „Falls Sie sich selbst von meiner Unversehrtheit überzeugen möchten. Die Wände scheinen nicht besonders massiv, ist ja auch ein altes Gebäude, aber das Bett macht einen sehr stabilen Eindruck.“ Von einer Sekunde auf die andere war Snape alles aus dem Gesicht gefallen, es grenzte an ein Wunder, dass er das Einmachglas voller Blutegel noch in der Hand hielt.

     „Severus, deine Bestellung ist fertig.“ Ein kleiner, rundlicher Zauberer mit grauer Halbglatze und dicker Brille auf der Nase, war in der Zwischenzeit aus einem Hinterraum an den Tresen gewatschelt und stellte dort eine große Papptüte ab. Snape brauchte allerdings eine gewisse Zeit, bis er wieder soweit funktionierte, das Glas zurück auf seinen Platz in das Regal zu stellen und sich Richtung Kasse zu bewegen.

     Luciana war kaum überrascht, dass er weder ihr noch den Longbottoms ein Wort des Abschieds zukommen ließ, als er eilends den Laden verließ.  

    



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