the world outside von Futuhiro (Magister Magicae 9) ================================================================================ Kapitel 10: Each Uisge ---------------------- Safall trat vor die antike, massive Holztür mit den Eisenbeschlägen. Durch diese Tür hindurch hörte er bereits seltsame Geräusche, die er beim besten Willen nicht deuten konnte. Sie klangen knisternd und nach nichts, was er einordnen konnte. Langsam griff er nach dem wuchtigen Eisenring, schob den Riegel zurück und zog die schwere Tür mit Kraft auf. Sie ließ sich nur langsam und mühselig bewegen. Aus dem sich öffnenden Türspalt drang blendend helles Licht heraus. Safall musste sich die Augen abdecken und sich schließlich ganz abwenden, weil es zu gleißend war. Und dann ... ... wachte er auf. Er sah sich in seinem abgedunkelten Studentenzimmer um. Es war zwar mitten am Tage, aber er wusste schon ohne Blick auf die Uhr, daß sein Mittagsschlaf nicht lange angehalten hatte, den er sich auch nur gönnen konnte, weil Semesterferien waren und er nicht in irgendwelchen Vorlesungen zu sitzen hatte. Er drehte sich auf den Rücken und murrte ein leises „Mist!“ in sich hinein. Sewill saß am Schreibtisch. Heute ging es ihr mal wieder so gut, daß sie zumindest aufrecht sitzen konnte. Also nutzte sie diese Phase zum Lösen ihrer geliebten Kreuzworträtsel. Sie schaute fragend herum, als sie ihren Bruder hinter sich grummeln hörte. „Ich hatte wieder die Vision von dieser Tür.“, erzählte er mürrisch. „Du hast wieder nicht gesehen, was dahinter ist, hm?“ „Nein. Es ist jedes Mal so. Da ist ein Licht, so hell, daß ich mich abwenden muss, und dann wache ich auf. Ich sehe einfach nicht, was hinter dieser Tür ist.“ „Mach dir keine Gedanken darum.“, tröstete Sewill ihn. „Wenn die höheren Mächte wöllten, daß du es siehst, würdest du es sehen. Diese Vision ist wohl nicht für dich bestimmt.“ „Aber sie muss wichtig sein. Sonst hätte ich sie nicht seit Wochen immer wieder. Ich hatte bisher nur eine einzige Vision mehrfach. Diese Feuervision. Das war, bevor unser Elternhaus abgebrannt ist.“ Seine Schwester zuckte nur mit den Schultern und wandte sich wieder ihrem Kreuzworträtsel zu. Sie konnte seine Visionen ja auch nicht beeinflussen. Der Goth verzichtete darauf, sich die Augen zu reiben, um sein Make-Up nicht zu verschmieren, und setzte sich gähnend auf. „Ich geh eine Runde raus.“, entschied er. „Machst du mir die Vorhänge wieder auf?“, bat seine Schwester mit einem einverstandenen Nicken. Sie musste ja nicht mit Leselampe in einer Dunkelkammer hocken, wenn er nicht schlief. „Ich hab keine Ahnung, wo er steckt. Er hält sich ziemlich gut verborgen. Ich wüsste nichtmal, wo wir anfangen sollten, zu suchen.“, meinte der eine verlotterte Typ zu dem anderen. Sie wanderten mal wieder ziellos durch das japanische Viertel von Düsseldorf, in der Hoffnung, einem ihrem Opfer zufällig über den Weg zu laufen. Zweimal hatte die Betreiberin des Tee-Hauses ihnen geholfen, einen Kontakt herzustellen. Beim ersten Treffen, das die Alte arrangiert hatte, war nur Urnue als Späer aufgetaucht. Ihr wahrer Feind hatte sich versteckt gehalten. Der Junge mit dem langen Ledermantel war vorsichtig, wie man merkte. Das zweite Treffen, das die alte Tee-Haus-Betreiberin tatsächlich dennoch zu wege gebracht hatte, war leider anders verlaufen als die beiden sich das vorgestellt hatten. Er behauptete, er hätte sie nicht an die Polizei verpfiffen. Natürlich behauptete er das. Kein Ganove mit einem Fünkchen Verstand hätte was anderes behauptet. Die Tatsache, daß er in dem Mord an Ruppert Edelig selber mit drinhing, machte ihn sogar halbwegs glaubwürdig. Wer würde schon zur Polizei gehen und das Risiko eingehen, gleich selber mit weggesperrt zu werden? Aber dennoch glaubten die beiden ihm nicht. Er war der einzige Mitwisser. Wer sollte sie verraten haben, wenn nicht er? Es wusste niemand anderes davon. Nun, ein drittes Treffen im Tee-Haus würde es jedenfalls nicht geben. Die Besitzerin des Tee-Hauses weigerte sich, nachdem sie mitbekommen hatte, was ihre zwielichtigen Gäste voneinander wollten, weitere Treffen zu vermitteln. Andere Kontaktmöglichkeiten zu Victor hatten die beiden nicht. Seither blieb ihnen nichts anderes übrig, als suchenden Auges durch die Straßen zu laufen, und auf den Zufall zu hoffen. „Cord!?“ Der eine schlug dem anderen mit dem Handrücken gegen den Arm, um dessen Aufmerksamkeit zu bekommen. Cord sah ihn fragend an und folgte dann seinem Blick zu einem Mann mittleren Alters, der mit einer Gitarre am Straßenrand stand und Straßenmusik machte. Der Kerl sah so unscheinbar aus wie er sang. Man wäre achtlos an ihm vorbeigelaufen, ohne ihn zu bemerken, wenn man nicht fast über seinen Gitarrenkoffer geflogen wäre, der mitten im Weg stand und auf einzuwerfende Münzen wartete. „Der da?“ „Ein Kelpie. Wahrscheinlich sogar ein Each Uisge.“, urteilte der andere, sein Genius Intimus, der auf den Code-Namen 'Third Eye' hörte. Diesen Namen hatte er aufgrund seiner Fähigkeit bekommen, hinter die Masken der meisten Wesen sehen zu können, die in Menschengestalt herumliefen. Er sah fast jedem Genius an, was er wirklich war, und zum Teil sogar welche Fähigkeiten er hatte. Das war eine beliebte, hochgeschätzte und sehr gefragte Fähigkeit gewesen, damals als es die Motus noch gegeben hatte, und war auch der Grund für ihrer beider beruflichen Karrieren in diesen Kreisen. Nur wenige, mächtige Genii konnten vor ihm verbergen, was sie wirklich waren. Cord grinste hämisch. „Dann sollten wir ihn uns mal vornehmen.“, beschloss er und gemeinsam stapften sie los. Cord und Third Eye hakten den Straßenmusiker förmlich im Vorbeigehen unter, einer links, einer rechts, und zerrten ihn mit einem „Komm mal mit, Kumpel. Wir haben zu reden.“ mit sich davon. „Du wirst schön aufhören, unsere Lieder zu klauen!“, fügte Third Eye an, damit die anderen Passanten glaubten, daß es sich hier um einen gerechtfertigten Streit handelte, und einfach weitergingen. Tatsächlich nahm überhaupt keiner Notiz von ihnen oder griff gar ein, als sie den völlig verstörten Musiker rücklings in den nächsten, leerstehenden, offenen Hinterhof zogen. „Was ... was wollt ihr denn von mir?“, fragte der Mann verängstigt, als er endlich wieder losgelassen wurde. Er starrte die beiden verlotterten, nach Verbrecher aussehenden Typen mit den ungekämmten, blonden Haaren eingeschüchtert an, die ihm den Weg zurück auf die Straße versperrten. Einer davon schlug nun auch die massive Holztür wieder zu, die als Durchgang gedient hatte. „Ich habe keine Songs geklaut. Die habe ich alle selber geschrieben, ehrlich.“ „Pfeif auf dein Gejaule, das du als Musik bezeichnest. Das interessiert uns nicht.“, hielt Third Eye böse dagegen. Der Musiker hielt sich erschrocken an seinem Instrument fest, das er immer noch vor dem Bauch hängen hatte, bis Third Eye es ihm wegnahm und auf den Boden pfefferte. Die Saiten vibrierten von der Erschütterung hörbar nach. „M-Meine Gitarre!“, jammerte der Mann wehleidig. „Ach ja?“ Cord trat mit Wucht auf den Korpus, so daß die Holzdecke laut splitternd einbrach und zwei gerissene Saiten wegpeitschten. „Jetzt ist´s nur noch Sperrholz. Hat eh nicht viel getaugt. Dein Geklampfe klang grauenvoll.“ Der Musiker begehrte mit einem „Die hat ...“ auf, unterbrach sich aber selbst. Es war sicher unklug, denen vorzuhalten, was die Gitarre gekostet hatte. So wie die aussahen, würden sie ihm dafür eine Tracht Prügel verpassen und jeden einzelnen Euro in Schläge aufwiegen. Also glotzte er sie nur weiter hilflos mit großen Augen an. Er hatte immer noch keine Ahnung, was die von ihm wollten. „Sag uns lieber mal, was du bist! Ich seh genau, daß du ein Genius bist!“, fuhr Third Eye ihn grob an. „Was? I-I-Ich bin ein ... ein Each Uisge.“, stammelte er verwirrt. „Ha, also doch.“ Third Eye schnappte ihn am Schlawittchen. „Machst du dich wenigstens nützlich? Bist du ein Genius Intimus? Hast du nen Schützling?“ „N-Nein!?“ „Schlecht für dich, Kumpel.“, drohnte Third Eye. Brummend und theatralisch zog Cord ein kleines Büchlein aus der Innentasche seiner Jacke und begann zu blättern. „Ein Each Uisge. Wollen wir doch mal sehen, ob die auf der schwarzen Liste stehen.“ „Schwarze Liste!?“, jaulte der Musiker panisch. Cord packte ihn an der Schulter und drückte ihn gewaltsam gegen eine Hauswand, um ihn festzuhalten. „Ah ja, da haben wir´s ja auch schon. Each Uisge. Ein schottisches, sogenanntes 'Wasserpferd'. Sie nehmen die Gestalt von schönen Pferden an und verleiten Menschen dazu, auf ihrem Rücken zu reiten. Dann galoppieren sie ins Meer und ziehen den Menschen unter Wasser, wo sie ihn samt und sonders auffressen.“ „Sowas hab ich noch nie getan!“, jammerte er dazwischen. Third Eye verpasste ihm eine Ohrfeige, um ihn wieder zum Schweigen zu bringen. „Dem Menschen ist es nicht möglich, abzuspringen, weil er von einer klebrigen Flüssigkeit auf dem Rücken des Each Uisge festgehalten wird.“, schloss Cord. „Du gehörst zu den miesesten Viechern deiner Art, Kumpel. Sowas wie dich wollen wir hier nicht haben.“, machte Third Eye ihm klar. Dem Musiker standen inzwischen schon fast Tränen der Panik in den Augen. „Ich lebe völlig legal hier! Ich kann mich ausweisen! Ich habe eine Registrierung und einen amtlich gemeldeten Wohnsitz!“ „Spar dir das. Each Uisges stehen auf der schwarzen Liste. Du hast das Recht zu leben gerade verwirkt. Du wirst hiermit exekutiert, um der Menschheit einen Gefallen zu tun. Ein bisschen weniger Verderben auf Erden.“ „Ich ... Was!?“ Der Mann begann zu strampeln und versuchte sich nach Kräften aus Third Eyes Griff freizukämpfen. Seine Überforderung und Panikstarre wichen einem puren Überlebenskampf. Third Eye rang ihn brutal zu Boden, wobei sein Opfer mit dem Gesicht voran im spitz gesplitterten Holz seiner Gitarre landete. Der Schreck, daß er nur knapp einem ausgestochenen Auge entgangen war, hielt ihn aber nicht davon ab, sich nach Kräften weiter zu wehren. Als er begann, nach Hilfe zu schreien, drückte Cord ihm einen Bannzettel zwischen die Schulterblätter. Daraufhin sackte der Musiker stumm und bewegungsunfähig in sich zusammen. Third Eye und Cord schnauften erleichtert und atmeten erstmal durch. „Wir müssen irgendwie mal unsere Vorgehensweise ändern.“, merkte der Genius Intimus an. „Jedes Mal dieser Aufriss. Vielleicht solltest du unsere Zielobjekte künftig zuerst mit einer Bannmarke ruhigstellen und dann erklären wir ihm alles weitere.“ „Ich versteh gar nicht, warum wir denen überhaupt irgendwas erklären müssen. Dieser Abschaum gehört einfach kommentarlos beseitigt und gut.“, grummelte Cord mit einem abwertenden Blick auf den Musiker. „Auch wenn ich ein Bann-Magier bin, heißt das ja nicht, daß ich zwingend Gebrauch davon machen muss.“ „Nein, das fände ich unfair. Die sollen schon wenigstens die Chance bekommen, sich zu verteidigen. Ich kann mich auch mal irren, weißt du?“, hielt Third Eye dagegen. „Und wenn schon. Lieber einen Genius zuviel kalt gemacht, als einen zu wenig.“ „Das hab ich nicht gehört!“, grummelte Third Eye und wandte sich wieder dem Musiker zu, der immer noch brav regungslos in den Trümmern seiner Gitarre herumlag und ganz langsam die Form eines Pferdes annahm. Cords Bann-Magie bewirkte unter anderem auch, daß ein Betroffener seine menschliche Tarngestalt nicht mehr halten konnte und wieder zu dem wurde, was wirklich in ihm steckte. Cord steckte nur schulterzuckend sein schwarze-Liste-Büchlein wieder weg und holte stattdessen ein Schnappmesser hervor, um sein Opfer endlich zu erledigen. Eine steife Windböe fegte durch den Hinterhof, kombiniert mit einem spitzen Schrei eines Raubvogels, und ließ beide herumfahren. Ein rabenschwarzer Greif mit schwarzem Adlerkopf und schwarzem Löwenkörper setzte mit den Klauen voran zum Landeanflug an. Die beiden verlotterten Verbrecher machten ihm erschrocken Platz, um nicht unter dem massigen, krallenbewährten Ding begraben zu werden. Das geübte Auge sah, daß dies die künstlich erschaffene Erscheinung eines begabten Gestaltwandlers war. Kein echter Greif war so rabenschwarz. Das Tier landete und nahm wieder menschliche Gestalt an. Die mächtigen, schwarzen Schwingen schlossen sich fest um den Körper und wurden zu einem langen Ledermantel. „Victor!“, entfuhr es Cord, halb sauer, halb erstaunt. Er hatte nicht damit gerechnet, den Jungen, den sie eigentlich gesucht hatten bevor sie über den Straßenmusiker gestolpert waren, so unvermittelt vor sich zu sehen. „Darf man fragen, was das wird?“, gab der Neuankömmling im Ledermantel herrisch zurück, sich eine Begrüßung sparend. „Wonach sieht´s denn aus!?“ „Ihr werdet hier nicht rumlaufen und wahllos irgendwelche Genii hopp nehmen!“ Third Eye lachte. „Witzig. Es gab ne Zeit, da hast du nichts anderes getan als das. Und gerade du solltest wissen, daß unsere Auswahl alles andere als zufällig ist!“ „Die Motus gibt es nicht mehr!“ „Spar dir die klugen Sprüche.“, verlangte Cord und sah sich suchend die Mauern und Hausdächer ringsum an. „Wo ist Urnue, die Sau? Ihr zwei seid doch nie einzeln unterwegs, oder irre ich mich da?“ Victor überlegte kurz, ob er sich schon wieder auf diesen sinnlosen Streit einlassen sollte, wer die beiden an die Polizei verpetzt oder nicht verpetzt hatte. Er wusste, daß er nicht lange in der Nähe dieser beiden bleiben konnte. Cord würde versuchen, Zeit zu schinden, um irgendwas vorzubereiten. Cord war hinter ihm her. Sich ihm überhaupt zu zeigen, war schon gefährlich genug. Cord schleuderte zwei Bann-Bälle nach ihm, die ihn genauso bewegungsunfähig machen sollten wie sein anderes Opfer. Er trug immer ein paar solcher zusammengeknüllten und mit Gewichten beschwerten Bannzettel bei sich. Sie waren zwar aufgrund der geringen Größe nicht so effektiv wie ordentliche Bannzettel, konnten dafür aber aus einiger Entfernung gezielt nach Leuten geworfen werden. Sie verschafften zumindest ein paar Sekunden Zeit, in der man sich vernünftig um sein Opfer kümmern konnte. Wie jeder Bannzettel blieben sie sofort dort haften, wo sie trafen. Aber Victor hob reflexartig eine Hand zur Abwehr und die Bann-Bälle prallten von einem Schutzschild ab, so daß sie ihn nicht trafen. Dann dehnte er den Schutzschild weiter aus, um Cord und Third Eye an die Hauswand zurückzudrängen. Cord fiel das Schnappmesser aus der Hand. Er fluchte, musste aber vor dem Energieschild zurückweichen, so daß er das Messer nicht mehr aufheben konnte. Sauer aber machtlos musste er mit ansehen, wie Victor herüberkam und das Messer aufhob, während er selber gegen die Mauer gequetscht wurde und sich nichtmal mehr umdrehen konnte. Er ärgerte sich, daß er keine fertigen Bannzettel bei sich hatte, die Schutzschilde unterbunden hätten. Er hätte erst einen zeichnen müssen. Zu weiteren Auseinandersetzungen kamen sie aber ohnehin nicht mehr, denn in diesem Moment ging die eisenbeschlagene Holztür auf und unterbrach das Gefecht. Safall stiefelte immer noch ziellos durch die Straßen, einfach nur eine Runde Spaziergang machen, ohne wirklich irgendwo hin zu wollen, bis ihn eine schwere, beschlagene Holztür innehalten ließ. Es war ein alter, verwitterter Durchgang in ein offensichtlich schon sehr lange leerstehendes Grundstück. Der unbändige Wildwuchs an Unkraut und die blinden, über Jahrzehnte verdreckten Fenster sprachen Bände. Safall überlegte kurz hin und her. Diese Tür hatte Ähnlichkeit mit der aus seiner Vision. Aber er konnte wirklich nicht sagen, ob es die gleiche war. Wenn, dann war sie inzwischen viel älter und verrotteter als noch in seiner Vision. Er war sich einfach nicht sicher. Weil er auch das Gemäuer drum herum in seiner Vision nie beachtet hatte. Er war immer so auf diese Tür fixiert gewesen. Als er näher heranging, um sich die metallischen, verrosteten Beschläge anzusehen, hörte er es wieder. Das Knistern. Diesmal, in der realen Akustik einer echten Welt, erkannte er es auch besser. Es klang irgendwie elektrisch. Er zog testhalber am Griffring der Tür, ohne ernsthaft zu glauben, daß sie offen wäre. Zu seinem Erstaunen gab sie aber tatsächlich nach. Und daraus drang das Licht hervor. Safall hielt den Atem an. Er hatte hier gerade ein echtes déjà-vue-Erlebnis. Er sammelte sich nochmal und mahnte sich selbst, bloß nicht wegzusehen. Egal was jetzt passierte, egal wie grell das Licht wurde, er durfte sich nicht abwenden! Er musste sehen, was dahinter war, komme was wolle! ... Seine Selbstmobilisierung war allerdings gar nicht nötig. Der sanfte, orange Lichtschein, der von einem magisch erzeugten Schutzschild herrührte, war beileibe nicht so hell, daß er irgendwie geblendet hätte. Das elektrische Knistern stammte von dem Versuch eines Menschen, besagten Schutzschild irgendwie zu durchbrechen. Safall stand in der Tür und glotzte dämlich auf die Szene, die sich ihm bot. Da stand schon wieder dieser Junge im Ledermantel, der mit einer Hand einen Schutzschild aufrecht hielt und die beiden verlotterten Kerle, die er schon aus dem Tee-Haus kannte, gegen die Wand spielte. Mit der anderen hielt er ein Messer. Und zu seinen Füßen lag ein bewusstloser oder toter Genius – jedenfalls rührte der sich nicht mehr – in den Trümmern einer Gitarre. Safalls erster, klarer Gedanke, den er wieder zu fassen bekam, war ein entrüstetes „Die schöne Gitarre!“. Gefolgt von einem „Jetzt weiß ich also, wem der Gitarrenkoffer da draußen auf der Straße gehört.“ Da er selbst Musiker war, filterte sein Gehirn die aufgenommenen Informationen wohl mit entsprechender Priorität. Zumindest ging ihm erst in zweiter Linie auf, daß er hier in der Tat gerade Zeuge eines Verbrechens wurde. Der Täter hatte das Messer ja noch in der Hand. Die drei, die noch handlungsfähig waren, gafften Safall nicht minder entgeistert an. Sie waren allesamt sichtlich entsetzt von der unvermuteten Unterbrechung. „Was willst du hier?“, schnauzte irgendeiner. Safall konnte im Nachhinein beim besten Willen nicht mehr sagen, wer von denen. „Ich hab ... die Tür in einer Vision gesehen.“, gab Safall wie in Trance zurück und deutete mit dem Daumen über die Schulter zurück. Die beiden verlotterten Kerle fluchten laut. Einer der beiden, offensichtlich der Genius Intimus in diesem Gespann, verwandelte sich in eine Banshee, schnappte seinen Schützling und flüchtete nach oben. Der Weg in die Luft war zwischen Mauer und magischem Schutzschild der einzige Fluchtweg, der ihnen noch blieb. Laut heulend und klagend trug er seinen Schützling mit sich hinfort, als er über die Dächer davonflog. Sowohl Safall als auch der Junge hielten sich erschrocken die Ohren zu. Das Weinen einer Banshee konnte wahnsinnig machen oder sogar töten. Der Schutzschild brach in sich zusammen, da er nicht mehr gehalten wurde. Nachdem wieder Ruhe eingekehrt war, warf der Junge im langen Ledermantel Safall einen missbilligenden Blick zu. Er war offensichtlich sauer, daß der diese ganze Aktion hier vereitelt hatte. Aber er sagte nichts, sondern machte sich nur kopfschüttelnd über den Bannzettel her, der noch zwischen den Schulterblättern des reglosen Each Uisge klebte. Allein das Entfernen des Zettels würde nicht genügen, um den Bann wieder zu lösen, wenn er einmal auf sein Opfer übertragen war. Konzentriert studierte er, was auf dem Bannzettel geschrieben stand. Vielleicht gab ihm das schon Aufschluss, wie der Bann konstruiert war und wie man ihn folglich wieder lösen konnte. „Alter, ich hab noch nie eine männliche Banshee gesehen.“, brach Safall irgendwann als erster das Schweigen. Er war inzwischen wieder klar genug im Kopf, um sich innerlich dafür zu ohrfeigen, daß er über seine Vision von der Tür gesprochen hatte. Wie dumm war er denn? Jetzt wussten die allesamt, daß er Hellseher war. Wo denen doch sowieso schon die Polizei im Nacken saß und ihre Suche nach dem Schuldigen, der sie verpfiffen hatte, auf Hochtouren lief. „Natürlich gibt es männliche Banshees. Banshees sind transgeschlechtlich, auch wenn die weiblichen, insbesondere die Totengräber-Frauen mit den rotverheulten Augen, über die Jahrhunderte mehr Publicity hatten. Sie gelten ja schließlich als dunkles Omen, das den baldigen Tod ankündigt.“, murmelte der Junge nur abgelenkt und löste endlich den Bann, den er inzwischen durchschaut hatte. Der Each Uisge erwachte zappelnd wieder zum Leben, hatte einen Moment arg damit zu kämpfen, seine langen, hektisch strampelnden Pferdebeine zu sortieren, dann nahm er wieder die Gestalt des Straßenmusikers an und brachte sich sofort luftschnappend einen Meter weit in Sicherheit. „Zugegeben hab ich überhaupt noch nie eine Banshee gesehen.“, korrigierte Safall sich selbst, um irgendwie beim Thema zu bleiben. Er wollte um Himmels Willen nicht darauf zu sprechen kommen, was hier gerade passiert war. Der Junge richtete abermals seinen unzufriedenen Blick direkt auf ihn. „Warum nur tauchst du immer wieder genau dort auf, wo ich Ärger mit diesen Jungs habe?“, wollte er ernsthaft wissen. Safall rettete sich in ein hilfloses Schulterzucken und lächelte schief. „Du solltest dich von uns fernhalten. Unsere Nähe wird dir nicht gut bekommen.“, legte der Junge ihm ans Herz und marschierte dann festen Schrittes los. Safall machte ihm auch sofort Platz, als er durch die Tür wollte. Er beachtete weder Safall noch den verstörten Straßenmusiker mehr. Beide waren für den Moment außer Gefahr, also war seine Arbeit getan. Was beide nun von ihm denken mochten, war ihm dabei herzlich egal. Er überließ es ihnen, wie sie weiter vorgehen wollten. Safall und der Straßenmusiker schauten sich gegenseitig an. Ein wenig ratlos in gewisser Weise. Keine Ahnung, was sie jetzt tun sollten, als die letzten übriggebliebenen. „Was zur Hölle seid ihr für Typen!?“, quietschte der Straßenmusiker hysterisch. „Seid ihr Nachfolger von der Motus, oder was?“ „Ich hab keine Ahnung, wer die waren.“, klärte Safall ihn wahrheitsgemäß auf und zog seinen langen Ledermantel aus, um ihn dem Straßenmusiker zu geben. Der hatte sich bei seiner ungewollten Verwandlung in das wesentlich größere Wasserpferd all seine Klamotten zerrissen und saß jetzt förmlich nackt hier in diesem Hinterhof. Safall hatte das dringende Bedürfnis, dem Musiker-Kollegen wenigstens mit Kleidung auszuhelfen, wenn er ihm schon mit der zerdroschenen Gitarre nicht helfen konnte. Und in gewisser Weise war ihm auch gehörig die Lust darauf vergangen, den Ledermantel zu tragen. Er wollte nicht mehr unbedingt so aussehen wie dieser seltsame Junge, der wohl, wenn man eins und eins zusammenzählte, ein Mörder war. Was für beschissene Semesterferien, zog Safall in Gedanken Resümee. 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