~ Love at third sight ~ von Nea-chan (Mit dem Herz gegen alle Regeln) ================================================================================ Kapitel 59: Arrival ------------------- An der Ostküste Japans herrschte vor allem im allgemein als kurz bekannten Sommer ein heißes und schwüles Klima. Das wurde Yuri an diesem Mittag wieder bewusst, als die Sonne vom wolkenlosen Himmel auf sie herab brannte, sich ihre Haare aber trotzdem in der Luftfeuchtigkeit kräuselten. „Was für ein Wetter!“, stieß sie schnaufend aus. Ihrem Freund Kazuya, der hinter ihr einen großen Reisekoffer mit sich zog und gleichzeitig eine kaum kleinere, schwere Tasche schulterte, war dabei nicht ganz klar, ob sie das positiv meinte oder nicht. Vor Kurzem erst hatte der junge Mann in Tokyo seinen Führerschein gemacht, was ihm und Yuri ermöglichte gemeinsam bequem mit dem Auto zu reisen, statt mit Zügen oder Bussen. Da standen sie nun, inmitten idyllischer Wäldchen aus tropischen Laubbaumgewächsen, Dickblattsträuchern, Palmen, Farnen und jeder Menge Schwarzkiefern. Zwischen den grünen Hügeln, die sich zur Küste hin senkten, lagen ein paar wenige, kleine Hotels und der Parkplatz, auf dem sie Kazuyas geliehenen Wagen zurückgelassen hatten. „Hast du eine Ahnung, wo entlang wir müssen?“ Die Dunkelhaarige zog sich die große Sonnebrille mit den dunklen runden Gläsern, die sie auf ihrer feinen Nase trug, etwas herunter und schaute über sie hinweg auf ein auseinandergefaltetes Blatt Papier, mit einer aufgekritzelten Wegbeschreibung darauf. Die Brille war eigentlich ein unnötiges Accessoires, da die breite Krempe ihres weißen Sonnenhutes die Sonne mehr als genug von ihrem Gesicht abschirmte, aber sie liebte ihre stilvollen Auftritte nun mal, bei dem jedes Outfit rundum stimmig war. Stilvoll wie ein Filmstar schüttelte sie ihr welliges Haar auf. Sie trug Hut und Brille zu einem kurzen, ebenfalls weißen und trägerlosen Jumpsuit, filigranen Riemchensandalen und ergänzte das Ganze durch eine große grüne Stofftasche. Sie machte optisch ihrem Stand als Tochter einer Designerin alle Ehre. „Das Gekritzel, das Takuro uns per Fax geschickt hat, ist nicht besonders detailliert, aber ich glaube, wir müssen einfach durch das Wäldchen da vorne, neben dem kleinen Hotel, und dann geht es immer geradeaus Richtung Strand.“ Der Blonde spähte in die ausgewiesene Richtung und schluckte. „Sind das Stufen?“ Sie kamen näher und Kazuyas Befürchtung bewahrheitete sich. Zwischen den hohen Kiefern, durch deren lichte Kronen das Sonnenlicht in konzentrierten Strahlen auf den Boden fiel, in denen kleine Staubpartikel tanzten, führte eine alte und weitläufige Treppe nach unten. „Da runter müssen wir? Man kann den Strand noch nicht einmal sehen.“, hinterfragte er mit besorgtem Blick auf ihr üppiges Gepäck. Sportler hin oder her, bei dem Klima Gewichte jeder Art zu bewegen war kein Vergnügen. Yuri faltete ungerührt das Papier wieder zusammen, steckte es weg und rückte ihre Sonnenbrille zurecht. „Wenn die Beschreibung stimmt, dann ist am Ende der Treppe unser Treffpunkt. Es geht doch bergab. Ich helfe dir auch mit der Tasche.“ „Um dem Weg nach unten mache ich mir kaum Sorgen, sondern um das wieder rauf auf unserem Rückweg.“ Seine hübsche Begleitung drehte sich in einer eleganten Drehung zu ihm herum und beglückte ihn mit einem strahlenden Lächeln. „Aber bis dahin sind es ja noch ein paar Tage, in denen wir uns ganz viel erholen und Spaß haben werden.“ Sie schritt auf ihn zu und legte verliebt ihre Arme um seine Taille. „Ich massiere dich auch heute Abend, in Ordnung?“ Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen und nickte. Natürlich war das in Ordnung. „Ein angemessenes Trinkgeld für einen Packesel.“, witzelte er und küsste sie kurz auf die Nase, die sich ihm entgegen reckte. Yuri lachte schüchtern und griff nach einem der Träger der Reisetasche. Eine gefühlte Ewigkeit später unten angekommen, waren sie beide völlig außer Atem. Die Treppe war länger und steiler, als sie auf den ersten Blick ausgesehen hatte. „Herrje, ich bin ganz verschwitzt!“, klagte die junge Frau atemlos und fächerte sich ein paar Augenblicke lang verzweifelt mit ihrem Hut Luft zu. Kazuya hievte mit letzter Kraft den Koffer einige Meter über den Sand zu ihr herüber und ließ dann alles schnaufend fallen. „Schatz, du hast eindeutig zu viel Gepäck dabei! Was ist in dem Koffer alles drin? Wir sind doch nur ein paar Tage hier.“ „Nur das Nötigste! Klamotten für jeden möglichen Anlass; für jedes Wetter natürlich, dann passende Schuhe, ein paar Bikinis, Kosmetikartikel…“ „Schon gut, so genau wollte ich es gar nicht wissen.“, keuchte er abwinkend. Er kannte seine Freundin und war es schon von ihren seltenen Besuchen bei sich in Tokyo gewohnt, dass sie immer für jeden Fall ausgerüstet war. Yuri zückte ein Haarband aus ihrer Tasche und machte sich einen Seitenzopf, der über ihre Schulter nach vorne hing und ihrem feuchten Nacken Luft verschaffte, während sie sich am Strand nahe dem Wasser umsah. Das Meer war perfekt; türkis und klar. Der Übergang vom weißen Sand ins Wasser war seicht und hindernisfrei. Die Wellen schlugen ruhig auf den Strand und salzige, feuchtwarme Winde wehten zu ihnen heran. „Wunderschön, aber weit und breit keine Momoko und auch keine Bank zum Ausruhen.“, stellte sie fest. Rechts von ihnen lagen große Findlinge im Wasser und erstreckten sich in einer Reihe bis in den Wald hinter ihnen. Wie eine Grenze zwischen ihnen und dem, was auf der anderen Seite des Strandes lag. Links zog sich die Küste in einem sanften Bogen immer weiter nach innen, wie um eine Insel. Keine Menschenseele war zu sehen und auf den ersten Blick auch kein Haus. Nur Sand, Steine und Muscheln; außerdem in der Ferne eine kleine, verkokelte Feuerstelle mit Treibholz drum herum. „Es ist unglaublich verlassen hier.“, stellte sie fest. „Oben stand auf der Hälfte der Treppe ein Schild, dass das ein Privatstrand ist.“, bemerkte ihr immer noch überhitzter Gepäckträger. Ihre grünen Augen weiteten sich unbemerkt hinter den großen Gläsern, bei dieser Erkenntnis. Sie wollte gerade in ihrer Handtasche nach ihrem Telefon wühlen, als hinter ihr eine bekannte, schrille Stimme ertönte. „Hallo Leuteee~“, rief diese irgendwie übertrieben künstlich. Das bereits angekommene Paar drehte sich nach dem um, das gerade den Fuß der Treppe passierte. „Hiromi.“, stellte Yuri wortkarg und wenig begeistert fest, rang sich aber ein Lächeln ab. „Und Yosuke.“, ergänzte sie, als dieser hinter dem Rücken seiner Begleitung auftauchte. Er nickte ihnen freundlich zu und seine Lippen formten ein leises „Hi.“. Genau wie Kazuya zuvor schleppte er mit krummen Rücken, schwitzend und stöhnend das Gepäck über den unbefestigten Weg zu ihnen heran. Allerdings mühte er sich mit gleich zwei monströsen Koffern und einer zusätzlichen Reisetasche ab, die er irgendwie in einer umständlichen Figur noch unter seinen Arm geklemmt bekommen hatte. Die Dunkelhaarige lehnte sich kaum wahrnehmbar und mit verschränkten Armen zu ihrem Freund hinüber. „Und du sagst, ich habe zu viel Gepäck?“, flüsterte sie leise durch das Gemurmel der Wellen. Mit mitleidigem Blick auf seinen Freund antwortete er ihr ebenfalls murmelnd: „Ich nehme alles zurück.“, und ging ihm helfen. „Wahnsinn, wie schön das Meer ist!“, jubelte Hiromi, die quietschvergnügt als erstes bei Yuri ankam und ihren Freund - der so rot vor Anstrengung angelaufen war, dass man Angst haben konnte, dass er im nächsten Moment einfach ohnmächtig mit dem Gesicht voran in den Sand fiel - unbekümmert sich selbst überließ. „Schön auch dich wiederzusehen, Hiromi.“, grüßte die Dunkelhaarige spitz. „Ach ja, entschuldige bitte! Da vergesse ich doch glatt meine guten Manieren!“ »Nicht nur die«, dachte ihr Gegenüber bei einem kurzen Blick auf Yosuke, der sich dankbar für Kazuyas Hilfe nun völlig fertig auf einen der Koffer abstützte und nach Luft schnappte. Sein Kumpel reichte ihm aus seiner eigenen Reisetasche eine kleine Wasserflasche, die er in einem Zug zur Hälfte leerte. „Ich bin ganz erschöpft, in den Bussen war es sooo heiß! Keine Klimaanlage hat funktioniert!“, erzählte Hiromi ungerührt weiter und wedelte sich mit der Hand Luft zu. Yuri musterte die Lilahaarige kritisch von Kopf bis Fuß. Sie hatte zum ersten Mal keine albernen Schleifen im Haar, sondern trug ihre kurzen Schillerlocken offen unter einem ähnlichen Hut wie ihren. Ihr kleiner, blasser Körper versteckte sich unter einem weiten, knielangen Volantkleid in Kanariengelb, zu dem sie unbekümmert rote Flip Flops mit glitzernden Herzen auf der Zehenschnalle trug. Ihre Oberlippe kräuselte sich während sie sich in Gedanken eingestand, dass dieses Mädchen wusste, wie man sich nach außen hin als süß präsentierte. „Du hast ja gar keine Tasche dabei.“, bemerkte Yuri als Seitenhieb darauf, dass sie ihren Freund ohne Mitleid alles schleppen ließ und immer noch keines Blickes würdigte. „Das ist alles in den Koffern. Yosuke lässt nicht zu, dass ich in meinem Zustand etwas Schweres hebe.“ Sie klimperte verliebt mit ihren Augen in seine Richtung und winkte ihm zu, als er sein Gesicht kurz zu ihr hin drehte, weil er seinen Namen gehört hatte. Yuri hob kritisch eine Augenbraue. „Na sicher.“, entgegnete sie ungerührt. „Habt ihr Momoko und Takuro schon gesehen?“, fragte Kazuya und wechselte das Thema damit schnell. Yosuke akklimatisierte sich langsam wieder und strich sich das Haar aus der Stirn. Es war länger als gewöhnlich. Als Fußballspieler trug er es immer recht kurz, doch jetzt hing ihm ein ordentlicher Pony ins Gesicht, der dringend ein anständiges Styling nötig hatte. Auch an den Ohren und im Nacken lagen die Haare länger, was seiner Erscheinung eine unzähmbare Note verlieh und ihn älter machte. Yuri musste zugeben, dass aus ihm ein sehr gutaussehender Typ geworden war. „Nein, haben wir nicht. Habt ihr denn schon von ihnen gehört? Wir wollten uns doch mittags hier treffen?“ Er verschränkte seine Arme genau wie sie und lehnte sich lässig gegen einen der Koffer. Sein Blick musterte ernst und kritisch die Umgebung. Kazuya und seine Freundin wechselten einen vielsagenden Blick, ließen sich aber ihre Gedanken nicht anmerken. „Ganz schön einsam hier.“ „Privatstrand.“, erklärte Yuri Yosuke knapp. Als er genauso verblüfft dreinschaute, wie sie zuvor, nickte sie ihm wissend zu. Ja, es war gruselig zu wissen, dass das hier alles quasi zu Takuros Familienbesitz gehörte. „Wow! Warum wussten wir eigentlich früher nie davon, dass seine Familie so steinreich ist? Er hätte viel mehr Freunde gehabt, dann hätte sogar ich mehr mit ihm geredet.“, erklärte Hiromi staunend. „Weil er mal schüchtern und bescheiden war und genau mit solchen Leuten nichts zu tun haben wollte, die nur am Finanzstatus anderer messen, ob du cool bist oder nicht.“, antwortete ungefragt eine neue Stimme hinter ihnen. „Hinagiku!“, stellte Yuri freudig fest und lief ihr für eine Umarmung durch den feinen Sand entgegen. „WÄRGS, du klebst ja!“, meckerte sie halbherzig und schob die lachende Dunkelhaarige wieder ein Stück weit von sich weg. Die burschikose junge Frau kam mit nicht viel mehr als einem großen Reiserucksack auf dem Rücken daher. Ihr Teint war bereits golden wie von der Sonne geküsst und fast so braun wie Yosuke. Aktiv wie sie war, trainierte sie in ihrer Freizeit viel an der frischen Luft und scherte sich nicht um die vornehme, japanische Blässe. Ihr Outfit war für sie deswegen auch hier typisch sportlich und bequem ausgefallen: Ein unifarben rotes Trägertop und eine kurze, ausgefranste Jeans-Shorts zu hellen Turnschuhen. Auch ihre Haare waren etwas gewachsen, sodass sie im Nacken ein ganz kurzes Zöpfchen zusammenbekam, während die Haare über ihren Ohren immer noch herab hingen und ihr Gesicht einrahmten. Ein Basecap mit dem Logo ihrer Lieblingsmannschaft trug sie als Sonnenschutz auf dem Kopf. Mit lässig erhobener Hand grüßte sie ein Mal in die Runde. „Hi Jungs und Mädels.“ Ihr Gehabe wirkte etwas steif, als ihr Blick über Yosuke und Hiromi glitt, der nach Hinagikus Bemerkung das künstlich breite Grinsen wie eine Maske ins Gesicht gebrannt war. Es herrschte in diesem Moment nicht unbedingt die lockerste Stimmung zwischen ihnen allen. „So, dann sind wir ja fast vollzählig! Fehlen nur noch unsere Gastgeber!“, versuchte Kazuya wieder die immer spannungsgeladenere Stille zu durchbrechen. „Hat schon mal jemand versucht sie anzurufen?“, fragte die Kurzhaarige. Gemeinschaftliches Kopfschütteln war die Antwort. „Ich hatte es aber gerade vor, bevor ihr Drei hier nacheinander angekommen seid.“ Yuri wühlte daraufhin wieder in ihrer Tasche und zückte endlich das Handy, mit dem sie Momokos Nummer wählte. Yosuke, dem die Finger und Oberarme von dem Weg die Treppe herunter immer noch schmerzten, fühlte sich wie die anderen etwas unwohl in dieser Runde. Die Blicke aller Anwesenden wanderten immer wieder zwischen ihnen umher von einem zum anderen. Für ihn fühlte es sich ein wenig an wie ein Spießroutenlauf. So versuchte er in den hellen, graugrünen Augen seines besten Freundes eine Antwort darauf zu finden, ob zwischen ihnen alles ok war. Was dachte er gerade? Hielt er sich an sein Versprechen, nichts zu sagen und sich neutral zu verhalten? Er schaute danach zu Yuri und fragte sich bei ihrem Blick, ob Kazuya sie eingeweiht haben könnte oder ob sie noch an den Abend in dem Club dachte - und falls ja, wie viel Schlimmes er möglicherweise von ihr zu befürchten hatte. Doch beide sahen ihn nicht kritischer an als sonst. Vielleicht verschwendete niemand von beiden gerade einen Gedanken daran, was sie über ihn und Momoko wussten oder mit ihnen erlebt hatten? Nur Hinagiku schaute etwas grimmig in seine Richtung, aber da Hiromi direkt neben ihm stand, schob er ihre finstere Miene ihr zu. Seine Freundin lächelte weiterhin stoisch in jedes Gesicht, aber er war sich ziemlich sicher, dass sie keineswegs vergessen hatte, wie wenig Anklang ihre Persönlichkeit unter den Mädchen hier fand. Wenigstens riss sie sich zusammen und machte keine bissigen Kommentare. Dieses Versprechen hatte er ihr bereits auf der Fahrt hierher abgenommen. Hoch und heilig hatte sie in ihrer Euphorie geschworen, sich von ihrer besten Seite zu zeigen. Yosuke hoffte einfach, dass sie das auch halten würde. Alle schwiegen und warteten weiter darauf, dass Yuri endlich ihre Freundin ans Telefon bekam. Er verschränkte seine Finger im Schoß und betrachtete sie nachdenklich, ohne dabei wirklich hinzusehen. Ewigkeiten hatte er nichts mehr von Momoko gehört; bis auf eine kurze SMS am Vorabend, in der sie ihm geschrieben hatte, dass sie sich auf den Urlaub freue und wann sie sich mit ihnen treffen wollten. Auch er hatte sich gefreut, aber je länger sie keinen Kontakt zueinander gehabt hatten, desto mehr war die Anspannung gewachsen. Hier und jetzt war sie unerträglich – wie würde sie ihm gegenüber treten? War zwischen ihnen immer noch alles ok? Hatte sie ihn in den letzten Wochen so vermisst, wie er sie? Wäre sie in der Lage sich das nicht anmerken zu lassen? Kinderleicht hatte er sich einen gemeinsamen Urlaub mit allen vorgestellt und sich eine Zeit lang nichts sehnlicher gewünscht als das. Jetzt wo es real und greifbar geworden war, fühlte er sich etwas befangen und unsicher. Yosuke schloss die Augen und stellte sich vor, wie Momoko die Treppe zum Strand herabsteigen würde. Wie sie darauf achten würde in ihrer Tollpatschigkeit nicht auf den Stufen zu stolpern und wie sie ihn vielleicht anlächeln würde, wenn sie ihn vor sich sähe. Sein ohnehin nervöser Puls beschleunigte sich. Aber in seinem Unterbewusstsein schwelten leise Ängste, die sich dort in der kontaktfreien Zeit eingenistet hatten. Er hatte nicht vergessen, wie merkwürdig traurig und distanziert Momoko bei ihrer Verabschiedung in seiner Wohnung gewirkt hatte. Dieses Verhalten hatte sie auch später am Telefon gezeigt, als er ihr Hiromis Antwort zu dem Kurztrip übermittelt hatte - und auch in den Wochen danach, in denen er und seine Mitbewohnerin genau wie sie im Prüfungsstress versunken waren, hatte sie das nicht abgelegt. Darüber konnten ihn auch ihre großzügig gesetzten Emojis in den kurzen und seltenen Textnachrichten nicht hinwegtäuschen. Ihre Nachrichten fühlten sich kurz angebunden und erzwungen an. Erst beim Grübeln über all diese kleinen Dinge war seine jetzige Unsicherheit überhaupt entstanden. Oder bildete er sich das vor lauter Angst, dass es wirklich so sein könnte, nur ein? „Momoko, hi!“, sagte Yuri endlich erleichtert. „Wir sind schon alle unten am Strand, wo wir uns treffen wollten. Wo bleibt ihr denn?“ Sie hörte gespannt zu sah dabei niemand bestimmten an. „Ach, ihr seid schon auf der Treppe?“ Yosukes Herz rutschte plötzlich nach unten. „Na dann, bis gleich.“ Sie legte auf, steckte ihr Mobiltelefon wieder weg und drehte sich erwartungsvoll zum Waldstück um, was ihr alle anderen gleichtaten. Sogar Hiromi, die sich mit Momoko wahrscheinlich noch am wenigsten verstand, reihte sich ganz vorne im Empfangskomitee mit ein. Unschlüssig darüber, was weniger verdächtig war – ihr als Erster entgegenzurennen oder sie bis zum Schluss mit Gleichgültigkeit zu behandeln – tat er mit in die Hose gesteckten Händen so, als würde er seine Schuhspitze interessiert mustern. Währenddessen schlug ihm das Herz vor Aufregung bis zum Hals. „Da seid ihr ja endlich!“, rief Hinagiku schließlich als Erste. Reflexartig hob Yosuke seinen Kopf und schaute nun doch hinüber. Takuro und Momoko mühten sich gemeinsam mit je einem mittelgroßen Koffer ab und überwanden Stufe um Stufe mit hochkonzentriertem Blick. Von dem unkontrollierten Impuls, helfen zu wollen, getrieben, stand er auf, haderte aber dann doch noch eine Sekunde mit sich. Da liefen ihnen an seiner Stelle bereits Kazuya und Hinagiku entgegen. Die kräftige Cappyträgerin half Takuro und sein ehemaliger Mannschaftskapitän gab dafür vor Momoko ganz den Gentleman. Eine Sekunde lang ärgerte Yosuke sich darüber, dass er nicht an seiner Stelle sein konnte, aber dann kam die Ernüchterung, dass es so doch besser war. Erleichterung vertrieb die negativen Gefühle rasch wieder. Sie hatte sich kein Stück in den letzten drei Wochen verändert, wie auch? Was hatte er denn erwartet? Ganz ohne Kopfbedeckung, mit ihren zwei Haarbändern in den langen, offenen Haaren und in einer maritimen Bluse ohne Ärmel, stolperte sie in einer engen Dreivierteljeans und Halbschuhen durch den Sand. Bei jedem Schritt drohten ihre Schuhe darin stecken zu bleiben, bis die junge Frau sie nach einigen Metern entnervt auszog und mit ihnen in der Hand barfuß weiter lief. Ein verschmitztes, peinlich berührtes Lächeln dabei auf den Lippen, das zum Mitlachen einlud. „Tut uns leid, dass wir zu spät sind! Wir standen hoffnungslos im Stau.“, erklärte sie schließlich völlig außer Atmen. Yosuke konnte seinen Blick einfach nicht von ihr abwenden, aber er konnte auch nichts sagen. Ihr Abbild brannte sich in seinen Kopf, wie ein schönes Gemälde, das er schon lange nicht mehr angesehen hatte. Es war Momoko, die auf alle nacheinander mit einer Umarmung oder einer Handreichung zuging und letztendlich auch bei seiner Begleitung und ihm angekommen war. „Hi, Hiromi. Ich freue mich, dass du zugesagt hast und auch gekommen bist.“, begrüßte sie sie mit erschreckend glaubwürdiger Freundlichkeit. Flehend schaute er seiner Partnerin ins Gesicht, der ganz eindeutig eine schnippische Bemerkung auf den Lippen brannte, aber da wand sich Momoko auch schon geschickt von ihr ab und ihm zu. „Hi, Yosuke.“, sagte sie knapp. Im ersten Moment reagierte er so perplex wie sprachlos, aber als sich das Lächeln auf ihrem Mund ihm gegenüber veränderte und ein bekannter Glanz in ihre Augen trat, erwiderte sein Körper das von ganz alleine. „Hi, Tollpatsch.“, hörte er sich selber neckend antworten. Sie rollte halbherzig beleidigt mit den Augen und schnaubte amüsiert, die Schuhe an den Hacken auf ihren Fingerspitzen balancierend. Eine Sekunde lang musterte sie ihn und er ertappte sich dabei, wie er genau das Gleiche bei ihr tat. Es waren keine Worte nötig, um seine Welt in diesem Moment wieder gerade zu rücken. Auch wenn sie ihm, genau wie bei Hiromi, die Hand zum Gruß verweigerte und sich schon wieder viel zu schnell für seinen Geschmack ihren anderen Freunden zuwendete, wusste er jetzt, dass er sich geirrt hatte. Momoko war weder traurig noch distanziert; unter dem Schleier der Zurückhaltung verbarg sie dieselbe Freude über ihr Wiedersehen wie er. Der Knoten in seinem Bauch löste sich gemeinsam mit seinen vorherigen Befürchtungen und der Nervosität auf. Dafür flatterte es darin vor Vorfreude über die kommenden Tage. Momoko atmete auf; der erste Kontakt mit Yosuke war überstanden und es war gut verlaufen. Mit unzähligen Mantras hatte sie ihr aufgeregtes Herz in den letzten Stunden während der Autofahrt zu beruhigen versucht, aber ihre Panik war ganz umsonst gewesen. Die Gegenwart ihrer engsten Freunde wog sie in vertrauter Sicherheit und zu groß war ihre Freude, sie alle wiederzusehen und Zeit mit ihnen verbringen zu können, als dass da noch viel Raum für Ängste blieb. Schon auf den Stufen der Treppe hatte sie ihn in der Ferne erspäht und gesehen, wie er nervös hinter den anderen stand und auf den Boden gestarrt hatte. Gut sah er aus – sehr gut. Wie seine Haare neuerdings fielen mochte sie, weil sie dazu einluden hemmungslos in ihnen herumzuwühlen. Ein Gedanke, dem sie nur flüchtig nachhängen konnte, da sie alle noch begrüßen musste. Hiromi gegenüberzutreten war hart. Ihre Abneigung gegen sie konkurrierte fieberhaft mit ihrem schlechten Gewissen und ließ deswegen kein eindeutiges Gefühl zurück, mit dem sie etwas anfangen konnte. Momoko wollte sie nicht hier haben und sich immer wieder vorführen lassen, dass Yosuke ihr fester Freund war, aber eigentlich war sie ihr auf der anderen Seite zu egal, um sich über ihre Anwesenheit zu ärgern. Schließlich war sie mit ihren Freundinnen in der Überzahl, also machte sie die gute Miene zum bösen Spiel, die ihr besser als erhofft von der Hand ging. Yosukes taktisch freche Begrüßung, die fast schon wieder an die alten Zeiten anknüpfte, machte es für sie leicht, sich von ihm abzuwenden. Keiner der anderen konnte darin etwas Verdächtiges hineininterpretieren. Hinagiku sah sie aus dem Augenwinkel sogar mit dem Kopf schütteln, als wollte sie „Typisch!“ sagen. „Ich möchte euch alle auch noch mal begrüßen und mich herzlich dafür bedanken, dass ihr meiner Einladung hier her gefolgt seid. Das bedeutet Momoko und mir sehr viel.“ Takuro tupfte sich mit einem Stofftaschentuch Schweißperlen von der Stirn und nahm auch kurz seine Brille ab, um den brennenden Schweiß aus seinen Augen zu wischen. Er verzichtete gleich ganz auf Umarmungen oder Händeschütteln und nahm eine formelle Haltung ein. „Bevor ich euch zur Unterkunft führe und die Gegend erkläre, möchte ich noch ein paar Dinge sagen, die mir auf der Seele brennen. Den wenigsten von euch hier stehe ich auch nur annähernd irgendwie nahe, obwohl wir einst Schulkameraden waren. In der Vergangenheit gab es sogar Spannungen zwischen manchen hier und mir.“, leitete er mit kurzem Seitenblick auf Yosuke ein. „Aber ich möchte nicht nachtragend sein. Die Tage, die wir hier zusammen verbringen, möchte ich gerne dazu nutzen, um mit allen hier ins Reine zu kommen. Wir sind ja inzwischen erwachsen und etwas reifer, wahrscheinlich auch klüger geworden und sollten nicht zuletzt Momoko zuliebe über diesen Dingen stehen. Nicht wahr?“ Hinagiku, die während seiner Ansprache in einer Tour mit den Augen rollte und Grimassen schnitt, wann immer er nicht zu ihr hinsah, räusperte sich laut hinter vorgehaltener Hand. Yuri verbiss sich ein Grinsen, als sie hinter dem unnatürlichen Laut als einzige das Wort „Schleimer!“ heraushörte. „Gott, Takuro! Du klingst nicht nur reifer, du klingst überreif! Hast du die Rede irgendwo aus ’nem staubigen Buch abgeschrieben? Selbst mein Opa is’ nich’ so stocksteif wie du.“ Mit offenen Mündern starrten alle das unverfrorene Mädchen an, das ihrem alten Sandkasten-Spielkameraden mit einem breiten Grinsen entgegen trat. „Hinalein… reizend wie eh und je.“, entgegnete Takuro zurückhaltend. Er versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie perplex ihn Hinagikus Offenheit dastehen ließ. Sie knuffte ihn kumpelhaft gegen den Oberarm. „War ’ne klasse Idee hier raus zu fahren. Ist ’ne gute Chance für dich etwas lockerer zu werden.“ Takuro rieb sich angeschlagen den Arm und rückte etwas unbeholfen seine Brille zurecht. So aus der Fassung gebracht hatten sie ihn das letzte Mal in der Mittelschule erlebt. Seine gespielte Coolness war wie weggewischt. „Äh, ja… das war auch so in etwa das, was ich noch abschließend sagen wollte. Jedenfalls, wenn wir alle die Vergangenheit ruhen lassen können, dann wäre es ja nicht unmöglich, dass wir die Chance nutzen und untereinander Freundschaften schließen.“ Hinagiku schüttelte resignierend den Kopf. Ganz so leicht ließ sich diese steife Marotte wohl nicht aus ihm vertreiben. Takuro sah wieder zu Yosuke, der unter seinem taxierenden Blick etwas verwirrt nach rechts und links schaute, um sich zu vergewissern, dass er auch tatsächlich ihn anstarrte. Mit zwei Schritten war der Schwarzhaarige bei ihm und nun staunten auch die anderen wortlos über das Vorgehen. Sein Blick war ernst und entschlossen, als er dem Torwart die Hand zum Gruß ausstreckte. „Fuma, ich muss mich wohl für mein Verhalten in letzter Zeit dir Gegenüber entschuldigen.“ Yosuke starrte ihn mit großen erstaunten Augen an, aber nicht nur er, auch die anderen wechselten sprachlos miteinander Blicke. Momoko hinter Takuro schien auch nicht gewusst zu haben, dass er so einen Schritt wagen wollte. „Bitte, das ist mir etwas unangenehm. Schließen wir Frieden?“ Mit einem Kopfnicken deutete er noch mal auf seine Hand, die immer noch unbeachtet in der Luft hing. Seine Anspannung war dem Brillenträger deutlich anzusehen; es kostete ihn alle Überwindungskraft, die er hatte. In seinen rotbraunen Augen glomm immer noch der Funke der Verachtung und Feindseeligkeit oder was immer es auch war. Trotzdem gab Yosuke sich einen Ruck und schlug ein, sein Blick ebenfalls fest und unnachgiebig. Es war unklar ob es ein Abkommen nur zum Schein war, damit er bei Momoko punkten konnte oder ob er es ernst meinte, aber noch misstrauisch dem jungen Sportler gegenüber war. „Ich erinnere mich an keinen Krieg, aber klar – Frieden.“, erklärte er mit vorgerecktem Kinn einem schwachen Lächeln. „Wow, ich bin sprachlos… Na dann, wenn jetzt alles geklärt ist, wollen wir?“, schlug Yuri vor und unterbrach damit den bannenden Blickkontakt zwischen den beiden ungleichen Männern. Sie lösten ihren Handschlag und die Spannung verflog. „Natürlich, dann wollen wir mal!“, antwortete Takuro erfreut darüber, wieder in die Rolle des großzügigen Gastgebers schlüpfen zu dürfen. Sie teilten die Gepäckstücke untereinander neu auf, damit niemand auf dem sandigen Weg zum Feriendomizil unter den Gewichten in der Schwüle umkippte. Takuro legte beim Losgehen betont einen Arm um seine Verlobte und bemerkte nicht, dass sie sich kurz nach Yosuke umsah, der gerade einen Koffer und die Tasche hoch hievte und ebenfalls zu ihr schaute. „Alles ok?“, fragten ihre Augen und mit einem schlichten Kopfnicken antwortete er darauf, kurz bevor sich Hiromi trotz seiner Last noch bei ihm unterhakte. Dass sie nicht die Schwere des Gepäcks meinte, sondern Takuros überraschendes Angebot, war beiden klar. Es würde sich bald zeigen, wie es sich auf die folgenden Tage auswirken würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)