~ Love at third sight ~ von Nea-chan (Mit dem Herz gegen alle Regeln) ================================================================================ Kapitel 58: Shôichirô --------------------- Bis spät in die Nacht hinein hatten er und Momoko sich noch unterhalten. Hauptsächlich über das Essen; wie es in der Klinik schmeckte und wie es war, wieder Zuhause zu essen. Seine Tochter hatte das Thema schnell darauf gelenkt und ging auch in den Stunden danach nicht weiter auf ihre Freundschaften oder den Kurztripp ein, zu dem sie aufbrechen wollte. Selbst dann nicht, wenn er konkrete Fragen dazu stellte, mehr als eine knappe Antwort, die nur das Nötigste enthielt, bekam er nicht. Er hatte das Gefühl, dass sie dieses Thema mit Absicht mied und nachdem er sie bereits genug genötigt und ausgequetscht hatte für einen Tag, erschien es ihm nur fair, ihr ihren Willen zu lassen. Abends waren sie noch zusammen durch ihr Viertel spaziert. Das Wetter war schön gewesen; angenehm warm, aber nicht zu schwül. Über das Fotografieren und mögliche Jobs hatten sie noch geredet und später sogar noch ein bisschen über frühere Zeiten. Es war nicht immer möglich gewesen, Momoko als Kind bei Nachbarn oder Freunden unterzubringen, wenn er zu einem Fototermin gerufen wurde. Vor allem an den Wochenenden, an denen es keine Kinderbetreuung gab, war er oftmals gezwungen gewesen seine kleine Tochter mitzunehmen. Vielleicht fing sie deswegen an sich für die Fotografie zu interessieren. Bald schon, als sie dann älter war, half sie ihm sogar; knipste auf Veranstaltungen gemeinsam mit ihm aus verschiedenen Blickwinkeln und half ihm mit dem Equipment und beim altmodischen Entwickeln der Fotos. Sie hatte so viel Spaß an dieser Arbeit und Talent außerdem. Es war ein Jammer, dass all ihre Ersparnisse für ihre berufliche Zukunft so gut wie aufgebraucht waren, weil sie das Haus durchbringen musste und ihr Nebenjob gerade mal für das Nötigste reichte… Shôichirô erinnerte sich daran, dass er Momoko zum Eintritt in die Mittelschule ihre eigene Kamera geschenkt hatte. Mit ihr fotografierte sie für die Schülerzeitung und blieb bis heute ihr wertvollster Besitz und Talisman. Aber er war sich sicher, wenn sie nicht für einen weiteren Nebenverdienst einsetzbar gewesen wäre, hätte seine Tochter auch dieses Stück für ein paar Yen versetzt, wenn es nötig gewesen wäre. Beim Abendessen war sie eher still geblieben. Das Strahlen ihrer Haut und das Leuchten in ihren Augen war bereits beim Mittagessen wieder verschwunden gewesen und wollte sich auch mit keiner noch so lustigen Anekdote aus ihrer Kindheit wieder hervorzaubern lassen. Obwohl sie lachte und lächelte schien sie etwas zu bedrücken. Sie wirkte zu erwachsen für ihr Alter. Inzwischen war es spät geworden und Momoko lag bereits im Bett. Er selbst war noch etwas ruhelos und saß ohne sinnvolle Beschäftigung auf der Couch und starrte den leeren Fernsehtisch an. Jetzt ein paar Nachrichten oder eine alte Sportaufzeichnung, die ihn etwas einlullen würden, das wäre gut. Er verspürte keinen Drang zu trinken und es war auch nichts im Haus, aber die Langeweile machte ihm Sorgen. Die Angst, den Drang möglicher Weise wieder verspüren und ihm am Ende nicht widerstehen zu können, saß in einer Ecke seines Bewusstseins und lauerte. Man hatte ihm beigebracht mit diesen Ängsten und den Zwangsgedanken umzugehen, trotzdem bedrückte ihn die Stille in dem einsamen Haus. Es fehlte ihm an Beschäftigung, denn nicht mal ein Radio oder Computer konnte er einschalten! Er stand auf und lief ein bisschen durch das Erdgeschoss. Dann stand er vor der Kellertür und ihm viel es wie Schuppen von den Augen, dass er dort ganz sicher etwas Ablenkung finden würde. Begeistert stieg er hinab und schaltete erst das rötliche Licht an, um zu prüfen, ob er auch keine frischen Aufnahmen ruinieren konnte. Erst danach das helle Flutlicht der Leuchtstoffröhren. Es roch vertraut nach Entwicklungschemikalien und dem leichten Muff eines kühlen Kellers. Die alten Wäscheleinen hingen immer noch an Ort und Stelle und an ihnen hingen unzählige Fotos, die schon vor Tagen oder länger entwickelt und zum Trocknen aufgehangen wurden. Shôichirô nahm sich eine leere Ablage und fing an die Bilder abzuhängen und sorgfältig zu stapeln. Auf allen war dasselbe Motiv zu sehen, nur immer zu einer leicht veränderten Zeit, aus einem anderen Winkel geschossen oder mit dem Fokus auf einem anderen Bildausschnitt. Er erkannte sie, seine Heimatstadt am Morgen, vor einem glühend orangefarbenen Sonnenaufgang. Gleißendes Rot auf den Spitzen der Hügel, Lila Wolken und sattgrüne Baumkronen, die ihren Farbton je nach Sonnenstand veränderten. Von wo sie geschossen wurden konnte er nur erahnen. Momoko musste an einem hoch gelegenen Ort gewesen sein. Außerhalb der Stadt, irgendwo auf einem Hügel, der bestimmt nicht zum Wandern gedacht war, denn sonst wäre er selbst in all den Jahren schon ein Mal dort gewesen, um ebensolche Fotos zu machen. Es war eine wunderschöne Bilderreihe und es war schwer zu sagen, welches Foto am gelungensten war. Nur eines beschäftigte ihn – wie war seine Tochter an diesen Ort gelangt? War sie von selbst auf diese Idee gekommen, so früh aufzustehen und einen unerschlossenen Hügel zu erklimmen, nur um solche Bilder zu machen? Ganz abgesehen davon, wie sie dorthin gelangt war… möglicher Weise war das ein Date mit ihrem Freund gewesen? Das war denkbar. Was gab es schließlich romantischeres, als sich gemeinsam einen Sonnenauf- oder untergang anzusehen? Solche Dinge hatte er einst mit seiner Frau auch getan. Shôichirô seufzte schwermütig bei dem Gedanken an seine Geliebte, deren Tochter fast genau ihr Abbild war. Fertig mit Einsammeln und Bestaunen der Bilder, fühlte er sich bereits deutlich ruhiger und ausgeglichener. Das war ein guter Zeitpunkt, um schlafen zu gehen, also löschte er das Licht, verließ den Keller und stieg die Treppen ins Obergeschoss hinauf. Momokos Zimmertür stand einen Spalt breit offen und er konnte der Versuchung nicht widerstehen, zu ihr reinzuschlüpfen und zu prüfen, ob sie auch wirklich schon schlief. Obwohl sie längst volljährig war, fühlte es sich kein bisschen anders an als damals, als sie noch ein kleines Mädchen war und er sie nachts regelmäßig noch mal zudeckte. Ein Kind blieb ein Kind, egal wie alt und reif es schon war. Das änderte gar nichts an seinen Gefühlen für sie. Das graublaue Mondlicht fiel durch ihre Gardinen auf den Teppich neben ihr Bett. Auf leisen Zehen schlich er sich hinein. Ihr Zimmer war aufgeräumt, nur auf dem Schreibtisch herrschte ein kleines, kreatives Chaos, das er nur allzu gut von sich selbst kannte. Künstler eben, er schmunzelte. Das Bett und ihr Gesicht lagen im Schatten, aber bei genauerem Hinsehen war er sich sicher, dass Momoko tief und fest schlief. Ihre regelmäßigen Atemzüge und die gelegentlichen Seufzer bestätigten ihn darin. Vorsichtig zog er am oberen Ende ihrer Bettdecke, um sie noch etwas höher über ihre Schultern zu ziehen, als etwas vom Bett rutschte und vor seine Füße fiel. Wie zu Eis erstarrt rührte er sich keinen Zentimeter vom Fleck und verbot sich auch nur zu atmen. Momoko seufzte ein Mal lang, schmatzte genüsslich im Schlaf und regte sich ansonsten nicht weiter. Langsam atmete ihr nächtlicher Besucher aus und trat einen Schritt zurück. Möglicherweise war er doch langsam zu alt dafür, nachts noch mal nach seiner erwachsenen Tochter zu sehen. Würde sie ihn dabei erwischen, könnte sie das eventuell als Eingriff in ihre Privatsphäre auffassen. Wo er gerade dabei war, spähte er nach dem unbekannten Objekt, das ihn beinahe verraten hätte. Es war nur ein kleines Heft, ein Notizbuch vielleicht. Er bückte sich danach, um es aufzuheben und dabei flatterten zwei Seiten heraus. Gern hätte er genervt aufgestöhnt, aber das verbot er sich. Er griff nach den beiden Zetteln und wollte sie gerade wieder irgendwo zwischen den Seiten verschwinden lassen, in der Hoffnung, dass ihr nicht auffiel, dass sie nicht an der richtigen Stelle waren, als er verdutzt bemerkte, dass es sich hierbei um Fotos handelte. Vage erkannte er Schemen darauf, die ihn neugierig machten, also hielt er sie etwas mehr ins Mondlicht. Dann stutzte Shôichirô heftig, denn auf beiden Bildern war nicht viel anderes abgebildet, als ein und derselbe junge Mann. Ein Foto von ihrem Verlobten hätte ihn vielleicht verstört, aber nicht verwundert. Zwei Bilder von Yosuke Fuma jedoch machten ihn sprachlos und warfen eine Menge Fragen auf. Er legte das Notizbuch zurück und verließ das Zimmer genauso leise und fast so spurlos, wie er gekommen war. Nach einer Ablenkung hatte er gesucht, aber dass er ausgerechnet im Zimmer seiner Tochter eine finden würde, die ihn über die Maßen und auch noch die nächsten Tage und Nächte beschäftigen würde, hatte er nicht erwartet. ~*~ Der Sonntag kam und ging, die Zeit mit Momoko verging viel zu schnell. Vor allem weil Shôichirô in jedem Gespräch, das sie beide führten, immer darauf hoffte etwas aus seiner Tochter herauszubekommen, dass seinen Fund letzte Nacht erklären würde. Doch nicht mal, als er sie für die schönen Fotos im Keller lobte und beiläufig fragte, was sie denn in letzter Zeit sonst noch alles fotografiert hatte und ob sie auch noch Bilder von Schulsportlern machte, war etwas aus ihr herauszubekommen. Im Gegenteil, sie machte dicht und wirkte immer verschlossener, je mehr er über ihre Aufnahmen herausbekommen wollte. Und das obwohl sie ihm stolz Umschläge voller Abzüge zeigte, die sie von ihren kleineren Fotografenjobs doppelt angefertigt hatte. Es waren allesamt einwandfreie Bilder, aber auf keinem war der ominöse Hügel, ein Fußballspieler oder ihr Verlobter zu sehen. Nicht einmal ihre Freundinnen. Es gab nicht viele Erklärungen dafür, warum eine Frau Bilder von einem Mann an einem untypischen, fast schon geheimen Ort aufbewahrte. Zwar war er selbst ein gestandener Mann der solche Marotten nie gehabt hatte und auch nicht viel von der Pubertät des weiblichen Geschlechts verstand, aber dass das verdächtig war, hätte selbst ein Blinder erkannt. Die Vermutungen, die er anstellte, deckten sich gut mit Momokos Reaktionen, die sie am Vortag bei dem kurzen Gespräch über den jungen Torwart gezeigt hatte. Nur der Rest wollte so gar nicht passen. Nicht mal annähernd… Leider verließ ihn seine Tochter am Montagmorgen und ließ ihn genauso ratlos zurück, wie zuvor. Voller Vorfreude hatte sie ihren Freund begrüßt, das perfekte Lächeln aufgesetzt und sich überschwänglich von ihrem alten Herrn verabschiedet. Es gab augenscheinlich keinen Grund anzunehmen, dass etwas zwischen ihr und Takuro nicht in Ordnung war. Nur sein Bauchgefühl, das ihn nicht ruhen ließ, seit er von ihr und dem engagierten Japaner erfahren hatte. Womöglich interpretierte er zu viel in die zwei Fotos hinein? Bewarte Momoko sie vielleicht für einen bestimmten Zweck auf? Hatte sie damit nur etwas Spezielles vor? Waren sie am Ende gar nicht für sie selbst? Es kam so weit, da brauchte Shôichirô Ablenkung von der Ablenkung. Töchter zu haben, die erwachsen wurden, brachte ungeahnten Kummer mit sich. Den Spruch „Kleine Kinder, kleine Sorgen – Große Kinder, große Sorgen“, begann er langsam zu verstehen. Entschlossen setzte er sich gegen Mittag an den Esstisch, auf dem noch die ganzen Briefe und Papiere lagen, die er mit Momoko Tags zuvor bereits ein Mal grob durchgegangen war, und fing an sie zu sortieren. Daran saß er eine ganze Weile und tatsächlich half ihm die Tätigkeit auch über seine Sorgen zu Momokos Privatleben hinweg. Die Türklingel unterbrach ihn schließlich bei seiner Arbeit. Eigentlich hätte er gelassen darauf reagieren müssen, aber er erwartete keinen Besuch und rechnete auch nicht mit einem Paketboten. Und wenn Momoko, aus welchem Grund auch immer, unangekündigt zurückgekehrt wäre, dann hätte sie sicher ihren Schlüssel benutzt. Konnte das etwa ein Gerichtsvollzieher mit einem Vollstreckungsbeschluss sein?! Automatisch starrte er noch mal auf die Stapel sorgfältig sortierter Briefe. Keine der durchgesehenen Mahnungen war so akut gewesen, dass eine solche Maßnahme bereits nötig wäre! Mit einem mulmigen Gefühl und feuchten Händen machte er sich auf zur Haustür und ging dabei mehrere Szenarien durch, auf die er reagieren können würde. Doch als er die Tür öffnete und sah, wer ihm da einen unangekündigten Besuch abstattete, war klar, dass er sich darauf selbst im Traum nicht hätte vorbereiten können. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)