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SAO: Progression

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Aufgaben in diesem Kapitel:

☯ Kalibriere das NerveGear auf deinen Körper und lege dein eigenes Konto an. 
☯ Erstell dir deinen persönlichen Avatar (den kannst du gestalten wie du magst, egal welches Geschlecht) und tauche in der Welt auf
☯ Sieh zu, dass du dir die Anfangsstadt anschaust, vielleicht magst du dir von deinem Startkapital etwas kaufen?
☯ Werde am Abend zwangsteleportiert auf den großen Platz

♔ Bonus: Kauf dir deine erste Waffe
♔ Bonus: Gabel jemanden auf, der mit dir ausprobiert wie die Skills gehen und töte dein ersten Gegener Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Aufgaben in diesem Kapitel:

☯ Nachdem alle Spieler auf dem großen Platz versammelt sind, taucht der Spielleiter auf und man erklärt euch die aktuelle Situation
☯ Ihr verwandelt euch in euer reales Aussehen
☯ Nachdem die Barrieren aufgelöst sind, zieht Haia dich aus der Menschenmasse die anfängt durchzudrehen
☯ Versuche dich zu sammeln und nochmal alles durchzugehen. Warte die Nacht ab, bis du aufbrichst.
☯ Überlege dir wie du weiter vorgehen willst (Willst du in einer Gruppe oder alleine reisen? Wie viele Leute willst du maximal dabei haben? Was möchtest du vielleicht leveln?), denk aber auch an dein Leben in der realen Welt. Dass du nun hier gefangen bist, wird sicher nicht spurlos an dir vorbeigehen. Je nachdem, wem du dich mehr widmest, wird sich die Storyline wenden.

♔ Bonus: Ich stelle dir frei, ob du Haia dazu überredest vorerst mit dir zu kommen. Er wird jedoch schon in der Nacht aufbrechen wollen, bring ihn dann davon ab.
♔ Bonus: Solltest du dich dagegen entscheiden, frag ihn, ob er dir noch Tipps geben kann (bezüglich guter Level Plätze etc.) Er wird dir selbstverständlich nicht alles sagen, aber ein paar wenige Informationen, die dir eine Woche Vorsprung verschaffen, erhältst du.
♔ Bonus: Solltest du geplant haben in einer Gruppe weiter zu ziehen, kannst du ruhig schauen, ob dir ein paar Leute sympatisch erscheinen. Dir können Gesichter gerne bekannt vorkommen :) Ansprechen solltest du die Leute jedoch erst am nächsten Morgen, wenn sich alles ein wenig beruhigt hat. Beachte auch, dass nicht jeder direkt abreisen mag. Komplett anzeigen

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Prolog

Der 3. November 2017.

Endlich war es soweit... Mit meinem Rollkoffer stand ich in der Schlange zum Check-In. Natürlich war es mal wieder Berlin Tegel, von wo aus ich starten sollte. Hatte auch irgendjemand jemals daran geglaubt, dass der Berlin-Brandenburg Flughafen BBI bis dato fertiggestellt werden würde? Natürlich nicht.

Meine Mundwinkel zogen sich bei dem Gedanken daran, dass die Südstrecke von der Bahn weiterhin passagierlos befahren wurde, merklich nach oben. Ich versteckte mein schiefes Lächeln, in dem ich einen Schluck aus der Thermosflasche trank, welche ich dabei hatte, damit ich mir kein überteuertes Getränk in einen der Shops kaufen musste. Ein Blick auf die große schwarze Anzeigetafel mit deren gelben Flugdaten verriet mir, dass es jetzt 12:30 Uhr war. In einer Stunde säße ich bereits im Flieger. Auf dem Weg nach London Heathrow. Auf dem Weg nach Tokyo Narita. Als ich mir den Namen des Flughafens tonlos auf der Zunge zergehen ließ, spürte ich schon wieder, wie mein Herz Achterbahn fahren wollte.

Tokyo...

Wie lange war es schon her, dass ich das letzte Mal das Land der aufgehenden Sonne betreten hatte? Um genau zu sein... sechseinhalb Jahre.

Damals war es mein erster alleiniger Auslandsurlaub gewesen – nur mit einer Freundin, aber ohne Eltern, ohne Klasse, ohne größere Mitreiseschaft... Leider hatte sich der Urlaub nach einer Woche bereits erledigt. Kranken Menschen im Flugzeug sei Dank hatte mich nämlich ein Magen-Darm-Virus heimgesucht und so war besonders das japanische Fernsehprogramm etwas, was mir bis heute gut im Gedächtnis geblieben ist. Wie war ich enttäuscht und vor allem wütend über mich selbst gewesen, als ich nach einem sehr anstrengenden Rückflug wieder zu Hause angekommen bin.

Niemand hatte mich die erste Woche trösten können, mit niemanden wollte ich darüber reden. Aber dieses Mal würde alles anders werden. Ich war ausgerüstet. Händedesinfektion, Mundschutz, Schal. Oh ja! … Zumindest versuchte ich meinem paranoiden Hirn klar zu machen, dass es keinen Grund gab, warum ich mich phobisch gegenüber Keimen zu verhalten hatte.

„Hey, da bin ich wieder!“, erklang mit einem Mal die helle Stimme meiner kleinen Schwester wieder, welche sich fix für fünf Minuten hatte abschotten müssen, um ein wichtiges Telefonat zu führen. Sie strahlte wieder über beide Ohren, so dass ich gar nicht anders konnte als zu lachen. Das war so typisch. Wenn sie lachte, lachten ihre Augen und schon musste ich ebenso lächeln. Sie verschaffte mir immer gute Laune und hielt seit nun mehr schon zehn Jahren in mir das Gefühl wach, dass ich sie einfach vor allem Bösen auf der Welt beschützen und sie immer in ihrem Tun und bei ihren Wünschen unterstützen wollte. Dabei war sie zum einen gewiss nicht klein und zum anderen auch nicht meine Schwester – wir fühlten uns nur auf diese Art miteinander verbunden.

Niko und ich waren uns einfach zu ähnlich, wie wir in Fettnäpfchen zu treten wussten, uns für Dinge begeistern konnten oder gar blöde Tänze zu irgendwelchen Openings erfanden und dann wiederum uns um unsere Liebsten sorgten und uns um sie kümmerten...

Es tat mir mehr als nur ein bisschen in der Seele weh, sie nun für längere Zeit nicht mehr sehen zu können. Erst war sie es gewesen, die im Sommer für ein Praktikum nach London gereist ist und nun eben ich. „Ich bin sooo gespannt! Du musst mir alles mit Fotos dokumentieren! Und du musst unbedingt auf den Tokyo Tower!“, quasselte sie nicht weniger nervös als ich war. Auf diesen Kommentar musste ich allerdings grinsen:

„Eher den Sky Tree. Tokyo Tower ist nicht mehr modern genug.“

„Dann eben auch den!“ So einfach konnte man sie nicht aus der Bahn werfen.

Ich trank einen weiteren Schluck von meinem Kaffee und hielt ihr dann den Becher hin. Dass wir Dinge teilten, war ganz natürlich und da brauchte keine von uns die andere fragen – normalerweise taten wir es aber dennoch. Wir kamen uns sonst zu unhöflich vor. Doof, wie wir waren. „Wann kommst du in Tokyo an?“

Da ich nun die Hände frei hatte, zog ich meine Tickets zwischen den Seiten meines Reisepasses hervor, den ich unter dem Arm geklemmt hielt, und warf einen prüfenden Blick auf diese. Zwar kannte ich die Daten auswendig, aber sicher war sicher.

„Hm... Gegen 17.20 Uhr. Wenn alles klappt, dann bin ich zu 15 Uhr in London und werde zu 18 Uhr weiterfliegen.“

Meine Skepsis war berechtigt, immerhin hatte ich damals ganze acht Stunden in Heathrow verbringen dürfen, weil sie die Maschine nach drei Stunden Check doch nicht für den Start zuließen und wir als Passagiere auf die nächste Maschine vertröstet wurden. Ein außerplanmäßiger Flug. Dafür hatte ich aber immerhin die Lichter vom nächtlichen Finnland sehen können. Auch ein schöner Anblick.

„Holt dich die Gastfamilie ab?“

„Sie meinten, dass ich vom Flughafen bis Ueno alleine fahren müsste“, erklärte ich, „Aber die Strecke ist mir ja nicht unbekannt.“ Ich zuckte mit den Schultern. Immerhin war ich ein großes Mädchen, ich hatte meine Pasmo-Card, hatte mein Anschlussticket für den Flughafentransfer und wusste, wo ich hinmusste. Eigentlich freute ich mich sogar darauf, denn es gab für mich nichts schöneres als Bahn zu fahren. Lokführerkind eben.

„Ah, okay! Meld' dich aber, sobald du da bist!“

„Ich werde es versuchen.“

Wir guckten beide gleichzeitig vor uns, als die Warteschlange mit einem Mal in Bewegung geriet. Na also.

Aber damit nahte auch der Abschied und ich musste mir auf die Zunge beißen, um nicht einen etwas gemeinen Kommentar abzugeben – Ein klein wenig enttäuscht war ich schließlich schon. Ich würde höchstwahrscheinlich für die nächsten zehn Monate im Ausland sein und meine Familie hatte es nicht auf die Reihe bekommen zu erscheinen. Eigentlich konnte ich meinem Vater keine Vorwürfe machen, denn sein Schichtplan war nichts, was sich immer so einfach ausdiskutieren ließ. Trotzdem... das innere Kind in mir heulte gerade, weil ich es unfair fand. Es waren immer diese besonderen Situationen, in denen es ein Teil meiner Eltern schaffte, mir auf die Füße zu treten... Doch viel Zeit, um noch länger drüber nachzudenken hatte ich nicht und ich wollte es auch nicht.

Niko war da und das zählte.

„Was wirst du nochmal arbeiten?“

„Erstmal in einem Café. Zumindest ist das der Plan“, antwortete ich und hatte mich nun ebenso bei ihr eingehakt, weil die Schlange vor uns immer kürzer wurde und ich mich gar nicht von meiner kleinen Schwester lösen wollte.

Das Work-and-Travel Jahr würde noch so einige Abenteuer bereithalten... Im Grunde wäre es mir gar nicht möglich gewesen, dieses zu starten, hätte es nicht doch widrige Umstände im Mai gegeben, die es mir nun ermöglichten...

„Trägst du dann eine süße rosa Uniform?“, scherzte meine Begleiterin und griente dabei wieder von Ohr zu Ohr.

„Selbst wenn ich wollte, wird mir die wohl nicht passen.“

„Dann nähst du die selbst!“

„Genau, wozu ist man Cosplayer?“

Wir lachten leise und mussten ein weiteres Mal in der Reihe stehenbleiben.

„Ich finde es jedenfalls cool, dass du das machst! Du wirst bestimmt eine Menge toller Dinge erleben!“, platzte sie dann noch einmal heraus und guckte mich dabei direkt an, „Und du wirst so viel von Japan sehen können!“

Ich antwortete nicht, sondern ließ den Kopf nur von links nach rechts und wieder zurückwippen. Diese widrigen Umstände formten sich vor meinem geistigen Auge zu Wörtern: Japanische Botschaft, Redewettbewerb, Exfreund. Keine näheren Details. Zumindest nicht jetzt.

Zack, wieder zwei weniger vor uns.

 

Schließlich war ich die nächste, die ihren Koffer aufzugeben und in den entsprechenden Wartebereich zu gehen hatte. Ich erledigte erst einmal die Formalien und sah dann zu meiner kleinen Schwester, seufzte tonlos, aber schwer.

Nun war der Moment gekommen...

Wir durften uns nicht lange ansehen, sonst hätten wir beide zu weinen angefangen. Aber auf der anderen Seite mussten wir dies... wann würden wir uns schließlich wiedersehen? Ich hatte keine Flugangst, aber es lag ein langer Flug über Russland und China vor mir. Allein. Keine Ablenkung wie damals mit Nadine. Das würde interessant werden.

„Ich werde dich vermissen!“, sagte Niko dann schon ein bisschen weinerlich und umarmte mich fest, „Pass auf dich auf, Nee-san! Komm gesund wieder!“ Ich schloss meine Arme ebenso um sie und drückte sie ganz, ganz fest. In diesem Moment war es mir egal, ob sie sich wegen Luftmangel beschweren würde. Ich würde sie für eine lange Zeit nicht wiedersehen. Nur über Internet sprechen. Nicht mehr ihre Haare beim Umarmen ungewollt essen müssen. Kein gemeinsames Eislaufen diese Saison, wie wir es eigentlich vorhatten. Keine Schwesterabende und keine spontanen Treffen.

Das würde schwer werden.

Die letzten zwei Jahre hatten uns so zusammengeschweißt... Ein bisschen machte sich da nämlich auch die Angst breit. Was würde in einem Jahr sein? Wie würden wir uns bis dahin entwickelt haben? Würden wir uns immer noch so nah sein? Ich hatte schon einige Trennungen hinter mir. Das wollte ich einfach nicht schon wieder erfahren. Besonders nicht mit ihr.

„Ich hab dich lieb!“, sprach ich leise in ihr Ohr, „Ganz, ganz doll lieb! Vergiss das nicht! Und mach keinen Unfug!“

„Du auch nicht! Du weißt ja, wer hier auf dich wartet, höhö.“

Höhöst du mich gerade an?“

Wir lösten uns ein wenig und ich sah sie breit grinsen, „Na klar!“

„Ochibi!“

„Oi!“

Und dann ließen wir einander los. Ich drehte mich noch einmal um, als ich durch das hellgraue Tor in den Wartebereich ging und prägte mir ihre Gestalt ganz genau ein. Wie sie winkte, wie sie lächelte, obwohl ich dennoch den Glanz in ihren Augen gesehen hatte. Ebenso, dass sie an diesem Tag ihre kupferfarbenen Haare mit der türkisblauen Strähne ein wenig wüst offen trug, ihre dunkle rechteckige Brille auf der Nase und die schwarze Meow-Mütze auf dem Kopf sitzend sowie ihr roter Lippenstift, der sie wie Schneewittchen aussehen ließ. Dann war sie aus meinem Sichtfeld verschwunden und ich musste mir mehrmals über die Augen wischen, als ich mich auf einen der Stühle setzte – umgeben von den anderen Fluggästen, die Zeitung lasen, ihre Kinder beruhigten oder sich mit ihrem Partner unterhielten.

Mein Herz wurde noch schwerer als angenommen. Ich hätte nicht gedacht, dass es mich doch so heftig treffen würde... Tief durchatmend, zog ich mein Handy hervor und sah, dass mich verschiedene Messengernachrichten anblinzelten:

Die Neuste von meiner kleinen Schwester, die mir sofort schrieb, dass sie solange hierbleiben würde, bis mein Flugzeug sicher im Himmel verschwunden wäre. Süß.

Die darauffolgende von meinem Vater, ob ich denn schon im Flugzeug säße. Nein, Pappa, dann hätte ich das Handy aus! Typisch. Eine dritte von meiner Mutter, die mir einen guten Flug wünschte und dass ich mich in London melden sollte. Yes. Erste Roaminggebühren für Mutti. Natürlich.

Zwei SMS waren ebenso eingegangen: Eine von Viki und Tanja, meine Lieblings-Chaoten-Zweier-WG, die mir alles Liebe wünschten, und eine weitere von Judith, welche mir eine sichere Reise erbat und dass ihre Senna doch bitte auf sich aufpassen würde, sonst käme die Erdbeere vorbei. Oh, und da war noch eine von meiner Lieblingsmitbewohnerin und Zwillingsschlange! Unlöblich wie immer. Was würde ich ihren Sarkasmus vermissen.

Aber eigentlich... gab es da noch eine Nachricht, auf die ich regelrecht wartete... und sie war auch längst eingegangen. Ich switchte erneut ins die Chatübersicht zu WhatsApp, scrollte zu einem für Außenstehende mysteriösen Scherznamen namens Applepie-mit-Zimt und tippte auf die Zeile.

Obwohl ich ein bisschen traurig war, musste ich nun erst recht lächeln und den Kopf schütteln. Das war wieder so typisch er. So typisch. Doch wo ich eben noch schmunzelte, verlor sich dieses Hochgefühl sofort und ich spürte, wie mir die Tränen dann doch endgültig über die Wangen liefen. Ich war ein emotionaler Trottel.

Was das betraf, war ich es wirklich. Und wie.

Das war es auch, was mich am meisten ärgerte... dass er nicht hier sein konnte.

Aber es war eben wirklich nicht machbar gewesen, dass er den Dienstplan umändern lassen konnte. Krankenstand. Er hatte es wirklich versucht, aber so blieb uns nur die Kommunikation über diesen blöden Messenger.

Ich drückte das Telefon fest an meine Brust, schloss die Augen und versuchte wieder Kontrolle über meine Gefühle zu erlangen, damit ich ihm antworten konnte, aber diese Kontrolle hatte ich schon lange nicht mehr. Schon sehr lange nicht mehr.

Hier hatten wir dann auch das eigentliche Problem, warum Japan für mich mit einem bitteren Beigeschmack begann...

 

Das Boarding verlief ohne Probleme, wie stiegen pünktlich in das kleine Flugzeug und ich meinen Platz in der 14. Reihe eingenommen. Selbst der Flug nach London war schnell vollbracht, war ich lang genug beschäftigt, das ausgelegte Magazin zu lesen und für 30 Minuten die Augen zu schließen, wo ich in der Nacht kaum geschlafen hatte – der Aufregung verschuldet.

In Heathrow angekommen, blieb mir genügend Zeit, um in Ruhe zum anderen Terminal zu gelangen und mich dort noch ein wenig umzusehen und zu stöbern. Sollte ich mir für den Flug vielleicht etwas zum Schmökern mitnehmen? Mich erwarteten elf Stunden und man konnte nie wissen, wie die Filme sein würden, die sie im Programm hatten. Damals hatte ich mir den ersten Teil des vierten Twilight-Films angetan und außerdem noch George Clooney. Zwar ein Leckerbissen, aber wirklich interessant war der Streifen nicht. Descendants oder so. An weitere konnte ich mich schon nicht mehr erinnern. Irgendwann hatte ich die Fernbedienung herumgedreht und herausgefunden, dass sie auch ein Gamepad war und so meine Zeit mit Tetris und Co. Totgeschlagen.

Essen, trinken, Filme sehen, sich etwas bewegen, zocken, schlafen und wieder von vorne... Ich kannte das Prozedere – nur mit dem Unterschied, dass ich dieses Mal gewiss nicht in der Mitte saß, sondern mir erneut einen Gangplatz ausgesucht hatte. Lange Beine erforderten mehr Platz!

Wie erwartet, saßen dann in der großen Maschine zum Großteil Asiaten, meist Japaner – und natürlich trugen sie wieder all ihren präventiven Mundschutz. Dieses Mal aber ebenso vorbereitet, setzte ich meinen eigenen auf. Meine Freundin Risa hatte mir zwei Päckchen geschickt - beide in Rosa aber das eine hatte eine schwarze Katze als Muster und das andere Alice in Wunderland. Für den Hinflug entschied ich mich für die Katze und zog mir damit die Gummischlaufen über die Ohren. Für mein Gesicht waren die Masken ein bisschen zu klein, aber immer noch besser, als mich erneut irgendwo anzustecken.

Ja, ich war paranoid, keimphobisch und was weiß ich... aber nachdem ich mir schon dreimal den Norovirus eingefangen hatte und auch sonstige Krankheiten im Krankenhaus während meiner Ausbildung hatte mitgehen lassen, war ich da etwas... vorbelastet.

Das Essen für unterwegs war wieder einmal ein simples Reis-Huhn-Gericht oder italienische Pasta. Mit Wohlwollen den Reis gewählt, war es nach dem Abendessen auch schon Zeit, die Schotten langsam dicht zu machen. Die Stewards und Stewardessen begannen die Nachtbelichtung einzuschalten. Es war immerhin auch schon nach 21 Uhr, wie mir meine Uhr zu verstehen gab und als würde uns alle eine fluginterne Müdigkeit überrollen, schlossen sich meine Augen wie von alleine. Nur die Decke hatte ich mir noch zuvor um den Körper gelegt, damit ich nicht frieren würde. Ich hoffte auf einen traumlosen Schlaf, denn ich hatte keine Lust von Abstürzen oder Desaster zu träumen, wie ich es sonst gerne mal tat.

 

Dass ich dies aber nicht brauchte, war eine andere Sache... Mitten in der Nacht – so fühlte es sich zumindest an – wurde ich aus dem Schlaf gerüttelt. Schwerfällig hoben sich meine Lider, aber dafür hatten sich meine Ohren bereits an das Aufnehmen und Verarbeiten von Geräuschen gewöhnt, so dass mir ein betriebsamer Pegel an Lautstärke bewusst wurde, der mich wacher werden ließ.

Ein zweites Mal ruckelte es und da saß ich dann fast kerzengerade in meinem Sitz. Ich sah mich irritiert um. Es war bereits wieder Tag, als müssten wir irgendwo über China sein – 12 Uhr. Ich hatte ziemlich lange geschlafen.

Die Maschine machte einen weiteren Satz und ich sah verwundert und leicht angespannt aus dem kleinen Fenster links von mir. Außer einer grauen eintönigen Masse an Wolken war nichts zu sehen. Die Menschen um mich herum schnatterten leise, unterhielten sich. Es war der typische Eindruck, den man von Leuten hatte, die panisch wurden, es aber nicht zeigen wollten.

Flugturbulenzen.

Auch das noch.

Das Bordpersonal war damit beschäftigt, die Fluggäste zu beruhigen und ihnen Beistand zu leisten, was sie auch wirklich hervorragend hinbekamen. Ihnen zuzusehen, stimmte mich allein schon ruhiger. Sie hatten einen professionellen gemächlichen Gang, hetzten nicht, verbreiteten keine Aufregung und waren doch schnell genug für diejenigen da, denen schlecht oder übel wurde. Oder schlichtweg durchdrehen wollten. Der Gedanke an deren Zustand war nicht zuletzt deswegen von meiner eigenen Interesse, weil ich als gelernte Krankenschwester natürlich auch erste Hilfe leisten müsste, wenn dies nötig wäre.

Oder sollte ich gar meine Hilfe mit anbieten? Müsste ich das? Ich war mir unsicher.

Gerade wollte ich eine der vorbeigehenden Stewardessen ansprechen, als es erneut ruckelte und nun mehr ein Plink über die Lautsprecher erklang. Der Pilot meldete sich persönlich zu Wort. War das ein gutes Zeichen?

„Dear passengers, we're in the middle of a sudden weather change. Please stay calm in your seats and try to relax. The most difficult passages are already passed.“

Gut, das Gefühl hatte ich zwar nicht, dass wir das Schlimmste hinter uns hätten, aber wenn er meinte...

Meine Hände griffen automatisch in die Armlehnen und ich warf einen Blick zur Decke.

Lieber Gott, ich bin nicht gläubig, ich gehe nicht in die Kirche und ich spreche immer nur dann zu dir, wenn ich etwas will. Bedenklich schlechte Voraussetzungen, ich weiß. Aber bitte lass mich diesen Flug gut überstehen. Und dann auch bitte den Rückflug. Im Austausch dafür... werde ich auch nie wieder so weit fliegen und die Umwelt mit Kerosin belasten. Und ich werde auch einmal am Sonntag in die Kirche gehen. Und zu Weihnachten. Und Ostern. Auch in Japan!

Keine Ahnung, ob er mich erhörte, aber noch ein paar Minuten des Wackelns und Ruckelns und mit einem Mal flogen wir wieder locker leicht im Himmel und alles schien sich normalisiert zu haben.

Ein erneutes Plink erklang, die Anzeige der Sitzgurte erlosch und wir konnten aufatmen.

Danke Gott!

Genug Aufregung für ein ganzes Jahr. Sobald ich den Boden mit meinen Füßen berühren würde, würde ich einfach nur laut „Hurra!“ rufen. Oder eher ein „Yatta!“

Glücklicherweise waren das die einzigen Turbulenzen, die uns erwartet hatten.

Die Wolkendecke lichtete sich endlich und nun mehr konnte man auch das russische Gebirge sehen, als würde man nur wenige hundert Meter über dem Boden fliegen. Auch unser im Sitz des Vordermanns eingelassener Bildschirm versicherte uns bei der Flugroutenanzeige, dass wir bereits über die Hälfte hinter uns hatten.

Diese waren aber auch noch zu bewältigen und als mir eine der Stewardessen endlich den Einreisebeleg reichte, welchen ich auszufüllen hatte, damit ich mich legal in Japan befände, war es dann tatsächlich soweit: Ich war Nahe der japanischen Grenze, mein Abenteuer würde endlich beginnen.

 

Der Flughafen Narita hatte sich nicht viel verändert und wenn, dann fielen mir die kleinen Unterschiede nicht auf. Ich wies mich am Schalter der japanischen Behörde aus, ließ mir bestätigen, dass ich immer noch ich selbst war und ging dann weiter. Es war zwar streng, aber nicht so heftig wie London Heathrow oder Stansted, wo jeder wie ein potenzieller Terrorist behandelt wurde.

Einen kurzen Blick auf die Ausschilderung verriet mir die Ausgangsrichtung, welche ich ebenso fix ansteuerte. Am Tag meiner Abreise würde ich vielleicht auch einen Blick in die Duty Free-Shops werfen, aber jetzt war ich einfach nur kaputt von der Reise und wollte relativ schnell nach Hause. Zu meiner Gastfamilie.

Der Skyliner der japanischen Firma KEISEI Electric Railway war glücklicherweise nah. Ich war damals schon mit diesem zum Flughafen zurückgefahren. Das Beste: er fuhr direkt nach Ueno. Ich lächelte, als ich in den weiß-blauen Zug stieg und mir meinen Platz suchte, den man sich vorher natürlich hatte reservieren müssen. Ohne Reservierung keine Berechtigung. Oder doch? Mir war das System der japanischen Eisenbahn und deren Ableger nicht ganz klar, wie so vieles in diesem Land, aber es war immer wieder ein Erlebnis wert.

In vierzig Minuten durchquerten wir die vorstädtliche Landschaft Tokyos, fuhren vorbei an auf Hügeln stehenden Häusern, Feldern und Strommasten. Es war längst dunkel, aber ich konnte mich noch gut an die Strecke erinnern.

Die Häuserfronten würden zunehmen und sich verdichten. Wie beim LEGO-Spiel würden sie Stein für Stein wachsen und schließlich in ihrer Masse beeindrucken. Nur anhand der auch sich vermehrenden Lichtern konnte ich ausmachen, dass wir uns der Innenstadt Tokyos näherten und mein Herz begann wieder schneller zu schlagen.

Es war zwar ein Gefühl von Reiselust, das mich durchströmte, aber viel mehr legte sich etwas anderes um mein Herz: Das Gefühl nach Hause zu kommen. Denn obwohl diese Stadt so vollkommen anders war, die Menschen und das Land, hatte ich mich damals rundum wohlgefühlt. Würde das jetzt ebenso verlaufen? Jetzt, wo ich nicht nur für einen Urlaub hier war, sondern um zu arbeiten und das richtige Leben eines Japaners (soweit ich das als Gaikokujin erfahren könnte) kennenzulernen?
 

Die freundliche, glockenhelle Stimme der elektronischen Zugansage schaltete sich erneut ein und verkündete, dass der Zug nun Ueno erreichte. Ich erhob mich, schulterte meinen Rucksack und zog meinen schweren Koffer dann Richtung Ausgang. Nachdem wir eingefahren waren und sich die Tür öffnete, ächzte ich mein Gepäck die zwei Stufen auf den Bahnsteig und musste daraufhin erst einmal meine Schulter kreisen lassen. Das war der einzige Nachteil als Europäerin mit einer Größe von 1,76 m herzukommen: Ich konnte nicht mal eben so in einen Laden gehen und Klamotten kaufen. Da musste ich mein eigenes Arsenal dabei haben. Nicht zuletzt war es November, anbrechender Winter.

Die Übergänge zwischen Flughafen und Express waren kurz gewesen, da hatte ich die abendliche Kälte nicht gespürt, aber nun kroch sie mir doch ein wenig unter meinen schwarzen Anorak und ich schüttelte mich leicht.

Ich sah mich um, suchte nach den Gesichtern meiner Gastfamilie und erblickte dann drei Personen, die in meine Richtung mit den Händen winkten. Mich noch einmal nach links und recht vergewissernd, dass niemand anderes gemeint war, stiefelte ich auf sie zu, als sie mir auch schon entgegenkamen.

Ich hatte sie bisher nur auf einem Foto gesehen und wir hatten ein paar E-Mails und zwei, drei Briefe ausgetauscht. Die Organisation war damals über eine Privatperson und Mitglied der japanischen Botschaft vonstatten gegangen, daher hatten wir auch keine große Kennenlernphase. Das würde alles jetzt erst geschehen.

Aber auch in real machte die Familie einen sympathischen Eindruck: Da war zunächst der Vater, Ootsuka Jin – ein für einen Japaner groß gewachsener Mann nun mehr Mitte fünfzig, dessen schwarze Haare sich langsam mehr zum hinteren Teil seines Kopfes zogen, aber er sie dennoch in einer kurzen Welle locker tragen konnte. Er hatte eine Brille auf der Nase sitzen und ich konnte die Lachfältchen um seine Augen erkennen, als sich seine Mundwinkel hoben. Eigentlich untypisch für einen Japaner reichte er mir sofort die Hand, klopfte mir die Schulter und sprach im sehr gebrochenen Deutsch „Willkommen, Alex! Schön dich zu treffen!“ Niedlich.

Meine Gastmutter stand an seiner Seite. Sie war... japanische Durchschnittsgröße, schlank, ebenso Anfang fünfzig und trug ihre Haare schulterlang und zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Ihre Erscheinung war zierlicher, anders als die ihres Mannes. Ich hätte erwartet, dass wir uns voreinander verbeugten, aber stattdessen legte sie mir ihre Hände auf meine eigenen und lächelte herzlich. Ihr Name war Miwako.

„よかったね。アレックスさんはやっと着きました。“ (Alex, du bist endlich hier! Schön, nicht!)

„はい、そうですね。“ (Ja, nicht wahr)

Ich musste mein Gehirn daran erinnern, dass ich von jetzt an Japanisch zu reden hatte und kein Deutsch. Daher waren die ersten Sätze denen eines Kleinkindes gleich, welche gerade erst mit dem Sprechen begonnen hatte. Oder auch: 恥ずかしいよ~ (Hazukashii yo) , wie es ein Mädchen auszudrücken wüsste.

Der Sohn und mein Gastbruder Keiichi musste sich ein Grinsen verkneifen. Ich biss mir ertappt auf die Unterlippe und versuchte ihm ein entschuldigendes Lächeln zu schenken.

Wir waren beide fast gleich alt, er ein Jahr jünger, dafür aber zwei, drei Zentimeter größer als ich. Keiichi hatte eine sympathische Ausstrahlung für einen jungen Mann, war modisch gekleidet und hatte sich einen leicht asymmetrischen Kurzhaarschnitt verpassen lassen. Er wäre schon mein Typ gewesen, gäbe es da nicht einen anderen, der mich längst verzaubert hielt.

„じゃあ、行きましょう!“ (Na, dann lasst uns gehen!)

Sie waren mit dem Auto hier und so wurde der Restweg gemütlich im tuckernden Tempo durch Uenos Straßen zurückgelegt. Obwohl meine Augen mit aller Gewalt der Müdigkeit nachgeben wollten, arbeitete mein Hirn nun mehr auf Hochbetrieb. Meine Gastfamilie stellte mir Fragen über meine Reise, meinen Flug, meine Ankunft und ich musste nach über zwölf Stunden schweigen einfach die Möglichkeit nutzen, um mit jemanden reden zu können.
 

Als wir dann vor dem kleinen Haus standen, welches sich in ein paar weitere drumherum einreihte, betrachtete ich neugierig meine Umgebung, würde dies aber noch einmal bei Tageslicht machen müssen.

Die Eltern gingen voran, Jin hatte meinen Koffer genommen, während mir Keiichi nun auch noch meinen Rucksack abnahm und ich so netterweise einmal komplett von Lasten befreit war. Mein Rücken dankte es ihnen.

Ihr Heim war liebevoll eingerichtet, trug eine Mischung aus Tradition und Moderne in sich – die traditionelle Vorzone, aber ein westlich modernes Wohnzimmer mit Couch und großem Fernseher. Hingegen wieder die traditionelle kleine Küche und ein simpler Esstisch, an dem die Familie Platz nehmen konnte. Alles sehr quadratisch untergebracht. Vom Flur führte eine Treppe in das erste Stockwerk. Dort befanden sich die Schlafzimmer und das Bad.

Keiichi sollte mir mein Zimmer zeigen und so folgte ich ihm nach oben. Rechts war das Elternschlafzimmer, daneben das Badezimmer und auf der gegenüberliegenden Seite sein und mein Zimmer. Er erklärte mir, dass das jetzige Gästezimmer ursprünglich seiner älteren Schwester gehört hatte, aber diese sei vor drei Jahren ausgezogen, hatte geheiratet.

Ich nickte, gab ein paar zustimmende und interessierte Interjektionen von mir, die in einem Gespräch erwartet wurden und betrat dann mein Reich, welches für die nächsten Monate mein Zuhause werden würde:

Der Raum war nicht groß, vielleicht neun bis zehn Quadratmeter, aber er hatte alles, was ich bräuchte: Ein Bett, ein Schrank, Schreibtisch, Stuhl und auch ein Bücherregal bzw. einen kleinen Beistelltisch mit einem süßen Sitzkorb aus Rattan. Alles war hell eingerichtet, ein typisches Mädchenzimmer. Aber wenigstens keine rosa Tapeten.

Keiichi hatte während meiner Bewundern für den Raum bereits meinen Koffer hochgeholt und stellte ihn etwas schwer schnaufend neben der Zimmertür ab.

„重いよ!ケースの中は何か?石?“ (Der ist schwer! Was ist da drin? Steine?) , scherzte er und ich musste auflachen.

„ひ・み・つ” (Ge-heim-nis) Wir lachten beide und dann schwiegen wir einen kurzen Moment.

(Und zur einfacheren Verständigung werde ich euch fortan das Japanisch übersetzen – so gut ich kann. Denn natürlich verstand ich längst nicht alles.)

„Soll ich dir das Haus zeigen?“, schlug mein Gastbruder darauf hin vor und hatte etwas unwissend, wie man mit solchen neuen Situationen umging, die Hände in die Hosentaschen gesteckt.

Ich stimmte ihm zu und somit begann der kleine Rundgang. Während Miwako und Jin ihre Sachen ablegten bzw. Miwako noch eine Kleinigkeit zu essen hervorzaubern wollte, gingen wir Gastgeschwister durch die Räume, so dass ich mich recht schnell zurechtfinden würde und landeten schließlich wieder bei seinem eigenen Zimmer. Viel zu sehen gab es natürlich nicht – es war einfach nur ein Haus wie jedes andere aus. Ob nun japanisch, amerikanisch oder europäisch: Vielleicht mochte die Architektur anders sein, aber der Nutzen eines solchen Gebäudes blieb gleich.

Ich zog ein wenig die Lippen zusammen, lag mir doch eine Frage auf der Zunge, die ich mir aber nicht zu stellen traute. Ob das schon zu privat wäre? An und für sich kam ich mit Japanern gut klar und respektierte bzw. verstand deren Einstellung und Auftreten, aber doch war es nicht so leicht herauszufinden, wann man eine Grenze hinsichtlich der Privatraumes überschritt oder nicht – durfte ich also so einfach fragen?

Keiichi musste mir meine Unsicherheit abgelesen haben, da er mir nun schlicht zuvorkam:

„Möchtest du mein Zimmer sehen?“

„I-ich möchte nicht stören!“

„Nein, ist okay.“

„Wirklich?“

„Ja.“

„.... Okay.“

Denn neugierig war ich. Zimmer anderer löste bei mir immer Neugier aus. Wie sich jemand einrichtete, ließ oft einen Schluss auf dessen Persönlichkeit zu und ich liebte es zu analysieren, interpretieren und zu hinterfragen.

Als ich nun aber einen Fuß über die Türschwelle setzte, war ich doch baff über das, was mich erwartete. Mein Gastbruder wirkte ganz und gar nicht wie ein Spielefreak, war er jedoch genau das: sein Schreibtisch war mit zwei Bildschirmen besetzt, die jeweils ein ordentliches Zollmaß aufwiesen. Außerdem ein qualitativ hochwertig erscheinendes Headset.

Neben dem Computer befanden sich noch zwei Konsolen – eine davon war eine Playstation 4 und der graue Kasten musste ein Retroobjekt sein. Ich war mir unsicher, ob es sich hier um einen WonderSwan handelte? Ich kannte nur die Emulationen für den PC, denn mit solch einer hatte ich damals Detektiv Conan gespielt und war als Level C Detektiv abgestempelt worden. Wenn man die Sprache nicht beherrschte, kein Wunder.

„Interessierst du dich für Videospiele?“, fragte Keiichi, weil er wohl mitbekam, dass mich der Rest seines Zimmers wesentlich weniger interessierte, als seine Sammlung an Konsolen und Spielen im Regal hinter mir.

„Ja, schon. Meine Familie hat selbst immer Spiele von Nintendo gezockt. Ich habe aber irgendwann mit Playstation angefangen. Final Fantasy, Kingdom Hearts, Persona... Aber Pokémon bleibt immer noch mein Liebling! Die alten Editionen.“ Ich merkte erst gar nicht, dass ich wie ein Wasserfall plapperte, sah meinen Gegenüber dann allerdings erschrocken an und entschuldigte mich rasch für diese Wortexplosion. Das passierte öfter, wenn ich mich für Dinge zu begeistern wusste.

„Schon gut“, winkte er ab und trat dann selbst an den Schreibtisch und zog eine Schublade auf, „Dann wird dich das vielleicht interessieren.“ Keiichi reichte mir einen Flyer, auf dem eine Aktionsnummer stand, aber viel mehr... überraschte mich der Text, das Artwork und die abgebildete Hardware. Es sah so vollkommen anders aus als alles, was ich bisher erlebt und gesehen habe.

„Sword Art... Online?“, murmelte ich, als ich mir den Flyer durchlas – zumindest, bis es zu den komplizierten Kanji überging.

Ich war zwar nie die Schnellste, was Releases betraf, aber dennoch war ich mir sicher, dass ich es wüsste, wenn ausgerechnet ein Videospiel in jener Form herauskommen würde. Ganz sicher wüsste ich das. Zumal das Releasedatum bereits morgen wäre... Entweder hat die Presse sich wirklich bis zuletzt ausgeschwiegen oder ich war die letzten Wochen und Monate blind gewesen.

„Morgen... erscheint ein neues Spiel zu Sword Art Online?“

„Kennst du es?“

„Eh...“ Der Ton dieser Silben kam mir bekannt vor, aber ich wusste nicht warum. Ganz gleich, wie lange ich darüber nachdachte, wollte bei mir kein Groschen fallen. Ich blickte also undefiniert zu Keiichi, welcher mir mit einem Mal nicht wie der 27jährige coole Mann vorkam, für den er sich gab, sondern wie ein kleiner Junge, der sich gleich auf seine erste Pokémonreise machen würde. Wo wir schon einmal dabei waren.

„Hast du es etwa auch schon mal anspielen dürfen?“

„Eh... nein“, fand ich meine Sprache wieder und zog die beiden Worte dabei etwas länger als nötig, „Ich... habe noch nie davon gehört. Das scheint... nicht zu uns nach Deutschland gekommen zu sein? Also die Nachrichten darüber?“

Ich ließ meinen Blick weiter durch sein Zimmer schweifen und blieb bei seinem Bett hängen. Etwas, was meiner Meinung nach nicht dahinpasste bzw. ich mir nicht vorstellen konnte, dass dieser Helm für den Schutz beim Motorradfahren oder ähnliches gedacht war.

„Oh, dann weißt du auch gar nicht, was das ist!“, drängte er sich daraufhin an mich vorbei und griff nach dem dunkelblauen Objekt. Es in beiden Händen haltend, grinste er bis über beide Ohren, „Das ist ein NerveGear. Das ist sozusagen die Hardware, die du brauchst, damit du das Spiel spielen kannst.“

Etwas überrumpelt über diesen technischen Fortschritt der Spielindustrie nahm ich das Gerät vorsichtig in die Hände, als könnte es bei einer falschen Berührung explodieren. Stimmt... das sah dem Objekt auf dem Flyer ähnlich.

„Dann... ist es also so etwas wie eine VR-Brille?“, schlussfolgerte ich, während ich das Ding drehte und von allen Seiten begutachtete. Nun fiel mir auch das Kabel auf, welches von hinten aus dem Helm ragte. Musste wohl die Energieversorgung sein? Ah, nein. Ein LAN-Kabel.

„Ja, aber weitaus cooler als das, was die uns bisher als VR verkauft haben!“, lachte Keiichi und nahm mir seinen Schatz wieder ab. Ohne zu zögern setzte er sich diesen auf und drehte seinen Kopf. „Siehst du? Mehr brauchst du nicht, dass du bei SAO mitmachen kannst.“

„Mehr nicht?“, konnte ich es nicht ganz glauben und verschränkte die Arme vor der Brust, „Diesen Helm, eine Software und das war es? Wie spiele ich? Muss ich mich... so bewegen wie Let's Dance?“

„Hä?“ Mir war nicht klar, ob er mich schlechter wegen des Helmes verstand oder ob er nicht wusste, was Let's Dance war. Vielleicht war dieses Tanzspiel hier auch unter einem anderen Namen bekannt.

„Ich meine, solche Tanzspiele. Wie DDR“, versuchte ich ein anderes Beispiel zu finden und sprach dabei auch etwas lauter.

„Ach so“, setzte sich Keiichi den Helm daraufhin wieder ab, „Nein, das geht ganz einfach. Du kannst dich hinsetzen oder hinlegen, wie's bequem ist. Alles andere wird über hier oben gesteuert!“ Sich mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe tippend, brachte er mich damit nur zum ungläubigen Blinzeln und zum ebenso überforderten Lächeln. „Aber eine Konsole fürs Einlegen des Moduls und eine schnelle Internetverbindung brauchst du schon.

„Eh... okay...“ Ich musste echt was verpasst haben!

„Wenn du magst, können wir das morgen gemeinsam kaufen gehen!“, schlug Keiichi immer noch hellauf begeistert vor, „Dann kann ich dir auch gleich noch etwas die Gegend zeigen!“

„Gern!“, sprach ich daraufhin aber ebenso freudig. Man konnte es ja mal ausprobieren. Und vermutlich war es eh mehr eine Prototype-Version als alles andere. Auf die Schnelle hatten sie doch nie im Leben ein vollfunktionsfähiges VR-RPG erstellen können? Aber apropos...

„Du meintest, ob ich auch schon getestet hab... Keiichi-san... dann hast du es also bereits gespielt?“

Nun mehr verzog sich sein Kleinjungengrinsen und wich einem triumphierend stolzen. Um ehrlich zu sein, fand ich das sogar ziemlich bezaubernd, wie er mit geschwollener Brust vor mir stand und den Helm streichelte.

„Ja, ich bin Beta-Tester. Wir haben die Demoversion erhalten.“

„Ah, verstehe...“

„Lass uns runtergehen. Kaa-san hat bestimmt gleich das Essen fertig!

In diesem Moment erklang auch schon Miwakos Stimme zu uns nach oben und wir beeilten uns, dass wir ins Wohn- und Esszimmer kamen.

 

Dass Jetlag allerdings genau deswegen als solcher bezeichnet wurde, weil man nicht schlafen konnte, machte sich bei mir am nächsten Morgen deutlich bemerkbar, als ich in den Spiegel guckte. Das Gefühl, dass mir die Augen zusammenklebten und ich dicke Ringe unter jenen zu verzeichnen hatte, war nicht nur ein solches – es war echt.

Ich spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht, bevor ich mich wusch und fertig machte. Das Frühstück stand bereits auf dem Tisch – traditionell Japanisch. Daran müsste ich mich auch noch gewöhnen, aber mein Magen dankte es mir, dass ich den Reis aß.

Ich reagierte auf viele Sachen ziemlich sensibel, doch Reis ist und blieb kein Problem. Zudem die meisten Beilagen, die es dazu gab, für mich besser verträglich erschienen als manch deutsches Essen.

„Hast du gut geschlafen?“, fragte Miwako mit einem leicht besorgten Blick und ich musste wohl oder übel den Kopf schütteln. Mein Make Up schien noch nicht gut genug zu überdecken oder aber... meine Augenschatten waren schlicht zu dunkel, als dass sie irgendwie überdeckt werden könnten.

„Ich war zu aufgeregt.“

„Oh je. Aber bei euch ist jetzt ja auch Nacht oder?“

Ich überlegte kurz und fuhr dann erschrocken zusammen, so dass mich Keiichi irritiert von der Seite ansah.

„Oh Mist“, entfuhr es mir auf Deutsch, „Ich hab vergessen, mich zu melden!“

Die beiden sahen mich fragend an, verstanden sie doch kein Wort, so dass ich versuchte, mich auf Japanisch wieder verständig zu machen. Es war jetzt acht Uhr... das heißt, dass es in Berlin gegen eins sein müsste. Nachts.

Mein Handy hatte ich im Flugzeug ausgeschaltet und seitdem auch nicht mehr benutzt. Ohje...

„Brauchst du das W-LAN-Passwort?“, fragte mich mein Gastbruder und ich bedankte mich gefühlte tausend Mal. Damit half er mir wirklich sehr!

Da es ein Notfall war, unterbrachen wir das Frühstück. Während er das Passwort suchte, holte ich mein Handy und schaltete es ein. Es hatte noch genug Akku und nachdem ich dann Zugriff auf das Internet hatte, konnte ich mich wenigstens in meine Accounts wieder einloggen. Oder versuchte es zumindest – eine Verbindung wollte nicht erzeugt werden. Die Augenbrauen zusammenziehend, versuchte ich es noch zwei weitere Male, aber nichts.

Auch die Messenger klappten nicht. Nun gut... ich könnte ja eine Nachricht schicken und dann, wenn sich 3G entschlossen hätte zu funktionieren, würde diese ja automatisch weitergeleitet werden.

Gesagt, getan – meine Finger flogen über die Bildschirmtastatur und schrieben eine Nachricht an meine Mutter, die gewiss wie auf glühenden Kohlen dasaß: Bin sicher gelandet und esse gerade Frühstück. Alles gut! Hab dich lieb! :D

Dann schrieb ich noch eine an Niko und eine an meinen Besten. Ich wollte nicht die ganze Zeit am Handy hängen, aber diese drei Nachrichten mussten sein. Meine Mutter würde schon für sorgen, dass mein Vater davon erführe. Der würde einen witzigen Facebookstatus auf Polnisch setzen (weil er es konnte) und daraufhin wüsste es die halbe Welt – ganz ohne mein Zutun. Tja. Soziale Netzwerke eben.

Zumindest fühlte ich mich danach aber etwas erleichtert und konnte noch den Rest des Frühstücks genießen. Jin war längst zur Arbeit aufgebrochen und so waren es nur noch wir drei, welche die ersten Stunden des Tages auf uns wirken ließen. Wir schalteten den Fernseher ein, als es um das Wetter ging und meine Laune wurde noch besser.

Hallo Japan, hallo Tokyo, hallo japanisches Fernsehen und hallo japanischer Wetterbericht!

 

Um das Spiel zu kaufen, mussten Keiichi und ich nach Akihabara. Das war mein erstes Mal, dass ich diese Merchandise-Hölle betrat, hatte ich es damals nämlich einfach nicht geschafft.

Die Yamanote-Linie war voll, aber nicht überfüllt. Das Wetter war hervorragend, sonnig, für einen Novembertag wirklich schön. Seltsamerweise warne gar nicht so viele Familien unterwegs, wie ich für einen Sonntag vermutet hätte.

Mein Gastbruder und ich fanden im Zug also sogar zwei Plätze, setzten und unterhielten uns über diverse Dinge. Ich merkte, dass ich langsam wieder reinkam, was die Sprache betraf – auch wenn mir hier und da einige Worte fehlten, aber mit Händen und Füßen und ein bisschen Englisch ging das schon.

Keiichi erklärte mir die verschiedenen Werbeschilder, die im Wagon angebracht waren und die mich wegen ihres bunten oder seltsamen Designs immer wieder zu faszinieren wussten. Genauso wie die sich einschaltende Entschuldigung bei einer Verspätung von 30 Sekunden... Ich konnte mir nicht verkneifen anzudeuten, dass sich die Deutsche Bahn daran mal ein Beispiel nehmen sollte. Mein Gastbruder fragte verwundert nach, was ich denn meinte, und daraufhin erzählte ich ihm ein paar einfache Anekdoten aus der Sicht eines Fahrgastes. 30 Sekunden? Nein, bei uns waren es dann doch eher 30 Minuten. Meine Erzählungen, mit Absicht etwas überspitzt, hinterließen bei Keiichi einen schockierten Blick, der mich grinsen ließ.

Die Schlange vor dem speziellen Gamesladen, der sich ganz in Bahnhofsnähe befand, war bereits beachtlich lang als wir eintrafen, so dass mir ein kleines „Uff“ entfuhr. Meine Armbanduhr, die ich inzwischen auf japanische Zeit gestellt hatte, zeigte die Zeiger kurz vor zehn an. Wir hätten also noch früher kommen müssen.

Es gab allerdings wieder einen kleinen signifikanten Unterschied zwischen Japan und Deutschland: So, wie am Flughafen zielgerichtet und organisiert vorgegangen wurde, damit die Fluggäste schnell durch die Passkontrollen kamen, beeilte man sich auch hier, jedem sein Spiel auszuhändigen: Einer, der die Coupons einsammelte, der nächste, der die Spieletüte vorbereitete und der dritte, welcher kassierte. Ein vierter Mitarbeiter achtete auf die Menschen, die den Laden wieder verließen.

Ob man nun wirklich gleich vier Mitarbeiter bräuchte, wäre ein Diskussionspunkt, aber zugegeben: Es funktionierte.

Verdutzt darüber blickte ich nur zehn Minuten später auf die Tüte zu Keiichis Händen und daraufhin meinem Gastbruder in die Augen.

„Das hier in dem Laden ist eine Sonderaktion für alle, die schon mal angetestet haben. Sprich die Betatester.“

Schlau. Und logisch. Keiichi meinte noch, dass es bisher einen Haufen an Vorbestellungen gegeben hätte – sowohl in den Läden als auch im Onlinehandel. Die Vertriebe waren schon besorgt, dass sie den Ansturm nicht bewältigen könnten und zu viele leer ausgingen, da die Nachlieferung nicht hinterher käme. Unglaublich.

Unglaublich aber vor allem, dass mir das bis heute wirklich nie zu Ohren gekommen war. Ich drehte meinen Kopf über die Schulter, sah hinter uns, wie die Schlange der Anstehenden immer länger und länger zu werden schien. „Hm... wenn du magst, kannst du es gerne ausprobieren?“ Sofort sah ich den jungen Mann neben mir mit großen Augen an und schien verunsichert, ob ich richtig gehört hätte.

„Meinst du das ernst?“

„Klar“, nickte er und deutete an, die nächste Straße rechts einbiegen zu wollen, so dass ich ihm folgte, „Ich muss nachher eh noch in die Mittelschicht und dann kannst du mir heute Abend gleich berichten, ob damit alles okay ist und wie es dir gefällt.“

„Ehm... g-gern?“ Ich nickte, musste daraufhin lächeln und spürte, wie meine Wangen vor Vorfreude rot anliefen. „A-Aber nur, wenn es dir wirklich nichts ausmacht!“ Keiichi winkte abermals ab.

„Echt nicht. So, und jetzt zeig ich dir noch ein paar coole Ecken und dann noch unsere Nachbarschaft, okay? Bis Mittag haben wir noch etwas Zeit!“

 

Unser kleiner Rundgang durch Akihabara und schließlich unsere Nachbarschaft endete gegen ein Uhr und ich ließ mich in meinem Zimmer erst einmal aufs Bett plumpsen. Miwako war zum Einkaufen unterwegs, wie sie heute Morgen noch verkündet hatte. Sie würde einer alten Bekannten helfen und erst gegen den späten Nachmittag zurückkommen. Keiichi selbst wollte einen Happen essen und dann gleich wieder zur Arbeit aufbrechen. Also beschloss ich derweile in meinem Zimmer zu bleiben, damit er sich in Ruhe fertigmachen konnte.

Ich atmete tief durch und ließ meine müden Füße kreisen. Es würde noch ein wenig dauern, bis ich mich daran gewöhnt hätte, so viel wieder zu Fuß zu erkunden. Meine Tage als Krankenschwester, wo ich gerne mal acht bis zwölf Kilometer pro Arbeitstag gelaufen bin, waren längst gezählt und da spürte man den Schmerz in den Waden und Fußballen nun schon ein bisschen mehr. Ich nutzte die Chance der Pause und zog mein Handy aus meiner Jeanstasche, um erneut die Netzverfügbarkeit zu kontrollieren. Irgendetwas musste mit dem Ding sein... Keiichi hatte es sich unterwegs angeschaut, weil es nur dann Macken machte, sofern ich mich in einen meiner Accounts einloggen wollte. Suchte ich über Google Chrome hingegen eine allgemeine Seite, war es kein Problem.

Und so auch jetzt.

Missmutig ließ ich das Gerät in meinen Händen sinken und starrte auf das Display, welches mir die noch immer die kleine Uhr neben meiner WhatsApp-Nachricht anzeigte, welche ich heute Morgen zu verschicken versucht hatte. So ein Mist.

Ich hob den Blick und sah zum schlichten weißen Schreibtisch, auf welchem mein Tagebuch und mein rosarotes Stifemäppchen mit Hello Kitty Motiv lag. Damals hatte ich es eigentlich meiner kleinen Schwester oder meiner Mutter schenken wollen, aber irgendwie... war mir die Trennung zu schwer gefallen. Nun war ich froh darüber, dass ich es behalten hatte, passten hier schließlich mein unzähliges Inventar an Stiften, Radiergummis und Anspitzer rein. Nicht, dass ich hier nicht auch welche hätte kaufen können, aber mit meinen persönlichen Sachen fühlte ich mich einfach heimischer.

Ich beschloss, einen Eintrag über die letzten vierundzwanzig Stunden zu schreiben. Genug passiert war allemal. Allein schon der Flug würde mir Zeit meines Lebens in Erinnerung bleiben. Von dem ersten Tag hier in Japan ganz abgesehen.

Welchen Tag hatten wir überhaupt? Die Zeitverschiebung machte sich bemerkbar und ich hatte beim Wetterbericht im Fernsehen gar nicht darauf geachtet.

Der kleine von meiner Gastfamilie bereitgestellte Digitalwecker zeigte den 5. November 2022 an.

Ich stockte.

2022?

Da hatte wohl jemand was verstellt?

Ich griff nach dem Wecker und versuchte eine Möglichkeit zu finden, das Datum zu ändern, aber anscheinend musste er auch ein besonderes Funktionswerk aufweisen, da ich mit dem Drücken der zwei Tasten nicht weiterkam und nur das Displaylicht und die Alarmfunktion betätigte.

Mit einem Mal hörte ich aber, wie sich Keiichi verabschiedete und das Türschloss klickte. Ich konnte noch ein schnelles obligatorisches „Pass auf dich auf!“ hinterherrufen – wie es sich gehörte - , ehe es still wurde.

Allein.

Die ersten Sekunden tat ich gar nichts, lauschte einfach nur der Stille, während ich auf dem Stuhl am Schreibtisch saß und immer noch den Wecker in den Händen hielt.

Dann allerdings stand ich auf, stellte die Uhr zurück auf die Schreibtischplatte und ging aus dem Zimmer.

Ich könnte mich nun ein wenig genauer umsehen? Nicht, dass ich schnüffeln wollte, aber etwas gezeigt zu bekommen und selbst zu erkunden, waren für mich zwei verschiedene Paar Schuhe. Details, die mir nicht aufgefallen waren – alte eingerahmte Familienbilder oder selbst die Wohnzimmerpflanze – fielen mir ins Auge und und ich kam zu dem Schluss, dass sich meine Gastfamilie hier wirklich eine schöne Bleibe eingerichtet hatte, in der es an nichts fehlte. Wirklich an rein gar nichts. Ich lächelte unwillkürlich und hatte das Gefühl, dass ich mich hier auf Dauer wohlfühlen würde. Denn nicht nur die Atmosphäre es Hauses war eine angenehme, sondern auch die Stimmung der Familie selbst. Da hatte ich wirklich Glück gehabt!

Mich mit einem Glas und einer Wasserflasche aus der Küche bewappnet, stieg ich die Treppenstufen wieder nach oben und machte nun mehr vor Keiichis Zimmertür Halt.

Er hatte mir ja erlaubt, dass ich das Spiel ausprobieren konnte, wenn ich Lust hatte, und das wollte ich auch tun.

Zum zweiten Mal sein persönliches Reich betretend, sah ich mich auch hier wieder etwas genauer um, entdeckte wissenschaftliche Poster an den Wänden, die mir gestern nicht aufgefallen waren und auch Bücher über Physik und Astronomie, die ich vollkommen ausgeblendet hatte. Soweit ich wusste, war er in den letzten Zügen seines Studiums – für einen Japaner ziemlich spät – aber es waren die Naturwissenschaften, und deswegen jobbte er nach der Uni oder an seinen freien Tagen in einem Supermarkt, eine dreiviertel Stunde von hier entfernt. Soviel war mir noch aus den Erzählungen und Briefen in Erinnerung geblieben.

Ich trat zu dem ordentlich gemachten Bett und blickte auf das NerveGear, das an der Ladestation angeschlossen war und dessen Akkulampe grünes Licht andeutete. Glas und Flasche auf dem Tisch neben mir abstellend, begutachtete ich noch einmal das Gerät von weitem und nahm dann das Ende des LAN-Kabels, um es in die Internetbuchse zu stecken. Doch wo war die? Ich musste ein wenig suchen und schließlich unter dem Schreibtisch krabbeln, um sie zu finden. Ein Glück war das Kabel lang genug.

Ich erinnerte mich an Keiichis Erklärung und dass die Konsole natürlich mit dem Spielmodul versorgt werden musste. Also griff ich zu der kleinen Tüte, in der sich das neue Game befand. Ich packte es aus, schmiss die Verpackung in den Papierkorb und legte das Modul vorsichtig in den vorgesehenen Schacht. Musste ich jetzt noch irgendetwas beachten? Mein Gastbruder meinte, dass man nur die Konsole starten müsste, für optimale Kompatibilität am besten über den Kopf auf den Helm ausgerichtet und alles weitere würde sich von alleine ergeben? Okay...

Den Handheld auf der Kopfablage legend, setzte ich mir das NerveGear auf und legte mich unter Sicht durch das bläuliche Visier auf das Bett. Das war schon eindeutig die bequemere Position, da das Eigengewicht des NerveGears nicht unerheblich war.

Die Konsole hatte ich eingeschaltet und dieser Virtual Reality Helm verband sich über Infrarot mit jener, war aber auch gleichzeitig durch das LAN-Kabel mit der Welt verbunden. Was für ein Aufwand!

Ich sah im Visier oben links die Uhrzeit und rechts den Batteriestatus. 14 Uhr. Ich hätte also ein bisschen Luft, bis Miwako nach Hause käme bzw. Keiichi wieder heimkehrte.

Damit es wirklich losgehen könnte, müsste ich nur noch die Aktivierungsworte sagen.

Ich blinzelte und sah verunsichert an die Decke mit dem kleinen japanischen Lampenschirm, der über mir hing. Etwas mulmig war mir schon. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass das so einfach funktionierte, denn immerhin war es ja kein Film, der abgespielt werden sollte, sondern ein interaktives Game!

Nun... wenn ich aber nicht begann, würde ich es auch nie in Erfahrung bringen.

Augen zu und durch! Wortwörtlich.

Die Lider senkend, holte ich noch einmal Luft und rief so klar und mit so japanischer Aussprache wie möglich die beiden englischen Worte: „Link start!“

1st Floor - Callibration

Link start.
 

Ich hatte nichts erwartet und musste so erschrocken nach Luft schnappen, als mich nach Ausruf jener zwei Worte auch schon ein Fluss von Farben erfasste, die in zylinderförmigen Strahlen an mir vorbeirauschten. Das Chaos lichtete sich und hinterließ eine weiße raumlose Fläche, ehe ein türkisfarbenes Kalibrierungsmenü aufpoppte und mit feinen Geräuschen den Verbindungsstatus zum Internet abfragte. Und dann auch... meinen Status? Ah, bestimmt die Sensoren!

 

Touch.

 

Nichts passierte.

Es stand einfach nur dieses Wort da.

Musste ich etwas machen?

Aus reiner Neugier hob ich meine rechte Hand und berührte dabei den Zeigefinger meiner linken. Ein kreisförmiger Ladebalken begann sich ein Stückchen mit Türkisblau zu füllen und blieb dann wieder stehen.

Ah! Ich musste dem System beweisen, dass ich ein Mensch war. Also... bedeutete dies, dass ich wohl Arme, Beine und den Rest meines Körpers abtasten musste, damit das Spiel ein Gefühl für meine Figur entwickelte?

Hm... das gefiel mir um ehrlich zu sein gar nicht. Es war eine Art Datensammlung, die ich nicht für gut hieß. Aber wenn ich es nicht tat, dann könnte ich nicht spielen. Wieder mal typisch. Den Leuten etwas anbieten, aber nur für eine entsprechend große Gegenleistung... Ich zögerte, überlegte eine gute Minute hin oder her, gab dann der Neugier aber schließlich nach. Wie oft hatte ich die Chance, solch ein Spiel auszutesten? Wer wusste schon, ob es überhaupt nach Deutschland käme? Solche coolen Dinge wie Pikachu, I choose you! bei dem man via Mikrofon mit Pikachu sprechen konnte, hatten es ja auch nicht geschafft! Gute alte N64-Zeit!

Während ich die einzelnen Bestandteile meines Körpers berührte, füllte sich er Balken mehr und mehr und schließlich färbte er sich mit einem Mal Grün.

 

Touch – ok.

Sight – ok.

Hearing – ok.

Smell – ok.

Taste – ok.

 

Das Menü switchte um und ein neues Modul erschien:

 

Language. English.

 

Und wieder ein neues Fenster:

 

Log in_:: Do you want to register?

 

Mir blieb ja keine Wahl, oder? Anscheinend hatte das Gerät erkannt, dass ich nicht Keiichi war, und brauchte nun natürlich ein neues Konto um fortzufahren. Wie ging das nun? Sollte ich mir eine E-Mail-Adresse und ein Passwort denken?

Oh... tatsächlich! Sternchen tippten sich ganz von allein in die vorgesehenen Zeilen von :account und :password und bestätigte. Das klappte ja wirklich!

Dieses Mal war die Ladezeit ein, zwei Sekunden länger und nun erschien meine erste richtige Aufgabe, die mich über beide Ohren grienen ließ:
 

You have to create your character.

 

Das war auch der Grund, warum ich die Sims so liebend gerne gespielt hatte – Charaktere erstellen, gestalten, … mehr brauchte ich nicht. Also auch der Grund, warum ich nie weitergespielt hatte.

Bei Rollenspielen sah das etwas anders aus, denn dort war die Erfindung einer Spielfigur die Möglichkeit, in die Welt des Games einzutreten. Persönlicher einzutreten. Und ich war gespannt, wie das hier von statten gehen würde.

Zunächst hatte ich die Wahl zwischen weiblich oder männlich. Ich nahm wie selbstverständlich die Frauenfigur und sollte nun deren weitere Erscheinung modifizieren. Dass ich das nur mit meinen Gedanken machen musste, wusste ich ja bereits. Also spielte ich ein bisschen mit den Optionen herum, dachte an rote Haare, kurze grüne, blaue Strähen und was es nicht alles an Kombinationsmöglichkeiten gab. Als gäbe es keine Grenzen!

Ich entschied mich dennoch für simple haselnussbraune gewellte, schulterlange Haare. Geschafft. Augenfarbe grün, Hautfarbe... na ja, etwas rosiger als meine eigene sollte schon sein. Alabasterhaut hin oder her – ich freute mich, wenn ich mal nicht wie der Tod aussah... auch in Spielen.

Dann ging es um die Klamotten. Die Software hatte ein riesiges Reservoir an unterschiedlichen Kleidern. Hosen, Röcke, Tops, Kleider, … würde meine Auswahl mich beeinflussen, wie es das auch im echten Leben tat?

Wenn dem so wäre, dann sollte ich mich eindeutig für bequeme Sachen entscheiden, in denen ich mich auch bewegen könnte? Ich wollte kein Risiko eingehen, also durchsuchte ich den Hosenfundus, ließ die Auswahl switchen und nahm schließlich ein Paar kurzer, leicht ballonartig ausgestellten Shorts in Beige. Dazu dann ein anliegendes weißes, langärmliges Oberteil und eine kurze khakifarbige Weste (eher ein Brustschild?) . Accessoires wie Gürtel oder Hosenträger wurden automatisch zu der jeweiligen Auswahl ergänzt. Neben Overknees wählte ich robuste Stiefel, in einem Dunkelbraun mit Rottouch. Zwar gab es viele Möglichkeiten, aber dennoch waren die Kleidungsstücke selbst sehr einfach gehalten. Startoutfits. Das ließ vermuten, dass im Verlaufe des Spiels weitere und vor allem aufwendigere hinzukämen. Gewiss würden die dann auch bestimmte Attribute mitbringen und ihr Stängchen Geld kosten.

Ich betrachtete meinen Avatar von allen Seiten und griente in mich hinein.

Ja, damit ging ich konform.

Damit war ich aber noch längst nicht fertig. Die Höhe und mein Gewicht musste ich mit angeben – Sollte ich etwas schummeln? Hm... nun.. vielleicht? Ach nein. Wozu?

 

Größe – 175cm

Gewicht - 64 kg

 

Außerdem noch meine Körperstatur. Nun... passend. Wie sähe es aus, wenn ich einen bulligen Körper nähme, aber das bei einer kleinen Größe oder obwohl ich eigentlich schlank war? Nein. Hier blieb ich ebenso bei der Wahrheit. Und dann...

 

Brustgröße

 

Vermutlich hätte ich jetzt mit großen Augen auf dem Bildschirm gestarrt. Ehrlich... war das so wichtig? Und... wie jetzt? Ich hatte nur die Möglichkeit auf acht Stufen zu entscheiden? … Muss ich jetzt Details erzählen? Nein, das lasse ich aus. Zum einen geht es euch nichts an und zum anderen... erwähnte ich nicht etwas über Datenspeicherung? Na eben!

Zu guter Letzt musste ich mich noch hinsichtlich meiner Waffen entscheiden.

Hm... ich wusste, dass ich bei Spielen immer mit schwertähnlichen Waffen kämpfte, also wäre das eindeutig meine Wahl. Aber es war ein Unterschied, ob ich Knöpfe drücken oder mich eventuell selbst bewegen müsste. Auf der anderen Seite fühlte ich mich kaum mit einer Keule oder andere Geschosse wohl...

 

Schwert.

 

Noch einmal überprüfte ich meinen Avatar und sah, dass das für mich Wichtigste noch nicht gegeben war: mein Nutzername. Wie sollten mich die Leute hier nennen?

Das war immer wieder das Schwierigste bei.

Ein Name war für mich nichts, was ich mal im Vorbeigehen erledigen wollte.

Für mich war ein Name die Möglichkeit, sich in einem Spiel persönlicher zu gestalten, seiner Figur etwas mehr Tiefe zu verleihen. Meine Onlinenamen auf bestimmten wichtigen Seiten waren nie aus einer Laune hervorgegangen, sondern immer nach tagelanger Grübelei. Ich war keine Person, welche gerne immer wieder ihren Accountnamen ändern und für Verwirrung bei anderen stiften wollte. Wenn ich erst einmal einen Namen hatte, sollte dieser auch bleiben.

Und so würde ich es auch hier handhaben. Ein Name, mit dem ich klarkam: Aya.

 

Are you ready to enter?

 

Glück gehabt. Immerhin waren die einfachen Namen meist als erstes vergriffen oder aber, und das nahm ich jetzt an, es wurde über die registrierten E-Mail-Adressen unterschieden, so dass es kein Problem wäre, wenn noch hundert andere Ayas existierten?

Zurück zur Frage – War ich bereit einzutreten?

Ja, das war ich! Und ich sprach es nicht nur in Gedanken aus, sondern auch noch einmal laut, weil ich die Vorfreude spürte, die mich ergriff: „Yes!“
 

Welcome to SAO!

 

Der Bildschirm hatte sich wieder zu einer weißen Fläche verflüssigt, ehe die blaue Begrüßungsnachricht erschienen war. Daraufhin gab es einen Black.

Als würde ich in Schlaf versunken sein.

Keine Geräusche, Stille und dann... erste Stimmen, eine Kulisse aus verschiedenen Tönen, die mich an einen Marktplatz oder ähnliches erinnerten.

Aber die Schwärze nahm nicht ab, warum nicht?

Ich wollte sehen, was hier vor sich ging!

Und zack, ich öffnete die Augen.

Ah, na klar! Augen öffnen.

Da sah ich sie. Die SAO-Welt.

Farben strömten ein weiteres Mal auf mich ein und ebenso die Geräuschkulisse einer regen betriebenen Umgebung. Der Duft eines warmen Herbstnachmittages stieg mir in die Nase, eine Kombination aus Feuchtigkeit und leichtem Laubgeruch,. Als sich meine Augen an den Wechsel gewöhnt und wieder gelernt hatten zu fokussieren, bemerkte ich, dass ich auf einen großen Platz gelandet bin. Er war lichtdurchflutet und für mein Verständnis... ja... mittelalterlicher Natur? Vielleicht Hochmittelalter.

Der Weg zu meinen Füßen war mit grauen Steinen gepflastert und als ich meinen Blick hob, erkannte ich links und rechts von mir ein Rondell, welches wie eine Art Mauer wirkte. Darüber hinweg konnte ich einige Gebäude und -dächer erkennen. Sandsteinfarben, beige, lehmfarben. Girlanden mit dunkelroten Wimpeln hingen an den Spitzen und ragten von der einen zur nächsten Häuserfront. Ich hatte mich zuvor gar nicht näher damit beschäftigt, in welcher Zeit das Spiel spielte, aber das würde ich nun wohl herausfinden müssen.

Gucken konnte ich zumindest schon einmal. Riechen und hören ebenso. Ohne darüber nachzudenken, wie es wohl funktionierte, drehte ich meinen Kopf und sah, dass ich hier nicht die Einzige war. Weitere Leute hatten sich versammelt, sahen sich neugierig um, gerieten miteinander ins Reden oder aber begaben sich gleich auf den Weg ins Sonstwohin. Die meisten von ihn trugen ähnliche Kleidung: Schlichte Oberteile, lange oder kurze Hosen, ebenso schlichte dunkle Stiefel und vielleicht noch eine Tasche als Accessoire. Die Frauen hatten auch einmal ein etwa knielanges Kleid oder Rock an, doch waren die meisten so wie ich eher auf Pragmatik gerichtet. Auffällig war aber, dass wir alle eine Art Brustschild trugen, das uns wohl schützen sollte. Ich blickte auf meine Hände, drehte die Handinnenflächen zu mir. Sie waren schmaler als meine echten, fast schon mädchenhaft filigran. Das gefiel mir. Im realen Leben hatte ich nämlich durchaus immer mal wieder Probleme mit meinen eigenen, wenn es um das Gitarre- oder Violinespielen ging. Zu klein bzw. zu groß. Und ich mochte meine Fingernägel nicht. Nicht, dass das hier von Relevanz war, aber die Vorstellung, dass ich mit diesen hübschen Frauenhänden mich auch entsprechend feminin mit Nagelschmuck herrichten konnte, war eine nette Aussicht. Apropos Aussicht... Wie bewegte ich mich jetzt hier eigentlich fort? Wenn ich vorankommen wollte, sollte ich Fuß fassen und das wortwörtlich...

Oh. Ein Schritt getan. Faszinierend.

Wie auch immer das genau funktionierte – es tat es.

Ich musste es nur denken und schon funktionierte ist. Vielleicht war das so ähnlich wie mit dem Träumen? In solchen rannte man ja auch keine Marathons und trotzdem kam es einem so vor, als würde man mitunter um den Globus laufen.

Ich spürte durch die feste Sohle meiner Stiefel den Asphalt und die mit Erde gefüllten Zwischenzonen der angrenzenden Pflastersteine. Es war so als würde ich zu Hause gehen. Auch das Gefühl in diesem Körper war kein anderes als jenes meines eigenen. Ich fühlte mich nicht leichter, schwerer oder unmotorischer als sonst. Ich konnte ganz normal laufen. Vermutlich musste es lustig ausgesehen haben, wie ich zunächst Arme kreisen ließ und die Beine nacheinander seitlich streckte, meinen Rumpf leicht beugte und dann den Kopf drehte.

Ich konnte mir nur eben einfach nicht vorstellen, dass das System all die Bewegungen so hervorragend erfassen und auf die Spielfigur zu übertragen wusste?

Der Medizinjunkie in mir ging alles Wissen durch, was ich noch über die letzten fünf Jahre angesammelt hatte und blieb an dem Thema Gehirn hängen. Unser Kopf hat mehr als nur eine Masse Gewebe inne (das ihn unter anderem überhaupt erst so schwer werden lässt): Das Gehirn selbst ist nicht nur aus diversen Bauteilen zusammengesetzt, sondern trägt auch verschiedene Areale auf der Großhirnrinde, die jeder für sich eine Funktion inne haben. So befindet sich das Sehzentrum im Hinterkopf, während der motorische Komplex recht gut auf dem Haupt verteilt wurde. Hinsichtlich Motorik besitzen wir dann aber auch noch das Kleinhirn, welches für die feinen Abläufe und komplexen Bewegungsmuster angedacht ist.

Und da wir ja auch noch Emotionen in uns haben – so wie ich jetzt vorfreudig, aber auch überrascht bin: Das limbische System, welches uns jene ermöglicht zu erleben.

Wie konnte also ein Computersystem all das aufnehmen und in einem Spiel umsetzen?

War das NerveGear solch ein hochkomplexes Gerät, dass die feinsten Hirnströme aufzuzeichnen wusste?

Dann bräuchte man fortan die Menschen ja nur noch in ein Spiel wie SAO zu setzen, um neurologische Tests durchzuführen. Meine zweite Frage hingegen war dann allerdings, wie teuer das Ganze hier war? EEGs waren zwar immer noch günstiger als ein MRT, aber dennoch... wenn ich an die horrenden Preise für Geräte und Untersuchungen dachte, zog sich mir der Magen zusammen.

„Hey Aya!“, wurde ich mit einem Mal laut und deutlich angesprochen und drehte mich zu der unbekannten Stimme um. Woher kannte derjenige meinen Namen?

Ein Junge, der etwas kleiner war als ich und auch jüngere Gesichtszüge trug, stand mit einem großen Lächeln vor mir. So wie die anderen trug er Alltagskleidung in gedeckten Farben, wie ich die Klamotten fortan nennen wollte, hatte kastanienbraune kurze Haare und anthrazitfarbene Augen. Eine Stupsnase begleitete seine Lippen und sein übriges Gesicht, als er mir entgegenstrahlte.

„Hallo, eh...“ Wie hieß er? Ich suchte nach einer Antwort, aber er gab sie mir von allein:

„Ich bin Haia!“

„Eh... Hallo Haia?“

Der nun Angesprochene nickte.

„Steht oben links. Die Namensanzeige derer, die du hier siehst, wenn du sie einblendest.“

Namensanzeige? Ich war irritiert, aber kaum hatte der Junge diese Sache angesprochen, zeigten sich mir die diversen Anzeigen anderer Anwesenden über deren Köpfe mit einem je grünen geschwungenen Balken darunter. So war das also... klar, dass er da meinen Namen wusste. „Wollen wir ein bisschen die Stadt erkunden?“, fragte er mich da ganz direkt, „Das ist die Anfangsstadt, hier können wir uns noch etwas kaufen, bevor es losgeht!“

Was mich jetzt aber noch mehr irritierte war die Tatsache, dass er mich ohne Probleme verstand. Ob das Spiel wohl automatisch in die Sprache des Spielers übersetzte, wenn sich zwei begegneten? Oder hatte ich just Glück, dass Haia Englisch sprach? Kleine Details, die meine Aufmerksamkeit verlangten. Gerade war es aber mein Gegenüber, dem ich mich zuwenden sollte:

„Anfangsstadt? Sowas... wie eine Sicherheitszone? U-Und wieso wir?“

Haia sah mich mit perplexen Augen an und musste dann lachen. Ich verzog daraufhin die Lippen zu einer Schnute. Ja, ich war nicht vorbereitet, wo doch Vorbereitung alles war.

„Kann man so sagen. Du spielst nicht oft solche Spiele oder?“

„So gut wie nie“, musste ich gestehen und fühlte mich nun doch ein wenig beklommen. Meine Augen richteten sich auf die Spieler um uns und mit einem Mal kam ich mir doch recht klein vor. Vermutlich waren alle anderen hellauf begeisterte Zocker und solche ich-spiele-mal-wenn-es-passt Menschen wie mich bildeten eine kleine Randgruppe.

„Macht nichts! Komm mit! Das ist lustiger als alleine unterwegs zu sein. Wirst du später noch oft genug. Es kann nicht schaden, Bekanntschaften zu schließen.“

Ich hatte eh nichts besseres zu tun und mein Kopf sagte mir, dass es schlauer wäre jemanden zu folgen, der ein bisschen Ahnung hatte, der damit eventuell direkt ein Freund würde.

Denn auch wenn ich selten spielte wusste ich, dass es wichtig war, Allianzen und Bündnisse einzugehen, weil man sonst vielleicht in einem Level nicht weiterkommen konnte. Das hatte ich oft genug bei diesen Onlinespielen mit Drachenaufzucht und anderen Missionen gegen Orks und Co. bei Freunden gesehen.

„Ich hab um ehrlich zu sein mir nicht mal angeguckt, worum es bei SAO direkt geht. Mein Gastbruder hat mir erlaubt, sein NerveGear zu benutzen“, erklärte ich dann, weil ich fand, dass es besser wäre, mit offenen Karten zu spielen.

„Gastbruder?“, warf Haia seinen Kopf über die Schulter zu mir als er sich in Bewegung setzte, „Wo kommst du her?“

„Deutschland.“

„Cool und du bist jetzt hier in Japan?“

„Ja, seit gestern.“

„Wow. Machst du einen Schüleraustausch?“

Mein Alter konnte man also wohl nicht so einfach erkennen.

Ich schüttelte den Kopf und straffte dann etwas die Schultern.

„Nein, ein Work and Travel. Für einen Schüleraustausch bin ich zu alt. 28.“ - Bevor er fragte.

Dennoch drehte sich der Junge mit dem Wuschelkopf erschrocken zu mir um.

„Du bist wie alt?“

„28.“

„Nie im Leben!“

„Ehm... doch schon.“

„Das sieht man dir gar nicht an!“

Ich war perplex, weil ich nicht gedacht hätte, dass jemand hier solche Schlüsse ziehen würde wie ich sie sonst immer zu hören bekam.

Mein Mund zog sich zu einem rechtsseitigen Lächeln hoch. Ein kleines Schmunzeln, weil ich nicht wusste, was ich aus dieser Aussage ziehen sollte.

„Na ja... Wir sind hier doch in einem Spiel... Da... sieht man das doch eh nicht oder? Wegen den Spielfiguren?“

„Du meinst die Avatare?“ Ah, Avatare also. Okay, umdenken. „Nein... das... würde man dennoch sehen. Guck mal, der alte Typ da hinten?“ Haia deutete auf einen vollbäuchigen Kerl um die 50, der einen grauen Rauschebart trug, „Das NerveGear tastet deine tatsächliche Bio ab und gibt dir so einen Spielrahmen für dein Erscheinungsbild. Du kannst keine 80 sein, aber wie ein 20jähriger rumlaufen.“

„Das heißt... das NerveGear untersucht auch unsere DNA?“ Kaum zu glauben.

„Weiß nicht, ob es so weit geht, aber dein Ava ist deinen Genen schon ein bisschen angepasst, ja.“

Wow.

Das wurde immer verrückter.

Ich sah mich um, wollte jetzt unbedingt in einen Spiegel gucken. Mein Begleiter bemerkte meine aufkommende Neugier und hielt kurz inne: „Ich weiß was! Lass uns in die Einkaufsstraßen gehen! Da können wir uns gleich ausrüsten und irgendwo wirst du bestimmt auch dein Spiegelbild sehen können, okay?“ Anscheinend war ich mal wieder wirklich wie ein offenes Buch zu lesen. Gefiel mir gar nicht, aber auf der anderen Seite war Haia deswegen auch nicht abgeneigt von meiner Anwesenheit... Nun, da konnte ich nicht Nein sagen. Da wollte ich nicht Nein sagen.

Ich folgte dem Jüngeren und sah mich auf unserem Weg neugierig um.

Die meisten anderen Anwesenden waren in ihren eigenen Beschäftigungen konzentriert und nur wenige zeigten sich mit offenen Blick, so wie ich es gerade tat. Verschiedene Stände reihten sich wie bei einem Markt aneinander und sorgten so für ein buntes Treiben in den dargebotenen Artikeln. Von Kleidungsstücken, über Nahrung, bis hin zu Accessoires und sogar Haushaltsartikel gab es hier einige Dinge, die man erstehen konnte. „Schau mal da! Die führen Spiegel!“

Ich wunderte mich und fragte mich zugleich, was wohl die Funktion von Handspiegeln oder Pfannen wäre (soweit man sie nicht als Notfallwaffen missbrauchen wollte?) , aber schon bald würde mir klarwerden, dass nicht alles nur auf die einzelnen Level und Level-Ups eines Spielcharakters zielte, sondern man sich für etwas Geld entsprechend auch zusätzlich ausrüsten konnte, wenn man wollte. Wie eine Art Gimmick und wie eben im echten Leben. Man brauchte es nicht, aber man könnte es sich zulegen. Und dass man sogar kochen können würde, war mir als Gedanke noch vollkommen fremd. Das war mir in diesem Moment aber auch egal.

Ich wollte wirklich nur einen Blick in den Spiegel werfen – ganz gleich, was dessen Fähigkeiten wären. Lief ich wirklich als dieser Avatar herum, den ich mir selbst erstellt hatte?

An einem Stand machten wir schließlich Halt und der Besitzer lächelte uns herzlich an. Natürlich witterte er in uns potenzielle Käufer und gab sich so von seiner besten Seite:

„Herzlich Willkommen! Seht euch ruhig in aller Ruhe um!“

Ich erwiderte den Gruß und nickte ihm mit einem Lächeln zu, als mein Blick dann über die Tischplatte glitt. Auf einem grauen Stofftuch lagen diverse Accessoires. Haarreifen, Broschen, Halsketten... Ich traute es mich nicht zu fragen, ob diese Accessoires alle auch einen Nutzen trugen oder schlicht gut an einem aussehen sollten. Von damaligen Rollenspielen kannte ich es, dass diese Dinge einem bestimmte Statuswerte erhöhten und somit veränderten.

Ich hätte mich eindeutig mehr mit SAO beschäftigen sollen, bevor ich diese Welt betrat... aber Scheibenkleister. Nun war es auch zu spät.

Vielleicht sah der Verkäufer, ein Mann in den mittleren Jahren mit lichten erdbeerblonden Haar und stämmiger Statur, meine Unsicherheit, so dass er von sich aus auf dieses Thema zu sprechen kam. Abgeneigt war ich nicht, da ich so ein paar Wissenslücken zu füllen wusste. Haia war an der anderen Ecke des Standes und inspizierte ein paar Waren, hielt jeweils eine in der linken und eine in der rechten Hand. Ich konnte aus dem Augenwinkel nicht erkennen, was es war, widmete mich dann aber lieber auch dem fremden Mann vor mir, der mich angesprochen hatte. Alles andere wäre unhöflich gewesen. „Vielleicht kann ich behilflich sein? Ich habe heute Anthrazitohrringe im Angebot. Sie verbessern Ihre HP und zudem würden Ihnen gewiss gut stehen!“ Ich betrachtete die tropfenförmigen Anhänger der von ihm gezeigten Ohrringe und zog unsicher die Lippen zu einer schmalen Linie. Nicht unbedingt mein Stil... vor allem aber auch nicht unbedingt das, was ich mir als erstes kaufen könnte und wollte. Der Preis betrug 300 Cor. Ich könnte es mir leisten, aber... andere Dinge wären vielleicht erst einmal wichtiger?

„Haben Sie auch... einen Spiegel? So... einen Handspiegel vielleicht?“

Der Verkäufer wirkte zunächst überrascht, bejahte dann aber und bat mich einen kurzen Moment zu warten, damit er das gesuchte Objekt hervorholen könnte. In weniger als einer Minute hielt ich daraufhin einen kleinen ovalen Spiegel in meinen Händen, welcher mit floralen, filigranen Ausarbeitungen am Metallrand besetzt war. Die Gravuren erinnerten an Elfen, welche mit Blüten geschmückt waren. Vorsichtig schwenkte ich die Oberfläche in mein Blickfeld, so dass ich einen Eindruck meiner Selbst bekam. Ich versuchte, nicht zu viel Überraschung zu zeigen, was allerdings durchaus schwierig war, denn meine Augen wurden merklich größer: Mein Spiegelbild war wirklich exakt der Avatar, den ich mir gestaltet hatte. Die Gesichtszüge, die Haare, … nichts erinnerte mehr an den Menschen, der ich im realen Leben war. Irgendwie gruselig. Und das, obwohl ich mich ganz normal fühlte.

„Dieser Spiegel kostet 50 Cor. Das ist ein Sonderangebot! Normalerweise würde ich ihn für 200 Cor verkaufen, aber heute ist ein besonderer Tag und deswegen gibt es ihn für weniger als die Hälfte!“ Die Worte des Verkäufers gingen in meine Ohren rein und gleich wieder raus. Ich hatte nun einen Blick auf mein jetziges Ich werfen können und das genügte mir.

Belangloses Shopping hatte noch nie zu meinem Repertoire gehört und würde es auch jetzt nicht. Ich bedankte mich, gab den Spiegel zurück und gesellte mich dann zu Haia, welcher hier ebenso wenig fündig wurde. Ihn konnte ich fragen, ohne dass er mir etwas aufschwatzen wollte, und erkundigte mich so, ob er wüsste, was ich mir vielleicht anschaffen sollte. So zu Beginn.

Haia runzelte die Stirn, betrachtete mich von oben und bis unten und legte dann den Kopf schief, die Arme vor der Brust verschränkt.

„Hast du andere Spiele dieser Art schon mal gespielt?“, fragte er mich, als wir dann an einem weiteren Stand vorbeikamen, welcher in erster Linie Haushaltswaren und ähnliches vorzuzeigen hatte.

„Nicht direkt“, gab ich unschlüssig von mir, „Ich hab ein paar RPGs gespielt... sowas wie... Kingdom Hearts I und II oder Final Fantasy X.“ Der Junge sah mich mit einem Mal wie entgeistert an.

Kingdom Hearts? FFX?

„Eh... ja?“ War das so außergewöhnlich? Es war doch erst ein neuer geupdateter Teil von KH und ebenso ein Remake für den PC von FFX und FFX-2 erschienen... Oder war er überrascht, weil ich diese Spiele überhaupt kannte? Als Europäer? Nein... die gingen doch um die ganze Welt!

„Das ist doch uralt!“, fuhr er nun sogar auf und musste lachen, „Das spielt doch heute keiner mehr!“

„Eh... also bei uns schon“, musste ich widersprechen.

„Seid ihr so zurückgeblieben, was Games betrifft? Wow. Hätte ich nicht gedacht!“ Damit wandte er mir lachend den Rücken zu und scharwenzelte weiter umher.

Meine Augenbrauen zogen sich nun skeptisch zusammen, als ich ihm nun wieder folgte.

„Vor einem Jahr erschien doch erste eine Version für den Computer. Und der neuste Teil ist von Kingdom Hearts ist doch brandaktuell?“

„Für euch vielleicht. Wenn ihr 2016 stecken geblieben seid.“

Ich kapierte gar nichts mehr. Vermutlich aber war Japan einfach nur noch rasanter, als ich angenommen hatte?

 

Unser Rundgang endete schließlich und wir hatten sogar ein paar Einkäufe getätigt: Ich hatte mir auf Haias Anraten Nahrung, zwei Äpfel und ein Brot, geleistet und hinsichtlich weiterer Ausstattung noch gewartet. In einem der Geschäfte hatte es aber ein Sonderangebot für Kristalle gegeben. Normalerweise seien die übermenschlich teuer, aber da heute der Eröffnungstag für SAO war, erhielt jeder Spieler einen Antidotkristall nahezu für umsonst.

Während unserer kleinen Tour bekam ich das Gefühl nicht los, dass sich Haia viel zu gut für einen Anfänger in dem Spiel auskannte. Er verlief sich nicht, ging schnurstracks auf die richtigen Händler und zu schien auch so eine Menge Hintergrundwissen zu besitzen.

Ob er wohl auch ein Beta-Tester wie mein Gastbruder war? Vielleicht... sollte ich ihn einfach fragen?

Wir saßen nun auf einer Treppe, die zu einem kleinen Kanalgerinnsel der Stadt hinabführte und tranken dort einen Tee, den wir uns gekauft hatten. Langsam aber sicher bekam ich zumindest ein bisschen Ahnung davon, wie viel das Geld, die Cor, die wert waren und was man für wie viel bekam. Ich vermutete, dass es mit der Zeit teurer werden würde, man dafür aber auch gewiss mehr erlangen könnte.

Schließlich meinen Mut zusammennehmend, sprach ich die Frage einfach aus, die mir auf der Zunge lag: „Sag mal... bist du auch einer der Beta-Tester?“ Haia sah mich an und lächelte dann ertappt.

„Nun ja... Ja.“

„Ah cool. Mein Gastbruder ist auch einer. Man merkt, dass du dich hier auskennst.“

Mit den Schultern zuckend, nippte er noch einmal an seinem Tee und setzte dann ab:

„Wenn du das Prinzip erst einmal begriffen hast, ist es gar nicht so schwer.“

„Mhm“, machte ich und trank ebenso einen Schluck.

„Weißt du, dass du Partien bilden kannst?“, warf Haiah dann ein, „Gefährten finden?“

„Oh... sowas wie Gilden meinst du?“ Das kannte ich zumindest.

Haia nickte.

„Ja, du wirst im Laufe des Spiels auch nicht drum herum kommen, denke ich. In der Testphase mussten wir das zumindest ausprobieren. Es klappt ganz gut. Du kannst dich mit Freunden verknüpfen lassen, so wie in sozialen Netzwerken.“

Wir schwiegen einen Moment und ich schaute in den frühen Nachmittagshimmel. Kaum eine Wolke zog sich durch diesen und wir saßen hier etwas fernab des Trubels. „Was... hältst du davon, wenn ich dir ein bisschen mit den Basics helfe?“ Überrascht zu ihm aufschauend, sah ich Haia lächeln, „Du scheinst sehr neu zu sein und es kann nicht schaden, wenn du zumindest weißt, wie man kämpft oder Kämpfen aus dem Weg geht und wie man seine Waffe einsetzt, oder?“

Er nickte zu meinem Schwert, welches ich auf dem Rücken in der Schwertscheide gesteckt trug. Das hatte ich schon fast vergessen. Ich hatte mich zu Beginn des Spiels zwar dafür entschieden, aber inzwischen waren schon wieder so viele Eindrücke auf mich eingeströmt, dass ich meine Waffe vollkommen ausgeblendet hatte. Dies konnte ich auch im normalen Leben ziemlich gut, wenn mich etwas vollkommen in seinen Bann zog – da verlor ich schon mal meine Orientierung oder wichtige Dinge, die ich hatte erledigen sollen.
 

Das Ostfeld . Ein kleiner Fußmarsch von vielleicht einer halben Stunde, in der ich allerdings die Stadt noch besser kennenlernen konnte. Gemeinsam mit Haia war es ein Leichtes, mir wichtige Orte und Spielinhalte einzuprägen. Strukturen wie Geschäfte und Werkstätte oder Unterbringungen.

Die Bauten waren alle recht alt, so wie auch schon das Rondell zuvor. Sehr mittelalterlich oder auch fantasybelastet. Wimpelzüge, diverse Überbrückungen aus Steinmauern, Türme mit runden, zylinderähnliche Dächer und hier und da versteckte Seitengassen, die wiederum in andere Ecken des Ortes führten. Die diversen Läden, Schenken und Stände der Ladenbesitzer. Schmieden, Schneider und selbst Floristen fanden hier Platz. Obwohl mir niemand begegnete, der einem anderen Spieleavatar glich und jeder so einzigartig in diese Welt geworfen wurde, passte doch irgendwo alles zusammen. Mein zunächst neugieriger Gesichtsausdruck verlor sich und ließ nun einen gespannten und interessierten zu. Ich fand langsam Spaß daran, dass ich hier durch die SAO-Welt gehen und neue Abenteuer erleben durfte. Vielleicht würde mich Keiichi noch öfter spielen lassen, wenn ich nett darum bat?

Nun mehr allerdings sahen wir einer weiten grünen Fläche entgegen. Eine wildwachsende Wiese mit einem Sandpfad, der zu neuen Ortschaften führen würde. Was mein Aufmerksamkeit jedoch eindeutig auf sich lenkte, waren die schwebenden Inseln im Himmel.

„Sind das weitere Welten?“, deutete ich mit dem Zeigefinger auf diese Himmelskörper, woraufhin auch Haia hinsah und dann mehr oder weniger nickte.

„Kennst du die Geschichte, die sich hinter SAO versteckt?“ Ich musste den Kopf schütteln, so dass er zu erklären begann, „Die Welt sei nach den Legenden der Dunklen Elfen in verschiedene Teile geteilt worden: das Waldelfenreich Kales'Oh, das dunkle Elfenreich Lyusula, dir Menschenallianz der Neun Königreiche, das Untergrundreich der Zwerge und noch andere. Eines Tages wurden verschiedene Regionen der Welt in Ebenen geschnitten und in den Himmel geschickt. Diese kegelförmige Anordnung bildet Aincrad, wo wir uns jetzt befinden. Einhundert Ebenen mit unterschiedlichen Städten, Dörfern, Bergen, Tälern und Seen.“

„Aincrad also...“

An Incarnating Radius.“

„Das ist der volle Name?“

„Ja. Oh, das trifft sich gut! Sieh' mal da!“ Haia hatte seine Erklärungen für das erste beendet und deutete auf etwa dreißig Meter von uns entfernt. Ein gräulich-schwarzes Tier graste, steckte seinen Kopf zu Boden und schien wie auf Trüffelsuche zu sein. Es erinnerte mich an ein Wildschwein. Nur... minimal größer?

„Was... ist damit?“, wunderte ich mich über das seltsame Tier, welches beim genauen Hinsehen rote Augen aufwies. Es wirkte friedlich, aber diese Augenfarbe erinnerte mich daran, dass Rot in Spielen meist etwas Schlechtes bedeutete.

„Das ist ein Gegner.“

„Verstehe...“ Ich legte die Hand wie automatisch an den Griff meines Schwertes und zog es etwas ungeschickt aus seiner Schwertscheide. Zum Glück war es nicht übermäßig schwer, aber hatte dennoch genug Gewicht in meinen Händen, als dass ich es nicht gleich wegzuwerfen wusste.

„Warte, nicht so schnell!“, hielt mich Haia an der Schulter zurück, „Überleg' dir genau, wie du deinen Gegner am besten triffst!“

Ich sah zu meinem Begleiter und dann wieder zum Wildschwein. Stimmt... ich wusste gar nicht, was ich hier tat. Das Ergreifen der Waffe war zwar eine einfache Reaktion meinerseits gewesen, aber die Bewegungsabläufe waren mir fremd. Keep calm. Nur, weil ich Kingdom Hearts und Basara zu spielen wusste, bedeutete es nicht, dass es hier genauso klappte. Ich hatte kein Gamepad in der Hand und daran sollte ich vielleicht denken.

„Meinst du sowas wie... der wunde Punkt?“, versuchte ich den Satz meines Begleiters richtig zu deuten und ließ dabei das Wildschwein nicht aus den Augen.

„Auch. Aber wichtig ist, wie du angreifst. Wenn du die richtige Bewegung initiierst, wird das System dieses mit der Technik kombinieren.“

„Sowas wie... eh... Synapsenschaltung?“

Irgendwie redeten wir aneinander vorbei. Zumindest war das kurzweilige Schweigen Zeichen für mich, dass dem so war.

Haia pustete überfordert die Luft aus und rieb sich dann nachdenklich das Kinn.

„Eh... also... du wirst es merken, wenn sich das Skill aktiviert. Dann kannst du es regelrecht... herausbrechen lassen?“ Okay... das klang kompliziert. Wie sollte das jetzt genau funktionieren? „Probiere es einfach aus!“ Haia nahm die Finger an die Lippen und führte einen kräftigen Pfiff aus. Kräftig genug, als dass das Wildschwein aufmerksam auf uns wurde und seine Nase rümpfte. Das reichte dem Jungen neben mir aber noch nicht und so hob er einen Stein auf und warf ihn nach dem Tier.

„H-Hey, was-“, wollte ich ihn noch davon abhalten, aber zu spät: Unser bisher so friedliche Gegner wurde getroffen und scharrte daraufhin nur wenige Sekunden später sauer mit den Hufen, um sich zielsicher auf uns zuzubewegen. Erst Schritt für Schritt, Huf um Huf, aber schließlich für seine Verhältnisse rennend, was mich ganz und gar nicht erfreute.

„Viel Erfolg!“, sprang Haia zudem noch aus der Ziellinie und ließ mich damit vollkommen allein.

Ich hatte nicht einmal Zeit, mich zu beschweren, da musste ich dem Ding auch schon irgendwie ausweichen. Oder versuchte es zumindest, in dem ich zur Seite stolperte. Es erwischte mich mit seinen Hauern nicht, aber ich wusste in dem Moment schon, dass ich gerade auf ziemlich verlorenem Posten dastand. Ich wirbelte herum, um herauszufinden, wo sich das Vieh befand, ob es sich bereits daran machte, mich erneut mit seinen unteren Eckzähnen zu attackieren.

Mutig schwang ich das Schwert nach vorne, hielt es vor mich, aber in der letzten Sekunde wich ich dann doch lieber ein zweites Mal aus. Ich fiel ins Gras, konnte aber nicht einmal darauf achten, ob ich mich verletzt hatte. So konnte das nicht weitergehen. Haia wollte, dass ich das Kämpfen in SAO lernte, also musste ich kämpfen. Aber wie denn nun?

Sollte ich den Angriff parieren? In Spielen klappte das doch immer so? Nein... dafür müsste ich schon ein gutes Timing haben und bisher konnte ich nur gut genug ausweichen. Danke Reflexe, die ihr mir immer gesegnet ward. Seit dem Völkerball in der Grundschule.

Das Wildschwein drehte sich gerade zu mir um, begutachtete mich ein weiteres Mal, doch... war es das? Es tat nichts weiter? So als ob es... einfach das Interesse verlor? Ja... es interessierte sich nicht für mich. Es steckte den Kopf wieder ins Gras und begann zu schnüffeln. Weil ich es nicht wert war.

Prima.

Von einem Wildschwein gedisst.

Ich gab es nicht gerne zu, aber es ärgerte mich.

Zwar konnte ich so einmal verschnaufen und mir vielleicht auch eine Strategie zurechtlegen, aber dennoch... es ärgerte mich extrem.

Also noch einmal... was hatte Haia gesagt?

Das System bekam es mit, wenn man versuchte zu agieren? Sollte ich mich jetzt mit diesem unterhalten oder wie?

Liebes System, ich will angreifen. Lass mich bitte angreifen!

Das war bestimmt nicht das, was benötigt war, aber... was sollte ich sonst tun?

Ein Versuch war es zumindest wert.

Fehlgeschlagen.

Ich runzelte die Stirn, betrachtete das Schwert zu meinen Händen, sah dann auf meine Hände selbst, auf meine Füße und schließlich wieder nach vorne.

Vielleicht müsste ich mich nur so auf meine Bewegungen konzentrieren, wie ich es bei meine Yogaübungen mit meinem Atem tat?

Ich atmete also ein, konzentrierte mich so gut es ging auf diesen, fokussierte aber all meine Kraft und Bewegung auf meine Hand, die das Schwert hielt, und versuchte mir vorzustellen, dass meine Energie auf die Klinge überging. Besser wäre es gewesen, die Augen zu schließen, aber ich traute dem Frieden nicht und rechnete eher noch damit, dass das Vieh mich hinterrücks angreifen würde, wenn ich es eben auf solch dumme Art zuließ.

Stell dir einfach vor, du kannst vorpreschen. Du kannst auf dieses Ding vorpreschen und treffen.

Immer wieder sprach ich diese zwei Sätze als Mantra stumm vor mich her. Immer und immer wieder. Und dann... ganz plötzlich, war es, als hätte ich eine Kette durchbrochen, die mir meine Fertigkeiten vorenthalten hatte: die Klinge meines Schwertes begann für einen Moment Orangegelb aufzuglimmen. Meine Beine bewegten sich wie von alleine nach vorne, auf meinen Gegner zu und ohne nachzudenken holte ich mit meinem rechten Arm Schwung, stach mit der Klinge in dem Moment nach vorne, als mich das Schwein bemerkte und ansah. Ein sauberer Schnitt führte durch den Körper des Wesens, hinterließ eine rote Spur aus digitalen Fragmenten und ließ meinen Gegner schließlich in hunderte von kristallblauen Splittern zerbarsten, die in die Luft stiegen und dahinflirrten. Ich hatte es nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen, aber doch... war es das gewesen? Ungläubig drehte ich mich langsam auf dem Absatz um. Da stand kein Wildschwein mehr.

Einzig und allein ein kleines Fenster zeigte mir mein Result an: Exp, Cor und Items.

So war das also – natürlich.

Wie bei anderen Spielen auch erlangte man Erfahrungspunkte, Geld und Items, in dem man Gegner besiegte und konnte somit sein eigenes Level steigern.

Die Ausbeute für das Besiegen des Wildschweines war nicht gerade die Beste, aber dafür, dass es mein erster Sieg war, war ich schon irgendwo ein bisschen stolz auf mich. 25 Exp und 40 Cor waren doch ein Anfang?

Nachdem ich realisiert hatte, dass mir das wirklich gelungen war – auch wenn ich noch an mehr Zufall als alles andere dachte – schaute ich in Richtung Haias, welcher nun mit in die Hüften gestemmten Händen auf mich zukam.

„Nicht schlecht, Gratulation! Davon jetzt noch 30 weitere und du hast den Bogen raus.“

Eh... Mein Grienen, das sich auf meine Lippen gelegt hatte, verschwand.

Das war nämlich etwas, was ich nie hatte leiden können.... Leveln... Und nun... musste ich auch noch mich selbst leveln. „Was denn? Ohne Fleiß, kein Preis!“, lachte Haia und rieb sich dann die Nase, „Du musst in deinen Bewegungen flüssiger werden. Das eben war nur ein Glückstreffer!“

Erwischt... so und nicht anders sah es nämlich wirklich aus. „Komm, wir suchen noch nach ein paar weiteren Gegnern!“
 

Die Zeit verging im Nu, als wir uns schließlich zur Abenddämmerung wieder mehr den Stadttoren näherten und dabei streckten und reckten. Wir hatten beide trainiert, Haia hatte mir verschiedene Tipps und Tricks gezeigt. Auch, wenn einem zwar keine Schmerzen dank der Ausschaltung jenes Empfindens zuteil wurden, so schien sich mir aber dennoch die Müdigkeit zu zeigen. Außerdem hatte ich festgestellt, dass es fast 18 Uhr war. Keiichi würde bald zu Hause sein und damit müsste ich offline gehen.

Allerdings... hatte ich Haia bereits versprochen, wiederzukommen. Obwohl ich natürlich nicht in erster Linie nach Japan geflogen bin, um ein Onlinegame zu spielen, so war ich dennoch ziemlich froh, hier bereits jemanden gefunden zu haben, mit dem ich neben meiner Gastfamilie reden konnte. Und das dank des Sprachtools ganz unkompliziert auf Deutsch. Es gab mir ein bisschen Heimatgefühl wieder. Denn jetzt, wo der Tag sich zu Ende neigte und das Sonnenlicht der ganzen Umgebung von Aincrad einen leicht melancholischen Touch verpasste, kam auch in mir ein bisschen Heimweh auf.

Hier im Spiel zu stecken, löste natürlich nicht das Distanzproblem, welches mich die nächsten Monate begleiten würde, aber es ließ mich näher einer gewissen Person fühlen, dank der ich in der letzten Zeit so einiges über Videospiele gelernt und mich wieder für begeistert hatte. Es ließ mein Herz leichter werden und nicht so schwermütig schlagen. Beinahe so, als würde es mich mit meinen Freunden verbinden, die ich bereits auf dem Flug zu vermissen begonnen hatte.

„Okay, dann... sehen wir uns morgen oder so?“, fragte ich Haia, welcher nickte.

Ich rief das Menü mit einer Handbewegung von oben nach unten auf – das hatte ich nun auch begriffen – und blickte auf die Optionen. Logout... da war Türsymbol. Ich tippte drauf, erwartete einen Black oder irgendetwas, aber nichts passierte. „Hä?“

„Was ist?“

„Ich kann mich nicht ausloggen?“

„Ach Quatsch, versuch es nochmal. Ganz unten“, winkte Haia ab und ging dann ins eigene Menü, nur um daraufhin irritiert dreinzuschauen, „Ist... wirklich nicht da?“

Also hatte ich nichts übersehen. Der Logout-Button war zwar vorhanden, aber es passierte nichts, wenn man darauf tippte.

Wir beide schwiegen und ich beobachtete, wie mein Gegenüber sichtlich verwundert durch das gesamte Menü scrollte, die Hilfsoption aufrief, aber auch hier nicht weiterkam. „Das ist seltsam...“, murmelte er mehr zu sich selbst als zu mir. Zum ersten Mal an diesem Tag sah ich ihn mit diesem ernsten Ausdruck im Gesicht. Normalerweise ließ ich mich nicht so schnell aus dem Konzept bringen, aber diese 180 Grad Wendung meines neuen Bekannten, der zudem noch ein Beta-Tester war und besser als andere Bescheid wusste, machte mir schon ein bisschen Sorgen.

„Können wir... nicht irgendwas anderes tun? Vielleicht dahin zurückgehen, wo wir herkamen und dann eh... dort einen der Admins oder so fragen?“, versuchte ich logisch an die Sache ranzugehen. Es musste ja irgendeinen Weg geben. Nur nicht die Pferde Scheu machen – ganz gleich, was mir mein Bauchgefühl gerade mitteilen wollte.

„Du meinst Gamemaster?“, verbesserte mich Haia, „Hab ich schon versucht. Da ist kein Durchkommen.“ Ich verstand zwar nicht, was er genau mit Durchkommen meinte, ließ dies für den Moment aber einfach stehen.

„Was... dann?“

„Keine Ahnung. Du kannst dich nur über das Menü ausloggen oder wenn dir jemand das NerveGear abnimmt.“ Reflexartig atmete ich einen Kloß in meinem Hals weg, als er mit diesem zweiten Teil der Antwort kam. „Dann... ist es also gar nicht so schlimm?“

Haia warf mir nun mehr einen Blick zu, der zwischen Wie doof bist du eigentlich? und Schön wär's! schwankte. Da fiel dann auch der Groschen bei mir.

Ich konnte warten, bis mir zum Beispiel Keiichi diesen Helm abnahm, aber bei anderen wäre das nicht der Fall. Diejenigen, die alleine lebten. Und damit vielleicht auch Haia? „Du... kannst mir doch deine Adresse verraten und dann sorge ich dafür, dass du hier ebenso rauskommst!“, schlug ich als erste Idee vor.

„Nett gedacht, aber was machst du mit all den anderen Spielern?“

„Nun ja... bis dahin... wird dieser Fehler doch behoben sein?“

Ich konnte mir selbst nicht ganz glauben und musste dem Jungen mit den kastanienbraunen Haaren zustimmen, dass ich gerade ziemlich naiv dachte. Jeder, der schon öfter als einmal im Internet war, wusste, dass solche technischen Probleme durchaus eine Server-Maintenance von ein, zwei Tagen verursachen konnten. Das wäre nicht so schlimm, würde es sich um ein normales Onlinespiel handeln, aber hier, wo jeder gewissermaßen mit seinem Körper verknüpft war?

Wir beide kamen gar nicht mehr dazu, länger zu grübeln oder gar noch in Streit zu verfallen:

Ein dumpfes Glockenläuten ertönte über unseren Köpfen. Es kam aus der Stadt und erfüllte die gesamte Atmosphäre um uns herum.

Es musste jetzt wohl sechs Uhr sein? Aber das Läuten endete nicht mit dem sechsten Schlag, sondern setzte sich fort und das war nicht die einzige Überraschung nachdem wir hier schon nicht mehr wegkamen: Bevor wir uns versahen, tauchte unsere Umgebung sich in ein weißes Licht und als ich die Augen wieder öffnete, die ich wegen der Helligkeit zusammengekniffen hatte... stand ich mit einem Mal erneut auf dem großen Platz von heute Vormittag.

Ebenso wenig allein wie zuvor.

Ebenso viele Menschen um mich herum wie zuvor.

Haia neben mir.

War das Absicht?

Wollten sich die Admins – nein, Gamemaster – melden und den Bug beheben?

„Zwangsteleport?“ „Was ist hier los?“ „Was denn nun?“ „Das ist bestimmt eine Zeremonie oder sowas!“ „Lass' uns gehen!“

Vielerlei Stimmen drangen an mein Ohr und ich merkte, wie mir von all diesem Gemurmel ein bisschen drieslig wurde.

Was ging hier vor sich? Warum... hatte ich das Gefühl, dass das kein gutes Zeichen war?

Das Glockenläuten verhallte, nicht aber die Aufregung der Menschen.

Wenn das jetzt das Ende für den Prolog des Spiels darstellen sollte... dann hatten die Spielemacher eindeutig einen mehr als guten Eindruck hinterlassen.

Aber... könnten sie uns jetzt bitte auch nach Hause lassen?

2nd Floor - Instructions

Was ist hier los?“ „Wieso sind wir hier?“ „Ich muss nach Hause!“

 

Ich war niemand, der sich von anderen in Panik versetzen ließ, aber im Zusammenhang mit den Geschehnissen der letzten Minuten war ich auch nicht gerade die Ruhe selbst. Ich wollte nicht nur das Negative sehen, dachte, dass sich dieser Zwangsteleport, wie Haia neben mir murmelte, eine Art Konferenz oder dergleichen darstellte. Weil das normale Log Out nicht funktionierte. Damit sie uns so komplett vom System trennen konnten. Eine Art Shut-Down von Administratorebene. Nichts weiter.

Dass ich damit aber weit entfernt lag von dem, was mich bzw. uns erwarten sollte, konnte ich nicht einmal erahnen.

Mein Blick glitt von der bunten Menschenmenge um mich herum zu den Dächern und schließlich zum abendroten Himmel der SAO-Welt. Schäfchenwolken zierten diesen, aber nicht nur das... sondern auch ein sechseckiges Zeichen, das immer wieder aufblinkte. Nun mehr konnte ich auch das Geräusch zuordnen, was für mich bis eben wie der Hall der Turmuhrglocke geklungen hatte: Es kam von diesem länglichen Hexagon, welches in großen Lettern WARNING als Inschrift trug. Doch kaum hatte ich es entziffert, dockten sich weitere rote Felder an – System Announcement.

Das Firmament füllte sich mit jenen geometrischen Formen, bis es komplett umzingelt war. Die Zellwände wirkten stabil und doch tropfte eine undefinierbare Flüssigkeit aus der Mitte der angeordneten Fläche. Ich bekam eine Gänsehaut, erinnerte mich diese fluide Essenz zu sehr an Blut und an so mancherlei Szenen aus Neon Genesis Evangelion.

Die Art und Weise wie sich die Tropfen zu Fäden, dann zu Streifen und schließlich zu einer Form bildeten, welche blitzte und mit einem Mal die Silhouette eines Menschen einnahm, ließ mich umso mehr anspannen.

Nein, ich wollte wirklich nicht nur das Negative der Situation sehen, aber mein ungutes Gefühl drückte mir mehr und mehr im Magen herum.

Die Silhouette hatte sich schlussendlich zu einem übergroßen Wesen mit karminroten Mantel gebildet, welcher goldene Säume und Borten sowie eine Kapuze aufwies. Die Figur schwebte am Himmel, als wäre es das Natürlichste der Welt. Vermutlich war es das hier auch.

Ein Spielleiter?“ „Wieso trägt der eine Kapuze?“ „Ist das ein spezielles Event?“

Letzteres konnte man wirklich fast annehmen, so zelebrierend, wie die Gestalt nun beide Arme seitlich empor hob und uns willkommen hieß:

„Spieler, eure Aufmerksamkeit. Willkommen in meiner Welt. Mein Name ist Kayaba Akihiko und ich bin momentan die einzige Person, die diese Welt kontrollieren kann.“

Die Stimme des Wesens war angenehm. Für einen Moment beruhigte sie mich fast sogar ein wenig. Nicht, dass mir der Name von dem Typen etwas sagte, aber wenn er versuchte, so Vertrauen zu erwecken, schaffte er es ganz gut. Ausnahme: seine Worte.

Mir gefiel weniger das kann als das meine Welt. Wenn dies ein Spielmacher war, war es selbstverständlich auch seine Welt. Aber bevor ich darüber weiter grübeln konnte, zeigten mir schon die Reaktionen der anderen, dass es sich tatsächlich um einen Spieleentwickler oder ähnliches handeln musste: Sie waren erstaunt, überrascht, ihre Augen wurden größer vor Ehrfurcht, aber auch vor Respekt und Dankbarkeit.

Ich hatte meine Augen nur für den Bruchteil einer Sekunde von diesem Kayaba abgewandt und trotzdem bereits so viele unterschiedliche Emotionen meiner Mitspieler erhaschen können. Vielleicht war Kayaba ja so etwas wie ein Tajiri Satoshi für die Pokémon-Fans? „Ich bin mir sicher, dass ihr bereits bemerkt habt, dass der Log Out-Button im Hauptmenü entfernt wurde.“ Mit einer fließenden Handbewegung seiner Linken rief er zur Demonstration das Menü auf, sprang in das Untermenü der Einstellungen und tippte auf das Symbol mit der geöffneten Tür, wo normalerweise Log Out hätten stehen sollen. Soweit so gut, das hatten wir bemerkt – Ja. „Jedoch ist dies auf keinen Fall ein Fehler.“ Okay... nun wurde es seltsam. „Ich wiederhole: Es ist kein Fehler, aber ein Feature des wahren Sword Art Online. Ihr alle seid unfähig, euch aus SAO auszuloggen und niemand in der realen Welt kann das NerveGear entfernen oder dessen Anwendung unterbrechen.“ Okay, nun wurde es wirklich seltsam. „Sollte dies versucht werden, wird ein starker Strom durch Mikrowellenstrahlung von einem Transmitter ausgehend in das NerveGear gesendet und euer Gehirn zerstören, sprich: euer Leben beenden.“

Ich spürte, wie sich ein Kloß in meinem Hals zu bilden begann, der mir das Atmen erschwerte. Das konnte ja nur ein schlechter Witz sein? Ein ziemlich mieser, aber... ein Witz, nicht?

„Das... ist doch gar nicht möglich, oder?“, wandte ich mich an Haia, welcher immer noch neben mir stand und setzte ein Lächeln der Ungläubigkeit auf. Wenn es so gefährlich wäre, hätte man das NerveGear nie in den Handel gegeben. Wenn man uns das NerveGear also entfernte, würden wir vielleicht etwas irritiert sein, aber deswegen doch nicht gleich sterben?

Doch der Ausdruck, der sich in Haias Gesicht gelegt hatte, zeigte mir alles andere als Zustimmung. Ich hatte diesen Jungen als aufgeweckt und schlagfertig erlebt. Er war Beta-Tester und kannte SAO somit besser als wohl viele andere. Gerade deswegen war ich der Meinung gewesen, dass er mir einfach zustimmen musste. Einfach rein rational betrachtet. Dass Haia aber zähneknirschend neben mir stand, mich nicht ansah oder mich vermutlich nicht einmal gehört hatte, ließ mich straucheln. Glaubte er dem Typen etwa?

Die Meute um uns herum war ebenso unsicher wie ich mich fühlte. Wieder hob sich das Stimmengemurmel hervor. Jene, die dies für einen Scherz hielten. Andere, die glaubten, dass das Spiel so nur noch beliebter gemacht werden sollte. Solche, die gehen wollten.

Ich biss mir nachdenklich auf die Unterlippe, während ich wieder zu dem Spielmacher aufsah, der auf uns so erhaben herunterblickte.

Nur mal angenommen, diese Signale, die vom NerveGear an unser Hirn ausgesendet wurde, wären tatsächlich Mikrowellenstrahlung... ab wann war diese schädlich? Wie viel konnte ausgesendet werden, dass tatsächlich ein menschliches Gehirn verbrannt werden konnte? Die letzte Physikstunde meines Lebens war nun mehr fast zehn Jahre her und da hatten wir uns zum Schluss eher mit Compton und Millikan beschäftigt als mit Radiowellen und dergleichen...

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass wir hier mit einem Gerät spielten, welches eine solch erhebliche Sicherheitslücke aufwies? Auf der anderen Seite... was war in der Geschichte der Menschheit nicht schon alles passiert, das als sicher gegolten hatten? Flugzeugabstürze, selbstfahrende Autos, Experimente aller Art, … kein besonders beruhigender Gedanke. „Unglücklicherweise ist es sicherlich möglich, dass die Familie oder Freunde eines Spielers die Warnung ignorieren und mit Gewalt versuchen, das NerveGear zu entfernen. Als Beweis dessen sind 213 Spieler sowohl von dieser als auch der realen Welt gegangen.“

„Schwachsinn“, entfuhr es mir tonlos, wollte mein Verstand nicht glauben, dass diese Art Gefängnis möglich war, geschweige denn, dass ich in diesem ebenso steckte wie all die anderen. Ich war hier, um mein Jahr in Japan zu verbringen und nicht, um in einer Spielwelt festzusitzen! Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast – Weisheit diverser Mathelehrer unserer Schule damals.

Ich glaubte so auch nicht an die 213 angeblich Toten. Und trotzdem kniff mich mein Magen von innen nur noch mehr, je weiter ich mich aus dem Fenster lehnte und zu ignorieren versuchte, was uns hier erzählt wurde. „Wie ihr sehen könnt, ist meine Warnung und die benannte Anzahl der Opfer weltweit in die Nachrichten übertragen worden.“

Um die Gestalt herum, ploppten diverse Frames auf. Bekannte Websites wie CNN, Facebook, GamePro, NHK oder auch die russische Adaption der Microsoft-Site waren vertreten und zeigten allesamt die gleichen Schlagzeilen: Online-Game fordert Todesopfer – 213 Menschen weltweit im Spiel gestorben. „Es ist nun also sicher zu sagen, dass die Gefahr der Versuche, das NerveGear zu entfernen, äußerst minimiert wurde. Ich hoffe, ihr werdet euch nun alle beruhigt darauf fokussieren können, das Spiel zu beenden. Aber ich möchte, dass ihr folgendes stets vor Augen habt: Von diesen Punkt an, werden alle Funktionen der Wiederbelebung in dem Spiel nicht länger aktiv sein. Wenn eure HP Null erreichen, wird euer Avatar für immer verenden und im selben Moment... wird das NerveGear euer Gehirn zerstören.“

Absurd. Einfach nur absurd.

Mein kleines Magenknäuel begann sich als Übelkeit zu entpuppen.

Träumte ich? War das nur ein Traum und ich saß eigentlich noch im Flieger nach Japan? Über dem russischen oder chinesischen Gebirge? Ja. Das musste es sein. Anders konnte ich es mir nicht erklären.

Mir wurde heiß. Nein, kalt. Oder doch wieder heiß? Ein absolutes Wechselbad.

Gerade wünschte ich mir, dass die Simulation der Empfindungen in diesem Spiel nicht so real gestaltet worden wären...

„Es gibt allerdings nur eine Bedingung, die ihr erfüllen müsst, um euch zu befreien: die Beendigung dieses Spiels.“ Der Spielmacher bewegte seinen Zeigefinger über das Hauptmenü und nach einem Wischen und Tippen erschien eine runde dreidimensionale Fläche, die Rasterlinien und mehrere rote Punkte aufwies. Ich glaubte, dass dies der Ort sein müsste, an dem wir uns gerade befanden, nur weitaus simpler dargestellt. „Ihr befindet euch momentan alle in der ersten Ebene, dem niedrigsten Punkt in Aincrad.“ Die Fläche drehte sich und aus dem Längsschnitt wurde ein kokonartiger mehrschichtiger Bau. Hatte Haia nicht davon gesprochen, dass aus vielen Welten die Ebenen erstellt worden seien? „Wenn ihr den Dungeon einer Ebene erobert und dessen Boss besiegt, werdet ihr in die nächste aufsteigen können. Angenommen ihr schafft es, den Endboss in der 100. Ebene zu besiegen, gilt das Spiel als abgeschlossen.“ Die oberste Etage der visuellen Darstellung blinkte auf, um die Erklärung des Spielmachers zu unterstreichen. Einhundert Ebenen... das klang heftig.

Mir war bewusst, dass SAO natürlich einige Level bereit hielt, aber gleich 100 Stück? Und wie lange würde man brauchen, bis man alle bewältigt hätte?

„Das ist doch Wahnsinn...“, hörte ich Haia zum ersten Mal etwas sagen, seit wir hier angekommen sind, „Keiner von uns ist zuvor bis dorthin vorgedrungen.“ Super... das machte es gewiss nicht besser.

„Und zu guter Letzt habe ich für euch alle ein Geschenk in eurem Item-Vorrat vorbereitet. Seht nach.“ Kabaya sprach nicht weiter und schien zu warten, bis wir alle seiner Aufforderung Folge leisteten. Ich tat es Haia und dem Rest gleich, die das Menü aufriefen und dann in die Item-Sektion switchten. Mein eigener dürfte bis auf die zwei, drei kleinen Einkäufe von vorhin leer sein, aber... was sah ich da?

 

Spiegel.

 

Ein Spiegel? Ich tippte die Zeile an und wie aus dem Nichts erschien vor mir ein mehreckiger Spiegel, welcher mir in die Hand fiel. Nicht so filigran und hübsch wie die von dem Händler, aber er erfüllte seinen Zweck. Er zeigte mein Spiegelbild, meinen Avatar. Interessanterweise musste ich dabei feststellen, dass obwohl ich mich so schlecht fühlte, mein Aussehen nicht darunter litt. Ich war nicht leichenblass oder saunarot. Nur mein irritierter und überforderter Gesichtsausdruck selbst war etwas, was mir dennoch erhalten blieb. Doch selbst das sollte nicht von Dauer sein.

Von der gesamten Situation schlichtweg übermannt, bekam ich gar nicht mit, wie manche um mich herum erschrockene Töne ausstießen. Erst, als an der Stelle, wo Haia stand, eine hell weiße Lichtsäule aufleuchtete und ihn erfasste, wurde ich aufmerksamer. Und da packte es auch schon mich selbst! Das Licht kam von meinen Füßen her, tauchte mich komplett in dessen Säule und ließ mich die Augen zusammenkneifen, weil ich die blendende Helligkeit nicht ertragen konnte. Das Spektakel war in nur wenigen Sekunden vorbei und als ich die Augen öffnete, hatte sich weder die Umgebung verändert, noch die Leute … oder? Ich war mir unsicher. Sie trugen dasselbe wie vorher, aber... etwas stimmte nicht.

„W-Was... ist das?“, hörte ich eine hellere Stimme neben mir sprechen, die ich zuvor noch nie gehört hatte. Aber da ich wusste, dass dort Haia stehen musste, sah ich natürlich auf – aufs übelste überrascht. Nein, das... war nicht Haia... Der Junge mit den kastanienbraunen kurzen Haaren war verschwunden und stattdessen stand ein etwas gleichgroßer junger Mann um die 19 oder 20 Jahre vor mir, schwarze Haare, die kurz, aber gewellt waren und ihm in der Stirn hingen. Er betrachtete sich schockiert im Spiegel, drehte sich dann mir aber zu, „Aya...?!“, sprach er mich fast schon fragend an, worauf ich nur nicken konnte, denn... anscheinend war es Haia, der mich nun irritiert ansah. Ich gab der Neugier nach, ebenso in den Spiegel zu schauen und... erschrak nicht minder. Das... war ich nicht. Das... war nicht mehr mein Avatar. Das Bild, was sich mir jetzt zeigte... war ich selbst! Meine blaugrauen Augen, die dunkelbraunen schulterlangen glatten Haare und die eindeutig prominente Nase sowie die vollen Lippen. Ich kannte mein Spiegelbild zu gut – das... war wirklich ich. „J-Ja... du... bist Haia?“

„Ja...“

„Was... geht hier vor?“ Ich konnte immer noch nicht Eins und Eins zusammenzählen. Mein rationales Ich verbot es mir und auch Haias Erklärungskünste machten es nicht besser:

„Das NerveGear muss all unsere eingegebenen Daten zurückgesetzt haben. Oder aber... nein, es hat sie nicht zurückgesetzt. Es hat unsere Daten, als wir unsere Avatare erstellt haben, gesammelt und nun mehr umgesetzt?“ Haia ließ seinen Blick schweifen, durch die Menge der verwirrten Personen um uns herum. Es war keine Einbildung gewesen – die Leute waren tatsächlich verändert. Jeder von ihnen trug nun anscheinend genau das Gesicht, mit welchem er auch im realen Leben zu tun hatte.

„Soviel zur Datenspeicherung“, konnte ich mir meinen schwarzen Humor nicht klemmen und verschränkte schließlich die Arme vor der Brust, sah noch einmal in den Spiegel, welcher mir kein anderes Bild mehr zu zeigen wagte.

„Ich habe bereits mein Ziel erreicht“, sprach der Spielmacher nun erneut zu uns, nachdem sich der erste Tumult gelegt hatte, „Ich habe die Welt von Sword Art Online einzig und allein für meine persönliche Unterhaltung erschaffen. Und jetzt sind die Vorbereitungen abgeschlossen. Dies beendet das Tutorial für das offizielle Launch von Sword Art Online. Spieler, ich wünsche euch viel Glück.“

Und mit diesen letzten Worten, begann die gesamte Existenz des Wesens vor uns dahinzuschwinden. Sich in Pixel und flüssige Materie wieder nach und nach auflösend, schien es, als wich der Geist aus dem Körper, der nur noch aus einem in sich zusammensackenden Mantel bestand und sich in Luft auflöste. Die blutähnliche Flüssigkeit zog sich wieder in die Wand der Zelle zurück, wo sie hergekommen war und der rote Himmel war mit einem Mal wieder frei von jeglichen Feldern und zeigte sich erneut im schönsten Abendrot.

Wir waren unter uns.

Und mit uns die Stille.

Keiner von uns brauchte die Gedanken des anderen zu lesen, denn obwohl es für uns nicht real erschien, zeigte sich doch, dass es nicht anders sein konnte.

Wir befanden und immer noch in der SAO-Welt.

Wir konnten uns immer noch nicht ausloggen.

Die Spiegel in unseren Händen hatten uns unser wahres Ich geschenkt.

Und doch verstand ich rein gar nichts von dem, was hier vor sich ging.

Aber wie ich es bereits sagte: Ich war niemand, der sich von anderen in Panik versetzen ließ. Nur waren es gerade diese, die einander aufbauschten und nun begannen, eine Massenhysterie auszulösen. Das machte Panik.

Denn bevor ich mich selbst auch nur zu der kleinsten Entscheidung durchringen konnte, was ich jetzt tun sollte, spürte ich den ersten Ellbogen in meiner Seite, gefolgt vom ersten Fuß auf meinen. Die Meute schob sich vor, wollte raus, drängte, schubste und machte ihrer Angst und Panik in Worte klar und deutlich hörbar. Ich verlor die Orientierung. Vermutlich hätte ich mich just mitreißen lassen, hätte ich in diesem Moment nicht eine Hand an meinem Handgelenk gespürt, welche mich packte und bestimmt mit sich zog. Ich sah auf, blickte dem neuen – dem echten – Haia in die Augen, der sich über das Stimmengewirr der anderen hinwegsetzte und mir ein „Komm mit!“ zusprach, ehe er mich weiterzog.

Ich gab keine Worte der Widerrede von mir, war sogar ganz froh, hier . Um etwas Luft zu schnappen. Überhaupt wieder atmen zu können.

 

Wir liefen nicht weit, aber weit genug, als dass der Trubel um uns verblasste und wir etwas Ruhe genießen konnten. Erst, als wir eine kleine Seitengasse erreicht hatten, blieben wir stehen und mein Handgelenk wurde wieder losgelassen. Es drückte an der Stelle, wo Haia mich mitgezogen hatte, und ließ mich abermals an der Unechtheit des Spiels zweifeln...

Ich rieb mir die Stelle mit der anderen Hand und betrachtete diese dabei aufmerksam.

Das... waren auch meine Hände. Meine für Violine zu große und für Gitarre zu kleinen Händen, die nicht filigran geformt waren und zudem nicht gerade hübsche Fingernagelformen besaßen. Meine Hände – nicht die des Avatars. Seltsam.

„Alles okay?“

„Ja. Ja, alles okay“, antwortete ich mehr geistesabwesend als alles andere und starrte immer noch meine Hand an, welche meinen Unterarm hielt. Haia hätte mich auch fragen können, ob gerade Schweine am Himmel entlang geflogen wären und ich hätte es bejaht.

„Aya?“ Als ich meinen Spielernamen hörte, sah ich dann doch zu dem jungen Mann vor mir auf und hielt mit einem Mal erschrocken inne. Ich kannte diesen Blick... dieser besorgte Ausdruck in seinen Augen, der sagte, dass er wusste, dass etwas nicht okay war.

Seltsam...

Mir kam ein unbeholfenes Lächeln über die Lippen, welches meinen Gegenüber nur noch mehr die Stirn runzeln ließ. Haia erinnerte mich in diesem Moment an jemanden, der mich auch schon so einmal angesehen hatte und... seltsamerweise spürte ich, wie mein Herz regelrecht danach schrien, ihn jetzt sehen zu wollen. Und es war auch mein Herz, das mir zusprach, dass ich nicht einfach aufwachen und vom Traum heulend im Flugzeug sitzen würde. Der Schmerz, die plötzlich aufkommende Sehnsucht nach diesem einen Menschen und der Gedanken an andere wichtige Menschen waren es, was mir leider bewusst machte, dass dies nicht das Ende einer Reise war, sondern leider erst der Beginn.

„T-Tut mir leid... du... hast mich gerade nur... an jemanden erinnert“, sprach ich leise und hatte dabei nicht einmal wirklich die Kontrolle über meine eigene Stimme, die mit jeder Silbe etwas mehr schwankte. „Wir... sind jetzt also hier und müssen... diese 100 Ebenen schaffen, damit das Spiel als beendet gilt?“, versuchte ich meine Gedanken wieder zusammenzubringen, „100 Ebenen und wenn das einer von uns schafft, dann kommen wir zurück?“

Haia nickte langsam, schien sich noch einmal zu vergewissern, wie ich die Situation gerade annahm. Er schien sicher genug dessen zu sein, dass ich nicht sofort zusammenbrechen oder ausrasten würde, so dass auch er pragmatischer wurde, was unsere Unterhaltung betraf,

„Ja... Ich denke, sobald es einer von uns schafft, werden wir hier entlassen.“

„Okay... wäre es... dann nicht das Beste, wenn sich alle zusammentäten und wir gemeinsam vorangehen?“ Mein Gegenüber nickte zwar, verschränkte dann aber die Arme vor der Brust,

„An sich schon... aber... das wird nicht funktionieren. Du weißt, was ich dir über Partien gesagt habe?“

„Die man bilden kann?“

„Richtig... Du wirst es nie schaffen, nur eine Gruppe zu bilden und... denk an die anderen, wie aufgebracht sie waren und wohl immer noch sind... keiner von ihnen hat dafür die Ruhe, sich sofort loszustürzen. Zumal es jetzt auch dunkel wird.“

Das leuchtete ein. Ich verzog ein wenig die Lippen. Leider hatte ich wirklich zu wenig Ahnung von dem Spiel und die Tatsache, dass ich auf einen Beta-Tester wie Haia getroffen bin, der mich ein bisschen an die Hand genommen hatte, war mehr als nur ein Segen. Aber ich müsste auch von mir aus meine Einstellung bzw. Denkweise etwas ändern, denn ansonsten würde ich nicht vorankommen. Ich war schließlich auch keine Person, die sich von anderen durch Situationen schleifen ließ... wobei ich zugegebenermaßen dies gerade liebend gerne täte.

„Aber... es... gibt doch Leute, die nicht so stark sind? Die... nicht bestehen würde ohne andere?“, versuchte ich meinen Gedanken entsprechend in Worte zu formen und mich langsam vorzutasten, „Was... machen die?“

Haia überlegte einen kurzen Moment und deutete dann auf mein Schwert,

„Nun... es gibt auch jene, die mehr oder weniger als Supporter im Spiel arbeiten. Du brauchst Upgrades deiner Waffen, Ausrüstung und was nicht alles... Manche der Spieler ziehen eigene Schmieden oder Schneidereien auf. Oder arbeiten als Bauern und Händler.“

„Das geht?“

„Klar. Du kannst dir hier sogar einen Partner suchen und ihn heiraten.“

„W-Wie?“ Das warf mich jetzt doch sehr aus der Bahn – und dafür war ich ihm im Nachhinein fast schon dankbar. Es lenkte von der Schwere der Lage ab. „I-Ich dachte, hier geht es nicht darum, eine Dating-Simulation zu tilgen?“, platzte es so überrascht aus mir heraus.

Haia musste daraufhin fast schon amüsiert schmunzeln,

„Es... ist ja keine Simulation. Du unterhältst dich mit echten Menschen. Wenn ich dir also das Angebot einer Partnerschaft machen würde und einer Heirat, dann tue ich das wohl nur deswegen, weil ich dich mag.“

Irgendwie war mir die Vorstellung unangenehm, dass dies eines Tages hier im Spiel eintreffen könnte und jemand auf die Idee käme, mich heiraten zu wollen. Heirat hatte ich eigentlich für nur eine Person vorgesehen und jemanden einen solchen Korb geben zu müssen... wäre echt heftig.

„Hat es denn einen Vorteil, sich hier mit jemanden so zu verbinden?“ Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es nur aus Jux möglich war, Liierungen einzugehen.

„Ähnlich wie im echten Leben. Dein Inventar verschmilzt mit dem deines Partners und du hast mehr Platz für dieses. Du kannst den Status des anderen willkürlich einsehen. Als nettes Gimmick erhältst du einen Ehering. Und ähnlich funktioniert die Scheidung.“

„Also... wie bei einem Ehevertrag mit Scheidungsvereinbarung?“

„So in etwa? Keine Ahnung? Was ist das?“

Nun... ihm im genauen zu erklären, wie nach deutschen Recht solch eine Vereinbarung aussehen könnte, erachtete auch ich als sinnlos und schüttelte demnach nur den Kopf.

„Das... heißt also, dass ich die Möglichkeit habe, selbst die einhundert Ebenen zu bewältigen oder aber... mich hier niedersetze und ein Geschäft eröffne...“ Und in der Hoffnung bleibe, dass irgendwer anderes dies schafft... Ich merkte, wie mein Gesichtsausdruck wieder ernster wurde.

Ich sah mich keineswegs als grandiosen Kämpfer an und noch weniger als Goldschmied oder hervorragender Bäcker. Selbst, wenn ich in der realen Welt gut backen konnte, besaß ich hier doch noch nicht einmal das nötige Grundlagen Know-How, um irgendwie zu bestehen. Wie sollte ich da eine virtuelle Existenz aufbauen? Für mich waren beide Varianten abstrus. In der ersten würde ich im Kampf sterben und in der zweiten auf Grund von... Hunger? Vielleicht würde irgendjemand einen Angestellten suchen? Blöder Gedanke... das Problem waren zudem meine Gedanken selbst. Ja, ich war ein schlechter Kämpfer, aber ich konnte auch nicht einfach nichts tun und dabei zusehen, wie die Zeit an mir vorbeizog.

„Was auch immer du vorhast... ich werde definitiv weiterziehen“, sprach Haia nun von sich aus nach einem langen und klar hörbaren Durchatmen, „Ich werde zusehen, ob ich nicht noch andere Beta-Tester antreffen kann. Wir sind damals weiter gekommen als manch anderer... es gab sogar sehr fähige von uns, die jetzt wohl die größten Chancen haben dürften“, holte mich mein erster Weggefährte aus meiner Grübelei in das eigentliche Geschehen zurück. Ich horchte auf und sah entsprechend etwas überfahren zu ihm. Er wollte also weiter... natürlich. Es gab keine andere Möglichkeit für ihn. Er würde sich nicht verstecken wollen. Ebenso wenig wie ich, aber... im Gegensatz zu mir hatte er Fähigkeiten und Erfahrung. Beides Dinge, die mir fehlten. „Angenommen das stimmt, was uns erzählt wurde... bleibt uns im Grunde nichts anderes übrig als mitzuspielen. Sollten wir irgendwann doch wieder rauskommen... umso besser.“ Er klang weitaus erwachsener als sein Spiel-Ich den Anschein erweckt hatte, „Du kennst dich doch ein bisschen mit RPGs aus, oder?“

Ich nickte schweigend. „Dann weißt du, dass du definitiv leveln musst. Je höher die Ebene, desto schwieriger sind die Gegner. Und noch etwas: in einem MMORPG sind die zu erhaltenden EXP und Cor limitiert. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst... das heißt, es wird hier bald nichts mehr geben und du wirst mit schwierigeren Gegnern Probleme bekommen.“ Ich blinzelte. Das war mir bisher noch nicht klar gewesen. Tatsächlich hatte ich geglaubt, dass ich durchaus einfach nur für mich leveln könnte. Dass Gegner immer wieder aufträten. Der Fall, dass sie verschwinden würden, war mir nur von speziellen Event-Bossen aus einem Freeware MMORPG bekannt. So hatte ich noch weniger Zeit nachzudenken, sondern müsste alsbald handeln.

„Das bedeutet... du wirst wann aufbrechen?“

Haia warf mir einen längeren Blick zu und verschränkte dann die Arme vor der Brust.

„Heute Nacht.“

Das war schnell.

„E-Eh?“

„Je früher, desto besser. Ich kenne die Wege aus der Beta-Phase. Sie werden sich nicht groß geändert haben. Die Gegner, die uns erwarten, sind immer noch die gleichen. Es ist nur klug, schneller voranzukommen als die anderen.“ Einen Moment lang schweigend, sah er mir in mein hilfloses Antlitz, als sein Blick auch schon etwas weicher wurde, „Du... hast nicht viele dieser Spiele gespielt, oder?“ Nun musste ich mit dem Kopf schütteln.

„Ich bin aus Neugier in SAO gelandet, nicht, weil ich ein MMORPG Fan bin“, gestand ich fast schon etwas verärgert, doch sprach ich mir auch zu, dass ich ja nichts dafür konnte, wenn man uns in solch eine Lage brachte. Keiner hatte davon gesprochen, dass SAO nur für eingefleischte Fans dieses Spiele-Genres war...

Ein Gedanke legte sich mir immer mehr auf der Zunge, trug ich diesen doch bereits die ganze Zeit mit mir herum, seit ich Haia getroffen hatte … aber ich traute mich schlicht nicht, diesen auszusprechen. Es wäre mir unhöflich vorgekommen. Nun aber... war es womöglich meine einzige Chance? „Haia...“, sprach ich ihn schließlich von alleine an und biss mir dabei mich unwohl fühlend auf die Unterlippe.

„Hm?“

„... Ist es zu viel verlangt, wenn... ich mit dir kommen dürfte? Nur den ersten Weg. Ich weiß, dass ich vermutlich mehr Ärger als alles andere bin und besonders hilfreich bin ich auch nicht, aber...“ … aber wenn es tatsächlich stimmte, was dieser Spielmacher sagt, dann will ich hier gewiss nicht sterben.

Und das würde ich, wenn ich allein unterwegs wäre.

Mein Gegenüber war nicht überrascht, dass ich meine Bitte vortrug, ehe noch schien es so, als hätte er damit gerechnet. Trotzdem brauchte er einen schier für mich zu langen Moment um zu antworten, war ich froh, als er es endlich tat:

„Ich dachte schon, du fragst nie.“ Sein Mundwinkel schien fast schon ein wenig nach oben zu zucken, doch sprach er nun umso ernster und überlegter, „Wir müssen bei dir mit einigen Basics anfangen. Ich werde dich nicht den gesamten Weg über begleiten können oder wollen. Vielleicht erwischt es mich auch früher als geplant. Du kannst nicht wissen, was dir über den Weg laufen wird, welche Gefahren auf dich warten und welche Hinterhalte. Und ich werde dich nicht beschützen können. Das musst du selbst tun. Keine Hinterfragungen, keine Diskussionen. Du musst mir vertrauen, wenn du mit mir kommen willst. Geht das für dich in Ordnung?“

Was sollte ich darauf erwidern?

Natürlich wollte ich überleben. Ich wollte dieses Spiel beenden und wieder in meine Welt kommen. Allein schon, wenn ich daran dachte, dass in diesem Moment Keiichi davon erfuhr, was den Spielern von SAO passiert war oder dass ich deswegen meine Familie und Freunde eventuell nie wieder sehen würde – das alles ließ mich gar nichts anderes antworten als ein eindeutiges, klares und gefügiges „Ja, das ist es.“

Haia war in diesem Moment meine einzige Chance, dass ich länger als fünf Minuten in dieser verrückten Welt überleben konnte. Er war jetzt gerade mein einziger Freund, der zudem nicht die Nerven verloren hatte, wie manch andere auf dem großen Platz. Notsituationen konnte die Menschen zusammenschweißen, aber auch zu ihren einander ärgsten Feinden machen. Das war schon immer so gewesen und wenn es darauf ankam, seine eigene Haut zu retten, dann waren es eher noch jene Art Hinterhalte, die mir mehr Sorgen bereiteten als solche von den Spielmachern arrangierte, die Haia vielleicht gerade angesprochen hatte. Hätte ich im Voraus einige Spieler kennenlernen können, dann hätte ich mich durchaus mit Vertrauen auch an diese gewandt, aber so schaltete sich mein eigenes Misstrauen ein und ich würde fortan in den Beobachtermodus übergehen. Etwas, gegen das ich versuchte anzukämpfen, aber auch ich war nur ein Mensch und sobald ich mich in meinem Dasein, meiner Existenz als Person oder einfach nur mein Leben selbst bedroht sah, war ich nicht groß anders als die anderen. Lediglich konnte ich diese nicht für meine Zwecke benutzen. Das war noch nie der Fall gewesen und würde es auch jetzt nicht sein.

Umso dankbarer war ich Haia, dass er sich meiner annahm, obwohl er davon wohl am wenigsten Nutzen hatte...

„Okay, dann werden wir alsbald aufbrechen. Noch heute Nacht“, beschloss er ohne lange zu zögern und ließ mich damit gleich das erste Mal schwanken.

„H-Heute Nacht?“, wiederholte ich überrumpelt und konnte dabei meine Überraschung in der Stimme nicht verbergen. Vielleicht war es aber auch mein Gesichtsausdruck, der ihn wissen ließ, dass ich mich damit gerade ein wenig überfordert fühlte, sofort loszuziehen. Haia schwieg nämlich einen bedenklichen Moment, ehe er mit der Erklärung für seinen Entschluss herausrückte,

„Ja. Wie ich sagte, das ist das Beste. So sind wir noch vor Mittag in der nächsten Stadt, wenn wir zu Fuß unterwegs sind, und können außerdem den anderen aus dem Weg gehen. Ebenso Gegnern. Nachts sind zwar ebenso welche unterwegs, aber weniger als am Tag.“ Das klang einleuchtend. Natürlich. Jetzt, wo alle so aufgewühlt waren, würden sich auch die schwarzen Schafe herauskristallisieren – Keilereien waren das Letzte, was wir jetzt gebrauchen konnten. Ich bezweifelte, dass es unmöglich war, einander hier das Leben zu nehmen. Vielleicht sah man es sogar darauf ab, dass sich die Spieler untereinander dezimierten. Sozusagen als erste Auslese. Der Mensch war leider ein Gewohnheitstier und zu dem auch noch dumm. Anders konnte ich es mir nicht erklären, dass unsere Spezies immer und immer wieder denselben Fehler beging und sich in Kriege und Kämpfe gegeneinander begab, wo doch Zusammenhalt die bessere Option gewesen wäre... „Stimmt etwas nicht?“, hakte mein neuer Begleiter nun etwas skeptisch nach, weil ich immer noch nicht geantwortet – oder besser: zugestimmt – hatte.

Ich schüttelte schnell den Kopf, musste aber hörbar ausatmen.

„Ich... dachte nur, dass es vielleicht besser wäre, bis zum Morgengrauen zu warten? Wir... sind schon den ganzen Tag auf den Beinen und außerdem könnten wir dann noch einige Besorgungen machen? Ausrüsten und vorbereiten?“ Ich wollte ihm nicht direkt auf die Nase binden, dass ich mich mit der Situation etwas überfordert fühlte und hoffte, dass dies Ausrede genug war. Zumal nicht mal gelogen: die ganze Zeit hier in SAO herumzulaufen und all die Eindrücke auf sich wirken lassen müssen, forderten bei mir durchaus ihren Tribut und ich spürte, dass mein Kopf sich nach ein bisschen Ruhe sehnte, um sich erholen zu können. Nicht, dass ich mich sonderlich körperlich müde fühlte – das war seltsamerweise gar nicht der Fall. Vielleicht war es das Adrenalin, vielleicht fühlte man sich hier aber auch schlichtweg nicht müde?

Was mich zu einem anderen Gedanken brachte, der mir regelrecht die Farbe aus dem Gesicht trieb: Was geschah eigentlich mit unseren Körpern, während wir hier in dieser virtuellen Welt um unser Überleben kämpften?

Haia hielt mich in diesen kurzen Momenten des Schweigens zwischen uns im Auge und legte dann den Kopf zur rechten Schulter, die Arme vor der Brust verschränkt. Irgendetwas ließ ihn ein bisschen einlenken, so dass ich als nächstes einen kleinen Seufzer hörte, und er mit einem „In Ordnung“, nachgab, „Aber zu Morgengrauen brechen wir wirklich auf. Lass' uns eine Pension aufsuchen, wo wir übernachten können. Ich kenne hier eine gute und günstige.“ Ohne Widerspruch nickte ich, doch lag mir meine Überlegung immer noch auf der Zunge und ich musste mich dazu zwingen, an etwas anderes zu denken und mich auf meine Umgebung und Haia zu konzentrieren, selbst wenn wir nicht sprachen.

 

Tatsächlich erreichten wir mit nur zehn Minuten Fußweg in einer kleinen Seitengasse eine komfortable private Pension, welche uns mit einer kuscheligen Wärme begrüßte, sobald wir die Tür öffneten. Die frische Abendluft hatte die Temperatur ziemlich abgekühlt und ich merkte, wie sich die Blutgefäße unter meiner Haut wieder zu weiten begannen, sobald ich eintrat.

Ich erwartete nicht viel, ließ meinen Blick demnach nur oberflächlich schweifen, musste aber feststellen, dass sich die Unterkunft als klein, jedoch sehr heimelig herausstellte. Die Pensionsbesitzerin war eine recht junge Frau, die Haia freudig begrüßte, als kannten sie sich schon eine Ewigkeit. Womöglich war dem auch so, wenn er zuvor Beta-Tester ward. Sie führte uns in unsere Zimmer, eine Etage höher. Wir verließen den Aufenthaltsraum, stiegen die leise knarrende Treppenstufen hinauf, während meine Hand Halt an dem glatt geschliffenen Holzgeländer fand, und gingen dann durch einen warm erleuchteten Flur, zu dem auf jeder Seite zwei Türen abgingen.

Die Zimmer hatten alles, was man benötigte: Ein gemütlich aussehendes Bett mit Daunenbettzeug, ein hölzerner großer Kleiderschrank, ein Tisch mit Stuhl und Lampe zum Fenster hin ausgerichtet. Außerdem noch eine kleine Kommode und ein runder Teppichvorleger, damit man keine kalten Füße bekam. „Das Bad befindet sich auf der gegenüberliegenden Seite. Es ist ein Gemeinschaftsbad.“ Damit hatte ich keine Probleme. Um ehrlich zu sein... als ich mich auf das Bett niederließ und dessen Matratze sanft meinem Gewicht nachgab, war mir alles andere vollkommen egal. Jetzt spürte ich doch die Trägheit in meinen Knochen und hätte mich am liebsten gleich sofort in das Kissen geworfen. Wäre allerdings unhöflich gewesen und so ließ ich die Pensionsbesitzerin noch die Konditionen erklären, ehe sie sich verabschiedete und Haia und mich in dem einen Zimmer alleine ließ. Er drehte seinen Kopf zu mir und musste sich fast schon ein Lächeln verkneifen.

„Wenn du möchtest, kannst du dich ausruhen. Ich gehe noch einmal los.“ Augenblicklich aufspringend, wollte ich verneinen. Immerhin sollte er nicht denken, dass ich eine faule Begleiterin war oder gar träge oder... müde. Auch wenn letzteres stimmte. „Nein, ehrlich. Lass mich machen und ruh' dich aus. Ich weiß, wo ich hier am schnellsten und am günstigsten die besten Dinge besorgen kann. In der nächsten Stadt zeige ich dir ein paar Tricks zum Handeln und worauf du achten solltest, aber für jetzt ist es okay, ja?“, beschwichtigte er mich und drückte mich an den Schultern kurzerhand wieder herunter, so dass ich erneut auf der Matratze saß.

Keine Widerrede.

Und ich wusste, dass ich nicht zu widersprechen hatte. Immerhin hatte ich Haia versprochen, ihm zu vertrauen und mich auf seine Art einzulassen, wie er das Spiel gedachte zu meistern. Das war der Deal. Dafür nahm er mich mit.

„Okay“, wiederholte ich kleinlaut und nickte.

Haias Lippen zogen sich nun wirklich zu einem schmalen Lächeln und er wandte sich um, um zur Tür hinauszugehen,

„Ich werde wohl in einer Stunde wieder zurück sein.“

 

Im Nachhinein kann ich mich nicht daran erinnern, wie lange er wirklich unterwegs war.

Ich wusste nur, dass ich mich in das Kissen hab kippen lassen und daraufhin wie durch Zauberhand in Schlaf gefallen war.

Meine Idee, dass man hier also weder Hunger noch Müdigkeit verspüren konnte, war entsprechend verflogen. Man konnte beides mehr als nur gut nachempfinden, denn als Haia wiederkam – was ich durch das Knarren der Tür bemerkte – hatte sich mein Magen zu einem kleinen Loch entwickelt und begann zu knurren.

„Hey, wieder wach?“ Ich sah ihn irritiert und noch schlaftrunken an, rieb mir die Augen und fuhr mir einmal durch die Haare, weil ich wusste, wie diese immer in alle Richtungen abstanden, nachdem ich mich hingelegt hatte.

„Ja, schon...“ Ich war ebenso überrascht, dass es so dunkel im Zimmer war, erkannte dann aber mit einem Blick zum Fenster, dass die Abenddämmerung längst vorbei und die Nacht nun die Vorherrschaft übernommen hatte. Haia hatte das Zimmer mit einer großen Kerze erleuchtet, welche er in einem Halter auf die Nachtkommode neben meinem Bett stellte.

„Tut mir leid, ich habe etwas länger gebraucht. Hier.“ Er reichte mir ein in Papier eingepacktes Etwas und als ich danach griff, nachdem ich mich aufgesetzt hatte, bemerkte ich dessen Weiche und den herzhaften Geruch. „Ist ein belegtes Brot. Nichts besonderes, aber es sollte den Hunger stillen.“

Ich bedankte mich leise und packte meine Ration aus. Haia zog den Stuhl heran, welcher ordentlich an den Schreibtisch gestellt war und setzte sich zu mir. Sein eigenes Brot auspackend, legte er das Papier auf die Nachttischoberfläche ab und biss dann wie selbstverständlich hinein. Ich zögerte noch, wusste ich ja nicht, was mich erwartete, aber sein sicheres Tun bestätigte mir, dass es in Ordnung wäre, zu essen. Also versuchte auch ich mich an dem Brot und musste beim ersten Bissen und anschließendem Kauen feststellen... dass es sogar sehr gut schmeckte!

Es war mit einem Blatt Salat, Käse und... Ei belegt. Der Brotteig war aus mehreren Körnern gefertigt und schmeckte fast noch besser als jener, den man bei uns kannte. „Ist doch ganz okay, oder?“, erkundigte sich mein Gegenüber fast schon amüsiert über meinen plötzlichen Enthusiasmus zu essen und ich nickte begeistert,

„Mehr als das.“

Wir aßen einige Momente in Ruhe, als Haia dann von sich aus das Gespräch anzufangen schien, „Wie geht es dir? Du... wirktest etwas... durcheinander.“ Der Bissen, welchen ich gerade herunterschluckte, drohte sich querzustellen und ich half noch einmal nach, mir auf das Brustbein klopfend, als ich zu ihm aufsah. Ich wusste nicht, was ich in seinem vom Kerzenschein beleuchteten Gesicht ablesen sollte. Besorgnis? Neugier? Haia wusste, wie man ein Pokerface aufsetzte und auch wenn wir jetzt irgendwie Kumpanen waren, verbarg er auch vor mir seine Empfindungen. Wohl nicht die schlechteste Idee.

„Ich fühle mich etwas besser“, log ich demnach, wandte den Blick aber ein bisschen zu schnell auf mein Brot ab. Besser war nämlich die Übertreibung des Jahres. Erholter, ja, aber nur körperlich. Denn selbst, als Haia gegangen und ich in den Schlaf gefallen war, hatten meine Gedanken weitergedreht. Es war ein Phänomen, was ich bisher nur zweimal in meinem Leben hatte – zu schlafen und dennoch wach genug zu sein, um zu grübeln. Dass man sich beim Aufwachen dann erschlagen fühlte, war also kein Wunder. Und die meisten Dinge konnte ich nicht mit einem Schlussstrich belegen, weil sich zu viele unbeantwortete Fragen ergeben hatten. Auf die ich eine Antwort brauchte. Vielleicht konnte ich sie jetzt stellen? Sie brannten mir seit vorhin auf der Zunge und jetzt, wo wir in Ruhe zusammensaßen, war es der beste Zeitpunkt, oder? „Haia... in SAO können wir Hunger und Müdigkeit spüren, nicht wahr? Ich bin vorhin vor Müdigkeit einfach weggenickt“, begann ich und ließ mein Brot, welches ich mit beiden Händen hielt, auf das Papier in meinen Schoß sinken, „Was... ist mit unseren echten Körpern? Wir brauchen irgendwann Nahrung, sonst sterben wir am Hunger und Durst? Und... was ist, wenn das Internet einmal nicht funktioniert? Die Verbindung auf einmal unterbrochen wird oder der Akku des NerveGears leer geht oder dieses sogar kaputt? Dann... sterben wir alle auch so... oder?“ Meine Gedanken nun durch Worte Realität zu verleihen, ließ mich die aufkommende Angst nicht mehr unterdrücken. Sie verselbstständigte sich und legte sich um meinen Brustkorb, dass mir das Atmen schwerfiel, „Das sind Dinge, die wir doch gar nicht beeinflussen können?“ Es war für mich eine viel schlimmere Vorstellung, dass wir durch solche Banalitäten sterben würden als durch einen starken Gegner im Kampf. Hier konnte ich selbst mein Handeln bestimmen, aber solche Dinge wie eine gekappte Internetverbindung oder die einfachen menschlichen Bedürfnisse, damit man am Leben blieb, lagen nicht in meiner Hand. Ich könnte hier der Sieger des Spiels sein und dann mit einem Mal kurz vor dem Log-Out sterben, weil auf einmal kein Netz mehr vorhanden war. Das... war nicht nur angsteinflößend, sondern regelrecht gruselig.

Ich hatte mich zwar nicht in Rage geredet, aber trotzdem sah mich Haia so an, als hätte ich genau das getan. Als würde ich Gefahr laufen zu hyperventilieren. Dabei suchte er eigentlich nur nach einer Möglichkeit, Antworten zu finden, die ich nicht besaß.

Sein Atem ging langsamer als sonst, regelrecht bedacht, und er schloss für einen Moment die Augen, wohl um selbst einen kühlen Kopf bewahren zu können?

„Ich... denke nicht, dass Kayaba dies so einfach zulassen wird. Wenn alle Spieler aufgrund von leeren Akkus sterben, würde das sein Ziel verfehlen. Selbst erfahrene Spieler würden SAO wohl kaum innerhalb solch eines Limits schaffen.“ Da hatte er Recht. Der Spielmacher und somit auch unser Entführer (konnte man das so sagen?), würde sich nur ins eigene Fleisch schneiden, wenn leere Batterien für frühzeitige Tode von potenziell talentierten Spielern führen würde. Vorausgesetzt, dass dies sein Grund für all das war. Den Fähigsten unter uns allen zu finden. Krank, aber keine Seltenheit, wie ich aus vielerlei Spielen, Filmen und Büchern immer mal wieder mitbekommen hatte. „Vielleicht gibt er unseren Familien und Freunden in der Realität die Möglichkeit, uns ins Krankenhaus zu bringen oder so.“ Und da ging mir ein Licht auf. Das wäre das Simpelste und die sicherste Variante, nicht nur eine fortwährende Versorgung des Körpers zu gewährleisten, sondern auch einen konstanten Strom- und Netzzugang. Natürlich!

Es gab für uns also kein Entkommen, solange wir in diesem Spiel gefangen waren.

„Also... haben wir nur zwei Optionen?“, schlussfolgerte ich leise und jenen Gedanken auszusprechen, behagte mir überhaupt nicht, doch übernahm dies der junge Mann vor mir und sah mir dabei ernst in die Augen:

„Sterben oder überleben.“

Ich senkte den Kopf, hob mein Brot an und biss appetitlos in dieses.

Sterben oder überleben.

Im Grunde war es der Urkampf aller Lebewesen: Fressen oder gefressen werden.

„Wer... sorgt für dich?“, kam es mir kaum mehr als im Flüsterton über die Lippen, sah ich Haia aber nicht an. Er gab stattdessen einen längeren Seufzer von sich und atmete hörbar aus,

„Wohl... meine Mutter. Ich werde ganz schön Ärger kriegen, wenn das hier vorbei ist – Sie hatte mir vorher noch verboten, dass ich mein Geld für das Spiel rausschmeiße.“ Er lachte auf, aber ich konnte nicht erkennen, ob es deswegen war, weil er eine Erinnerung vor seinem geistigen Auge sah oder weil er wirklich annahm zu gewinnen. „Bei dir... ist es deine Gastfamilie, oder?“ Ich nickte nur. „Es wird schon bald die ganze Welt wissen, was hier vor sich geht“, mutmaßte Haia dann wieder ernster und ich spürte seinen Blick auf mich ruhen. Mich beobachtend und meine Reaktion einschätzend. Interpretierend. Vielleicht wollte er daraus schließen, auf wen er sich hier eingelassen hatte. Ob ich noch mehr Ballast als angenommen war. Vielleicht war er aber auch einfach nur neugierig, weil er bisher nicht mit Ausländern zu tun gehabt hatte.

Ich wusste noch zu genau den überraschten Blick einer japanischen Oberschülerin in der Tokyoter Yamanote-Linie, als sie Nadine und mich entdeckt hatte und dann die gesamte Strecke immer wieder hatte anstarren müssen. Wir konnten uns noch so gut den japanischen Gewohnheiten anpassen: im Grunde blieben wir immer die Ausländer.

„Ja... das denke ich auch“, gab ich eine fadenscheinige Antwort von mir, um überhaupt etwas gesagt zu haben. Ich brauchte allerdings nur verstohlen zu meinem Gegenüber zu schauen um zu wissen, dass ich nicht gerade überzeugend wirkte. In den letzten Jahren hatte ich verlernt, gewisse Barrieren aufrecht zu erhalten und man konnte in mir wie in einem Buch lesen. Auch, wenn ich es nicht wollte. Gerade solche Momente wie der jetzige, in denen ich mich absolut überfordert fühlte, ließen mich einknicken.

„Und woran denkst du noch?“, fragte Haia somit direkt nach, ohne Umschweife, ohne viel Worte.

„Über vieles?“, gab ich die Frage zurück und zuckte dann mit den Schultern.

„Du hast Angst, oder?“

„Du nicht?“

„Klar.“ Jetzt ebenso sein Brot zur Seite legend, ruhten seine Hände daraufhin ineinandergelegt in seinem Schoß, „Das... hat wohl jeder. Und diejenigen, die keine Angst haben, sind dumm...“ Weil Angst uns hilft, aufmerksam zu bleiben und nichts zu überstürzen oder uns zu überschätzen. Das war mir selbst alles bekannt. „Vielleicht bin ich auch gerade nur deswegen so gefasst, weil ich es sein muss. Wenn es drauf ankommt, bin ich wohl der pragmatische Typ.“ Wieder dieses leise Auflachen, nun mehr aber mit einem ebenso überforderten Unterton in der Stimme, die mich erkennen ließ, dass sich auch der vor mir sitzende Beta-Tester nicht komplett von den Sorgen verschont blieb, die sich hier wie eine Schlinge um jedermanns Kehle legen wollten.

„So... bin ich an sich auch“, murmelte ich und erhielt dafür einen überraschten Blick, „Ich meine... ich war mal so. In Notsituationen.“

„Hast du... denn welche bereits erlebt?“

„Einmal. Zweimal.“ Ich musste in meinem Gedächtnis kramen, aber es gab mehrere Episoden, die ich während meiner Zeit als Azubi in der Krankenpflege durchlebt hatte – wenn vor allem aber auswärts der Klinik. Immer gefasst. „Bei mir schlägt es dann hinterher ein, wenn sich die Lage beruhigt hat.“

„Geht mir ähnlich.“

„Keine gute Kombination.“

„Nein, nicht wirklich. Hast du ein Geheimrezept dagegen gefunden? Weil du meintest, dass du auch so warst ?“ Nun lag es an mir, ein leichtes Prusten zu unterdrücken. Nicht, dass ich Haia auslachte oder belächelte, aber... genau nach dieser Partoutlösung suchte ich immer noch selbst. Ihm das ebenso erklärend, hatte ich den Rest meines Essens auf der Folie neben mir platziert und ich zog nun mehr die Beine an den Körper, um sie mit meinen Armen festzuhalten.

„Aber es hilft zu reden. Mit jemanden reden, sich ab und zu etwas Trost spenden und sich... aufbauen zu lassen. So ein bisschen.“

Haia erwiderte zunächst nichts, beobachtete mich weiter. Dann erhob er erneut die Stimme:

„Hast du... so jemanden?“ Die Frage tat ihr Übriges. Ich musste sie nicht einmal mit Worten beantworten, denn meine Reaktion darauf sprach für sich Geschichte: Mein Kopf sank nämlich gegen meine Knie, bis meine Stirn diese berührten und ich mich ein bisschen von dieser virtuellen und doch nun mehr für mich realen Welt abwenden konnte. So ein bisschen.

Seltsam, wie wir mit einem Mal manche Worte zu assoziieren wussten, wo sie sonst immer nur daher gesagt waren. Floskeln. Jetzt aber machte es mir diese Floskel schwer, die Fassung zu bewahren. Ich hatte es schon am Flughafen nicht geschafft, doch in diesem Moment, wo nicht sicher war, ob ich überhaupt noch einmal die eigentliche Realität und damit auch mein eigentliches Leben wiedersehen würde, war es, als wäre ein Damm gebrochen.

Von allen Menschen, die ich liebte und die mir wichtig waren, gab es genau zwei Personen, die zusammen mein Herz bildeten – jeder eine Hälfte. Niko, meine kleine Schwester.

Und dann war da noch...der Doc. Den ich nach all der langen Zeit endlich an meiner Seite wusste, der mein für immer darstellen sollte und den ich nun vielleicht für immer verloren hätte. Das war doch unfair! Es hatte schon gereicht, dass ich diesen Einschnitt wagte, überhaupt nach Japan zu gehen – gewissermaßen hatte er mich sogar noch zu ermutigt, nahezu gedrängt, die Chance zu nutzen, weil ich nicht wollte; hatte ich doch alles, was ich brauchte, in meiner Heimat. Und dann... das.

Ich wollte nicht dran denken, wie viele Vorwürfe er sich nun machen würde, sobald meine Gastfamilie die Botschaft und diese dann meine Angehörigen kontaktierte, was diesen Vorfall hier betraf. Ich konnte nur hoffen, dass die Information solange wie möglich unter Verschluss gehalten wurde... Kummer war das Letzte, was ich irgendwem bereiten wollte. Am wenigsten eben meinen Liebsten. Ich griff ganz automatisch an meinen Hals, dort, wo normalerweise der Anhänger meiner Kette auf meiner Haut auflag, aber hier natürlich nicht vorhanden war. Nicht einmal dieses kleine Accessoire, das mir immer Kraft zu geben wusste, weil es eine Art Talisman war. Einer, den er mir vor sechs Jahren geschenkt hatte. „Das... ist gut“, sprach Haia schließlich und ich merkte auf einmal, wie die Matratze zu meiner Linken sich absenkte. Kurz darauf spürte ich seine Hand auf meiner rechten Schulter aufliegen und diese zaghaft klopfend, „Dann solltest du auch zu diesem jemand wieder zurückkehren, nicht?“ Vermutlich konnte er sich denken, um welche Art Verbindung es sich zu dieser Person handelte, von der wir beide mich bezüglich sprachen.

Ich nickte ein weiteres Mal, hob allerdings noch nicht den Kopf, ehe ich mir nicht irgendwie verstohlen über die Augen gewischt hatte, denn die Tränen liefen immer noch stumm über meine Wangen. „Und bis dahin... werde ich dir ein wenig zuhören und dir Mut geben. Wenn du gleiches auch bei mir machst?“ Es bescherte mir sogar ein zartes Lächeln auf die Lippen, als er so neckisch sprach und schließlich konnte ich auch wieder die Augen öffnen, um sie nicht mehr vor dem Unumgänglichen zu verschließen.

„Mach ich“, versprach ich dann und wandte mich Haia schließlich direkt zu, „Wir... sind Macher, oder?“

„Sind wir.“

Für den Moment wären wir Weggefährten. Wie lange diese gemeinsame Reise gehen würde, konnte ich noch nicht wissen, aber Haia war nicht nur der einzige Ansprechpartner für mich, was das Erlernen von den Grundlagen betraf, sondern auch mein jetziger Halt in dieser prekären Situation. Er erinnerte mich daran, mein Augenmerk auf das wirklich Wichtige zu legen – hier rauszukommen. Lebendig.

Es ließ mir im genau rechten Moment ein Zitat einfallen, welches mich bereits seit einer Dekadenz begleitet hatte: Never give up. These are the words which changed the value of my life. Und sie waren nun mehr wahrer denn je. Ich hatte nicht aufzugeben. Vor allem nicht noch bevor ich es versucht hatte. Wenn ich voranging, kämpfte und verlieren würde, war es das eine. Mich aber zu ergeben und dem Tod in die offenen Arme zu laufen, das andere. Und wie Haia sagte, gab es genug Grund, zurückkehren zu wollen. Denn das wollte ich. Mein Leben war noch längst nicht in voller Blüte, diese hatte erst angefangen. Vielleicht später als bei anderen, aber ich war auf dem rechten Weg und ich wollte diesen nicht wieder verlieren. Ich hatte eine Zukunft für mich im Sinn. Eine gemeinsame Zukunft mit meinem Mann, der von all den Vorkommnissen noch nichts wusste – oder zumindest nicht, dass seine Freundin genau in dieser schrecklichen Lage steckte. Ein gemeinsames Leben. Ein gemeinsames Heim. Eine eigene Familie. Heirat.

Ja, ich wollte all diese so spießigen Klischees erfüllen. Nur müsste ich dafür den Ausgang finden.

Und die Suche nach jenem würde mit Anbruch des neuen Tages beginnen.

 

3rd Floor - Attemption

Die Nacht war recht schnell vorangeschritten. Wir hatten uns nicht großartig länger unterhalten, sondern waren danach gleich zu Bett gegangen. Trotzdem kam es mir so vor, als hätte ich nur für ein paar Minuten geschlafen und so gerädert wachte ich entsprechend auch auf, als mich Haia sanft an der Schulter rüttelte, um mich zu wecken.

Kompromiss war aber Kompromiss und ich wollte nicht meckern.

Wir aßen zur Stärkung vor der längeren Wanderung eine Kleinigkeit, viel bekam ich in meinem schlaftrunkenen Zustand eh nicht runter, und machten uns schließlich auf.

Mein sich immer noch im Stand-By befindendes Hirn kam nicht einmal auf die Idee, was mit der Zeche war, die es zu begleichen galt, doch später erfuhr ich, dass Haia alles bereits am Vorabend geregelt hatte. Kein Grund zur Besorgnis.

Die Wolken des Himmels hatten sich bisher nur leicht erhellt. Es würde wohl noch gut eine Stunde dauern, bis man auch die ersten Sonnenstrahlen erblicken könnte.

Wir bewegten uns schnell und leise durch die Stadt und zu deren Stadtrand.

Seltsamerweise fühlte ich mich aber gar nicht beklommen oder gar verängstigt, wie ich es hätte annehmen müssen, wo mir mein nervlicher Aussetzer gestern doch nur noch zu gut im Gedächtnis geblieben war. Es lag wohl an der frischen, kühlen Luft, die meine Haut berührte und meinen Geruchssinn kitzelte. Diese typisch klare Luft, die man nur in aller Früh erleben durfte. Oder das leise Zwitschern von ein paar munteren Vögeln, die den Tag einleiten wollten.

Ich musste nur für einen Moment die Augen schließen und schon sah ich mich wieder zu Hause, zur selben Uhrzeit durch die Stadt oder über den Campus gehend. Damals, als ich noch in der Klinik gearbeitet habe. Unsere Stadtrandgegend besaß noch so viel Naturzauber, dass ich mich dort am wohlsten fühlte, wenn der Tag anbrach oder die Nacht herein.

Meine Träumerei wurde allerdings mit dem Stolpern über die eigenen Füße bestraft. Haia griff mich reflexartig am Arm und ich konnte durch seinen Widerstand auch meinen Halt wiederfinden. Entschuldigend aufblickend, bemerkte ich sein schiefes Grinsen, „Augen auf“, raunte er mir nur zu und ließ mich damit mit meiner Tollpatschigkeit allein.

Wir erreichten das Tor, welches uns in die weite Welt von Sword Art Online leiten würde, als mein Begleiter allerdings mit einem Mal anhielt und mir mit einer Geste bedeutete, ebenso anzuhalten. Ich war noch nicht aufmerksam genug, als dass ich den Grund für sein Stehenbleiben verstand und musste so irgendwie an ihn vorbei linsen – nicht so einfach, wo sein echtes Ich größer war als sein Avatar zuvor.

Aber dann sah ich es mit eigenen Augen: ein Mädchen mit schwarzem schulterlangen Haar, welche zu zwei Zöpfen locker gebunden waren, stand an dem Tor und blickte uns nun überrascht entgegen. Ihrem Aussehen und ihrer Körperstatur nach musste sie wohl höchstens fünfzehn oder sechzehn gewesen sein, vermutlich aber ein bisschen jünger. Sie machte auf mich nicht den Eindruck, dass sie gefährlich war, aber da könnte ich mich natürlich auch täuschen. Haia hatte mehr Erfahrung als ich in diesen Spielen und so verließ ich mich lieber auf seine Urteilskraft.

Er schien die Fremde von Kopf bis Fuß zu mustern, bis er seine Haltung und Anspannung schließlich zu lockern wusste und mir zunickte.

Wir würden weitergehen.

Als wir sie passierten, wechselte er keine großen Worte mit ihr, eine schlichte Begrüßung, die ich ebenso hervorbrachte. Das war es. Kein Austausch, nichts. Als wäre sie eine dieser passiven Nebenfiguren in einem Spiel, die immer und immer wieder denselben Satz von sich gaben, wenn man sich mit ihnen unterhalten wollte.

Ich warf noch einmal einen Blick über meine Schulter, nachdem wir bereits gut zehn Meter weitergegangen waren. Das Mädchen schenkte uns bereits keine Beachtung, sondern sah sich erwartungsvoll um. Wartete sie auf Kompanie? Vielleicht wollte sie also ebenso wenig alleine losziehen?

„Sei immer wachsam“, sprach Haia daraufhin, als hätte er meine Gedanken lesen können und wandte sich mir direkt zu, „Ich weiß, dass es verführt, sich mit anderen zu unterhalten und auszutauschen. Das machen die meisten, wenn sie neu sind. Angesichts der Lage allerdings, rate ich dir davon ab. Oder kenne zumindest deine Feinde.“

„Feinde?“, wiederholte ich und zog die Augenbrauen kraus, „Wie... soll ich die denn erkennen, wenn ich mich hier selbst nicht einmal genug auskenne?“

„Eben drum. So wenig Kontakt wie möglich.“ Ich schnaubte tonlos die Luft durch meine Nase aus und biss mir auf die Zunge.

Wie soll ich denn dann zurechtkommen, wenn sich unsere Wege trennen?

Das hätte ich am liebsten gefragt.

Haia hatte hier vielleicht Bekannte oder gar Freunde, denen er sich anschließen konnte. Ich hingegen... hatte Niemanden. Nicht, dass ich gewollt hätte, dass eine mir bekannte Person mein Schicksal zu teilen wusste, aber wenn wenigstens Keiichi hier gewesen wäre, hätte ich mir keine Sorgen machen müssen, dass ich alleine gleich auf verlorenem Posten stand. Ich war zwar eine Optimistin, aber auch eine mit Lebenserfahrung. Und meine Spielerfahrung sagte mir, dass ich mich schnell auf die dümmste Art und Weise selbst ins Game Over zu befördern wusste. Keine gute Aussicht, wenn man die jetzige Lage betrachtete, oder?

Haia warf mir wieder einen Blick zu, diesmal einen längeren und seufzte dann ebenso lautlos,

„Keine Sorge. Es gibt hier immer jemanden, an den du dich wenden kannst... Wenn du überhaupt erst einmal eine Kontaktperson brauchst, halte dich an die Betreiber von Pensionen, Pubs, Schmieden oder andere Läden. Sie haben nichts davon, dich zu hintergehen. Du bist ihre Lebensessenz, immerhin bist du ihr Kunde. Sie wissen auch meist eine Menge über die Dinge, die vor sich gehen. Logisch oder?“

Ich musste nicken. Natürlich war es das. „Und... bevor sich unsere Wege trennen, werde ich zusehen, dass wir bis dahin vielleicht Kontakt zu ein, zwei meiner Leute aufgenommen haben. Sie werden dir ebenso helfen. Keine Sorge.“

„Danke.“ Mehr als diese Hilfe anzunehmen, konnte ich nicht. Er bemühte sich wirklich, auf mich einzugehen, obwohl ich so ein Klotz für ihn am Bein sein musste.

Warum musste das Hochleveln noch einmal so immens lange dauern? Ach ja, richtig, damit man nicht allzu schnell mit einem Spiel abschließen konnte und Zeit hatte, sich über dämliche Gegner zu ärgern...

 

Während wir gefühlt der Sonne entgegenliefen, blieb die Strecke so gut wie unbelebt. Wir hatten nun keinen Feldweg eingeschlagen, um uns möglichst gegnerlos fortbewegen zu können. Natürlich war es wichtig, dass ich meine Skills verbesserte, aber Haia wollte dafür lieber einen geschützten Raum haben, als dass wir uns hier durch das wilde Grün schlugen. Wir marschierten auf einen breiten Trampelpfad entlang, der bereits von vielen vor uns genutzt worden sein musste, da zu unseren Füßen bereits kein Grashalm mehr wuchs und sich die lose Erde wie ein Teppichläufer vor unseren Füßen ausbreitete.

Ich musste immer noch ein wenig gegen die Müdigkeit ankämpfen, die sich nun mehr mit Kälte paarte. Zwar bewegte ich meine müden und lahmen Muskeln, die daraufhin Wärme produzieren mussten und ebenso ein bisschen Adrenalin, aber das reichte noch längst nicht aus. Also ermahnte ich mich, wachsam zu sein und beobachtete meine Umgebung ganz genau: Links und rechts wuchsen kniehohe Halme - vielleicht waren dies Weizenkeimlinge. Über ihnen lag ein weißlich-grauer Nebelschleier und die einzelnen Pflanzen am Wegesrand glitzerten durch die Tautropfen der frühen Tageszeit.

Die Wolkendecke der späten Nacht begann sich langsam aufzulösen und in kleine Schäfchenwolken zu zerbersten. Auch die Firmanentsfarbe wurde allmählich heller, nahm ein Gemisch aus zartem Pastellblau und -lila an, während der Horizont eine bräunlich-rote Farbe erhielt. Zu gerne hätte ich diesen Anblick jetzt mit einer Kamera festgehalten.

Das wäre doch noch eine nette Zusatzoption im Spiel gewesen! Die eigenen Lieblingsmomente aufnehmen und in einer Galerie mit den anderen teilen können oder so.

Dass es aber auch immer ausgerechnet genau diese Momente waren, die einem umso deutlicher machten, dass es einfach total unglaubwürdig war, was hier gerade vor sich ging.

Es versetzte mir einen Stich ins Herz, wenn ich meine Familie, meine Freunde und meinen Mann dachte, die nicht wussten, was mit mir geschehen war oder vielleicht doch bereits davon gehört hatten und nun Ängste ausstehen mussten. Ich musste sogar gestehen, dass es mir fast schon lieber gewesen wäre, wenn sie so lange wie möglich mit dem Glauben weiterlebten, dass es mir gut ginge und ich eine aufregende Zeit in Japan verbrachte.

Nun ja... aufregend war es in der Tat.

Unsere einsame Wanderung fand schließlich mit dem Erreichen einer ausgeschilderten Weggabelung ein Ende. Ich hatte irgendwie schon gar nicht mehr gerechnet, dass wir noch auf jemanden treffen würden, so gut wie wir vorangekommen waren. Jetzt allerdings, wo dies der Fall war, spürte ich, wie sich meine Nerven und Muskeln anspannten.

Freund oder Feind?

Stille Beobachter?

Die Gruppe vor uns, welche sich abzusprechen schien, welchen Weg sie als nächstes einschlagen sollten, war nicht groß: Sie bestand aus zwei Männern, einem Jungen und einem etwas größeren Mädchen in ähnlicher Kleidung wie wir. Ihre Waffen waren nicht gezogen, aber das hatte nichts zu sagen.

Haia verlangsamte seinen Schritt und achtete darauf, dass ich dicht hinter ihm aufgeschlossen blieb. Seine Augen begutachteten skeptisch die kleine Truppe, als wir auch von ihnen bemerkt wurden und sie sich uns komplett zuwandten. Es war noch etwas Abstand zwischen uns, so dass sie warteten, bis wir näher kamen, ehe sie uns ansprachen:

„Selten, so früh andere unterwegs zu sehen“, bemerkte das Mädchen mit einem Lächeln und trat hervor. Ihre Präsenz war nicht von der Hand zu weisen, vermutlich war sie sogar die Gruppenführerin? Es überraschte mich ein wenig, da sie nicht den Eindruck erweckt hatte, aber nun, wo sich die Rollenvergabe logisch herauskristallisierte, wunderte es mich kein Stück.

„Das Gleiche gilt für euch“, entgegnete Haia, nicht die Miene verziehend und nun mehr hatten wir direkt zu den Leuten aufgeschlossen. Wir musterten uns gegenseitig wie Hunde, die sich noch nie begegnet sind, in Argwohn liegend wenn auch neugierig.

„Ertappt“, sprach das Mädchen mit dem kastanienbraunen Kurzhaarschnitt und warf dann einen Blick über die Schulter, „Wir wollten los, bevor die anderen sich dazu durchringen können. Ihr doch auch, oder?“

Nun mehr sah sie mich direkt an und schenkte mir daraufhin ein besonders intensives Lächeln. Ich ließ meine Mundwinkel ein wenig nach oben zucken, ohne zu aufgesetzt wirken zu wollen, überließ das Reden aber lieber Haia.

„Ja, bis zur nächsten Stadt ist es ein Stück und unnötige Kämpfe lassen sich aus dem Weg gehen.“

„Da hast du Recht. Wobei...“ Wieder sah sie mich an, diesmal etwas analysierender, „Ich glaube, deine Wegbegleiterin könnte diese gut gebrauchen?“

Autsch. Das traf. Leider. Und nun hätte ich mich wirklich gerne gewehrt und etwas erwidert, aber da war mein Gefährte ebenso schneller:

„Danke für die Sorge, aber wir sind bestens vorbereitet. Sie... ist nur neu.“

Vermutlich war dies das Schlimmste, was er hätte sagen können, denn mit einem Mal sah mich der gesamte Trupp fast schon rührselig mitleidig an. Das konnte ich noch weniger leiden, als Vorurteilen ausgesetzt zu sein.

„Verstehe“, gab einer der beiden Männer von sich und seufzte tonlos, „Ist ja nicht gerade ein toller Einstieg.“

Ja, danke. Das war mir auch bewusst.

„Ist euch bekannt, wie es momentan aussieht?“, schlug Haia einen Bogen zu einem anderen Thema und sah fragend in die Runde, „Irgendetwas? Wie viele aufgebrochen sind? Wie weit bereits vorgedrungen wurde?“

Dieses Mal meldete sich der Junge zu Wort, der höchstens 14 sein musste und rückte sich seine Brille auf der Nase zurecht,

„I-Ich kann nicht versichern, dass die Angaben stimmen“, begann er entschuldigend und fast schon von der Größe seines Gegenübers eingeschüchtert, war er selbst doch sogar noch einen Kopf kleiner als ich, „Aber der Wirt einer Gaststube meinte gestern Abend, dass gut zwei, drei Handvoll gleich nach der Verkündung aufgebrochen sind.“

„Zsk.“ Haias Zischen und Zähneknirschen machte mir ein schlechtes Gewissen. Er hatte schließlich auch in der Nacht bereits losziehen wollen, aber ich hatte ihn ausgebremst. „Irgendwelche Zusammenschlüsse?“

„N-Nein, keine größeren. Zumindest hat er davon nichts gesagt.“

„Es hat bisher wohl noch niemand die erste Ebene verlassen“, mischte sich der andere korpulentere Mann ein, welcher mit tiefer Bassstimme sprach und einem ihm zumindest etwas konturverleihenden Dreitagebart trug, „Keine Sorge.“

Haia nickte daraufhin und bedankte sich förmlich. Es schien, als wollte er keinen langen Plausch mit den Fremden abhalten, aber besaß zumindest so viel Anstand, ihre Informationsbereitwilligkeit nicht mit Füßen zu treten. Das wäre vielleicht auch sehr unklug gewesen. Man wusste schließlich nie, wann man sich wieder begegnete und ob man dann nicht sogar miteinander arbeiten müsste. Unnötige Streitigkeiten lagen da nicht an der Tagesordnung.

„Nun denn, wir müssen weiter. Komm“, wandte er sich an mich und ich setzte meine Rolle der stillen Begleiterin fort, um Haia auf dem Fuße zu folgen, als er schließlich mit einem kurzen Abschiedsgruß an der Gruppe vorbeiging und den linken Weg einschlug.

„Oh, passt auf euch auf! Man sieht sich gewiss wieder!“

Ich winkte der Gruppe demnach nur zugewandt und richtete mein Augenmerk dann wieder nach vorne – nachdem ich dem Schild meine Aufmerksamkeit geschenkt hatte: Horunka Village – 30 Meilen. Und dazu dann noch eine Skizzierung von einer Schar Bäume, die wohl gemeinsam einen Wald verkörpern sollten. Das in die andere Richtung zeigende Schild deutete an, dass nach bereits 10 Meilen ein anderes Dorf warten sollte, wohl an einem See, wie das Schaubild darstellte.

Ich hinterfragte nicht, warum Haia den längeren Weg einschlug, er kannte sich hier besser aus, und zudem versuchte ich auf meinen Kopf zu hören, der mir sagte, dass es sich in einem Wald auch besser verstecken ließ, wenn es sein musste. Trotzdem konnte meine kleine Chatterbox nicht Ruhe geben und klagte sogleich an, wer oder was denn nicht vielleicht sogar auf uns dort zu warten schien? Und ob das Mädchen von eben nicht Recht hatte: Meine Ausbildung war schließlich nicht gerade weit fortgeschritten. Wenn ich keine Übung hätte, dann könnte mich sonst was ereilen! Gerade in einem Wald.

Und selbst, wenn Haia nicht wollte, dass wir hier ungeschützt trainierten, so könnte er mir doch dennoch schon einmal trocken ein paar Tricks zeigen, oder? Das wäre doch besser als nichts!

… Wie ich sagte: Chatterbox leistete ganze Arbeit.

 

Dass ich vielleicht nicht so große Gedankenkarussells hätte bestreiten sollen, war dann noch einmal eine andere Sache. Selbsterfüllende Prophezeiung.

Denn unser bislang friedlicher Weg wurde mit voranschreitendem Tagesanbruch längst gefährlicher. Natürlich.

Wir erreichten den Wald relativ schnell, es war vielleicht nur eine Viertelstunde Fußmarsch. Obwohl sich aus diesem wunderbare Vogelgesänge in mein Ohr legten und ich doch die Schönheit der mich nun mehr umgebenden Flora genießen und bewundern sollte, war mein gesamter Körper auf Alarmbereitschaft gesetzt und meine Hand immer bereit, das Schwert zu ziehen. Ganz gleich, ob ich mich geschickt anstellte oder nicht.

„Wir werden hier nur ein paar kleinen Fischen begegnen“, wollte Haia mich anscheinend beruhigen, doch bescherte mir dieser Ausspruch des Schwarzhaarigen gewiss keine Entspannung.

„Oh, na dann...“

Er drehte seinen Kopf zu mir, als wir nun mehr Seite an Seite gingen.

Ups... da war meine Zunge wohl etwas schneller gewesen als gewollt und hatte sich im Ton vergriffen... Ich verzog das Gesicht und hob entschuldigend die Schultern. Das war keine Absicht gewesen, aber ich konnte auch nicht verhindern, dass ich mich schlicht ein wenig überfordert fühlte. Ein wenig sehr.

„Keine Sorge, du kriegst schon genug Training“, schien er dann ein zweites Mal meine Gedanken zu lesen, doch in Wahrheit war ihm nur nicht der Kommentar der Gruppenführerin entgangen, „Es nützt nur nichts, wenn wir uns hier verausgaben. Wir haben noch einen ordentlichen Weg vor uns.“

„Ich weiß“, gab ich kleinlaut von mir, „Mir... ist nur nicht wohl dabei, wenn ich ins kalte Wasser geschmissen werde. Nenn' es Prüfungsangst.“

Aus irgendeinem Grund war es witzig für ihn, da er mir ein schiefes Grinsen schenkte, was ich nur mit einem verständnislosen Blick quittieren konnte,

„Dann warte ab, bis dich die richtigen Prüfungen ereilen.“

„Hä?“

„Sidequests. Mainquests.“

„Ihr... habt ihr aber nicht so was wie einen Wissenstest über SAO oder? Da werde ich ja komplett durchfallen!“ Ja, meine Angst war nicht, dass ich mich kräftemäßig messen oder bestimmte Skills wie Kochen anwenden müsste, sondern schlicht die theoretische Abfrage meines nicht vorhandenen Wissens über die Welt.

Damit musste Haia nun wirklich auflachen.

„Du bist echt witzig, Aya!“'

„Klingt nicht gerade wie ein Kompliment.“

„War es auch nicht.“

„Hey!“

Bevor ich aber noch etwas sagen konnte, bedeutete mir Haia mit einer entschiedenen Handbewegung ruhig zu sein und nickte nur auf den Weg vor uns. Hinter einem entfernteren Busch befand sich ein Junghirsch, sah sich neugierig um, weil er etwas gehört hatte: uns.

„Den schnappen wir uns“, flüsterte Haia und öffnete fix das Menü, um in der Ausrüstungsabteilung fündig zu werden. Mir nichts dir nichts erschien ein Bogen in seiner Hand. „Pass gut auf.“

Er bedeutete mir hier zu bleiben, während er sich etwas näher heranpirschte. Auf leisen Sohlen, so dass ich ihn nicht mehr wahrgenommen hätte, hätte ich meine Augen geschlossen, kam er dem digitalen Tier näher und näher, bis er schließlich nur noch eine geringe Distanz aufgebaut hatte und nun mehr den Bogen spannte. Der Pfeil erschien ganz von selbst. Der Bogen machte auch keine verräterischen Geräusche, wie man es normalerweise kannte, auch er war vollkommen ruhig. Und dann... nur ein einziger Schuss, erlegte er den Hirsch, in dessen Fell sich nun ein roter Datensatz zeigte, ehe er sich vor unseren Augen in Datenfragmente auflöste. „Du musst nicht immer auf Nahkampf aus sein. Es ist manchmal ganz praktisch, wenn du aus der Distanz agieren kannst.“

„Das... war klasse“, musste ich ehrlich bewundernd zugeben, als Haia wieder zu mir zurück und ich auf ihn zugelaufen kam, „Ich wusste nicht, dass du Bogenschütze bist.“

„Bin ich auch nicht“, lachte Haia und sah zu der Waffe in seiner Hand, „Aber du lernst schnell auch mit anderen Ausrüstungen klarzukommen, wenn die Situation es hergibt.“

Dann sah er wieder auf und nickte ein weiteres Mal. Diesmal zu unserer Linken.

„Wie wäre es? Bereit für den Trainingsbeginn?“

Ich folgte seinem Blick und sah eine Art Dachs herumstreunen. Meine Augenbrauen zogen sich skeptisch nach oben. Das Ganze kam mir eher vor, als würde ich auf Jagd gehen – was ich bisher noch nie in meinem Leben getan hatte – und es widerstrebte mir, just für mein Hochleveln, Tiere zu töten – Datensatz hin oder her. Aber mit dieser Denkweise müsste ich aufhören. Es waren eben nur Daten. So wie wir. Und wenn ich überleben und mich nicht von einem Dachs oder gar digitalen Spatz niederstrecken lassen wollte, dann müsste ich üben, üben und nochmals üben.
 

Eine meiner Stärken war eindeutig Ehrgeiz. Eine weitere damit verbundene: Durchhaltevermögen. Allerdings war in den letzten paar Jahren eine ziemlich große Schwäche hinzugekommen: Körperliche Fitness. Wenn man mich jetzt so keuchen und hecheln sah, dann dürfte man nicht erfahren, dass ich zur Schulzeit noch Leistungssport betrieben und den Leichtathletikkurs belegt hatte. Das wäre eine Lachnummer für sich.

Und so war die Umsetzung der Theorie in die Praxis nichts, was mir besonders leicht von der Hand ging. Manche meiner Gegner waren klein und somit schnell zu erlegen. Andere hingegen waren flink und ich musste ihnen direkt nachjagen. Bei wieder anderen ließ ich sie letzten Endes laufen, weil ich einfach keine Puste mehr hatte.

Haia bewies durchaus mehr als nur ein wenig Geduld mit mir. Ziemlich viel sogar. Zeitweilig sagte er gar nichts, schwieg sich aus und ließ mich machen oder aber übernahm den einen Gegner, den ich entkommen lassen wollte. Er gab mir von der Seitenlinie Tipps, wie es ein guter Trainer gab, vermittelte mir Techniken oder zeigte mir ganz direkt wie es geht. Ich bekam nach und nach ein besseres Gefühl für meine Waffe. Mein Schwert lag nach und nach besser in der Hand, schwang nicht mehr nur ungewollt von Seite zu Seite, sondern verfehlte immer weniger sein Ziel. Das war doch schon mal gut!

Auch verbesserten sich meine Reflexe – natürlich nicht von Null auf Hundert, aber ich fühlte mich mit jedem kleinen Kampf ein bisschen weniger tollpatschig. Diese Selbstsicherheit konnte ich auch gebrauchen. Spätestens dann, wenn es darum ging, dass ich irgendwann alleine klarkommen müsste. Und Selbstsicherheit war auch etwas, in dem ich allgemein schlecht bestückt war...

Wir legten eine kurze Pause ein, nachdem ich mühselig es sogar bis zum nächsten Levelaufstieg geschafft hatte und mehr als nur k.o. auf die Knie ging, so weich waren diese.

„Hier“ Ich sah irritiert auf, blickte dabei dann aber Haia in die Augen, der mir ein Behälter entgegenhielt. Es war eindeutig ein Getränk, auch wenn ich keine Ahnung hatte, was für eins genau. Da ich aber sicher sein konnte, dass er mich nicht vergiften oder benebeln würde, nahm ich es dankbar an. Der Durst, welcher sich durch die körperliche Anstrengung in meinem Hals breit gemacht hatte, machte sich mit einem Anfall von Reizhusten bemerkbar und schnell nahm ich einen großen Schluck. Recht süß. Fast so ähnlich wie diese billige Zitronenlimonade aus dem Supermarkt. Gerade war ich aber froh, überhaupt etwas zu trinken zu bekommen und wollte mich demnach nicht beschweren.

„Du machst recht gute Fortschritte“, bemerkte mein Gegenüber und ließ sich dann neben mich auf einen großen Stein nieder, so dass ich zu ihm aufsehen musste, „Es könnte etwas schneller gehen, aber damit müssen wir wohl klarkommen.“

Fast schon ein wenig beleidigt verzog ich den Mund. Ich wusste ja selbst, dass ich nicht gerade die begabteste Kämpferin war...

„Wie... hast du das eigentlich gelernt?“

„Hm?“

„Das Kämpfen... wie schnell bist du damit klargekommen?“, wollte ich wissen und trank ein weiteres bisschen aus dem coladosengroßen Behältnis.

„Recht fix. Vielleicht ein Tag oder so.“

„E-Ein Tag?“, brach es erschrocken aus mir heraus, aber Haia fasste dies falsch auf und nickte langsam,

„Ja, ich weiß... aber dann konnte ich auch sämtliche mir am Anfang möglichen Kombinationstechniken und vor allem beherrschte ich die Verteidigung. Ohne die bist du aufgeschmissen“, zuckte er mit den Schultern.

„Ha ha...“ Ich konnte nur schlucken. Er war wirklich solch eine Person, die sich mit den Spielregeln und der Steuerung von Games fast genauso gut zurechtfanden, wie in ihrer eigenen Westentasche... das erinnerte mich sehr an jemanden in der realen Welt... Ihm brauchte man auch nur den Controller in die Hand drücken und binnen von Minuten schaffte er es, sich gefühlt jedes Spiel anzueignen, das es gab. Es ließ mich melancholisch lächeln und ein wenig vor mich hinstarren.

„Aber weißt du... ich glaube, dass du gar nicht so schlecht in dem bist, was du machst“, sprach Haia dann weiter und als ich meine Augen erneut auf ihn richtete, zeigte sich auch auf seinen Lippen der Anflug eines zarten Lächelns, „Du solltest nur selbst etwas mehr daran glauben und nicht so streng mit dir sein.“

Autsch. Knackpunkt Nummer zwei. Neben des angeknacksten Selbstbewusstseins.

„Das... klingt ziemlich leicht“, bemerkte ich kleinlaut und lehnte mich in meiner Sitzhaltung etwas zurück, „Aber so viel Zeit habe ich nicht, dass ich es locker angehen könnte.“

„Wenn du so verbissen bist, wird es dir aber auch nicht besser gelingen“, widersprach mir der Schwarzhaarige und stützte sich nun auf seine Knie ab, um mir etwas mit seiner vorgebeugten Pose entgegenzukommen, „Du bist zu verkrampft und das schon die ganze Zeit. Es ist kein Wunder, dass dir alle Muskeln wehtun.“

„Naja, wohl eher, weil ich gar keine Muskeln habe“, wurde ich noch leiser, „Da war nie was. Trotz allen Trainings in der Schulzeit.“

„Das mein ich nicht und das weißt du.“ Haia seufzte, „Bist du immer so? Du... hast auf mich zu Beginn nicht den Eindruck erweckt.“

Ich musste mir seine Frage einmal auf der Zunge zergehen lassen und ernsthaft darüber nachdenken. War dem so? Eigentlich... nicht mehr.

„Ein wenig... schon. Das war früher schlimmer“, antwortete ich und drehte den Trinkbehälter in meinen Händen mal nach links und dann wieder etwas mehr nach rechts. Ich redete ungern über solche Dinge, die mich daran erinnerten, wie ungern ich mein damaliges Selbst inzwischen hatte. Es war mir äußerst unangenehm, zumal Menschen wie Haia mich nicht einmal kannten und mich somit eher noch zu vorschnellen Bewertungen neigten. Zumindest hatte ich das oft genug erlebt... Und ich wollte es nicht schon wieder erleben.

„Dann rate ich dir, dies so schnell wie möglich abzulegen“, erwiderte er ruhig, obwohl ich glaubte, aus seiner Stimme etwas wie Ungeduld zu hören, „Glaub mir, ich habe schon einige Spieler gesehen. Und wenn sie nicht wegen Überheblichkeit oder Panik das Game Over gesehen haben, dann weil sie zu verkrampft waren. Und du weißt so gut wie ich, dass wir hier nicht wieder von vorne anfangen können.“

Er hatte ja recht. Aber so einfach war das nicht. So einfach war es nie.

Deswegen behielt ich meinen Blick auch gesenkt, anstatt ihm in die Augen zu gucken.

„Du weißt, dass ich das nicht böse meine, oder?“

Ja, natürlich wusste ich das. Und ob ich das wusste. Nie hätte ich es Haia auch in irgendeiner Form unterstellt, dass er es anders meinte. Nur war es eben auch für mich schwierig, darauf einzugehen und über meinen Schatten zu springen.

Meinen Lippen überkam ein Seufzen und ich wollte mich langsam wieder aufrichten, etwas Einlenkendes sagen, als mich Haia mit einer schnellen Handbewegung inne halten ließ.

Irritiert guckte ich zu ihm auf. Sein Blick war abgewandt, schwebte über meinen Kopf hinweg und hielt sich wohl auf einen gewissen Fleck gerichtet.

„W-Was?“

„Pscht!“ Ich schwieg und wagte es mich nicht einmal, mich umzudrehen. Haia bewegte nur die Lippen, als er zu einer Erklärung ansetzte, vermied dabei aber jede weitere Bewegung: „Hinter dir befindet sich ein weiteres Wildschwein.“

„J-Ja?“

„Eher... eine ganze Gruppe.“

„W-wie?“ Das war gewiss kein Scherz von ihm, aber ich hätte mir gewünscht, dass es jetzt einer wäre. Eine Wildschweinhorde konnte ich gerade trotz dieser seltsamen Limonade nicht gebrauchen.

„Beweg dich ganz, ganz langsam. Nur nicht zu schnell.“ Haia machte es mir vor, erhob sich aus seiner sitzenden Pose und stellte sich Zentimeter für Zentimeter aufrecht, bis er sich im festen Stand befand. Er ließ unsere Gegner nicht aus den Augen und das war wohl auch gut so. Wenn Haia so angespannt war wie jetzt, dann hatte es wohl durchaus Berechtigung. Und auch wenn wir mit den Wildschweinen im Einzelnen gut klarkamen, war eine ganze Gruppe etwas anderes.

Auch ich stand nun vorsichtig auf. Beugte mich erst auf die Ballen vor, so dass ich mich in der Hocke befand und ging dann langsam aus den Knien nach oben. Alles gut. Nur keine Panik.

Ich wusste nicht, warum mir ausgerechnet so ein Klischeemalheur passieren musste, aber vermutlich war es einfach nur Ironie des Schicksals, dass mir der Getränkebehälter aus der Hand rutschen und auf den Boden fallen musste. Es war dabei nicht einmal ein lautes Geräusch, was entstand, aber anscheinend war es leider Gottes laut genug, als dass sich diese digitalen Tiere von mir gestört fühlten und mit den Hufen scharrten.

„Irks“, entfuhr es mir, als ich mich umdrehte und sah, wie sich das große Wildschwein auf uns zubewegte, die Entfernung zu schnell zu klein wurde.

„Auseinander!!“, rief Haia nun ohne Rücksicht auf den Aggressionsgrad der Tiere (war dies nun eh hinfällig) und sprang zur rechten Seite, so dass ich zur linken stolperte.

Rechtzeitig genug, denn das Schwein raste mittig hindurch, blieb erst ein paar Meter weiter stehen und machte auf den Hufen kehrt.

„W-Was ist denn in dieses gefahren?“ Nie im Leben war das Verschütten von etwas Limonade wohl der Auslöser dafür, dass es uns angriff.

„Keine Ahnung, spielt auch keine Rolle!“, antwortete Haia knapp, ließ seinen Bogen in der Hand erscheinen und wirbelte herum, um sich nun mehr allerdings die vier anderen kleineren Schweine vom Leib zu halten, die ebenfalls auf Angriff setzten.

Ich hatte keine Wahl und musste mich um das Mamaschwein kümmern, das durch seine Nase schnaufte und auf eine zweite Runde aus war. Na prima.

Ich schwenkte mehr unaufmerksam und ungeschickt mit meinem Schwert herum, als dass ich es wirklich traf, aber immerhin konnte ich verhindern, dass es einen von uns beiden auf die Keiler nahm. Trotzdem musste ich mir eine Strategie zurechtlegen – ich konnte schlecht Haia die ganze Arbeit überlassen, zumal er selbst mehr als überrascht über diesen plötzlichen Angriff schien. Sobald er sich die Schweine vom Hals gehalten hatte, switchte er seine Waffe und ging ebenso zu einem Schwert über. Es war ähnlich wie meins, allerdings breiter von der Klinge und auch länger – vermutlich auch viel, viel schwerer.

Wir standen Rücken an Rücken und warfen kritisch einen Blick auf unsere Gegner.

„Tausch.“

„Hä?“

Er schwang an mir vorbei, so dass er sich dem großen Gegner widmete und ich die vier kleinen als Boss hatte. Mir blieb keine Zeit zu beobachten, was Haia machte oder warum es zu einem metallischen Aufschlaggeräusch kam, das an jener von zwei aufeinander treffenden Klingen erinnerte: Das erste Schwein griff mich an, ich musste nicht ausweichen, sondern konnte den Angriff mit meiner entgegengehaltenen Breitseite parieren und wegdrücken. Das hatte ich vorhin auch schon mal gemacht. Als mich nun das zweite angriff, musste ich zur Seite treten und es ins Leere rennen lassen. Das dritte war hierbei fixer als gedacht und so blieb mir auch nie nur das Parieren. Kam es mir nur so vor oder waren sie flinker als die bisherigen?

Das vierte der Runde machte sich nun auf, mich erfassen zu wollen. Zeitgleich kam das erste wieder auf mich zugeschossen – weiteres Klischee, aber wirkungsvoll: Ich wich aus und die beiden verhakten sich mit ihren Hauern ineinander, weil sie nicht mehr abbremsen konnten. Es gab mir die Gelegenheit, um mich um die zwei anderen zu kümmern. Ich stieß vor, holte Schwung und versuchte so kraftvoll wie möglich das Tier zu erlegen – mit Erfolg. Binnen weniger Sekunden löste es sich in digitale Datenfragmente auf. Aber ich stoppte nicht, sondern lief gleich weiter, das nächste in Reichweite. Wieder holte ich auf, diesmal eine Rückhand, und traf. Kaum zu glauben, aber ich hatte das Gefühl, dass das einjährige Showgruppentraining für ein Tennismusical seine nie wieder verschwindenden Spuren bei mir hinterlassen hatte.

Die vor Anspannung angehaltene Luft ausatmend, blieb ich stehen und schnellte herum.

Die beiden anderen Schweine hatten sich gerade erst wieder entwirrt, schüttelten sich. Dann aber wollten sie gemeinsam in den Angriff gehen. Was nun? Beide rasten auf mich zu, ich hatte nur ein Schwert und ich sollte nicht so blöd sein, auf Gegenangriff zu setzen.

Flüchten? Wohin? Ich konnte zwar zur Seite springen, aber würde das etwas nützen? Am Ende würde das eine noch die Kurve kriegen und mich hochnehmen. Mir blieb keine andere Wahl, als einen Hechtsprung zu machen und ich betete, dass ich wenigstens noch ein bisschen Sprungkraft und Abschätzung besaß, um nicht vollkommen daneben und somit direkt in den Schweinen zu landen. Sie kamen näher und näher. Ich musste etwas Anlauf nehmen, sonst funktionierte das nicht. Mich somit mit dem rechten Fuß fest vom Boden abstemmend, rannte ich ebenso los. Als wir uns schließlich beinahe schon zu nahe kamen, sprang ich ab, so hoch und weit wie möglich. Der Hechtsprung war noch nie meine Stärke gewesen, schon zu Volleyballzeiten nicht, aber ich musste alles darauf setzen.

Als ich schließlich wieder den Boden berührte, unsanft, mit gewiss vielen blauen Flecken als Quittung, atmete ich erleichtert durch. Die Schmerzen, welche durch den Aufprall und den Schürfungen entstanden waren, nahm ich gerne hin. Das war das kleinere Übel. Nun aber nicht ausruhen, sondern weitermachen!

Ich musste auf die Beine kommen, so schnell wie möglich, und die Schweine erwischen, ehe sie erneut ansetzten. Noch einmal würde ich nicht so viel Glück haben.

Und genau das war es: Glück. Denn als ich mich bereits auf dem Absatz umgekehrt hatte und entsprechend vorpreschte, wandten sie sich erst zu mir. Es waren vielleicht zwei Sekunden, aber diese zwei Sekunden bedeuteten meinen Sieg.

Und sie bedeuteten, dass ich meine Augen wieder auf Haia richten konnte, welcher sich mit dem großen Schwein abrackerte. Um ehrlich zu sein, hatte ich geglaubt, dass es für ihn leichter werden würde als für mich, aber die Tatsache, dass er wirklich kämpfte und ihm der Schweiß auf der Stirn geschrieben stand, belehrte mich eines Besseren.

Konnte ich ihm helfen? Wie? Wenn ich mich einmischte... aber zusehen?

Er sprang zurück, baute Abstand zu seinem Gegner auf und atmete schwerfällig durch. Sein Gegner hatte ihn nicht getroffen, aber dennoch schon einiges an Kraft einbüßen lassen. Ich dachte nicht länger nach, sondern eilte an seine Seite.

„Kann ich was tun?“, war meine direkte Frage, während ich mein Schwert kampfbereit vor mich hielt.

Mein Partner schien verblüfft, dass ich anscheinend mit den vier Schweinen bereits fertig geworden bin, sah dann aber wieder nach vorne.

„Ich brauche etwas Zeit. Nicht viel. Aber wenn du mir zehn Sekunden den Rücken freihalten kannst... wäre das eine große Hilfe.“

„Alles klar.“ Ich hatte gar nicht erst nachgefragt, was er vorhatte. Und so musste auch Haia mir nachgesehen haben, als ich nach vorne eilte, unserem letzten großen Gegner entgegen. Im Nachhinein war dies eine ziemlich waghalsige, wenn nicht sogar dumme Entscheidung. Liebe Leute, macht dies bitte nie, nie, nie nach... Es hätte mich meinen Kopf kosten können. Ganz im Ernst. Egal, ob ihr eine Waffe tragt oder nicht.

Das Wildschwein vor mir fackelte nicht lange und kam mir ebenso entgegen. Es wollte zum Gegenangriff ausholen, so dass ich im ersten Moment nur ausweichen konnte. Ich sprang zur Seite und schaffte es, mich irgendwie passend abzurollen – ein Überbleibsel meiner Volleyballzeit – und somit wieder auf meinen Füßen in der Hocke zu landen. Im Gegensatz zu dem Datentier konnte ich so problemlos wieder vorschnellen und musste mich nicht erst umdrehen und gar anhalten. Es war meine Chance auf einen Präventivschlag, den ich so gut es ging versuchte, mit meinem Schwert auszuführen. Ich erwischte es, jedoch nicht gut genug, so dass sich seine Hauer mit meiner Klinge verkeilten. Ein Kräftemessen.

Ein solches, dass ich kaum gewinnen konnte, aber dennoch versuchte Stand zu halten, denn eine andere Möglichkeit hatte ich gar nicht. Ich spürte, wie mir mein Gegner all seine Stärke entgegensetzte und mich zügig zurückdrängte. Meine Arme begannen unter der Anstrengung zu zittern und mein Atem ging nicht weniger schwer über meine zusammengepressten Lippen.

Das Schwein begann zu zuckeln, nach links und nach rechts zu zergeln und schien mich so aus meiner Bodenhaftigkeit reißen zu wollen. Ich musste mitgehen, wenn ich nicht stürzen wollte und nach einigem Rangeln blieb mir gar nichts anderes übrig als nachzugeben. Es stieß nach vorne und brachte mich ins Straucheln. Ich stolperte nach hinten, versuchte aber so gut es ging, das Schwert verteidigend vor mich zu halten, als ich mich nach hinten fallen ließ und kaum am Boden aufgekommen, zur Seite rollte, die Waffe einziehend. Das Schwein stoppte nicht, stapfte vorbei, hatte aber da bereits kehrt gemacht, um mich nun wirklich auf die Hauer zu nehmen. Ich sah mein Ende.

Zermattert von einem digitalen Wildschwein.

Lief.

Silent Strike“, erklang da mit einem Mal die mir bekannte Stimme Haias widerhallend an meinem Ohr und ich sah, wie hinter meinem Gegner ein sternenförmiger, silberfarbiger Lichtstrahl erleuchtete. Er blendete mich, so dass ich die Hand schützend vor meinen Augen hielt und nicht mehr mitbekam, was als nächstes geschah. Fakt war aber, dass das Wildschwein aufheulte und kurzerhand das bekannte Geräusch der sich auflösenden Digitalpartikel ausbreitete. Mit dem Verschwinden des Lichtstrahls war dann auch das Wildschwein verschwunden und nun mehr stand Haia vor mir – erhaben, mächtig, stolz. Er hatte auf mich als Spielavatar einen eher schmächtigen Eindruck gemacht. Als ich ihn das erste Mal mit seinem realen Gesicht angesehen habe, wirkte er auf mich erwachsener. Und jetzt... war es nicht nur sein Alter, das mir entgegenstieß, sondern auch seine Persönlichkeit. Sein Charakter, der gefestigt und standhaft wirkte. Anders als ich mich fühlte, was nicht nur an dieser absurden Welt lag, in der wir gefangen waren.

Die Fazitanzeige ploppte auf und wir erhielten unsere Erfahrungspunkte, sowie Geld und einen mittelstarken Trank, der die Kraftpunkte um ein Dreiviertel zu regenerieren wusste.

Mit den Erfahrungspunkten stieg auch mein Level. Ich war erfreut, erinnerte mich aber, dass ein Level Up gerade zu Beginn nicht lange auf sich warten ließ. Trotzdem war dies ein gutes Gefühl, das es voranging. Wäre da nur nicht die Tatsache, dass ich ohne Haia nun gerade wohl das Zeitliche gesegnet hätte. „Das war mutig“, sprach er ruhig und reichte mir die Hand zum Aufstehen, da ich immer noch auf meinen vier Buchstaben saß, „aber auch verdammt dumm.“

„Ich weiß...“, knirschte ich mit den Zähnen und ergriff seine Hand, um mich hochziehen zu lassen.

„Mach das nicht nochmal.“

„Werde ich nicht.“

Wir sahen uns einen Moment lang an, bis Haia schließlich meine Hand wieder losließ, als ich sicher auf meinen Beinen stand und sich dann in die Richtung drehte, aus der das Wildschwein und sein Gefolge gekommen sind.

„Ich frage mich wirklich, was diese Tiere hat so aggressiv werden lassen? In der Beta-Phase war hier noch nicht einmal ein solcher Zwischenboss angedacht“, sprach er weiter und stemmte die Hände in die Taille.

„Vielleicht haben sie den Schwierigkeitsgrad aufgestockt?“, vermutete ich, „Dass es sonst zu leicht wäre?“

„Ja, aber so, dass selbst erfahrene Spieler ins Gras beißen können? Nicht auf der ersten Ebene und schon gar nicht auf offenem Feld, weitab des Übergangs zur zweiten Ebene.“ Haia schien mit meiner Theorie nicht einverstanden und grübelte einige Sekunden weiter nach, in der ich ihn nicht stören wollte und somit meinen Blick ein wenig über das offene Feld wandern ließ – aufmerksam. Wer weiß, was uns noch erwartete? „Lass' uns nachschauen gehen, wo diese Viecher herkamen!“

„Eh?“ War das sein Ernst?

„Ich will wissen, wo es herkam. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es sich verlaufen hat.“

„A-Aber was ist, wenn wir auf weitere von denen stoßen?“

„Dann werden wir sie genauso bekämpfen müssen, wie dieses hier.“

Tolle Antwort... tolle Idee... Begeistert war ich nicht.

„Wir kriegen das hin, Aya. Keine Sorge.“

Beschwichtigende Worte, die mich nicht überzeugten. Wir hatten mit dieser kleinen Horde bereits ordentlich zu tun gehabt... übernahm er sich nicht?

Meine Augen mussten wohl selbige Zweifel ausgesprochen haben, da mein Begleiter mir nun einen Schritt näher kam und mich ernst ansah, „Ja, ich weiß, dass es dir nicht wie die schlauste Entscheidung vorkommt, aber das hier sind Peanuts. Diese Wildschweine sind nicht die leichtesten Gegner, aber gewiss auch nicht die schwierigsten. Du wirst noch ganz andere kennenlernen. Glaub mir, du wirst dich nach den Schweinen sehnen.“

„Das weiß ich auch“, murrte ich leise, da ich es nicht mochte, wenn man mich wie ein unwissendes Kind behandelte, „Ich finde es nur keine gute Idee, wenn wir denen in die Arme laufen.“ Haia nickte, konnte er diese Überlegung wohl gut verstehen.

„Ich weiß.“

Wir machten uns also auf... und weil ich nicht wollte, dass wir eine unangenehme Stille hatten bzw. weil es mich wirklich interessierte, was da eben geschehen war, fragte ich Haia ganz direkt: „Das ist ein spezieller Angriff, der allerdings Vorbereitungszeit braucht“, erklärte er, die Augen auf den Weg vor uns gerichtet, „Ich sammle mein Mana, meine Energie und fokussiere sie auf meinen Pfeil. Wenn ich diesen dann auf den Gegner abschieße, wird er zunächst durch die Helligkeit erblindet, so dass er nicht fliehen oder blocken kann. Dann erfasst mein Angriff ihn und bohrt sich direkt durch ihn.“

„Effektiv.“

„Meistens.“

„Wie... erlangt man diese Fertigkeiten?“ Ich wusste, dass man mittels Training, immer wieder Abilitys erlernen konnte, aber dies geschah in Spielen automatisch. Konnte ich also auch hier automatisch solche Angriffe erlernen oder bedurfte es technisches Verständnis und langjährige Entwicklung? Bloß nicht!

„Keine Sorge“, musste Haia nun schon auflachen und warf mir ein schiefes Grinsen zu, „Jede Waffe hat natürlich ihre eigenen Skills. Mit einem Level Up erlangst du auch die Fähigkeiten. Deine eigenen kannst du natürlich etwas mehr beeinflussen. Du musst dich also nicht mit Physik oder ähnlichen Dingen auseinandersetzen.“

Also konnte ich meine Statuswerte personifizieren, mehr Fokus auf Angriff oder zum Beispiel Agilität legen, wenn ich wollte. „Normalerweise reicht am Anfang aber die automatische Zuordnung aus. Ich kann dir später einmal zeigen, wo du das einsehen kannst!“ Ich nickte und bedankte mich. Das würde mir gewiss zugute kommen. Irgendwo war es beruhigend, dass zumindest solche Dinge ähnlich wie in anderen Videospielen abliefen. Zumindest ein kleines bisschen.

Die Strecke, die wir zurücklegten, war nicht weit. Vielleicht ein Kilometer, was in Anbetracht des bisherigen Weges wie ein Katzensprung wirkte. Kaum diesen aber hinter uns gelassen, bedeutete mir Haia mit einer Handbewegung, dass ich anhalten und mich ruhig verhalten sollte. Ich hatte dies schon automatisch vollzogen, denn der Schrei der nun mit einem Mal an mein Ohr drang war unüberhörbar. Ich konnte nicht ausmachen, ob es ein solcher aus Schmerz war, aus Angst oder aus Wut. So oder so ließ es mich eine Gänsehaut erfahren, die mich frösteln ließ. Wollte ich wirklich wissen, was das war, was vor uns lag? Ich hatte keine Wahl, diese nahm mir Haia ab, denn der Schrei war aus der Höhle vor uns erklungen, die wir nun mehr erreicht hatten. Ihr Eingang lag wie ein sich öffnendes Löwenmaul vor uns – bereit, uns zu verschlucken. Manchmal verfluchte ich mich für meine Fantasie, die mir alle Möglichkeiten vor Augen führen wollte, was da auf uns zukam. Eine Meuchelei? Ein großes Ungeheuer? Eine Bande mieser Charaktere, die nur darauf warteten, ihren nächsten Opfern zu begegnen?

Mir fiel keine Variante ein, die weniger gefährlich war und mit dem Schrei von eben einherzugehen wusste.

Mein Körper schien zumindest in Alarmbereitschaft versetzt zu sein und ließ mich meinen eigenen Herzschlag lautstark im Hals fühlen und in meinen Ohren hören.

Wir schritten voran und ich kam mir vor wie einer dieser dummen Jugendlichen in Horrorfilmen, die es besser wissen müssten und dennoch der Gefahr nachjagten. Warum noch mal konnten wir nicht einfach umdrehen?

„Haia“, warf ich flüsternd ein und legte behutsam meine Hand auf seine Schulter, „Lass uns weitergehen. Lass uns da nicht reingehen.“ Am Ende hätten wir einen fetten Endboss und würden ebenso massakriert werden wie dieser Mensch eben.

Meine Begleitung drehte sich zu mir um und sah mich einen längeren Moment an. Nein, er beobachtete mich und versuchte aus dieser Beobachtung meines Gesichtsausdruckes, meiner Gestik und Mimik herauszufinden, wie es mir ging. Einmal Analyse, bitte.

Ich fühlte mich nicht wohl dabei, aber alles andere war wichtiger, als sich jetzt über solche Dinge aufzuregen.

„Du hast Angst“, stellte er leise fest. Keine Frage, nur eine simple Aussage. Und sie stimmte. Wir kamen nun an einem Punkt, wo mir klar wurde, dass ich nicht bereit war, in diesem Spiel mein Leben zu riskieren. „Und wie du Angst hast...“ Ich schluckte, musste dann aber sogar noch nicken. Leider hatte er Recht. „Hör zu“, sprach Haia nun ernst und sah mir direkt in die Augen, als wollte er mich bis in jede Zelle meines Seins erreichen, „Du musst nicht mitkommen. Wenn du zu viel Angst hast, dann geh zurück. Geh zurück in die Stadt und lasse dich dort irgendwo anstellen. Es gibt genug Jobs, die dich über Wasser halten werden, bis wir von hier wegkommen.“

Es klang so vernünftig. Und im Grunde lag er richtig. Ich hatte keine Kampferfahrungen, ich war unterdurchschnittlich in den Fähigkeiten, die man besitzen sollte, um ein solches Spiel erfolgreich zu meistern und meine Furcht, tatsächlich sterben zu können, lähmte mich und damit uns. So war ich nur ein Hindernis und das war natürlich das Allerwenigste, was ich sein wollte.

Ich schwieg und biss mir dabei auf meine Unterlippe. Mir fiel nichts ein, was ich hätte erwidern können, denn im Grunde... war alles gesagt. „Denk an dich und an diejenigen, die du hier mit deinem Tod zurücklassen würdest. Vielleicht wäre es also besser, wenn du zurückgehst... Ich weiß nicht, was uns erwartest und ich kann dir nicht versichern, dass wir heil rauskommen.“ Damit drehte er sich auf dem Absatz um und ging weiter voran, direkt auf die Höhle zu. Bevor ich mich versah, hatte er schon einen Fuß in diese gesetzt, gefolgt von einem weiteren. Selbst, als die anfängliche Dunkelheit, welche weiter hinten mit dem Schein einer Fackel endete, ihn fast verschluckt hatte, stand ich immer noch am selben Fleck – hin- und hergerissen. Mit seinem letzten Satz waren mir die Gesichter von meinen Liebsten vor meinem geistigen Auge erschienen. Meine Familie, meine engen Freunde, mein Liebster... Natürlich könnte ich es nicht zulassen, dass ich sie zurückließ. Gerade auch, was meinem Zukünftigen betraf... unser gemeinsames Leben hatte doch gerade erst angefangen! Wir hatten noch zu viel vor! Aber gleichzeitig regte sich in mir mein Enthusiasmus. Wer garantierte mir, dass wir hier rauskämen? Und wann? Wenn man etwas ändern wollte, müsste man selbst aktiv werden. Das war schon immer so und ich habe dies auch in meinem Leben weitestgehend befolgt. Spätestens in ein, zwei Wochen würde ich des Rumsitzens überdrüssig werden und erneut versuchen loszuziehen. Und davon abgesehen: Könnte ich Haia wirklich einfach dort allein lassen? Mein Helfergen war nach wie vor vorhanden, egal in welcher Lage ich mich befand. Ich dachte immer erst an die anderen. Es musste schon viel passieren, dass dem nicht mehr so war und Haia hatte mir außerdem zu sehr geholfen und zur Seite gestanden in diesen schweren ersten Stunden. Es wäre simpel nicht gerecht, ihn alleine zu lassen.

Nun gut, dann sollte ich wohl der dumme Jugendliche im Horrorfilm sein, der sich geradewegs in die Hölle begab. Sterben wollte ich nicht. Also müsste ich alles daran setzen um zu überleben.

Ich hatte Haia schnell eingeholt, er ging bedacht und handelte nicht überstürzt. Als er meine Schritte vernahm, drehte er nur den Kopf über die Schulter und warf mir einen fragenden Blick zu, den ich noch zu beantworten wusste, ehe er etwas sagen konnte: „Ich gehe mit dir mit. Von nichts kommt nichts.“

Der Schwarzhaarige nickte und wir machten uns auf den Weg.

 

Das Fackellicht, dem wir näher kamen, verriet uns, dass wir nicht die ersten Besucher waren. Hatte es nur diesen einen getroffen?

Unsere Schritte verhallten, sobald wir aufgetreten waren. Mir ging (pardon) der Arsch auf Glatteis. Doch sollten wir gar nicht so weit gehen müssen, denn hinter einer Biegung erreichten wir bereits den Innenraum der Höhle und meine Augen wurden größer, als ich sah, was sich hier abgespielt haben musste: Auf dem Boden lag ein junger Mann, schwer verletzt mit einer klaffenden Bauchwunde, die er sich kläglich hielt, aus welcher aber nur digitale Splitter hervorschimmerten. Sein Griff zur Wunde war instinktiv erfolgt, wie man es im echten Leben tun würde. Vor ihm hatten sich zwei weitere Kämpfer positioniert. Der eine hielt beinahe schon ängstlich seinen Stab vor sich gestreckt, während der andere mit einem Schwert in der Linken versuchte, ihre beiden Gegner von sich fern zu halten. Es handelte sich erneut um Wildschweine, aber auch diese waren größer als normal. Wenn sie nicht sogar zu dem gehörten, das wir so eben besiegt hatten. Sie wirkten erschöpft und außer Atem, aber nachgeben konnten sie natürlich nicht.

Zu Haias und meinem Glück hatten die Tiere uns noch nicht bemerkt, trotzdem hielt ich den Atem an. Das sah nicht gut aus. Und doch... konnten wir sie hier nicht einfach ihrem Schicksal überlassen, oder? Wir müssten helfen. Und zu viert... würden wir diese beiden Schweine vielleicht sogar recht gut besiegen können?


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich muss zugeben, dass es Angewohnheit von mir ist, mich gar nicht groß zuvor mit einem Spiel zu beschäftigen, bevor ich es zocke. Das Genre muss stimmen, die Geschichte interessant klingen und das Design passen. Dann bin ich dabei.
Nicht gerade die beste Vorbereitung. Ebenso wenig habe kenne ich mich gut mit Online-Spieilen aus - schon gar nicht Mehrspieler-RPGs. Ich habe ein- oder zweimal jene ausprobiert, aber war es nicht meins, ständig online spielen zu müssen. Das kann noch lustig werden. :D Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Der pragmatische Typ ... bin ich wirklich. Es ist gut für Notfälle, aber dafür schlägt es im Nachhinein umso mehr ein. Kann nur noch besser werden, was dies betrifft. ;)
Ich muss zugeben, dass ich Haia inzwischen ziemlich gut leiden kann. Im letzten Kapitel war er mehr oder weniger schlicht eine "Aufgabenfigur", aber nun mehr wird er doch zum Kumpanen in der schweren Zeit. Gerade, wenn man über mehr als nur das Wetter redet, beginnt doch langsam eine zarte Bindung zu entstehen. Der Abschied wird schwer fallen (lach).
Schwierig war es zugegebenermaßen, die Anweisungen für SAO selbst niederzuschreiben. Ich habe hierbei den Anime als Vorlage genommen.
Gerade bin ich nämlich dabei, ein bisschen Recherche zu betreiben und nach den Romanen Ausschau zu halten bzw. zu lesen. :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Vorgaben für das Kapitel:

☯ Als ihr am nächsten Morgen aufbrecht seid ihr allein, lediglich am Tor steht ein etwa 14 Jahre altes Mädchen. Sie scheint auf jemanden zu warten, deshalb grüßt ihr sie nur und geht weiter
☯ Auf dem Weg in die neue Stadt seht ihr vereinzelt weitere Spieler, die oftmals nicht mehr als drei Teams gebildet haben
☯ Haia wird sich bei einem der Spieler erkunden wie die aktuelle Lage ist (wie viele Spieler bereits aufgebrochen sind etc.)
☯ Da am Tag mehr Gegner unterwegs sind seid ihr Gezwungen bis in die Nacht weiter zu gehen (sollte kein Bonus eingebaut werden kann das auch kurz nach der Abenddämmerung sein)

♔ Bonus: Ihr habt bereits gegen einige Gegner gekämpft als plötzlich ein größeres Wildschwein auf euch zu gerannt kommt. Es ist schneller als die anderen und wird von vier kleineren Wildschweinen begleitet. Aus irgendwelchen Gründen scheint es sehr aufgebracht und agressiv. Da ihr auf ofener Ebene seid und das Tier zu schnell für euch ist seid ihr dazu gezwungen es zu besiegen. Achtung es ist stärker als die anderen Wildschweine und kann euch einige Probleme bereiten. (Das Wildschwein gibt dir ein Lv. up)
♔ Bonus: Solltet ihr das Wildschwein besiegt haben schlägt Haia vor in die Richtung zu laufen aus dem es gekommen ist. Er scheint von dem stärkeren Tier überrascht zu sein und erklärt dir das es in der Betaphase noch nicht da gewesen war. Ihr findet weiter entfernt eine Höhle, wo zwei von den großen Tieren gegen ein drei Mann Team kämpft. Einer von ihnen scheint schwer verletzt und geht zu Boden, die anderen beiden scheinen auch nicht mehr lange durch zu halten. Du kannst ihnen helfen oder nicht. Sag mir die Antwort, wenn du dich entschieden hast, dann schick ich dir die Vorgabe wie es weiter geht ^^  Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (8)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Maeyria
2017-07-08T09:30:24+00:00 08.07.2017 11:30
Ich kenn auch nur den Anime x'D
Daher kann ich mri das einigerßen brauchbar vorstellen x'D
Und das mit der Pragmatik kene ich auch sehr gut, bin auch so einer x'D
Bin schon gespannt wies weitergeht^^

Grüße
Mae x'D
Antwort von:  Ikeuchi_Aya
08.07.2017 12:48
Puh, sehr gut! (lach)
Transparenz ist irgendwie schon schwierig bei solchen Themen, finde ich. Zumindest bin ich da einfach nicht geübt drin. xD
Haha, mal schauen ~ sitze jedenfalls am nächsten Kapitel. :3
Danke dir. <3
Von:  Stiibu
2017-04-16T22:30:34+00:00 17.04.2017 00:30
Ein sehr detaillierter und ruhiger Einstieg in SAO, das gefällt mir gut. Ich finde es schön, wie du dir Zeit (Platz) nimmst, um die Szenerie zu beschreiben.
Man merkt auch, dass du dir sehr viele Gedanken gemacht hast und mit SAO vertraut bist. ;-)
An die Entstehung des Namens Aincrad aus "An Incarnating Radius" kann ich mich gar nicht erinnern, sofern es im Anime vorgekommen ist. ^^

Dennoch gibt es einen Punkt, der mir irgendwie seltsam erschienen ist, das war die Sprache Deutsch.
Einerseits muss man sagen, dass es dir in der Geschichte nicht klar ist, dass vorerst nur 10.000 Versionen für Japan herausgegeben werden und somit eine komplette und korrekte Übersetzung des Spiels ins Deutsche zu diesem Zeitpunkt seltsam erscheint, außer es würde automatisch gemacht werden können, was heutzutage noch unmöglich ist.
Andererseits würde ich mich sehr wundern, wenn ich mich mit Japanern in meiner eigenen Sprache unterhalten könnte. Schließlich müssten einerseits die Inhalte direkt beim Sprechen ohne Verzögerung übersetzt werde und dann mit einer künstlichen Stimme (der Stimme des Sprechenden?) wiedergegeben werden. Momentan ist das absolut unmöglich. ^^
Für die Geschichte macht Deutsch als Spielsprache natürlich Sinn, da es alles einfacher macht.
Ich denke, das ist kein großer oder schlimmer Fehler, aber ich wollte dich trotzdem darauf hinweisen.

Ein wenig Kritik üben muss ich bei der Rechtschreibung. Es sind nicht so viele Fehler, dass sie beim Lesen störend wären, aber es waren merklich mehr als im Prolog (oder ich habe im Prolog zu wenig darauf geachtet <.<).
Unangenehm aufgefallen ist es mir nur im Vorwort, das wahrscheinlich gar nicht von dir geschrieben wurde?.
Die dritte Aufgabe hat gleich zu Beginn 2 schwere Fehler ("Sie zu das" statt "Sieh zu, dass..."). Die solltest du ausbessern, auch wenn es nicht du geschrieben hast.
Interessant war, dass du zweimal Statue statt Statur für die Körperstatur geschrieben hast, lustig dagegen das Wildschein, also ohne 'w'. ^^
Falls du alle Fehler, die ich gefunden habe, wissen willst, schicke ich dir gerne eine ENS.

Um nochmal zurück zum Inhalt zu kommen:
Ich fand die Charaktererstellung sehr gut beschrieben, auch das Problem mit dem Charakternahmen. Einen zu finden ist die eine Sache, der Name darf dann aber auch nicht in Verwendung sein. Da hattest du wohl etwas Glück, aber es gibt ja auch nicht so viele Spieler in SAO. ;)
Ziemlich viel Glück hattest du auch mit Haia, dem sehr sympathischen Beta-Tester, der dir beim Einstieg geholfen hat.

Als nächstes kommt die Stunde der Wahrheit, die Spannung steigt.
Ich freue mich, wenn es weiter geht. Das darf auch ruhig etwas dauern, wenn es auf diesem Niveau bleibt.
Antwort von:  Ikeuchi_Aya
17.04.2017 16:32
Heyho, vielen lieben Dank erst einmal für diesen langen Kommentar. <3 <3 <3
Die Namensentstehung ist im Anime soweit ich mich erinnern kann, auch nicht gefallen. Ich hoffe hierbei allerdings, dass es eine Information ist, an welche die Spieler bzw. Interessenten dennoch gelangen können.

Danke, was den Hinweis mit der Sprache betrifft. Diese Begrenzung habe ich ehrlich nicht bedacht. Ich hatte den Gedanken "Wenn dies ein Spiel für Spieler weltweit ist, wird es doch gewiss auch bereits Sprach-Tools geben, welche eingepflegt wurden?" - Da hast du recht, dass es zu dem Zeitpunkt des Releases selbst vermutlich noch gar nicht der Fall war. Spätere Updates, klar, aber eben... später. Auf der anderen Seite war eben auch die nationale Begrenzung etwas, was mich irritiert hätte. (So wie es bei anderen Serien immer Japan und kein anderes Land ist, welches das Epizentrum vom Bösen, Zielscheibe, etc. darstellt ;D)
Englisch wäre da vielleicht noch möglich... ich werde mir da mal 'nen Kopf machen. Danke dir <3

Auf jeden Fall werde ich aber die Sprachfehler ausbessern - wie die Zustande kommen... das "Wildschein" - dank es der Tastatur. Leider trotzdem bei der Autokorrektur durchgerutscht. Verlass dich niemals auf diese... :')

Ich freue mich schon, das nächste Kapitel schreiben zu dürfen und werde mir Mühe geben, dass die Geschichte nicht absackt. Sehe es auch so, dass ich lieber ein bisschen mehr Zeit reinstecke, aber dafür etwas ordentliches herauskommt. ;)

Danke dir noch einmal <3
Von:  Stiibu
2017-03-19T21:28:48+00:00 19.03.2017 22:28
Der Prolog ist dir eindeutig gelungen. Mich hat der Beginn mitgenommen und ich erwarte mit Spannung wie es weitergeht. Besonders interessiert bin ich daran, wie du mit der Situation umgehen wirst, wenn du weißt, dass du das Spiel nicht mehr verlassen kannst.

Wenn ich mir die Frage erlauben darf, sind die Personen mit Ausnahme der Gastfamilie real, bzw. wieviel des Anfangs entspricht der Realität? Der Beginn wirkt auf alle Fälle absolut authentisch. ;)
Antwort von:  Ikeuchi_Aya
19.03.2017 22:39
Vielen lieben Dank! :)
Ich bin auch sehr gespannt, was das betrifft... wie genau ich mich damit abfinden werde. Das lasse ich noch auf mich zukommen. Da denke ich lieber nicht zu lange nach, sondern versuche es entsprechend aus dem Bauch heraus zu schreiben - so wie es eben in der Situation wäre. Eine doch recht andere Art fr mich, eine Geschichte zu verfassen, aber es macht Spaß. :)

Mit Ausnahme der Gastfamilie sind die bisherigen Personen real. :)
Von:  Maeyria
2017-02-27T19:46:31+00:00 27.02.2017 20:46
Ooooooh mein Gott ich freu mich xD
Mach schön weiter ich bin sooo gespannt was passieren wird.
Egal wie viel love und ahte SAO abbekommt, die Welt is klasse und die Idee auch und ich bin gespannt was hier rauskommt *.*

Grüße
Mae
(bitte sei mir nicht böse, aber das japanisch war so textbuchjapanisch ich habe mich sehr schwer getan, auch wenn es mich total freut es zu lesen *.*
Ich wollte es mal gesagt haben als eine Art Kritikpunkt, auch wenn ab jetzt alles Deutsch ist x.x
Als Halb-Japanerin, bitte versteht mich, es hakt etwas an der Authentizität bei mir >.<)
Antwort von:  Maeyria
27.02.2017 20:46
*hate
Antwort von:  Ikeuchi_Aya
27.02.2017 22:06
Oh, bitte du darfst da gerne kommentieren/korrigieren, was das Japanisch betrifft. Leider Gottes ist es nämlich nur das, was ich kann - (und gerade wieder so eingerostet, dass ich selbst das bezweifel) haha...

Ich bin selbst gespannt, wie gut ich damit klarkommen werde (lach), werde mir aber natürlich allergrößte Mühe geben. :3 SAO ist für mich auch einfach eine tolle Welt und ich mag die meisten Charaktere einfach total. <3
Antwort von:  Maeyria
28.02.2017 02:05
[quote]„よかったね。アレックスさんはやっと着きました。“ (Alex, du bist endlich hier! Schön, nicht!)

„はい、そうですね。“ (Ja, nicht wahr)[/quote]
So ne Koversation würde glaube ich, nie stattfinden ^^'

[quote]„重いよ!ケースの中は何か?石?“[/quote]
Hier würde man tatsächlich wie im Deutschen von Ziegeln sprechen à la レンガでの入れてるんか?! Oder so x'D

Jap, wobei, also objektiv betrachtet sind die Chars irwie sehr flach ne, leider ;___;
Ich freu mich auf ordinal scale trotzdem, auch wenn ich schon weiß, dass sao nie lernt seine fehler mal zu verbessern....hach ja... *schnüff*die action und musik is wahrsch. wieder top notch xD
Antwort von:  Maeyria
28.02.2017 02:06
*レンガでも

(Verdammte handytastatur und sorry, ich bin zu blöd um zu kapieren, dass man hier kein quote benutzen kann |D)
Antwort von:  Ikeuchi_Aya
19.03.2017 22:37
Danke dir  Maeyria,

ich werde das bei Zeiten noch einmal etwas abändern!!
Antwort von:  Maeyria
20.03.2017 02:21
um Gottes Willen mussu nicht ^^'


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