SAO: Progression von Ikeuchi_Aya ================================================================================ Kapitel 1: 1st Floor - Callibration ----------------------------------- Link start. Ich hatte nichts erwartet und musste so erschrocken nach Luft schnappen, als mich nach Ausruf jener zwei Worte auch schon ein Fluss von Farben erfasste, die in zylinderförmigen Strahlen an mir vorbeirauschten. Das Chaos lichtete sich und hinterließ eine weiße raumlose Fläche, ehe ein türkisfarbenes Kalibrierungsmenü aufpoppte und mit feinen Geräuschen den Verbindungsstatus zum Internet abfragte. Und dann auch... meinen Status? Ah, bestimmt die Sensoren!   Touch.   Nichts passierte. Es stand einfach nur dieses Wort da. Musste ich etwas machen? Aus reiner Neugier hob ich meine rechte Hand und berührte dabei den Zeigefinger meiner linken. Ein kreisförmiger Ladebalken begann sich ein Stückchen mit Türkisblau zu füllen und blieb dann wieder stehen. Ah! Ich musste dem System beweisen, dass ich ein Mensch war. Also... bedeutete dies, dass ich wohl Arme, Beine und den Rest meines Körpers abtasten musste, damit das Spiel ein Gefühl für meine Figur entwickelte? Hm... das gefiel mir um ehrlich zu sein gar nicht. Es war eine Art Datensammlung, die ich nicht für gut hieß. Aber wenn ich es nicht tat, dann könnte ich nicht spielen. Wieder mal typisch. Den Leuten etwas anbieten, aber nur für eine entsprechend große Gegenleistung... Ich zögerte, überlegte eine gute Minute hin oder her, gab dann der Neugier aber schließlich nach. Wie oft hatte ich die Chance, solch ein Spiel auszutesten? Wer wusste schon, ob es überhaupt nach Deutschland käme? Solche coolen Dinge wie Pikachu, I choose you! bei dem man via Mikrofon mit Pikachu sprechen konnte, hatten es ja auch nicht geschafft! Gute alte N64-Zeit! Während ich die einzelnen Bestandteile meines Körpers berührte, füllte sich er Balken mehr und mehr und schließlich färbte er sich mit einem Mal Grün.   Touch – ok. Sight – ok. Hearing – ok. Smell – ok. Taste – ok.   Das Menü switchte um und ein neues Modul erschien:   Language. English.   Und wieder ein neues Fenster:   Log in_:: Do you want to register?   Mir blieb ja keine Wahl, oder? Anscheinend hatte das Gerät erkannt, dass ich nicht Keiichi war, und brauchte nun natürlich ein neues Konto um fortzufahren. Wie ging das nun? Sollte ich mir eine E-Mail-Adresse und ein Passwort denken? Oh... tatsächlich! Sternchen tippten sich ganz von allein in die vorgesehenen Zeilen von :account und :password und bestätigte. Das klappte ja wirklich! Dieses Mal war die Ladezeit ein, zwei Sekunden länger und nun erschien meine erste richtige Aufgabe, die mich über beide Ohren grienen ließ: You have to create your character.   Das war auch der Grund, warum ich die Sims so liebend gerne gespielt hatte – Charaktere erstellen, gestalten, … mehr brauchte ich nicht. Also auch der Grund, warum ich nie weitergespielt hatte. Bei Rollenspielen sah das etwas anders aus, denn dort war die Erfindung einer Spielfigur die Möglichkeit, in die Welt des Games einzutreten. Persönlicher einzutreten. Und ich war gespannt, wie das hier von statten gehen würde. Zunächst hatte ich die Wahl zwischen weiblich oder männlich. Ich nahm wie selbstverständlich die Frauenfigur und sollte nun deren weitere Erscheinung modifizieren. Dass ich das nur mit meinen Gedanken machen musste, wusste ich ja bereits. Also spielte ich ein bisschen mit den Optionen herum, dachte an rote Haare, kurze grüne, blaue Strähen und was es nicht alles an Kombinationsmöglichkeiten gab. Als gäbe es keine Grenzen! Ich entschied mich dennoch für simple haselnussbraune gewellte, schulterlange Haare. Geschafft. Augenfarbe grün, Hautfarbe... na ja, etwas rosiger als meine eigene sollte schon sein. Alabasterhaut hin oder her – ich freute mich, wenn ich mal nicht wie der Tod aussah... auch in Spielen. Dann ging es um die Klamotten. Die Software hatte ein riesiges Reservoir an unterschiedlichen Kleidern. Hosen, Röcke, Tops, Kleider, … würde meine Auswahl mich beeinflussen, wie es das auch im echten Leben tat? Wenn dem so wäre, dann sollte ich mich eindeutig für bequeme Sachen entscheiden, in denen ich mich auch bewegen könnte? Ich wollte kein Risiko eingehen, also durchsuchte ich den Hosenfundus, ließ die Auswahl switchen und nahm schließlich ein Paar kurzer, leicht ballonartig ausgestellten Shorts in Beige. Dazu dann ein anliegendes weißes, langärmliges Oberteil und eine kurze khakifarbige Weste (eher ein Brustschild?) . Accessoires wie Gürtel oder Hosenträger wurden automatisch zu der jeweiligen Auswahl ergänzt. Neben Overknees wählte ich robuste Stiefel, in einem Dunkelbraun mit Rottouch. Zwar gab es viele Möglichkeiten, aber dennoch waren die Kleidungsstücke selbst sehr einfach gehalten. Startoutfits. Das ließ vermuten, dass im Verlaufe des Spiels weitere und vor allem aufwendigere hinzukämen. Gewiss würden die dann auch bestimmte Attribute mitbringen und ihr Stängchen Geld kosten. Ich betrachtete meinen Avatar von allen Seiten und griente in mich hinein. Ja, damit ging ich konform. Damit war ich aber noch längst nicht fertig. Die Höhe und mein Gewicht musste ich mit angeben – Sollte ich etwas schummeln? Hm... nun.. vielleicht? Ach nein. Wozu?   Größe – 175cm Gewicht - 64 kg   Außerdem noch meine Körperstatur. Nun... passend. Wie sähe es aus, wenn ich einen bulligen Körper nähme, aber das bei einer kleinen Größe oder obwohl ich eigentlich schlank war? Nein. Hier blieb ich ebenso bei der Wahrheit. Und dann...   Brustgröße   Vermutlich hätte ich jetzt mit großen Augen auf dem Bildschirm gestarrt. Ehrlich... war das so wichtig? Und... wie jetzt? Ich hatte nur die Möglichkeit auf acht Stufen zu entscheiden? … Muss ich jetzt Details erzählen? Nein, das lasse ich aus. Zum einen geht es euch nichts an und zum anderen... erwähnte ich nicht etwas über Datenspeicherung? Na eben! Zu guter Letzt musste ich mich noch hinsichtlich meiner Waffen entscheiden. Hm... ich wusste, dass ich bei Spielen immer mit schwertähnlichen Waffen kämpfte, also wäre das eindeutig meine Wahl. Aber es war ein Unterschied, ob ich Knöpfe drücken oder mich eventuell selbst bewegen müsste. Auf der anderen Seite fühlte ich mich kaum mit einer Keule oder andere Geschosse wohl...   Schwert.   Noch einmal überprüfte ich meinen Avatar und sah, dass das für mich Wichtigste noch nicht gegeben war: mein Nutzername. Wie sollten mich die Leute hier nennen? Das war immer wieder das Schwierigste bei. Ein Name war für mich nichts, was ich mal im Vorbeigehen erledigen wollte. Für mich war ein Name die Möglichkeit, sich in einem Spiel persönlicher zu gestalten, seiner Figur etwas mehr Tiefe zu verleihen. Meine Onlinenamen auf bestimmten wichtigen Seiten waren nie aus einer Laune hervorgegangen, sondern immer nach tagelanger Grübelei. Ich war keine Person, welche gerne immer wieder ihren Accountnamen ändern und für Verwirrung bei anderen stiften wollte. Wenn ich erst einmal einen Namen hatte, sollte dieser auch bleiben. Und so würde ich es auch hier handhaben. Ein Name, mit dem ich klarkam: Aya.   Are you ready to enter?   Glück gehabt. Immerhin waren die einfachen Namen meist als erstes vergriffen oder aber, und das nahm ich jetzt an, es wurde über die registrierten E-Mail-Adressen unterschieden, so dass es kein Problem wäre, wenn noch hundert andere Ayas existierten? Zurück zur Frage – War ich bereit einzutreten? Ja, das war ich! Und ich sprach es nicht nur in Gedanken aus, sondern auch noch einmal laut, weil ich die Vorfreude spürte, die mich ergriff: „Yes!“ Welcome to SAO!   Der Bildschirm hatte sich wieder zu einer weißen Fläche verflüssigt, ehe die blaue Begrüßungsnachricht erschienen war. Daraufhin gab es einen Black. Als würde ich in Schlaf versunken sein. Keine Geräusche, Stille und dann... erste Stimmen, eine Kulisse aus verschiedenen Tönen, die mich an einen Marktplatz oder ähnliches erinnerten. Aber die Schwärze nahm nicht ab, warum nicht? Ich wollte sehen, was hier vor sich ging! Und zack, ich öffnete die Augen. Ah, na klar! Augen öffnen. Da sah ich sie. Die SAO-Welt. Farben strömten ein weiteres Mal auf mich ein und ebenso die Geräuschkulisse einer regen betriebenen Umgebung. Der Duft eines warmen Herbstnachmittages stieg mir in die Nase, eine Kombination aus Feuchtigkeit und leichtem Laubgeruch,. Als sich meine Augen an den Wechsel gewöhnt und wieder gelernt hatten zu fokussieren, bemerkte ich, dass ich auf einen großen Platz gelandet bin. Er war lichtdurchflutet und für mein Verständnis... ja... mittelalterlicher Natur? Vielleicht Hochmittelalter. Der Weg zu meinen Füßen war mit grauen Steinen gepflastert und als ich meinen Blick hob, erkannte ich links und rechts von mir ein Rondell, welches wie eine Art Mauer wirkte. Darüber hinweg konnte ich einige Gebäude und -dächer erkennen. Sandsteinfarben, beige, lehmfarben. Girlanden mit dunkelroten Wimpeln hingen an den Spitzen und ragten von der einen zur nächsten Häuserfront. Ich hatte mich zuvor gar nicht näher damit beschäftigt, in welcher Zeit das Spiel spielte, aber das würde ich nun wohl herausfinden müssen. Gucken konnte ich zumindest schon einmal. Riechen und hören ebenso. Ohne darüber nachzudenken, wie es wohl funktionierte, drehte ich meinen Kopf und sah, dass ich hier nicht die Einzige war. Weitere Leute hatten sich versammelt, sahen sich neugierig um, gerieten miteinander ins Reden oder aber begaben sich gleich auf den Weg ins Sonstwohin. Die meisten von ihn trugen ähnliche Kleidung: Schlichte Oberteile, lange oder kurze Hosen, ebenso schlichte dunkle Stiefel und vielleicht noch eine Tasche als Accessoire. Die Frauen hatten auch einmal ein etwa knielanges Kleid oder Rock an, doch waren die meisten so wie ich eher auf Pragmatik gerichtet. Auffällig war aber, dass wir alle eine Art Brustschild trugen, das uns wohl schützen sollte. Ich blickte auf meine Hände, drehte die Handinnenflächen zu mir. Sie waren schmaler als meine echten, fast schon mädchenhaft filigran. Das gefiel mir. Im realen Leben hatte ich nämlich durchaus immer mal wieder Probleme mit meinen eigenen, wenn es um das Gitarre- oder Violinespielen ging. Zu klein bzw. zu groß. Und ich mochte meine Fingernägel nicht. Nicht, dass das hier von Relevanz war, aber die Vorstellung, dass ich mit diesen hübschen Frauenhänden mich auch entsprechend feminin mit Nagelschmuck herrichten konnte, war eine nette Aussicht. Apropos Aussicht... Wie bewegte ich mich jetzt hier eigentlich fort? Wenn ich vorankommen wollte, sollte ich Fuß fassen und das wortwörtlich... Oh. Ein Schritt getan. Faszinierend. Wie auch immer das genau funktionierte – es tat es. Ich musste es nur denken und schon funktionierte ist. Vielleicht war das so ähnlich wie mit dem Träumen? In solchen rannte man ja auch keine Marathons und trotzdem kam es einem so vor, als würde man mitunter um den Globus laufen. Ich spürte durch die feste Sohle meiner Stiefel den Asphalt und die mit Erde gefüllten Zwischenzonen der angrenzenden Pflastersteine. Es war so als würde ich zu Hause gehen. Auch das Gefühl in diesem Körper war kein anderes als jenes meines eigenen. Ich fühlte mich nicht leichter, schwerer oder unmotorischer als sonst. Ich konnte ganz normal laufen. Vermutlich musste es lustig ausgesehen haben, wie ich zunächst Arme kreisen ließ und die Beine nacheinander seitlich streckte, meinen Rumpf leicht beugte und dann den Kopf drehte. Ich konnte mir nur eben einfach nicht vorstellen, dass das System all die Bewegungen so hervorragend erfassen und auf die Spielfigur zu übertragen wusste? Der Medizinjunkie in mir ging alles Wissen durch, was ich noch über die letzten fünf Jahre angesammelt hatte und blieb an dem Thema Gehirn hängen. Unser Kopf hat mehr als nur eine Masse Gewebe inne (das ihn unter anderem überhaupt erst so schwer werden lässt): Das Gehirn selbst ist nicht nur aus diversen Bauteilen zusammengesetzt, sondern trägt auch verschiedene Areale auf der Großhirnrinde, die jeder für sich eine Funktion inne haben. So befindet sich das Sehzentrum im Hinterkopf, während der motorische Komplex recht gut auf dem Haupt verteilt wurde. Hinsichtlich Motorik besitzen wir dann aber auch noch das Kleinhirn, welches für die feinen Abläufe und komplexen Bewegungsmuster angedacht ist. Und da wir ja auch noch Emotionen in uns haben – so wie ich jetzt vorfreudig, aber auch überrascht bin: Das limbische System, welches uns jene ermöglicht zu erleben. Wie konnte also ein Computersystem all das aufnehmen und in einem Spiel umsetzen? War das NerveGear solch ein hochkomplexes Gerät, dass die feinsten Hirnströme aufzuzeichnen wusste? Dann bräuchte man fortan die Menschen ja nur noch in ein Spiel wie SAO zu setzen, um neurologische Tests durchzuführen. Meine zweite Frage hingegen war dann allerdings, wie teuer das Ganze hier war? EEGs waren zwar immer noch günstiger als ein MRT, aber dennoch... wenn ich an die horrenden Preise für Geräte und Untersuchungen dachte, zog sich mir der Magen zusammen. „Hey Aya!“, wurde ich mit einem Mal laut und deutlich angesprochen und drehte mich zu der unbekannten Stimme um. Woher kannte derjenige meinen Namen? Ein Junge, der etwas kleiner war als ich und auch jüngere Gesichtszüge trug, stand mit einem großen Lächeln vor mir. So wie die anderen trug er Alltagskleidung in gedeckten Farben, wie ich die Klamotten fortan nennen wollte, hatte kastanienbraune kurze Haare und anthrazitfarbene Augen. Eine Stupsnase begleitete seine Lippen und sein übriges Gesicht, als er mir entgegenstrahlte. „Hallo, eh...“ Wie hieß er? Ich suchte nach einer Antwort, aber er gab sie mir von allein: „Ich bin Haia!“ „Eh... Hallo Haia?“ Der nun Angesprochene nickte. „Steht oben links. Die Namensanzeige derer, die du hier siehst, wenn du sie einblendest.“ Namensanzeige? Ich war irritiert, aber kaum hatte der Junge diese Sache angesprochen, zeigten sich mir die diversen Anzeigen anderer Anwesenden über deren Köpfe mit einem je grünen geschwungenen Balken darunter. So war das also... klar, dass er da meinen Namen wusste. „Wollen wir ein bisschen die Stadt erkunden?“, fragte er mich da ganz direkt, „Das ist die Anfangsstadt, hier können wir uns noch etwas kaufen, bevor es losgeht!“ Was mich jetzt aber noch mehr irritierte war die Tatsache, dass er mich ohne Probleme verstand. Ob das Spiel wohl automatisch in die Sprache des Spielers übersetzte, wenn sich zwei begegneten? Oder hatte ich just Glück, dass Haia Englisch sprach? Kleine Details, die meine Aufmerksamkeit verlangten. Gerade war es aber mein Gegenüber, dem ich mich zuwenden sollte: „Anfangsstadt? Sowas... wie eine Sicherheitszone? U-Und wieso wir?“ Haia sah mich mit perplexen Augen an und musste dann lachen. Ich verzog daraufhin die Lippen zu einer Schnute. Ja, ich war nicht vorbereitet, wo doch Vorbereitung alles war. „Kann man so sagen. Du spielst nicht oft solche Spiele oder?“ „So gut wie nie“, musste ich gestehen und fühlte mich nun doch ein wenig beklommen. Meine Augen richteten sich auf die Spieler um uns und mit einem Mal kam ich mir doch recht klein vor. Vermutlich waren alle anderen hellauf begeisterte Zocker und solche ich-spiele-mal-wenn-es-passt Menschen wie mich bildeten eine kleine Randgruppe. „Macht nichts! Komm mit! Das ist lustiger als alleine unterwegs zu sein. Wirst du später noch oft genug. Es kann nicht schaden, Bekanntschaften zu schließen.“ Ich hatte eh nichts besseres zu tun und mein Kopf sagte mir, dass es schlauer wäre jemanden zu folgen, der ein bisschen Ahnung hatte, der damit eventuell direkt ein Freund würde. Denn auch wenn ich selten spielte wusste ich, dass es wichtig war, Allianzen und Bündnisse einzugehen, weil man sonst vielleicht in einem Level nicht weiterkommen konnte. Das hatte ich oft genug bei diesen Onlinespielen mit Drachenaufzucht und anderen Missionen gegen Orks und Co. bei Freunden gesehen. „Ich hab um ehrlich zu sein mir nicht mal angeguckt, worum es bei SAO direkt geht. Mein Gastbruder hat mir erlaubt, sein NerveGear zu benutzen“, erklärte ich dann, weil ich fand, dass es besser wäre, mit offenen Karten zu spielen. „Gastbruder?“, warf Haia seinen Kopf über die Schulter zu mir als er sich in Bewegung setzte, „Wo kommst du her?“ „Deutschland.“ „Cool und du bist jetzt hier in Japan?“ „Ja, seit gestern.“ „Wow. Machst du einen Schüleraustausch?“ Mein Alter konnte man also wohl nicht so einfach erkennen. Ich schüttelte den Kopf und straffte dann etwas die Schultern. „Nein, ein Work and Travel. Für einen Schüleraustausch bin ich zu alt. 28.“ - Bevor er fragte. Dennoch drehte sich der Junge mit dem Wuschelkopf erschrocken zu mir um. „Du bist wie alt?“ „28.“ „Nie im Leben!“ „Ehm... doch schon.“ „Das sieht man dir gar nicht an!“ Ich war perplex, weil ich nicht gedacht hätte, dass jemand hier solche Schlüsse ziehen würde wie ich sie sonst immer zu hören bekam. Mein Mund zog sich zu einem rechtsseitigen Lächeln hoch. Ein kleines Schmunzeln, weil ich nicht wusste, was ich aus dieser Aussage ziehen sollte. „Na ja... Wir sind hier doch in einem Spiel... Da... sieht man das doch eh nicht oder? Wegen den Spielfiguren?“ „Du meinst die Avatare?“ Ah, Avatare also. Okay, umdenken. „Nein... das... würde man dennoch sehen. Guck mal, der alte Typ da hinten?“ Haia deutete auf einen vollbäuchigen Kerl um die 50, der einen grauen Rauschebart trug, „Das NerveGear tastet deine tatsächliche Bio ab und gibt dir so einen Spielrahmen für dein Erscheinungsbild. Du kannst keine 80 sein, aber wie ein 20jähriger rumlaufen.“ „Das heißt... das NerveGear untersucht auch unsere DNA?“ Kaum zu glauben. „Weiß nicht, ob es so weit geht, aber dein Ava ist deinen Genen schon ein bisschen angepasst, ja.“ Wow. Das wurde immer verrückter. Ich sah mich um, wollte jetzt unbedingt in einen Spiegel gucken. Mein Begleiter bemerkte meine aufkommende Neugier und hielt kurz inne: „Ich weiß was! Lass uns in die Einkaufsstraßen gehen! Da können wir uns gleich ausrüsten und irgendwo wirst du bestimmt auch dein Spiegelbild sehen können, okay?“ Anscheinend war ich mal wieder wirklich wie ein offenes Buch zu lesen. Gefiel mir gar nicht, aber auf der anderen Seite war Haia deswegen auch nicht abgeneigt von meiner Anwesenheit... Nun, da konnte ich nicht Nein sagen. Da wollte ich nicht Nein sagen. Ich folgte dem Jüngeren und sah mich auf unserem Weg neugierig um. Die meisten anderen Anwesenden waren in ihren eigenen Beschäftigungen konzentriert und nur wenige zeigten sich mit offenen Blick, so wie ich es gerade tat. Verschiedene Stände reihten sich wie bei einem Markt aneinander und sorgten so für ein buntes Treiben in den dargebotenen Artikeln. Von Kleidungsstücken, über Nahrung, bis hin zu Accessoires und sogar Haushaltsartikel gab es hier einige Dinge, die man erstehen konnte. „Schau mal da! Die führen Spiegel!“ Ich wunderte mich und fragte mich zugleich, was wohl die Funktion von Handspiegeln oder Pfannen wäre (soweit man sie nicht als Notfallwaffen missbrauchen wollte?) , aber schon bald würde mir klarwerden, dass nicht alles nur auf die einzelnen Level und Level-Ups eines Spielcharakters zielte, sondern man sich für etwas Geld entsprechend auch zusätzlich ausrüsten konnte, wenn man wollte. Wie eine Art Gimmick und wie eben im echten Leben. Man brauchte es nicht, aber man könnte es sich zulegen. Und dass man sogar kochen können würde, war mir als Gedanke noch vollkommen fremd. Das war mir in diesem Moment aber auch egal. Ich wollte wirklich nur einen Blick in den Spiegel werfen – ganz gleich, was dessen Fähigkeiten wären. Lief ich wirklich als dieser Avatar herum, den ich mir selbst erstellt hatte? An einem Stand machten wir schließlich Halt und der Besitzer lächelte uns herzlich an. Natürlich witterte er in uns potenzielle Käufer und gab sich so von seiner besten Seite: „Herzlich Willkommen! Seht euch ruhig in aller Ruhe um!“ Ich erwiderte den Gruß und nickte ihm mit einem Lächeln zu, als mein Blick dann über die Tischplatte glitt. Auf einem grauen Stofftuch lagen diverse Accessoires. Haarreifen, Broschen, Halsketten... Ich traute es mich nicht zu fragen, ob diese Accessoires alle auch einen Nutzen trugen oder schlicht gut an einem aussehen sollten. Von damaligen Rollenspielen kannte ich es, dass diese Dinge einem bestimmte Statuswerte erhöhten und somit veränderten. Ich hätte mich eindeutig mehr mit SAO beschäftigen sollen, bevor ich diese Welt betrat... aber Scheibenkleister. Nun war es auch zu spät. Vielleicht sah der Verkäufer, ein Mann in den mittleren Jahren mit lichten erdbeerblonden Haar und stämmiger Statur, meine Unsicherheit, so dass er von sich aus auf dieses Thema zu sprechen kam. Abgeneigt war ich nicht, da ich so ein paar Wissenslücken zu füllen wusste. Haia war an der anderen Ecke des Standes und inspizierte ein paar Waren, hielt jeweils eine in der linken und eine in der rechten Hand. Ich konnte aus dem Augenwinkel nicht erkennen, was es war, widmete mich dann aber lieber auch dem fremden Mann vor mir, der mich angesprochen hatte. Alles andere wäre unhöflich gewesen. „Vielleicht kann ich behilflich sein? Ich habe heute Anthrazitohrringe im Angebot. Sie verbessern Ihre HP und zudem würden Ihnen gewiss gut stehen!“ Ich betrachtete die tropfenförmigen Anhänger der von ihm gezeigten Ohrringe und zog unsicher die Lippen zu einer schmalen Linie. Nicht unbedingt mein Stil... vor allem aber auch nicht unbedingt das, was ich mir als erstes kaufen könnte und wollte. Der Preis betrug 300 Cor. Ich könnte es mir leisten, aber... andere Dinge wären vielleicht erst einmal wichtiger? „Haben Sie auch... einen Spiegel? So... einen Handspiegel vielleicht?“ Der Verkäufer wirkte zunächst überrascht, bejahte dann aber und bat mich einen kurzen Moment zu warten, damit er das gesuchte Objekt hervorholen könnte. In weniger als einer Minute hielt ich daraufhin einen kleinen ovalen Spiegel in meinen Händen, welcher mit floralen, filigranen Ausarbeitungen am Metallrand besetzt war. Die Gravuren erinnerten an Elfen, welche mit Blüten geschmückt waren. Vorsichtig schwenkte ich die Oberfläche in mein Blickfeld, so dass ich einen Eindruck meiner Selbst bekam. Ich versuchte, nicht zu viel Überraschung zu zeigen, was allerdings durchaus schwierig war, denn meine Augen wurden merklich größer: Mein Spiegelbild war wirklich exakt der Avatar, den ich mir gestaltet hatte. Die Gesichtszüge, die Haare, … nichts erinnerte mehr an den Menschen, der ich im realen Leben war. Irgendwie gruselig. Und das, obwohl ich mich ganz normal fühlte. „Dieser Spiegel kostet 50 Cor. Das ist ein Sonderangebot! Normalerweise würde ich ihn für 200 Cor verkaufen, aber heute ist ein besonderer Tag und deswegen gibt es ihn für weniger als die Hälfte!“ Die Worte des Verkäufers gingen in meine Ohren rein und gleich wieder raus. Ich hatte nun einen Blick auf mein jetziges Ich werfen können und das genügte mir. Belangloses Shopping hatte noch nie zu meinem Repertoire gehört und würde es auch jetzt nicht. Ich bedankte mich, gab den Spiegel zurück und gesellte mich dann zu Haia, welcher hier ebenso wenig fündig wurde. Ihn konnte ich fragen, ohne dass er mir etwas aufschwatzen wollte, und erkundigte mich so, ob er wüsste, was ich mir vielleicht anschaffen sollte. So zu Beginn. Haia runzelte die Stirn, betrachtete mich von oben und bis unten und legte dann den Kopf schief, die Arme vor der Brust verschränkt. „Hast du andere Spiele dieser Art schon mal gespielt?“, fragte er mich, als wir dann an einem weiteren Stand vorbeikamen, welcher in erster Linie Haushaltswaren und ähnliches vorzuzeigen hatte. „Nicht direkt“, gab ich unschlüssig von mir, „Ich hab ein paar RPGs gespielt... sowas wie... Kingdom Hearts I und II oder Final Fantasy X.“ Der Junge sah mich mit einem Mal wie entgeistert an. „Kingdom Hearts? FFX?“ „Eh... ja?“ War das so außergewöhnlich? Es war doch erst ein neuer geupdateter Teil von KH und ebenso ein Remake für den PC von FFX und FFX-2 erschienen... Oder war er überrascht, weil ich diese Spiele überhaupt kannte? Als Europäer? Nein... die gingen doch um die ganze Welt! „Das ist doch uralt!“, fuhr er nun sogar auf und musste lachen, „Das spielt doch heute keiner mehr!“ „Eh... also bei uns schon“, musste ich widersprechen. „Seid ihr so zurückgeblieben, was Games betrifft? Wow. Hätte ich nicht gedacht!“ Damit wandte er mir lachend den Rücken zu und scharwenzelte weiter umher. Meine Augenbrauen zogen sich nun skeptisch zusammen, als ich ihm nun wieder folgte. „Vor einem Jahr erschien doch erste eine Version für den Computer. Und der neuste Teil ist von Kingdom Hearts ist doch brandaktuell?“ „Für euch vielleicht. Wenn ihr 2016 stecken geblieben seid.“ Ich kapierte gar nichts mehr. Vermutlich aber war Japan einfach nur noch rasanter, als ich angenommen hatte?   Unser Rundgang endete schließlich und wir hatten sogar ein paar Einkäufe getätigt: Ich hatte mir auf Haias Anraten Nahrung, zwei Äpfel und ein Brot, geleistet und hinsichtlich weiterer Ausstattung noch gewartet. In einem der Geschäfte hatte es aber ein Sonderangebot für Kristalle gegeben. Normalerweise seien die übermenschlich teuer, aber da heute der Eröffnungstag für SAO war, erhielt jeder Spieler einen Antidotkristall nahezu für umsonst. Während unserer kleinen Tour bekam ich das Gefühl nicht los, dass sich Haia viel zu gut für einen Anfänger in dem Spiel auskannte. Er verlief sich nicht, ging schnurstracks auf die richtigen Händler und zu schien auch so eine Menge Hintergrundwissen zu besitzen. Ob er wohl auch ein Beta-Tester wie mein Gastbruder war? Vielleicht... sollte ich ihn einfach fragen? Wir saßen nun auf einer Treppe, die zu einem kleinen Kanalgerinnsel der Stadt hinabführte und tranken dort einen Tee, den wir uns gekauft hatten. Langsam aber sicher bekam ich zumindest ein bisschen Ahnung davon, wie viel das Geld, die Cor, die wert waren und was man für wie viel bekam. Ich vermutete, dass es mit der Zeit teurer werden würde, man dafür aber auch gewiss mehr erlangen könnte. Schließlich meinen Mut zusammennehmend, sprach ich die Frage einfach aus, die mir auf der Zunge lag: „Sag mal... bist du auch einer der Beta-Tester?“ Haia sah mich an und lächelte dann ertappt. „Nun ja... Ja.“ „Ah cool. Mein Gastbruder ist auch einer. Man merkt, dass du dich hier auskennst.“ Mit den Schultern zuckend, nippte er noch einmal an seinem Tee und setzte dann ab: „Wenn du das Prinzip erst einmal begriffen hast, ist es gar nicht so schwer.“ „Mhm“, machte ich und trank ebenso einen Schluck. „Weißt du, dass du Partien bilden kannst?“, warf Haiah dann ein, „Gefährten finden?“ „Oh... sowas wie Gilden meinst du?“ Das kannte ich zumindest. Haia nickte. „Ja, du wirst im Laufe des Spiels auch nicht drum herum kommen, denke ich. In der Testphase mussten wir das zumindest ausprobieren. Es klappt ganz gut. Du kannst dich mit Freunden verknüpfen lassen, so wie in sozialen Netzwerken.“ Wir schwiegen einen Moment und ich schaute in den frühen Nachmittagshimmel. Kaum eine Wolke zog sich durch diesen und wir saßen hier etwas fernab des Trubels. „Was... hältst du davon, wenn ich dir ein bisschen mit den Basics helfe?“ Überrascht zu ihm aufschauend, sah ich Haia lächeln, „Du scheinst sehr neu zu sein und es kann nicht schaden, wenn du zumindest weißt, wie man kämpft oder Kämpfen aus dem Weg geht und wie man seine Waffe einsetzt, oder?“ Er nickte zu meinem Schwert, welches ich auf dem Rücken in der Schwertscheide gesteckt trug. Das hatte ich schon fast vergessen. Ich hatte mich zu Beginn des Spiels zwar dafür entschieden, aber inzwischen waren schon wieder so viele Eindrücke auf mich eingeströmt, dass ich meine Waffe vollkommen ausgeblendet hatte. Dies konnte ich auch im normalen Leben ziemlich gut, wenn mich etwas vollkommen in seinen Bann zog – da verlor ich schon mal meine Orientierung oder wichtige Dinge, die ich hatte erledigen sollen. Das Ostfeld . Ein kleiner Fußmarsch von vielleicht einer halben Stunde, in der ich allerdings die Stadt noch besser kennenlernen konnte. Gemeinsam mit Haia war es ein Leichtes, mir wichtige Orte und Spielinhalte einzuprägen. Strukturen wie Geschäfte und Werkstätte oder Unterbringungen. Die Bauten waren alle recht alt, so wie auch schon das Rondell zuvor. Sehr mittelalterlich oder auch fantasybelastet. Wimpelzüge, diverse Überbrückungen aus Steinmauern, Türme mit runden, zylinderähnliche Dächer und hier und da versteckte Seitengassen, die wiederum in andere Ecken des Ortes führten. Die diversen Läden, Schenken und Stände der Ladenbesitzer. Schmieden, Schneider und selbst Floristen fanden hier Platz. Obwohl mir niemand begegnete, der einem anderen Spieleavatar glich und jeder so einzigartig in diese Welt geworfen wurde, passte doch irgendwo alles zusammen. Mein zunächst neugieriger Gesichtsausdruck verlor sich und ließ nun einen gespannten und interessierten zu. Ich fand langsam Spaß daran, dass ich hier durch die SAO-Welt gehen und neue Abenteuer erleben durfte. Vielleicht würde mich Keiichi noch öfter spielen lassen, wenn ich nett darum bat? Nun mehr allerdings sahen wir einer weiten grünen Fläche entgegen. Eine wildwachsende Wiese mit einem Sandpfad, der zu neuen Ortschaften führen würde. Was mein Aufmerksamkeit jedoch eindeutig auf sich lenkte, waren die schwebenden Inseln im Himmel. „Sind das weitere Welten?“, deutete ich mit dem Zeigefinger auf diese Himmelskörper, woraufhin auch Haia hinsah und dann mehr oder weniger nickte. „Kennst du die Geschichte, die sich hinter SAO versteckt?“ Ich musste den Kopf schütteln, so dass er zu erklären begann, „Die Welt sei nach den Legenden der Dunklen Elfen in verschiedene Teile geteilt worden: das Waldelfenreich Kales'Oh, das dunkle Elfenreich Lyusula, dir Menschenallianz der Neun Königreiche, das Untergrundreich der Zwerge und noch andere. Eines Tages wurden verschiedene Regionen der Welt in Ebenen geschnitten und in den Himmel geschickt. Diese kegelförmige Anordnung bildet Aincrad, wo wir uns jetzt befinden. Einhundert Ebenen mit unterschiedlichen Städten, Dörfern, Bergen, Tälern und Seen.“ „Aincrad also...“ „An Incarnating Radius.“ „Das ist der volle Name?“ „Ja. Oh, das trifft sich gut! Sieh' mal da!“ Haia hatte seine Erklärungen für das erste beendet und deutete auf etwa dreißig Meter von uns entfernt. Ein gräulich-schwarzes Tier graste, steckte seinen Kopf zu Boden und schien wie auf Trüffelsuche zu sein. Es erinnerte mich an ein Wildschwein. Nur... minimal größer? „Was... ist damit?“, wunderte ich mich über das seltsame Tier, welches beim genauen Hinsehen rote Augen aufwies. Es wirkte friedlich, aber diese Augenfarbe erinnerte mich daran, dass Rot in Spielen meist etwas Schlechtes bedeutete. „Das ist ein Gegner.“ „Verstehe...“ Ich legte die Hand wie automatisch an den Griff meines Schwertes und zog es etwas ungeschickt aus seiner Schwertscheide. Zum Glück war es nicht übermäßig schwer, aber hatte dennoch genug Gewicht in meinen Händen, als dass ich es nicht gleich wegzuwerfen wusste. „Warte, nicht so schnell!“, hielt mich Haia an der Schulter zurück, „Überleg' dir genau, wie du deinen Gegner am besten triffst!“ Ich sah zu meinem Begleiter und dann wieder zum Wildschwein. Stimmt... ich wusste gar nicht, was ich hier tat. Das Ergreifen der Waffe war zwar eine einfache Reaktion meinerseits gewesen, aber die Bewegungsabläufe waren mir fremd. Keep calm. Nur, weil ich Kingdom Hearts und Basara zu spielen wusste, bedeutete es nicht, dass es hier genauso klappte. Ich hatte kein Gamepad in der Hand und daran sollte ich vielleicht denken. „Meinst du sowas wie... der wunde Punkt?“, versuchte ich den Satz meines Begleiters richtig zu deuten und ließ dabei das Wildschwein nicht aus den Augen. „Auch. Aber wichtig ist, wie du angreifst. Wenn du die richtige Bewegung initiierst, wird das System dieses mit der Technik kombinieren.“ „Sowas wie... eh... Synapsenschaltung?“ Irgendwie redeten wir aneinander vorbei. Zumindest war das kurzweilige Schweigen Zeichen für mich, dass dem so war. Haia pustete überfordert die Luft aus und rieb sich dann nachdenklich das Kinn. „Eh... also... du wirst es merken, wenn sich das Skill aktiviert. Dann kannst du es regelrecht... herausbrechen lassen?“ Okay... das klang kompliziert. Wie sollte das jetzt genau funktionieren? „Probiere es einfach aus!“ Haia nahm die Finger an die Lippen und führte einen kräftigen Pfiff aus. Kräftig genug, als dass das Wildschwein aufmerksam auf uns wurde und seine Nase rümpfte. Das reichte dem Jungen neben mir aber noch nicht und so hob er einen Stein auf und warf ihn nach dem Tier. „H-Hey, was-“, wollte ich ihn noch davon abhalten, aber zu spät: Unser bisher so friedliche Gegner wurde getroffen und scharrte daraufhin nur wenige Sekunden später sauer mit den Hufen, um sich zielsicher auf uns zuzubewegen. Erst Schritt für Schritt, Huf um Huf, aber schließlich für seine Verhältnisse rennend, was mich ganz und gar nicht erfreute. „Viel Erfolg!“, sprang Haia zudem noch aus der Ziellinie und ließ mich damit vollkommen allein. Ich hatte nicht einmal Zeit, mich zu beschweren, da musste ich dem Ding auch schon irgendwie ausweichen. Oder versuchte es zumindest, in dem ich zur Seite stolperte. Es erwischte mich mit seinen Hauern nicht, aber ich wusste in dem Moment schon, dass ich gerade auf ziemlich verlorenem Posten dastand. Ich wirbelte herum, um herauszufinden, wo sich das Vieh befand, ob es sich bereits daran machte, mich erneut mit seinen unteren Eckzähnen zu attackieren. Mutig schwang ich das Schwert nach vorne, hielt es vor mich, aber in der letzten Sekunde wich ich dann doch lieber ein zweites Mal aus. Ich fiel ins Gras, konnte aber nicht einmal darauf achten, ob ich mich verletzt hatte. So konnte das nicht weitergehen. Haia wollte, dass ich das Kämpfen in SAO lernte, also musste ich kämpfen. Aber wie denn nun? Sollte ich den Angriff parieren? In Spielen klappte das doch immer so? Nein... dafür müsste ich schon ein gutes Timing haben und bisher konnte ich nur gut genug ausweichen. Danke Reflexe, die ihr mir immer gesegnet ward. Seit dem Völkerball in der Grundschule. Das Wildschwein drehte sich gerade zu mir um, begutachtete mich ein weiteres Mal, doch... war es das? Es tat nichts weiter? So als ob es... einfach das Interesse verlor? Ja... es interessierte sich nicht für mich. Es steckte den Kopf wieder ins Gras und begann zu schnüffeln. Weil ich es nicht wert war. Prima. Von einem Wildschwein gedisst. Ich gab es nicht gerne zu, aber es ärgerte mich. Zwar konnte ich so einmal verschnaufen und mir vielleicht auch eine Strategie zurechtlegen, aber dennoch... es ärgerte mich extrem. Also noch einmal... was hatte Haia gesagt? Das System bekam es mit, wenn man versuchte zu agieren? Sollte ich mich jetzt mit diesem unterhalten oder wie? Liebes System, ich will angreifen. Lass mich bitte angreifen! Das war bestimmt nicht das, was benötigt war, aber... was sollte ich sonst tun? Ein Versuch war es zumindest wert. … Fehlgeschlagen. Ich runzelte die Stirn, betrachtete das Schwert zu meinen Händen, sah dann auf meine Hände selbst, auf meine Füße und schließlich wieder nach vorne. Vielleicht müsste ich mich nur so auf meine Bewegungen konzentrieren, wie ich es bei meine Yogaübungen mit meinem Atem tat? Ich atmete also ein, konzentrierte mich so gut es ging auf diesen, fokussierte aber all meine Kraft und Bewegung auf meine Hand, die das Schwert hielt, und versuchte mir vorzustellen, dass meine Energie auf die Klinge überging. Besser wäre es gewesen, die Augen zu schließen, aber ich traute dem Frieden nicht und rechnete eher noch damit, dass das Vieh mich hinterrücks angreifen würde, wenn ich es eben auf solch dumme Art zuließ. Stell dir einfach vor, du kannst vorpreschen. Du kannst auf dieses Ding vorpreschen und treffen. Immer wieder sprach ich diese zwei Sätze als Mantra stumm vor mich her. Immer und immer wieder. Und dann... ganz plötzlich, war es, als hätte ich eine Kette durchbrochen, die mir meine Fertigkeiten vorenthalten hatte: die Klinge meines Schwertes begann für einen Moment Orangegelb aufzuglimmen. Meine Beine bewegten sich wie von alleine nach vorne, auf meinen Gegner zu und ohne nachzudenken holte ich mit meinem rechten Arm Schwung, stach mit der Klinge in dem Moment nach vorne, als mich das Schwein bemerkte und ansah. Ein sauberer Schnitt führte durch den Körper des Wesens, hinterließ eine rote Spur aus digitalen Fragmenten und ließ meinen Gegner schließlich in hunderte von kristallblauen Splittern zerbarsten, die in die Luft stiegen und dahinflirrten. Ich hatte es nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen, aber doch... war es das gewesen? Ungläubig drehte ich mich langsam auf dem Absatz um. Da stand kein Wildschwein mehr. Einzig und allein ein kleines Fenster zeigte mir mein Result an: Exp, Cor und Items. So war das also – natürlich. Wie bei anderen Spielen auch erlangte man Erfahrungspunkte, Geld und Items, in dem man Gegner besiegte und konnte somit sein eigenes Level steigern. Die Ausbeute für das Besiegen des Wildschweines war nicht gerade die Beste, aber dafür, dass es mein erster Sieg war, war ich schon irgendwo ein bisschen stolz auf mich. 25 Exp und 40 Cor waren doch ein Anfang? Nachdem ich realisiert hatte, dass mir das wirklich gelungen war – auch wenn ich noch an mehr Zufall als alles andere dachte – schaute ich in Richtung Haias, welcher nun mit in die Hüften gestemmten Händen auf mich zukam. „Nicht schlecht, Gratulation! Davon jetzt noch 30 weitere und du hast den Bogen raus.“ Eh... Mein Grienen, das sich auf meine Lippen gelegt hatte, verschwand. Das war nämlich etwas, was ich nie hatte leiden können.... Leveln... Und nun... musste ich auch noch mich selbst leveln. „Was denn? Ohne Fleiß, kein Preis!“, lachte Haia und rieb sich dann die Nase, „Du musst in deinen Bewegungen flüssiger werden. Das eben war nur ein Glückstreffer!“ Erwischt... so und nicht anders sah es nämlich wirklich aus. „Komm, wir suchen noch nach ein paar weiteren Gegnern!“ Die Zeit verging im Nu, als wir uns schließlich zur Abenddämmerung wieder mehr den Stadttoren näherten und dabei streckten und reckten. Wir hatten beide trainiert, Haia hatte mir verschiedene Tipps und Tricks gezeigt. Auch, wenn einem zwar keine Schmerzen dank der Ausschaltung jenes Empfindens zuteil wurden, so schien sich mir aber dennoch die Müdigkeit zu zeigen. Außerdem hatte ich festgestellt, dass es fast 18 Uhr war. Keiichi würde bald zu Hause sein und damit müsste ich offline gehen. Allerdings... hatte ich Haia bereits versprochen, wiederzukommen. Obwohl ich natürlich nicht in erster Linie nach Japan geflogen bin, um ein Onlinegame zu spielen, so war ich dennoch ziemlich froh, hier bereits jemanden gefunden zu haben, mit dem ich neben meiner Gastfamilie reden konnte. Und das dank des Sprachtools ganz unkompliziert auf Deutsch. Es gab mir ein bisschen Heimatgefühl wieder. Denn jetzt, wo der Tag sich zu Ende neigte und das Sonnenlicht der ganzen Umgebung von Aincrad einen leicht melancholischen Touch verpasste, kam auch in mir ein bisschen Heimweh auf. Hier im Spiel zu stecken, löste natürlich nicht das Distanzproblem, welches mich die nächsten Monate begleiten würde, aber es ließ mich näher einer gewissen Person fühlen, dank der ich in der letzten Zeit so einiges über Videospiele gelernt und mich wieder für begeistert hatte. Es ließ mein Herz leichter werden und nicht so schwermütig schlagen. Beinahe so, als würde es mich mit meinen Freunden verbinden, die ich bereits auf dem Flug zu vermissen begonnen hatte. „Okay, dann... sehen wir uns morgen oder so?“, fragte ich Haia, welcher nickte. Ich rief das Menü mit einer Handbewegung von oben nach unten auf – das hatte ich nun auch begriffen – und blickte auf die Optionen. Logout... da war Türsymbol. Ich tippte drauf, erwartete einen Black oder irgendetwas, aber nichts passierte. „Hä?“ „Was ist?“ „Ich kann mich nicht ausloggen?“ „Ach Quatsch, versuch es nochmal. Ganz unten“, winkte Haia ab und ging dann ins eigene Menü, nur um daraufhin irritiert dreinzuschauen, „Ist... wirklich nicht da?“ Also hatte ich nichts übersehen. Der Logout-Button war zwar vorhanden, aber es passierte nichts, wenn man darauf tippte. Wir beide schwiegen und ich beobachtete, wie mein Gegenüber sichtlich verwundert durch das gesamte Menü scrollte, die Hilfsoption aufrief, aber auch hier nicht weiterkam. „Das ist seltsam...“, murmelte er mehr zu sich selbst als zu mir. Zum ersten Mal an diesem Tag sah ich ihn mit diesem ernsten Ausdruck im Gesicht. Normalerweise ließ ich mich nicht so schnell aus dem Konzept bringen, aber diese 180 Grad Wendung meines neuen Bekannten, der zudem noch ein Beta-Tester war und besser als andere Bescheid wusste, machte mir schon ein bisschen Sorgen. „Können wir... nicht irgendwas anderes tun? Vielleicht dahin zurückgehen, wo wir herkamen und dann eh... dort einen der Admins oder so fragen?“, versuchte ich logisch an die Sache ranzugehen. Es musste ja irgendeinen Weg geben. Nur nicht die Pferde Scheu machen – ganz gleich, was mir mein Bauchgefühl gerade mitteilen wollte. „Du meinst Gamemaster?“, verbesserte mich Haia, „Hab ich schon versucht. Da ist kein Durchkommen.“ Ich verstand zwar nicht, was er genau mit Durchkommen meinte, ließ dies für den Moment aber einfach stehen. „Was... dann?“ „Keine Ahnung. Du kannst dich nur über das Menü ausloggen oder wenn dir jemand das NerveGear abnimmt.“ Reflexartig atmete ich einen Kloß in meinem Hals weg, als er mit diesem zweiten Teil der Antwort kam. „Dann... ist es also gar nicht so schlimm?“ Haia warf mir nun mehr einen Blick zu, der zwischen Wie doof bist du eigentlich? und Schön wär's! schwankte. Da fiel dann auch der Groschen bei mir. Ich konnte warten, bis mir zum Beispiel Keiichi diesen Helm abnahm, aber bei anderen wäre das nicht der Fall. Diejenigen, die alleine lebten. Und damit vielleicht auch Haia? „Du... kannst mir doch deine Adresse verraten und dann sorge ich dafür, dass du hier ebenso rauskommst!“, schlug ich als erste Idee vor. „Nett gedacht, aber was machst du mit all den anderen Spielern?“ „Nun ja... bis dahin... wird dieser Fehler doch behoben sein?“ Ich konnte mir selbst nicht ganz glauben und musste dem Jungen mit den kastanienbraunen Haaren zustimmen, dass ich gerade ziemlich naiv dachte. Jeder, der schon öfter als einmal im Internet war, wusste, dass solche technischen Probleme durchaus eine Server-Maintenance von ein, zwei Tagen verursachen konnten. Das wäre nicht so schlimm, würde es sich um ein normales Onlinespiel handeln, aber hier, wo jeder gewissermaßen mit seinem Körper verknüpft war? Wir beide kamen gar nicht mehr dazu, länger zu grübeln oder gar noch in Streit zu verfallen: Ein dumpfes Glockenläuten ertönte über unseren Köpfen. Es kam aus der Stadt und erfüllte die gesamte Atmosphäre um uns herum. Es musste jetzt wohl sechs Uhr sein? Aber das Läuten endete nicht mit dem sechsten Schlag, sondern setzte sich fort und das war nicht die einzige Überraschung nachdem wir hier schon nicht mehr wegkamen: Bevor wir uns versahen, tauchte unsere Umgebung sich in ein weißes Licht und als ich die Augen wieder öffnete, die ich wegen der Helligkeit zusammengekniffen hatte... stand ich mit einem Mal erneut auf dem großen Platz von heute Vormittag. Ebenso wenig allein wie zuvor. Ebenso viele Menschen um mich herum wie zuvor. Haia neben mir. War das Absicht? Wollten sich die Admins – nein, Gamemaster – melden und den Bug beheben? „Zwangsteleport?“ „Was ist hier los?“ „Was denn nun?“ „Das ist bestimmt eine Zeremonie oder sowas!“ „Lass' uns gehen!“ Vielerlei Stimmen drangen an mein Ohr und ich merkte, wie mir von all diesem Gemurmel ein bisschen drieslig wurde. Was ging hier vor sich? Warum... hatte ich das Gefühl, dass das kein gutes Zeichen war? Das Glockenläuten verhallte, nicht aber die Aufregung der Menschen. Wenn das jetzt das Ende für den Prolog des Spiels darstellen sollte... dann hatten die Spielemacher eindeutig einen mehr als guten Eindruck hinterlassen. Aber... könnten sie uns jetzt bitte auch nach Hause lassen? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)