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Verborgen in Stille Teil II

von

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Der Prozess

Hallo ihr Lieben,
 

soooooo, hier ist das Kapitel, was mir am meisten Kopfzerbrechen bis jetzt gemacht hat. Es hat mich fast drei Wochen regelmäßiger Recherche gekostet. Mit meiner besten Freundin (Grüße an dieser Stelle) und meiner Betalesernin, da die eine gut Englisch kann und die andere sich sehr gut im rechtlichen Kontext auskennt! Ich hoffe, einfach Mal, dass sich die Mühen gelohnt haben. Ich hab versucht es so gut es ging, mich an die Grundlagen der USA zu halten.

Des Weiteren würde es mich brennend interessieren, wie ihr genau dieses Kapitel fandet, eben auch wegen der langen Recherche. Ich hab nie so etwas gelesen noch geschrieben. So genug gequatscht! Viel Spaß beim Lesen!
 

Liebe Grüße Strich
 

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Ich war verblüfft, ja fast schon erschrocken, als ich die Drei dort stehen sah. Alle Blicke auf mich geheftet. In allen Augen die regelrechte Verachtung! Es war eine Wohltat Jacks kräftige Hand auf meiner Schulter zu spüren und ich sah, wie die Augen meines Vaters sich fast schon erschrocken weiteten. Blankes Entsetzen war auf seinem Gesicht eingemeißelt und er drehte sich weg von uns. Innerlich seufzte ich auf. Ich hatte keine genaue Vorstellung, was genau Jack damals mit meinem Vater gemacht hatte, doch es hatte ihn bis heute beeindruckt. Es wirkte fast so, als zog er sich zurück, schützend hinter meine Brüder. Hinter uns waren Schritte zu hören, ich drehte mich um und sah einen Mann im dunkelblauen Anzug auf uns zukommen. „ Guten Tag Mr. Hale“, sagte er in geschäftigem Ton und zögerlich nickte ich. Er stellte sich als Staatsanwalt vor.

Gleich reichte mir der Mann seine Hand, an welcher ich eine wohl ziemlich teure Armbanduhr funkeln sah. An seinem Ringfinger glänzte ein schlichter goldener Ring. Er trug eine dieser auffälligen Nerdbrillen, doch sie stand ihm. „Mr. Shepard.“, sagte ich höflich und er stellte seine lederne Aktentasche auf den Boden. Er reichte noch Jack die Hand. „Schön, dass sie so pünktlich sind. Ich habe gestern noch mit Ihrer Mutter gesprochen. Sie wollte nicht kommen und ich habe ihr eindeutig zu verstehen gegeben, dass sie kommen muss, ansonsten wird die Verhandlung vertagt. Auch die schriftliche Aussage ihres alten Nachbarn habe ich... Ich hoffe, es reicht. Schriftliche Aussagen sind meistens nicht so gut wie persönliche.“ Ich nickte hölzern. Ja, dass wusste ich sehr wohl.

Ein dicklicher Mann ging an uns vorbei und grüßte meinen Vater. Es schien sein Anwalt zu sein. Er war älter, schien also mehr Erfahrung zu haben. War das nun gut oder schlecht? Doch lange konnte ich mich nicht auf den gegnerischen Anwalt konzentrieren, denn Mr. Shepard begann auf mich einzureden.

Auch mein Anwalt erschien. Ebenfalls eine recht junge, schmächtige, aber recht freundliche Person, doch gleich beim eigentlichen Prozess würde Mr. Shepard die Führung des Prozesses übernehmen.

Mein Anwalt erklärte mir, dass wir gleich hineingingen und dann jede Partei ihre Beweise vorbringen darf. Die Zeugen und Berichte die vorgetragen werden, würden dann von der gegnerischen Partei ins Kreuzverhör genommen. Vor diesem Kreuzverhör erzitterte ich jetzt schon innerlich. Der Richter entscheidet lediglich über die Zulassung von Anträgen und erläutert den Geschworenen ihre Pflichten.

Ich hatte vor einiger Zeit gelesen, dass es in europäischen Gerichten anders ablief, wie hier bei uns in den Vereinigten Staaten. Ein Richter entschied dort über die Schuld, beziehungsweise Unschuld des Angeklagten. Hier in Amerika war die Hauptaufgabe der Richter die Einhaltung der prozessualen Regeln zu überwachen. Was einfach gesagt nur bedeutete, dass Anwälte sich nicht gegenseitig zerfleischen sollten, welche Beweise zugelassen wurden, welche nicht und wer als Zeuge aussagen durfte. Ob und wie mein Vater bestraft werden würde, entschied einzig und allein die Jury. Die Jury würde ein Urteil vorschlagen, an dem sich der Richter orientieren konnte, was diese zumeist auch tat. Sollten diese Menschen jedoch, meinen Vater freisprechen, konnte auch der Richter diese Entscheidung nicht mehr rückgängig machen. Diese zwölf mir gänzlich unbekannten Menschen entschieden heute über etwas, was mein Leben bis heute beeinflusste…

Jack hatte die Arme verschränk und fragte: „Wer sind die Geschworenen? Wirklich neutrale Personen?“ Mr. Shepard nickte wage und meinte erklärend: „Ich denke schon, offiziell ist keiner zum Beispiel in der Ex-Gay Bewegung… Wie ihre persönliche Haltung diesbezüglich ist, darüber kann ich natürlich kein Urteil fällen. Ich vermute aber, dass wir heute oder morgen mit einer Entscheidung rechnen können.“ Ich nickte und hoffte wirklich, dass dieser Prozess sich nicht zu lange hinzog. Ich sah auf mein Handy. Alle hatten mir geschrieben, dass sie mir viel Kraft und Glück wünschten, doch ich antwortete keinem. Trotzdem war ich froh, dass sie an mich gedacht hatten. Ich schaltete das Handy auf stumm und sah auf das schwarze Display.

Meine Hände waren nass von meinem Schweiß und kurz sagte ich zu meinem Anwalt und Jack, dass ich noch einmal zur Toilette gehen wollte. Ich musste wenigstens noch einmal Distanz zwischen mich und meine Vater bringen, ehe ich gleich gemeinsam mit meinem Anwalt begann alleine meine Schlacht zu schlagen. Ich wollte und musste noch einmal durchatmen!

Als ich mir die Hände wusch, blickte ich in den Spiegel und sah meine Nervosität deutlich. Mein Mund war zu einer geraden Linie geworden und die leichten Augenringe waren Beweis meiner kurzen Nacht. Ich klammerte mich etwas an dem Spülbecken fest und atmete schwer durch. Es war schrecklich. Wirklich schrecklich hier zu sein und zu wissen, dass ich gleich alles noch mal völlig fremden Menschen schildern musste. Welche Gründe es gab und vor allem, wer die Wahrheit sprach. Noch einmal sah ich auf die Uhr, offiziell noch 10 Minuten…

Die Tür ging auf und ich stand wieder grade, stützte mich nicht mehr an dem Spülbecken ab und versuchte einen höflichen neutralen Gesichtsausdruck auf mein Gesicht zu legen. Durchatmend drehte ich mich um und stockte, als ich John in die Augen blickte. Ich betrachtete meinen Bruder und blinzelte einige Male überrascht und erschrocken zu ihm. Seit Jahren hatten wir uns nicht mehr gesehen. Jetzt in der Nähe sah ich, dass er einige Falten dazubekommen hatte und wirklich wie ein Mann Mitte dreißig aussah. „Noch einen kurzen Fick, oder was treibst du hier“, wollte John eisig und herablassend von mir wissen.

Überrascht sah ich ihn an, hätte ich doch tatschlich diese offensichtliche Feindseligkeit nicht erwartet. Obwohl ich eigentlich wusste, wie radikal er geworden war. Leicht verschränkte ich die Arme vor der Brust und sah ihn fassungslos an. „Was“, fragte ich und klang tatsächlich erstaunlich ruhig. „Ach, vergiss es“, sagte John mit einer abfälligen Handbewegung. „Wie kann man nur so scheiße sein, seinen eigenen Vater anzuzeigen“, pöbelte er und versuchte sich tatsächlich vor mir aufzubauen.

Ich wusste, ich musste genau jetzt Rückgrat zeigen. Ich durfte und wollte mich von ihm nicht fertig machen lassen! Es kostete viel Kraft, mehr Kraft, als ich selbst es glaubte. „Unser Vater hat versucht mich tot zu schlagen“, sagte ich und zwang mich meine Stimme ernst und sachlich klingen zu lassen. „Pff… Ich glaube, dass du schon verprügelt nach Hause kamst, so wie Mum es auch gesagt hatte. Darf einen ja auch nicht wundern, wenn man so ekelhaft ist“, raunte er und seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Ich schüttelte den Kopf und blickte John ins Gesicht. Ja, wir hatten wirklich nie viel gemeinsam. Als ich auf die Welt kam, war er bereits vierzehn. Er konnte einfach nie wirklich viel mit mir anfangen, doch dass er so verbohrt hinter meinem Vater stand, war für mich einfach unbegreiflich. „Dad hat das getan“, meinte ich energisch und blickte in seine Augen, die kalt und abweisend wirkten. „Hat er nicht, du wirst verlieren! Du warst ja schon immer komisch, aber dass du dich zu ner kleinen Schwuchtel machen lässt, hätte ich nie gedacht“, meinte er und grinste mich tatsächlich herablassend an.

Schwuchtel?! Blinde Wut ergriff mich, etwas, was ich selten bis dahin erlebt hatte. Es war wie ein Tunnelblick und ich sah nur noch meinen Bruder. Mit einer Wucht, von der ich nicht dachte, dass ich sie aufbringen konnte, drückte ich John wütend an die Wand. Die Sorgen, die ich gerade noch in mir spürte, waren mit einem Schlag dieser weißen blendenden Wut gewichen! Ich wollte, dass er Schmerzen hatte. Er sollte spüren wie ich mich fühlte! John schien von meiner plötzlichen Aggressivität vollkommen aus der Bahn geworfen zu werden! Erschrocken keuchte er auf. Mir war es vollkommen egal! Die Faust erhoben, bereit zuzuschlagen, wie mein Vater einst bei Mutter und mir!

Er schien so überrascht von meiner schnellen Bewegung, dass er kaum reagieren konnte! Tatsächlich wollte ich gerade auf ihn einschlagen, als die sich öffnende Tür der Toilette mich ablenkte. Erschrocken und gleichzeitig erleichtert sah ich in Jacks Gesicht, denn eigentlich wollte ich nicht so die Kontrolle verlieren! Es reichte ein Blick aus und Jack verstand. Mit einem starken Ruck zog er mich von ihm weg und betrachtete uns beide mit Argusaugen. „Alles klar“, fragte er mich und blickte mit immer grimmigerem Gesicht meinen Bruder an. Ich war froh, dass Jack rein kam. Im Gerichtsgebäude jemanden zu schlagen wäre sicher nicht gut angekommen. Vor allem nicht direkt vor der Verhandlung „Lass uns einfach gehen“, sagte ich und verließ vor Jack die Toilette. Ich war überrascht, dass Jack nicht direkt hinter mir stand. Tatsächlich dauerte es gut einige Sekunden, die mir viel länger vorkamen. Was hatte Jack getan?

„Du kannst nicht im Gerichtsgebäude eine Schlägerei anfangen“, sagte Jack ernst, als er endlich hinauskam. Ich konnte nur ein „ich weiß“ nuscheln, „was hast du noch da drinnen gemacht?“ Es war mir fast schon unangenehm, wie ich mich benommen hatte. Ich war froh, dass Jack mich vor einer Dummheit bewahrt hatte. Andererseits hätte John es verdient. Ich wollte mich von niemanden beleidigen lassen! Ich war keine Schwuchtel und wenn man diesen Idioten das einprügeln musste, dann war das eben so! Wie sollte ich die Verhandlung so angespannt nur überstehen?

„Ihm den Briefumschlag mit den Bildern gegeben“, raunte Jack leise und überrascht sah ich ihn kurz an. Daran hätte ich in meiner Panik heute sicherlich nicht mehr gedacht!
 

Ich sah meine Mutter bei Jason stehen und als sie mich zusammen mit Jack sah, weiteten sich ihre Augen erschrocken. Vermutlich wollte sie mich begrüßen, doch die Angst vor ihm hielt sie auf. Sie schaute zwischen mir und Jack hin und her. Doch sie kam nicht zur mir. Es war wieder ein kleiner Stich in meinem Herzen, doch wurde er von meiner Wut überschattet, welche noch nicht gänzlich abgeklungen war. „Warte kurz“, sagte ich zu Jack und ging etwas zu auf sie zu. Angewidert wandte sich Jason ab und ging zu meinem Vater. Mein Blick folgte ihm kurz und leicht lächelnd sah ich meiner Mutter in die dunkelblauen Augen. „Hi Mum, Danke, dass du gekommen bist“, sagte ich freundlich und ließ es zu, dass sie mich drückte.

„Natürlich Jazzy…. Auch wenn es schwer ist“, nuschelte sie und ihr Blick glitt zu meinem Vater, welcher sie keines Blickes würdigte. Ich nickte leicht und konnte erahnen wie es ihr ging. Tatsächlich strich ich ihr beruhigend über die Schulter. „Wieso ist der Mann wieder da, Jasper“, fragte sie und betrachtete ängstlich Jack. Ich schluckte leicht und erklärte: „Wir haben wieder Kontakt… Er kann aber nicht aussagen, zu spontan….“ Sie nickte leicht und fröhlich sah sie zu John, welcher gerade in den Flur trat.

Ich funkelte John wütend an, während er wieder kam. Tatsächlich schien er immer noch überrascht von meiner Aggressivität. „Ich geh mal wieder zu ihm“, sagte ich und ließ sie mit John stehen, während ich wieder zu Jack ging. Ich atmete durch, war doch wirklich froh, dass Mutter da war. Ich bemerkte, wie John eisig auf meine Mutter einredete. Was genau er sagte, verstand ich nicht. Auch drehte er mir, wohl sehr bewusst, den Rücken zu. Ich sah zu Jack, seufzte leicht und nickte. Versuchte ich doch kampfbereit auszusehen, auch wenn ich mich nicht so gab. Ich bemerkte, wie mein Vater den Umschlag entgegen nahm. Jack drehte ihm gerade den Rücken zu. Nur kurz sah er auf die Bilder und schockiert sah er Jack an. Er las die Rückseite und ich merkte, wie er schluckte. Wenigstens war ihm Jeremy wohl doch mehr Wert als sein Ruf…

Hoffte ich zumindest…
 

Wir betraten nach kurzem Warten den Gerichtssaal. Gerichtsverhandlungen waren in den USA, wenn man keinen Gegenantrag stellte, immer öffentlich. Einige mir gänzlich unbekannte Personen gingen mit uns hinein. Jack strich mir kurz über die Schulter und lächelte mich leicht an, als wollte er mir Mut geben. Ich schaffte es nicht zu lächeln, sondern nickte ernst und sah auf den Rücken meines Anwalts.

So modern das Gebäude auch war, so historisch wirkte das Interieur. Der dunkle Mahagonischreibtisch stand auf einem Podest. Links dahinter war eine dunkle, schwere hölzerne Tür. Unter dem Richterpodest war ein weiterer Tisch zu sehen, von dem ich annahm, dass dort die Zeugen aussagen würden. Hinter dem Schreibtisch des Richters war an einer weißen Wand das Wappen Texas angebracht. Ein fünfzackiger Stern. Der Lone Star State, Texas. An der Wand standen, an einer Stange ordentlich hinunterhängend, zwei Flaggen der USA. An der Seite, wo die Tür war, waren die Sitze für die zwölf Geschworenen. Keiner von ihnen saß da. Vermutlich kamen sie zusammen mit dem Richter. Zwei eher schmucklose Tische mit jeweils drei Stühlen standen vor dem Richterpult und an einem von diesen ließ Mr. Shepard seine Tasche niedergleiten. Er deutete an, dass wir uns setzten sollten. Mein Anwalt nahm direkt neben mir Platz. Tatsächlich hätte ich es mit dem Gang zur Schlachtbank verglichen.

„Wir beginnen gleich, nachdem der Richter den Geschworenen ihre Pflichten erklärt hat. Danach können unsere Zeugen vernommen werden, dann tritt die gegnerische Partei auf den Plan“, erklärte mir der Anwalt und reichte mir einen Zettel. Ich hatte ihm immer freie Hand gelassen. Ich hatte kein wirkliches Verständnis für Recht und ich brauchte eigentlich den Abstand. Auch jetzt machte ich diesen Prozess einzig in der Hoffnung einen Abschluss zu finden. Mein Puls raste und ich war froh, dass ich mich gezwungen hatte zu Frühstücken.

Als der Richter hineintrat erhoben wir uns alle. Er war weiß, hatte graue Haare und einen strengen Zug im Gesicht. Sein Gesicht war schmal und ich wusste sofort, dass dieser Mann sehr konservativ war. Tatsächlich musste ich sogar leicht schlucken, als er in meine Richtung blickte. Die Jury betrat den Raum und alle Blicke hafteten auf ihnen. Es war eine bunte Mischung. Männer, Frauen, Alt und Jung, aber kein Schwarzer war unter ihnen. Sie alle blickten uns ins Gesicht und setzten sich, nachdem der Richter sie dazu aufgefordert hatte. Auch wir setzten uns. Der Richter begann zu sprechen. Erklärte den Geschworenen, wer die Parteien waren, die gegeneinander hier um ihr Recht fochten. Er erklärte ihnen genau, was ihre Aufgabe war und reichte danach das Wort an uns. Da wir den Antrag gestellt hatten, mussten wir mit der Beweisführung beginnen. In Amerika ist sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Verteidigung selbst dafür verantwortlich, alle relevanten Beweise vorzulegen. Auch bei der Befragung von Zeugen wird der so grimmige Richter sich nicht einmischen. Seine Funktion ist und bleibt die eines „Schiedsrichters“.

Mr. Shepard erhob sich und drehte sich zur Jury. Er berichtete dass, was ich ihm geschrieben und gesagt hatte. Das mein Vater ein Mensch sei, der sich aufgrund seiner Hautfarbe und seiner Position über andere Menschen stellte, mit einer konservativen Lebenseinstellung. Der Staatsanwalt berichtete davon, dass mein Vater uns zuhause tyrannisiert hatte, mich und meine Mutter geschlagen hatte. Als es um den konkreten Vorfall ging, war ich äußert angespannt! Die Berichte von der Polizei und des Krankenhauses wurden verlesen. Ich war überrascht, wie gut die Berichte des Krankenhauses, sowie die Ermittler vom Tatort die einzelnen Puzzleteile fast nahtlos beschreiben konnten.

Ein Gutachter erklärte genau, wie sich die einzelnen Puzzeleteile aneinander setzten. Es wurden Bilder von meinem Zimmer gezeigt und mir gruselte es. Ich hatte es ja nie wieder betreten. An den Wänden sah man meine Blutspitzer. Überall war Chaos. Die Holzlatte, mit der mein Vater mich geschlagen hatte, wurde gezeigt und erneut fröstelte es mich, als ich das weiß lackierte Stück Holz sah, welches irgendein Teil der neuen Treppe werden sollte. Mr. Shepard ließ den Gutachter gerade erklären, dass die DNA meines Vaters an eben jenem Holz gefunden wurde.

Doch der gegnerische Anwalt fiel ihm ins Wort. „Einspruch“, forderte er energisch auf und deutete auf mich, „wir haben den Polizeibericht, in dem Mrs. Hale angab, dass ihr Sohn schon verprügelt nach Hause kam. Des Weiteren haben wir die Berichte vom Krankenhaus und den Bericht der Spurensicherung von einem unabhängigen Sachverständigen prüfen lassen. Dass DNA meines Mandanten auf der Holzlatte war liegt daran, dass er an besagtem Abend aufgeräumt hatte.“ Ich stocke, starrte fassungslos hinüber und ich sah meinen Vater, der ebenso angespannt wirkte wie ich. Wusste ich doch, dass auch für ihn viel auf dem Spiel stand. Bei einer Bestrafung wegen Körperverletzung ersten Grades war das Strafmaß auf bis zu neunundneunzig Jahren Haft angesetzt. Mir war klar, dass der Verteidiger meines Vater versuchte es wenigstens auf eine Körperverletzung zweiten Grades hinunter zu handeln, wenn mein Vater schon verurteil werden musste.

Ich war unruhig, während ich dem anderen Anwalt lauschte. Der Richter ließ es zu, dass er aussprach und dem Einspruch des Staatsanwalts wurde nicht stattgegeben. Der kleinere, dickliche Mann ließ einen Bericht eines Gutachters vortragen. Auch dieser schilderte richtig, woher die Verletzungen kamen. Jedoch ging er darauf ein, dass nicht genau davon auszugehen sei, dass diese Verletzungen von meinem Vater kamen, oder ob ich mir diese bei einer anderen Schlägerei zugezogen hätte. Er verwies darauf, dass mein Vater nach der Tat nicht im Krankenhaus untersucht wurde, um an seinem Körper Kampfspuren zu sichern.

„So ein Blödsinn“, hörte ich ganz leise hinter mir jemanden murmeln. Es war Jack, der in der ersten Reihe hinter mir saß. Er sah wütend aus. Fast so, als wolle er gleich aufspringen und dem gegnerischen Anwalt etwas an den Kopf werfen.

Er fragte den Gutachter, ob die DNA meines Vaters nicht auch so auf die Holzlatte gelangt sei. Auszuschließen sei dies nicht, aber der Gutachter verwies darauf, dass auch mein Blut an der Stange zu finden war. „Mr. Hale schilderte mir, dass er seinen Sohn im Streit geschubst hatte und er im Flur über die da liegenden Holzstücke gestolpert sei. Als er auf diese gefallen ist, hat er schon geblutet, da er, wie seine Mutter ja auch angab, so nach Hause gekommen war.“

Der Gutachter hielt diese Aussage für sehr fragwürdig und verwies darauf, was er gemeinsam mit anderen Fachkollegen herausgefunden habe. Ich war nervös, als ich dem Gutachter lauschte und war dennoch beeindruckt von seiner Arbeit. So wie er es geschildert hatte, hätte man meinen können er und seine Kollegen wären irgendwo im Hintergrund gewesen und hätten mitangesehen, was geschehen war. Der Mann wurde aus dem Zeugenstand entlassen und mit einem Gefühl, was ich nicht genau beschreiben konnte, blickte ich ihm nach.

Mein Anwalt entgegnete kurz darauf, dass mein Vater nach dem Vorfall einfach verschwunden sei, was man als Schuldbekenntnis werten könne. Etwas, was auch für den Staatsanwalt so erschien. Ich erkannte an meinem Vater, dass er die Zähne kurz feste aufeinander presste. Ich konnte mir denken warum. Vermutlich dachte er gerade daran, was Jack getan hatte, was ihm danach zugestoßen war. Fast schon ängstlich sah er zu ihm… ich hielt mich zurück, ich hatte nicht gedacht, dass mein Anwalt seine Sache so ernst nahm… Ich hatte immer gedacht, sie machen es nur, weil sie müssen. Auch der Staatsanwalt, der die Verhandlung führte, war ganz bei mir.

Wie ich Mr. Shepard beobachtete wuchs meine Sympathie zu ihm. Er setzte sich wirklich für mich ein! Verwies immer wieder darauf, dass er deswegen untergetaucht sei, doch wieder erhob der dickliche Anwalt meines Vaters Einspruch: „Mein Mandant ist gerade nicht im Zeugenstand und muss die direkten Fragen noch nicht beantworten!“ Wieder ließ der Richter den Einspruch zu und ich sah, wie Mr. Shepard kurz wütend zu dem anderen Anwalt blickte.
 

Dann musste ich in den Zeugenstand treten. Mit unsicheren Beinen ging ich nach vorne und ließ mich vor dem Richterpult nieder. Legte meine Hand auf die Verfassung und schwor die Wahrheit zu sagen. Meine Beine zitterten und als der Staatsanwalt anfing mich zu fragen, was genau wann passiert war, riss ich mich mit aller mir verbliebenen Kraft zusammen. Ich wollte hier nicht weinen, nicht schreien, nicht schwach wirken! Ich sah kurz zu den Geschworenen und sah, dass alle Blicke auf mich gerichtet waren. Ja, dies war mein Kampf…

Schnell sah ich zu Mr. Shepard und beantwortete ehrlich seine Fragen. Was war passiert? Was war vor dem Vorfall geschehen? Wie hat sich die Stimmung Zuhause verändert? Wieso sind sie damals nicht zum Jugendamt gegangen? Wer hat mir geholfen? Auf die Frage, wer mir geholfen habe, sagte ich ehrlich, dass es mein Nachbar gewesen war. Das er mir Unterschlupf gewährt hatte, dass er mir mit allem geholfen hatte.

Es waren alles so extrem persönliche Fragen und es war unheimlich schwer sich zusammen zu reißen. Doch wenn ich dachte, dass die Fragen des Staatsanwalts mich beunruhigten und nervös werden ließen, war es nichts im Vergleich zu den Fragen, die der Verteidiger meines Vaters stellte.

Er wollte wissen, wie wir früher gelebt hatten. Wie mein Vater da war und ja, damals, früher war er ein guter Vater gewesen. Hatte viel mit mir unternommen und mich gefördert. Ich wollte ehrlich sein, doch war es ein Fehler? Ich war mir unschlüssig.

„Mr. Hale, leben Sie nun offen Homosexuell“, fragte mich der Anwalt und an seinen Augen erkannte ich, wie widerlich er es fand. „Einspruch“, sagte Mr. Shepard sofort und sah zum Richter. „Sein jetziger Lebenswandel hat nichts, aber auch gar nichts mit der Verhandlung zu tun.“ Der Richter sah streng zu dem Anwalt meines Vaters und sein Blick blieb an mir hängen. Auch ich sah den alten Mann an und runzelte die Stirn. Diese Frage hatte eindeutig nichts mit der eigentlichen Sachen zu tun.

Doch ich verstand. Es ging hier einzig und alleine um die Jury und nun verstand ich, weswegen der Anwalt meines Vaters unbedingt vor eine Jury wollte. Sie entschieden und sie mussten überzeugt werden! Je dramatischer man eine Geschichte erzählte, desto eher waren diese Menschen geneigt einem zu glauben… Er musste sie emotional überzeugen, da sachliche Beweise eher auf meiner Seite lagen. Meine Augen wanderten zu ihnen und ich glaubte zu erkennen, dass einige anscheinend nichts von Homosexuellen hielten… Aber vielleicht war es auch einfach nur Einbildung, da ich gerade ziemlich unter Stress stand.

Es war egal, ob diese Frage zugelassen wurde oder nicht, sie war gestellt worden. Einmal gesprochen fallen Worte unwiderruflich dahin. Der Richter drehte sich zu dem Anwalt meines Vater und meinte: „Ich stimme dem Einspruch zu, diese Frage hat nichts mit der schweren Körperverletzung zu tun. Fahren Sie fort.“ Ich erkannte an den Augen des Mannes, dass es ihm gleich war, er hatte es gesagt und das war das, was er wollte.

„Der Mann, von dem Sie gerade sprachen…. Ihr Nachbar“, sagte er mit verengten Augen, „in welcher Beziehung standen sie zueinander?“ Erneut legte Mr. Shepard Einspruch ein, doch dieses Mal wurde er abgelehnt. Ich zögerte und stockte, während ich in das dickliche Gesicht des Mannes sah. Ich stand unter Eid... Lügen war strafbar. Wenn es herauskam, wäre der Prozess sowieso verloren. Ich schluckte leicht und betrachtete kurz Mr. Shepard, der gerade mit gerunzelter Stirn die Berichte durchlas und mein Anwalt nickte mir nur leicht zu.

Ich atmete schwer durch, sah kurz auf meine Hände und meinte, nachdem ich erneut aufgefordert wurde zu sprechen: „Wir… Wir waren zusammen. Wir haben uns ineinander verliebt.“

Mein Blick fiel auf Jack. Nur für den Bruchteil einer Sekunde. Ich wollte seine Reaktion auf diese Aussage sehen. Fand er, es war ein Fehler dies zuzugeben? Doch wieder einmal konnte ich das nicht an seinem Gesicht ablesen. Er beobachtete den Anwalt mit strengem Blick und verschränkten Armen. Triumphierend betrachtete mich der Mann vor mir und er wandte sich zur Jury: „Haben sie gehört, ein damals siebzehnjähriger Junge, wird von einem wesentlich älteren Mann verführt, ihm wird eingeredet, dass dieser Lebenswandel gut sei…“

Dieses Mal war ich es, der den Mann unterbrach: „Das hab ich nie behauptet!“ Er drehte sich zu mir und schien tatsächlich verwundert, dass ich ihn unterbrach. Meine Stimme klang kräftiger wie ich mich fühlte ich sagte: „Schon bevor mein Nachbar und ich uns näher kamen, hatte ich die…den Gedanken schwul zu sein. Ich hatte Probleme damit. Ich weiß, es ist „nicht normal“. Aber mein Nachbar half mir zu verstehen, dass es nichts Schlimmes ist schwul zu sein. Er half mir, mich so anzunehmen wie ich bin und währenddessen haben wir uns ineinander verliebt. Und so viel älter war er überhaupt nicht“

Ich sah nicht weg, als die Jury mich anblickte, straffte etwas die Schultern und ernster fügte ich hinzu: „Ich habe einfach von ihm „gelernt“, dass es nicht schlimm ist homosexuell zu sein.“ Die Menschen betrachteten sich untereinander. Ich sah, wie ein Mann einer Dame ins Ohr flüsterte und sie nickte leicht.

Tatsächlich durfte ich danach den Zeugenstand verlassen und mein Vater musste in den Zeugenstand. Auch er schwor auf die Verfassung und berichtete gleich davon, wie schwer es damals war. Er habe so viele Überstunden absolvieren müssen. Er habe sich, wie er sagte, verloren…

Verloren worin, dachte ich spöttisch, uns zu verprügeln und zu bestrafen? Natürlich tischte er den Menschen die Geschichte auf, ich sei verletzt nach Hause gekommen. Er stritt nicht ab, dass er an meinem Laptop war. Er habe sich Sorgen gemacht, wegen Jack. Als er herausbekam, dass ich mich auf ihn eingelassen hatte geriet er, wie er meinte, in Panik. Als ich nach dem Baseballspiel so verunstaltet nach Hause gekommen sei, habe er aus Sorge und Angst „überreagiert“. Wir hätten gerangelt, aber er hätte nie geschlagen. Ich sei auf den Holzlatten ausgerutscht, daher das Blut darauf, doch er habe mich nie mit einer geschlagen, auch hätte er nie gewollt, dass ich die Treppe hinunterstürzte, doch es wäre meine eigene Schuld gewesen. Er log, obwohl er wusste, dass es strafbar war. Falsch blickten seine so vertrauten Augen zu mir, während er mit falscher Freundlichkeit sagte: „Ich habe meinen Sohn immer geliebt…“ Ich schnaubte zornig und schüttelte vehement den Kopf. Aufbrausend fuhr ich fast hoch, hätte mein Anwalt mich nicht hinuntergedrückt! Wie musste es für Jack sein, der sich nicht einmischen durfte…

„Beruhigen Sie sich“, fuhr er mich an und sah mich streng an, „so bringt das keinem etwas.“ Zornig sah ich ihn an, strich mir durch mein Gesicht und sah, wie mein Vater mich genau zu beobachten schien.

Der dickliche Anwalt betrachtete meinen Vater und fragte: „Wollten Sie nicht noch was zu dem Nachbarn sagen?“ Ich sah, wie Dad erstarrte, wie er zu Jack blickte und er schluckte leicht und schüttelte etwas den Kopf. „Nein… wollte ich nicht…“ Ich wusste, es war gelogen und nur wegen Jack schwieg er. Die Drohung hatte wohl Früchte getragen…

Mr. Shepard als Staatsanwalt war daran Fragen zu stellen. Wo er gewesen war, nachdem das Geschehen war wollte er wissen. Vater schwieg, sah kurz ins Leere und ich sah, wie sein Blick erneut zu Jack ging. Ich lugte über meine Schulter und sah, wie Jack minimal mit dem Kopf schüttelte. Der blanke Hass stand ihm ins Gesicht geschrieben, ebenso wie die Wut. Auf der anderen Seite sah ich meine Brüder. Beide mit verschränkten Armen, beide ernst schauend.

„Ich war bei meiner damaligen Lebensgefährtin und meinem Jüngsten…“ Wieso er sich da versteckt habe. Ich hörte den Lügen nicht zu und fragte mich, was Jack getan hatte. Wie alt war jetzt eigentlich mein kleiner Bruder? Jenny sprach nie von ihm und tatsächlich hatte ich eigentlich nie an ihn gedacht. Jeremy… sechs oder sieben, vielleicht acht? Ich gab dem Jungen keine Schuld, er konnte nichts dafür was geschehen war.

Auch bei den anderen Fragen blieb mein Vater bei seiner Version. Doch er räumte ein, dass es Zuhause öfter zu Gewalt gekommen sei, auch gegen mich. Er wirkte weit weniger kampfbereit als ich annahm, tatsächlich war es der Anwalt meines Vaters, der am meisten sagte. Wie wäre es nur gewesen, wenn Jack nicht hier wäre?

Als nächstes wäre Jack dran gewesen. Der Richter erklärte, dass er nur eine schriftliche Aussage habe. Natürlich nahm der dicke Anwalt dies zum Anlass dagegen zu wettern. „Was ist das für ein Zeuge, der es nicht für nötig hält persönlich zu erscheinen?“ Es entbrannte eine kurze Diskussion zwischen dem Verteidiger und dem Staatsanwalt darüber, ob die Aussage zugelassen wird. Mein Vater hielt sich gänzlich zurück. Beide wurden nach vorne zum Richter gerufen und ich konnte leider nicht mehr hören, was gesagt wurde. Ich sah Mr. Shepard diskutieren und auf den Anwalt einreden. Dieser betrachtete ihn fast schon hochnäsig. Als ich sah, wie Mr. Shepard sich wütend zu mir drehte, verkrampfte sich mein Inneres. Es dauerte nicht lange, bis der Richter verkündete, dass die Aussage nicht zugelassen wird. Ein weiterer Schlag gegen mich. Ich hatte nicht das Gefühl, dass es gut lief.

Ich hörte Jack hinter mir frustriert stöhnen… Fast schon wünschte ich mir, dass er aufsprang und verkündete doch auszusagen… Doch was wären die Konsequenzen gewesen? Irgendwelche Personen, die so ihre Chance witterten um an Jack heranzukommen. Wenn er jetzt offen sprach wäre es für diese Menschen so einfach! Jack war kein Superheld. Er hatte hier nicht die Macht, wie in anderen Ebenen. Er konnte einfach nicht alles und so, wie er hinter mir stöhnte, wusste er das genau. Wie sehr es ihn wurmte, dass konnte nur er selbst sagen…

Meine Mutter wurde aufgerufen. Auch sie wirkte nervös. Zittrig legte sie ihre Hand auf die Verfassung. Sie schwor den Eid und ließ sich nieder. Auch sie wurde belehrt und als der Staatsanwalt sie fragte, ob sie von meinem Vater geschlagen worden sei, brach sie gleich in Tränen aus.

Ich war ihr dafür fast schon dankbar, auch wenn ich fast die Augen verdrehte. Ich hasste diese Heulerei von ihr. Es nervte ungemein, doch vielleicht brauchte die Jury diese Tränen. Ich sah, wie viele meine Mutter mitleidig anschauten und einige wütend meinen Vater betrachteten. Auch Mr. Shepard wirkte zufrieden und mein Anwalt flüstert mir zu: „Das ist gut, dass ihre Mutter Gefühle zeigt.“

Doch dann sagte meine Mutter etwas, was mir und meinen Anwalt den Boden unter den Füßen wegriss. „Aber wir sitzen hier nicht wegen mir. Wir sitzen hier wegen meinem Sohn. Und mein Sohn ist, seit er von diesem Mann… diesem komischen Menschen eingenommen wurde, ein anderer…. Er ist nicht mehr mein kleiner Junge… Er ist mir fremd geworden. Ich war unten im Garten… Ich habe nicht gesehen, wie er nach Hause kam, ich habe sie an dem Abend nur oben streiten hören, meinen Ex-Mann und Jasper… Ich habe nicht verstanden, was sie gebrüllt haben… Ich kann auch nicht wirklich sagen, ob er es war… Wenn es so war, mache ich mir so große Vorwürfe, dass ich ihm nicht geholfen haben…“ Wieder brach sie in Tränen aus, aber wieso sagte sie sowas?! Wieso…. Wieso sagte sie nicht das, was passiert war!

Ich sah das zufriedene Gesicht des dicken Anwaltes und auch mein Vater wirkte auf einmal entspannter. Ich sah, wie die Schultern meiner Brüder sich entspannte und John unserer Mutter leicht zunickte. „Warum sagst du das, Mum“, sagte ich direkt zu ihr und auch die Hand auf meinem Bein ließ mich nicht ruhiger werden. Ich war wütend und fast wäre ich aufgesprungen. „Wieso sagst du das!“ Ich schrie es ihr entgegen.

Mahnend sagte der Richter, ich solle mich beruhigen. Die Augen meiner Mutter suchten die Meinen und kurz sahen wir uns stumm an. „Jazzy“, begann sie mit zittriger Stimme, „ich liebe dich, aber ich kann hier nicht lügen… Ich war im Garten und…. Es war so ein großer Schock das alles… Ich kann mich an einiges einfach nicht mehr erinnern. Ich habe dich mit John auf der Treppe gesehen und wie du gestürzt bist…“

Die Luft entwich meiner Lunge und das Gefühl, dass ich verraten wurde, wuchs in mir. Wie konnte sie das tun? Ich war doch ihr Sohn?! Ich war ihr Fleisch und Blut! Sie hatte mich verraten! Ließ zu, dass der Mann, der mir das Schlimmste in meinem Leben angetan hatte, davon kam. Sie hatte sich wieder perfekt aus der Affäre gezogen. Einfach zu sagen, dass sie es nicht wusste. Erneut öffnete sie den Mund und blickte die Jury an. „Mein Mann hat mich geschlagen und auch Jasper hat die ein oder andere Ohrfeige bekommen, aber ob er ihn so sehr verprügelt hat… weiß ich nicht. Früher standen die Beiden sich jedenfalls sehr nahe!“

Früher?! Früher war, als ich sechs oder sieben war! Bevor der Scheiß mit Jackson losging. Vielleicht auch noch mit zwölf! Doch ich kam nicht dazu etwas zu sagen.

Plötzlich hörte ich einen dumpfen Knall hinter mir. „Was zur Hölle erzählst du für einen Scheiß?!“ Scheinbar konnte Jack sich nach dieser Aussage nicht mehr zurück halten. Er hatte wütend mit der Faust gegen ein kleines Geländer vor sich geschlagen. „Was bist du für eine Mutter? Du weißt ganz genau was passiert ist, du verlogenes Stück!“ Der Richter war außer sich. Er ermahnte Jack streng sich zurück zu halten, wollte jedoch wissen, wer er sei. Ich sah ihm seinen inneren Kampf an. Er überlegte sich zu offenbaren. Zuzugeben, dass er der Mann war, dem man so viel Schuld zusprach, obwohl er keine Schuld hatte. Er suchte für wenige Sekunden meinen Blick und ich wusste, dass ich es nun in der Hand hatte. Wenn ich zustimmen würde, würde er alles erklären. Aber würde das noch etwas retten? So schlecht, wie man die ganze Zeit von ihm gesprochen hatte… Was würde es bringen? Gerichtsverhandlungen waren öffentlich. Ich kannte diesen David nicht, wusste nicht wo und auf was er für Einfluss hatte. Aber wenn er mitbekam, dass Jack bei der Gerichtsverhandlung anwesend war, würde er vermutlich vor meiner Tür stehen. Er hatte es damals sogar an mein Krankenbett geschafft… Ich wusste, wie ich mich entscheiden musste und es tat so unglaublich weh. Als sich einen kurzen Moment unsere Blicke trafen, schüttelte ich kaum merklich den Kopf und tatsächlich senkte ich kurz den Blick, ahnte ich doch, was ich damit unterschrieb. Jack atmete ein paar Mal tief durch um sich zu beruhigen. Ich hatte nie gesehen, dass er so sehr nach Fassung rang. „..Ich bin sein Freund“, sagte Jack nun deutlich ruhiger. „ich kenne die Geschichte von damals.“

„Waren sie anwesend?“, fragte der Richter kurz angebunden. Noch einmal sah Jack drohend in die Gesichter meiner Mutter und meines Vaters, bevor er ein „Nein“ zwischen den Zähnen hervor brachte.

„Dann halten sie sich zurück oder ich lasse sie aus dem Saal entfernen.“

Natürlich schien die Jury über diesen Wutausbruch erschrocken. Allerdings hatten sie seine Worte gehört. Meine Mutter sah panisch, ja fast schon ängstlich zwischen Jack und mir hin und her und bestärkte sie in ihrem Glauben, dass Jack mich „unter Kontrolle“ hatte, doch sie schwieg. Jack schien ihr immer noch Angst zu machen.

Mr. Shepard wollte wissen, weswegen sie dann bei der Polizei die Aussage getätigt habe, dass ich schon verprügelt nach Hause gekommen sei. Ob sie das getan hatte, um den Schein der perfekten Familie aufrecht zu erhalten. Erneut kullerten Tränen aus den Augen meiner Mutter. Sie wisse, dass sie einen Fehler gemacht habe und ja, dies wäre der Grund gewesen. Aber erneut beteuerte sie, dass sie mich nicht gesehen hätte, wie ich nach Hause gekommen sei. Erneut wollte ich fast aufspringen, doch der Mann neben mir hielt mich zurück und erneut wurde ich vom Richter ermahnt. Ich konnte es nicht fassen. Statt mir zu helfen wollte sie neutral bleiben! Das ging nicht! Wieso um Himmels willen? Was hatte ich dieser Frau nur angetan?! Ich zitterte und strich mir mit den Händen durch das Gesicht.

Meine Mutter wurde aus dem Zeugenstand entlassen und ging ohne mich anzublicken hinaus.

Tatsächlich wurde danach das Beweisverfahren eingestellt. Und die Plädoyers wurden gehalten. Mr. Shepard stand auf und betrachtete die Jury und meinen Vater mit ernstem Gesichtsausdruck. „Wir verhandeln heute in der Sache, die ein trauriges Beispiel unserer konservativen Grundhaltung widerspiegelt. Ein junger Mann, der sich outet und Hilfe sucht und im eigenen Haushalt nur Gewalt und Vernachlässigung erfahren hat. Sie, liebe Jury, haben es nun in der Hand. Die Aussagen von Mr. Hale“, und er deutete auf mich, „sind schlüssig, stimmen mit dem überein, was die Gutachten der Polizei und des Krankenhauses widerspiegeln. Ich möchte darauf hinweisen, dass häusliche Gewalt in jeder unserer Gesellschaftsschichten zu finden ist. Egal ob reich, ob arm. Wir haben hier eine Frau sitzen gehabt, die von der Angst vor ihrem Ehemann gezeichnet ist. Es braucht Jahre um sich davon zu erholen. Diesem jungen Menschen ist schreckliches widerfahren von einer Person, die dieses Unheil von ihm abwenden sollte. Und wenn sie sich gleich zusammen setzten und beraten, denken sie daran! Wir sind stolz darauf, in einem freien Land zu leben! Da darf etwas, was in dieser Sommernacht geschehen ist, nicht ungestraft bleiben! Sie sind das Gesetz, liebe Jury!“

Ich fand es gut, wie er das Plädoyer vorgetragen hatte, allerdings hatte ich keine Referenzen und als der Anwalt meines Vaters sich erhob und begann seines zu halten spürte ich, wie eng es hier ausgehen würde.



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  honeyJ
2017-05-23T08:10:31+00:00 23.05.2017 10:10
Puh spannend....
Das ist ja mal die frechheit in person von der mutter das geht ja mal gar nicht die ist so egoischtisch!
Aber mal wieder richtig schon geschrieben und sehr verständlich ^_^

Von:  chaos-kao
2017-03-29T16:52:53+00:00 29.03.2017 18:52
Ich weiß nicht wen ich mehr hassen soll ... die Mutter, den Vater, den Anwalt, die Brüder? Sehr emotional und sehr realistisch zu lesen!
Von:  Pitchermaus
2017-03-27T06:50:08+00:00 27.03.2017 08:50
Guten Morgen, ein bisschen spät und das nächste Kapitel ist auch schon da.
Also ich kann gut verstehen, dass dir das Kapitel nicht so leicht von der Hand gegangen ist. Dass da viel Arbeit hintersteckt merkt man. Echt super, wie du dich über die Regeln und Äblufe einer amerikanischen Gerichtsverhandlung informiert hast. Es ist auch echt krass, wie das da abläuft, da fühlt man sich beim Lesen auch gleich ganz beklemmt, wenn man daran denkt, dass das Urteil von zwölf Menschen abhängig ist. Da waren Jazz Bedenken auch durchaus angebracht. Seine emotinale Lage hast du echt gut beschrieben. Dass er sich im Waschraum kurz nicht im Griff hat, ist sicherlich normal. Immerhin steht er unter enormen Druck und dann zu hören, dass der eigene Bruder einem nicht glaube und einen auch persönlich ablehnt ist sicherlich nicht leicht, auch wenn man kaum Kontakt hat. Das verstärkt da sehr wahrscheinlich das Durcheinander im Gefühlsleben. Aber zum Glück ist Jack ja da. Jazz Vater hat er anscheinend auch ganz gut im Griff. Nur Jazz Mutter... Also die Frau ist bei mir echt untendurch. Ich hatte ja noch, wie Jazz sicherlich auch, die ganz leise Hoffnung (die Hoffnung stirbt ja bekanntlich immer zuletzt, bis man sie dann irgendwann überlebt hat), dass sie sich zu ihrem Sohn bekennt und ihm endlich mal zur Seite steht. Aber nein. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie Jazz sich fühlen muss. Das ist sicherlich, wie ein Messerstich in den Rücken. Er tut mir wirklich leid. Er darf ja nicht mal was dazu sagen. Könnte Wetten, dass Jazz ältere Brüder noch einmal auf sie eingeredet haben. Jacks Aufschrei hilft da ja leider auch nicht. Ehrlich, da wirft sie Jack vor ihren Sohn ihr entfremdet zu haben, aber sie selber setzt sich überhaupt nich mit Jazz und seinen Wünschen auseinander. Sie ist ja nicht mal für ihren Sohn da. Wie alleine Jazz wäre, wenn Jack ihn nicht unterstützen würde. Ich hoffe für Jazz sehr, dass er über diesen Verrat hinwegkommt, auch wenn das sicherlich nicht leicht sein wird. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass Jack ihm da helfen wird. Bei Jenny bin ich mir da nicht so sicher. Ihr hätte es sicherlich gut getan, bei der Verhandlung dabei zu sein und die Aktion ihrer Mutter mitzuerleben, damit sie auch Jazz versteht. Jetzt kann man nur hoffen, dass das Plädoyer vom Staatsanwalt bei den Gewschworenen auch was im positiven Sinne bewirkt. Gott, ich hätte es ja gerne gesehen, dass Jazz Vater die Beherschung verliert. So sieht es ja fast so aus, als hätte Jazz sich nicht ganz im Griff. Wobei seine Ausbrüche in seiner Lage nur allzu verständlich sind. Ich hoffe sehr, dass die Jury das auch so sieht. Boha, ich darf echt nicht darüber nachdenken, was Jazz Mutter und auch der Vater da im Gerichtssaal für eine Vorstellung abgeliefert haben, ihren Sohn so im Stichzulassen. Die Frau kann doch nie wieder in ihrem Leben wirlich glücklich werden. Kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass es ihr mit der Entscheidung zu dieser Aussage wirklich besser geht.
Ich drücke Jazz auf jeden Fall die Daumen, dass in der Jury genug kompetente Menschen sitzen und die letztendlich für ihn entscheiden werden. Bin auf jeden Fall schon sehr gespannt das Urteil zu lesen.
Von:  nuriemma
2017-03-22T19:18:16+00:00 22.03.2017 20:18
Omg die Szene ist so klasse ...super geschrieben echt Hut ab :) ich hab echt nen schreck bekommen als Jack sich gemeldet hat :D


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