Verborgen in Stille Teil II von Strichi ================================================================================ Kapitel 2: Begegnungen ---------------------- Natürlich konnte Jenny nicht jedes Wochenende kommen, trotzdem stimmte es mich melancholisch, auch wenn ich es nicht zugab. So abgeschnitten von allem zu sein, war wirklich merkwürdig. Die Klinik, in der ich untergebracht war, lag in einer kleinen Stadt weit weg von Jennys Wohnung. Tatsächlich sogar ein recht großer Komplex. Fünf Stunden waren wir hierher unterwegs gewesen. Viele Andere bekamen Besuch oder telefonierten viel mit ihren Familien. Wieder andere verstanden sich untereinander gut und trafen sich zum gemeinsamen Fernsehabend oder für andere Aktivitäten. Viele gingen hinunter in die kleine Stadt oder machten Ausflüge in die Flora und Fauna. Ich hielt mich zurück, denn eine der ersten Fragen, die gestellt wurden war zumeist, wieso man hier war. Ich wollte Fremden keine Antwort darauf geben und viele die hier waren, waren wesentlich älter als ich. Doch fast alle waren wegen Knochenbrüchen oder Rückenbeschwerden hier. Die meisten anderen bekamen am Wochenende Besuch. Fast hätte ich gesagt ich wäre neidisch auf diese Leute gewesen. Jenny konnte nicht einfach jedes Wochenende fünf Stunden fahren oder noch länger, wenn Stau war. Das wollte ich ihr einfach nicht zumuten und meine Mutter schien sich auch nicht auf den Weg machen zu wollen. Gut, dass ich sie nicht eingeladen hatte, dann wäre ich vermutlich enttäuscht gewesen. So beobachtete ich häufiger die Anderen. Was sie taten, von wem sie besuch bekamen. Irgendwie musste ich mich schließlich ablenken. Während der Wochenenden, aber auch manchmal in der Woche, sah ich häufiger eine Familie. Sie fielen mir ins Auge, weswegen weiß ich nicht. Ein blondes Mädchen, vielleicht in meinem Alter, zusammen mit einem sehr beleibten Mann, die eine ebenfalls blonde Frau besuchten. Sie lachten viel und schienen eine sehr lustige Familie zu sein. Ich sah sie herumalbern, als genießen sie das Leben einfach. Ich wollte sie nicht stören. Ich beobachtete sie und merkte erst danach, wie sehr ich mich nach sowas sehnte. Möglicherweise waren sie mir deswegen aufgefallen. Doch ich wusste, dass meine Familie zerbrochen war, wir würden nie wieder so gemeinsam an einem Tisch sitzen. Traurig machte es mich dennoch. Es war erstaunlich, wie viel Eltern ihren Kindern zumuten konnten und trotzdem schien ein Teil im Inneren es trotzdem zu vermissen. Wie komisch die menschliche Psyche doch letztlich war. Ich vermisste es mit dem Mann an einem Tisch zu sitzen, der mich fast totgeschlagen hat. Genauso wie ich vermisste mit meiner Mutter, die mich einfach nicht beschützt hat, freundlich und harmonisch zu quatschen! Ich versuchte damit fertig zu werden, indem ich mir immer sagte, dass ich zwei Leben hatte und ich dem einen, bevor das alles geschehen war, in dem konnte ich meine Eltern vermissen, ohne mich nicht verstehen zu können. Als ich eines Abends auf der Terrasse saß und einen Kaffee trank kam die blonde Frau zu mir. Sie ging an Krücken und ihr Bein steckte in einem komisch aussehenden Stiefel. Ich kannte sie nur vom Sehen mit ihrer Familie. Vom Nahen bemerkte ich, dass sie recht attraktiv war. Sie schien etwas älter zu sein. Mitte vierzig hätte ich sie geschätzt. In ihren honigblonden Haaren waren vereinzelte, kaum auffallende graue Haare. Sie hatte ein ebenmäßiges und ansehnliches Gesicht. Sie musterte mich, ebenso wie ich sie musterte. Verwirrt runzelte ich die Stirn. „Hi, ich bin Jules… Wir haben noch nie wirklich miteinander geredet“, sagte sie freundlich und ich bemerkte, dass sie einen komischen Akzent hatte, den ich nicht zuordnen konnte. Ich war verwirrt und runzelte leicht die Stirn. „Ähm… nein…Stimmt, haben wir nicht…. Ich bin Jasper, aber die meisten sagen Jazz“, stellte ich mich höflich vor und reichte ihr meine Hand. Sie nickte und schlug ein. Sie hatte einen ziemlich festen Händedruck, trotz ihrer schmalen zierlichen Hand. „Ich hab mitbekommen, dass du meistens allein unterwegs bist. Du bekommst selten Besuch, oder? …“, meinte sie und betrachtete mich vorsichtig, als wolle sie mich nicht verletzen. Ich fühlte mich erwischt. Vermutlich hatte sie gesehen, wie ich sie und ihre Familie beobachtete. „Ähm… Nein… meine Familie wohnt weiter weg und...na ja…“, ich zuckte leicht mit meiner Schulter und bemerkte kurz einen stechenden Schmerz. „Ist ja nicht so schlimm. Ich bin ja nur hier um gesund zu werden. Da brauch ich niemand anderen“, ich hörte selbst wie falsch meine Worte klangen und es brauchte kein Jack mir gegenüber zu sitzen um herauszufinden, dass ich mir selbst nicht wirklich glaubte. „Ja, das sind wir ja auch alle, aber trotzdem. Kann deine Mutter dich nicht mal besuchen?“, fragte sie ruhig und taxierte mich mit ihren Augen. Ich wich kurz ihrem Blick aus. Doch schnell sah ich ihr wieder ins Gesicht und hatte ein aufgesetztes Lächeln im Gesicht. „Wir haben derzeit nicht das beste Verhältnis“, war die ehrlichste und zugleich diplomatischste Antwort, die ich geben konnte. Vorsichtiger wurde ihr Blick und nach einem Moment fragte sie: „Und dein Vater?“ Ich schüttelte etwas verlegen den Kopf. Es war mir unangenehm, doch was sollte ich sonst sagen? Jules betrachtete mich, runzelte kurz ihre Stirn und schien nachzudenken. „Hm…“, murmelte sie leise, doch was sie genau dachte, sagte sie nicht. „Vielleicht solltest du dich mal zu uns setzten. Meine Tochter ist in deinem Alter... vielleicht versteht ihr euch. Sie bringt Leute gut auf andere Gedanken“ Ich wusste, dass die Menschen sich häufig mit meinem Alter verschätzten und so fragte ich leicht grinsend: „Wie alt glaubst du bin ich denn?“ Stirnrunzelnd betrachtete sie mein Gesicht. Scannte mich regelrecht. „Ich würde sagen so um die zwanzig“, meinte sie nach einem Moment, „vielleicht etwas älter aber nicht älter als zweiundzwanzig.“ Ich konnte mir ein breiter werdendes Grinsen nicht verkneifen und nun war es an ihr mich fragend anzublicken. Schnell erklärte ich: „Ich bin gerade achtzehn geworden.“ Erstaunen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Doch dann grinste sie leicht. „Du siehst wesentlich erwachsener aus.“ Ich grinste leicht und nickte ihr zustimmend zu. Wie oft hatte ich das schon gehört… „Meine Tochter ist neunzehn“, meinte sie freundlich und beobachtete mich, wie ich meinen Kaffee austrank. Ich nickte und dachte kurz nach. Was hatte ich schon zu verlieren? „Hm…Wenn es okay ist, kann ich ja mal kurz dazukommen“, meinte ich leise. Vielleicht ging so auch der Tag schneller um. Es war sicher besser als sich das ganze Wochenende zu langweilen… Freundlich nickte mir Jules zu und verabschiedete sich freundlich von mir. Ich war mir uneinig ob ich mich freuen sollte oder nicht. Bedürftig wollte ich nämlich nicht aussehen! Ich schaute ihr nach und sah, wie sie nach den Krücken griff, die sie an den Tisch gelehnt hatte. Sie nickte mir noch einmal freundlich zu und ging. Ich fragte mich, was ihr zugestoßen war… Vermutlich hatte sie einen Unfall erlitten. Doch ich würde nicht nachfragen, denn ich wusste, dass man mir dann die selbe Frage stellen würde. Nach dem Abendessen verschwand ich auf mein Zimmer. Nahm meinen Laptop zur Hand und surfte ein wenig durch das Internet, wofür mir Jenny genug Geld mitgegeben hatte. Das Internet ließen sie sich gut bezahlen, was ich fast schon unverschämt fand. Am nächsten Tag, ein Sonntag, ging ich in den großen Saal, in dem sich die Familien zusammensetzten und gegessen wurde. Ich sah mich etwas unsicher um. Wollte ich wirklich die Familie stören? Mich einfach dazu setzen? Sah das nicht wirklich einfach zu bedürftig aus? Doch wirklich Zeit darüber nachzudenken bekam ich nicht, denn die blonde Frau vom Vortag entdeckte mich erstaunlich schnell und winkte mich zu sich. Ich lächelte freundlich, während ich langsam auf sie zuging. Sie saß alleine an ihrem Tisch und hatte eine dampfende Tasse Tee vor sich stehen. Sie deutete an, dass ich mich setzten sollte, was ich gleich tat. „Morgen Jasper“, sagte sie freundlich und ich war ganz erstaunt, dass sie sich tatsächlich meinen Namen gemerkt hatte. Um ehrlich zu sein, ihren hatte ich vergessen. Ich blickte sie kurz etwas unsicher an und sie verstand. „Jules“, meinte sie freundlich und wieder schwang ihr komischer Akzent in der Stimme mit. „Was ist das für ein Akzent“, fragte ich einfach und schaute mich um, wo heute der Kaffeewagen stand. Jules lachte leise und ihre Augen blitzten kurz auf, während sie erklärte: „Ein französischer.“ Ich nickte und war erstaunt. „Kommst du aus Kanada“, fragte ich und lächelte sie freundlich an. Ja, es war ein Vorurteil, aber dies könnte ihre freundliche Art erklären. Sagte man Kanadiern schließlich zu stets freundlich und höflich zu sein. Doch sie schüttelte den Kopf und grinste leicht. „Nein, meine Eltern waren Franzosen und Amerikaner. Ich lebte aber die meiste Zeit in Frankreich, bis ich eine junge Frau war“, sagte sie und zwinkerte mir keck zu. Auch ich konnte ein leichtes Lächeln nicht unterdrücken. Den Satz, dass muss ja dann schon länger her sein, verkniff ich mir. Nachher kam sie mit dem Humor nicht zurecht. Ich ging kurz und holte mir vom Buffet ein spätes Frühstück und etwas zu trinken. Als ich gerade anfing zu essen, hörte ich was Lautes auf uns zukommen. Als ich den Kopf hob, sah ich das blonde Mädchen. Sie ging, nein tanzte eher vor ihrem sehr beleibten Vater auf uns zu. Sie hatte eine wilde lange Mähne, die aber gewollt etwas unordentlich schien. In ihren Haaren waren Haarbänder eingeflochten und sie trug ein knallbuntes Oberteil. Hätte sie nicht eine dieser komischen Röhrenjeans getragen, die an vielen Mädchen unvorteilhaft saßen, hätte man sie auch als Hippie bezeichnen können. Sie lachte ausgelassen und sah zu ihrem Vater und es schien, als nähme sie die ganze Aufmerksamkeit der Menschen um sich herum ein. „Hi, Mama“, sagte sie und drückte kurz ihre Mutter, welche sie auch fröhlich umarmte. Vermutlich kannte sie ihre Tochter und war nicht verwundert. Ihre Augen flackerten zu mir und ein neugieriger Ausdruck funkelte in ihnen. Sie hatte eine schöne Augenfarbe. Blau-grüne Augen. Solche Augen hatte ich noch bei keinem Menschen je zuvor gesehen. „Oh Hi“, quietschte sie und ich zuckte fast erschrocken zusammen, denn die Freude, die in ihrer Stimme mitschwang, verwirrte mich ungemein. „Ich kenne dich vom Sehen! Du hast uns immer zugeschaut“, grinste sie und es schien sie kein bisschen zu interessieren, dass sie jemanden mit so einer Aussage in Verlegenheit bringen konnte. „Ich bin Emily“, stellte sie sich fröhlich grinsend vor und reichte mir ihre Hand, an der jeder Fingernagel in einer anderen bunten Farbe lackiert worden war. An ihrem Handgelenk waren unheimliche viele Armbänder. Ich blinzelte einige Male verwirrt. War die auf Drogen oder was?! Unsicher reichte ich ihr meine Hand, die sie gleich begeistert schüttelte. „Ja…ähm, hi. Ich heiß Jasper… oder Jazz, was dir lieber ist“, meinte ich und sah zu Jules, die uns beiden grinsend zusah. „Oh Jasper ist so ein alter Name, da nenn ich dich doch lieber Jazzy“, meinte Emily und grinste über beide Wangen. Perplex sah ich sie an. Nur meine Familie nannte mich Jazzy! Wie kam sie darauf mich so zu nennen?! Die tiefe und ruhige Stimme ihres Vaters wehte über den Tisch. „Emily, jetzt überfordere den jungen Mann nicht“, sagte er und ich konnte ihn schmunzeln sehen. Fast schon beleidigt sah Emily ihren Vater an. „Ich überfordere ihn doch nicht! Ich stelle mich nur vor“, meinte sie und klang total entsetzt, „ist ja nicht so, als labere ich ihm einen Knopf an die Backe!“ Oh mein Gott, hatte sie das etwa vor?! Wieso hatte ich mich dazu entschieden sie alle kennen zu lernen? Unsicher sah ich zu ihrem Vater, welcher mir seine Hand reichte, die ich ergriff. „Nenn mich Alex“, meinte er freundlich. Unsicher sah ich ihn an und fragte: „Nicht dein richtige Name?“ Ein breites Grinsen schlich sich auf sein Gesicht und er schüttelte den Kopf. „Eigentlich heiße ich Alexej. Ich bin gebürtiger Russe“, meinte er lachend. Er hatte ein wohlklingendes Lachen und auch seine Stimme klang angenehm in meinen Ohren. Ich konnte mir vorstellen, dass auch er so wie seine Tochter in einem Raum alle Blicke auf sich lenken konnte. Russe, schoss es mir durch den Kopf und ich musste unweigerlich an Adam denken. Doch ich hatte keine Vorurteile mehr. Als ich damals Adam kennenlernte, war es anders gewesen. Doch nie hatte ein Russe mir irgendwas getan. Wieso also von einer Regierung gleich auf die gesamte Bevölkerung schließen. „Was hat dich nach Amerika verschlagen“, fragte ich freundlich und aß endlich mein Essen weiter. Emily und ihre Mutter unterhielten sich leise und auf einer Sprache, welche ich nicht verstand. Doch ich war mir sicher, dass es französisch war. „Ich bin Opernsänger“, sagte Alex und grinste breit, „Ich sing für große Häuser und werde ab und zu mal an andere Häuser ausgeliehen. Deswegen kann ich meine Frau auch besuchen… Hab mich einfach in das Schauspielhaus vor Ort eingeladen“, lachte er fröhlich und warf seiner Frau einen warmen und herzlichen Blick zu. Beeindruckt blickte ich ihn an. Opernsänger, doch noch bevor ich etwas sagen konnte mischte sich Emily ein: „Ja, wir sind eine sehr künstlerische Familie! Meine Mutter spielt die erste Violine im Orchester! Ein Bruder will Dirigent werden und ich werde Musicaldarstellerin! Ist das nicht klasse?!“ Emily redete schnell und schrill. Aber ihre Worte klangen immer noch sehr deutlich. Sie fragte es mich mit so einer Begeisterung und ihre Augen begannen zu strahlen. Verwirrt nickte ich. Selten war ich sprachlos, doch dieses Mädchen schaffte es! Sie zwinkerte mir offen zu und strahlte, während sie begann an ihren Haaren zu spielen. Die Ausstrahlung für diesen Beruf brachte sie alle male mit. Doch noch bevor ich etwas sagen konnte, sagte sie zu ihrer Mutter: „Wir gehen spazieren!“ Erschrocken sah ich auf mein halb aufgegessenes Frühstück. Spazieren?! Wieso? Doch noch bevor ich was sagen konnte, ergriff sie meine Hand und zog mich vom Tisch weg. „Emily, Jasper ist noch nicht fertig mit dem Essen“, tadelte Jules sie und sah sie tatsächlich strenger an. Doch Emily schien es vollkommen egal zu sein. „Kann er ja später essen. Hier gibt’s doch eh den ganzen Tag was. Komm“, ohne noch ein Wort zuzulassen zog sie mich einfach mit! Was um Himmelswillen ist bei der falsch gelaufen?! Wir gingen durch den Garten und immer wieder musterte sie mich und grinste. Sie plapperte ununterbrochen. Von ihrer Ausbildung, von ihrem Auto, irgendwas mit einer Wohnung, doch ich hörte ihr gar nicht mehr zu. Über ihren Nebenjob den sie vielleicht kriegt. Es war zu viel was aus diesem Mund geschossen kam. „Hörst du mir überhaupt zu“, meckerte sie auf einmal und sah mich pikiert an. „Äh… ne, irgendwie nicht mehr“, meinte ich ehrlich und trocken zu ihr. „Bor du bist voll ein Arschloch“, beschwerte sie sich lachend und fing an, an ihren Haaren herumzuspielen. Was tat sie denn jetzt?! „Du bist irgendwie voll süß, Jazzy“, meinte sie fröhlich und war auf einmal viel ruhiger. Oh nein…, schoss es mir durch den Kopf. „Aha“, sagte ich nur und kratze mich kurz am Kopf. „Ja… total. Freut mich auch voll, dass wir uns kennenlernen“, grinste sie und kam mir tatsächlich näher. Sie zwinkerte mir leicht zu und erneut spielte sie an ihren Haaren. Sie flirtete also mit mir. „Ja ähm danke, aber ich bin schwul, du musst dir leider wen anders suchen, schätze ich“, sagte ich schnell und dachte schon, dass ich nun Ruhe hätte. Doch dass ich falsch lag, hörte ich schon im nächsten Augenblick. „Oh wie toll! Wirklich?! Klasse! Ich such nämlich schon sooooooo lange nach einem schwulen besten Freund! Aber die meisten haben schon ne Freundin… das ist total schade“, quietschte sie und sah mich begeistert an. Ich merkte, wie mir immer mehr der Mund aufging. Was hatte sie da alles von sich gegeben?! Schwulen besten was? Ich ihr schwuler bester Freund? Das kam überhaupt nicht in Frage! Ich war niemandes schwuler bester Freund, außer vielleicht von Eric! Emily schien mir viel zu sehr durch den Wind! Und das entschied man doch nicht einfach so! Sie hatte den Schuss ja nicht mehr gehört! „Wir müssen unbedingt Handynummern austauschen“, meinte sie fröhlich und brachte mich in die Realität zurück. Ich nickte, doch schon im nächsten Moment verstand ich nicht, wieso ich das überhaupt tat. Ich musste endlich lernen zuzuhören! Hatte ich ihr doch wieder nicht richtig zugehört! Aber wieso redete sie so schnell und so viel? „Wo wohnst du denn“, fragte sie mich, setzte sich auf eine Bank und klopfte neben sich. Wie mechanisch setzte ich mich. „Äh… ich komm hier aus Texas, aber vielleicht ziehe ich bald nach Kalifornien.“ Begeisterung blitzte in Emilys Augen auf. „Ich wohne da! In Santa Monica, das ist ganz in der Nähe von L.A.! Du musst unbedingt nach Kalifornien ziehen! Texas ist doch scheiße! Die sind alle so….“ Sie brach ab, vermutlich aus Sorge mich zu verletzen. Ich grinste leicht, als ich ihr lauschte. „Ja“, fragte ich sie nach einem kurzen Moment, „Wie sind wir Texaner so?“ „Total verbohrt“, meinte sie und grinste mich kurz an. Doch dann geschah etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Ich sah, wie Emily durchatmete und auf einmal wirkte sie viel ruhiger. Sowas konnte sie also? Als sie sprach klang ihre Stimme immer noch fröhlich, doch nicht mehr so überdreht. „Weißt du… Ich hab meine Mutter gebeten dich einzuladen. Du sahst immer so traurig aus. Du warst auch immer alleine und tatest mir Leid. Und sorry, dass ich so…. aufgedreht bin… Wenn ich neue Leute kennen lerne bin ich nervös, dann bin ich immer so.“ Verblüfft sah ich sie an. Schien sie doch ein viel aufmerksamerer Mensch zu sein, als ich annahm. Wir sahen einander kurz ins Gesicht und ich merkte, wie ich unweigerlich grinste. Eine so seltene Geste in den letzten Monaten. „Verstehe, aber so wirkst du angenehmer“, meinte ich ehrlich und als ich in ihr freundliches und auch so fröhliches Gesicht sah, ergänzte ich erstaunlich ehrlich: „Ich bin derzeit auch nicht mit der besten Laune gesegnet.“ Emily winkte ab. „Alles gut“, meinte sie freundlich, „wenn ich das nächste Mal da bin, können wir ja vielleicht was machen… Malen zum Beispiel.“ „Malen“, fragte ich sie verwirrt und sie nickte begeistert. Mein Kunstlehrer meinte zwar immer, dass ich gut zeichnen könnte, doch hatte ich dieses Talent nie wirklich gefördert. „Ja, damit kann man seine schlechte Gedanken auch vergessen und abbauen“, meinte sie fröhlich lächelnd. „Aha“, meinte ich trocken. Doch Emily deutete dieses „Aha“ einfach als ja und entschied, dass wir beim nächsten Mal etwas malen sollten. Sie würde dafür einfach was mitbringen. Ich schüttelte den Kopf und konnte es einfach nicht fassen was gerade passierte. Ich war mir unschlüssig, ob ich sie lustig fand oder nicht… „Hast du eigentlich einen Freund“, wollte Emily begeistert wissen. Diese Frage, eigentlich so normal und unschuldig, war wie ein Faustschlag. Ich hatte das Gefühl, dass sämtliche Luft aus meiner Lunge gepresst wurde. Mein Blick glitt weg von Emily und ich starrte auf eine leere Wand. Auf einmal spürte ich eine warme zarte Hand auf meiner. Dass sie mich tatsächlich so genau beobachtet hatte, verblüffte mich. Mitfühlend betrachtete sie mich und leise fragte sie: „War er toll, oder war er scheiße?“ Dass sie nicht gleich von etwas Schlechtem ausging löste meine Zunge, ohne dass ich es wirklich wollte. „Er war wunderbar. Er war ein klasse Mann… Hat nur nicht sein sollen“, sagte ich leise und merkte, wie brüchig meine Stimme klang. Doch mir liefen keine Tränen über meine Wange, wofür ich sehr dankbar war. Ich merkte, wie die Stimmung sich veränderte. Die Ausgelassenheit war wie weg geblasen. Etwas, was auch Emily nicht entging. Ich merkte nicht, dass sie mich beobachtete, zu sehr war ich in meinen Gedanken versunken. „Es tut mir leid“, meinte Emily und tatsächlich schwang Mitgefühl in ihrer Stimme mit. „Hey, vielleicht kann ich dich ja ablenken“, schlug sie offenherzig und freundlich vor, „vielleicht brauchst du jetzt jemand verrückten, der dich auf andere Gedanken bringt. Was meinst du? Hm?“ Unschlüssig zuckte ich mit den Schultern, doch ich wusste, dass Emily vielleicht Recht hatte. Wie sehr hasste ich Selbstmitleid und suhlte mich doch selbst in ihm. Ich gab ihr meine Nummer. Vielleicht brauchte ich gerade wirklich einen Menschen, der ganz anders war als ich. Der verrückt war und mich ablenkte. Der das Leben in vollen Zügen genoss. Irgendwie erinnerte es an Jack und mich. Doch nun war ich der gezeichnete und Emily vielleicht jemand, der mir mehr helfen könnte als sie selbst es wusste. So etwas brauchte jedoch Zeit, von einem Treffen konnte man sowas nicht sagen. Doch vielleicht sollte ich diesem bunten Vogel einfach eine ehrliche Chance geben, denn eigentlich war sie ein sehr lieber, jedoch auch lauter Mensch. Nach diesem ersten Treffen hatte ich tatsächlich sehr häufig Besuch. Da Alex hier derzeit auftrat und Emily noch auf den Anfang des Studiums, beziehungsweise ihrer Schauspielausbildung wartete, waren beide häufig da um Frau und Mutter zu besuchen. Emily lenkte mich tatsächlich ab. So verrückt und aufgedreht sie auch war, sie brachte mich zum Lachen. Doch auch sie musste mit meinem trockenen und vielleicht auch derben Humor vorlieb nehmen, den sie immer mehr zum Vorschein brachte. Wenn sie damit nicht zurechtkam, könnten wir eh nie Freunde werden. Das Emily einfach schon behauptete, ich sei ihr bester schwuler Freund, ignorierte ich weiter, doch war ich ihr einfach dankbar, da wollte ich sie nicht kränken. Ich hatte das Gefühl, dass sie mein altes Ich wieder zum Vorschein brachte. Allerdings brachte sie mich auch dazu Sachen zu tun, die ich vorher nie getan hatte. Tatsächlich „überredete“ sie mich dazu mit ihr zu malen. Wobei überreden so aussah, dass sie mich zu textete, bis ich keine Lust mehr hatte und genervt den Stift zur Hand nahm! Tatsächlich stellte ich fest, dass ich für das Zeichnen mehr Talent hatte, als ich zugeben wollte. Etwas, was Emily dazu veranlasste mich zu überreden Künstler zu werden. Das kam für mich überhaupt nicht in Frage! Als sei ich eine Schwuchtel. Ich schaffte es nicht, dieses elendige Wort aus meinem Kopf zu bekommen. Ich fand es selbst albern, doch ich konnte es einfach nicht abstellen. So häufig wie Emily mich besuchte merkte ich auch, dass hinter ihrer fröhlichen Art noch mehr steckte. Sie versuchte stets gute Laune zu versprühen, doch auch sie schien einiges zu haben, was sie belastet. So offen und fröhlich sie war merkte ich schnell, dass einige Themen sie belasteten. Sie erzählte mir häufiger von Männern, die sie kennenlernte. Schien in jedem einen Traumprinzen gefunden zu haben und schnell war mir klar, dass Emily jemanden suchte. Jemanden, mit dem sie ihre persönliche Liebesgeschichte erleben konnte. Vermutlich hatte sie sich Hals über Kopf schon in so viele Männer verliebt und wurde schwer enttäuscht. Allerdings schien sie die Hoffnung einfach nie aufzugeben und diese positive Eigenschaft fing ich schnell an ihr zu schätzen. Es gab jedoch eine Angewohnheit Emilys, welche sich nicht abstellen ließ, so gerne ich es auch wollte. Ständig fing sie an Lieder aus dem Radio nachzusingen. Nicht, dass sie es nicht konnte, sie hatte eine sehr gute Stimme, aber es nervte! Vor allem wenn sie meinte ich solle mitsingen. So weit käme es noch! Manchmal, wenn ich sie beobachtete, fragte ich mich, was Jack von ihr halten würde. Er wäre sicherlich total genervt von ihr. Möglicherweise auch verzweifelt… Eigentlich wäre es wirklich lustig sich vorzustellen, wie dieser Paradiesvogel auf Jack treffen würde. Tatsächlich war eine weitere sehr positive Eigenschaft von Emily war, dass sie merkte, wenn man nicht mehr sprechen wollte. Sie konnte es dann zwar nur schweren Herzens akzeptieren, doch sie tat es. Diese Empathie hätte ich ihr gar nicht zugetraut. Häufig schlenderten wir durch die Gegend und mit Begeisterung redete Emily über Santa Monica. Der weltweit bekannte Pier mit dem Freizeitpark war mir durchaus ein Begriff. Die ganzen Bars und Kneipen hatte ich natürlich noch nie gesehen. Sie erzählte mir von Los Angeles. Sie redete so viel davon, dass ich das Gefühl hatte selbst schon dort gewesen zu sein. Sie wollte irgendwann auf den großen Bühnen der Welt stehen und während sie so schwärmte fragte ich mich, ob ich auch immer so ausgesehen habe, wenn ich davon sprach Baseballprofi zu werden. Hatten meine Augen auch dieses Funkeln? Abends lag ich in meinem Zimmer und dachte nach. Über mein Leben und auch über meine Zukunft. Über zwei Monate war Jack weg. So viele Tage, doch noch immer war der Schmerz kaum weniger geworden. Ich dachte darüber nach, was ich wollte. Natürlich war das, was ich am meisten wollte nicht erreichbar für mich. Jack war weg. Doch was wollte ich eigentlich noch? Ich wollte nicht nur traurig sein. Ich wollte, dass die Menschen wieder wegen mir lachten. Ich wollte etwas erreichen und wenn nicht im Baseball, dann eben was anderes! Ich wollte wieder sagen können, dass ich glücklich bin und tatsächlich hatte mir dieser schräge, bunte Paradiesvogel namens Emily wieder Hoffnung gegeben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)