Selbstmord ist keine Lösung......oder? von LadyShihoin ================================================================================ Prolog: -------- Hallo und Herzlich Willkommen zu meiner Fanfiction "Selbstmord ist keine Lösung......oder?" Ich hoffe sie wird euch gefallen und freue mich jetzt schon auf eure Rückmeldung. Aber jetzt erst mal viel Spaß beim Lesen des Prologs :) Ich weiß, er ist nicht lang, aber ein wenig spannend muss es ja sein ;-) Obwohl das kleine Schlafzimmer komplett verdunkelt war, hatte die junge Frau keine Schwierigkeiten etwas zu sehen. Sie lag auf ihrem Bett, die Arme und Beine weit von sich gestreckt und starrte hinauf zur Decke. Lediglich kleine Lichtstrahlen, die durch die Rollladen hindurch schienen sagten ihr, dass es draußen bereits hell war. Vermutlich hätte sie bereits vor einer halben Ewigkeit aufstehen müssen. Aber um ehrlich zu sein war es ihr egal. Sie hatte gerade deutlich größere Probleme. Was sollte sie machen? Wie zur Hölle sollte sie sich bloß entscheiden? Hieß es nicht „Man hatte immer eine Wahl“? Ja… Sie hatte eine Wahl. Eine Wahl mit zwei Optionen. „Und gleichzeitig hab ich doch keine“, flüsterte sie in die Stille des Raumes hinein. Wählte sie die eine Option, dann würde sie nach den Regeln spielen. Sie würde das tun, was alle von ihr erwarteten. Aber es würde sie nicht glücklich machen. Es würde ihr vielmehr das Herz brechen. Und wählte sie die andere Option…nun ja…sie wäre vermutlich glücklich. Sogar verdammt glücklich. Aber gleichzeitig wäre es ein Spiel mit dem Feuer. Diese Entscheidung könnte ihr sehr schnell das Genick brechen. Und hatte sie sie erst einmal getroffen, dann würde es kein Zurück mehr geben. Verzweifelt vergrub sie das Gesicht in den Händen, ihre zerzausten blonden Haare ignorierend. Schon seit Stunden lag sie hier und überlegte hin und her. Aber egal, wie sehr sie sich auch den Kopf zerbrach, sie kam einfach zu keinem Ergebnis. Die Frage blieb. Wie zur Hölle sollte sie sich bloß entscheiden? „Wie konnte ich nur in diesen Schlamassel hineingeraten?“, murmelte sie. Automatisch kamen ihr die Erinnerungen der letzten Jahre in den Sinn. Ganz deutlich, als wäre es erst gestern passiert, sah sie es vor sich. Jedes kleine Detail, jedes gesprochene Wort und jede Begegnung. „Ach ja…genau…“ ^^ 3 Jahre zuvor ^^ Kapitel 1: Der Anfang --------------------- „Nein.“ „Jetzt komm schon, du wirst ihn lieben.“ „Ich sagte Nein, was ist daran nicht zu verstehen?“ Die Braunhaarige stöhnte entnervt auf. „Mensch Carina, irgendwann musst du mit etwas Neuem anfangen.“ „Ich muss überhaupt nichts“, entgegnete die 16-Jährige ebenso genervt und schulterte ihre Tasche. „Aber du kannst Naruto nicht ewig hinterher trauern. Seit der Manga zu Ende ist, sprichst du kaum noch über Mangas und Animes.“ „Wieso sollte ich auch? Der beste Manga, den es gibt und jemals geben wird, ist vorbei. Und meine Kindheit irgendwie auch. Vielleicht haben meine Eltern Recht, Bianca. Es wird Zeit erwachsen zu werden.“ „Das kannst du mir nicht antun“, sagte Bianca tonlos und schaute ihre Freundin im stummen Entsetzen an. Carina und sie hatten sich geschworen niemals mit den japanischen Comics aufzuhören. Natürlich vermisste Bianca auch die wöchentlichen Ausgaben von Naruto, aber das Leben ging weiter. Es gab doch noch so viele interessante Mangas zu entdecken. „Schau ihn dir doch wenigstens einmal an. Habe ich dir jemals, was Mangas angeht, zu viel versprochen?“ „Du gibst auch niemals auf, oder?“, seufzte Carina genervt und nahm die Mangabände entgegen. „Allein schon der Name. „Black Butler“. Was soll das überhaupt sein?“ „Frag nicht, lies einfach. Ich wette, dass du genauso begeistert sein wirst wie ich. Die Story ist total klasse, glaub mir. Es kommen auch Shinigami drin vor, die magst du doch.“ „Wie in Bleach?“, fragte Carina und so langsam entwickelte sie gegen ihren Willen ein wenig Interesse. „Na ja, sie sind schon anders. Im neuesten Manga erfährt man, dass Shinigamis diejenigen sind, die Selbstmord begangen haben. Ist also quasi so ne Art Strafe, aber so schlimm finde ich das Leben von denen überhaupt nicht.“ „Na schön, na schön. Ich werde ihn lesen, aber nur wenn du aufhörst, mich weiter zu spoilern.“ Bianca grinste über beide Ohren. „Okay. Keine Sorge, ich schweige wie ein Grab. Aber eins muss ich noch loswerden. Ich weiß jetzt schon, dass du jemanden von den Charakteren ganz besonders mögen wirst. Und wenn ich ganz besonders sage, dann meine ich auch ganz besonders.“ „Ich weiß schon, was du meinst.“ Carina verdrehte ihre blauen Augen. Das „Verlieben“ in Mangafiguren versuchte sie tunlichst zu vermeiden, denn immer suchte sie sich genau den Typen aus, der irgendwann im Verlaufe der Geschichte starb. Was das anging hatte sie ein äußerst glückliches Händchen. „Ist er ein Shinigami?“ Die Braunhaarige zögerte kurz, dann grinste sie. „Ja, aber mehr verrate ich nicht.“ Zu Hause angekommen warf Carina ihre Schulsachen auf den nächstbesten Stuhl und ging in die Küche. Normalerweise kochte ihre Mutter immer, aber sie und ihr Vater waren kurzfristig ein paar Tage weggefahren. 15 Minuten später saß sie am Esstisch, aß Nudeln mit Tomatensauce und versuchte die Hausaufgaben halbwegs auf die Reihe zu bekommen. „Das ist doch alles Mist“, murmelte sie nach einer Stunde und kritzelte schließlich aus purer Verzweiflung einfach ein paar Zahlen auf das Arbeitsblatt. „Damit wenigstens überhaupt was drauf steht“, dachte sie, räumte die Unterlagen zusammen und wollte gerade die Treppe zu ihrem Zimmer hochsteigen, als plötzlich das Telefon klingelte. Schnell hechtete sie zum Tisch und nahm den Hörer. „Ja?“, meinte sie fragend und gleich darauf ertönte die Stimme ihrer Oma. „Claudia?“ Carina verdrehte die Augen. „Nein Oma, ich bin’s. Mama und Papa sind doch gar nicht da.“ „Ach entschuldige Carina, aber du hörst dich einfach genau so an wie deine Mutter.“ Angesprochene seufzte leise. Ja, das wusste sie nur zu gut, immerhin verwechselte jeder Zweite sie ständig mit ihrer Mutter am Telefon. Nachdem sie der Mutter ihres Vaters gefühlte Fünfmal versichert hatte, dass sie auch sehr gut das Wochenende auf sich selbst aufpassen konnte, warf sie sich erschöpft auf ihr Bett und schaute für mehrere Minuten einfach nur stumm die Decke an. Dann drehte sie leicht ihren Kopf und schaute zu ihrem Bücherregal. In der zweiten Reihe von oben standen feinsäuberlich die Naruto Mangas nebeneinander. Letzte Woche hatte sie sich den Letzen gekauft. Es war schön sie alle zu haben, aber dennoch verspürte sie einen schmerzhaften Stich, wenn sie daran dachte, dass sie nie wieder einen Neuen kaufen würde. Ihre Augen huschten flüchtig zu den zwei Black Butler Mangas, die Bianca ihr geliehen hatte. Irgendwie hatte ihre Freundin ja Recht. Was nützte es ihr Trübsal zu blasen? Das würde gar nichts an der Situation ändern. So versaute sie sich nur die Chance auf neue, großartige Geschichten zu stoßen. „Na dann wollen wir mal“, murmelte sie und griff nach dem ersten Comic. Das Klingeln des Weckers am nächsten Morgen riss sie abrupt aus ihrem Schlaf. Genervt stöhnte sie auf und kämpfte sich aus ihrem Bett, um dieses verdammte Piepen abzustellen. Gleich darauf stöhnte sie erneut auf. „Verdammt noch mal, es ist Samstag. Warum zum Teufel hab ich vergessen, den Wecker auf Stumm zu stellen?“ Das kleine Gerät zeigte an, dass es erst 7 Uhr morgens war. Kurz dachte das Mädchen daran sich wieder schlafen zu legen, doch dann verwarf sie den Gedanken. „Dann hab ich eben mehr vom Tag. Ich muss sowieso noch zum Friedhof.“ Normalerweise kümmerte sich ihre Mutter immer um das Grab ihrer Eltern, doch jetzt war sie nicht da und Carina übernahm den Job. Schnell ging sie ins Badezimmer und zog sich um. Ihre langen, blonden Haare zu bändigen dauerte allerdings ein wenig länger. Sie mochte ihre Haare ja eigentlich, aber pflegeleicht war es nun wirklich nicht. Nach 10 Minuten lief sie die Treppe hinunter, um kurz etwas zu frühstücken und Bianca auf eine Sms zu antworten, die sich natürlich um Black Butler drehte. Mit einem Eimer voll Wasser, einem Lappen, einer Gießkanne und einer Handschaufel bewaffnet machte sie sich anschließend auf den Weg. Der Friedhof war nur ein paar 100 Meter von ihrem Zuhause entfernt und schnell stand sie vor dem Grab. Kurz schaute sie sich um, aber niemand schien in dieser Frühe hier zu sein. „Hey“, meinte sie lächelnd und strich einmal über den weißen Grabstein. Es war schon 15 Jahre her, dass ihre Großmutter gestorben war, ihren Großvater hingegen hatte Carina nie kennengelernt. Die 16-Jährige machte sich langsam an die Arbeit. Währenddessen musste sie immer wieder an die zwei Bände vom gestrigen Tag denken. Nachdem sie sich mit dem ersten Kapitel etwas schwer getan hatte, hatte sie den Rest innerhalb von 1 Stunde regelrecht verschlungen. Sie musste sich am Montag unbedingt die restlichen Bände von Bianca ausleihen. Das bedeutete zwar, dass sie zugeben musste, dass ihre Freundin wieder einmal Recht gehabt hatte, aber das würde sie schon durchstehen. „Irgendwie verstehe ich den Hauptcharakter nicht“, dachte Carina, während sie mit einer Gießkanne die Blumen goss. „Er lässt diesen Dämon für sich arbeiten, obwohl er ihm irgendwann seine Seele nehmen wird. Ich könnte keine einzige Nacht ruhig schlafen, aber ihm scheint es vollkommen egal zu sein.“ Und dann war im letzten Kapitel, was sie gelesen hatte, ein Shinigami aufgetaucht. Aber Carina hatte auf Anhieb gewusst, dass Bianca nicht diesen Shinigami gemeint haben konnte. „Wollen wir nur hoffen, dass die nicht alle so durchgeknallt sind“, murmelte sie und zupfte kleine Blätter aus der Graberde, die durch den Wind dorthin geweht worden waren. Jedenfalls konnte sie noch nicht einschätzen, ob sie diesen Sebastian mochte. Würde die Autorin wirklich so weit gehen und Ciel am Ende sterben lassen? „Das wäre echt hart. Bis auf Death Note habe ich noch nie einen Manga gelesen, wo der Hauptcharakter stirbt. Und Death Note ist was komplett anderes, da stirbt ja schließlich fast jeder.“ Langsam richtete sie sich auf und betrachtete ihr Werk. „Das dürfte reichen“, sagte sie zu sich selbst und begann ihre Sachen zusammen zu räumen. Der Wind war mittlerweile stärker geworden und mit Besorgnis sah die 16-Jährige, dass auch der Himmel begann sich zu verdunkeln. „Na großartig. Ich hätte einen Regenschirm mitnehmen sollen“, sagte sie genervt. Wenn sie sich beeilte, würde sie es vielleicht noch trocken bis nach Hause schaffen. Carina stutzte ganz plötzlich, als hinter ihr Schritte ertönten. Sie drehte sich um, aber weit und breit war niemand zu sehen. Sogleich machte sich ein mulmiges Gefühl in ihrer Magengegend breit. Niemand war gerne alleine auf einem Friedhof, aber wenn sie jetzt noch anfing sich Geräusche einzubilden, wurde es bedenklich. Sie hob den Eimer auf und wandte sich in Richtung Ausgang, als sie es erneut hörte. Ihr Herz schlug ihr bis in den Hals, als sie sich erneut umdrehte, dieses Mal schneller. Abermals begrüßte sie nur gähnende Leere, aber jetzt hatte sie das verdammte Gefühl beobachtet zu werden. „Wer ist da?“, rief sie und versuchte nicht unsicher zu klingen, doch das Zittern ihrer Stimme verriet sie. Nichts außer dem Rascheln der Blätter der umliegenden Bäume war zu hören. Wenn sich hier jemand einen Spaß mit ihr erlaubte, dann fand die Blondine dies ganz und gar nicht komisch. Mit großen Schritten ging sie los, die Hände fest um den Eimer geklammert. Als sie zum dritten Mal Geräusche hinter sich hörte, beschleunigte sie ihre Schritte und rannte nun beinahe auf das Tor zu. „Noch ein paar Meter“, dachte sie panisch und hielt die Luft an. Im nächsten Moment wurde sie nach hinten gerissen, als sich eine Hand fest um ihre rechte Schulter schloss. Eine Hand mit langen, spitzen Krallen. Carina hatte kaum Zeit zu schreien geschweige denn sich umzudrehen, als bereits ein stechender Schmerz durch ihren Nacken schoss und die Welt in Dunkelheit versank. Kapitel 2: "Den kenn ich doch..." --------------------------------- Lautes Treiben weckte Carina aus ihrer Bewusstlosigkeit. Sie lag auf einem harten Steinboden und sie registrierte als Allererstes die Kälte, die sich bereits in ihrem Körper eingenistet hatte. Vollkommen orientierungslos und mit riesigen Kopfschmerzen setzte sie sich langsam auf und starrte einige Sekunden einfach nur vor sich hin. Was war passiert? Wieso lag sie auf dem Boden? Was…Carina riss die Augen auf, als die Erinnerungen schlagartig wieder kamen. Der Friedhof, die Geräusche, die Hand…Zittrig hob sie ihre Eigene und zog den Stoff ihres Oberteils zur Seite. Auf ihrer Schulter – dort, wo der Angreifer sie gepackt hatte – hoben sich dunkelblaue Striemen von ihrer ansonsten hellen Haut ab. Das war also kein Traum gewesen. Vorsichtig stand sie auf und betrachtete zum ersten Mal eingehend ihre Umgebung. Augenscheinlich befand sie sich in einer Art schmalen Gasse. Es war ziemlich dreckig, in jeder Ecke lag Müll und es stank nach einer Mischung aus Rauch und Urin. Flecken von unterschiedlicher Farbe hatten den Boden besprenkelt, einige davon waren unverkennbar getrocknete Blutstropfen und was die anderen waren wollte Carina gar nicht wissen. Gegen ihren Willen würgte sie und wandte sich in die entgegen gesetzte Richtung. Auf dieser Seite war es heller, die Gasse schien zu einer Straße zu führen. Die 16-Jährige trat aus der Gasse heraus und was sie daraufhin sah, ließ sie entsetzt die Augen aufreißen. Kutschen. Lauter Kutschen fuhren auf der Straße. Altertümliche Häuser säumten die Ränder und die Menschen trugen alle Kleidung wie in einem Film aus dem 19. Jahrhundert. „Was zum Teufel…“, murmelte sie fassungslos und die Kopfschmerzen wurden stärker, als die Panik sie erfasste. Wo zur Hölle war sie? In den Dreharbeiten zu irgendeinem Film? Würde gleich jemand hervorspringen und „Willkommen bei „Verstehen Sie Spaß“ rufen? „Hey, du da“, hörte sie plötzlich eine Stimme und schaute verdutzt auf. Ein Junge, vielleicht 7 oder 8 Jahre alt, stand vor ihr und guckte sie mit großen Augen an. Doch das war nicht das, was sie so irritiert hatte. Der Junge sprach sie auf Englisch an. „Du siehst ja komisch aus“, lachte er und zeigte mit dem Finger auf sie. Carina war froh, dass sie Englisch einwandfrei verstehen konnte und so stellte sie dem Jungen eine Frage, ebenfalls auf Englisch. „Weißt du vielleicht wo wir hier sind?“ Nun war es der Junge, der sie verwirrt anstarrte. „Natürlich weiß ich das“, antwortete er empört und verschränkte die Arme vor der Brust. Vermutlich dachte er, dass sie ihn für zu jung hielt um so etwas zu wissen. „Wir sind in London.“ „Das darf nicht wahr sein“, dachte Carina. Sie bemerkte kaum wie der Junge auf das Rufen seiner Mutter reagierte und wieder verschwand. Plötzlich kam ihr ein schrecklicher Gedanke. Black Butler spielte in London. Aber das konnte nicht sein. Allein schon der Gedanke war lächerlich. „Eine Zeitung. Ich brauche eine Zeitung“, murmelte sie und schaute nach links und rechts. Wie es der Zufall wollte lang nur wenige Meter von ihr entfernt eine Zeitung auf dem Boden. Zwar war sie dreckig und halb zerrissen, aber das musste für den Moment reichen. Ihre Augen huschten rasch über das Papier und suchten nach dem Datum. Als sie es schließlich fand, schien ihr Herz der Meinung zu sein, es könnte für 2 Sekunden eine Pause machen. „26. November 1886“, las sie fassungslos und mit tauben Lippen vor. Die Blondine schloss die Augen. Die ganze Situation war absurd. Seit Ewigkeiten beschäftigten sich Menschen mit der Erforschung von Zeitreisen. So etwas gab es vielleicht in Science Fiction Serien, aber nicht in der Wirklichkeit. „Abgesehen davon“, dachte sie und erinnerte sich an den ersten Mangaband von Black Butler, „fängt der Manga 1888 an. Das heißt, ich wäre zwei Jahre zu früh hier. Das ergibt doch keinen Sinn.“ Gleich darauf lachte sie, wobei es eher hysterisch als erfreut klang. Allein schon darüber nachzudenken, dass es keinen Sinn ergab, machte keinen Sinn. „Was mach ich denn jetzt?“, flüsterte sie. Sie hatte nichts dabei. Nur die Kleidung, die sie am Leib trug und das Taschenmesser, das ihr Vater ihr zum 16. Geburtstag geschenkt hatte. Nun ja, wenigstens war dieses ziemlich scharf, damit konnte sie sich zumindest verteidigen, sollte es denn nötig sein. Um das Mädchen herum begannen die Leute bereits mit vorgehaltener Hand zu tuscheln, einige zeigten sogar ohne Scham mit dem Finger auf sie. Carina begann schnell die Straße entlang zu gehen, um nicht weiterhin irgendwelche Blicke auf sich zu ziehen. „Die Menschen hier haben anscheinend auch überhaupt keinen Anstand“, dachte sie und irrte mit schnellen Schritten durch die große Stadt. In Carinas Augen sah jede Straße, jede Ecke und jedes Gebäude gleich aus. Bereits nach wenigen Minuten verlor sie die Orientierung, aber was sollte sie sonst tun? „Warum ausgerechnet Black Butler? Warum nicht Naruto? Oder Bleach? One Piece, Fairy Tail, egal was.“ Im Laufe der Jahre hatte sie so viele Mangas gelesen und nun kam sie ausgerechnet in einen, von dem sie gerade mal die ersten beiden Bände gelesen hatte. Sie wusste praktisch nichts. „Wenn es einen Gott gibt ist er ein verdammtes Arschloch“, dachte die Blondine mit finsterer Miene. Nach mehreren Stunden – oder auch nicht, Carina hatte ihr Zeitgefühl ebenfalls verloren – wurde es dunkel. Angst machte sich in ihr breit. In Geschichte war sie zwar nicht die beste Schülerin gewesen, aber sie war sich ziemlich sicher, dass es in dieser Zeit keine gute Idee war nachts draußen zu sein. Erschöpft lehnte sie sich mit dem Rücken gegen eine Wand. „Großartig. Wirklich großartig. Warum? Warum nur ich?“, flüsterte sie und spürte bereits ein wohlbekanntes Brennen in den Augenwinkeln. Natürlich wusste sie, dass ihr Tränen nicht weiterhalfen, aber in solch einer Situation würde wohl jeder anfangen zu weinen, oder? Im nächsten Moment passierten mehrere Dinge gleichzeitig. Zuerst hörte sie ein „Klick“. Keine Sekunde später gab die Wand hinter ihr nach und da sie mit ihrem ganzen Gewicht dagegen gelehnt war, fiel sie wie ein Stein rückwärts um. Ihr entfuhr ein Schreckenslaut, während sie gleichzeitig hart auf ihrem Hintern landete. „Na na, wen haben wir denn da?“, ertönte über ihr eine Stimme und Carina öffnete schlagartig ihre Augen, die sie während des Sturzes zusammengekniffen hatte. Für eine Millisekunde blieb ihr die Luft weg. Sie kannte diesen Typen. Na ja, kennen war vermutlich zu viel gesagt, aber sie hatte ihn schon einmal gesehen. Zwar nur in schwarz-weiß, aber die Merkmale waren unverkennbar. Er hatte langes, silbernes Haar und einen langen Pony, der ihm so ins Gesicht fiel, das man seine Augen nicht sehen konnte. Über den sichtbaren Teil seines Gesichtes zog sich eine große Narbe, ebenso wie an seinem Hals. An seiner linken Hand steckte ein grüner Ring und in den Ohren mehrere Piercings. Weiterhin trug er einen schwarzen Mantel, dessen Ärmel so lang waren, dass sie seine Hände vollständig verdeckten. Carina wusste jedoch noch, dass er lange, schwarze Fingernägel hatte, denn das war ihr doch ziemlich seltsam im Manga vorgekommen. Den Abschluss bildete der schwarze Hut, der ihm etwas schief auf dem Kopf saß. Vollkommen sprachlos starrte sie ihn an und registrierte gleichzeitig die ganzen Särge und ein Skelett, das in einer Ecke des Raumes stand. Während anderen Leuten vermutlich tausend bessere Dinge durch den Kopf gegangen wären, konnte Carina nur einen klaren Gedanken fassen. „Ach du Scheiße.“ Kapitel 3: Eine Bleibe ---------------------- „Oh Gott, geht’s noch peinlicher?“, fuhr es Carina gleich darauf durch den Kopf. Sie war sprichwörtlich mit der Tür ins Haus gefallen. So schnell sie konnte richtete sie sich wieder auf und versuchte irgendetwas zu sagen. Das Blöde an der ganzen Sache war nur, dass ihr absolut nichts einfiel. Der Bestatter hatte sie ebenfalls ausgiebig gemustert und kicherte nun in den langen Ärmel seines Umhangs. „Du kommst nicht von hier, stimmt’s?“ „Ja und das in mehrfacher Hinsicht“, dachte sie, nickte aber lediglich. Diese Tatsache war nicht schwer zu erkennen. In ihrer Jeans, dem Kapuzenpullover und den schwarzen Sneakers sah sie vollkommen anders aus, als jeder andere in dieser Zeit. „Es ist nicht sehr empfehlenswert um diese Uhrzeit noch draußen zu sein.“ „Ich weiß, ich…“, Carina schluckte und kam sich dabei ziemlich verloren vor. „Ich weiß nur nicht, wo ich hin soll.“ „So?“, meinte er und kicherte erneut. Carina wusste beim besten Willen nicht, was daran so komisch sein sollte, ihr war eher weniger zum Lachen zumute. Aber bereits in dem einen Kapitel, wo er vorgekommen war hatte sie gemerkt, dass er seltsam war. „Super. Als wäre die ganze Sache nicht schon schlimm genug, lande ich dazu noch bei einem totalen Nebencharakter, der vielleicht alle Jubeljahre mal im Manga zu sehen ist und anscheinend einen an der Klatsche hat. Wirklich klasse.“ Wie sollte sie ihm bitte erklären, dass sie aus der Zukunft kam? Wie sollte sie das überhaupt irgendjemandem erklären? „Ob es in diesem Zeitalter schon geschlossene Anstalten gibt? Wenn ja, dann werde ich genau dort landen.“ „Ich dreh durch“, murmelte sie aus Gewohnheit auf Deutsch, woraufhin der Mann zum nunmehr dritten Mal kicherte. „Deutsch, nicht wahr?“ Sie blinzelte und wechselte wieder auf Englisch zurück. „Sie sprechen Deutsch?“ „Nein, aber ich erkenne den Klang. Du kommst also aus Deutschland, ja?“ Carina nickte stumm, denn sie hatte Angst, dass ein mögliches Zittern ihrer Stimme sie verraten könnte. „Hehe, aber da ist noch etwas, oder?“ Carina horchte auf. Konnte es sein, dass er irgendetwas wusste? Ihr Hals war mit einem Mal staubtrocken. „Also, i-ich…ich komme nicht…“, sie rang einen Moment mit den Worten. „Ich komme nicht aus diesem Zeitalter.“ Für den Bruchteil einer Sekunde verzog sich sein Lächeln zu einer geraden Linie, aber es war so schnell vorbei, dass die 16-Jährige sich unsicher war, ob sie es sich nicht nur eingebildet hatte. Bevor das blonde Mädchen ein weiteres Wort sagen konnte, krümmte sich der Bestatter vorne über und fing so laut an zu lachen, dass Carina erschrocken zusammenzuckte. Sie merkte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. „Tatsächlich?“, brachte er schließlich keuchend hervor, als er sich nach zwei Minuten endlich etwas beruhigt hatte. „Unerwartet, aber wirklich komisch.“ „Was soll daran komisch sein?“, knurrte sie und funkelte ihn wütend an. Nun ja, den Teil seines Gesichtes, wo sie die Augen vermutete. „Weil es komplett offensichtlich ist, dass Ihr hier nicht reinpasst, wertes Fräulein. Keine Frau, nicht einmal in Deutschland, würde sich dazu überwinden Hosen zu tragen. Das gehört sich nicht und ganz besonders nicht in England.“ Sie seufzte. „Also erst einmal bin ich kein Fräulein. Mein Name ist Carina. Und zweitens hatte ich nicht geplant hierher zu kommen. Außerdem ist es in meiner Zeit normal, dass Frauen anziehen dürfen was sie wollen. So etwas nennt man Emanzipation.“ Er kicherte kurz, wirkte aber ernster als zuvor. „Ich weiß nicht, ob mir so eine Zukunft gefallen würde“, antwortete er. „Da Ihr Euch bereits vorgestellt habt“, begann er und grinste erneut, „sollte ich wohl dasselbe tun. Man nennt mich Undertaker.“ Carina zögerte kurz. „Und…Ihr wisst nicht zufällig etwas über Zeitreisen oder habt von so einem Fall schon mal gehört?“ „Ich glaube an viele übernatürliche Dinge, aber von Zeitreisen habe ich noch nie etwas gehört. Sagt, was wollt Ihr jetzt tun?“ Ihr Blick wanderte automatisch kurz zur Tür. Draußen war es mittlerweile stockfinster. Carina biss sich auf die Lippe. Sie wollte auf keinen Fall in dieser Dunkelheit noch mal nach draußen gehen, aber sie konnte den Bestatter doch nicht einfach bitten, sie bei sich übernachten zu lassen. Eigentlich schien er ja recht in Ordnung zu sein. Na ja…für seine Verhältnisse zumindest. Aber ihr gesunder Menschenverstand schrie sie innerlich an, dass sie ihn ja gar nicht kannte. „Das wäre in etwa so, als würde ich zu einem Fremden ins Auto steigen“, dachte sie, aber hatte sie überhaupt eine andere Wahl? „Ihr könnt gerne hierbleiben, wenn Ihr wollt“, sagte er in diesem Moment und die Schülerin starrte ihn verblüfft an. Konnte er vielleicht Gedanken lesen? „Aber“, fügte er hinzu und hob seinen Zeigefinger, wodurch Carina erneut die langen Nägel auffielen, „nur unter einer Bedingung.“ „Welche?“, schoss es aus ihr heraus, bevor sie es verhindern konnte. Er grinste breit und zeigte dabei seine blendend weißen Zähne. „Ihr müsst mich zum Lachen bringen.“ „Oh nein“, stöhnte sie innerlich auf, während sie ihn äußerlich nur dümmlich anstarrte. „Jetzt erinnere ich mich. Das Gleiche wollte er doch auch von Ciel.“ „Scheiße, scheiße, scheiße“, dachte sie. Wenn sie gewollt hätte, hätte sie noch die ganze Nacht damit weitermachen können, aber das würde ihn wohl kaum zum Lachen bringen. Carina war nie die geborene Witze-Erzählerin gewesen und das wusste sie auch. Mal ganz davon abgesehen, was für einen Humor hatte man denn bitteschön als Bestatter? „Denk nach, denk nach. Irgendein Witz wird dir doch wohl einfallen.“ Sie war so in Gedanken vertieft, dass sie gar nicht mitbekam, wie der Silberhaarige näher an sie herantrat. „Na?“, meinte er, woraufhin die Blondine so sehr erschrak, dass sie zwei Schritte nach hinten stolperte. Ihr Rücken stieß mit etwas zusammen und eine Sekunde später saß sie zum zweiten Mal an diesem Tag auf dem Boden. „Heut ist echt nicht mein Tag“, murmelte sie und öffnete die Augen, gleich darauf entfuhr ihr ein erstickter Schrei, als sie in zwei große leere Höhlen sah. Ihr Herz setzte kurz aus, nur um dann gleich darauf mit doppelter Geschwindigkeit weiterzuschlagen. Sie hatte es doch tatsächlich geschafft das Skelett umzureißen und so zu fallen, dass dieses genau auf ihr lag. Erst, als ihr Puls sich langsam wieder beruhigte, nahm sie das Gelächter des Undertakers wahr. Mit seiner linken Hand stützte er sich an der Theke ab, die Rechte presste er auf seinen Bauch. „D-dieser G-gesichtsausdruck war einfach unbezahlbar“, presste er prustend hervor und verfiel erneut in Gelächter. „Was ist nur los mit mir?“, schoss es Carina durch den Kopf, als sie spürte, dass sie erneut rot wurde. Aber dann ging ihr auf einmal ein Licht auf. Mit einem Satz war sie auf den Beinen. „Also kann ich bleiben, richtig? Immerhin habe ich Sie zum Lachen gebracht.“ Der Mann richtete sich keuchend auf und wischte sich unter seinen langen Haaren die Lachtränen aus den Augen. Carina fragte sich unwillkürlich wie er überhaupt etwas sehen konnte, wenn seine Haare die ganze Zeit seine Augen verdeckten. Waren sie vielleicht ebenfalls komplett vernarbt oder so entstellt? Wollte er sie deswegen keinem zeigen? „Das war besser, als ich es mir vorgestellt hatte. Und da ich meine Versprechen immer halte, darfst du bleiben.“ Ohne es verhindern zu können seufzte sie erleichtert auf und erst jetzt fiel ihr auf, wie verkrampft ihre gesamte Muskulatur gewesen war. Er bot ihr stumm an Platz zu nehmen. Da außer den Särgen keine andere Sitzmöglichkeit vorhanden war, ließ sie sich auf einem nieder – betend, dass dort niemand drin lag. „Nun Carina, aus welchem Jahr hat es dich denn hierher verschlagen?“ Angesprochene bemerkte, dass er sie nun duzte und das kam ihr gerade recht. Sie hasste es, wenn man sie siezte, immerhin war sie ja erst 16. „2015“, antwortete sie und er pfiff anerkennend. „Hehe, nicht gerade um die Ecke.“ Carina unterdrückte den Drang die Augen zu verdrehen. Der Typ hielt sich anscheinend wirklich für sehr komisch. Nun ja, vielleicht hätte sie es unter anderen Umständen ebenfalls lustig gefunden, aber momentan hatte sie nicht sonderlich viele Gründe für gute Laune. „Nein, nicht wirklich“, antwortete sie leise. Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte sie sich so unwohl und hilflos gefühlt. Nicht einmal, als sie vor ein paar Jahren die Schule gewechselt und niemanden gekannt hatte. Denn gleich am ersten Tag war sie Bianca über den Weg gelaufen und sofort hatten sie festgestellt, wie ähnlich sie sich waren. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als sie an ihre Freundin und an ihre Familie dachte. Möglicherweise würden sie nie erfahren, was mit ihr passiert war. Sie war einfach verschwunden, die Polizei würde die Suche nach ein paar Monaten vermutlich einstellen. Alle würden denken, dass sie in die Hände eines Serienmörders geraten war oder so etwas in der Art. „Ich kann mir darüber jetzt den Kopf zerbrechen so lange ich will, ich werde es sowieso nicht herausfinden. Erst einmal muss ich das hier halbwegs auf die Reihe kriegen“, dachte sie. „Kann ich im Gegenzug irgendetwas für Sie tun? Dafür, dass ich hier bleiben darf?“, fragte sie höflich, denn auf keinen Fall wollte sie den ganzen Tag nur deprimiert herumsitzen. Nachdenklich tippte sich der Undertaker ans Kinn. „Vielleicht etwas, was nichts mit Leichen zu tun hat?“, fügte Carina schnell hinzu, denn bereits dieser Gedanke bescherte ihr eine ordentliche Gänsehaut. „In was bist du denn gut?“, fragte er und Carina antwortete sogleich aus dem ersten Impuls heraus: „Nichts.“ Er grinste belustigt, trat einen großen Schritt vor und ergriff ihr Handgelenk. Erschrocken wollte sie sich ihm entziehen, doch er zeigte lediglich auf ihre Handinnenflächen. „Graberde?“ Verdutzt schaute Carina auf ihre Hände. Ihr war gar nicht aufgefallen, dass sie immer noch so schmutzig waren. „Ja, kurz bevor ich hierhergekommen bin, war ich auf dem Friedhof beim Grab meiner Großeltern. Warum?“ Die Hand ließ sie absichtlich aus. Er glaubte ihr zwar was die Zeitreise anging, aber so sehr wollte sie ihr Glück dann doch nicht überstrapazieren. „Du kannst die neuen Gräber bepflanzen, davon gibt es immerhin zurzeit mehr als genug, heh heh.“ „Ja, das kann ich machen“, antwortete sie sofort und pure Erleichterung durchströmte erneut ihren ganzen Körper. Sie war nicht die geborene Gärtnerin, aber so hatte sie zumindest eine Aufgabe. Durch ihre Gedanken war die 16-Jährige so abgelenkt, dass sie den Blick des Bestatters übersah. Die stechend grünen Augen fokussierten das Mädchen aufmerksam, während sich erneut ein Grinsen auf die Lippen des Mannes stahl. Das würde noch interessant werden… Kapitel 4: Andere Zeit, andere Sitten ------------------------------------- Hallöchen :D Vielen Dank für die tollen, neuen Reviews. Und auch ein dickes Dankeschön an die Favorisierer! Ihr seid absolut toll! Ich freue mich sehr über jegliche Art der positiven Rückmeldungen von euch. Danke! Ich wünsche Euch auf diesem Wege schon mal Frohe Weihnachten^^. Ich weiß nämlich noch nicht genau, ob es bis dahin schon ein neues Kapitel geben wird. Aber ich verspreche, ich versuche mein Bestes ;) Jetzt aber viel Spaß mit dem neuen Kapitel. Liebe Grüße, LadyShihoin Carina starrte mit weitgeöffneten Augen die Decke an. Sie hatte zwar keine Uhr, aber mittlerweile musste es bestimmt schon früher Morgen sein. „Und ich hab nicht eine Sekunde geschlafen“, murmelte sie. Dabei war sie todmüde. Doch ihr Gehirn kam mit dem Verarbeiten anscheinend nicht hinterher. Nein, ganz im Gegenteil, es fuhr Achterbahn und das schon seit Stunden. Seufzend drehte sie sich auf die linke Seite und zog die Bettdecke enger um sich. Es war ihr verdammt unangenehm, dass sie so auf die Hilfe des Undertakers angewiesen war. In den letzten Wochen war sie immer selbstständiger geworden und das mit Bedacht. Sie hatte angefangen ihren Führerschein zu machen. Sie hatte Angelegenheiten bei den Ämtern selbst erledigt, ohne die Hilfe ihrer Eltern für Klausuren gelernt, selbst zum Training war sie immer ohne Aufforderung selbstständig gegangen. Ihr Leben war geregelt gewesen. Und jetzt? „Jetzt ist alles, was ich in den letzten Jahren getan habe, völlig umsonst gewesen.“ Einen Führerschein würde sie in dieser Zeit kaum brauchen. Das Wissen, das sie über all die Jahre in ihrem Kopf angesammelt hatte, nützte ihr hier gar nichts. Mädchen in diesem Zeitalter gingen nicht zur Schule. Nur die Adeligen gingen auf Schulen für höhere Töchter, aber dort lernten sie solche Sachen wie Nähen, den Haushalt zu führen und anständige Manieren, um ihrem zukünftigen Ehemann zu gefallen. Es gab nur ganz wenige Frauen, die wirklich einem richtigen Beruf nachgingen. „Großartig. Wirklich großartig. Ich bin also in einer Zeit gelandet, wo eine Frau praktisch nichts zu sagen hat. Und das mit meiner großen Klappe.“ Aber wenigstens hatte sie eine Unterkunft. Mit gemischten Gefühlen dachte sie an den gestrigen Abend zurück. Der Bestatter hatte Tee gemacht und dann eine Urne mit Keksen hervor geholt, die alle wie kleine Knochen geformt waren. „Er scheint seinen Beruf ja echt zu lieben“, hatte sie gedacht und sich vorsichtig einen genommen. Überrascht musste sie feststellen, dass das Gebäck verdammt gut schmeckte. Auf jeden Fall schien Zimt drin zu sein, denn sofort hatte ihre Zunge begonnen vor Glückseligkeit zu prickeln. „Also“, meinte der Silberhaarige und nahm gegenüber von ihr auf einem Stuhl Platz. „Gibt es irgendeinen Grund, warum du hier gelandet sein könntest?“ Carina schüttelte den Kopf. „Nein, keine Ahnung“, antwortete sie. Darüber hatte sie sich auch schon Gedanken gemacht. Es konnte doch nicht nur am Manga liegen. Sie hatte vorher bereits jede Menge Mangas gelesen und da war nie etwas passiert. „Was bedauerlich ist, gegen eine Reise in die Welt von Naruto hätte ich nämlich nichts gehabt“, dachte sie. „Es muss einen Grund geben, aber ich weiß nicht welchen. Meine Eltern werden durchdrehen, wenn sie von ihrer Reise zurückkommen und ich verschwunden bin.“ „Dein Verlobter sicherlich auch.“ Stumm starrte sie ihn an. „Bitte WAS?“, fragte sie schließlich entsetzt nach und hoffte sich verhört zu haben. Undertaker stutzte. „Du bist nicht verlobt?“ „Natürlich nicht.“ Der Typ hatte gut reden. Verlobt…Sie hatte noch nicht mal einen Freund gehabt. Dann fiel ihr wieder ein, dass sie nicht mehr im Jahr 2015 war. Hier war es anscheinend normal in ihrem Alter verlobt zu sein. „In meiner Zeit entscheiden die Menschen selber, ob sie heiraten wollen oder nicht und vor allem sind sie weitaus älter. Wir heiraten nicht mehr weil wir es müssen, sondern…nun ja, aus Liebe halt.“ Der Ältere lachte krächzend auf. „Klingt für mich eher nach einer anderen Welt, als nach der Zukunft. Aber so waren die Menschen schon immer. Sie wollen immer mehr als gut für sie ist.“ Carina schaute ihn erstaunt an. Er konnte ja richtig ernst sein, wenn er wollte. „Er klingt wie ein alter Mann. Aber so alt ist er doch bestimmt noch gar nicht. Oder etwa doch?“, schoss es ihr kurz durch den Kopf. Wenn ja, dann hatte er sich zumindest gut gehalten. „Ja, so ziemlich alles hat sich verändert“, sagte sie und beließ es dabei. Kurze Zeit später hatte er sie nach oben in den 1. Stock geführt. „Du kannst dort in dem Zimmer schlafen“, meinte er und deutete mit einem seiner langen Nägel auf eine Tür auf der linken Seite. „Direkt gegenüber ist das Badezimmer.“ Carina zögerte kurz. „Und wo wollen Sie jetzt schlafen?“, fragte sie, woraufhin er leise kicherte. „Hehe, unten stehen doch genug Särge, oder? Ich wünsche dir eine gute Nacht.“ Mit leichtem Unbehagen schaute sie ihm dabei zu, wie er die Treppe wieder hinunterstieg und dabei leicht summte. „Verrückt ist er definitiv und das nicht zu knapp“, dachte Carina und drehte sich wieder auf den Rücken. Genervt musste sie feststellen, dass es draußen bereits hell wurde. „Es nützt eh nichts, jetzt werde ich auch nicht mehr einschlafen. Da kann ich genauso gut aufstehen.“ Müde erhob sie sich und schlüpfte wieder in ihre Schuhe. 5 Sekunden später stand sie im Bad und schaute in einen großen rechteckigen Spiegel, der über dem Waschbecken hing. „Oh Gott…Ich habe keine Augenringe mehr, meine Augenringe haben ein Gesicht.“ Schnell klatschte sie sich kaltes Wasser in das „Übel“ und ordnete ihre Haare. „Na ja, könnte schlimmer sein“, murmelte sie und stieg langsam die Stufen nach unten. „Hoffentlich kommt er jetzt nicht plötzlich aus einem Sarg raus, sonst bin ich nämlich die Nächste, die einen braucht.“ Aber schnell stellte sie fest, dass niemand da war. Das Geschäft war bis auf sie vollkommen leer. „Wo er wohl ist?“, fragte sie sich laut und setzte sich in die Küche. Sie hatte keinen richtigen Hunger und aß deshalb einfach ein paar von den Knochenkeksen, die immer noch in der Urne auf dem Tisch standen. Urplötzlich hörte sie das helle Geräusch der Türglocke. Sie drehte den Kopf und keine 10 Sekunden später stand der Undertaker vor ihr, in seinen Händen hielt er einen Karton. „Du siehst nicht so aus, als hättest du eine erholsame Nacht gehabt“, sagte er feststellend und setzte sich ihr gegenüber. „Ich habe nicht ein Auge zugemacht“, gestand sie und schaute neugierig auf die Schachtel. Für was war der Bestatter so früh schon unterwegs gewesen? Natürlich bemerkte der Undertaker ihren Blick. Grinsend stellte er das rechteckige Objekt auf den Tisch. „Es scheint mir so, als wären die Frauen im 21. Jahrhundert genauso neugierig wie die Frauen aus dieser Zeit.“ Carina schmunzelte leicht. „Nicht alle Frauen, aber ich schon.“ „Nun, es ist für dich.“ „Für mich?“, fragte sie verblüfft und starrte ihren Gegenüber irritiert an. In einer stummen Geste schob er die Schachtel zu der 16-Jährigen herüber und bedeutete ihr sie zu öffnen. Carina hob vorsichtig den Deckel an und schaute in die Box. Gleich darauf spiegelte sich Entsetzen in ihrem Gesicht wieder. „DAS soll ich anziehen?“ Er kicherte. Carina hasste es, wenn Menschen über Dinge lachten, die sie ganz und gar nicht witzig fand. Ein Seufzer entfuhr ihr, während sie sich gleichzeitig wieder die Blicke der Leute von gestern in Erinnerung rief. Mit ihrer Kleidung war sie aufgefallen wie ein bunter Hund. Und wenn Carina eines noch mehr hasste, als Menschen die über Dinge lachten die sie nicht lustig fand, dann war es aufzufallen. In diesem Punkt waren Bianca und sie komplett gleich. Je weniger Aufmerksamkeit sie auf sich zogen, desto besser. Gequält schaute sie den Undertaker an, ihre Augen fragten stumm „Muss ich das wirklich anziehen?“ „Hehe, wenn du dich umgezogen hast zeige ich dir deine neue Arbeitsstelle.“ „Nette Umschreibung für den Friedhof“, dachte sie, während sie zurück ins Badezimmer ging und hinter sich die Tür abschloss. Mit gemischten Gefühlen zog sie sich ihre gewohnten Sachen aus und legte sie anstelle der neuen Klamotten in die Kiste. 3 Sachen hatte der Undertaker ihr besorgt. Das erste Kleidungsstück war… „Ein Kleid. Ein verdammtes Kleid“, murmelte sie und besah sich den Hauptgrund ihres Entsetzens. Es war komplett schwarz, mit Ärmeln bis zum Ellbogen und von der Länge her so geschnitten, dass es noch ihre Knie bedecken würde. Carina hatte seit Jahren kein Kleid getragen. Und das hatte auch seine Gründe. Sie war nun einmal nicht so ein dünnes Püppchen wie viele andere Mädchen aus ihrer Klasse. Natürlich hatte ihr Körper sich in den letzten paar Jahren deutlich verändert. Sie hatte häufig im Fitnessstudio trainiert und war zusätzlich mehrere Male die Woche Strecken zwischen 5 und 10 km gelaufen. Wenn sie Zeit hatte, war sie auch gerne schwimmen gegangen. So hatte sie in den letzten 2 Jahren über 10 kg abgenommen. Sie war nicht dick, aber so dünn wie alle anderen Mädchen um sich herum war sie bei weitem nicht. Aber um ehrlich zu sein wollte sie auch nicht so aussehen, als würde sie zusammenbrechen wenn man sie nur antippte. Das nächste Kleidungsstück war eine Strumpfhose, die zwar dünn war, aber aus äußerst robustem Stoff. Als letzten hatte der Bestatter ihr ein schwarzes Paar Schnürstiefel besorgt, die zu Carinas Erleichterung kaum Absatz hatten. Innerhalb weniger Minuten hatte sie sich angezogen und betrachtete sich im Spiegel. Gegen ihren Willen kam ihr der Gedanke, dass sie gar nicht so lächerlich aussah. Das Kleid passte perfekt. Es saß nicht eng an ihrem Körper, sondern war genau an den richtigen Stellen etwas weiter geschnitten. Die Strumpfhose sah man kaum, da die Stiefel fast bis zum Saum ihres Kleides reichten. Sie überlegte einen Moment lang, dann nahm sie ihr Taschenmesser und steckte es sich oben in den rechten Stiefel. „Zur Sicherheit“, dachte sie und schnürte den Stiefel fest zu. Die Kiste verstaute sie unter dem Bett, denn wegwerfen kam nicht in Frage. Diese Sachen waren neben dem Messer das Einzige, was sie noch aus ihrer Welt hatte. 2 Minuten später betrat sie erneut die Küche. Carina konnte die Augen des Undertakers zwar nicht sehen, aber sie konnte ganz genau spüren, dass er sie musterte. „Können wir?“, fragte sie etwas nervös, um seine Betrachtung zu beenden. „Den hier solltest du ebenfalls tragen“, sagte er und reichte ihr einen – ebenfalls schwarzen – Kapuzenmantel. „Er hat bereits alles in Schwarz gekauft, damit ich mir auf dem Friedhof nicht die Kleidung ruiniere. Darauf hätte ich auch selbst kommen können“, dachte sie, nahm den Mantel und zog ihn an. Er war ihr an den Ärmeln ein wenig zu lang, sodass sie ihn einmal rumschlagen musste, aber ansonsten passte er genauso gut wie ihre anderen Klamotten. Anscheinend hatte der Totengräber ein gutes Auge, was Körpergrößen anging. Aber vermutlich kam das von seinem Beruf. Carina trat aus dem Institut hinaus und schaute sich um. Jetzt, wo es hell draußen war, kam ihr die Straße schon deutlich weniger bedrohlich vor. Die Kleidung schien ihre Wirkung ebenfalls nicht zu verfehlen, denn keiner der vorbeigehenden Leute warf ihr auch nur einen Blick zu. Sie entspannte sich merklich und sah dem Undertaker dabei zu, wie er die Tür zu seinem Geschäft abschloss. Schweigend gingen sie nebeneinander her und die 16-Jährige schaute sich die Umgebung ganz genau an, um den Weg in Erinnerung zu behalten. Noch einmal wollte sie nicht komplett ziellos durch die Straßen irren. Nach ca. 15 Minuten Fußmarsch erreichten sie die Kirche und somit auch den angrenzenden Friedhof. Während sie durch einige Grabreihen hindurchgingen, stellte Carina erschrocken fest, wie jung die Menschen in diesem Zeitalter häufig starben. Es schien hier eine Ausnahme zu sein, dass man das 50. Lebensjahr erreichte. Viele Frauen waren gerade mal mit 20 oder noch jünger gestorben. „Das ist doch mal ne Aufmunterung“, dachte sie sarkastisch. Der Undertaker blieb vor einem kleinen Holzschuppen hinter der Kirche stehen und schloss die Tür auf. „Hier findest du alles, was du brauchst.“ Carina betrat den engen Raum und schaute sich kurz darin um. Sie sah Schaufeln, Hacken, Putzlappen, Eimer, Gießkannen und noch ein paar weitere Dinge, die man zur Grabpflege gut gebrauchen konnte. „Die Blumen und Pflanzen kannst du beim Blumenhändler holen, an dem wir gerade eben vorbeigegangen sind.“ Sie nickte zum Zeichen, dass sie ihn verstanden hatte. Im nächsten Moment wurden ihr eine Liste und ein kleines Säckchen in die Hand gedrückt. „Dann fang mal an“, sagte er und grinste. „Ich habe selbst noch einige Dinge zu erledigen. Heute Nachmittag hole ich dich wieder ab.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und schlenderte davon. Carina sah ihm noch eine ganze Weile nach, dann sah sie auf die Liste. Auf der linken Hälfe der Liste waren die Daten der betreffenden Person verzeichnet, auf der rechten Seite die Grabnummer. „Gott sei Dank, wie soll man auch ohne Nummer den Standort finden? Dieser Friedhof ist ja riesig.“ Das Säckchen enthielt einige Münzen, vermutlich sollte sie davon die Blumen bezahlen. „Na gut“, murmelte sie. „Dann mal ran an den Speck.“ Kapitel 5: Traum oder Wirklichkeit? ----------------------------------- Hey :) Ich wünsche Euch auf diesem Wege schon einmal einen guten Rutsch und ein frohes neues Jahr 2016. Viel Spaß mit dem neuen Kapitel^^ LG LadyShihoin Langsam machte Carina sich mit den Werkzeugen vertraut, schaute sich auf dem Friedhof um, entdeckte die Wasserstelle und fing bald darauf mit ihrer neuen Arbeit an. „Ich hätte nicht gedacht, dass es so viele Gräber gibt, um die sich niemand kümmert. Irgendwie schon traurig.“ Mit beiden Händen schleppte sie den Eimer, der nun fast randvoll mit Wasser gefüllt war, zu dem ersten Grab und stellte ihn daneben ab. Neugierig lass sie die Inschrift auf dem dunklen Grabstein. Jessica Conners 18.06.1870 – 05.09.1884 Für einen Moment zog sich ihr Herz schmerzhaft zusammen. Dieses Mädchen war nur 14 Jahre alt geworden und obwohl sie erst 2 Jahre tot war, kümmerte sich bereits niemand mehr darum. „Vielleicht haben ihre Eltern es nicht ertragen“, dachte sie und begann mit einem Lappen den Stein sauber zu wischen. Erneut musste sie an ihre eigenen Eltern denken. Es brach ihr das Herz, wenn sie daran dachte, dass ihre Eltern denken würden, sie wäre tot. „Lass es nicht an dich ran“, murmelte sie sich selbst zu und holte nun die Schaufel, um das Grab richtig zu bepflanzen. Die Zeit verging wie im Fluge und Carina war froh darüber, denn so konnte sie ihre unangenehmen Gedanken ignorieren. Der Blumenhändler war ein großer, stämmiger Mann mit Kinnbart und sehr nett. Geduldig zeigte er der 16-Jährigen seine Ware und erklärte ihr die verschiedenen Bedeutungen der Blumen und Pflanzen. Als Carina mit dem dritten Grab fertig wurde, tat die Glocke der Kirche 16 Schläge. „Doch schon so spät“, sagte sie und wischte sich kurz mit dem Handrücken über die Stirn. Das Ganze war doch anstrengender als sie gedacht hatte. Gerade, als sie sich die Hände mit klarem Wasser abwusch, betrat der Undertaker den Friedhof und kam mit seinem altbekannten Grinsen auf sie zu. „Nicht schlecht“, sagte er anerkennend und betrachtete die bepflanzten Gräber. Carina lächelte ganz leicht und half dem Bestatter dabei die Materialien wieder in den Schuppen zu räumen. Gemeinsam machten sie sich danach auf den Rückweg. Der Himmel färbte sich bereits rot und orange, als sie den Laden endlich erreichten. „Ich werde dich nicht jedes Mal abholen können, also solltest du dir die Uhrzeit merken. Es wird bald dunkel und wie ich dir gestern bereits sagte ist es keine gute Idee, um diese Zeit noch draußen zu sein. Wir wollen doch nicht, dass ich dich in einen meiner Särge betten muss, oder?“ Ein Schauder lief ihr unwillkürlich über den Rücken. Selbst so ein ernstes Thema verpackte er in einen Witz. „Ja“, antwortete sie lediglich und hoffte, dass man ihre Beklommenheit nicht hören konnte. Ihre Augenlieder waren plötzlich verdammt schwer. „Eigentlich kein Wunder“, dachte sie sich. Die letzte Nacht hatte sie nicht geschlafen und heute hatte sie fast den halben Tag lang gearbeitet. Das war schon etwas anderes, als in der Schule herumzusitzen und dem Lehrer zuzuhören. Sie zog den Mantel aus und hängte ihn an den Kleiderständer, der an der Eingangstür stand. „Du solltest etwas essen“, schlug der Undertaker vor und wie aufs Stichwort knurrte der Magen der 16-Jährigen. Während der Undertaker belustigt auflachte, wurden Carinas Wangen heiß. Schnell ging sie in die Küche, in der festen Erwartung erneut Kekse essen zu müssen. Jedoch hielt sie gleich darauf verwundert inne, als sie Brot und verschiedene Aufstriche auf der Anrichte stehen sah. „Das war heute Morgen definitiv noch nicht da“, dachte sie. „Ich dachte mir, es könnte dir auf Dauer langweilig werden nur Kekse zu essen“, sagte er dicht hinter ihr. Für einige wenige Sekunden, die sich allerdings absurd in die Länge zogen, herrschte Schweigen. Ohne es verhindern zu können – oder zu wollen – drehte sie sich um und lächelte. „Danke“, murmelte sie leise, aber vollkommen aufrichtig. Für einen kurzen, wirklich kurzen Moment wirkte der Undertaker verdutzt. Doch so schnell wie es gekommen war, war es auch schon wieder vorbei. Grinsend deutete er eine leichte Verbeugung an und ging dann die Treppe hinab, die - wie Carina vermutete - zu seinem eigentlichen Arbeitsplatz führte. Das Mädchen aß drei Brotscheiben mit Erdbeermarmelade und stieg dann die Treppen zum Badezimmer herauf. Sie schloss die Tür ab und lies ein wenig Wasser in die Badewanne einlaufen. Schnell wusch sie ihre Anziehsachen und hängte sie über einen Handtuchhalter zum Trocknen auf. Nun ließ sie deutlich mehr Wasser in die Wanne und 5 Minuten später setzte sie sich selbst hinein. Ein wohliger Seufzer entfuhr ihr. „Wenn das nicht der Himmel ist, dann weiß ich auch nicht“, dachte sie und tauchte einmal komplett unter. Sie konnte richtig spüren wie der ganze Dreck und ein wenig von dem Stress der letzten zwei Tage von ihr abfiel. Natürlich war das auf Dauer keine Lösung. „Gehen wir das Ganze doch mal logisch an“, flüsterte sie und verdrehte sogleich die Augen. „Sofern man in dieser Sache von Logik sprechen kann“, fügte sie hinzu und griff nach einer der Flaschen neben der Badewanne, um sich einzuseifen. „Es gibt einen Grund warum ich hierhergekommen bin. Wenn ich herausfinde was das für ein Grund ist, dann kann ich vielleicht nach Hause zurück. Aber wie mache ich das? Wo soll ich anfangen?“ Während sie die nächsten 30 Minuten im Wasser trieb, zerbrach sie sich den Kopf darüber, kam allerdings zu keinem richtigen Ergebnis. Als ihre Finger bereits ganz schrumpelig waren und sie vom Denken Kopfschmerzen bekam, stieg sie aus dem Wasser und trocknete sich gründlich ab. Wie immer war sie eine gefühlte Ewigkeit mit dem Kämmen ihrer Haare beschäftigt. Es war bereits stockdunkel draußen, als sie endlich in ihr Schlafzimmer ging. „Was ist das denn?“ Carina runzelte die Stirn und hob das unbekannte Objekt von ihrem Bett auf. Gleich darauf glotzte sie es mit der gleichen Ungläubigkeit an, wie am frühen Morgen das Kleid. Es war ein schneeweißes, langärmliges Nachthemd. Aber das war nicht das Schlimmste. „Rüschen. Es hat verdammt noch mal Rüschen“, sagte sie zu sich selbst und besah sich die Falten am Saum und an den Ärmeln. „Ach du Scheiße“, dachte sie und musste unwillkürlich grinsen, als sie sich Biancas Reaktion auf dieses Kleidungsstück vorstellte. Die Braunhaarige würde ihr die tief in die Augen sehen, den Kopf ein wenig senken und dann mit ungläubiger Stimme „Dein Ernst?“ sagen. „Jetzt grinse ich bestimmt mindestens so breit wie der Undertaker“, dachte die Blauäugige und lachte in sich hinein. Bianca und sie hatten schon immer eine Menge Unsinn veranstaltet. Aber zumindest war es bei ihnen immer lustig zugegangen. „Nicht so wie bei diesen ganzen anderen Spießern, die sich immer über uns lustig gemacht haben.“ Sie waren nie die besten Schüler gewesen oder die besten Sportler. Besonders hübsch oder cool auch nicht. Irgendwie hatten sie in keine der Gruppen hinein gepasst. Aber sie hatten zumindest einander gehabt. Jetzt war Carina ganz auf sich alleine gestellt. Seufzend zog sie das Nachthemd an. Wie schon ihre übrigen neuen Klamotten passte es perfekt. Es endete knapp über ihren Füßen und der Stoff fühlte sich angenehm auf der Haut an. Das Alles war bestimmt nicht billig gewesen. Irgendwie wurde sie aus diesem Mann nicht schlau. Er kannte sie nicht und trotzdem half er ihr, kaufte ihr sogar etwas zum Essen und zum Anziehen. So jemanden hätte Carina in ihrer Zeit nur schwerlich gefunden. Sie gähnte. „Diese Nacht werde ich mit dem Schlafen definitiv keine Probleme haben“, dachte sie und stieg vollkommen übermüdet ins Bett. Sie warf sich lediglich noch die Decke über und keine 10 Sekunden später fielen ihr bereits die Augen zu. Carina träumte. Das war ihr relativ schnell klar. Zum einen war sie wieder in der Zukunft. Das erkannte sie sowohl an den Autos, als auch daran, dass sie auf dem Dorfspielplatz war, auf dem sie früher immer viel Zeit verbracht hatte. Zum anderen – und das war nun wirklich der ausschlaggebende Grund – schien sie wieder 6 Jahre alt zu sein. Das kleine Mädchen schaute an sich herunter. Sie trug eine blaue Hose, ein hellgrünes T-Shirt und äh, rosafarbene Schuhe? „Wie konnte ich diese Farbe damals nur gut finden?“, dachte Carina etwas angewidert. Im nächsten Moment wurde ihr bewusst, dass sie keinerlei Kontrolle über ihren Körper hatte, denn plötzlich lief sie los ohne es wirklich zu wollen. „Was zum Teufel…“, dachte sie und schaute sich selbst dabei zu, wie sie vom Spielplatz runterlief und sich der Hauptstraße näherte. Schon von weitem sah die Blondine von rechts ein blaues Auto kommen, doch das Mädchen blieb nicht stehen. Jede Zelle ihres Körpers, die einen Selbsterhaltungstrieb besaß, schrie in schierer Panik auf. „Bleib stehen, verdammt noch mal. Bleib stehen“, schrie sie ihr jüngeres Ich an, doch es nützte nichts. „Warum bleibe ich nicht stehen?“ Und mit einem Mal traf sie die Erkenntnis mit voller Wucht. Sie konnte das Auto vielleicht sehen, aber ihr 6-jähriges Ich nicht. Kinder in diesem Alter achteten nicht so auf ihre Umgebung wie Jugendliche oder Erwachsene. War das Ganze hier mehr als nur ein Traum? War das vielleicht…eine Erinnerung? Irgendwie hatte sie plötzlich das Gefühl, sich dunkel zu erinnern. Ganz dunkel in ihrem Unterbewusstsein und da war auch dieses Déjà-vu Empfinden. „Aber meine Eltern hätten mir doch gesagt, wenn ich irgendwann einmal von einem Auto angefahren worden wäre“, dachte sie in dem Moment, in dem ihre kleinen Füße die Straße berührten. Ihr Kopf drehte sich in Richtung des Autos und nun schien das Auto auch der kleinen Carina aufzufallen. Wie angewurzelt blieb das Kind stehen und schaute in einer Art Schockstarre das Fahrzeug an, das nur noch wenige Meter von ihr entfernt war. „Großartig, jetzt bleibst du stehen“, stöhnte die 16-Jährige und realisierte kaum, dass sie mit sich selbst schimpfte. Innerlich machte sie sich bereits auf den Aufprall gefasst, jedoch überschlugen sich gleichzeitig ihre Gedanken. Das Auto fuhr bestimmt mindestens 50 km/h. Wenn es sie wirklich frontal treffen würde…Nein, das wollte sie sich lieber nicht vorstellen. Das hier war zwar immer noch ein Traum, aber trotzdem hatte sie Angst davor die Schmerzen zu spüren. Carina hätte am liebsten die Augen geschlossen, aber immer noch war sie lediglich die stille, zur Untätigkeit verdammte, Beobachterin. Genau eine Sekunde – wenn überhaupt, vielleicht waren es auch nur Millisekunden – vor dem Aufprall schlossen sich zwei Arme um ihren kleinen Körper und bereits im nächsten Moment war sie nicht mehr auf der Straße, sondern wieder auf dem Spielplatz. Plötzlich sah sie nichts mehr. Es war, als hätte plötzlich jemand das Licht ausgeknipst. Dennoch konnte sie weiterhin spüren, wie sie hochgehoben wurde. Vermutlich hatte ihr jüngeres Ich durch den Schock das Bewusstsein verloren. „Das war ganz schön knapp“, hörte sie über sich eine Stimme sagen. Es war unverkennbar eine Männerstimme. Sie war tief, aber gleichzeitig samtweich und ruhig. Carina kannte die Stimme nicht, aber irgendwie war ihr seltsam zumute. Ihre Sinne waren plötzlich alle bis zum Zerbersten angespannt, gleichzeitig aber fühlte sie sich auf einmal so…so sicher. Eine Hand strich ihr durchs Haar. „Ich stehe zu meinem Versprechen. Ich werde Euch für immer beschützen.“ Carina fuhr aus dem Schlaf hoch und stand einen Moment später senkrecht im Bett. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn und sie zitterte am ganzen Körper. Während sie versuchte ihre Atmung zu beruhigen und nicht schmerzhaft oft einzuatmen, hämmerte ihr Herz hart gegen ihren Brustkorb. Für einen ganz kurzen Moment wurde ihr schlecht und sie ließ sich wieder zurück ins Bett fallen. Die Übelkeit verflog nach wenigen Sekunden, was blieb waren dröhnende Kopfschmerzen in ihren Schläfen. Komplett aufgelöst brach sie in Tränen aus. Was, um alles in der Welt, hatte das nur zu bedeuten? Kapitel 6: Eingebrannte Bilder ------------------------------ Das Erste, was Carina wieder bewusst wahrnahm, war ihr ruhige Atmung. Nachdem sie mitten in der Nacht vollkommen fertig aus einem Albtraum erwacht war, schien sie danach wieder in eine Art Halbschlaf geglitten zu sein. Ihre Kopfschmerzen waren verschwunden, dennoch hatten diese Bilder einen bleibenden Eindruck hinterlassen. „Das war kein Albtraum“, dachte die 16-Jähriger mit einer Gewissheit, die sie selbst überraschte. Zu 100 % war sie sich sicher, dass es eine längst vergessene Erinnerung gewesen war. „Durch einen Schock können Erinnerungslücken entstehen“, murmelte sie und hörte fast detailgetreu die Stimme ihrer Biologielehrerin, die ihnen dies vor einem Jahr beigebracht hatte. Wer war das gewesen? Wer zum Teufel hatte ihr damals das Leben gerettet? Und warum tauchte diese Erinnerung gerade jetzt wieder auf? Das konnte doch kein Zufall sein. „Entweder das oder ich drehe langsam wirklich durch“, sagte sie und stieg aus dem Bett. Ihr Nacken war unangenehm verspannt und als sie im Badezimmer in den Spiegel schaute, entfuhr Carina ein Stöhnen. Ihr nächtlicher Ausbrach hatte Spuren hinterlassen. Ihre Augen waren gerötet und geschwollen, ihr Gesicht etwas bleicher als sonst. „Großartig“, dachte sie. Nur, weil sie bei einem Bestatter lebte, musste sie noch lange nicht wie eine Leiche aussehen. Ihre Hoffnung, dass dies ein guter Tag werden könnte, sank gerade gegen Null. Müde und mit einem unguten Gefühl in der Magengegend ging sie in die Küche und lauschte für einen Moment auf andere Geräusche. Aber es herrschte nach wie vor Totenstille. „Oh man, den muss ich mir merken. Totenstille… Jetzt bekomme ich schon den gleichen Humor wie Undertaker.“ Ziemlich lustlos kaute die 16-Jährige eine Weile auf ihrem Toast rum, bevor sie es schließlich aß und ein wenig in der Küche aufräumte. Als sie gerade fertig wurde und in den Vorraum trat, bimmelte es und die Tür ging auf. Erstaunt schaute Carina auf. Das war das erste Mal, dass jemand diesen Laden in ihrer Anwesenheit aufsuchte. Zwei Männer traten nacheinander ein. Der Erste war ziemlich breit und ziemlich groß, mit braunen langen Haaren und einem Schnauzer. Der Zweite war klein, aber dafür ziemlich muskulös. Er hatte zwar auf dem Kopf keine Haare, dafür aber einen dunkelbrauen Vollbart. „Die sehen irgendwie dubios aus“, dachte Carina noch, dann fiel ihr Blick auf die Trage, die die Beiden mit sich führten. Ein erstickter Laut entfuhr ihrer Kehle. Auf der Trage lag eine junge Frau. Oder eher das, was von ihr noch übrig war. Das Blut, das aus ihrer aufgeschlitzten Kehle geflossen war, war längst getrocknet. Es war in ihr ehemals hellblaues Kleid gesickert und hatte den Stoff bis zur Hüfte rot gefärbt, während der Saum komplett zerrissen worden war. Ihre langen schwarzen Locken waren zerzaust und konnten die riesige Platzwunde an der Stirn nicht verdecken. Ihre tiefbraunen Augen, die am gestrigen Tag vermutlich noch voller Leben gewesen waren, blickten jetzt nur noch stumpf und leer ins Nichts. Carina spürte, wie ihr das verbliebene Blut aus dem Gesicht wich. Sie presste ihre Lippen fest aufeinander und unterdrückte somit das Würgen, das sogleich in ihrer Kehle aufstieg. Alles in ihrem Körper schrie danach wegzulaufen, ihr Gehirn stellte auf Panikmodus um. Entgeistert wich sie zurück und prallte plötzlich gegen einen Widerstand. Gleich darauf legten sich Hände sanft auf ihre Schultern und die Stimme des Bestatters ertönte. „Ein Gast und das schon so früh am Morgen.“ Er kicherte. Die 16-Jährige war verstummt, aber ihr Körper zitterte immer noch. Der Druck auf ihren Schultern wurde fester, aber nicht unangenehm. Sie schloss ihre blauen Augen, aber trotzdem konnte sie die Tote weiterhin in ihren Gedanken sehen. „Sie wurde heute Morgen in einer Gasse gefunden. Da sie anscheinend noch nicht vermisst wird, haben wir sie direkt hierhergebracht.“ Carina achtete gar nicht mehr auf die Antwort des Undertakers. Sie konzentrierte sich viel mehr darauf ruhig zu bleiben, nicht durchzudrehen und – vor allem anderen – sich nicht zu übergeben. Ihre Nägel, die Gott sei Dank nicht besonders lang waren, krallten sich in ihre Handinnenflächen als sie die Hände zu Fäusten ballte. Diese Frau konnte nur wenige Jahre älter gewesen sein als sie, vielleicht 18 oder 19. „Wie können Menschen nur so grausam sein?“, dachte sie. Natürlich hatte sie immer wieder in den Nachrichten von Morden gehört, aber nie hatte sie es so richtig an sich herangelassen. Und in Mangas, Animes und Filmen da war das alles nicht echt gewesen. Es jetzt so vor sich zu sehen, in der Realität, war wie ein Schlag ins Gesicht. „Du hast noch nie eine Leiche gesehen, stimmt‘s?“ Carina öffnete die Augen. Sie hatte überhaupt nicht bemerkt, dass die Männer gegangen waren. Der Bestatter schien seinen „Gast“ bereits in den Keller gebracht zu haben, jedenfalls war sie nicht mehr zu sehen. „Nein“, antwortete die 16-Jährige mit brüchiger Stimme. „In meiner Zeit…“, sie räusperte sich kurz, „in meiner Zeit steht so etwas nicht auf der Tagesordnung.“ Der Silberhaarige gab einen missbilligenden Laut von sich. „Scheint, als hätten die Bestatter im 21. Jahrhundert nicht mehr sonderlich viel zu tun. Solche Fälle passieren hier fast jeden Tag.“ Die Blondine starrte ihn entsetzt an, in der Hoffnung, dass er wie so oft einen Scherz gemacht hatte. Doch dieses Mal lachte der Undertaker nicht. „Sag mir, was glaubst du ist ihr zugestoßen?“ Ihre blauen Augen weiteten sich, als er sie dies fragte. Warum wollte er ihre Meinung dazu hören? War die Antwort nicht sogar offensichtlich? „Für mich ist sie offensichtlich“, dachte das Mädchen und erschauderte unwillkürlich. Als sie die Lippen erneut öffnete um zu sprechen, war ihr Mund verdammt trocken. „Sie wurde vergewaltigt…nehme ich an. Und dann wurde ihr die Kehle durchgeschnitten. Mit einem Messer oder ähnlichem. Die Platzwunde an der Stirn kommt sicherlich davon, dass sie versucht hat sich zu wehren.“ Bei seinem jetzigen Grinsen entblößte er seine weißen Zähne. „Scharfsinnig“, meinte er und Carina blinzelte. „Scharfsinnig? Was soll daran scharfsinnig sein? Es ist offensichtlich.“ „In dieser Zeit bilden sich die meisten Frauen nicht so weiter wie im 21. Jahrhundert. Die adeligen Frauen besuchen zwar Schulen für höhere Töchter, aber dort wird kein logisches Denken vermittelt. Dafür sind hier einzig und allein die Männer zuständig.“ Aus irgendeinem Grund machten seine Worte die 16-Jährige wütend. „Ist es für Euch so überraschend, dass eine Frau denken kann, wenn sie will?“ Sie zuckte zusammen, als er ihr mit einem seiner langen Nägel gegen die Wange pickte. „Überrascht? Nein. Erfreut? Ja. In dieser Gegend finden sich nicht viele Frauen, mit denen man über ernste Themen sprechen kann. Nun ja, höchstens die Tante des Earls vielleicht.“ Carina schnaubte und achtete gar nicht darauf, dass er gerade indirekt die Frau erwähnt hatte, die sie bereits aus dem Manga kannte. „Es gibt schon einen Grund, warum nicht nur Männer ein Gehirn haben. Ich werde meines jedenfalls benutzen, ob das den Leuten hier nun gefällt oder nicht. Es wäre doch ziemlich bedauerlich dumm zu sterben, oder etwa nicht?“ Herausfordernd starrte sie ihn an, doch er beugte sich lediglich ein wenig zurück und lächelte, dieses Mal ohne Zähne. „In der Tat“, antwortete er und Carina fiel auf, dass seine Stimme tiefer wurde, wenn er etwas ernst meinte. „Allerdings solltest du dann auch so schlau sein und dich in der Öffentlichkeit anpassen. Hier kann einen zu viel Wissen schon einmal leicht den Kopf kosten.“ Irgendwie erinnerte Carina das daran, was Bianca immer zu ihr gesagt hatte. Dein großes Mundwerk wird dich eines Tages noch in große Schwierigkeiten bringen, Carina. Und wenn es soweit ist wirst du dir denken „Hätte ich doch mal besser meinen Mund gehalten“. Und so abwegig war dieser Gedanke gar nicht… „Wer schlau ist kann sich dumm stellen“, antwortete sie und lächelte nun leicht. „Keine Sorge, ich werde meine Gedanken für mich behalten.“ Es verging eine ganze Woche. Carina hatte einen geregelten Tagesablauf und bekam Gott sei Dank keine weiteren Leichen zu Gesicht. Allerdings schlief sie immer noch sehr schlecht. Der seltsame Albtraum hatte sich zwar nicht wiederholt, aber die Leiche des Mädchens ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sie konnte sich zwar oft nicht mehr an ihre Träume erinnern, wenn sie verschwitzt aufwachte, aber ihr Unterbewusstsein schien nachts auf Hochtouren zu arbeiten. Am heutigen Tag war sie nicht wie sonst auf dem Friedhof, sondern in der Stadt. Der Undertaker hatte ihr eine kleine Liste in die Hand gedrückt und sie zum Einkaufen geschickt. So kam sie endlich mal dazu das viktorianische London etwas näher kennenzulernen. London war eine schöne Stadt, daran gab es keinen Zweifel. Allerdings hatte auch die schönste Stadt ihre Schattenseiten. Carina konnte viele Bettler und Obdachlose sehen, teilweise sogar Kinder die alleine am Straßenrand standen. „Ich hab nie darüber nachgedacht wie gut es uns in der Zukunft geht. Dagegen waren die Probleme, die ich hin und wieder mal hatte, ja wirklich Kinderkram.“ Nach ca. 2 Stunden hatte sie bereits alles gefunden, was der Bestatter benötigte. Besonders überrascht war sie über die verschiedenen Sorten von Make-Up gewesen. Dann war ihr allerdings eingefallen, für was er es brauchte. „Um seine – wie nennt er es noch gleich – „Gäste“ wieder hübsch zu machen“, dachte sie. Wie das Mädchen von letzter Woche. Carina wusste, dass somit nur die Wahrheit verschleiert wurde. Allerdings würde sie an Stelle der Familie auch nicht sehen wollen, wie die junge Frau zuletzt ausgesehen hatte. Ihre Mutter hatte damals auch nicht die Leiche ihres Vaters sehen wollen. „Ich möchte ihn so in Erinnerung behalten, wie er lebend ausgesehen hat“, hatte sie später einmal zu Carina gesagt. Ihr Großvater war zwar an einem natürlichen Tod gestorben, aber die 16-Jährige konnte es dennoch verstehen. Das Bild eines Toten brannte sich für immer in das Gedächtnis, soviel stand fest… „Ich bin wieder da“, rief sie beim Betreten des Instituts und stellte den Korb auf die Anrichte in der Küche. Während sie die Lebensmittel verstaute, legte sie die Döschen mit dem Make-Up vorsichtig auf den Tisch, genauso wie das restliche Geld. „Ah, wunderbar“, meinte der Undertaker, als er durch die Tür kam und eines der Döschen in die Hand nahm. „Davon war fast nichts mehr da.“ Unwillkürlich fragte sich Carina, wie viele Leichen er schon unter seinen Händen gehabt hatte. „Ich will es lieber nicht wissen“, dachte sie kurz darauf und nahm sich ein Glas Wasser. Zum ersten Mal an diesem Tag ertönte das Klingeln der Türglocke und kurz darauf waren Schritte zu hören. „Bitte keine Leiche“, fuhr es ihr kurz durch den Kopf, als bereits eine Stimme ertönte. „Undertaker, bist du da?“ „Ah, der werte Earl“, murmelte der Bestatter und machte sich bereits auf den Weg, um seinen Besuch zu empfangen. Carinas Neugierde wurde geweckt und sie folgte ihm in den Eingangsbereich. Ob das wirklich… „Ja, er ist es wirklich“, dachte sie gleich darauf und schaute den Hauptcharakter dieser Geschichte mit großen Augen an. Er war ein paar Köpfe kleiner als sie, dennoch wirkte er in seinen edlen Klamotten und seiner aufrechten Haltung wesentlich älter als er war. „Ich glaube, er müsste jetzt 10 oder 11 sein“, dachte sie. Ihr Hals wurde trocken, als sie Sebastian hinter ihm stehen sah. Er war wirklich überdurchschnittlich gutaussehend, aber Carina ließ sich davon nicht täuschen. Nein, sie wusste ja was er wirklich war. „Sebastian, mein Mantel“, sagte der Junge mit der Augenklappe und streckte die Arme aus. „Jawohl, junger Herr“, antwortete der Dämon und streckte seine Hände aus, um seinem Meister den Mantel abzunehmen. Carinas Eingeweide gefroren augenblicklich zu Eis. Ohne es kontrollieren zu können ließ sie ihr Glas los, was am Boden in tausend Scherben zersprang. Drei Augenpaare wandten sich ihr zu, wobei die Augen des Undertakers natürlich wie immer von seinen Haaren verdeckt wurden. Carina waren die Blicke jedoch egal. Sie konnte nur weiterhin den Butler in stummem Entsetzen anstarren. Er hatte nur drei Worte gesagt, dennoch war sie sich absolut sicher. „Er war es. Er hat mich gerettet.“ Kapitel 7: Fragen über Fragen ----------------------------- Carina rührte sich nicht. Obwohl ihr bewusst war, dass drei Augenpaare sie vollkommen fixierten, konnte sie nicht einmal den kleinen Finger rühren. Ihre Gedanken hingegen bewegten sich nicht nur; sie rasten. „Er hat mich damals vor dem Auto gerettet. Es war eindeutig seine Stimme, die ich gehört habe. Er ist ein Dämon, also wäre es theoretisch möglich, dass er in meiner Zeit noch am Leben ist. Aber warum? Warum sollte er mich retten? Und kann es ein Zufall gewesen sein, dass er genau zu der Zeit dort war? Kann es ein Zufall sein, dass ich ausgerechnet hierhin verschlagen wurde? Nein, nie im Leben kann das alles zufällig passiert sein.“ Aber wie konnte er in ihrer Welt überhaupt existieren? Er war doch eine Mangafigur…oder etwa nicht? Die Frage des Undertakers holte sie schlagartig wieder in die Gegenwart zurück. Äh, die Gegenwart in der Vergangenheit. „Ist alles in Ordnung?“ Carina blinzelte und wandte endlich ihren Blick von Sebastian ab. „J-ja“, stammelte sie und kniete sich gleich darauf hin, um die Scherben des zerbrochenen Glases einzusammeln. „V-verzeihung.“ Ciel schien sie anscheinend als ungeschickte Bedienstete abzustempeln, denn er fuhr sofort fort und ließ sich nicht aus dem Takt bringen. „Ich brauche Informationen von dir, Undertaker“, sagte er in einer Tonlage, die in mehrere Jahre älter wirken ließ. Der Bestatter kicherte und beugte sich näher an den Jungen heran. „Ich weiß bereits, warum Ihr hier seit, Earl. Es geht um die Leiche des Mädchens, stimmt’s?“ Carina, die nun alle Scherben auf dem Boden aufgesammelt hatte, erstarrte kurz. Ciel nickte und der Undertaker grinste. „Nun, ihr wisst sicherlich noch von eurem ersten Besuch, welche Bezahlung ich bevorzuge.“ Der Adelige schloss genervt die Augen, Carina konnte sich das Wutkreuz beinahe bildlich bei ihm vorstellen. „Sebastian“, murmelte er genervt und der Butler verneigte sich leicht. „Wenn alle anderen Anwesenden bitte den Raum verlassen würden“, sagte er lächelnd. Während Ciel vor die Tür trat, ging Carina ins Hinterzimmer und räumte die Scherben weg. 10 Sekunden später ertönte das schallende Gelächter des Totengräbers. „Typisch“, murmelte die 16-Jährige, konnte ihre Neugierde aber nicht zurückhalten. Leise stellte sie sich hinter den Türrahmen in der Küche und konnte sogleich die Stimme von Ciel hören. „Du hast deinen Lohn bekommen. Nun rede.“ Das Gelächter verstummte allmählich und nun sprach wieder der Undertaker. „Sie ist jetzt schon das vierte Opfer. Jedenfalls liegt der Verdacht nahe, denn die anderen Drei wiesen die gleichen Verletzungen auf. Außerdem müssen es mindestens zwei Täter gewesen sein. Alle vier Frauen haben Blutergüsse an den Oberarmen und Handgelenken.“ „Sie wurden also festgehalten, damit sie sich nicht wehren konnten“, sagte Sebastian nachdenklich. „Sie haben einen sehr scharfsinnigen Butler, Earl Phantomhive“, lachte der Bestatter. Carina wurde leicht mulmig zumute und gegen ihren Willen stellte sie sich das Szenario vor. Wie zwei Männer der Frau in einer Gasse auflauerten. Wie einer von ihnen sie an den Handgelenken packte und zu Boden drückte, während der Andere das Kleid zerriss und ihre Beine auseinander drückte… „Sind dir irgendwelche Gemeinsamkeiten aufgefallen?“, fragte Ciel in diesem Moment und die 16-Jährige war froh, dass er ihre Gedanken unterbrach. „Keine der Frauen war älter als 20, aber das allein ist nichts ungewöhnliches Earl. Wenn ihr nach irgendwelchen Beweggründen sucht, dann muss ich Euch enttäuschen. Hier scheint es sich nur um niedere Triebe zu handeln.“ Ciel machte ein angewidertes Geräusch und dieser Laut spiegelte genau Carinas Gesichtsausdruck wieder. Sie war nie eine Befürworterin der Todesstrafe gewesen, aber Kastration konnte sie sich für solche Mistkerle durchaus vorstellen. Solche Monster sollten nie wieder die Möglichkeit haben einer Frau in irgendeiner Art und Weise weh zu tun. „Sebastian, wir gehen. Undertaker“, sagte der Junge und Carina stellte sich vor, wie er zum Abschied leicht den Kopf neigte. „Viel Erfolg bei der Suche, Earl Phantomhive“, kicherte der Undertaker und kurz darauf ertönte die Türglocke. Carina ließ von der Wand ab und wollte gerade die Treppe hochgehen, als die Stimme des Bestatters sie zusammenzucken ließ. „Es gehört sich nicht zu lauschen“, sagte er dicht hinter ihr. Sie drehte sich langsam um und schaute ihn an. Erleichtert stellte sie fest, dass er wie immer grinste. „Ihr wisst doch, ich bin ziemlich neugierig. Außerdem klang mir das nicht nach einem geheimen Gespräch“, gab sie als Antwort. „Der Earl beehrt mich seit seiner Ernennung öfters mit seinem Besuch. Es ist ein offenes Geheimnis, dass ich der erste Ansprechpartner für Dinge bin, die in der Unterwelt passieren.“ Carina hätte ihn nur zu gerne gefragt, woher er denn über solche Dinge so gut Bescheid wusste, aber sie blieb stumm. Vermutlich würde er es ihr sowieso nicht sagen. Möglicherweise war es einfach wirklich zu gefährlich, wenn sie zu viel wusste. Plötzlich ergriff der Undertaker ihre linke Hand und hielt sie sich vor das Gesicht. Seine Handinnenfläche war leicht rau, aber angenehm warm und fühlte sich auch genauso angenehm auf ihrer Haut an. Gegen ihren Willen wurde Carina rot und wusste im selben Moment nicht einmal warum. „Du hast dich geschnitten“, sagte der Bestatter und deutete auf ihren Zeigefinger. Verwundert wanderten nun auch die blauen Augen der 16-Jährigen zu ihrem Finger, auf dessen oberster Kuppe ein Schnitt zu sehen war, aus dem ein kleines Rinnsal Blut tropfte. „Oh“, meinte sie überrascht. „Das hab ich gar nicht bemerkt. Ist bestimmt passiert, als ich die Scherben aufgehoben habe.“ „Warte einen Moment“, sagte er, ließ ihre Hand los und öffnete eine der vielen Küchenschubladen. Eine Sekunde lang fühlte sich ihre Hand seltsam kalt an, doch sie ignorierte das Gefühl und fuhr langsam mit dem Daumen ihrer rechten Hand über die Schnittwunde. Sofort begann die Linie zu brennen wie Feuer. Der Schnitt sah vielleicht dünn aus, aber er schien tief zu sein. Typisch, was musste sie auch so ein Tollpatsch sein? Der Undertaker kam zurück, in seiner Hand hielt er ein feuchtes Tuch und etwas, was wie der Vorgänger eines Pflasters aussah. Nun errötete Carina doch. „Das ist doch nicht nötig. Es ist nur ein kleiner Schnitt, der wird mich nicht umbringen“, murmelte sie, woraufhin er von neuem grinste. „Vermutlich nicht, aber er könnte sich entzünden. Ich weiß nicht, wie es in deiner Zeit aussieht, aber hier haben wir medizinisch nur begrenzte Möglichkeiten.“ Carina schlug die Augen nieder. Daran hatte sie überhaupt nicht gedacht. Dass die Lebenserwartung in diesem Jahrhundert weitaus niedriger war, hatte schon seine Gründe. „Wie konnte das eigentlich passieren?“, fragte der Bestatter, während er sich der Wunde erneut widmete. Carina schaute ihn irritiert an. Sie hatte doch gerade bereits erwähnt, dass sie sich vermutlich an einer der Scherben geschnitten hatte. Der Undertaker lachte aufgrund ihres verwirrten Gesichtsausdrucks kurz auf. „Du hast den Earl und seinen Butler gesehen und daraufhin das Glas fallen lassen. Außerdem hast du ein Gesicht gemacht, als ob der Teufel hinter dir her wäre.“ „Könnte man so sagen“, dachte Carina. Jetzt musste sie sich aber eine gute Ausrede einfallen lassen. „Dieser Junge“, begann sie und schaute ihren Gegenüber dabei nicht an. „Irgendwie kam er mir seltsam vor. Sein Auftreten und dieser Blick…Er kam mir irgendwie unheimlich vor.“ Dass das alles nur auf Sebastian zutraf, verschwieg sie lieber. Der Undertaker kicherte. „Der Earl und unheimlich? Nun ja, auf Außenstehende mag das vielleicht so wirken. Er hat nur ein wenig zu viel Macht für sein Alter. Seit er im März zum Earl ernannt worden ist, stattet er mir regelmäßig Besuche ab. Das Oberhaupt der Familie Phantomhive ist schon seit vielen Generationen der Wachhund der Königin und sorgt dafür, dass die Unterwelt so funktioniert, wie die Majestät es möchte.“ Er sagte das Ganze ziemlich monoton, aber irgendetwas an seiner Stimme – vielleicht war es auch gerade die Gleichgültigkeit – ließ Carina erahnen, dass er die Königin nicht besonders mochte. „Ihr scheint die Königin nicht besonders zu mögen.“ Für einen ganz kurzen Moment schien er überrascht von ihrer Antwort zu sein. Dann breitete sich ein schmales Lächeln aus seinen Lippen aus und er klebte das Pflaster mit einem letzten Handgriff auf den Schnitt. „Scharfsinnig“, wiederholte er und stand auf. Carinas Augen folgten ihm, während er die Sachen wieder in den richtigen Schubladen verstaute. Die 16-Jährige konnte ihre Neugierde erneut nicht zügeln. „Hat Sie etwas getan, was Ihnen nicht gefallen hat?“ Bereits im nächsten Moment bereute sie die Frage. Der Undertaker hatte in seiner Bewegung inne gehalten und schaute sie nicht an. „Ich und meine große Klappe“, dachte Carina und biss sich auf die Lippe. Gerade, als sie ihm sagen wollte, dass er ihre Frage einfach vergessen sollte, öffnete er den Mund. „Ich habe etwas Wichtiges verloren und sie ist nicht ganz unschuldig daran.“ Ihre blauen Augen weiteten sich überrascht und obwohl sie wusste, dass sie ihn nun anstarrte konnte sie den Blick nicht abwenden. „Ich lerne gerade eine komplett neue Seite von ihm kennen“, schoss es ihr durch den Kopf. Die Seite von ihm, die nicht 24 Stunden am Tag nur grinste und lachte, sondern auch einmal komplett ernst war. „Irgendwie lässt ihn das in einem komplett anderen Licht erscheinen.“ Bevor sie sich noch mehr Gedanken machen konnte, tippte der Bestatter ihr mit einem seiner langen Fingernägel gegen die Stirn. „Manchmal würde ich zu gerne wissen, was so alles hinter deiner Stirn vor sich geht“, murmelte er, jetzt wieder mit einem Grinsen auf dem Gesicht. Carina konnte nicht anders und grinste zurück. „Viel zu viel“, antwortete sie ehrlicherweise und brachte den Undertaker damit erneut zum Lachen. Erleichtert, dass die Lage sich wieder entspannt hatte, stand die 16-Jährige ebenfalls auf und stieg die Treppen zum ersten Stock hinauf. Schnell wusch sie ihre Kleidung und hängte sie zum Trocknen über die Badewanne auf, bevor sie schließlich in ihr Nachthemd schlüpfte und sich ins Bett legte. Aber an Schlafen war überhaupt nicht zu denken. Jetzt, wo es still um sie herum war, schossen ihr tausende von Gedanken immer wieder durch den Kopf. Vielleicht sollte sie diesen Sebastian einfach mal fragen… „Selbst wenn er es gewesen sein sollte, dann kann er das doch jetzt noch gar nicht wissen, du Dussel“, maßregelte sie sich selbst und seufzte schwer. Jetzt fiel ihr langsam wieder ein, warum sie Zeitreisefilme immer so gehasst hatte. „Darüber kann ich mir noch ewig den Kopf zerbrechen und es kommt trotzdem nichts dabei heraus. Vielleicht sollte ich es für heute einfach gut sein lassen.“ Es war kein anstrengender Tag gewesen, dennoch war sie todmüde. Die 16-Jährige schloss ihre Augen, versuchte gleichzeitig zu schlafen und nicht schon wieder an die Leiche des Mädchens zu denken. Und natürlich auch nicht an Sebastian. Dennoch dauerte es fast noch 2 Stunden, bis Carina endlich einschlief. Dabei hätte sie für das, was ihr in den nächsten 24 Stunden noch bevorstand, jede Sekunde Schlaf gebrauchen können… Kapitel 8: Ungewollte Schwäche ------------------------------ Geräusche von der Straße weckten Carina aus ihrem doch recht tiefen Schlaf. Verdattert schaute sie zum Fenster, das bereits reichlich Licht spendete. Während sie sich im Halbschlaf aufsetzte wurde das Treiben auf den Straßen lauter. Die Leute schienen bereits alle ihrer Beschäftigung nachzugehen…In ihrem Kopf machte es Klick. „Scheiße“, murmelte sie und war im nächsten Moment bereits auf den Beinen. Sie hatte total verschlafen. Hecktisch zog sich das Mädchen an, fuhr sich ein paar Mal durch ihre blonden langen Haare und sprintete schließlich die Treppe hinunter, wobei sie immer zwei Stufen auf einmal nahm. Wenn sie sich nicht beeilte, dann würden die schönsten Blumen bereits alle verkauft sein. Warum hatte der Undertaker sie denn nicht geweckt, wenn sie denn schon mal verschlief? „Undertaker?“, rief sie, erhielt jedoch keine Antwort. „Seltsam“, dachte die 16-Jährige und ließ ihre blauen Augen durch den Laden schweifen. Er wirkte wie ausgestorben. Gleich darauf verdrehte Carina die Augen. „Ein Bestattungsunternehmen wirkt ausgestorben“, dachte sie trocken, war sich aber trotzdem ziemlich sicher, dass der Totengräber darüber gelacht hätte. „Wo er wohl steckt? Um diese Uhrzeit ist er doch normalerweise immer hier. Na ja egal, ich habe keine Zeit mir darüber jetzt auch noch den Kopf zu zerbrechen.“ Eilig warf sie sich ihren Mantel über und war kurze Zeit später bereits auf den Weg zum Blumengeschäft. Carina verfiel in einen schnellen Laufschritt und bereits 15 Minuten später stand sie vor ihrem Ziel. Der Laden war zwar recht klein, aber wenn man eintrat dann wurde man von Blumen beinahe erschlagen. Es war, als würde man dem grauen London für eine Weile entfliehen und eine Art neue Welt betreten, die nur aus Farben bestand. „Hey George“, meinte sie lächelnd und trat an die Ladentheke heran. Der stämmige Ladenbesitzer lächelte zurück. Bereits bei ihrem ersten Treffen hatte er ihr das Du angeboten. Carina schätzte ihn auf Mitte 40, denn sowohl in seinen rotbraunen Haaren als auch in seinem Kinnbart waren bereits einige graue Stellen dabei. „Du bist aber spät dran, Carina“, meinte er und zog sich bereits seine Handschuhe an. „Womit kann ich dir denn heute behilflich sein?“ Die 16-Jährige hatte Glück. Die meisten Blumen, die sie benötigte, waren noch da und so konnte sie eine gute halbe Stunde später bereits mit der Bepflanzung des ersten Grabes beginnen. Da es nun bereits Dezember war, waren die meisten Bäume komplett kahl und sie musste nicht mehr so viele Blätter vom Grab aufsammeln. Die Stunden verstrichen immer recht schnell während sie auf dem Friedhof war und Carina war recht froh darüber. Es tat ihr einfach gut eine Aufgabe zu haben. Sie wollte sich gebraucht fühlen, sie wollte gebraucht werden. „Die hier ist aber hartnäckig“, murmelte die Blondine, während ihre blauen Augen auf der bereits verdorrten Pflanze ruhten, die anscheinend sehr tief in der Erde verwurzelt war. „Dann eben anders.“ Sie zog ihr Taschenmesser aus ihrem Stiefel, klappte es auf und schnitt die Wurzel aus dem Boden heraus. „Na geht doch“, sagte sie zufrieden und schaute auf die Kirchturmuhr. Viel Zeit blieb ihr nicht mehr bis es dunkel wurde. Wenn sie das Grab noch fertig machen wollte, dann musste sie sich beeilen. „Ich glaube das war’s“, sagte Carina 20 Minuten später und strich mit der Schaufel noch ein letztes Mal die neue Erde glatt. Mittlerweile hatte sie sogar das Gefühl, dass sie ein wenig besser geworden war. Sanft berührte sie eine der weißen Lilien und musste unwillkürlich daran denken, wofür sie stand. „Reinheit, Unschuld und Jungfräulichkeit“, murmelte sie und besah sich erneut die Geburtsdaten auf dem Grabstein. Dieses Mädchen war 10 Jahre alt gewesen, als sie gestorben war. Carina war froh, dass sie diese Blume ausgewählt hatte, denn zu wem würde Reinheit besser passen, als zu Kindern? „Na ja, Ciel jetzt mal ausgenommen“, dachte sie und erhob sich. Plötzlich drangen laute Geräusche an ihr Ohr. An und für sich war das zwar nichts ungewöhnliches, aber hier auf dem Friedhof legten die Leute großen Wert auf Ruhe. Und in dieser Zeit war es noch extremer als im 21. Jahrhundert. Wer veranstaltete also am späten Nachmittag so einen Lärm? Die Frage sollte Carina schneller beantwortet bekommen, als ihr lieb war. Denn bereits im nächsten Moment taumelte der Verursacher des Lärms um die Ecke und blieb wie angewurzelt stehen, als er sie erblickte. Der Mann - Carina schätzte ihn auf Anfang 30 - war zwei Köpfe größer als sie. Seine schulterlangen schwarzen Haare hatte er hinten zu einem recht kleinen Pferdeschwanz zusammengebunden. Viele kleine Stoppeln zierten sein kantiges Kinn. Carina fiel auf, das seine Nase nicht komplett gerade war. Vermutlich war sie mindestens schon einmal gebrochen gewesen. Aber was der 16-Jährigen noch mehr auffiel als seine Nase, war seine Kleidung. Natürlich kannte sie das Sprichwort „Kleider machen Leute“. Aber in diesem Jahrhundert machte dieses Sprichwort erst richtigen Sinn. Schon von weitem konnte man sehen, dass er ein Adeliger war. Er trug einen braunen Anzug und darunter ein weißes Hemd, um seinen Hals befand sich eine rote Schleife und seine schwarzen Anzugsschuhe schienen so lange poliert worden zu sein, dass sie das Licht reflektierten. „Irgendetwas an ihm ist seltsam“, dachte Carina und schaute ihn stirnrunzelnd an. Seine blassblauen Augen waren blutunterlaufen und als er einen Schritt auf sie zutrat, wusste Carina endlich was mit ihm nicht stimmte. Der Geruch von Alkohol schlug ihr entgegen und automatisch rümpfte sie die Nase. Erneut tat der Mann einen Schritt und taumelte dabei leicht nach links. „Der ist ja sternhagelvoll“, dachte Carina angewidert. Natürlich hatte sie bereits selbst Erfahrungen mit Alkohol gemacht, aber sie hatte immer gewusst, wann sie ihre Grenze erreicht hatte. Und sie war sich ziemlich sicher, dass dieser Herr seine Grenze bei Weitem überschritten hatte. Vermutlich würde er am nächsten Tag so einige Erinnerungslücken haben, ganz zu schweigen von einem enormen Kater. „Was macht denn so ein junges, kleines Mädchen wie du ganz allein auf einem Friedhof?“, lallte er und erneut wehte Carina seine Fahne entgegen. Ihr Kiefer wurde hart, als sie die Zähne aufeinanderbiss. Nur ganz langsam stellte sich ein Gefühl in ihrer Magengegend ein, das sie ganz und gar nicht mochte. Furcht. „Ich pflanze Blumen“, antwortete sie knapp und trat unbewusst einen kleinen Schritt zurück. Der Mann grinste. „Na, dann kannst du ja bald beim Grab meiner Frau weitermachen, das hätte es auch mal dringend nötig.“ Carina schlug ihre Augen nieder. Jetzt wusste sie zumindest schon mal, warum er so betrunken war. Der Tod seiner Frau war vermutlich noch nicht allzu lang her. Seine Augen schienen sie nun von oben bis unten abzuscannen. „Ich sollte machen, dass ich hier wegkomme“, dachte sie und drehte sich bereits halb rum, als die Stimme des Betrunkenen erneut ertönte. „Ich könnte zu Hause ein bisschen Gesellschaft vertragen.“ Die 16-Jährige versteifte sich für einen kurzen Moment und warf ihrem Gegenüber einen erschrockenen Blick zu. Seine Miene war nun eindeutig lüstern. Carinas Herz begann schmerzhaft schnell gegen ihre Brust zu pochen. Instinktiv wollte sie nach ihrem Taschenmesser greifen, bemerkte aber dann entsetzt, dass sie es auf der anderen Seite des Grabes hatte liegen lassen. Ihre Augen huschten zwischen dem Mann und dem Messer hin und her. Wäre sie schnell genug, um an die Waffe zu gelangen? „Na komm schon, ich beiße auch nicht“, sagte er und trat wieder einen Schritt näher. „Stehen bleiben“, sagte sie laut, konnte das Zittern in ihrer Stimme aber nicht verbergen. „Jetzt hab dich nicht so, wir könnten eine Menge Spaß zusammen haben.“ Er tat noch einen Schritt. Carinas Finger bohrten sich schmerzhaft in den Griff der Schaufel. Auf einmal ging ihr ein Licht auf. „Natürlich“, dachte sie und hob die Schaufel ein wenig an. „Ich warne Sie. Lassen Sie mich in Ruhe oder ich werde Ihnen wehtun.“ Jetzt lachte der Schwarzhaarige belustigt auf. Anscheinend schien er keine allzu große Meinung von Frauen zu haben. Trotz ihrer Drohung näherte er ihr sich weiter und streckte nun sogar seine rechte Hand nach ihr aus. Angst und Zorn vermischten sich in Carinas Inneren. Bitte, er wollte es anscheinend nicht anders. Sie war vielleicht nicht besonders mutig, aber anfassen lassen würde sie sich von ihm ganz bestimmt nicht. Fest entschlossen holte sie mit der Schaufel nach hinten aus und zielte auf seinen Kopf. Doch so weit kam sie nie. Bevor sie das Werkzeug nach vorne schnellen lassen konnte, wurde der hölzerne Stiel von einer weiteren Hand umgriffen. Von einer Hand mit langen, schwarzen Fingernägeln. Erschrocken schaute Carina auf und erkannte den Undertaker, der grinsend hinter ihr stand. Aber irgendwie wirkte sein Grinsen bei Weitem nicht so ausgelassen wie sonst. „Na na, gibt es hier ein Problem?“, fragte er kichernd und Carina stellte verwundert fest, dass sie die Schaufel um keinen Zentimeter mehr bewegen konnte. Sein Griff war hart wie Stahl. Der schwarzhaarige Mann schien plötzlich ziemlich ernüchtert zu sein. Er nuschelte undeutlich etwas vor sich hin, warf ihr noch einen enttäuschten Blick zu und wandte sich dann ab, um zum Ausgang des Friedhofs zu schwanken. Carinas Angst war gewichen, aber der Zorn blieb. Am liebsten hätte sie irgendwo gegen geschlagen. „Alles in Ordnung?“, fragte der Undertaker - für seine Verhältnisse relativ monoton - und wandte seinen Kopf in ihre Richtung. „Nein“, entgegnete die Blondine schlicht und beugte sich nach unten, um ihr Messer aufzuheben und wieder in den Stiefel zu stecken. Innerlich kochte sie vor Wut, dabei wusste sie nicht einmal genau wieso. Der Bestatter half ihr schweigend dabei die restlichen Sachen wegzuräumen. Auch, als sie sich zurück auf dem Weg zum Laden machten, herrschte anfangs ein großes Schweigen. Nach ca. 5 Minuten Fußweg sagte der Silberhaarige schließlich: „Warum bist du nicht weggelaufen?“ Carina runzelte die Stirn. Weglaufen? „Ich…ich habe nicht eine Sekunde daran gedacht“, gestand sie und war über diese Tatsache selbst überrascht. Jetzt, wo der Bestatter es gesagt hatte, kam es ihr wie die offensichtlichste Lösung vor. Seine Frage war also durchaus berechtigt gewesen. Jedes normale Mädchen, das halbwegs Verstand besaß, hätte sofort die Beine in die Hand genommen. Die Antwort traf Carina wie ein Blitz. Tief in ihrem Inneren hatte sie einfach nicht weglaufen wollen. Und jetzt wusste sie auch, warum sie so wütend war. Dieser Mistkerl war einfach so davon gekommen. Wer weiß, vielleicht würde er es morgen bei einer anderen Frau oder einem anderen Mädchen noch mal versuchen. „Sie hätten mich nicht aufhalten sollen“, murmelte sie, während sie das Bestattungsinstitut endlich erreichten. „Ich hätte diesem Mistkerl den Schädel einschlagen sollen.“ Der Undertaker, der gerade dabei war die Tür aufzuschließen, hielt kurz inne. „Tja, damit hast du wohl nicht gerechnet“, dachte Carina. „Selbst, wenn es funktioniert hätte“, sagte er und betonte dabei ganz stark das letzte Wort, „wärst du dadurch in noch größere Schwierigkeiten geraten. Einen Adeligen zu attackieren ist niemals besonders klug.“ Sie betraten den Laden und Carina ballte ihre Fäuste. „Und wenn er die Queen persönlich gewesen wäre, niemand fasst mich gegen meinen Willen an.“ Ihrem Gegenüber entfuhr ein Laut und Carina brauchte dieses Mal etwas länger, um zu erkennen, dass er aufgelacht hatte. Aber nicht wie sonst belustigt, sondern eher trocken. Er amüsierte sich über sie. Und das machte ihre ohnehin schon gereizte Laune noch schlimmer. „Das war mein Ernst“, presste sie zwischen zusammengekniffenen Lippen hervor. „Das gerade ist ja das Lustige daran“, entgegnete er und wandte sich zu ihr um. Obwohl die 16-Jährige seine Augen weiterhin nicht sehen konnte, fühlte sie sich von ihnen regelrecht durchbohrt. „Du glaubst wirklich, dass du gegen solche Menschen eine Chance hast. In diesem Jahrhundert herrscht eine andere Auffassung von Gerechtigkeit als in deiner, Carina. Mit diesem Mann wärst du vielleicht noch fertig geworden, weil er betrunken war. Aber jeder andere hätte sich einfach das genommen, was er wollte.“ Carina starrte ihn fassungslos an, denn so einen Vortrag hatte sie nicht erwartet. Und das wirklich Dumme daran war, dass er Recht hatte… und das ärgerte sie. „Ich bin nicht schwach“, sagte sie, noch bevor sie sich überhaupt innerlich dazu entschlossen hatte es zu sagen. War das das eigentliche Problem? Dass sie sich hilflos fühlte? Carina hatte keine Zeit mehr sich mit dieser Frage eingehender zu beschäftigen, denn im nächsten Moment kollidierte ihr Rücken mit der Wand. Mehr erschrocken als aus Schmerz keuchte sie auf und sah hoch zum Undertaker, der ihre Arme in einem rechten Winkel nach oben gegen die Wand gedrückt hielt. Automatisch wollte ihr Körper sich aus dieser unangenehmen Position befreien, doch sie bekam die Arme nicht um einen Millimeter von der Wand weg bewegt. Es war genauso wie mit der Schaufel. Da er wesentlich größer als sie war, beugte sich der Undertaker leicht herab, bevor er erneut sprach. „Doch, das bist du.“ Seine Stimme war rau und viel tiefer als normalerweise. Ihre Organe fühlten sich einen Moment lang so an, als würden sie sich umeinander wickeln. In dieser Sekunde machte er ihr Angst. Erneut stemmte sie sich mit all ihrer Kraft gegen seinen Griff, doch dieser lockerte sich kein Stück. Im Gegenteil, er wurde eher noch fester. „Niemand darf dich ohne deine Erlaubnis anfassen, hmm?“, sagte er nachdenklich und ein Lächeln kräuselte sich nun auf seinen Lippen. „Er stellt mich bloß“, dachte sie. Am liebsten hätte sie ihm ein paar gepfefferte Beleidigungen an den Kopf geworfen, aber irgendwie schien sie kurzfristig vergessen zu haben wie man sprach, denn sie brachte kein weiteres Wort hervor. Nicht einmal, als sie bemerkte, dass er sich weiter nach vorne neigte und ihrem Gesicht gefährlich nahe kam. Ihre blauen Augen weiteten sich. Er wollte sie doch nicht etwa… Plötzlich schlug der 16-Jährigen das Herz bis in den Hals. Es war so laut, dass sie sich fragte ob er es hören konnte. Automatisch presste sie ihren Hinterkopf fester an die Wand, obwohl das natürlich überhaupt nichts brachte. „Ich will nicht“, schoss es ihr durch den Kopf. „Ich will nicht, dass er mich küsst nur um zu beweisen, dass er es kann. Nur um zu beweisen, dass ich mich nicht wehren kann.“ Sie kniff die Augen fest zusammen und rechnete jeden Moment mit der Berührung, doch genau in diesem Moment klingelte die Türglocke. Der Undertaker ließ sie bemerkenswert schnell los, noch bevor Carina ihre Augen wieder öffnen konnte. „Ah, Mr. Wright. Ich hatte sie bereits erwartet. Kommen Sie, der Sarg steht im Hinterzimmer.“ Carina bekam kaum mit, wie die beiden Männer verschwanden. Aber kurz, bevor der Undertaker komplett aus ihrem Sichtfeld verschwand, drehte er sich noch einmal zu ihr zurück und lächelte. Und es war nicht sein übliches Grinsen, es war ein Lächeln bei dem sie ein Stromschlag durchzuckte. Sie konnte spüren, dass ihre Wangen ganz heiß wurden. Vollkommen durcheinander nahm sie sich ihren Mantel vom Kleiderständer, warf ihn sich über und eilte zurück nach draußen. Vielleicht würde sie ja hier einen klaren Kopf bekommen. Kapitel 9: Selbstmord ist keine Lösung......oder? ------------------------------------------------- Carina ging mit schnellen Schritten durch die Straßen Londons, die von der Sonne bereits orange erleuchtet wurden. Viele Menschen waren nicht mehr draußen und so konnte sie ungestört ihren Gedanken nachhängen. Aber immer noch war ihr Kopf wie leer gefegt. In der einen Sekunde dachte sie an gar nichts und in der nächsten schossen ihr abertausende Dinge durch den Kopf. Es war, als hätte der Undertaker durch seine Aktion den Reset Knopf gedrückt und ihr System musste nun wieder neu hochfahren. „Warum hat er das gemacht? So eine Reaktion war nun wirklich nicht notwendig. Ein vernünftiges Gespräch hätte mich auch überzeugen können“, dachte sie wütend. Irgendwie wusste sie ja, dass er Recht gehabt hatte. Sie war hilflos. Aber es machte ihr Angst darüber nachzudenken. Es machte ihr sogar verdammt große Angst. „Hätte ich doch nur einen Kampfsport erlernt, dann wäre das Ganze sicherlich besser für mich ausgegangen.“ Vielleicht hätte sie ihn treten sollen oder so etwas in der Art, ihre Beine waren immerhin noch frei gewesen. Großartig, dass ihr solche Dinge immer erst im Nachhinein einfielen… „Dem werde ich es schon noch zeigen. So etwas lasse ich mir auf gar keinen Fall gefallen“, dachte sie und zum ersten Mal, seit sie den Laden verlassen hatte, schien sie wieder klar denken zu können. Erschrocken sah sie auf einmal, dass das orange Licht der Sonne bereits verschwunden war. Ohne, dass sie es richtig bemerkt hatte, war es langsam dunkel geworden und die Straßen um sie herum hatten sich nach und nach geleert. „Oh verdammt“, schoss es ihr durch den Kopf. Das war nicht gut. Sie war ein ganzes Stück vom Laden entfernt und bis sie wieder zurück war, würde es bereits richtig finster sein. „Ich bin so ein Trottel. Wenn Dummheit wehtun würde, dann würde ich den ganzen Tag mit Schreien verbringen“, fluchte sie innerlich vor sich hin, während sie auf dem Absatz kehrt machte und mit schnellen Schritten den Rückweg antrat. Carina sollte Recht behalten. Keine 5 Minuten später war es bereits komplett dunkel und keine Menschenseele befand sich mehr auf der Straße. „Keine Panik. Nur keine Panik“, murmelte sie. Es würde schon nichts passieren. Sie würde in 10 Minuten wieder im Laden sein, die Sache mit dem Bestatter klären und dann genauso weiter machen wie bisher. Doch das ungute Gefühl in ihrem Magen wollte einfach nicht weichen. Ein Geräusch ganz in der Nähe ließ sie zusammenfahren. Langsame Schritte ertönten. Obwohl Carina wusste, dass es schlauer war wegzulaufen, blieb sie stocksteif stehen. Ihr Mund war mit einem Mal staubtrocken. Entsetzt schaute sie etwas nach links und erkannte drei Personen, die aus einer dunklen Ecke heraustraten. Drei Männer. Das Bild des toten Mädchens schob sich automatisch vor ihr inneres Auge. Entfernt konnte sie die Stimme des Undertakers hören. Wie er Ciel und Sebastian mitteilte, dass es sich um mehrere Täter gehandelt haben musste. „Oh bitte, lass das nicht passieren“, dachte die 16-Jährige, rührte sich aber immer noch nicht. Die Männer waren alle gleich groß und schienen auch ungefähr im selben Alter zu sein, vermutlich zwischen 35 und 40. Der Mann, der ganz links stand hatte kurzes, zerzaustes braunes Haar und sah aus, als hätte er sich morgens nicht rasiert. Der Mann neben ihm schien jedoch gepflegter zu sein. Er trug seine langen braunen Haare in einem Zopf und auch seine Kleidung war um einiges besser anzusehen. Der rechte Mann war hingegen wieder mehr wie der Erste, sein schwarzes Haar klebte ihm fettig in der Stirn und sein Bart war alles andere als gestutzt. Alle drei waren gut 2 Köpfe größer als sie und alle 3 hatten zwar eine dünne Figur, aber dafür breite Schultern. „Das ist nicht gut“, dachte sie und brachte somit die Untertreibung des Jahres. Das war nicht nur „nicht gut“, das war verdammt schlecht! Der Mann in der Mitte trat einen Schritt vor und lächelte sie an. Vermutlich sollte es charmant wirken, aber davon kam bei Carina nichts an. Irgendwie schien er anscheinend der Anführer der Drei zu sein. Anhand seiner Kleidung war er vielleicht sogar ein Adliger. Nicht so reich wie Ciel, aber dennoch über der einfachen Bevölkerung. „Hallo“, sagte er. Seine Stimme war glockenhell und klang freundlich, doch Carina traute ihm keine Sekunde über den Weg. So langsam bekam sie ein Bild davon, was den anderen Mädchen und Frauen passiert war. „Ich mag vielleicht dumm gewesen sein, aber naiv bin ich nicht“, dachte sie und nun lief es in ihrem Gehirn auf Hochtouren. Wie sollte sie aus dieser Nummer nur wieder rauskommen? Schreien würde nicht viel bringen. Sie bezweifelte, dass es in diesem Zeitalter auch nur Einen interessierte. Die Leute hielten sich gerne aus jeglichem Ärger raus. Der schwarzhaarige Mann grinste. „Oh, dieses Schweigen ist neu. Normalerweise reagiert ihr Frauen doch immer anders. Die Letzte konnte gar nicht laut genug schreien.“ Jegliche Hoffnung, die Carina noch gehabt hatte, dass es sich hier nicht um die Mörder des Mädchens handelte, verflog. Sie wagte kaum zu atmen. Der Mann mit den zerzausten Haaren lachte jetzt auch und leckte sich dabei über die Lippen. Endlich schaffte Carina es den Mund zu öffnen, wobei sie im ersten Moment ihren Brechreiz nur schwer unterdrücken konnte. „L-l-lasst mich in Ruhe.“ Ihre Stimme zitterte so stark, dass sie ins Stottern geriet. „Das klingt jetzt schon eher nachdem, was wir gewohnt sind“, sprach der Schwarzhaarige erneut. Sein Grinsen wurde immer breiter. Und mit einem Mal erwachte etwas in ihrem Körper. Ein Urinstinkt, den jeder Mensch in sich trug. Ihr Selbsterhaltungstrieb. Und dieser malte gerade in roten, großen Buchstaben das Wort „FLUCHT“ auf ihr Gehirn. Und genau das tat sie. In einer flüssigen Bewegung – die sie sich selbst nicht zugetraut hätte – wirbelte sie herum und rannte im wahrsten Sinne des Wortes um ihr Leben. Sie rannte, wie sie noch nie in ihrem ganzen Leben gerannt war. Sie konnte die wütenden Stimmen hinter sich hören und beschleunigte ihr Tempo noch weiter. Mehrere Male wechselte sie die Richtung, nahm Kurven und Abzweigungen. Ihre Lunge brannte wie Feuer, doch sie dachte gar nicht daran stehen zu bleiben. Allmählich wurden die Geräusche hinter ihr leiser. Vollkommen außer Atem bog sie erneut um eine Ecke und blieb nach wenigen Metern erschrocken stehen. Sie war geradewegs in eine Sackgasse gelaufen. Hastig wirbelte sie herum, doch es war bereits zu spät. Ihre drei Verfolger hatten sie eingeholt und versperrten ihr nun den Weg. Ein schreckliches Grauen überkam Carina als sie erkannte, dass sie aus dieser Nummer nicht mehr heraus kam. „Haben wir dich endlich“, keuchte der Anführer und klang nun überhaupt nicht mehr freundlich und charmant. Die 16-Jährige wich so weit zurück wie sie konnte. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Tränen schossen ihr in die Augen und fühlten sich heiß auf ihren kalten Wangen an, als sie ihnen freien Lauf ließ. Sie konnte sehen, wie diesen Mistkerlen das gefiel. Sie genossen ihre Angst, geilten sich daran auf. Purer Hass durchzuckte sie, aber ihm konnte sie nicht freien Lauf lassen. Sie hatte als Waffe nur ihr Messer und das würde ihr hier gar nichts nützen. Es war zwar eine Bedrohung, aber niemals konnte sie damit drei ausgewachsene Männer überwältigen. Sie war ihnen hilflos ausgeliefert. Es war genauso wie der Undertaker gesagt hatte… Ausgerechnet jetzt musste sie wieder an ihre Biologielehrerin denken, als sie damals im Unterricht durchgenommen hatten, was der Körper in Situation mit Todesangst tat. „Der Körper schüttet in solchen Momenten immense Mengen Cortisol und Adrenalin aus, um den Organismus auf Kampf oder Flucht einzustellen.“ Das mochte ja vermutlich auch stimmen. Aber es beschrieb nicht im Ansatz, wie es sich tatsächlich anfühlte. In diesem Moment - wo Carina realisierte, dass sie bald sterben würde - hatte sie gar keine Angst mehr. Ihr Kopf war komplett leergefegt und doch nahm sie alles - wirklich alles - was um sie herum passierte wahr. Es war, als würde alles in Zeitlupe passieren. „Na komm schon, Kleine. Wenn du dich benimmst und schön still hältst, dann lassen wir dich auch laufen“, sagte der Mann mit den langen Haaren und kam gemeinsam mit seinen Kumpanen näher. Aber wie bereits gesagt, Carina war nicht naiv. Auf einmal löste sich ihre Sprechblockade. Was vielleicht wirklich daran lag, dass ihre Angst auf einmal wie weggeblasen war. „Einen Scheiß werdet ihr tun. Für wie dumm haltet ihr mich eigentlich? Ich hab eure Gesichter gesehen. Ihr werdet mich niemals gehen lassen.“ „Schlaues Mädchen“, murmelte der Schwarzhaarige leise, doch Carina konnte ihn dennoch hören. Sie konnte ihren Puls in ihrem Kopf und ihrer Brust pochen spüren. Wenn sie einen Pulsmesser dabei hätte, würde dieser sicherlich eine Zahl anzeigen, die weit über 200 lag. Und plötzlich, wie aus dem Nichts heraus, sprang eine Idee in ihrem Kopf hervor. Wenn man es denn überhaupt Idee nennen konnte. Für einen kurzen Moment fragte sie sich, ob sie gerade dabei war den Verstand zu verlieren. Aber was hatte sie denn für eine Wahl? Sie würde so oder so sterben, da gab es keinen Zweifel. Und genau in diesem Moment wusste Carina, dass sie ihre Entscheidung eigentlich schon getroffen hatte. Sie ging kurz in die Knie und als sie sich wieder aufrichtete, hielt sie ihr Taschenmesser in der Hand. Die drei Mörder brachen in schallendes Gelächter aus. „Wie süß. Was möchtest du denn mit diesem Zahnstocher erreichen?“ Und dann tat Carina etwas, womit die Männer nicht gerechnet hatten; sie lächelte. „Ihr bekommt mich nicht, dafür werde ich sorgen.“ Und mit diesen Worten festigte sie den Griff um das Messer und rammte es sich mitten in die Brust. Es war leichter, als Carina gedacht hatte. Die Klinge drang sofort in ihren Körper ein, durch ihr Brustbein hindurch. Sie hatte es genau mittig in ihr Dekolleté gestoßen, dort wo es aufgrund des Knorpels weicher wurde. Und somit genau dorthin, wo sie es hatte haben wollen. In die Nähe des Herzens. Und es war gar nicht schlimm. Sie fühlte überhaupt keinen Schmerz. Natürlich wusste sie ganz genau, warum das so war. Ihr Körper stand unter Schock, Adrenalin jagte durch jede einzelne Pore. Sie konnte bereits spüren, wie das Gefühl aus ihrem Körper wich. Mit letzter Kraft und zittrigen Fingern tat sie genau das, wovon jeder Arzt ihr lautstark abgeraten hätte. Sie zog sich das Messer aus dem Brustkorb. Und mit dieser Aktion kam endlich der Schmerz. Carina versuchte einzuatmen, doch anstatt mit Luft füllten sich ihre Lungen mit Blut. Sie würgte und spürte, wie es ihr die Kehle hinauf kroch. Es trat aus ihrem Mund aus, floss über ihr Kinn und tropfte schlussendlich in großen Mengen zu Boden. Das Herz der 16-Jährigen versuchte weiterhin krampfhaft das Blut durch ihren Körper zu pumpen, aber stattdessen spritzte die lebensnotwendige Körperflüssigkeit aus dem – doch recht großen – Schnitt in ihrer Brust. Ihre Beine knickten ein wie Streichhölzer und mit dem Rücken voran fiel sie zu Boden. Langsam breitete sich das Blut auch in ihrem Brustkorb aus. Die Umgebung um sie herum begann sehr schnell zu verblassen. Schwarze Punkte flackerten vor ihren Augen, ihr Körper war inzwischen vollkommen taub. Und es war so kalt. So verdammt kalt… Sie hatte erwartet, ihr ganzes Leben noch einmal an sich vorbeiziehen zu sehen. Aber das geschah nicht. Stattdessen dachte Carina an all die Dinge, die sie noch gerne in ihrem Leben getan hätte. Sie wäre gerne einmal vom 10 Meter Brett gesprungen. Wollte sich unbedingt ein Tattoo stechen lassen. Nach Japan fliegen. Ein Buch schreiben. Heiraten. Eine Familie gründen. Zu all diesen Dingen würde es niemals kommen. Und gleichzeitig dachte sie an all die Dinge in ihrem Leben, die sie bereute. Sie hatte ihren Eltern niemals gesagt, wie sehr sie sie liebte. Hatte Bianca niemals gesagt, wie wichtig ihr die Freundschaft zwischen ihnen war. Sie hatte oft versucht anderen zu gefallen und dabei viel zu wenig das getan, was sie wirklich selbst gewollt hatte. Ihre letzten Gedanken galten überraschenderweise dem Undertaker. Wie er wohl reagieren würde, wenn sie morgen früh auf seinem Obduktionstisch lag? Hätte sie doch nur auf ihn gehört… Eine einzelne Träne stahl sich aus ihrem rechten Augenwinkel und lief ihr über die Wange. Und dann… Dunkelheit. Kapitel 10: Schreckliche Erkenntnis ----------------------------------- „Oh, wie langweilig“, stöhnte Grell genervt und zückte seinen Stempel. Heute hatte er wieder einen Arbeitstag, den man getrost vergessen konnte. Keine der 4 Personen, die heute auf seiner Liste standen, war in irgendeiner Art und Weise interessant. Alles nur alte oder kranke Leute, die im Bett ihren letzten Atemzug taten. Kein Unfall, kein Verbrechen, nichts. „Da ist es ein Wunder, dass ich noch nicht vor Langeweile gestorben bin“, murmelte er und setzte seinen roten Stempel fest auf das Papier. Und wer war schuld daran, dass er die heutige Schicht hatte übernehmen müssen? „Oh Will, wie kannst du mir das nur antun?“, seufzte er und ließ seine Stimme melodramatisch in die Höhe schnellen. Er konnte dem schwarzhaarigen Shinigami einfach nichts abschlagen… Froh darüber, dass er nun wenigstens alle Aufträge für diese Nacht ausgeführt hatte, steckte er das kleine Buch in seine Tasche zurück und machte sich bereit für seine Rückkehr. Doch laute Schritte auf der Straße brachten ihn kurzzeitig aus dem Konzept. Verwundert schaute er nach unten und sah 5 Sekunden später ein Mädchen vorbeiflitzen. Ihre langen, blonden Haare hoben sich stark von der Dunkelheit ab und so konnte Grell den Ausdruck in ihrem Gesicht erkennen. Panik. Es vergingen keine weiteren 5 Sekunden, da stürmten drei Männer über die gleiche Straße und man musste kein Genie sein um zu wissen, dass sie hinter dem Mädchen her waren. Und der Rothaarige kannte diese Männer. Erst vor einer Woche hatte er die Cinematic Records eines anderen Mädchens einsammeln müssen, weil diese Drei sich an ihr vergangen hatten. Gegen seinen Willen wurde Grell neugierig. Die Blondine stand nicht auf seiner Liste, was bedeutete, dass sie diese Nacht nicht sterben würde. Und das wiederum bedeutete, dass sie es irgendwie schaffte aus dieser Situation wieder herauszukommen. Mit wenigen Sprüngen über die Häuserdächer hatte er wieder zu ihnen aufgeholt. Das Mädchen stand in einer Sackgasse und ihre Gegner näherten sich ihr langsam, die pure Gier war auf ihren Gesichtern zu sehen. Erst jetzt fiel Grell auf, wie jung die Kleine wirklich war. Sie konnte noch nicht volljährig sein, vermutlich so um die 17 oder vielleicht sogar noch jünger. „Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie sie aus der Nummer wieder rauskommen soll“, dachte er. Er lauschte kurz in die Stille der Nacht hinein, aber es waren keine weiteren Geräusche zu hören. Dass ihr jemand zur Hilfe kam, konnte er also schon einmal ausschließen. „Einen Scheiß werdet ihr tun. Für wie dumm haltet ihr mich eigentlich? Ich hab eure Gesichter gesehen. Ihr werdet mich niemals gehen lassen“, hörte er sie sagen und war für einen Moment richtig baff. Noch nie hatte er ein Mädchen so reden hören. Sie schien ein ziemlich großes Mundwerk zu haben. „Aber taff ist sie“, musste er sich eingestehen. In der nächsten Sekunde zog die Blondine plötzlich ein Messer hervor, woraufhin die Männer in schallendes Gelächter verfielen. „Wie süß. Was möchtest du denn mit diesem Zahnstocher erreichen?“, verhöhnten sie sie und Grell musste ihnen innerlich durchaus zustimmen. Mit dieser Waffe würde sie nicht weit kommen. Aber irgendetwas an dieser Szene störte ihn. Wie ihre Hand am Griff des Messers lag… „Ihr bekommt mich nicht. Dafür werde ich sorgen.“ Sie lächelte. Fast so, als ob… Grells gelbgrüne Augen weiteten sich. Sie würde doch nicht… Er hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, da hob sie bereits das Messer und rammte es sich frontal in die Brust. Dem Shinigami blieb für einen Moment schlicht der Mund offen stehen. Sie hatte es tatsächlich getan. Das war selbst ihm neu. Noch nie war er bei einem Selbstmord dabei gewesen. Nun ja…seinen eigenen nicht mitgezählt. Ein schmerzhaft klingendes Röcheln entfuhr dem Mädchen, während sie sich das Messer mit letzter Kraft wieder aus ihrem Körper herauszog. Blut sprudelte sowohl aus ihrer Brust, als auch aus ihrem Mund und wie eine Puppe, deren Fäden durchtrennt worden waren, fiel sie rückwärts zu Boden. „So ein verdammtes Miststück“, brüllte einer der Männer und trat einen Schritt vor. Doch einer der anderen Beiden hielt ihn an der Schulter fest. „Lass gut sein, die bekommt eh nichts mehr mit. Und ich persönlich stehe nicht auf Nekrophilie.“ „Wir sollten abhauen, bevor uns noch jemand sieht“, flüsterte der Dritte und es dauert keine 2 Sekunden, da hatte sie die Gasse bereits verlassen. Grell rümpfte angewidert die Nase. „Elendes Gesindel“, murmelte er und sprang vom Dach herunter. Er landete keine 2 Meter von der Sterbenden entfernt elegant auf dem Boden und trat vorsichtig näher. Die marineblauen Augen hatten ihren Glanz verloren und schauten trübe nach oben. Nur an dem gelegentlichen Zucken ihres Körpers konnte man erkennen, dass sie noch lebte. Unter ihr hatte sich eine Blutlache gebildet, die stetig größer wurde und genau diesen hohen Blutverlust konnte man bereits in ihrem Gesicht sehen. Sie war so weiß wie Porzellan. „Armes Ding“, flüsterte er in jenem Moment, indem sich eine einzelne Träne aus ihrem Auge löste und zu Boden fiel. Und dann wurden ihre Augen ganz plötzlich starr. Das Zucken hörte auf und ihr aufgerissener Brustkorb rührte sich nicht mehr. Normalerweise liebte Grell den Anblick dieser Endgültigkeit. Aber dieses eine Mal hatte es irgendwie einen bitteren Beigeschmack. Mord und Selbstmord waren zwei von Grund auf verschiedene Dinge. Vor allem für die Seele. Der Rothaarige versuchte erst gar nicht ihre Cinematic Records zu lesen. Das würde in diesem Fall sowieso nichts bringen. Er trat vorsichtshalber einen Schritt zurück, denn aus Erzählungen wusste er, was jetzt gleich passieren würde. Und er musste nicht lange warten. Die Cinematic Records schossen aus dem Körper des Mädchens hervor und schwebten dicht über ihr. Sie bewegten sich so schnell, dass selbst er als geübter Shinigami die Bilder nicht sehen konnte. „Ich verstehe das nicht“, dachte er. „Warum stand sie nicht auf der Liste? Ein Fehler von oben? Ungewöhnlich…“ Plötzlich wurden die Cinematic Records von einem stechend grünen Licht umgeben. Genau das Grün, das die Augen eines jeden Shinigami zierte. Es erhellte für wenige Sekunden die Gasse, dann hörte der Filmstreifen auf sich zu drehen und schoss in den Körper des Mädchens zurück. Ein Ruck durchfuhr sie und ihre bisher geöffneten Augen fielen zu. Grell schaute fasziniert dabei zu, wie die Wunden begannen sich zu schließen und wieder Farbe in das so bleiche Gesicht zurückkehrte. Wenn man sich das ganze Blut wegdachte, dann sah es fast so aus, als hätte sie die ganze Zeit nur geschlafen. Und dann schlug die Shinigami ihre gelbgrünen Augen auf. Carina wusste im ersten Moment weder wo sie war, noch was passiert war. Ihr Körper fühlte sich unglaublich träge an, ihre Kehle war schrecklich trocken und ihr Kopf pochte vor Schmerz. Mehrmals blinzelte sie, doch die Umgebung wurde nicht schärfer. Sie hatte zwar schon seit Ewigkeiten nicht die besten Augen gehabt, aber so schlimm war es eigentlich noch nie gewesen. Eigentlich hatte ihr Arzt ihr sogar eine Brille verschrieben, aber Carina hatte sie nie getragen. Ihre Mitschüler hatten sie schon wegen ihres Übergewichtes oft genug auf dem Kicker gehabt, da wollte sie nicht auch noch als Brillenschlange betitelt werden. Mit der Zeit hatte sie gelernt damit umzugehen, aber diese neue Entwicklung passte ihr nun wirklich überhaupt nicht. Wenn sie die Augen ganz eng zusammenkniff, dann konnte sie wieder halbwegs so sehen wie vorher. Aber das war definitiv keine dauerhafte Lösung, denn ihre Kopfschmerzen wurden dadurch nur noch schlimmer. „Warte einen Moment“, ertönte plötzlich über ihr eine helle Stimme, die Carina nicht kannte. Erschrocken schaute sie auf und im nächsten Moment setzte ihr jemand eine Brille auf die Nase. „Gut, dass ich immer eine Ersatzbrille dabei habe.“ Sie blinzelte erneut. Meine Güte, so scharf hatte sie ja noch nie gesehen. „Hätte wohl doch schon früher eine Brille tragen sollen“, dachte sie und sah nun endlich den Mann über ihr an. Das Herz sackte ihr in die Hose. „Oh nein“, schoss es ihr durch den Kopf. Genauso wie den Undertaker, kannte sie auch diesen Typen. Allerdings nur als einen irren Massenmörder, der sich als Butler ausgegeben hatte und in Wahrheit ein Shinigami war. Aber was wollte ein Shinigami von ihr…? Ein Keuchen entfuhr ihr, als sie sich mit einem Schlag erinnerte. An die drei Männer. An ihre Flucht. Wie sie sie schließlich in die Enge gedrängt hatten. Wie sie das Messer gezogen hatte und… Carina schaute mit so enormer Geschwindigkeit nach unten, das ihr fast die Brille von der Nase flog. Der schwarze Stoff ihres Kleides war um die Brust herum eingerissen und hing in Fetzen herunter. Überall war Blut, aber da waren keine Wunden. Für einen Moment wurde der 16-Jährigen furchtbar schlecht. Was zum Teufel war mit ihr passiert? „Tja Kleines, ich fürchte deine Zeit als Mensch ist jetzt vorbei“, sagte der Rothaarige mit ruhiger Stimme. „Meine Zeit als…Mensch?“, murmelte sie verwirrt und hatte plötzlich ein Déjà-vu. ^^ Flashback ^^ „Die Story ist total klasse, glaub mir. Es kommen auch Shinigami drin vor, die magst du doch.“ „Wie in Bleach?“ „Na ja, sie sind schon anders. Im neuesten Manga erfährt man, dass Shinigamis diejenigen sind, die Selbstmord begangen haben. Ist also quasi so ne Art Strafe, aber so schlimm finde ich das Leben von denen überhaupt nicht.“ ^^ Flashback Ende ^^ Für einen Moment hatte Carina das Gefühl, dass ihr Herz gleich erneut stehen bleiben würde. „Das darf nicht wahr sein“, dachte sie. Wie um alles in der Welt hatte sie so etwas nur vergessen können? Die Erkenntnis sickerte nur sehr langsam in ihr Gehirn. Sie war ein Shinigami. Ein Todesgott. Wie der Rothaarige ihr genau das sagte, bekam sie kaum mit. Ihr ging nur eines durch den Kopf. Sie lebte, obwohl sie eigentlich hätte tot sein sollen. Sie hatte sich umgebracht. Auf einmal schnürte es ihr die Kehle zu. Sie versuchte einzuatmen, doch keine Luft erreichte ihre Lunge. In Panik griff die 16-Jährige sich an die Kehle, während Grell die Augen aufriss. Er kannte diese Situation. Ihm selbst war es nach seiner „Wandlung“ genauso ergangen. Sanft, aber dennoch bestimmt, packte er das Mädchen an den Schultern. Ihre gelbgrünen Augen schauten ihn an, er konnte die blanke Panik in ihnen sehen. „Beruhige dich“, sagte er mit fester Stimme und es schien zu wirken. Die Blondine tat einen tiefen Atemzug und dann noch einen. Und dann – als Carina endlich wieder richtig atmen konnte – begann sie zu weinen. Eine Träne nach der Anderen kullerte ihre Wange hinab und obwohl sie ihre Lippen zu einem weißen Strich zusammengepresst hatte, entflohen ihr dennoch einige Schluchzer. „Na großartig“, murmelte Grell etwas genervt, denn im Trösten war er nun wirklich nicht gut. Seine Kernkompetenz war normalerweise so ziemlich das genaue Gegenteil. Etwas hilflos tätschelte er ihr ein paar Mal den Rücken und hoffte, dass die Heulerei von alleine aufhören würde. Und tatsächlich, nach wenigen Minuten verstummte das Mädchen und schaute nur noch mit geröteten Augen zu Boden. „Was passiert jetzt?“, fragte sie schließlich ganz leise und schaute ihn an. Irgendwie wirkte er gar nicht so grausam wie im Manga. Nun ja, wirklich viel von ihm hatte sie ja auch nicht gesehen. Jetzt, wo sie so darüber nachdachte, hatte er die letzte Seite eingenommen, die sie im Manga gesehen hatte. Gott schien einen Sinn für Ironie zu haben… „Ich bringe dich zu Will, der wird sich um dich kümmern.“ „Wer ist Will?“, fragte Carina verwirrt und runzelte die Stirn, als Grell verliebt aufseufzte. „Ein wirklich toller Typ“, sagte er und Carina war sich sicher, wären sie in einem Manga, dann würden ihm jetzt lauter Herzchen aus dem Körper fliegen. „Äh, okay…“, sagte sie zögerlich, was Grell wieder in die Wirklichkeit zurückbrachte. „William ist ein Aufsichtsbeamter der Shinigami und kümmert sich in der Regel um die Neulinge. Wir beide haben zusammen unseren Abschluss auf der Shinigami Akademie gemacht.“ Carina war verblüfft. „Es gibt eine Akademie?“, fragte sie und Grell nickte. „Ja, dort werden alle auf ihren zukünftigen Job vorbereitet.“ Carina atmete kurz tief ein. „Und was ist mein zukünftiger Job?“ Grell gähnte und schulterte seine Kettensäge, was die 16-Jährige ein wenig nervös machte. „Das kommt darauf an für welche Abteilung du dich entscheidest bzw. für welche du geeignet bist. Jetzt aber Schluss mit den Fragen, wir sollten endlich aufbrechen." Er stand auf und hielt ihr seine rechte Hand hin, die in einem schwarzen Handschuh steckte. Carina hatte immer noch Angst vor dem, was jetzt auf sie zukommen würde. Sie würden den Undertaker genauso unwissend wie ihre Eltern zurücklassen müssen. Aber das hatte sie sich selbst eingebrockt. Nun gab es kein Zurück mehr. „Wird schon schief gehen“, dachte sie und ergriff Grells Hand. Dieser grinste und zeigte dabei seine spitzen Haifischzähne. Dann, innerhalb eines Augenaufschlags, löste sich die Welt auf. Kapitel 11: Die Wahl -------------------- Carina schnappte erschrocken nach Luft, als sich ihr Körper wieder materialisierte. Diese Teleportation oder wie man es auch immer nennen wollte hatte sich ziemlich seltsam angefühlt. Ihr ganzer Körper hatte angefangen zu kribbeln und sie hatte sich so…losgelöst gefühlt. Als würde sie schweben. Irgendwie war es zugleich angenehm als auch unangenehm gewesen. Als sie kurze Zeit später endlich wieder festen Boden unter ihren Füßen spürte, öffnete sie voller Neugier ihre Augen und keuchte vor Überraschung auf. Grell konnte nicht anders und grinste. „Willkommen in der Welt der Shinigami“, sagte er und Carina klappte nur sehr langsam der Mund wieder zu. Sauber. Das war das erste Wort, das ihr in den Sinn kam. Die Straßen, die Gebäude, ja selbst die Luft sah einfach verdammt sauber aus. Es war das genaue Gegenteil von London, das vor Dreck nur so gestrotzt hatte. „Sind wir im Himmel?“, rutschte es Carina heraus und Blut schoss ihr ins Gesicht, als Grell auf ihre Frage hin auflachte. „Natürlich sind wir nicht im Himmel. Der ist immer noch den Engeln vorbehalten, Kleines. Nein, wir befinden uns in einer Art Zwischendimension. Zwischen dem Himmel und der Menschenwelt um ganz genau zu sein.“ Carina hatte so viele Fragen, das sie gar nicht wusste, welche sie zuerst stellen sollte. Aber sie hielt vorerst ihren Mund, denn der rothaarige Shinigami schien nicht gerade die geduldigste Person zu sein. Während sie ihm folgte, bestaunte sie immer wieder ihre neue Umgebung. „Hier ist alles so viel moderner, als im alten London. Die Shinigami scheinen mit ihrer Technologie schon viel weiter vorangeschritten zu sein. Wenn ich es mir recht überlege...eine Kettensäge gab es 1886 wohl auch noch nicht“, dachte Carina. „Sag mal, wie heißt du eigentlich?“, fragte Grell in diesem Moment. „Carina“, antwortete Angesprochene. „Nun schön Carina, mein Name ist Grell. Stell auf dem Weg zu William bitte nichts Dummes an, weil ich sonst wieder derjenige sein werde, der es ausbaden muss.“ Carina war kurz davor beleidigt ihre Backen aufzublasen. Was dachte der Rotschopf bitteschön, wen er vor sich hatte? Ein kleines Kind? 5 Minuten später blieben sie vor einem riesigen, weißen Gebäudekomplex stehen. „Hier entlang“, sagte Grell und hielt ihr die Tür auf. Carina klappte erneut der Mund auf, noch bevor sie das Haus ganz betreten hatte. Sie stand in einer Art Eingangshalle, in der linken Ecke des Raumes befand sich eine sehr große Rezeption und in der rechten Ecke Stühle, Sitzbänke und ein weißes Sofa. Überhaupt schien hier fast alles in Weiß gehalten zu sein. Und es wimmelte nur so von Leuten. „So viele…“, dachte Carina und gleich darauf wurde ihr übel. All diese Menschen hatten sich umgebracht. Jeder von ihnen musste eine schreckliche Vergangenheit haben. Vermutlich war sie die Einzige, die sich aus einem vollkommen anderen Grund das Leben genommen hatte. Kurz schielte sie zu Grell hinüber. Wie und warum er sich wohl umgebracht hatte? Sie musterte die anderen Shinigami mit großem Interesse und wer hätte es ihr verübeln können? Immerhin gehörte sie jetzt zu ihnen, auch, wenn sie sich immer noch wie ein Mensch fühlte. Jeder hier, wirklich jeder, trug einen schwarzen Anzug mit einem strahlend weißen Hemd und einer schwarzen Krawatte. „Na ja, außer Grell“, fügte sie gedanklich hinzu. Auf den ersten Blick sah sie überall nur Männer, erst als sie zur Rezeption hinübersah konnte sie drei Frauen sehen, alle nur ein paar Jahre älter als sie. Auch sie trugen – zu Carinas großer Freude – Hosen, weiße Blusen und schwarze Blazer. „Moment mal“, dachte sie plötzlich und runzelte irritiert die Stirn. Erneut huschten ihre Augen hin und her, denn ihr war noch etwas aufgefallen. „Jeder hier trägt eine Brille“, sagte sie und berührte die, die Grell ihr geliehen hatte. „Wir Shinigami sind äußerst kurzsichtig. Diese speziellen Brillen helfen uns daher erheblich bei unserer Arbeit. Natürlich ist das, was du da gerade trägst, nur eine Übungsbrille. Die richtige Brille bekommt man erst, wenn man seine Ausbildung erfolgreich beendet hat.“ „Aber ich dachte Shinigami sind übernatürliche Wesen. Warum zum Teufel sind wir dann kurzsichtig?“, fragte Carina komplett ungläubig und Grell seufzte genervt. „Gerade, weil wir übernatürlich sind. Du musst wissen, dass wir wesentlich schneller, stärker und vor allem robuster sind als Menschen. Diese Schwäche soll vermutlich ein gewisses Gleichgewicht bringen. Aber natürlich sind das alles nur Spekulationen.“ Carina nickte zum Zeichen, dass sie verstanden hatte. Irgendwie ergab das ja schon Sinn. Sie folgte Grell durch die Eingangshalle. Ihn schien hier jeder zu kennen, denn entweder starrten die Leute ihn voller Ehrfurcht an oder wandten abrupt den Blick ab, als ob sie Angst vor ihm hätten. „Was das wohl zu bedeuten hat?“, fragte sich Carina gedanklich und schaute den Rothaarigen aus den Augenwinkeln heraus neugierig an. Sie stiegen mehrere Treppen hinauf, anschließend durch einen sehr langen Gang und blieben schlussendlich vor einer riesigen Tür stehen. Rechts daneben an der Wand hing ein kleines Schild mit dem Namen „William T. Spears.“ Carina wurde nun doch ein wenig nervös, denn wenn dieser William wirklich so ein hoher Beamter war, dann wollte sie dieses Gespräch auf keinen Fall vermasseln. Im nächsten Moment – und zu Carinas größtem Entsetzen – öffnete Grell ohne vorher Anzuklopfen die Bürotür und stürmte hinein. „Oh Will, ich bin wieder da. Hast du mich vermisst?“ Das alles sagte er mit einer hohen Sing-Sang-Stimme und Carina konnte am Gesichtsausdruck des schwarzhaarigen Shinigami erkennen, dass dieser alles andere als begeistert war. „Grell Sutcliff, wie oft habe ich Ihnen eigentlich schon gesagt, dass ich zu so später Stunde nicht mehr gestört werden will? Und wie oft, dass Sie anklopfen sollen?“ „Ach Will, sei doch nicht immer so streng mit mir“, nörgelte der Rothaarige beinahe sofort und fasste sich theatralisch an die Stirn. „Na großartig“, dachte die 16-Jährige und trat unbeobachtet ein. Wenn das hier immer noch ein Manga wäre, dann würden jetzt vermutlich erneut Herzchen aus Grells Körper und Augen fliegen, da war sich Carina ziemlich sicher. Mit unverhohlener Neugier musterte sie den Shinigami, der hinter einem riesigen Schreibtisch saß, genauer. William trug einen recht vornehmen schwarzen Anzug mit Krawatte und wirkte auf Carina sofort recht steif. Sein schwarzes Haar war kurz und ziemlich ordentlich gekämmt. Sein Gesichtsausdruck wirkte monoton, fast wie in Stein gemeißelt. Auf seiner Nase saß eine schwarze Brille mit rechteckig geformten Gläsern, was Carina nach dem Gespräch mit Grell nicht mehr sonderlich überraschte. Was sie allerdings verwunderte und ihr beinahe sofort auffiel, waren seine Augen. Es waren die gleichen gelbgrünen Augen, die auch Grell besaß. Und die 16-Jährige war sich ziemlich sicher, dass das kein Zufall war. Erschrocken fasste sie sich an ihre eigenen Augen. Davon hatte Grell nichts gesagt. Ihre plötzliche Bewegung war William nicht entgangen und er wandte sich ihr abrupt zu. Eine steile Falte erschien auf seiner Stirn. „Wer bist du?“, fragte er sie sogleich, doch Grell ließ Carina keine Zeit für eine Antwort. „Das“, sagte er und lächelte William so charmant wie möglich an, „ist der Grund, warum ich dich noch so spät stören musste. Ihr Name ist Carina und ich habe sie hierher gebracht.“ Die Falte wurde nun noch größer. „In meinen Unterlagen ist gar nicht verzeichnet, dass wir einen Neuling bekommen sollten. Ich muss Ihnen ja wohl nicht sagen Sutcliff, dass sie es mir vorher melden müssen, wenn so jemand auf Ihrer Liste steht.“ Grells Gedanken überschlugen sich. Wenn er dem Schwarzhaarigen jetzt erzählen würde, dass sie gar nicht auf der Liste gestanden hatte, dann wäre das alles andere als gut. Das letzte Mal, als jemandem oben in der Verwaltung dieser Fehler passiert war und die entsprechende Seele nicht auf der Liste gestanden hatte, war er regelrecht ausgerastet. Er war wochenlang schlecht gelaunt gewesen und natürlich musste man nicht lange überlegen, um zu wissen wer diese schlechte Laune abbekommen hatte… Der Rothaarige versuchte sich nichts anmerken zu lassen, als er sagte: „Ach Will, du weißt doch, was für einen Stress ich in letzter Zeit hatte. Da muss ich einfach vergessen haben, dir Bescheid zu sagen. Kannst du mir noch einmal verzeihen?“ Angesprochener schnaubte genervt und ließ seinen Blick erneut über das blonde Mädchen schweifen. Sie war noch recht jung und wirkte unsicher, beinahe ein wenig verängstigt. Ihre blonden Haare und ihr Kleid waren vollgesogen mit Blut, wobei das Kleidungsstück an der Brust auch noch halb zerrissen war. Er brauchte nicht viel Fantasie, um zu wissen, wie sie sich das Leben genommen hatte. „Ich nehme an“, begann er und schaute wieder zu Grell, „dass du ihr das Nötigste bereits erklärt hast?“ Angesprochener nickte kurz, woraufhin Will einen Stift zog und sich etwas auf seinem Notizblock aufschrieb. „Nun schön, zuerst sollten wir uns um Ihre Ausbildung kümmern“, sprach der Schwarzhaarige sie nun direkt an, woraufhin Carina ihn verdutzt anstarrte. Er siezte sie doch tatsächlich. Anscheinend war er charakterlich wirklich genauso steif wie schon in seinem äußerlichen Auftreten. „Ähm…“, murmelte Carina verunsichert und räusperte sich kurz. „Grell hat erzählt, es gäbe da mehrere Möglichkeiten?“ „Irgendwie schon komisch“, dachte sie gleich darauf. Vor kaum 2 Stunden hatte sie sich umgebracht und nun führte sie ein Gespräch über ihre zukünftige Ausbildung? Wie absurd war das bitteschön? „Allerdings“, antwortete der Anzugträger und räusperte sich. „Grundsätzlich gibt es 4 Berufswege, die ein Shinigami einschlagen kann. Da wäre zunächst einmal die Registratur.“ Carina verzog kurz das Gesicht, denn das hörte sich nach keiner spannenden Aufgabe an. „Dort werden die Listen mit den Todeskandidaten erstellt und die eingesammelten Seelen verwaltet.“ „Wie ich es mir dachte. Büroarbeit“, dachte Carina wenig begeistert, hörte William aber weiterhin aufmerksam zu. „Dann gibt es da noch die Personalabteilung. Sie verwalten alle unsere Einrichtungsgegenstände und – was natürlich noch viel wichtiger ist – die Todessensen, die noch keinem Shinigami angehören.“ Die 16-Jährige konnte sich nur schwer ein Seufzen verkneifen. Dieser Job hörte sich sogar noch langweiliger an als die Registratur. „Und überaus wichtig, wenn nicht sogar die wichtigste Einrichtung, ist die Brillenabteilung. Dort werden sowohl die Übungsbrillen für die Anwärter, als auch die speziellen Brillen für die Shinigami entworfen und hergestellt.“ „Einige von Ihnen haben echt Talent. Sieh dir nur mal an, was sie mir für ein todschickes Modell entworfen haben“, schwärmte Grell und berührte sein Brillengestell mit solch einer Hingabe, dass Carina gegen ihren Willen grinsen musste. „Ich würde sagen“, sagte William leicht genervt und rückte sich die Brille auf seiner Nase nun bereits zum dritten Mal zurecht, „dass Sie entweder die Personalabteilung oder die Registratur wählen sollten. Für die Brillenabteilung scheinen Sie mir doch etwas zu jung zu sein.“ Carina stöhnte innerlich auf. Das konnte doch nicht sein Ernst sein. Die Brillenabteilung war die Einzige von den drei Abteilungen gewesen, die wenigstens halbwegs interessant geklungen hatte. Aber…Moment mal... „Hatten Sie nicht gerade eben von 4 Berufen gesprochen?“, fragte Carina nach und zog eine Augenbraue in die Höhe. „Der vierte Beruf ist der des Seelensammlers. Diese Shinigami sind im aktiven Dienst und sammeln die Seelen der Verstorbenen ein. Ich hielt ihn nicht für erwähnenswert, da bisher keine einzige Frau auch nur einen Gedanken an diesen Job verschwendet hat.“ Carina wurde misstrauisch. Sagte er ihr wirklich die Wahrheit? Oder traute er es Frauen einfach generell nicht zu? „So unwahrscheinlich ist das vermutlich gar nicht. Wenn ich an die Frauen aus diesem Jahrhundert denke…Die Meisten würden niemals etwas machen, wo sie sich die Finger schmutzig machen müssten. Für diese Frauen ist ein Bürojob wirklich noch das Angenehmste“, schoss es ihr durch den Kopf. Sie hingegen… „Nun?“, fragte William, sein Stift schwebte erwartungsvoll über seinem Notizblock. Anscheinend wollte er eine Entscheidung von ihr hören. Und Carina fiel diese, um ganz ehrlich zu sein, ziemlich leicht. Sie musste nur an ihr bisheriges Leben denken. Wie oft hatte sie beim Lesen der Mangas und beim Anschauen der Animes davon geträumt, selbst eine Kämpferin zu sein? Mitten im Geschehen und in Action? „Ich möchte eine Seelensammlerin sein. So wie Grell“, sagte sie mit solch einer Entschlossenheit, dass die beiden Männer sie regelrecht anstarrten. Grell konnte nicht lange an sich halten und prustete los. „Eine Seelensammlerin? Das ist das Lächerlichste, was ich je gehört habe. Eine Frau als Seelensammler?“ Er lachte so laut, dass Carinas Wangen vor Wut und Scham ganz rot wurden. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten. „Unterschätz mich nicht“, fuhr sie ihm so heftig über den Mund, dass der Rothaarige abrupt verstummte. „Nur, weil ich eine Frau bin heißt das noch lange nicht, dass ich es nicht schaffen kann. Abgesehen davon, du bist ja wohl viel mehr eine Frau als irgendjemand sonst in diesem Raum.“ Es war als Beleidigung gedacht gewesen, doch Grells Augen leuchteten plötzlich erfreut auf. „Oh vielen Dank. Es freut mich, dass es dir aufgefallen ist. Du scheinst doch viel mehr Grips zu haben, als ich zu Anfang gedacht habe“, trällerte er und Carina klatschte sich geräuschvoll eine Hand gegen die Stirn. Der Typ war doch echt unglaublich… Kapitel 12: Die erste Nacht --------------------------- „Und hier“, sagte William und Carina, mittlerweile sichtbar genervt, unterschrieb zum dritten Mal auf einem der Papiere. Hier war die Bürokratie ja noch schlimmer, als in den Behörden im Jahr 2015. Vielleicht lag es aber auch einfach nur an Will. „Und du bist dir da wirklich sicher?“, fragte Grell mit einem lockeren Grinsen auf den Lippen und verschränkten Armen. „Die Ausbildung zum Seelensammler ist kein Zuckerschlecken. Du wärst nicht die Erste, die daran scheitern würde. Also denk lieber noch mal drüber nach, jetzt kannst du dich noch um entscheiden.“ Carina schnaubte. „Wenn ich mir einmal etwas vorgenommen habe, dann ziehe ich das auch durch. Außerdem kann man nie wissen ob etwas klappt, bevor man es nicht selbst probiert hat.“ „Deine Einstellung gefällt mir“, sagte Grell und entblößte dabei seine spitzen Zähne. William rückte sich seine Brille auf der Nase zurecht. „Dann trifft es sich ja gut, dass Sie ihr Mentor sein werden.“ Für einen Moment herrschte ungläubige Stille, Carina und Grell starrten den Schwarzhaarigen lediglich verwirrt an. Dann schien die Botschaft das Gehirn des Rothaarigen zu erreichen. „WAS?“, brüllte er so laut und schrill, das Carina die Ohren klingelten. „Wieso denn ich?“ „Hätten Sie damals im Unterricht besser aufgepasst, Sutcliff, dann wüssten Sie, dass immer derjenige, der den neuen Shinigami in unsere Welt überführt, auch dessen Mentor wird. Deswegen hätte ich auch einen anderen Shinigami für diese Nacht entsandt, wenn ich denn gewusst hätte, dass wir heute einen neuen Rekruten bekommen. Sie wären da meine letzte Wahl gewesen.“ „Oh William, warum bist du immer so gemein zu mir?“, quengelte Grell, woraufhin Carina die Augen verdrehte. Wie konnte man nur so in jemanden vernarrt sein, der einem noch weniger als die kalte Schulter zeigte? Und der alle 10 Sekunden seine Brille zurechtrückte? „Nun denn, bringen Sie sie bitte in das Wohnheim für die Anwärter, Sutcliff. Denn ich für meinen Teil habe bereits genug zu erledigen und werde ganz sicherlich keine Überstunden machen.“ Seufzend deutete Grell Carina an ihm zu folgen und gemeinsam verließen sie das Büro. Die ganze Zeit sagte Grell kein Wort. Nicht, während sie das Gebäude verließen. Nicht, während sie einige Straßen entlang gingen. Nicht einmal, als er aus Versehen über einen der Pflastersteine stolperte. Die Stille war Carina unangenehm und langsam aber sicher bekam sie ein schlechtes Gewissen. Irgendwie konnte sie den Rothaarigen verstehen. Er konnte ja nichts dafür, dass sie nun ein Shinigami war und trotzdem war sie ihm aufs Auge gedrückt worden. Nach ca. 15 Minuten Fußmarsch blieben sie vor einem weiteren Gebäude stehen. Im Gegensatz zum Institut hatte dieses hier nicht so viele Stockwerke. Dafür war es wesentlich breiter und länger. Die Außenwände waren dunkelbraun gestrichen und die Fenster mit weißen Rahmen bestückt, es hatte ein Flachdach und sah an sich recht in Ordnung aus. „Mal sehen“, murmelte Grell und schaute auf das Stück Papier, dass William ihm zuvor in die Hand gedrückt hatte. „Dein Zimmer ist im zweiten Stock, also genau in der Mitte.“ Er ging weiterhin vorne weg, während Carina kurz die recht kleine Eingangshalle musterte. Hier gab es nicht einen Gegenstand, es war also nur der Raum, der zu den Treppen führte. Schnell kamen sie im zweiten Stockwerk an. Es war ein sehr langer Flur, auf beiden Seiten befanden sich alle paar Meter schlichte, dunkelbraune Türen. „Sieht nicht sehr einladend aus“, dachte Carina, während Grell einen Schlüssel zog und eine der Türen aufschloss. „So, das wird bis auf weiteres dein neues Reich. Wenn du deinen Abschluss machst, dann kannst du aus diesem schrecklich altmodischen Loch raus. Glaub mir, ich weiß wovon ich spreche.“ Die Blondine schaute sich interessiert um. So schlimm, wie Grell es darstellte, war das Zimmer nicht. Von der Tür aus gesehen links stand ein großer, grauer Kleiderschrank und daneben ein aufstellbarer Spiegel, den man in ihrer Zeit wohl in keinem Schlafzimmer mehr finden würde. Genau gegenüber davon, in der rechten Ecke des Zimmers stand ein Bett, bezogen mit einer braunen Decke und zwei Kissen. Ein paar Meter weiter befand sich ein sehr kleiner Tisch mit einem Holzstuhl. Auf dem Tisch selbst stand lediglich eine kleine Lampe und eine Box mit Schreibutensilien, was Carina vermuten ließ, dass der Tisch weniger zum Essen, als viel mehr zum Arbeiten gedacht war. Als sie ihren Blick noch weiter nach rechts schwenken ließ, erblickte sie eine weitere braune Tür. Vermutlich führte diese in ein angrenzendes Badezimmer. Natürlich hatte Grell Recht. Das Zimmer war nicht gerade sehr modern, aber das Nötigste war da und Carina war froh darüber, dass sie es nun hatte. „Gut, dann kann ich ja jetzt gehen. Ich hole dich morgen früh ab und erkläre dir dann den Rest. Oh man, hätte ich doch nur vorher gewusst, worauf ich mich da einlasse“, endete er melodramatisch und schaute seinen Schützling an. Sie wirkte ziemlich verloren, wie sie da so stumm und ratlos in der Mitte des Raumes stand. Ein wenig Mitleid wallte in ihm auf. Alle Shinigami hatten es am Anfang schwer. Und das nicht ohne Grund. „Kopf hoch“, sagte er, woraufhin die 16-Jährige ihn zuerst irritiert, dann mit einem kleinen Lächeln ansah. „Danke“, murmelte sie und Grell räusperte sich verlegen. Die hohen Absätze seiner Schuhe klackerten auf dem Boden, als er auf die Tür zuschritt. „Ach ja“, sagte er, während seine Hand die Klinke runterdrückte und sich die Tür mit einem leisen Knarzen öffnete. „Nimm dir die Geräusche nachts nicht so zu Herzen. Die werden leiser mit der Zeit.“ Bevor Carina ihn fragen konnte, was er mit dieser doch recht verwirrenden Aussage gemeint hatte, war der Rothaarige bereits aus dem Zimmer geschritten und hatte die Tür hinter sich geschlossen. Eine unangenehme Stille breitete sich plötzlich um sie herum aus. Es war das erste Mal, dass sie alleine war, nachdem sie sich… „Nicht drüber nachdenken. Nicht drüber nachdenken“, murmelte sie und setzte sich langsam in Bewegung. Vor dem Spiegel blieb sie stehen. Tatsächlich, ihre Augen waren nun ebenfalls gelbgrün und leuchteten ihr in der Dunkelheit entgegen. Es war ein äußerst ungewohnter Anblick, hatte sie doch 16 Jahre lang immer nur in blaue Seelenspiegel geblickt. Zögerlich zog sie sich nun ihre Stiefel aus, anschließend das zerrissene Kleid. Ein zittriger Seufzer entfuhr ihr, als sie erneut in den Spiegel schaute. Eine Narbe – blassrosa und schätzungsweise ca. 10 Zentimeter lang – zierte ihre Brust. Sie begann mittig auf ihrem Dekolleté und zog sich dann schräg runter zu ihrer linken Brust. Vorsichtig fuhr sie die doch recht gerade Linie mit dem Daumen ihrer rechten Hand nach und zuckte innerlich zusammen, als sie fühlte wie deutlich sich die Narbe von ihrer gesunden Haut abhob. Nun, aber was wunderte sie sich überhaupt? Sie hatte sich ein verdammtes Messer in die Brust gerammt und anschließend wieder hinausgezogen. Natürlich kam man da nicht mit einem kleinen Kratzer davon. Dummerweise hatte sie in dem besagten Moment nicht darüber nachgedacht, da sie angenommen hatte ohnehin zu sterben. „Tja, soviel dazu“, murmelte sie und öffnete nun die Schranktüren. „Was zum…“, murmelte sie und schaute überrascht in den Schrank hinein, der mit nichts weiter gefüllt war, als mit weißen Blusen und schwarzen Anzügen samt schwarzer Krawatten. „Wie zum Teufel konnten die so schnell die Kleidung hierher bringen? Und dann auch noch in genauer meiner Größe. Dieser William ist mir mit seiner Perfektion fast schon ein wenig unheimlich. Aber wenigstens kann ich jetzt wieder Hosen tragen. Der einzige Vorteil an der ganzen Sache.“ Seufzend zog sie sich eine der Blusen über und ging in das angrenzende Bad. Es war ziemlich eng und beinhaltete lediglich eine Dusche, ein kleines Waschbecken, die Toilette und einen ziemlich altmodischen Kühlschrank, der der Blondine gerade einmal bis zu den Oberschenkeln reichte. Carina war zu müde zum Duschen, also begnügte sie sich damit ans Waschbecken zu gehen und sich ein wenig Wasser ins Gesicht zu klatschen. Neugierig öffnete sie den Kühlschrank und sah, dass dieser nur Getränke enthielt. Erst jetzt fiel ihr auf, wie durstig sie eigentlich war. Sie nahm sich ein Wasser und trank es in nur wenigen, aber dafür schnellen Zügen leer. Es schien eine halbe Ewigkeit her zu sein, dass sie zuletzt etwas getrunken hatte. „Aber anscheinend müssen Shinigami genauso Essen und Trinken wie Menschen. Ich muss unbedingt Grell danach fragen“, murmelte sie und erhob sich. Zurück in ihrem eigentlichen Zimmer ließ sie sich auf das Bett sinken. Die Bettdecke kratzte ein wenig, aber die Matratze war angenehm weich und das Mädchen ließ sich ohne zu zögern hinein sinken. Carina war müde und schloss die Augen. Es wirkte alles so bizarr. Vor wenigen Stunden war doch noch alles in Ordnung gewesen. Nun ja, bis auf die Tatsache, dass sie in der falschen Zeit war und der Undertaker sie gegen ihren Willen hatte küssen wollen. „Was er wohl denken wird, was mit mir passiert ist?“, dachte sie und öffnete ihre Augen wieder, nur um anschließend an die Decke zu starren. Das Einzige, was sie zurückgelassen hatte, waren die riesigen Blutflecken, die nun den Boden in der Gasse zierten. Aber das war nichts Ungewöhnliches. Mindestens die Hälfte aller Straßen in London wurden durch Dreck, Urin oder Blut verunstaltet. „Wer weiß, vielleicht ist es ihm auch einfach egal. Schlussendlich war ich ja nur eine Last für ihn. Ein kleines, schwaches Anhängsel.“ Der Gedanke deprimierte sie. Mehr, als sie zugeben wollte. Und ständig musste sie an ihr letztes, gemeinsames Gespräch denken. „Ich bin nicht schwach.“ „Doch, das bist du.“ „Wenn ich streng genommen nicht schon tot wäre, dann würde ich mich darüber tot ärgern. Wenigstens kann er mir nicht mehr auf die Nase binden, dass er Recht hatte“, murmelte sie und drehte sich auf die Seite. Gerade, als sie endlich begann langsam einzudösen, ertönte ein lautes Geräusch. Erschrocken setzte sich die 16-Jährige im Bett auf und lauschte. Was zur Hölle… Und da ertönte es wieder. Ein Schrei. Ein langgezogener Schrei, der Carina das Blut in den Adern gefrieren ließ. Und dann kamen neue Schreie hinzu. Über ihr, unter ihr, von links und rechts…Die Laute ertönten aus allen Richtungen. Carina wurde schlecht, als sie an Grells vorherige Worte dachte und nun eins und eins zusammenzählte. Alle Shinigami, die hier untergebracht waren, waren Neulinge. Ihr Selbstmord konnte daher noch nicht allzu lang her sein… Carina wurde übel. Sie wollte diese Schreie nicht hören. Sie wollte nicht daran denken, was all diesen Menschen widerfahren sein musste und erst recht nicht wollte sie darüber nachdenken, was ihr vor wenigen Stunden widerfahren war. Rasch zog sie sich die Decke über den Kopf, machte sich darunter ganz klein und blieb in Embryo-Stellung liegen. Sie presste sich die Hände so fest auf die Ohren, dass sie die Schreie nicht mehr hören konnte. „Schlaf endlich. Schlaf doch endlich ein“, betete sie stumm ihren eigenen Körper an. Dieser erfüllte ihr ihren Wunsch allerdings erst eine geschlagene Stunde später. Was vielleicht auch daran liegen mochte, dass sie sich insgeheim die Frage stellte, ob sie auch so schreien würde. Kapitel 13: Aller Anfang ist schwer ----------------------------------- „Warum immer ich?“, murmelte Grell vor sich hin und gähnte herzhaft. Gerade war er auf dem Weg zu seiner “Schülerin“ und hatte deswegen ganze 20 Minuten früher aufstehen müssen. Dabei zählte doch für seinen Schönheitsschlaf jede gottverdammte Minute. Gerade nach der gestrigen Standpauke von Will, die nach dem Abliefern des Mädchens noch weitergegangen war. „Abgesehen davon…“, dachte er und runzelte verwirrt die Stirn, „warum muss ich mir eigentlich vorhalten lassen, dass ich noch hätte warten sollen? Irgendwer wird die Leiche schon finden.“ Die Verwandlung zum Shinigami lief immer gleich ab. Die Leiche wandelte sich, sobald ein Shinigami sich in unmittelbarer Nähe zum Körper befand. Wenn der neue Shinigami dann die menschliche Welt verließ und zum ersten Mal in die der Shinigami überwechselte, erschien der menschliche Körper an genau dem Punkt, wo er gestorben war, erneut. Lediglich natürlich ohne seine Seele. Die vorherige Hülle wurde sozusagen abgestreift. Grell hatte nie verstanden, warum es in solche Fällen nötig war abzuwarten, bis jemand die Leiche fand. William anscheinend auch nicht, hatte er als Argument doch nur vorgebracht, dass es in jedem Lehrbuch genau so geschrieben stand. Grell seufzte. Er hatte doch ohnehin schon genug Probleme gehabt. Und jetzt hatte er zu seinem Leidwesen auch noch ein 16-jähriges Mädchen an der Backe kleben, die nicht gerade nach gutem Shinigami-Material aussah. „Mir bleibt momentan auch nichts erspart“, dachte der Rothaarige geknickt und betrat das Gebäude der Neulinge. Seit seiner Studienzeit hatte sich hier wirklich gar nichts verändert. Er konnte sich noch ziemlich genau daran erinnern, wie sehr er es gehasst hatte in solch einer schäbigen und unmodernen Behausung zu leben. Seine jetzige Wohnung war das genaue Gegenteil, was aber vielleicht auch daran lag, dass er persönlich sie eingerichtet hatte. „Tja, wem soll ich was vormachen, ich habe nun mal Sinn für Mode“, flötete er vor sich hin und klopfte an die Tür vom vorherigen Abend. Es dauerte mehrere Sekunden, dann drehte sich der Knauf und die Tür wurde langsam, ganz langsam geöffnet. Grell wollte dem Mädchen gerade Guten Morgen sagen, doch bei ihrem Anblick blieb ihm der Gruß im Hals stecken. „Himmel, was ist denn mit dir passiert?“, fragte er und drängelte sich gleichzeitig an ihr vorbei. Selbst im Tod hatte sie besser ausgesehen. Carina verzog kurz die Mundwinkel. „Ich habe kaum geschlafen“, antwortete sie gereizt, während sie die Tür wieder schloss und vor Grell stehen blieb. Der Rothaarige musterte sie noch einmal. Ihre Haare standen in alle Richtungen ab, unter ihren Augen befanden sich dunkle Ringe und die Bluse, die sie gestern Abend zum Schlafen angezogen hatte, war von oben bis unten zerknittert. „So kommst du mir definitiv nicht aus dem Haus“, sagte er. „Als meine Schülerin musst du wenigstens halbwegs gut aussehen, was werden sonst die Leute über mich denken?“ Carina schaute ihn schlichtweg sprachlos an. Für einen Moment hatte er sich doch tatsächlich angehört wie ihre Mutter. „Und“, fügte Grell noch hinzu und deutete mit seiner behandschuhten Hand auf ihre nackten Beine, „lauf nicht so freizügig vor Männern rum, das gehört sich nämlich nicht.“ „Oh Verzeihung, ich vergesse immer wieder, dass Sie ein Mann sind“, sagte Carina spöttisch, weil sie sich diesen Kommentar einfach nicht verkneifen konnte. Doch natürlich fasste Grell diese Beleidigung erneut nicht als Beleidigung auf. „Nun ja, wenigstens scheinst du halbwegs intelligent zu sein, wenn du eine Dame wie mich erkennst.“ Carina wusste für einen Moment nicht, ob sie lachen oder die Augen verdrehen sollte. Aber Grell ließ ihr keine Zeit sich zu entscheiden, denn im nächsten Moment scheuchte er sie samt ihrer neuen Kleidung ins Bad, mit der klaren Anweisung sich fertig zu machen. Seufzend ergab Carina sich ihrem Schicksal und tat ihr Bestes, um wenigstens halbwegs normal auszusehen. Als sie nach 20 Minuten erneut in den Spiegel schaute und sich als „fertig“ befunden hatte, trat sie aus dem Badezimmer heraus und fand sich erneut dem Rothaarigen gegenüber, der sie nun noch kritischer musterte als beim ersten Mal. Ihre Haare waren nun durchgekämmt und fielen ihr glatt über die Schultern. Sie trug schwarze Schuhe, die übliche schwarze Anzugshose mit einer neuen weißen Bluse samt schwarzem Blaser, sowie eine schwarze Krawatte um den Hals. Das Einzige, was geblieben war, waren ihre Augenringe. „Nun ja, es ist ein Anfang“, seufzte Grell theatralisch, was Carina dieses Mal wirklich die Augen verdrehen ließ. „Aber was soll man mit diesem Outfit auch großartig machen? Keine Sorge, sobald du deine Ausbildung beendet hast stelle ich dir eines zusammen, was wirklich zu dir passt.“ „Zu gütig“, murmelte Carina sarkastisch und Grell grinste. „Eins muss man dir lassen, für ein Mädchen hast du ein ganz schön großes Mundwerk. Aber das gefällt mir.“ Die 16-Jährige blinzelte kurz überrascht, dann lächelte sie ebenfalls. „Man tut, was man kann.“ Während sie die Wohnung verließen und die Treppen nach unten stiegen, knurrte Carinas Magen verdächtig laut. Ihre Wangen verfärbten sich daraufhin rot. „Ich hoffe doch, dass wir Essen müssen, weil…nun ja, ich bin ziemlich hungrig“, gestand sie. Grell nickte. „Ja, müssen wir. Im Institut gibt es eine Kantine, da bekommst du zu jeder Tageszeit etwas zu Essen. Getränke müsstest du ja in deiner Wohnung gehabt haben, oder?“ Carina nickte und lief weiterhin hinter ihrer neuen Bezugsperson her. Es gab immer noch so viele Fragen, die sie hatte, aber eine beschäftigte sie dann doch ganz besonders. „Sagen Sie mal“, begann sie langsam, wurde aber sofort von ihm unterbrochen. „Würdest du bitte mit diesem grässlichen Siezen aufhören, ich bin keine alte Lady. Ganz im Gegenteil, ich stehe in der Blüte meines Lebens.“ Carina zog kurz eine Augenbraue in die Höhe, fuhr dann aber fort. „Nun gut, darf ich dir eine Frage stellen?“ „Das tust du doch schon die ganze Zeit. Aber na schön, um was geht es dieses Mal?“ „Ähm, ich wollte nur gerne wissen, wie du dich denn umgebracht hast.“ Grell blieb so blitzartig stehen, dass Carina von hinten in ihn hineinlief. Dann drehte er sich in einer beängstigend langsamen Geschwindigkeit zu ihr herum und Carina musste bei seinem fassungslos zornigen Gesichtsausdruck schlucken. Anscheinend hätte sie ihn das besser nicht fragen sollen. „Jetzt hör mir mal gut zu“, sagte er mit kontrolliert ruhiger Stimme. „Und merk es dir gut. Diese Frage ist auf Platz 1 der Fragen, die du niemals stellen solltest. Es ist nicht nur anmaßend, sondern auch noch äußerst unverschämt einen Shinigami so etwas zu fragen. Oder würdest du gerne an deinen Tod erinnert werden?“ „Nein“, murmelte Carina kleinlaut. Daran hatte sie überhaupt nicht gedacht. „Tut mir leid.“ „Das sollte es auch“, erwiderte Grell und ging weiter. „Abgesehen davon, dass dich die Antwort auf diese Frage überhaupt nichts angeht. Weder bei mir, noch bei sonst irgendjemandem.“ Carina nickte erneut und schaute beschämt zu Boden. Im Nachhinein betrachtet war es wirklich eine blöde Idee gewesen. Sie stellte Grell auf dem Weg zum Institut keine weiteren Fragen mehr, sondern betrachtete lediglich die neue Umgebung und versuchte sich gleichzeitig den Weg einzuprägen. Denn so viel stand fest, sie hatte einen schrecklichen Orientierungssinn und wenn sie sich erst einmal verlaufen hatte, dann fand sie auch nicht mehr so schnell wieder zurück. „So“, begann Grell, als sie im Eingangsbereich des Instituts standen. „Du bekommst jetzt gleich deinen offiziellen Ausweis und deine vorläufige Brille, damit ich meine endlich wiederbekomme. Außerdem wirst du einem Kurs zugeteilt, der heute beginnen wird. Normalerweise ist es üblich den Anfängern einige Wochen Ruhe zu gönnen, bevor sie ihre Ausbildung beginnen, aber in deinem Fall macht William eine Ausnahme. Er möchte nicht, dass du zu viel Stoff nachholen musst. Was ich ehrlich gesagt nicht verstehen kann, die Ausbildung zum Seelensammler war ein Klacks, wenn du mich fragst.“ „Okay“, antwortete Carina und wusste im Hinterkopf bereits ganz genau, warum die Neulinge vorerst in Ruhe gelassen wurden. Die Schreie hatten sich letzte Nacht in ihr Gedächtnis gebrannt und die 16-Jährige war sich sicher – nein, eigentlich wusste sie es – sie würde sie nie wieder vergessen. „Und stell ja nichts Dummes an, am Ende fällt das noch auf mich zurück.“ Carina nickte erneut und als Grell zur Tür heraus war, war sie verwundert wie allein und verlassen sie sich mit einem Mal fühlte. Schon wieder war alles neu. Und Carina hasste es die Neue zu sein. Zuerst hatte sie ihre Familie und ihre Freunde – ja, eigentlich ihre komplette Welt – zurücklassen müssen. Und jetzt den Undertaker, das Bestattungsinstitut und ihre neue Arbeit. Nur, um jetzt schon wieder von ganz vorne beginnen zu müssen. So langsam hatte sie echt die Schnauze gestrichen voll davon. Mit langsamen Schritten steuerte sie auf die Rezeption zu und blieb schweigend davor stehen. Hinter dem riesigen Schreibtisch saß eine Frau, die mit schnellen Bewegungen ihre Tastatur bearbeitete. Ihre langen schwarzen Haare hatte sie sich hinter die Ohren geschoben, sodass sie ihr glatt über den Rücken fielen. Ihre Brille hatte dunkelgrüne Bügel mit einer silbernen Umrandung, die Carina auf den ersten Blick gefiel. Vom Aussehen her schätzte Carina sie auf Anfang 20. Ihre gelbgrünen Augen hatte sie zielstrebig auf ihren Computerbildschirm gerichtet und schien somit noch keine Notiz von ihrer neuen Kundin genommen zu haben. Mehrere Sekunden lang blieb Carina noch schweigend stehen, dann nahm sie all ihren Mut zusammen und räusperte sich einmal leise. Keine Reaktion. Obwohl es ihr unangenehm war räusperte Carina sich ein zweites Mal, dieses Mal lauter. Erneut reagierte die Schwarzhaarige nicht. „Ist die taub oder was?“, dachte die 16-Jährige genervt und kam sich langsam aber sicher ein wenig verarscht vor. „Entschuldigung?“, fragte sie nun mit fester Stimme und ohne Aufzusehen antwortete die Schwarzhaarige: „Sieh einer an, du kannst ja doch sprechen.“ Carina klappte für einen kurzen Moment der Mund auf. Die junge Frau schaute sie nun zum ersten Mal direkt an und ein triumphierendes Lächeln zierte ihre Lippen. „Ich mag es nicht, wenn Leute davon ausgehen, ich würde direkt das Hausmädchen für sie spielen, nur weil sie vor mir stehen. Nur sprechenden Menschen kann geholfen werden, weißt du?“ Carina konnte nicht anders. Sie lachte. Die Reaktion der jungen Frau erinnerte sie so sehr an Bianca, dass es schon fast unheimlich war. Eine solche Trotzreaktion hätte auch von ihr kommen können, da war die Blondine sich sicher. „Du hast Recht, entschuldige“, antwortete die 16-Jährige. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal so aus dem Herzen heraus gelacht hatte. Es fühlte sich verdammt gut an. Die Schwarzhaarige lächelte immer noch. „Kein Problem“, sagte sie. „Du musst die Neue sein, richtig?“ Carina nickte und streckte ihr die Hand entgegen. „Ja, mein Name ist Carina. Freut mich.“ „Alice“, stellte die Rezeptionistin sich nun selbst vor und ergriff die ihr dargebotene Hand, allerdings nicht ohne kurz eine Augenbraue in die Höhe zu ziehen. „Du kommst nicht gebürtig aus England, oder?“ „Ist das so offensichtlich?“, fragte Carina nach und wurde nun wieder ein wenig nervös. „Nein, nein“, lachte Alice. „Es ist in England nur nicht unbedingt üblich sich die Hände zu schütteln, deswegen hab ich mir schon gedacht, dass du woanders herkommst. Keine Sorge, dein Englisch ist einwandfrei.“ „Oh“, murmelte Carina und nickte verstehend. Sie sollte sich dringend mit den englischen Formalitäten bekannt machen, denn es gab immer noch so vieles, was sie nicht wusste. Und im Englischunterricht hatten sie solche Dinge niemals angesprochen. „Also“, meinte Alice, kramte einen Ordner hervor und zog eine kleine, schwarze Karte hervor. „Das hier ist dein Ausweis. Sobald du mit deiner Ausbildung fertig bist, bekommst du außerdem noch einen Dienstausweis. Und hier deine Brille. Ich weiß, sie sind nicht sonderlich schick, aber wenn du ein richtiger Shinigami bist, dann bekommst du ja eine Andere.“ „Die hört sich fast schon so an wie Grell“, schoss es Carina kurz durch den Kopf, während sie den Ausweis und ihre neue Brille entgegennahm. „Dein Klassenraum ist im zweiten Stock, der letzte Raum auf der rechten Seite. Viel Spaß.“ „Danke“, antwortete die 16-Jährige und drehte sich bereits Richtung Treppe, als die Schwarzhaarige nochmals ihren Namen sagte. „Ja?“, fragte sie verwundert und drehte sich wieder um. Alice lächelte. „Lass dich von denen bloß nicht unterkriegen.“ Carina blinzelte kurz verwirrt, bevor sie grinste und zum Abschied kurz die Hand hob. Sie würde das schon irgendwie hinkriegen. Okay, sie würde das ganz und gar nicht hinkriegen!! „Wo zum Teufel bin ich denn hier gelandet?“, dachte sie und blieb nach wie vor verdattert im Türrahmen stehen. Natürlich, sie hatte schon mehrere Male in ihrem Leben eine komplett neue Klasse kennen lernen müssen und ja, sie hatte auch schon mehr als einmal beim ersten Anblick ihrer neuen Mitschüler die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, aber das hier war definitiv neu. Ihre 13 Mitschüler – übrigens allesamt männlich – saßen kerzengerade auf ihren Stühlen, gaben keinen Mucks von sich und starrten geradeaus gegen die Wand. Beziehungsweise ins Leere korrigierte sich Carina, als sie die abwesenden Blicke bemerkte. Nun ja, hier und da gab es ein paar Ausnahmen und genau diese Ausnahmen wandten ihr auch sofort den Blick zu, um sie von oben bis unten zu mustern. Carina hasste es, irgendwo die Neue zu sein. „Ähm, hallo“, sagte sie zögerlich und betrat nun langsam den Raum. Sie erhielt keine Antwort. „Na großartig“, dachte sie und verzog kurz das Gesicht. Das fing ja richtig gut an. Kapitel 14: Der Unterrichtsbeginn --------------------------------- Die eine Hälfte der Klasse war verstört und die Andere, die sich anscheinend schon wieder halbwegs gefangen hatte, betrachtete sie mit abschätzigen Blicken. Carina konnte sich ziemlich genau vorstellen, was diese Leute dachten. „Wie ich die Wertschätzung der Frauen in diesem Jahrhundert doch liebe“, dachte Carina sarkastisch. Nun, Grell und William hatten sie immerhin gewarnt. Mit einem leisen Seufzen setzte sie sich in Bewegung und begab sich zum ersten Mal in ihrem Leben gewollt in die letzte Reihe. Bisher hatte sie sich immer weit nach vorne gesetzt, da ihre Augen ja nie die Besten gewesen waren und sie sonst nichts an der Tafel hätte lesen können. Aber mit dieser neuen Brille sah sie so scharf wie nie zuvor. Außerdem – und das war eigentlich der ausschlaggebende Punkt – würde sie hier hinten keinerlei Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Das war so ziemlich das Letzte, was sie wollte. Und es schien tatsächlich zu funktionieren. Sie hatte sich den letzten Stuhl auf der rechten Seite ausgesucht. Der Stuhl neben ihr war leer, somit hatte sie was das anging auch ihre Ruhe. Jetzt, wo sie ihre Gedanken wieder sortiert hatte, nahm sie sich endlich die Zeit die anderen Schüler genauer zu mustern. Sie hatte es zwar schon erwartet, aber alle Männer waren älter als sie. Sie schätzte den Jüngsten auf Ende 20 und den Ältesten auf Anfang 50. Freunde würde sie hier definitiv keine finden. Erneut entfuhr ihr ein Seufzen. Sie vermisste die Zukunft. Ihre Eltern. Ihre Freunde. Einfach alles. Jedes Mal, wenn die 16-Jährige daran dachte, dass sie ihre Familie niemals wiedersehen würde, wollte sie am liebsten losheulen. Aber was würde das schon bringen? „Heulen bringt mich auch nicht weiter“, dachte sie und hatte plötzlich einen bitteren Geschmack im Mund. Doch bereits im nächsten Moment betrat ein Mann das Klassenzimmer und sofort wusste jeder im Raum, dass dies ihr Lehrer sein musste. Er strahlte eine natürliche Autorität aus und Carina wusste sofort, sie würde es niemals wagen ihm zu widersprechen. Wie alle Shinigami hatte auch er gelbgrüne Augen, eine Brille und trug die typische Kleidung. Lediglich seine marineblaue Krawatte hob sich vom gesamten Outfit ab. Seine Frisur war im Großen und Ganzen die Gleiche wie Williams, nur mit dem Unterschied, dass seine Haare an den Seiten ein wenig länger waren. Vom Alter her schätzte Carina ihn auf Anfang 30. Er legte seine Unterlagen vorne auf dem Lehrerpult ab, drehte sich zur Klasse und räusperte sich einmal kurz. Als er gerade anfangen wollte zu sprechen, stolperte plötzlich ein junger Mann durch die Tür, anscheinend ein weiterer Schüler. „Entschuldigen Sie die Verspätung, aber ich habe auf dem Weg hierher die Wegbeschreibung vergessen“, keuchte er und man konnte ihm deutlich ansehen, dass er die Flure entlang gerannt war. Carina war überrascht, denn der Junge schien in ihrem Alter zu sein. Er hatte struppiges, kurzes Haar und es sah beinahe so aus, als ob er sie am heutigen Morgen nicht gekämmt hatte. Der vordere Teil seiner Haare war blond, die Hinteren schwarz. Carina war sich ziemlich sicher, dass einige ihrer alten Klassenkameradinnen ihn sehr süß gefunden hätten. Auch sie konnte nicht leugnen, dass er gut aussah. Allerdings sah er auch nach dem Typ Mann aus, der sich dieser Tatsache nur allzu deutlich bewusst war und das war etwas, was Carina überhaupt nicht leiden konnte. Der Lehrer hatte bei dem verspäteten Auftauchen seines Schülers kurz verärgert die Lippen zusammengepresst, deutete allerdings nur mit dem Kopf an, dass der Junge sich endlich setzen sollte. „Oh nein“, dachte Carina, als der Zuspätkommer die gesamte Klasse durchquerte und sich genau neben sie setzte. „Großartig, so viel dazu“, dachte sie und ignorierte den neugierigen Blick, den ihr neuer Sitznachbar ihr nun zuwarf. Der Lehrer räusperte sich erneut kurz, bevor er mit nun endlich mit seiner Rede begann. „Mein Name ist Mr. Crow und ich werde Sie ab heute zu Seelensammlern ausbilden.“ Er machte eine kurze Kunstpause, um die Worte auf die anwesenden Schüler wirken zu lassen. „Ich möchte weder stumpfsinnige Bemerkungen, noch Beschwerden, noch Verspätungen“, an dieser Stelle warf er dem Jungen neben Carina einen strengen Blick zu, „noch Gespräche in diesem Klassenraum hören. Sollten Sie eine Frage haben, dann heben Sie ihre Hand und warten, bis ich sie zum Reden auffordere. Am Ende Ihrer Ausbildungszeit werden Sie zwei Prüfungen ablegen, eine Theoretische und eine Praktische. An diesen beiden Prüfungen dürfen Sie allerdings nur teilnehmen, wenn Sie in meinen Augen dafür bereit sind.“ Das alles sagte er in einem recht monotonen, aber doch autoritären Tonfall. Er sah dabei ziemlich gelangweilt aus, jedoch schlich sich beim nächsten Satz ein schmales Lächeln auf seine Lippen und er beugte sich leicht nach vorne. „Also verscherzen Sie es sich nicht mit mir.“ Carina schluckte. Das konnte ja heiter werden. „Ich erwarte von Ihnen, dass sie stets ihr Bestes geben und mit vollem Herzen bei der Sache sind. Und glauben Sie mir…ich werde es merken, wenn dies nicht der Fall ist. Strengen Sie sich also an.“ Er hob ein Klemmbrett von seinem Tisch auf und zückte einen Kugelschreiber. „Ich werde nun die Anwesenheit kontrollieren. Wenn Sie ihren Namen hören, dann melden Sie sich bitte kurz.“ „Als ob er mich mit jemandem hier verwechseln könnte“, dachte Carina augenverdrehend, hob aber dennoch die Hand, als er ihren Namen aufrief. Sein Blick blieb eine Spur länger an ihr haften als bei den anderen Schülern und die 16-Jährige wusste nicht, ob vor Überraschung oder Missbilligung. Doch der Mann ließ sich nichts anmerken. Ein paar Namen später wurde auch der Junge neben ihr aufgerufen. Er hieß Ronald Knox und als sie ihm einen flüchtigen Blick zuwarf, zwinkerte er ihr kurz zu. „Wie ich’s mir dachte“, schoss es ihr durch den Kopf und genervt wandte sie ihre Augen wieder nach vorne zur Tafel. Der Unterricht war weitaus interessanter, als Carina vermutet hatte. Wie in jeder Schule hatten sie verschiedene Fächer, mit dem einzigen Unterschied, dass jedes Fach von Mr. Crow gelehrt wurde. Entweder herrschte also ein dringender Lehrermangel am Institut oder dieser Typ war einfach auf jedem Gebiet ein Experte. Besonders spannend fand Carina das Fach „Dämonenkunde“. Sie schrieb jede Kleinigkeit mit, denn diese Informationen konnten sicherlich irgendwann mal nützlich werden. „Der entscheidende Unterschied zwischen einem Shinigami und einem Dämon ist, dass Letzterer keine Seele besitzt. Das ist auch der Grund, warum sie im Gegensatz zu uns nicht essen, trinken oder schlafen müssen. Das Einzige, was sie essen, sind Seelen und das auch nur, weil sie sehr bekömmlich für sie sind und es ihre Kräfte vergrößert.“ „So ist das also“, dachte Carina. Nun ja, sie hatte ja schon vorher gewusst, warum Sebastian für Ciel arbeitete. Wie hatte dieser Junge nur seine Seele gegen Rache eintauschen können? „Andererseits“, überlegte Carina und drehte ihren Bleistift zwischen zwei Fingern hin und her, „wenn jemand meine ganze Familie umgebracht hätte…wer weiß, wie ich reagiert hätte?“ „Psst.“ Carina fuhr vor Schreck kurz zusammen und drehte schließlich langsam, ganz langsam, ihren Kopf nach links. Natürlich war es Ronald gewesen, der gesprochen hatte. Er grinste sie verschmitzt an und zwinkerte. „Wie wär’s mit einem Date?“, fragte er dann, als wäre es das Normalste von der Welt und schaute sie erwartungsvoll an. Carina konnte nicht verhindern, dass sie die Kontrolle über ihre Gesichtszüge verlor und als wäre das nicht schon schlimm genug, klappte ihr auch noch der Mund auf. „Ich glaub ich spinne“, dachte sie und wurde gegen ihren Willen rot. Noch nie hatte sie jemand nach einem Date gefragt. Carina hatte sich dies immer als einen sehr glücklichen Moment vorgestellt und das sie diese Frage auf jeden Fall mit „Ja“ beantworten würde. Wie schnell sich die Dinge doch ändern konnten. Die 16-Jährige wandte ihren Blick kommentarlos nach vorne. Lieber würde sie sich zwei Stunden lang Grells Schwärmereien von William anhören, als mit diesem eingebildeten Möchtegern auszugehen. Komischerweise musste Carina nun auch wieder an den Fast-Kuss mit dem Undertaker denken. Sie spürte, wie ihre Wangen nun noch mehr durchblutet wurden. Ach verdammt, hätte sie nicht so überreagiert – nein, besser nachgedacht, korrigierte sie sich – dann säße sie jetzt nicht hier, sondern wäre immer noch ein Mensch. „Ich blöde Kuh“, dachte sie und hatte ihren Sitznachbarn beinahe schon wieder vergessen, als dieser mit einem erneuten „Pst“ auf sich aufmerksam machte. Genervt starrte sie den Störenfried an. „Ich weiß ja nicht, ob du es mitbekommen hast“, begann sie flüsternd und man konnte deutlich hören, wie wenig sie von diesem Gespräch hielt, „aber Mr. Crow hat gesagt, dass er keine Gespräche in seinem Unterricht möchte. Also sei still, ich möchte nämlich dem Unterricht folgen.“ Sie drehte sich wieder um und war irgendwie ein wenig stolz auf sich. Sie hätte schon viel früher anfangen sollen anderen Leuten ihre Meinung zu sagen, das fühlte sich verdammt gut an. Und jetzt würde dieser Trottel auch sicherlich die Klappe…„Also kein Date?“ Carina schloss für einen Moment die Augen und bat Gott stumm um mehr Geduld. Ronald zuckte ein wenig zurück, als sie ihn nun mit blitzenden Augen ansah. „Nein“, zischte sie. „Lass mich einfach…“ „Darf ich Ihnen Beiden behilflich sein?“ Carina blieb jedes weitere Wort, was sie noch hatte sagen wollen, im Hals stecken. Ein kalter Schauer überfuhr ihren Rücken. Langsam – fast mechanisch – wandte sie ihren Kopf nach vorne und natürlich war gekommen, was kommen musste. Mr. Crow stand vor ihrem Tisch. Seine Arme waren vor seiner Brust verschränkt, seine gelbgrünen Augen musterten sie mit einem Ausdruck, der Carina ganz und gar nicht gefiel. Er wirkte ruhig. Zu ruhig. Die 16-Jährige bemerkte, wie sie begann zu schwitzen. Selbst der selbstsichere Junge neben ihr hatte nun aufgehört zu grinsen und schluckte hörbar. „Scheiße“, schoss es ihr durch den Kopf. Dieser Lehrer würde über ihre komplette Zukunft entscheiden und sie hatte es gerade geschafft, ihn schon am ersten Unterrichtstag zu verärgern. Wenn das nicht mal großartig war… „V-verzeihung, Sir“, antwortete Carina mit heiserer Stimme, was nicht wirklich verwunderlich war. Erstens war ihr Mund staubtrocken und zweitens würde bei diesem kalten Blick nun wirklich jeder ins Stottern geraten. „Miss, es interessiert mich nicht, ob Sie hier einen Abschluss schaffen oder nicht. Ich bekomme am Monatsende immer das gleiche Gehalt, so oder so.“ Hinter seinem Rücken begannen einige ihrer Mitschüler schadenfroh zu grinsen. Carina fiel es schwer schuldbewusst zu nicken, denn viel lieber hätte sie den vorderen Reihen zornige Blicke zugeworfen. „Das Gleiche gilt für Sie“, sagte Mr. Crow an Ronald gewandt, woraufhin dieser ebenfalls nickte, dabei aber nicht gerade schuldbewusst aussah. Dabei war es doch allein sein Verdienst, dass Carina sich nun diese Moralpredigt anhören dürfte. „Fahren wir nun also mit dem Unterricht fort“, begann ihr Lehrer von neuem und schritt erneut nach vorne zur Tafel, um etwas anzuschreiben. „Beschäftigen wir uns nun eingehender mit unserer Spezies, dem Shinigami.“ Carina hörte nun noch aufmerksamer zu als bei den Dämonen. Immerhin betraf sie dieses Thema unmittelbar und sie wollte so viel über ihr neues Dasein herausfinden wie nur möglich. Die meisten Dinge, die Mr. Crow nun ansprach, wusste Carina bereits, aber nach nur wenigen Minuten kam bereits eine Information, von der sie bis dato keine Ahnung gehabt hatte. „Wir Shinigami altern nicht. Die einzigen Ausnahmen sitzen hier vor mir. Schüler bzw. Shinigami, die sich noch in der Ausbildung befinden, hören erst auf zu altern, wenn sie die Abschlussprüfung bestanden haben und somit anerkannte Shinigami sind.“ „Na, das hätte Grell mir aber auch mal sagen können“, dachte Carina und runzelte die Stirn. Anscheinend war sie nicht die Einzige, die irritiert war. Mr. Crow schaute einmal in die Runde und seufzte dann leise. Ihm schien die Antwort auf die Frage, die ihnen allen ins Gesicht geschrieben stand, sehr offensichtlich zu sein. „Der Grund dafür“, begann er und machte ihnen mit seinem Tonfall deutlich klar, dass er sie alle für Dummköpfe hielt, „lässt sich wissenschaftlich genau so wenig erklären, wie die Tatsache, dass wir alle kurzsichtig drin. Allerdings liegt die Lösung klar auf der Hand. Falls die Shinigami zum Zeitpunkt ihrer Wandlung zu jung sind, wird ihre Ausbildung daher so lange hinausgezögert, bis sie akzeptables Alter erreicht haben.“ „Jetzt, wo er es sagt“, dachte Carina und legte nachdenklich eine Hand an ihr Kinn. „Es wäre schon ziemlich blöd, wenn ein kleines Kind sich aus Versehen so tief mit einem Messer schneiden würde, dass es stirbt und in dieser Dimension dann nicht mehr altert. Immerhin würde so etwas ja auch unter Selbstmord fallen.“ Darüber hatte sie noch gar nicht nachgedacht und doch erschien es ihr mit einem Mal vollkommen logisch. Man konnte sagen, die Natur hatte sich ihre Gedanken zu den Shinigami gemacht. Auch bei den Menschen war alles so eingerichtet worden, dass sie überleben konnten. „Gut für mich“, dachte Carina erfreut, denn der Gedanke, dass sie für immer im Körper einer 16-Jährigen gefangen sein würde, hatte ihr ganz und gar nicht gefallen. Wer wollte schon für immer und ewig im Körper eines Teenagers stecken? „So werde ich wenigstens noch etwas erwachsener. Und weiblicher“, fügte sie in Gedanken hinzu, obwohl sie schon im nächsten Moment über sich den Kopf schüttelte. Gott, jetzt hörte sie sich schon fast so an, wie diese Mädchen aus ihrer ehemaligen Klasse, die sich den ganzen Tag nur über Mode unterhielten und sich während des Unterrichts schminkten. Während der nächsten 3 Stunden arbeitete Carinas Gehirn auf Hochtouren, sie schrieb jede Kleinigkeit mit und als Mr. Crow den Unterricht für den Tag beendete, hatte sie ziemliche Kopfschmerzen. „Das waren wohl einfach zu viele Informationen auf einmal“, dachte sie, packte ihre Notizen und ihre neuen Bücher in ihre Tasche und verließ so schnell wie möglich den Klassenraum. Da sie sich in dem riesigen Institutsgebäude immer noch nicht sonderlich gut zurechtfand, orientierte sie sich an den Schildern um den Weg zur Kantine zu finden. Währenddessen dachte sie darüber nach, was sie heute noch im Unterricht gelernt hatte. „Als ich mit Grell in die Welt der Shinigami gewechselt bin, habe ich also meine menschliche Hülle zurückgelassen. Großartig, also wird mich der Undertaker doch auf seinem Obduktionstisch liegen haben.“ Der Gedanke, dass er sie dabei entkleiden würde, machte sie gegen ihren Willen wahnsinnig. „Meine Güte Carina, stell dich nicht so an“, maßregelte sie sich selbst in Gedanken. „Dein Körper ist doch nur eine Leiche, das ist ja wohl was anderes, als wenn er dich lebendig nackt sehen würde.“ Ein erleichtertes Seufzen entfuhr ihr, als sie endlich die Kantine erreichte. Sie nahm sich schnell ein Tablett und schaute sich die Karte mit den Gerichten des Tages an. Schlussendlich entschied sie sich für ein Stück Truthahn mit Kartoffeln und Gemüse. Allein schon bei dem Geruch knurrte ihr Magen erwartungsvoll und zog sich vor Vorfreude zusammen. Die Kantine war ziemlich groß und die meisten Tische waren bereits gut besetzt. Von weitem konnte sie sehen, wie Ronald ihr zuwinkte und auf den leeren Platz neben sich deutete. „Eher friert die Hölle zu“, murmelte die 16-Jährige und schaute sich nach einem leeren Tisch um. „Du kannst dich zu mir setzen, wenn du magst“, erklang neben ihr eine Stimme und als Carina sich umdrehte, erblickte sie Alice. Die Schwarzhaarige saß mit ein paar anderen Frauen zusammen an einem Tisch, allerdings so weit abseits wie es die Bank zuließ. Carina konnte nicht anders, sie seufzte erleichtert auf und setzte sich der Älteren gegenüber. „Danke“, sagte sie und Alice grinste. „Deine Klassenkameraden scheinen wohl nicht nach deinem Geschmack zu sein, oder?“ „Nicht wirklich“, antwortete Carina und begann endlich zu essen. Das Essen war göttlich und ihr Hunger machte es noch besser. „Das hab ich mir schon gedacht. Noch nie hat eine Frau versucht Seelensammler zu werden. Aber ich finde es super, dass du das geändert hast.“ „Ach ja?“, meinte die Blondine erstaunt und stopfte sich eine Kartoffel in den Mund. „Versteh mich nicht falsch, ich wollte nie ein Seelensammler sein, aber die Jungs bilden sich doch immer ein, das stärkere Geschlecht zu sein. Das ist die Chance ihnen das Gegenteil zu beweisen. Also enttäusch mich bitte nicht.“ Carina musste grinsen. „Keine Sorge, ich werde mich anstrengen.“ Irgendwie machte sie es schon ein wenig stolz, dass Alice so viel Vertrauen in sie setzte, dabei kannten sie sich gerade erst mal gefühlte 5 Minuten. „Gut“, sagte Alice freudestrahlend, lächelte und ihr nächster Satz ließ Carina beinahe von der Bank fallen. „Ich habe nämlich nicht vor, die Wette mit Norbert aus der Registratur zu verlieren.“ Kapitel 15: Die Lösung ---------------------- Es vergingen einige Wochen. Carina konzentrierte sich währenddessen fast ausschließlich auf den Unterricht, denn sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass wirklich alle dachten, sie würde diese verdammte Ausbildung nicht schaffen. Nein, sie würde es allen beweisen und am Ende würden sie zugeben müssen, dass sie sich geirrt hatten. So war einfach ihr Charakter, sie wollte – nein, brauchte – diese Akzeptanz. Der Unterricht unter Mr. Crow war intensiv, aber er war zu schaffen. Vielleicht kam Carina dies aber auch nur so vor, weil sie aus einer anderen Zeit stammte. Jedenfalls machte sie sich um die Theorie keine Sorgen. Was allerdings die Praxis anging… „Was zur Hölle ist denn mit dir passiert?“, fragte Alice entsetzt, als Carina sich in der Mittagspause neben sie setzte. In den letzten Wochen war dies zu einem beständigen Ritual geworden, was Carina auf keinen Fall missen wollte. Die Schwarzhaarige war zu ihrer besten Freundin geworden, was allerdings auch nicht schwer war, immerhin hatte sie sonst keine. Aber man musste Alice einfach mögen, ihre unbeschwerte fröhliche Art machte einem das Leben viel leichter. Und sie war verdammt ehrlich, das stellte Carina immer wieder fest. So auch jetzt. „Du siehst schrecklich aus.“ „Danke, dass weiß ich selbst“, murmelte Carina geknickt und steckte sich eine Gabel Fleisch in den Mund. Dabei hatte sie einen wunderbaren Blick auf ihre aufgeschürften Finger. Und sie wusste, ihr Gesicht sah vermutlich nicht besser aus. Noch dazu hatte sie es geschafft, ihre Hose an beiden Knien vollkommen aufzureißen. Nun, wenigstens bluteten diese nicht mehr. „Will ich es überhaupt wissen?“, fragte Alice und Carina vergrub den Kopf in den Händen. „Ich bin eine Niete, Alice. Ich werde die Abschlussprüfung niemals im Leben bestehen.“ Die Schwarzhaarige hob eine Augenbraue. „Na, deine Selbstzweifel fangen aber schon früh an. Tu mir das bitte nicht an, denn wenn ich meine Wette verliere, stehe ich ganz schön dumm da.“ Carina funkelte sie böse an. „Deine Wette ist mir total egal.“ „Jetzt erzähl doch erst mal, was überhaupt passiert ist. Vielleicht ist es gar nicht so schlimm.“ Die 16-Jährige seufzte. „Wir sollten vom Dach des Instituts springen.“ Alice runzelte irritiert die Stirn. „Und?“, fragte sie, als ob sie das Problem an der Aussage nicht erkannte. „Und?“, wiederholte Carina ungläubig und fuhr gleich darauf fort. „Das sind 6 Stockwerke.“ Alice’ ratlose Miene verriet ihr, dass diese immer noch nicht so recht verstand, worauf sie hinaus wollte. „Entschuldige mal, aber zumindest mir wurde mein ganzes Leben lang beigebracht, dass es nicht ratsam ist, vom Dach eines Hauses zu springen.“ Alice lachte, als ihr endlich das wohlbekannte Licht aufging. „Das mag ja sein Carina, aber streng genommen bist du ja gar nicht mehr am Leben. Shinigami, schon vergessen?“ „Das weiß ich“, antwortete die Blondine mürrisch und wurde nun ein wenig rot. „Aber das ist leichter gesagt als getan. Nur, weil ich theoretisch weiß, dass ich dadurch nicht sterben kann, heißt das ja noch lange nicht, dass ich mich solche waghalsigen Sachen auch traue.“ Die Tatsache, dass Shinigami nur durch eine Death Scythe sterben konnten, wusste Carina erst seit wenigen Tagen. Mr. Crow hatte es im Unterricht erwähnt und schon waren alle Feuer und Flamme gewesen. Vor allem Ronald. Lang und breit hatte er ihr die unbegrenzten Möglichkeiten aufgezählt. „Stell dir das doch nur mal vor, Carina“, hatte er sie auf dem ganzen Weg zur Kantine hin genervt. „Wir können nicht mehr ertrinken, nicht ersticken, nicht vergiftet werden, wir können nicht verbrennen. So viele unbegrenzte Möglichkeiten.“ Während seiner Rede war ihre Miene immer verdrießlicher geworden. „Wenn du Mr. Crow bis zum Ende hin zugehört hättest“, begann sie und warf ihm dabei einen ungeduldigen Blick zu, „dann hättest du vielleicht auch mitbekommen, dass es nicht so einfach ist wie du dir das vorstellst.“ Sie hob eine Hand und zählte die folgenden Punkte an ihren Fingern ab. „Es mag zwar sein, dass wir nicht mehr ertrinken können, aber wir verlieren trotz allem das Bewusstsein, wenn wir zu lange unter Wasser sind und keine Luft holen können. Nur, weil wir nicht atmen müssen während wir schlafen, bedeutet das nämlich nicht, dass wir gar nicht atmen müssen, du Blitzmerker. Und ich wäre jetzt nicht erpicht darauf, bewusstlos in irgendeinem See herum zu schwimmen. Dasselbe gilt übrigens für das Ersticken. Und wegen dem Gift und dem Feuer…ist dir mal aufgefallen, dass solche Dinge verdammt schmerzhaft sind, auch wenn sie einen nicht umbringen?“ Diese Worte hatten Ronalds Begeisterung deutlich gedämpft, aber das geschah ihm laut Carinas Meinung nur recht. „Und woher hast du dann bitteschön diese ganzen Verletzungen?“, fragte Alice verwundert nach und jetzt wurde Carina noch eine Spur röter im Gesicht. „Mr. Crow meinte, ich solle mich nicht so anstellen und dann hat er mich einfach runtergeschubst.“ Die 16-Jährige konnte genau sehen, wie Alice sich auf die Lippe beißen musste, um nicht in lautes Gelächter auszubrechen. „So wie du aussiehst hast du wohl mit deinem Gesicht, deinen Händen und auch noch mit den Knien gebremst, ja?“ Als das blonde Mädchen widerwillig nickte, konnte die Ältere nicht mehr an sich halten und begann hinter vorgehaltener Hand zu kichern. Carina schürzte beleidigt die Lippen. „Beim nächsten Mal werde ich es besser machen“, sagte sie und widmete sich wieder ihrem Essen. In Wahrheit war Carina gar nicht so zuversichtlich. Die praktischen Stunden endeten für sie jedes Mal in einer Katastrophe. Egal, ob es um das Herunterspringen von Häusern ging, das Balancieren auf Balken, der Umgang mit den Übungstodessensen oder sogar nur um das Absolvieren eines Marathons… Jedes Mal passierte etwas, wodurch sie sich bis auf die Knochen blamierte. Es nützte überhaupt nichts, dass sie in der Theorie die Beste war, in der Praxis war sie mit überdeutlichem Abstand die Schlechteste. Am Schlimmsten waren die Stunden, wo die Schüler sich duellieren mussten. „Warum nur habe ich nie einen Kampfsport erlernt?“, dachte sie zum wiederholten Male und versuchte nicht an die Demütigungen zu denken, die sie während der Kämpfe hatte erfahren müssen. Natürlich hatten ihre 14 Mitschüler relativ schnell bemerkt wie leicht es war, sie zu besiegen. Und natürlich hatten sie dies schamlos ausgenutzt. Die 16-Jährige konnte immer noch ein paar der Blutergüsse auf ihrer Haut spüren. Ronald hingegen schien ein echtes Talent fürs Kämpfen zu haben. Bisher hatte er keinen seiner Kämpfe verloren und das machte Carina so zornig, dass sie ihn nur noch mehr hasste. „Ich muss mir was einfallen lassen, sonst wird mich Mr. Crow niemals zur Abschlussprüfung zulassen“, sagte Carina deprimiert, woraufhin Alice sie mitleidig ansah. „Nun, du könnest die Nervensäge ja fragen, ob sie dir ein wenig unter die Arme greift“, sagte sie in einem abfälligen Ton. Mit der „Nervensäge“ meinte sie Grell, wie Carina mittlerweile wusste. Die Schwarzhaarige war entsetzt gewesen, als sie erfahren hatte, dass der Rothaarige Carinas Mentor war. Die Zwei schienen schon mehrere Male aneinander geraten zu sein, meistens natürlich in Modefragen. „Dabei sind die Beiden sich gar nicht mal so unähnlich“, dachte Carina. Beide waren sehr auf ihr Äußeres bedacht, beide fanden die Alltagskleidung der Shinigami hässlich und beide hatten einen Hang zum Melodramatischen. „Daran hab ich auch schon gedacht, aber erstens habe ich ihn in letzter Zeit kaum zu Gesicht bekommen und zweitens habe ich ständig das Gefühl, dass er total genervt von mir ist.“ „Unser Möchtegern Modegott ist von jedem genervt mit Ausnahme von William“, antwortete Alice und rollte eine kleine Tomate zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her. „Versuch es einfach mal. Mehr als Nein sagen kann er auch nicht. Außerdem“, sagte sie und verzog bei den nächsten Worten mürrisch das Gesicht, „war er immerhin Jahrgangsbester, sogar besser als William.“ Carina verschluckte sich vor Schreck an ihrem Wasser. „Bitte WAS?“, fragte sie gleich darauf entsetzt und Alice zog eine Augenbraue in die Höhe. „Jetzt sag bloß, du hast das noch nicht gewusst? Es gibt nur sehr wenige Shinigami, die in ihrer theoretischen und praktischen Prüfung mit Bestnoten abschneiden, aber dieser Blödmann hat es sogar in beiden Fächern auf ein A geschafft.“ „Ich fass es nicht“, murmelte Carina. Grell war so ziemlich der Letzte gewesen, von dem sie so etwas erwartet hatte. Vielleicht war es wirklich ratsam, ihn bei Gelegenheit um Hilfe zu bitten. Zwei Stunden später schloss sie ihre Wohnung auf, warf ihre Tasche mit den Büchern aufs Bett und seufzte erleichtert auf. Manchmal war sie einfach nur froh den Tag halbwegs gut geschafft zu haben. Das waren entweder die Tage, wo sie praktischen Unterricht hatten oder wo sie so viele neue Dinge in der Theorie lernten, dass ihr danach der Kopf qualmte. Sie hatte zwar nicht mehr Fächer als damals in der normalen Schule, aber das meiste Wissen kannte sie natürlich überhaupt nicht. „Es würde mir auch schwer zu denken geben, wenn die Menschen Fächer wie „Dämonenkunde“ oder „Shinigamilehre“ hätten“, gluckste sie und schlug ihr Heft auf, um ihre Notizen sauber abzuschreiben und in die richtige Reihenfolge zu bringen. Diese beiden Fächer befassten sich ausschließlich mit der genannten Spezies. Dort lernten sie alles, was sie wissen mussten. Von der Entstehung, über die Anatomie bis hin zu den Stärken und Schwächen. Carina hatte es erstaunt zu erfahren, dass Dämonen im Gegensatz zu den Shinigami nicht menschlich gewesen waren. Sie entstanden in der Hölle, geboren aus den negativen Gefühlen der Menschen. „Was wieder einmal verdeutlicht, warum diese Mistkerle so scharf auf menschliche Seelen sind“, dachte Carina. Jedes Mal, wenn sie etwas Neues über Dämonen erfuhr, hatte sie Sebastian vor Augen. Und automatisch musste sie auch an Ciel denken. Der Junge konnte einem wirklich nur Leid tun. „Nun ja, er wusste ja worauf er sich einließ. Hoffe ich zumindest“, sagte sie zu sich selbst und vertiefte sich in ein Buch mit der Aufschrift „Regelwerk der Shinigami.“ Grell gähnte. Er war bis vor wenigen Minuten noch in der Welt der Menschen gewesen und hatte seine Liste für den heutigen Tag abgearbeitet. „Nun, und noch ein wenig mehr“, kicherte er in sich hinein und dachte an Angelina Durless. Er konnte sich kaum an einen Menschen erinnern, der ihn jemals so fasziniert hatte wie diese Frau. Es war kein Geheimnis, dass er die Farbe rot liebte. Doch das war nicht der Grund für seine Faszination. Es lag weder an ihren roten Haaren, noch an ihrer roten Kleidung. Es war das Blut, das sich an ihren Händen und in ihrem Gesicht befand, wenn sie mordete. Das rote Glitzern in ihren Augen, wenn sie das Leben der Frauen grausam beendete. Ihre roten Lippen, die sich jedes Mal zu einem Lächeln verzogen, wenn sie das Organ ihrer Begierde entnommen hatte. Natürlich empfand er nichts für Angelina selbst. Erstens war es Shinigami nicht erlaubt sich in Menschen zu verlieben und zweitens liebte er nur ihre Taten und nicht ihren Charakter an sich. Jedenfalls war seine Laune momentan ziemlich gut und daraufhin hatte er beschlossen, seiner Schülerin noch mal einen Besuch abzustatten. Es war schon länger her, dass er sie gesehen hatte und gegen seinen Willen interessierte es ihn, wie sie sich in ihrer Ausbildung machte. Der rothaarige Seelensammler schaute auf seine Uhr. Es war noch recht früh am Abend, Carina würde also mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit in ihrer Wohnung sein. Es kostete ihn nur wenige Minuten, um das Wohnheim zu erreichen und die Treppen zum zweiten Stock hochzusteigen. Aber er wusste noch bevor er die letzte Stufe genommen hatte, dass etwas nicht stimmte. Er konnte sie hören. „Na großartig“, fluchte er und ging mit schnellen Schritten zur Tür. Mit einem gezielten Ruck seiner Schulter stieß er sie auf und betrat das kleine Zimmer. Sofort konnte er seine Schülerin auf dem Bett ausmachen. Carina wälzte sich hin und her, ihre Augen waren unter ihrer schief sitzenden Brille fest zusammengekniffen und ihr Gesicht verzerrt. Doch das war nichts im Gegensatz zu den Schreien, die sie ausstieß. Schreie aus Angst und purer Verzweiflung; Schreie, die Grell sehr vertraut waren… Er stieg über ein Buch hinweg, das zu Boden gefallen war und packte das Mädchen an ihren Schultern. „Carina, wach auf“, sagte er mit lauter Stimme und rüttelte sie unsanft vor und zurück. Die Shinigami blinzelte verwirrt, schien für einen Moment die Orientierung verloren zu haben. Nur sehr langsam fokussierte sich ihr Blick. Als sie wieder vollständig in der Realität angekommen war, schaute sie Grell verwirrt an. „T-tut mir Leid“, stammelte sie und setzte sich auf. „I-ich bin wohl beim Lesen eingeschlafen.“ „Ja, das ist mir auch aufgefallen“, erwiderte Grell sarkastisch. Ihm war ebenfalls aufgefallen, dass sie ihn nicht direkt ansah und ihre Hände zitterten. „Was führt dich denn hierher?“, sagte sie und hob das Buch auf, um es auf ihren Schreibtisch zu legen. „Ich wollte nach dir schauen. Ob alles soweit in Ordnung ist.“ „Mir geht’s gut“, murmelte Carina, sah ihn aber weiterhin nicht an. Grell mochte ja vieles sein, aber er war nicht blöd. Geschweige denn blind. „Das bezweifele ich“, sagte er und Carina war erstaunt, wie ernst er klingen konnte. „Wenn du mich schon anlügst, dann gib dir wenigstens ein bisschen mehr Mühe.“ Er legte eine kurze Pause ein. „Mittlerweile müssten die Albträume nachgelassen, wenn nicht sogar ganz aufgehört haben. Wie oft hast du diese Träume noch?“ Carina schwieg einen langen Moment lang, dann räusperte sie sich und sagte mit brüchiger Stimme: „Jede Nacht.“ „Wie bitte?“, fragte Grell verblüfft, doch viel mehr konnte er nicht sagen. Denn nun begann es aus Carina heraus zu sprudeln wie aus einem Wasserfall. Alles, was sie auf dem Herzen hatte, musste einfach raus. „Als ob es nicht schlimm genug wäre, dass ich im praktischen Unterricht komplett versage. Nein, j-jede Nacht wache ich auch noch schweißgebadet auf, weil ich immer wieder denselben Traum habe. Von ihnen.“ Ein gehetzter Ausdruck trat nun auf ihr Gesicht. „Immer wieder sehe ich diese Männer vor mir, wie sie mich in die Gasse verfolgen und immer näher kommen. Aber in diesen Träumen endet es nicht damit, dass ich mir das Leben nehme. Sie…sie…“ Ihre Stimme brach nun komplett, vereinzelte Tränen liefen ihr über die Wangen und tropften zu Boden. „Sie kommen näher, drücken mich auf den Boden und dann…“ Sie sprach nicht weiter und das musste sie auch nicht. Grell hatte gegen seinen Willen schlucken müssen. Kein Wunder, dass sie sich bei solchen Träumen die Seele aus dem Leib schrie. „I-ich weiß, dass sie mir nichts mehr tun können, aber ich hab trotzdem noch Angst“, flüsterte sie und wischte sich nun die Tränen vom Gesicht. Erneut herrschte für wenige Minuten Schweigen. Als Carina die Stille brach, schaute sie Grell mit geröteten Augen und einem bitteren Lächeln auf den Lippen an. „Tut mir Leid. Ich bin wohl eine ziemliche Enttäuschung.“ Grell seufzte tief. Dieses Mädchen brauchte dringend mehr Selbstbewusstsein, so viel stand schon einmal fest. Er fuhr sich mit einer Hand durch seine lange, rote Mähne. „Du sagtest etwas von Problemen im praktischen Unterricht?“, fragte er und Carina blinzelte überrascht, bevor sie schließlich nickte. „Nun, warum hast du das nicht gleich gesagt? Glaubst du vielleicht ich möchte, dass sich meine Schülerin blamiert? Es gibt doch für jedes Problem eine Lösung.“ „Was soll das jetzt heißen?“, entgegnete Carina verwirrt und Grell verdrehte die Augen. „Das heißt, dass ich dich trainieren und dafür sorgen werde, dass du einen verdammt guten Abschluss machst. Und dabei hoffentlich auch noch gut aussiehst“, fügte er hinzu und grinste sie mit seinen spitzen Haifischzähnen an. Carina wurde es mit einem Mal ganz warm ums Herz und obwohl sie es mit aller Macht unterdrückte, konnte sie einfach nicht anders als ihn zu umarmen. „Danke, danke, danke“, murmelte sie und ließ ihn bereits nach 1 Sekunde wieder los. „Ja ja, reg dich ab“, antwortete der Shinigami genervt, sah aber überhaupt nicht genervt aus. „Vielleicht bekomme ich die Ausbildung ja jetzt doch auf die Reihe“, dachte die 16-Jährige erleichtert und fragte sich insgeheim bereits, was Alice wohl dazu sagen würde. „Ach übrigens“, fuhr Grell fort und klang nun wieder ziemlich ernst. „Für dein anderes Problem gibt es auch eine Lösung.“ Carina wusste sofort, wovon er sprach und sie brauchte keine Sekunde über die Antwort nachzudenken. Hauptsache, diese Albträume würden aufhören. „Welche?“ Kapitel 16: Gewollte Stärke --------------------------- „Diejenigen, die ihre Abschlussprüfungen erfolgreich abschließen, werden anschließend von einem Mitarbeiter der Personalabteilung in das Lager gebracht, wo sich alle Death Scythe’s befinden, die noch nicht registriert wurden; also noch keinem Shinigami zugeordnet sind.“ Es quietschte, als die Kreide in Mr. Crows Hand über die Tafel glitt und das eben Gesagte knapp zusammengefasst niederschrieb. Carina saß nach wie vor in der letzten Reihe, doch mittlerweile sah sie nicht mehr ganz so motiviert aus wie noch in der ersten Unterrichtsstunde. Ihr linker Ellbogen befand sich auf dem Tisch, damit ihre Hand ihren Kopf abstützen konnte. Sie hatte einen Riss in der Unterlippe und ein paar blaue Flecken an den Armen, aber das war nicht mal das Schlimmste. Das Schlimmste war, dass ihre Augen immer wieder drohten zuzuklappen. Die 16-Jährige benötigte ihre komplette Willenskraft, um nicht einzuschlafen. „Sobald Sie sich im Lager befinden, dürfen Sie ihre Death Scythe in Empfang nehmen. Und glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass Sie direkt wissen werden, welche die richtige Death Scythe für Sie ist.“ Carina war sogar so müde, dass sie nicht einmal nachfragte, was ihr Lehrer denn damit nun schon wieder meinte. „Reiß dich zusammen“, ermahnte sie sich in Gedanken und unterdrückte ein Gähnen. Wenn sie es wagen würde in Mr. Crows Unterricht einzuschlafen, dann würde er sie mit ziemlicher Sicherheit umbringen. Und das alles war allein Grells Schuld. Vor 3 Monaten hatte der rothaarige Shinigami angefangen sie zu trainieren. Carina hatte es am Anfang kaum fassen können, aber er hatte seine Aufgabe wirklich sehr ernst genommen. Sehr schnell war ihr jedoch klar geworden, dass Grell diese Sache wirklich sehr ernst nahm. Wenn sie etwas nicht zu seiner Zufriedenheit ausführte, dann ließ er es sie solange machen bis es ihm in den Kram passte und Uhrzeiten waren ihm dabei vollkommen egal. „Vielleicht sollte ich ihm noch mal erklären, dass wir im Gegensatz zu Dämonen Schlaf brauchen. Der Typ ist doch echt unglaublich, wie kann man mit nur 4 Stunden Schlaf die Nacht auskommen?“, dachte Carina und rieb sich über die Augen, unter denen sich erneut tiefe Ringe befanden. Aber wirklich böse konnte sie ihm nicht sein. Wie auch, wenn sein Training Früchte zeigte? Das war immerhin genau das gewesen, was sie gewollt hatte. Es hatte zwar einige Zeit gedauert, aber nach 2 Monaten hatten sich die ersten kleinen Erfolge eingestellt. Ihre Kondition hatte sich um ein Vielfaches gesteigert. Sie konnte nun sogar von Gebäuden springen und ohne einen Kratzer auf ihren Füßen landen, worauf sie besonders stolz war. Das Einzige, was ihr wirklich noch schwer fiel, waren die Kämpfe. Jedes Mal, wenn Grell sie mal wieder im Schwitzkasten hatte, sagte er ihr, dass sie lernen musste auch in solchen Momenten einen klaren Kopf zu behalten. Aber das war leichter gesagt als getan. „Du musst aufhören so viel Angst zu haben. Konzentriere dich mehr auf den Kampf und denke dir eine Strategie aus, anstatt dir ständig vorzustellen, was alles passieren könnte“, hörte sie seine Worte vom gestrigen Tag noch klar und deutlich in ihrem Kopf widerhallen. Und auch das war leichter gesagt als getan. Gegen ihren Willen entfuhr Carina ein Seufzen. Sie gab bereits ihr Bestes und trotzdem reichte es nicht aus. „Was wohl bedeutet“, dachte sie und rieb sich erneut über die Augen, „dass ich anfangen muss mehr als nur mein Bestes zu geben.“ „So lustig war es nun auch wieder nicht“, zischte Carina wütend und verschränkte ihre Arme vor der Brust. „Oh doch. Du hast ja keine Ahnung, wie lustig das war.“ Die Schwarzhaarige brach bei dem bloßen Gedanken an die vorhin stattgefundene Szene erneut in Gelächter aus. „Ich war müde“, versuchte die Blondine sich zu rechtfertigen, doch das ließ Alice nur erneut kichern. „Ja, glaub mir, das haben in der Kantine nun wirklich alle mitbekommen.“ Carina schnaubte, wurde gleichzeitig jedoch feuerrot im Gesicht. „Tze“, meinte sie nur und schaute beleidigt in eine andere Richtung. „Lass mir doch den Spaß, Carina. Es passiert immerhin nicht alle Tage, dass mein Gesprächspartner plötzlich mit dem Gesicht voran ins Essen fällt.“ Die 16-Jährige stöhnte von Scham gepeinigt auf. „Das war mit Abstand der peinlichste Moment in meinem ganzen Leben“, gab sie zu, wobei sie sich da insgeheim nicht ganz so sicher war. Jedenfalls nicht, wenn sie an einen gewissen Bestatter dachte… „Oh nein“, stöhnte Alice plötzlich und deutete nach vorne. „Schau mal, wer da kommt.“ Carina folgte dem ausgestreckten Finger ihrer Freundin und entdeckte gleich darauf Grell, der sich ihnen mit schnellen Schritten näherte. „So schlimm, wie du ihn immer darstellst, ist er überhaupt nicht, Alice. Wenn man sich an seinen etwas ungewöhnlichen Charakter gewöhnt hat, ist er eigentlich sogar recht nett.“ „Das sagst du“, antwortete Alice und verdrehte genervt die Augen. „Da bist du ja“, sagte Grell sogleich, als er die Beiden erreicht hatte. Als er Alice jedoch bewusst registrierte, stöhnte er theatralisch auf. Carina grinste. Wie gesagt, die beiden Streithähne waren sich sehr ähnlich. „Jetzt sag mir bitte nicht, dass du mit der da befreundet bist“, gab er von sich und Alice funkelte ihn böse an. „Ja, ist sie. Irgendwie muss ja die schreckliche Tatsache ausgeglichen werden, dass sie dich zum Mentor hat.“ „Ich hab mich ja wohl hoffentlich verhört“, zischte der Rothaarige und keine Sekunde später tauschten Alice und er todbringende Blicke aus. „Vielleicht solltet ihr euch ein wenig beruhigen“, versuchte Carina die Situation zu schlichten, verstummte jedoch gleich darauf wieder. Ihre beste Freundin und ihr Mentor hatten ihre Blicke nun nämlich ihr zugewandt und dies war alles andere als beruhigend. „Hätte ich doch nur nichts gesagt“, dachte sie kopfschüttelnd. 30 Minuten später konnten Grell und seine Schülerin endlich ihr Training fortsetzen. „Wir hätten schon längst anfangen können, wenn diese lästige Nervensäge nicht deine Freundin wäre“, meckerte Grell und warf sein Bein in Richtung von Carinas Gesicht. „Wir hätten schon längst anfangen können“, begann Carina und wich dem Tritt aus, „wenn ihr Beiden nicht noch angefangen hättet über Mode zu diskutieren. Über Geschmack lässt sich bekanntlich doch nicht streiten.“ Die 16-Jährige ließ nun ebenfalls ihr Bein vorschnellen, doch Grell fing es mit einer einfachen Bewegung in der Luft ab. „Zu schwach. Leg mehr Schwung rein. Wir werden noch einiges an Krafttraining machen müssen.“ Carina stöhnte. Nach dem letzten Krafttraining hatte sie sich 3 Tage kaum bewegen können. Grell grinste. „Höre ich da etwa Beschwerden?“ „Nein, natürlich nicht“, antwortete die Blondine schnell, knirschte aber dennoch kurz mit den Zähnen. Das hatte Grell gleich zu Anfang klar gestellt, er wollte keine Beschwerden hören. „Im Nachhinein schwieriger als ich dachte“, schoss es ihr durch den Kopf. „Wie läuft der Unterricht?“, lautete seine nächste Frage, während er ihr mit einer geschickten Bewegung die Beine wegzog. Der Sturz auf den Rücken presste ihr für einen Moment jegliche Luft aus den Lungen, sodass sie nicht gleich antworten konnte. „Wir haben“, setzte Carina an, unterbrach sich allerdings sofort selbst, um sich über den Boden wegzurollen. Dort, wo vor einer Sekunde noch ihr Kopf gewesen war, stand nun Grells rechter Fuß, wie immer natürlich in einem sehr hohen Stöckelschuh. Mit einem Keuchen stand sie so schnell auf, wie es ihr möglich war. „Wir haben Verwandlungen geübt“, beendete sie ihren Satz und fragte sich zum wiederholten Mal, wie er mit solchen Schuhen nur so gut kämpfen konnte. Sie bekam vom bloßen Hinsehen schon schmerzende Füße. Grell blieb kurz stehen und strich sich seine roten Haare aus der Stirn. „Hast du es hinbekommen?“ Carina seufzte. „Nun ja, die Augen waren anscheinend in Ordnung, aber bei den Haaren hat Mr. Crow nur den Kopf geschüttelt. Sie sollten eigentlich kurz und schwarz werden, aber am Ende hab ich es irgendwie geschafft sie bodenlang und grün werden zu lassen.“ Grell grinste und entblößte wie so oft seine spitzen Haifischzähne. Zu Carinas Überraschung wurden seine Haare im nächsten Moment komplett glatt und verloren jegliches Volumen. Das Rot wich einem dunklen Braun, die Augen der Shinigami verschwanden und machten menschlichen grünen Augen Platz. Die 16-Jährige erkannte dieses Erscheinungsbild sofort. Im Manga hatte er so ausgesehen, als er der Butler von Angelina Durless gewesen war. „Anscheinend steht er schon mit ihr in Kontakt. Nun, mir soll es recht sein, das ist ganz allein seine Sache“, dachte Carina und nickte anerkennend. „Alice hatte wirklich Recht, du bist ein Streber.“ Seine nächsten Worte ließen Carina auflachen. „WAS hat sie gesagt?“ „Jetzt bloß keine Panik“, redete die Shinigami sich selbst immer wieder Mut zu, während sie mit schweißnassen Händen auf das Erscheinen von Mr. Crow wartete. Ihre Klassenkameraden wirkten alle relativ entspannt und hatten es sich in der Trainingshalle auf ihren Plätzen gemütlich gemacht. „Kein Wunder, die wissen ja auch welchen Gegner sie haben werden.“ In der ersten Stunde hatte sie einen Fehler in ihrem Aufsatz gehabt und Mr. Crow hatte daraufhin beschlossen, sie heute in eines der Duelle zu schicken. „Das ist echt unfair. Nur, weil ich mich bei der Gründung des Instituts um ein Jahr vertan habe. So langsam glaube ich, der Typ hat es auf mich abgesehen“, dachte Carina missmutig und schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. Natürlich hatte sie bereits das Gefühl sich kämpferisch verbessert zu haben, aber würde das wirklich ausreichen? Ihr Herzschlag verdoppelte sich, als besagter Lehrer nun endlich den Raum betrat und ihr gleich darauf einen auffordernden Blick zuwarf. Carina erhob sich und konnte einfach nicht verhindern, dass ihr ein zittriger Seufzer entfuhr. Gleich darauf erschienen hier und da ein schadenfrohes Grinsen auf den Gesichtern ihrer Mitschüler. „Reiß dich zusammen, Carina“, mahnte sie sich selbst in Gedanken und dachte an Grells Worte. „Zeig keine Schwäche. Hab keine Angst. Und wenn du sie hast, dann zeige sie nicht. Damit gibst du deinem Gegner Macht über dich.“ Automatisch ballten sich ihre Hände zu Fäusten und mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck trat sie in die Mitte des Kampffeldes, während sie gleichzeitig ihre Schultern nach hinten durchdrückte. Mr. Crows Blick glitt nun suchend durch die Reihen ihrer Mitschüler, anscheinend hatte er sich noch nicht für einen Gegner für sie entschieden. Aber eine Sekunde später schien es soweit zu sein. „Knox, Sie sind dran.“ Nur mit all ihrer Selbstbeherrschung konnte Carina verhindern, dass ihr die Gesichtszüge entglitten. Von all ihren Mitschülern, die er hätte auswählen können, warum musste es ausgerechnet Ronald sein? In den letzten Wochen hatte der Junge sich stark verbessert, das musste selbst Carina zugeben. „Aber auch ich habe mich gesteigert“, sprach sie sich selbst Mut zu, kaute unbewusst jedoch auf ihrer Unterlippe. Ronald betrat das Feld mit seiner üblichen Gelassenheit und schenkte ihr gleich darauf ein strahlend, weißes Lächeln. In der Regel brauchte es nicht mehr, um Carina zu provozieren und das wusste der Mistkerl auch ganz genau. Er zwinkerte ihr einmal kurz zu. „Willst du wirklich kein Date mit mir, Carina? Vielleicht würde ich mich ja hier ein wenig zurückhalten?“ Wut flackerte so schnell in ihrem Inneren auf, wie eine Stichflamme. „Träum weiter“, zischte sie zornig und machte sich kampfbereit. Wenn sie eines auf keinen Fall wollte, dann war es Mitleid. Oder, dass sich ihre Gegner in Zurückhaltung übten. „Sie dürfen beginnen“, sagte Mr. Crow ruhig und zum allerersten Mal war es Carina, die die Initiative ergriff und zuerst angriff. Ihre rechte Faust schnellte vor und zielte auf das überraschte Gesicht Ronalds. Dieser schien zwar nicht mit so einem direkten Angriff ihrerseits gerechnet zu haben, ließ sich davon allerdings nicht sonderlich aus der Ruhe bringen. Seine linke Hand schloss sich um ihr Handgelenk und lenkte den Angriff somit nach unten. Doch Carina gab noch nicht auf. Während ihr Oberkörper mit nach unten gezogen wurde, holte sie mit ihrem rechten Bein aus und kickte es dann frontal nach oben. „Woah“, rief Ronald und stolperte im letzten Moment nach hinten weg. Rund um sie herum erklang leises Gemurmel und selbst Mr. Crow mit seinem sonst immer so monotonen Gesichtsausdruck sah leicht überrascht aus. „Das war gar nicht mal übel“, sagte Ronald und fuhr sich durch seine blonden Haare. „Da hat wohl jemand trainiert.“ Carina schenkte ihm als Antwort ein spöttisches Lächeln. „Dachtest du vielleicht, ich würde mich einfach damit abfinden, dass ihr alle besser seit als ich? Das kannst du vergessen. So schnell gebe ich nicht auf.“ Er zeigte ihr erneut eines seiner charmanten Lächeln, woraufhin Carina sich nicht zum ersten Mal fragte, wie die Frauen in der Personalabteilung nur so darauf hereinfallen konnten. „Nun gut, dann bin ich jetzt wohl dran.“ Carinas Augen weiteten sich, als er bereits im nächsten Moment vor ihr stand. Sein Schlag traf sie mitten auf die Nase und mit einem Schmerzensschrei taumelte sie rückwärts. „Verdammt, ich hab nicht aufgepasst“, dachte sie und fasste sich mit einer Hand an die nun blutende Nase. Doch Ronald ließ ihr keine Verschnaufpause. Als er erneut auf sie zukam, fiel Carina etwas auf. „Er ist langsamer als Grell.“ Das sollte sie eigentlich nicht überraschen, immerhin war ihr Mentor ein verdammtes Genie. Jedenfalls half es ihr dabei, seinen nächsten Tritten und Schlägen auszuweichen. „Ich muss eine Lücke in seinem Angriff finden“, schoss es ihr durch den Kopf und Ronald ließ sie diesbezüglich nicht lange warten. Als er seinen linken Arm erneut nach vorne schnellen ließ, schlängelte sie sich an diesem vorbei und befand sich nun nur noch wenige Zentimeter von seinem Brustkorb entfernt. Wenn sie jetzt einen gut platzierten Treffer landen würde, dann…Sein Grinsen fiel ihr erst in letzter Sekunde auf, doch da war es bereits zu spät. „Schlau eine Lücke in meinem Angriff zu suchen“, sagte er, „aber viel zu offensichtlich.“ Im nächsten Moment – und Carina konnte im Nachhinein nicht einmal mehr genau sagen, wie es passiert war – knallte sie mit ihrem Rücken gegen seine Brust, sein linker Arm hatte sich um ihren Hals geschlungen und schnürte ihr nun erbarmungslos die Luft ab. Ihre Hände schnellten automatisch nach oben und umklammerten seinen Arm, versuchten die Extremität von sich wegzuziehen. Doch so sehr sie sich auch anstrengte, Ronald war körperlich noch um einiges stärker als sie. Ein Ächzen entfuhr ihr, als sich sein Griff verstärkte. Sie konnte fühlen, wie ihr Gesicht vor Anstrengung rot anlief und ganz langsam machte sich Panik in ihrem Inneren breit. Natürlich wusste sie, dass das Ersticken sie nicht mehr umbringen konnte, aber hier in diesem Raum bewusstlos zu werden – wo sich ihr Lehrer und all ihre Mitschüler befanden – war so ziemlich das Letzte, was sie wollte. „Gib es auf Carina“, meinte Ronald hinter ihr und sie konnte das Grinsen in seiner Stimme hören. „Du kannst mich nicht besiegen. Du bist zu schwach.“ Carinas Augen weiteten sich und im nächsten Moment erlebte sie ein sehr bildhaftes Déjà-vu. Erneut konnte sie den Undertaker vor sich stehen sehen, konnte beinahe spüren wie seine Hände auf ihren Handgelenken lagen und sie erneut gegen die Wand drückten. „Ich bin nicht schwach.“ „Doch, das bist du.“ Unbändige Wut schoss durch ihren Körper; eine Wut, die sie niemals so intensiv wahrgenommen hatte. Heiß wie flüssiges Magma durchströmte sie ihren ganzen Körper. Das Ronald ihr die Luft abdrückte wurde plötzlich komplett nebensächlich. Dieser bemerkte nun auch, dass sich der Körper vor ihm ruckartig versteift hatte. „Nein“, knurrte sie plötzlich. „Ich bin nicht schwach.“ Und dann rammte sie ihm ihren Ellbogen in den Magen. Ronald ächzte und automatisch lockerte sich der Griff um ihren Hals. Während Carina einen tiefen Atemzug nahm, packte sie seinen rechten Arm mit beiden Händen und warf ihn mit aller Kraft über ihrer Schulter. Noch bevor er hart mit dem Rücken voran auf dem Boden aufschlug, konnte sie sein geschocktes Gesicht sehen. Der Sturz trieb dem Shinigami jegliche Luft aus den Lungen. Und während er noch erschrocken nach neuem Sauerstoff schnappte, tauchte Carina über ihm auf und rammte ihren Fuß hart auf seinen Brustkorb. Der Schmerzensschrei, der daraufhin erklang, war Musik in ihren Ohren. Die 16-Jährige drehte ihren Kopf in Mr. Crows Richtung und schaute ihn auffordernd an. Ihr Lehrer ließ sich wie immer nichts anmerken, aber in seinen Augen konnte sie etwas sehen, was ihr bisher vorenthalten worden war. Anerkennung. „Der Kampf ist vorbei“, sagte er und gab ihr mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie sich setzen konnte. Carina trat von Ronald herunter und begab sich ohne ein weiteres Wort auf ihren Platz zurück, die fassungslosen Blicke ihrer Mitschüler ignorierend. Eine grimmige Entschlossenheit hatte von ihr Besitz ergriffen. Sie würde es ihnen beweisen. Sie würde es ihnen allen beweisen. „Nein, ich bin nicht schwach“, dachte sie. Und zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, dass es stimmte. Kapitel 17: Die theoretische Prüfung ------------------------------------ Carina hatte Prüfungsangst. Das war eine Tatsache. Sie hatte sie damals in ihrer Schulzeit gehabt und jetzt, als Shinigami, hatte sie sie ebenfalls. „Manche Dinge ändern sich einfach nie“, murmelte sie und betrachtete ihr Spiegelbild. Seit ihrem Eintritt in die Welt der Shinigami waren fast 2 Jahre vergangen. Wie Mr. Crow es ihnen im Unterricht angekündigt hatte, hatte ihr Körper nicht aufgehört sich zu verändern. Nun ja, bis auf Ronald und sie waren ihre Mitschüler sowieso schon aus dem Wachstumsalter raus. Umso mehr hatte es sie also überrascht, als Ronald im letzten Jahr um gut einen ganzen Kopf gewachsen war. Jetzt himmelten die Frauen aus der Personalabteilung und Registratur ihn erst recht an und natürlich gefiel diesem arroganten Idioten das auch noch. Die einzige Ausnahme war Alice, die ebenso wenig wie Carina verstand, was an dem Jungen so toll sein sollte. „Lass ihn doch reden“, hatte sie zu Carina gesagt und schadenfroh gegrinst. „Erinnere ihn einfach öfters an seine Niederlage gegen dich, dann wird er in deiner Gegenwart schon den Mund halten.“ Bei ihr hingegen waren es nur kleine äußerliche Veränderungen gewesen, die nur den Personen auffallen konnten, die die junge Frau nicht tagtäglich sahen. Was ihr mit Abstand am besten gefallen hatte war die Tatsache, dass sie wirklich noch um einige Zentimeter gewachsen war. Wobei sie sich neben Grell, der ja nach wie vor seine 10 cm Absätze trug, immer noch ziemlich klein fühlte. Durch das ganze Training hatte sie zwar ein paar Kilos verloren, war aber zu ihrer großen Erleichterung immer noch keins dieser dünnen Püppchen. „Wie sollte ich mit Untergewicht auch gescheit kämpfen können?“, dachte sie und strich sich kurz über die Stirn. Sogar ein paar weibliche Kurven waren dazugekommen und wenn man Alice‘ Worten Glauben schenkte, dann hatte sie auch ein wenig mehr Oberweite als früher. Ihre blonden Haare hingegen waren nicht mehr ganz so lang wie noch vor 2 Jahren und endeten nun knapp unter ihrem Schlüsselbein. Alles andere war so wie immer. Ein blasses Gesicht, die gerade Nase und natürlich die gelbgrünen Augen der Shinigami. Carina hatte sich gerade dazu viele Gedanken gemacht. Es wurden immer nur Spekulationen darüber aufgestellt, warum die Shinigami so kurzsichtig waren, aber warum musste sich dafür die Augenfarbe ändern? Carina hatte da ihre ganz eigene Theorie. „Die Augen sind der Spiegel der Seele“, sagte sie zu sich selbst und war der festen Überzeugung, dass dieses Sprichwort stimmte. Oft konnte man mit den Augen so viel mehr sagen, als mit Worten. Und danach hatte sie auch ihre Theorie aufgestellt. Mit ihrem Selbstmord hatte sich ihre Seele verändert. Menschen sollten laut der Lehrbücher nicht über ihren eigenen Tod entscheiden und sich somit der vorherbestimmten Ordnung widersetzen dürfen. Und anscheinend wollte irgendeine höhere Macht, dass jeder anhand ihrer Augen erkennen konnte, dass die Shinigami sich der Natur widersetzt hatten. Das sie anders waren. „Wie ein Brandmal. Allerdings ein ausgesprochen schönes Brandmal“, dachte sie und setzte ihre Brille auf. Und jetzt, nach 2 Jahren, war es endlich soweit. Ein nervöses Seufzen entfuhr ihren Lippen und zum wiederholten Male fuhr sie sich mit ihren Fingern durch die Haare. „Du schaffst das“, ermutigte sie sich. „Du hast die letzten 2 Jahre hart an dir gearbeitet und jetzt wirst du es den Anderen mal so richtig zeigen.“ Dennoch plagten sie Zweifel. Was, wenn sie durch eine der Abschlussprüfungen fallen würde? Was würde sie dann nur machen? Und die viel wichtigere Frage, was würde Grell nur dazu sagen? „Diese Blamage würde er mir wohl nie verzeihen“, dachte sie, musste aber gleichzeitig grinsen. Grell war mittlerweile viel mehr ein guter Freund, als nur ihr Lehrer und sie verstanden sich erstaunlich gut. Natürlich konnte Alice diese Tatsache nur schwer verdauen, geschweige denn nachvollziehen. Auch Carina hätte anfangs niemals damit gerechnet, doch wenn sie nun an die vergangenen Jahre zurückdachte, dann war er eine der wenigen Konstanten in ihrem Leben geworden. Obwohl der Rothaarige gar nicht ihr Lehrer hatte sein wollen, hatte er sich ihrer angenommen und sich um sie gekümmert. Carina war sich ziemlich sicher, dass sie ohne seine Hilfe gar nicht erst zur Prüfung zugelassen worden wäre. Und egal wie nervtötend, melodramatisch und selbstverliebt er manchmal auch sein konnte, dafür würde sie ihm immer dankbar sein. „Dann mal los“, sagte sie und verließ ihre kleine Wohnung. Wenn alles gut lief, dann würde sie nicht mehr länger als eine Woche hier wohnen. Schon wieder würde sich alles verändern, aber dieses eine Mal würde sie die Veränderung willkommen heißen. Wer wollte schon auf immer und ewig ein Lehrling bleiben? Während sie sich zum Institut aufmachte, ging sie gedanklich noch einmal ihren Lehrstoff durch. „Hoffentlich hab ich nichts vergessen“, dachte sie und das mulmige Gefühl in ihrem Magen verstärkte sich nur noch. Die letzten zwei Wochen hatte sie immer bis spät in die Nacht gelernt und in den letzten Tagen hatte sie sich sogar von Alice abfragen lassen. Und ihre schwarzhaarige Freundin konnte ihr noch so oft versichern, dass sie den Stoff konnte, Carina hatte trotz allem Angst vor der Prüfung. Dabei handelte es sich hier nur um die Theoretische. Carina wollte gar nicht wissen, wie es ihr heute Abend vor der Praktischen gehen würde. Allein der Gedanke ließ ihr Herz schneller schlagen. Zum ersten Mal würde sie eine Seele einsammeln. Das war das, worauf ihre ganze Ausbildung hinausgelaufen war. Hieß also, sie dürfte es auf keinen Fall vermasseln. „Keinen Druck Carina, bloß keinen Druck“, dachte sie und verdrehte über sich selbst die Augen. 15 Minuten später saß sie zusammen mit ihren Mitschülern im Klassenzimmer und wartete darauf, dass ihr Prüfer auftauchen würde. „Könntest du das bitte lassen? Du machst mich noch ganz nervös“, sagte Ronald und spielte dabei auf Carinas Beine an, die bereits seit einiger Zeit auf und ab wippten. Angesprochene warf ihm daraufhin einen bösen Blick zu. „Tut mir Leid, dass ich etwas aufgeregt bin, es geht hier ja nur schließlich um meine komplette berufliche Zukunft.“ „Ach, ich bitte dich. Wenn hier einer durchfällt, dann wirst du das ganz bestimmt nicht sein.“ Carina blinzelte. „Ähm…danke“, antwortete sie etwas überrumpelt und konnte für einen Moment einfach nicht fassen, dass Ronald ihr ein Kompliment gemacht hatte. Dieser grinste sie nun an. „Also, wenn das Ganze hier vorbei ist, wie wäre es dann mit einem Date?“ Gleich darauf schrie der angehende Seelensammler erschrocken auf, als die junge Frau ihm den Stuhl unterm Hintern wegkickte. „Und ich dachte wirklich für eine Sekunde, dass du reifer geworden wärst. Aber ich hätte es wohl ahnen müssen“, sagte Carina mit verschränkten Armen, eine pochende Ader auf der Stirn. „Einen Versuch war es wert“, murmelte Ronald und setzte sich wieder auf seinen Stuhl, als just in diesem Moment die Tür aufging und Mr. Crow eintrat, gefolgt von einem älteren Herrn in einem braunen Nadelstreifenanzug. Das musste der Prüfer sein. Sofort schnellte Carinas Puls wieder rasant in die Höhe. „Ich hätte vielleicht doch nicht frühstücken sollen“, dachte sie, als sich ihr Magen rumdrehte. „Guten Tag. Mein Name ist Mr. Jones und Sie werden heute bei mir ihre theoretische Abschlussprüfung ablegen. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass Täuschungsversuche nicht toleriert werden und zum sofortigen Ausschluss führen.“ Obwohl Carina diese Worte schon tausende Male gehört hatte, machten sie sie doch zusätzlich nervös. Sie hatte keine Zweifel daran, dass sie sich während der Prüfung nicht trauen würde auch nur einmal den Blick zu heben. Nachher wurde das noch falsch interpretiert. Während Mr. Jones die Aufgabenblätter verteilte, warf Mr. Crow ihnen allen einen Blick zu, der deutlich „Blamiert mich bloß nicht“ aussagte. „Großartig, der denkt auch nur an sich selbst“, schoss es ihr durch den Kopf, während der Prüfer nun nach vorne zurückkehrte. „Drehen Sie die Blätter bitte jetzt um. Sie haben 4 Stunden Zeit.“ Geraschel ertönte überall im Klassenraum, doch das bekam Carina schon nicht mehr mit. Sie konzentrierte sich nur noch auf die Blätter vor sich. Mit verschwitzten Händen drehte sie die Prüfung herum und las sogleich die erste Aufgabe. Beschreiben Sie die Aufgaben und Zuständigkeiten der Shinigami im Hinblick auf das ausgewählte Arbeitsgebiet. „Das weiß ich“, dachte sie und ein erleichtertes Lächeln legte sich auf ihren Mund. Schnell begann sie ihre Antwort aufzuschreiben. Sie begann mit der Beschreibung der einzelnen Abteilungen und erklärte anschließend die genauen Funktionen. Sie war sich zwar nicht ganz sicher, ob sie alle Aufgaben der Personalabteilung aufgezählt hatte, aber bei der Registratur machte sie sich keine großen Sorgen. Alice hatte mit ihr oft darüber gesprochen und so waren ihr die Details im Gedächtnis geblieben. Als sie mit den 4 Grundabteilungen fertig war, zögerte Carina kurz. „Ob ich über die Fachabteilungen auch noch schreiben soll?“, überlegte sie und entschied sich schlussendlich dafür. Lieber schrieb sie ein wenig zu viel auf als zu wenig. Während der Ausbildung hatten sie gelernt, dass es neben den Seelensammlern, der Registratur, der Personal- und Brillenabteilung noch weitere Abteilungen gab. Diese standen den Neulingen aber nicht zur Verfügung, anscheinend brauchte man für die Fachbereiche bereits Erfahrung. Daher konnte man erst in die Fachbereiche wechseln, wenn man die Ausbildung in irgendeiner der 4 Grundabteilungen bereits beendet hatte. Und selbst dann schien man noch spezielle Voraussetzungen erfüllen zu müssen. „Vermutlich haben die mit Neulingen einfach schlechte Erfahrungen gemacht“, dachte Carina. Viel wussten sie nicht über diese speziellen Abteilungen, denn das meiste Wissen darüber blieb komplett betriebsintern. Die 18-Jährige vermutete sogar, dass es Abteilungen gab von dessen Existenz sie überhaupt nichts wussten, aber da konnte sie nur spekulieren. „Was hat Mr. Crow noch mal gesagt? Ach ja, es gibt die Forensik. Wenn ich mich recht entsinne hat Grell mal gesagt, dass dort nur ziemlich seltsame Leute arbeiten. Na ja, aber wenn Grell das sagt muss das nichts heißen, er ist ja auch in vielerlei Hinsicht seltsam.“ Der Gedanke ließ sie unwillkürlich grinsen. „So, und dann war da noch die Psychologie und die Ordnungsabteilung, wovon wir überhaupt nichts wissen.“ Carina konnte sich unter den Begrifflichkeiten natürlich so einiges vorstellen, aber da musste doch noch mehr dahinter stecken. Diese Ordnungsabteilung konnte für tausende von Dingen zuständig sein, denn allein der Begriff „Ordnung“ umfasste ja bereits hundert oder mehr Aufgabenfelder. Genauso verhielt es sich mit der Psychologie. „Nicht abschweifen“, ermahnte sie sich selbst und wandte sich nun der nächsten Aufgabe zu. Erläutern Sie die Natur von Dämonen und in welchen Hinsichten sie sich von den Shinigami unterscheiden. Carina stöhnte. Die Frage war an sich einfach, aber sie musste dafür weit ausholen. „Augen zu und durch“, dachte sie. Während ihr Stift über das Papier huschte, verging die Zeit. Das störende Ticken der Uhr im vollkommen stillen Klassenzimmer hatte sie bereits vollkommen ausgeblendet. Obwohl sie sich etwas Wasser mitgebracht hatte, nahm sie keinen einzigen Schluck und konzentrierte sich lediglich auf ihre Arbeit. Nach jeder beantworteten Frage wurde ihr etwas leichter ums Herz, denn das Meiste konnte sie ohne größere Schwierigkeiten beantworten. Egal, ob es um Shinigami, Dämonen, Todessensen, Seelen oder die offiziellen Regeln ging, sie konnte das gesammelte Wissen in ihrem Kopf mühelos abrufen und zu Papier bringen. Nach 3 1/2 Stunden legte die Blondine den Stift zum ersten Mal nieder und las sich ihre Antworten noch einmal durch. Ihre Finger pochten zwar vor Schmerz, aber sie war in einem beinahe euphorischen Zustand. Carina schaute auf und bemerkte erstaunt, dass außer ihr noch alle mit den Aufgaben beschäftigt waren. Einige schrieben ganz normal so wie sie, andere hingegen starrten mit einer leicht verzweifelten Miene auf das Blatt und hofften wohl, dass ihnen die richtige Antwort noch einfallen würde. Carina runzelte verwirrt die Stirn. „Die Prüfung war ja wohl nun wirklich nicht so schlimm“, dachte sie sich und schaute nun neugierig zu ihrem Tischnachbarn hinüber. Auch Ronald war noch am Schreiben, allerdings stockte er alle paar Sekunden. Ganz so, als ob er sich seiner Sache nicht sehr sicher war. „Geschieht ihm recht“, frohlockte sie innerlich und stand nun samt ihren Blättern auf. Alle, wirklich alle, schauten auf und konnten anscheinend nicht fassen, dass sie bereits fertig war. Carina konnte einfach nicht anders. Sie warf ihren Mitschülern ein schadenfrohes Grinsen zu, ging zielgerichtet nach vorne ans Pult und übergab ihre Prüfung. Mr. Jones nahm sie stumm entgegen, nickte ihr einmal bestätigend zu und notierte sich etwas in seinen Unterlagen. Dann überreichte Mr. Crow ihr einen Zettel, wo Ort und genaue Uhrzeit der praktischen Prüfung verzeichnet waren. „Seien Sie pünktlich“, sagte er leise und Carina nickte, bevor sie schließlich das Klassenzimmer verließ. Zu ihrer großen Überraschung saß Alice auf einem der Stühle im Wartebereich. „Was machst du denn hier?“, fragte sie verwundert nach und Alice verschränkte gespielt böse die Arme. „Na hör mal, ich will doch wissen, ob diese ganze Abfragerei etwas gebracht hat. Und da meine Pause vor 10 Minuten angefangen hat dachte ich, ich schau mal vorbei und siehe nach, wie lange du brauchst.“ Bei diesen Worten holte sie ihre Taschenuhr heraus und warf einen kurzen Blick auf das Ziffernblatt. „Siehst du, ich hab es dir doch gesagt. Du hättest noch eine ganze halbe Stunde Zeit gehabt, also nehme ich doch mal stark an, dass die Prüfung gut gelaufen ist, richtig?“ „Könnte man so sagen, ja“, erwiderte Carina und grinste breit. „Aber mir vorher eine Woche lang die Ohren vollheulen“, meckerte Alice, lächelte aber auch erleichtert. „Herzlichen Glückwunsch.“ „Freu dich nicht zu früh. Heute Abend habe ich immerhin noch die praktische Prüfung und ich bin mir ziemlich sicher, dass die nicht so einfach wird.“ Jetzt, wo sie an die noch kommende Prüfung dachte, wurde ihr wieder flau im Magen. „Ach, die packst du auch noch. Und wenn nicht, dann ist das ein sicheres Zeichen dafür, dass Grell als Mentor ein absoluter Versager ist.“ Carina war sich sicher, wäre sie eine Manga Figur, wäre spätestens in diesem Moment ein ziemlich großer Tropfen an ihrem Hinterkopf erschienen. „Das ist ja mal wieder so typisch“, murmelte sie. Alice war einfach unglaublich… Kapitel 18: Die praktische Prüfung ---------------------------------- Die Zeit war eine seltsame Sache. Sie ließ sich nicht mit reinen Worten erklären, geschweige denn in eine bestimmte Schublade stecken. Zeit ist relativ. Das war eine sehr bekannte Ausdrucksweise und obwohl sie so oft verwendet wurde, dachten die meisten Menschen vermutlich nicht einmal genau darüber nach, was diese Worte tatsächlich bedeuteten. Dabei war es doch wirklich immer wieder erstaunlich. Die Zeit konnte langatmig sein, wenn man wollte, dass sie verging. Stunden konnten in Situationen von Langeweile oder Erwartungen plötzlich eine halbe Ewigkeit dauern. In glücklichen, freudigen Momenten hingegen wollte man die Zeit festhalten; wollte, dass dieser Augenblick so lange wie möglich anhielt. Genau in diesen Situationen verging die Zeit rasend schnell, wie ein reißender Fluss dem man sich nicht entziehen konnte. Die Zeit konnte wahrlich Fluch und Segen zugleich sein. So auch jetzt. Wenn man wollte, dass die Zeit still stand und sei es auch nur für einen winzigen Moment, dann spielte die physikalische Größe da nicht mit. Im Gegenteil, sie schaffte es noch schneller zu vergehen, als üblich. „Wie kann es schon so spät sein?“, stöhnte Carina, während sie an der Seite ihres Mentors in Richtung Institut lief. Grell grinste sie mit einem fast schon unverschämt breiten Lächeln an. „Tja, jetzt ist es soweit. Enttäusch mich bloß nicht, Carina.“ „Danke, das beruhigt mich jetzt ungemein“, erwiderte die 18-Jährige sarkastisch und hob die linke Hand an ihren Mund, um an einem ihrer Nägel zu kauen. Keine Sekunde später schlug Grell ihr mahnend auf die Finger. „Haben wir uns nicht darauf geeinigt, dass du das sein lässt? Frauen sollten schöne, lange Fingernägel haben. Deine sehen mittlerweile ganz passabel aus, also fang jetzt nicht wieder mit dieser ekelhaften Kauerei an.“ Carina verdrehte die Augen, gehorchte ihm jedoch. Tatsächlich hatten sich die längeren Fingernägel als relativ nützlich erwiesen. Jedenfalls war Ronald ziemlich entsetzt gewesen, als er sich die roten Kratzer auf seinem Gesicht im Spiegel angesehen hatte. „Wozu erzieht dich Sutcliff eigentlich? Zu einem Shinigami oder doch eher zu einer Bestie?“ „Du bist selbst schuld, beim nächsten Kampf achtest du einfach darauf, dass deine Hand nicht zufällig auf meinem Hintern landet.“ „Das war ein Versehen.“ „Ja klar, wer‘s glaubt wird selig.“ Jedenfalls konnte sie sich ziemlich gut vorstellen, ihre Nägel noch häufiger zum Einsatz zu bringen, sollte es denn notwendig werden. „Mir ist schlecht“, jammerte sie und jetzt hatte selbst Grell den Anstand, sie mitleidig anzusehen. „Jetzt mach dich doch nicht so verrückt. Die Prüfung ist viel einfacher als du denkst. Glaub mir, ich weiß wovon ich spreche.“ „Ja, aber du bist auch ein gottverdammtes Genie.“ „Ich weiß“, trällerte Grell mit quietschender Stimme, woraufhin Carina ihn genervt ansah. Der Rothaarige räusperte sich kurz und sah dann auf seine Uhr. „Tja, meine Schicht fängt gleich an. Ich drück dir die Daumen, Kleines.“ Jetzt musste Carina gegen ihren Willen doch lächeln. „Ich schaff das schon“, antwortete sie und sah dabei zu, wie der Shinigami sich an Ort und Stelle in Luft auflöste. „Ich schaff das schon“, flüsterte sie noch einmal in die entstandene Stille hinein und betrat mit zittrigen Beinen das Institut. Als sie vor dem Prüfungsraum ankam, entdeckte sie Ronald, der ebenfalls zu warten schien. Carina setzte sich einen Stuhl von ihm entfernt hin und schielte zu ihm herüber. Eine Frage lag ihr brennend auf der Zunge und wieder einmal siegte ihre Neugier über ihren Verstand. „Und, wie ist deine theoretische Prüfung so gelaufen?“, fragte sie versucht beiläufig und der junge Mann schaute verwundert auf, schien sie anscheinend erst jetzt zu bemerken. „Wird wohl gereicht haben, denke ich“, antwortete er und zuckte lässig mit den Schultern. „Wie kann er nur so ruhig bleiben?“, dachte Carina und war fast schon ein bisschen neidisch. Aber so war es schon immer gewesen. Sie machte sich wegen jeder Kleinigkeit einen riesigen Kopf, machte aus einer Mücke einen Elefanten und dabei war das in den meisten Fällen überhaupt nicht notwendig. „Darf ich dir auch eine Frage stellen?“, fragte ihr Klassenkamerad sie nun und wirkte für seine Verhältnisse relativ ernst. Verwundert nickte sie und als er ihr seine Frage stellte, weiteten sich Carinas Augen um mehrere Millimeter. „Hast du Angst?“ Die 18-Jährige musste ihn nicht fragen, worauf er anspielte. Natürlich ging es um die praktische Prüfung. Die Prüfung, dessen Inhalt sie von Anfang der Ausbildung an gekannt hatten. Ronald schaute sie aufmerksam an und Carina musste kurz schlucken. „Er war ehrlich zu mir, also sollte ich diesen Gefallen wohl erwidern“, dachte sie. „Ja. Der Gedanke, eine Seele zum ersten Mal einzusammeln und das Leben desjenigen somit zu beenden, macht mir schon irgendwie Angst.“ „Ich hoffe, dass das mit der Zeit nachlässt“, sagte Ronald und gab indirekt zu, dass auch er nicht ganz ohne Furcht war. „Ich auch“, antwortete Carina und konnte für einen Moment kaum glauben, dass sie mit Ronald gerade eine vernünftige Konversation geführt hatte. Erneut verging die Zeit rasend schnell. Ronald wurde in das Zimmer hereingerufen und verließ es 5 Minuten später wieder mit einem Zettel in der Hand. Er sagte kein Wort, was er vermutlich auch nicht durfte, sondern winkte ihr nur kurz zum Abschied zu. Und dann, nach ca. 10 Minuten, wurde endlich ihr Name aufgerufen. Mit einem schmerzhaft hohen Puls betrat sie den Klassenraum, ihre Augen fielen sogleich auf Mr. Crow und Mr. Jones. Beide Herren saßen genauso wie bereits bei der theoretischen Prüfung hinter dem Pult, auf dessen Oberfläche mehrere Papierstapel sowie etwa 10 kleine Sicheln lagen. Als sie vortrat, überreichte ihr Mr. Jones genauso einen Zettel, wie Ronald ihn gehabt hatte. Bevor sie überhaupt Gelegenheit dazu hatte, sich das Stück Papier genauer anzusehen, öffnete der Prüfer den Mund. „Auf diesem Zettel sind alle Informationen verzeichnet, die Sie zum Einsammeln der Seele benötigen. Foto, Name, Geburtsdatum, Todeszeitpunkt, Todesort und natürlich die genaue Todesursache. Sie haben die Aufgabe, die Seele vorschriftsmäßig zu überprüfen und einzusammeln. Dazu werden Sie wie üblich noch eine der Übungstodessensen verwenden.“ Nun reichte er ihr eine der Sicheln, bei dessen Anblick Grell vermutlich vor Empörung geweint hätte. Carina nickte, atmete gleichzeitig einmal tief durch. „Strengen Sie sich an“, sagte Mr. Crow leise und der Blondine wurde übel. Es war klar, dass er keine Blamage von seinen Schülern wünschte. Wie schon Ronald vor ihr verließ sie wieder das Klassenzimmer, stieg die Treppen hinunter und ging mit schnellen Schritten auf den Ausgang zu. Jetzt wollte sie das Ganze nur so schnell wie möglich hinter sich bringen. Zu ihrem großen Bedauern schien Alice nicht im Dienst zu sein, denn hinter der Rezeption saß eine andere Frau. „Schade, allein Alice Anblick hätte mich schon ein wenig beruhigt“, dachte Carina und trat nun aus dem Institut hinaus. „Dann mal los“, murmelte sie, schloss ihre gelbgrünen Augen und konzentrierte sich auf den Ort, an dem sie auftauchen wollte. Gleich darauf ergriff sie das Gefühl der Schwerelosigkeit, ihr Körper wurde ganz leicht und sie konnte spüren, wie es plötzlich ganz kalt und windiger wurde. „Gut, dieser Teil hat also schon mal funktioniert“, sagte sie erleichtert, als sie wieder die Augen öffnete und sich an dem Ort wiederfand, den sie sich in Erinnerung gerufen hatte. Der Clock Tower, der aber von allen wegen seiner schwersten Glocke immer nur Big Ben genannt wurde, ragte hoch über London auf und ermöglichte es der angehenden Seelensammlerin die ganze Stadt zu überblicken. Dabei fiel ihr Blick automatisch auf das riesige Ziffernblatt unter ihr und somit auch auf die darunter stehenden lateinischen, goldenen Lettern. Gott schütze unsere Königin Victoria die Erste. Carina verzog spöttisch die Lippen. „Wenn die Leute nur wüssten, wie viele ihrer Mitmenschen schon wegen ihrer ach so hochgeschätzten Königin ihr Leben lassen mussten“, dachte sie. Auch unter den Shinigami wurde viel getratscht und so blieben nur wenige Geheimnisse, die Menschen betrafen, wirklich verborgen. Und wirklich jeder Seelensammler hatte schon einmal eine Seele nehmen müssen, nur weil die Königin diese hatte loswerden wollen. An und für sich konnte Carina diese Tatsache egal sein. Allerdings mochte sie die Vorstellung einfach nicht, dass eine Person, die so viel Einfluss und Macht besaß, auch tatsächlich im negativsten aller Sinne von ihr Gebrauch machte. Gedankenverloren ließ die 18-Jährige ihre Augen über die Stadt unter sich gleiten. London hatte sich in den letzten 2 Jahren nicht verändert und Carina hatte das auch nicht erwartet. Es war bereits später Nachmittag, die Sonne ging gerade unter. Wie so oft regnete es in London, der Wind pfiff um die Häuser und ließ Carina ein wenig frösteln. „Das Wetter passt irgendwie zu meiner Stimmung“, murmelte sie und setzte sich nun in Bewegung, indem sie von dem hohen Turm hinunter auf das nächstgelegene Gebäude sprang. „Und das ohne einen Kratzer, wer hätte das damals gedacht?“, grinste sie in sich hinein und warf nun zum allerersten Mal einen Blick auf den Zettel in ihrer Hand. Gleich darauf fühlte es sich an, als würden ihre Organe zu Eis erstarren. Oh Gott, sie kannte dieses Gesicht! „George“, flüsterte sie und schloss für einen Moment ungläubig die Augen. Das konnte doch wohl nicht wahr sein. Was zum Teufel hatte sie in ihrem Leben getan, dass sie so etwas auch noch im Tod verdient hatte? Wie konnte es sein, dass sie von den schätzungsweise 5 Millionen Einwohnern Londons ausgerechnet ihrem ehemaligen Blumenhändler die Seele nehmen musste? „Wenn es so etwas wie Schicksal gibt, dann hat es was gegen mich. Ganz sicher“, stöhnte sie genervt und las nun weiter. Der liebenswerte 46-Jährige würde in seinem Blumenladen an einem Herzinfarkt sterben. „Nun ja, wenigstens ein relativ normaler Tod“, dachte Carina trocken, was ihr aber nur wenig Trost spendete. Aber sie hatte keine Wahl. Er stand auf der Liste, sein Tod musste eintreten. „Denke positiv Carina“, sagte sie zu sich selbst, während sie von einem Dach zum Nächsten sprang. „Wenn du seine Seele einsammeln kannst, dann kannst du es auch bei allen anderen.“ Schnell hatte sie ihr Ziel erreicht. Von ihrem Platz auf dem gegenüberliegenden Gebäude konnte sie den stämmigen Händler deutlich in seinem Laden sehr. Er schien gerade die Blumenkästen wegzuräumen, um den Laden anschließend für den heutigen Tag schließen zu können. Oft hatte Carina ihn dabei gesehen, wenn sie vom Friedhof zurückgekommen war. Er hatte ihr dann immer mit einem Lächeln zugewinkt und die damals 16-Jährige hatte die Geste erwidert. Für ihn hatte sich in den letzten 2 Jahren also nichts verändert. Und er hatte keine Ahnung, dass der Tod ihn nur in wenigen Minuten ereilen würde… Mit einer fließenden Bewegung betrat sie seinen Laden. Natürlich bemerkte er sie nicht. Wenn Shinigami nicht gesehen werden wollten, dann wurden sie auch nicht gesehen. Eine einfache, aber sehr vorteilhafte Tatsache. Sie spürte, wie sich ihre Aufregung beinahe verzehnfachte, denn laut der Akte hatte er nur noch etwa 20 Sekunden. George stellte nun den letzten Kasten an seinen angestammten Platz und wischte sich danach den Schweiß von der Stirn. 15 Sekunden. „Puh, endlich fertig“, sagte er in die Stille hinein, zog sich seine Gummihandschuhe aus und legte sie auf den Tresen. 10 Sekunden. Seine Schürze folgte als Nächstes und seine Hand glitt in eine seiner Hosentaschen, holte den Schlüssel zum Laden hervor. 5 Sekunden. Er hielt inne, mit einem Mal war sein Gesicht bleich und schmerzverzerrt. Schweiß breitete sich auf der Stirn des Mannes aus, er schien Probleme beim Luftholen zu haben. Der Schlüssel fiel klirrend zu Boden, seine Hand krallte sich in seine Brust. Carina verzog das Gesicht, als sie ihn keuchen hörte und dabei zusah, wie er nun auf die Knie sank und zur Seite wegkippte. Sie konnte sich beinahe bildlich vorstellen, wie sein Herz trotz des Infarktes weiterarbeiten wollte, es aber nicht schaffte. „Es ist soweit“, dachte die Blondine und rief sich die Reihenfolge ins Gedächtnis, die sie im Unterricht gelernt hatte. Schritt 1: Benutzte deine Death Scythe und rufe den Cinematic Record hervor. Sie hob die kleine Sichel und zögerte einen winzigen Moment, bevor sie sich ins Gedächtnis rief, dass die Waffe keine Wunde herbeiführen wird. „Nicht wie damals“, schoss es ihr kurz durch den Sinn, doch sie schüttelte den Gedanken sofort ab und stieß die Spitze nun in seine Brust. Ein kleiner - nur für sie wahrnehmbarer – Ruck durchfuhr seinen Körper und dann schossen sie hervor. Die Cinematic Records. Schritt 2: Siehe dir die Cinematic Records an und prüfe, ob die Zielperson noch vorteilhaft für die Zukunft sein könnte. „Es ist tatsächlich wie ein Kurzfilm“, flüsterte Carina und besah sich interessiert die Bilder. Sie konnte sehen, wie George auf einem Bauernhof aufgewachsen war. Wie er sich als kleiner Junge bei einem Sturz vom Pferd das Bein brach. Dann, mehrere Jahre später, übernahm er den Bauernhof seiner Eltern und heiratete. Er wurde Vater von einer kleinen Tochter. Erneut vergingen Jahre. Ein fürchterlicher Brand vernichtete den kompletten Hof, seine Frau und seine 6-jährige Tochter starben bei dem Unglück. Er ließ daraufhin alles hinter sich und kam gebrochen nach London, um ein neues Leben zu beginnen. Er kaufte den Blumenladen und versuchte seine schreckliche Vergangenheit zu vergessen. Im Laufe der Jahre konnte er wieder Freude empfinden, er traf viele verschiedene Menschen und Carina konnte selbst sich in einem flüchtigen Bild erkennen. „Er ist nicht vorteilhaft“, dachte sie, aber überraschen tat es sie nicht. Menschen, die auf der Todesliste standen und dann doch verschont wurde, waren in der Regel Politiker, Biologen, Physiker, Revolutionäre…Für Blumenhändler wurden keine Ausnahmen gemacht. Der Cinematic Record kam nun zum Abschluss und plötzlich weiteten sich George’s Augen bis zum Anschlag. „C-Carina?“, röchelte er mit letzter Kraft und die 18-Jährige lächelte ihn so sanft wie nur möglich an. Dass er sie nun sehen konnte, war der Tatsache geschuldet, dass er zum jetzigen Zeitpunkt mehr tot als lebendig war. „Hab keine Angst. Die Schmerzen sind gleich vorbei“, sagte sie und schlug einen ruhigen Ton an. Schritt 3: Zerschneide den Cinematic Record und vervollständige die Akte. Mit einem sauberen Schnitt der Sichel durchtrennte sie die Aufzeichnungen und setzte gleich darauf den Stempel auf den Zettel, der den Fall als abgeschlossen kennzeichnete. Im selben Moment erstarrte der Körper zu ihren Füßen. George’s Kopf fiel zu Boden, seine Augen starrten ohne wirklich zu sehen an die Decke. Und genau in diesem Moment konnte Carina sie spüren. Seine Seele. Erschrocken schnappte sie nach Luft. Wie oft hatten sie im Unterricht über die Seele gesprochen? Wie oft über den Ablauf, den Prozess des Einsammelns? Aber nie hatte jemand erwähnt, wie es sich tatsächlich anfühlte. Eine Seele war nichts Greifbares. Sie war wie eine kleine Sonne, eine Kugel aus silbernem Licht, die plötzlich den ganzen Raum erhellte. Und sie fühlte sich so unglaublich zerbrechlich an. Zittrig atmete Carina ein und wieder aus. Die Seele war viel mehr, als nur die Essenz eines Menschen. Sie war etwas Kostbares. Etwas Reines. Etwas, das niemals beschädigt werden sollte. Bei der bloßen Vorstellung, dass Dämonen Seelen aßen, wurde Carina mit einem Mal furchtbar schlecht. Obwohl George‘s Seele verschwand und somit in den Besitz der Registratur überging, pochte Carinas Herz immer noch heftig gegen ihre Brust. Fühlte es sich für jeden Seelensammler so an? Automatisch dachte sie nun an ihre eigene Seele und Trauer keimte in ihr auf. Sie hatte ihre Seele durch ihren Selbstmord beschmutzt. Ihre Seele würde für immer in diesem Körper gefangen sein. Und falls sie sterben sollte, würde ihre Seele sicherlich an einen anderen Ort gehen, als die der Menschen. „Da kann man auf die Menschen ja fast schon ein wenig neidisch sein“, flüsterte sie in die Stille hinein und trat mit langsamen Schritten wieder aus dem Laden hinaus. Sie sprang nach oben auf das nächste Haus und automatisch wanderte ihr Blick nach Westen. Nicht weit von hier hatte sie in einer der unzähligen Gassen Londons ihr Leben gelassen. Immer noch bereiteten ihr diese Gedanken Unbehagen und vermutlich würde das auch niemals aufhören. „Ich sollte gehen“, dachte sie und schloss die Augen, um sich wieder zu konzentrieren. Für heute hatte sie ihr Ziel erreicht. Jetzt musste sie die Akte nur noch den Prüfern vorlegen. Mit einer geübten Handbewegung schnitt er den Faden ab, der still in seiner rechten Hand ruhte und betrachtete sein Werk. Wie immer sah der Körper des Verstorbenen nun wieder schön und ansehnlich aus. Der Mann Mitte 30 war von einer Kutsche erfasst worden und demnach war der Schaden an seinem Körper relativ groß ausgefallen. Allein durch die schiere Wucht seines Aufpralls auf dem harten Asphalt der Straße war der Großteil seiner Stirn zertrümmert worden. Außerdem hatten seine rechte Schulter und sein rechtes Bein in einem so ungeraden Winkel vom Körper abgestanden, dass es ein Wunder gewesen war, dass sie nicht komplett abgerissen worden waren. Ja, der Undertaker konnte dieses Mal wirklich stolz auf sein Werk sein. Das Gesicht des Mannes konnte man wirklich wieder ohne Zaudern ansehen. Seine Stirn wurde nun wieder von einer sehr langen Naht zusammengehalten, die der Bestatter mit einer dünnen Schicht Make-up bestrichen hatte. Bei der rechten Seite seines Kunden hatte er sich schon etwas mehr Mühe geben müssen. Die Knochen hatte er brechen und in die richtige Form zurückbringen müssen. Die abgeschürfte Haut wurde von dem schwarzen Anzug verdeckt, den der Verstorbene nun trug. Mit vorsichtigen, beinahe sanften Handgriffen brachte er die Leiche in die richtige Position und schloss mit einem leisen Lachen den Sarg. Erneut war ein Tag zu Ende gegangen, an dem er seine Arbeit voller Hingabe erledigt hatte. Bald würde es für ihn nicht mehr so einfach sein. Nur noch wenige Monate, dann würden der Earl und sein Bediensteter alles in ihrer Macht stehende unternehmen, um ihn zu fassen. „Hehe“, kicherte er. Allein die Vorstellung bescherte ihm bereits großes Vergnügen. Es würde eine willkommene Abwechslung zu seinem bisherigen Alltag darstellen. Der Silberhaarige hielt mit einem Mal inne, schien äußerlich mitten in der Bewegung erstarrt zu sein. Wie so oft spürte er es, wenn jemand in der Nähe seines Ladens sein Leben ließ. Und wie könnte es auch anders sein? Die Shinigami wurden vom Tod angezogen, wie die Insekten vom Licht. Wobei er sich manchmal nicht sicher war, ob es nicht vielleicht auch anders herum war. Vielleicht zogen die Shinigami ja auch den Tod an? Wenige Sekunden vergingen und nun konnte er auch einen seiner Artgenossen wahrnehmen. Wie immer waren die Shinigami stets direkt vor Ort. Bei ihm war es selbst genauso gewesen. „Manchmal wäre es nützlich, die Liste noch zu haben“, dachte er und strich sich mit einem seiner langen Fingernägel nachdenklich über das Kinn. Die Liste mochte er vielleicht vermissen, aber seinen Job? Nein, ganz sicher nicht. Mit einem undefinierbaren Lächeln auf den Lippen trat er den Rückweg in den oberen Teil seines Ladens an. Gewiss würden der Earl und sein Butler nicht die Einzigen sein, die hinter ihm her sein würden. Oh ja, er war sich sicher, mit den Shinigami würde er auch noch jede Menge Spaß haben. Kapitel 19: Der Abschluss ------------------------- „Wann geht diese verdammte Tür endlich auf?“, sagte Carina jetzt schon zum zweiten Mal, obwohl sie wusste, dass ihr keiner antworten würde. Ihre Klassenkameraden und sie saßen nun schon seit gut einer Stunde vor dem Raum, in dem sie ihre Prüfungsergebnisse bekommen sollten. Immer wieder wurden in unregelmäßigen Abständen zwei Leute hineingerufen und bekamen zusammen ihre Noten mitgeteilt. Mittlerweile saßen sie nur noch zu viert vor der weißen Tür, also konnte es nicht mehr sehr lange dauern. Ihre praktische Prüfung war nun 3 Tage her und seit dieser Nacht hatte Carina kaum noch geschlafen. In ihren Träumen stand sie vor Mr. Crow und Mr. Jones, die ihr beide mit einem fiesen Grinsen mitteilten, dass sie durchgefallen war. Und dann tauchten ihre Mitschüler auf, allen voran natürlich Ronald, die sie umkreisten und immer wieder „Versager“ oder „Wir wussten doch, dass du es nicht schaffst“ riefen. „Das waren die längsten 3 Tage meines Lebens“, dachte sie erschöpft und starrte weiterhin die Tür an. Ronald, der zwei Plätze von ihr entfernt saß, sah fast genauso müde aus. Anscheinend war nicht einmal er gegen die Aufregung und ständige Nervosität immun. Obwohl Carina wie immer ziemlich neugierig war und den jungen Mann am liebsten über seine Erfahrungen bei der praktischen Prüfung ausgefragt hätte, hatte sie sich doch dagegen entschieden. Immerhin konnte sie im Gegenzug auch ihre Erlebnisse für sich behalten. Irgendwie kam es ihr noch zu früh vor, um darüber zu reden was sie in dieser Nacht gefühlt hatte. Wie sich die Seele angefühlt hatte. Nicht einmal mit Grell oder Alice hatte sie darüber gesprochen. Ihre Gedanken wurden jäh unterbrochen, als sich die Tür – endlich – öffnete und Mr. Crow hinaustrat. Er schaute sich kurz die restlich verbliebenen Anwärter an, bevor er schließlich Carinas und Ronalds Namen aufrief. Carina war so aufgeregt, dass es ihr sogar egal war zusammen mit ihrem selbsternannten Erzfeind in diesen Raum gehen zu müssen. Wie lange hatte sie auf diesen Moment gewartet, ihn herbeigesehnt? Im Rückblick waren die letzten beiden Jahre zwar schnell herumgegangen, aber währenddessen hatte es sich wie ein Marathon angefühlt, dessen Ziellinie noch lange nicht in Sichtweite war. Mittlerweile war sie so nervös, dass ihr das Ergebnis fast schon egal war. Hauptsache, diese Ungewissheit würde endlich aufhören. Der 18-Jährigen bot sich dasselbe Bild wie schon bei der theoretischen Prüfung. Mr. Crow und Mr. Jones saßen hinter dem Lehrerpult, neben ihnen…“Oh“, dachte Carina überrascht und kam nicht umhin, den dritten Shinigami ein wenig erschrocken anzustarren. Sie hatte William T. Spears in den letzten beiden Jahren nur wenige Male gesehen und zu keinem Zeitpunkt hatten sie miteinander gesprochen. „Nein, nur bei meiner damaligen Entscheidung die Ausbildung zum Seelensammler zu machen“, erinnerte sie sich und stellte sich zusammen mit Ronald vor den Schreibtisch. Anscheinend sollte William die Ergebnisse verkünden, denn er schaute sie nun Beide an und fragte: „Möchte jemand von Ihnen zuerst verlesen werden?“ Bevor die Blondine Zeit hatte zu antworten, ergriff Ronald bereits das Wort. „Lady’s First“, sagte er mit einem charmanten Lächeln in Carinas Richtung, woraufhin diese die Augen verdrehte. Das war ja mal wieder typisch… William räusperte sich kurz und wandte sich nun ganz ihr zu. „Nun schön, dann werden wir mit Ihnen beginnen“, sagte er und die junge Frau nickte lediglich, denn ihr Hals war mit einem Mal staubtrocken. Williams Blick richtete sich wieder auf die Unterlagen, die sich vor ihm auf dem Pult befanden. „Nun, zu der theoretischen Prüfung gibt es nicht viel zu sagen. Sie haben 95 von 100 Punkten erreicht, was schon seit einiger Zeit nicht mehr vorgekommen ist.“ Carina konnte nicht verhindern, dass ihre Wangen ein wenig heiß wurden. Natürlich hatte sie gewusst, dass ihr die Theorie gut gelungen war, aber mit so einem guten Ergebnis hatte sie dann doch nicht gerechnet. Alice hatte also auf jeden Fall schon mal einen Grund zur Freude. „Laut den Aufzeichnungen, die während der praktischen Prüfung gemacht wurden, haben Sie für den kompletten Vorgang des Einsammelns genau 3 Minuten und 45 Sekunden gebraucht.“ Er schaute Carina auffordernd an, diese schaute allerdings nur verdutzt zurück. „Aufzeichnungen? Was für Aufzeichnungen? Wurden wir etwa alle bei der Prüfung beobachtet?“, dachte sie und bemerkte erst jetzt, dass anscheinend eine Antwort von ihr erwartet wurde. „Ähm, ist das schlecht?“, fragte sie unsicher nach, weil ihr keine andere Antwort einfiel. „Die Zeit liegt gerade noch im durchschnittlichen Bereich, aber ich gehe aufgrund ihrer Noten davon aus, dass sie das Ganze mit etwas Übung auch noch besser könnten. Allerdings kommen Sie zusammengerechnet auf ein solides B und haben die Prüfung somit bestanden.“ Carina blinzelte. Nur langsam drangen die soeben gesprochenen Worte in ihr Gehirn vor. Als es endlich soweit war, wurden ihre Augen groß wie Untertassen. „Ich…ich hab bestanden?“, fragte sie und ihr ungläubiger Unterton veranlasste selbst den sonst so kühlen Mr. Crow zu einem schmalen Grinsen. William hingegen verzog natürlich keine Miene. „Ich muss zugeben, ich hatte das Eintreten dieses Umstandes nicht erwartet. Anscheinend habe ich Sie unterschätzt. Auf gute Zusammenarbeit.“ Er streckte ihr die Hand entgegen, die sie zögerlich ergriff. Mit einem Mal verspürte sie pure Euphorie. Wahrscheinlich war ihr Körper mit den ganzen Glückshormonen, die nun ihr Gehirn überfluteten, überfordert. Überschwänglich schüttelte sie ihrem neuen Vorgesetzten die Hand, der sie ein wenig entsetzt anstarrte. „Vielen Dank Sir“, rief sie laut, überschwänglich und voller Freude. Es kam so gut wie nie vor, dass sie ihre Gefühle so offen zeigte, aber momentan konnte sie sich einfach nicht beherrschen. „Man merkt, dass Sutcliff ihr Mentor ist“, seufzte William genervt, während Ronald leise im Hintergrund kicherte. „Und nun zu Ihnen, Mr. Knox“, sagte der schwarzhaarige Aufsichtsbeamte, woraufhin der junge Shinigami sofort verstummte. „Sie stehen sozusagen im genauen Gegensatz zu ihrer Kollegin. In der theoretischen Prüfung haben Sie 68 von 100 Punkten, was nicht gerade ein großartiges Ergebnis ist, aber immerhin noch im durchschnittlichen Bereich. Ihre praktische Prüfung hingegen ist erwähnenswert. 1 Minute und 10 Sekunden ist eine überdurchschnittlich gute Zeit. Somit kann ich auch Ihnen mitteilen, dass Sie bestanden haben.“ Er reichte Ronald die Hand, der ebenfalls sehr erleichtert wirkte. Selbst Carina konnte ihm in diesem Moment die bestandene Prüfung und das wesentlich bessere Ergebnis bei der praktischen Prüfung nicht missgönnen. Dafür war sie einfach zu gut gelaunt. „Hier sind ihre Lizenzen. Wenn Sie ihre Death Scythe abholen, dann zeigen Sie sie vor und bewahren Sie sie danach sorgfältig auf.“ Carina unterdrückte das Bedürfnis die Augen zu verdrehen. William und seine Bürokratie… „Ich erwarte Sie morgen pünktlich zu Ihrem ersten Arbeitstag in meinem Büro. Sie dürfen nun gehen.“ Ronald und Carina nickten synchron und verließen den Raum, während nun die beiden letzten Prüflinge reingerufen wurden. „Wir haben es echt geschafft, was?“, fragte Ronald und Carina nickte. Ihr war noch immer ganz schwindelig vor lauter Erleichterung. „Ja, scheint so. Da hat sich die Arbeit der letzten Jahre wenigstens gelohnt“, fügte sie noch hinzu. „Tja, vielleicht sehen wir uns ja später noch“, verabschiedete der Shinigami sich, wobei er mit seinen letzten Worten auf den bevorstehenden Erhalt ihrer Death Scythe’s anspielte. Carina nickte und wollte sich gerade ebenfalls zum Gehen aufmachen, als hinter ihr laute Schritte ertönten. Verwundert drehte sie sich um und keine 5 Sekunden später kam Grell um die Ecke gerannt. Er erkannte sie sofort und blieb schlagartig stehen. Der Rothaarige schien für seine Verhältnisse ziemlich außer Atem zu sein. „Und?“, keuchte er und Carina wurde nun endlich klar, warum ihr Mentor sich so beeilt hatte. Anscheinend war er genauso aufgeregt gewesen, wie sie selbst. Einen Moment lang geschah gar nichts. Sie schauten sich nur gegenseitig stumm an. Dann – kurz bevor Grell erneut zum Sprechen ansetzen wollte – schenkte ihm seine Schülerin ein strahlendes Lächeln, das ihr ganzes Gesicht erhellte und ihre Augen zum Leuchten brachte. Und mehr brauchte Grell nicht. Seine spitzen Zähne verzogen sich zu einem überdimensionalen Grinsen und in der nächsten Sekunde sprang er freudestrahlend in die Luft. „Ich wusste, dass du es schaffst“, jauchzte er und umarmte sie überschwänglich. Carina lachte. „Dafür, dass du dir so sicher warst, hast du gerade aber ziemlich erleichtert gewirkt.“ Grell bemerkte ihren spielerischen Unterton und grinste nun noch breiter. „Als ob du nicht erleichtert gewesen bist“, antwortete er. „Was dachtest du denn?“, stellte sie ihm die Gegenfrage und schaute ihm nun erneut in die Augen. „Danke“, sagte sie und versuchte all ihre Gefühle in dieses eine Wort zu legen, um ihm zu zeigen, wie dankbar sie ihm war. „Ohne dich hätte ich das nicht geschafft, Grell.“ Der Rothaarige wirkte mit einem Mal ein wenig verlegen. „Nun ja, irgendwer musste dir ja ab und zu mal ein wenig in den Hintern treten“, sagte er in einem brüderlichen Tonfall und klatschte nun die Hände zusammen. „Hach, ich weiß gar nicht, was wir zuerst erledigen sollen. Deine Death Scythe abholen? Die Tapete kaufen? Oder shoppen?“ Carina runzelte verwirrt die Stirn. „Tapete? Shoppen? Wovon sprichst du?“ Grell sah sie daraufhin mit einer solchen Empörung an, dass die Blondine schlucken musste. „Na hör mal, du glaubst doch nicht, dass ich dich noch einen Tag länger in diesem Schund herumlaufen lasse? Und die Tapete ist für die neue Wohnung, die du ab morgen beziehen kannst.“ „Oh man“, dachte Carina. Wenn sie mit Grell Klamotten einkaufen ging, dann musste sie genau dies auch mit Alice tun, sonst wäre die Schwarzhaarige ziemlich beleidigt. Das würde noch anstrengend werden… „Ich würde sagen, ich hole meine Death Scythe und danach auch gleich meine neue Brille ab. Währenddessen besorgst du die Tapete und danach können wir von mir aus shoppen gehen.“ Der letzte Teil ihres Satzes glich mehr einem Seufzen, doch ihrem Mentor schien das gar nicht aufzufallen. „Fabelhaft“, trällerte er in seiner besten Mädchenstimme und keine 10 Sekunden später war er auch schon wieder um die nächste Ecke verschwunden. „Manchmal ist er einfach zu gut für diese Welt“, murmelte Carina grinsend und schaute auf die Uhr. Alice arbeitete noch, also musste sie ihr nicht sofort Bescheid sagen. Am besten erledigte sie das auf dem Rückweg. Jetzt würde sie erst mal ihre Death Scythe auswählen. Oder wie Mr. Crow es ausgedrückt hatte, sie würde ganz genau wissen, welche es sein würde. „Keine Ahnung, was er damit gemeint hat, aber ich hoffe doch, dass er Recht hatte. Solch wichtige Entscheidungen würde ich am liebsten jemand anderem überlassen“, dachte sie. Ja, große Entscheidungen waren noch nie ihre Stärke gewesen. Damals, als es darum ging welche Schule sie besuchen sollte…Oder welche Frisur sie wollte. Manchmal hatte sie schon Stunden gebraucht, wenn es lediglich darum ging auszusuchen, wo etwas zu Essen bestellt wurde. Meistens stellten sich ihre Entscheidungen als gut getroffen heraus, aber dafür dachte sie auch doppelt so lange darüber nach, wie normale Menschen. Und jetzt ging es auch noch um eine Entscheidung, die sie ihr Leben lang betreffen würde. Tja, und für einen Shinigami war das eine verdammt lange Zeit, wenn nicht sogar die ganze Ewigkeit. Sie erreichte die Personalabteilung mit zügigen Schritten, diese war schon seit jeher für die Verwaltung und Herausgabe der Death Scythe’s zuständig. Von da an ging alles recht schnell. Keine 10 Minuten später war sie bereits mit einem der Mitarbeiter auf dem Weg in das Lagerhaus, wo sich alle Todessensen befanden, die noch keinen Besitzer hatten. Der Mann war für einen Shinigami recht alt, wenn Carina sein graues Haar und das faltige Gesicht richtig einordnete. Während ihrer Jahre in der Shinigami Welt hatte sie festgestellt, dass die Meisten ihrer Art zwischen Anfang und Ende 30 waren. Dabei waren die Männer im Durchschnitt älter als die Frauen. Sie, Ronald und Alice gehörten mit ihrem Alter also schon zu den Außenseitern. Eigentlich nicht verwunderlich, die wenigsten Menschen begingen schon so früh in ihrem Leben Selbstmord, jedenfalls nicht im 19. Jahrhundert. „Ähm, entschuldigen Sie die Frage, aber…“, begann Carina zögernd, „wie wird das jetzt gleich vonstattengehen? Muss ich irgendetwas beachten?“ „Sie müssen wissen, dass das Lagerhaus über die Jahre hinweg stetig vergrößert worden ist. Es ist ein Raum mit sehr vielen Regalen und Tischen, unserem System nach werden dort momentan 865 Death Scythe’s gelagert.“ Carina schluckte. Wie zu Teufel sollte sie sich bei der großen Menge denn nur entscheiden? „Ich werde vor der Tür auf Sie warten. Nehmen Sie sich ruhig so viel Zeit, wie sie brauchen. Es ist je nach Shinigami sehr unterschiedlich, wie lange Sie für die Auswahl brauchen.“ Carina beschloss in Gedanken, dass sie diesen Typen mochte. „Ach tatsächlich?“, fragte sie und ihr Gegenüber lächelte kurz, während er sich anscheinend zurückerinnerte. „Nun, bei ihrem Mentor hat es keine 5 Minuten gedauert, da war er schon wieder aus dem Lagerhaus raus. Mr. Spears hingegen war ganze 2 Stunden dort drin!“ „Warum überrascht mich das jetzt nicht?“, dachte Carina und lachte leise. „Das kann ich mir gut vorstellen“, antwortete sie und ließ ihren Blick zu dem Gebäude schweifen, das nun vor ihnen auftauchte. Es sah tatsächlich aus wie eine einfache Lagerhalle. Jedoch nicht wie in der Zukunft dreckig und heruntergekommen, sondern strahlend weiß und modern. „Nun, ich werde dann hier auf Sie warten. Viel Glück“, meinte der ältere Mann. Carina nickte, murmelte ein kurzes „Danke“ und trat durch die Tür. Gleich darauf weiteten sich ihre Augen. Natürlich klang allein die Zahl 865 schon nach einer ganzen Menge, aber wie diese Menge dann aussah war etwas komplett anderes. Überall standen Tische, Regale, Stühle und ab und an sogar kleine Boxen aus Holz. Alle waren sie in verschiedenen Größen und Formen; sie füllten somit den kompletten Raum aus. Und die Möbel waren beladen mit Death Scythe. Es war in etwa so, als wäre der Personalabteilung irgendwann der Platz ausgegangen und sie hatten wahllos neue Einrichtungsgegenstände herangeschafft, auf denen die Todessensen platziert werden konnten. „Wie soll ich denn hier jemals die richtige Waffe für mich finden?“, stöhnte Carina auf und sah sich etwas orientierungslos um. Erneut erinnerte sie sich an die Worte von Mr. Crow. „Nun schön, dann finde ich mal heraus, was er damit gemeint hat.“ Mit langsamen Schritten ging sie durch die sehr engen Durchgänge, die die Personalabteilung zum Passieren frei gelassen hatten. Von vielen Death Scythe schien es mehrere Exemplare zu geben. Zum Beispiel konnte sie auf einem Tisch gleich 20 Mal die kleine Sichel ausmachen, mit der sie auch ihre Abschlussprüfung durchgeführt hatte. Ihre Augen huschten von Regal zu Regal. Ast- und Heckenscheren, Schaufeln und Spaten, Äxte, Hacken, Rechen, Sägen, ja sogar einen Rasenmäher konnte sie entdecken. „Für Gärtner wäre das hier wohl das reinste Paradies“, murmelte Carina und ging weiter durch den Raum. Die 18-Jährige hob eine Augenbraue. Auf einer kleinen Kommode lagen Dolche, gleich daneben befanden sich mehrere kleine Streitkolben, eine ziemlich lange Lanze und schlussendlich sogar eine Armbrust. „Was haben die Sachen denn hier zu suchen? Das sind doch überhaupt keine Gartengeräte“, dachte sie ein wenig verwirrt, bevor sie im nächsten Moment die Augen weitete. Plötzlich hatte sie ein ganz komisches Gefühl im Bauch. Ihr Blick wanderte automatisch nach rechts, es war als würden sich ihre Beine wie von selbst nach vorne bewegen. Sie trat an einem voll bepacktem Kleiderschrank mit Bögen vorbei und dann konnte sie es sehen. Es lag auf einem länglichen Tisch, der aufgrund seiner Position zwischen all den anderen Möbeln leicht übersehen werden konnte. Wie hypnotisiert trat sie näher und betrachtete es. Das Griffband war dunkelrot, die Einlage unter dem Band weiß. Das runde Stichblatt war schwarz, auf beiden Seiten waren kleine, goldene Lilien in das Eisen eingelassen worden. Auch die Klingenzwinge, die das Stichblatt mit der eigentlichen Waffe – nämlich der Klinge selbst - verband, war golden. Carina hatte genug Mangas gelesen und Animes gesehen, um zu wissen was sie hier vor sich hatte. „Ein Katana“, entfuhr es ihr ehrfürchtig und erneut wanderten ihre Augen über die Waffe. Die Klinge war silbern, der Schliff wellenartig. Wie oft hatte sie sich gewünscht, so eine Waffe mal in die Hand zu nehmen? Vorsichtig streckte sie ihre rechte Hand aus und umfasste das Katana am Griff. Es war, als würde sie ein elektrischer Schlag treffen. Erschrocken keuchte sie auf und nun gab es für sie keinen Zweifel mehr. Das hier musste Mr. Crow gemeint haben, genau dieses Gefühl. Das hier musste sie sein. Ihre Death Scythe. „Und sie könnte nicht besser zu mir passen“, dachte Carina glücklich, während sie die linke Hand nach dem zweiten Teil ihrer Waffe ausstreckte. Die Schwertscheide war tiefschwarz, allerdings befand sich oben, kurz vor der Öffnung, eine Kordel in Farbe des Griffbandes. Langsam ließ sie das Katana in die Schwertscheide gleiten und befestigte es mithilfe der Schlaufe, die sich an der Kordel befand, an ihrem Gürtel. „Bianca wäre jetzt richtig neidisch“, grinste die 18-Jährige in sich hinein und trat nun den Rückweg an. Was Grell und Alice wohl von ihrer Entscheidung halten würden? Als sie durch die Tür hinaustrat, starrte der Angestellte der Personalabteilung sie einen Moment lang an. „20 Minuten, das ging ja noch“, sagte er und noch währenddessen huschten seine Augen zu dem Schwert an ihrer Hüfte. Carina registrierte, dass er ziemlich überrascht wirkte. „Nun, dass Sie sich diese Death Scythe aussuchen hätte ich jetzt nicht gedacht“, bestätigte er sogleich auch ihre Vermutung. Die Blondine hob eine Augenbraue. „Wieso nicht? Und warum gibt es überhaupt normale Waffen dort drin? Ich dachte, Death Scythe seien ausschließlich Gartengeräte.“ Nun wurde sein Blick ein wenig spöttisch. „Glauben Sie ernsthaft, die Shinigami von vor 1000 Jahren seien mit Gartengeräten herumgelaufen? Damals war unsere Entwicklungsabteilung noch nicht so weit fortgeschritten und es wurden auch ganz normale Waffen benutzt. Dieses Schwert zum Beispiel befand sich sicherlich schon seit 200 Jahren da drin, aber es wurde bisher von niemandem ausgewählt.“ Er blätterte in seinen Unterlagen und machte bei dem Feld mit der passenden Inventarnummer ein Häkchen. „Nun, Sie sind hier fertig. Gehen Sie pfleglich mit ihrer Death Scythe um, Sie haben schließlich nur die Eine.“ Carina nickte, reichte ihrem Gegenüber die Hand und schlug nun den Weg in Richtung Brillenabteilung ein. Diese Entscheidung zu treffen konnte ja nur halb so schwer sein. „Oder auch nicht“, dachte Carina und schluckte beim Anblick der vielen Gestelle. Mussten die denn immer so viel Auswahl haben? „Was würde Alice wohl machen?“, fragte sie sich und kam auch sogleich auf die Antwort. „Such dir eine aus, die zu dir passt“, murmelte sie und konnte sich bildlich vorstellen, wie Alice genau das sagte. „Die zu mir passt…hmm“, überlegte sie laut und ging die Reihen durch. „Ich werde meine Death Scythe von jetzt an immer bei mir tragen. Also sollte es entweder eine Farbe sein, die zu Rot passt oder…“ Ein Lächeln legte sich auf ihre Lippen, als sie eine passende Brille ausmachte. Und keine 5 Minuten später verließ sie Brillenabteilung wieder, nun mit ihrer neuesten Errungenschaft auf der Nase. Die Brillengläser waren rechteckig und mit einem schwarzen Rahmen umrandet. Die Bügel hingegen waren genauso rot wie der Griff ihres Katanas. Gleichzeitig waren sie auch etwas breiter, nicht so dünn wie die Bügel von Grells Brille. Sie passte perfekt in ihr Gesicht und Carina war froh, dass sie nun auch das erledigt hatte. „Jetzt kann jeder sehen, dass ich die Prüfung bestanden habe“, dachte sie glücklich und schlenderte in Richtung Institut. Wie sie ihren Mentor kannte, wartete dieser schon auf sie und konnte es gar nicht abwarten, ihre neue Wohnung einzurichten. Und Carina sollte Recht behalten. Als sie das Institut erreichte, stand der Rothaarige bereits vor der Tür. „Na endlich“, sagte er ein wenig genervt und scannte seine Schülerin von oben bis unten. Ein entzückter Laut entfuhr ihm. „Hach, dieses Rot gefällt mir ausgesprochen gut“, flötete er und Carina konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Was für eine Überraschung“, erwiderte sie und nun deutete Grell auf ihr Schwert. „Aber warum denn ausgerechnet eins von diesen Urzeitmodellen? Da gab es doch wirklich viel schönere, mein Baby natürlich außen vorgenommen. Da kommt sowieso keine Death Scythe heran.“ „Ich finde, ich habe eine gute Wahl getroffen, mir gefällt das Katana“, antwortete sie und Grell zuckte mit den Schultern. „Nun ja, jedenfalls siehst du bis auf diese schrecklichen Klamotten schon einmal ganz passabel aus.“ „Ich bin mir sicher, dass du das heute noch ändern wirst, nicht wahr?“, sagte Carina mit einem leisen Seufzer, war aber innerlich mehr als froh, dass sie ihn als Unterstützung hatte. Grell grinste. „Du kennst mich, natürlich werde ich das.“ Kapitel 20: Es beginnt ---------------------- Carina konnte nicht verhindern, dass ihr ein lautes Gähnen entfuhr. Sie hob die Arme und streckte sich, um wieder halbwegs wach zu werden. Die empörten Blicke der Frauen am gegenüberliegenden Tisch ignorierte sie dabei gekonnt. Alice kicherte. „Harte Nachtschicht gehabt?“, fragte sie ihre Freundin und nahm einen Schluck von ihrem Tee. „Das kannst du wohl laut sagen“, erwiderte die Blondine und gähnte erneut. „Seelen von Menschen einzusammeln, die eines natürlichen Todes gestorben sind, ist in Ordnung. Aber wenn sie ermordet werden und du dir das jedes Mal ansehen darfst…“ Sie ließ den Satz unbeendet, aber Alice konnte sich durchaus vorstellen, was sie meinte. „Tja, das gehört jetzt zu deinem Leben dazu“, antwortete die Schwarzhaarige. Seelensammler hatten es nun mal nicht leicht, das wusste so ziemlich jeder. Carina hingegen wunderte sich gelegentlich über sich selbst. Es war erstaunlich, wie schnell man sich an den Tod gewöhnen konnte. Ihr Abschluss war gerade erst 5 Monate her und seitdem war ihr der Job jeden Tag ein wenig leichter gefallen. Wenn sie daran dachte, dass sie beim Einblick der Frauenleiche damals beim Undertaker fast eine Panikattacke gehabt hatte… Sie konnte es nicht leugnen, sie hatte sich verändert. „Ob nun zum Guten oder zum Schlechten ist eine andere Frage“, dachte sie und aß die Reste ihres Brotes auf. „Außerdem ist es jetzt schon Mitte April. Kann man da nicht wenigstens auf ein wenig Sonne hoffen? Nein, natürlich nicht. Es hat fast die ganze Nacht in Strömen geregnet“, meinte Carina genervt und stand auf. „Tja, Grell hätte dir ja wärmere Klamotten aussuchen können“, antwortete Alice mit einem Mal ziemlich schnippisch und erhob sich ebenfalls. Carina stöhnte. „Ach komm schon Alice. Das Ganze ist jetzt schon fast 5 Monate her und ich war doch auch mit dir shoppen. Wo ist das Problem?“ „Das Problem ist, dass du mit ihm zuerst shoppen warst“, konterte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. „Und noch schlimmer ist, dass ich mich nicht einmal über dieses neue Outfit von dir beschweren kann, weil es verdammt noch mal gut aussieht.“ Carina grinste und schaute an sich herunter. Sie trug nach wie vor eine weiße Bluse, allerdings war diese nun wesentlich mehr ihrer Figur angepasst. Die frühere Anzugshose hatte sie gegen eine enggeschnittene schwarze Hose aus Baumwollstoff ausgetauscht. Dadurch, dass die Hose so eng anlag, hatte Carina keine Probleme ihre Schnürstiefel von vor 2 Jahren wieder anzuziehen und die Hose einfach darunter zu tragen. Grell hatte ihr zwar ein neues Paar Stiefel angeboten, aber Carina hatte abgelehnt. Sie hatte sie immerhin nicht lange getragen und außerdem passten sie nach wie vor perfekt. Ja, der Undertaker hatte wirklich ein gutes Auge gehabt. Über der Bluse trug sie einen schwarzen Blazer, der das Gesamtbild noch einmal abrundete. Natürlich hatte sie Grell nicht davon abhalten können, mehrere rote Krawatten zu kaufen. Ab und zu zog sie zwar eine von ihnen an, aber überwiegend trug sie ihre Bluse einfach nur mit dem ersten Knopf oben offen. „Kannst du nicht wenigstens momentan ein wenig netter zu ihm sein, Alice? Du weißt doch, seit dem Vorfall ist er total niedergeschlagen.“ Besagter Vorfall war das Disziplinarverfahren, das Grell vor 5 Monaten, also kurz nach ihrer Abschlussprüfung, über sich hatte ergehen lassen müssen. Carina hatte sich schlagartig an das letzte Manga Kapitel erinnert, was sie von Black Butler gelesen hatte. Wie sie Grell zum ersten Mal gesehen hatte, als er sich als Jack the Ripper und Shinigami zu erkennen gegeben hatte. „Also hat die Handlung des Mangas eingesetzt“, hatte sie gedacht und trotzdem nicht gewusst, was sie davon halten sollte. Grell hatte bei seiner ganzen Aktion selbstverständlich nicht nur gegen eine Regel der Shinigami verstoßen. Nein, natürlich hatte der Rothaarige direkt übertreiben müssen und ganze drei Regelverstöße begehen müssen. Erstens hatte er Menschen getötet, die nicht auf der Liste gestanden hatten. Einer der Verstöße, die wirklich von niemandem toleriert wurden und erst recht nicht von William. Dann hatte er anscheinend ohne die Erlaubnis der Personalabteilung einfach seine Death Scythe modifiziert, was dementsprechend zur Regelverstoß Nummer 2 führte. Ihm fehlte dadurch natürlich ebenfalls die Genehmigung, die ein Shinigami für die Nutzung der modifizierten Death Scythe brauchte. Hallo Regelverstoß Nummer 3. „Typisch Grell, er muss ja auch immer übertreiben“, hatte Carina gedacht und lediglich den Kopf geschüttelt. Seitdem war ihr bester Freund und Mentor ziemlich schlecht gelaunt. Was nicht wirklich verwunderlich war. Zwei Monate hatte er auf gar keine Mission gehen dürfen und die letzten drei Monate hatte er mit leichten Aufgaben verbracht, die selbst ein nicht ausgebildeter Seelensammler erledigen konnte. „Hoffentlich hat William bald ein Einsehen, noch länger halte ich sein Gejammer nämlich nicht aus“, sagte sie laut und Alice schnaubte entrüstet. „Versteh mal einer, warum du Mitleid mit ihm hast. Er hat es schließlich nicht anders verdient. Und überhaupt, hast du am Anfang nicht gesagt, dass er dir deswegen mehr beim Training helfen konnte?“ „Ja, stimmt schon“, gab Carina zu. Immerhin hatte sie noch lernen müssen mit ihrer Death Scythe umzugehen und da war ihr Grell, wie auch schon zu ihrer Ausbildung, ein guter Trainingspartner gewesen. Zu Anfang hatte sie ein paar Hemmungen gehabt, aber mittlerweile klappte es richtig gut. Ihre Death Scythe fühlte sich nicht länger wie eine Waffe, sondern viel mehr wie eine Verlängerung ihres rechten Armes an, wenn Carina sie schwang. „Ja, Gott sei Dank. Am Anfang war das echt nur peinlich. Ich hab es doch tatsächlich geschafft, mir meine eigene Death Scythe gegen den Kopf zu schlagen“, erinnerte sie sich und konnte sich noch ziemlich gut an Grells Lachanfall erinnern. William war ebenfalls zufrieden, denn mittlerweile hatte sich ihre Zeit beim Seeleneinsammeln deutlich verbessert. „Ja, momentan kann ich mich wirklich nicht beschweren“, dachte sie und lächelte. Sie hatte einen Job, eine schöne neue Wohnung und gute Freunde, mit denen sie über alles reden konnte. Was konnte jetzt noch schief gehen? „Ich soll mit dem da zusammenarbeiten?“, rief sie und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Ronald, der ihr grinsend entgegensah und einmal zwinkerte. „Das können Sie mir nicht antun“, sagte sie an William gewandt. Dieser seufzte genervt. „Reißen Sie sich zusammen. Wir reden hier immerhin nur über einen Auftrag, so lange können Sie sich ja wohl professionell verhalten, oder etwa nicht?“ Carina unterdrückte ihr Verlangen, die Augen zu verdrehen. Womit hatte sie das nur verdient? „Na schön“, murmelte sie kleinlaut, denn William war ja immer noch ihr Vorgesetzter. Der schwarzhaarige Shinigami wirkte zufrieden. Die junge Frau schien doch ein wenig mehr Manieren zu haben als Grell. Apropos… „Mr. Sutcliff wird zwischen dem 19. und 20. April zu Ihnen aufschließen, da er vorher noch einen anderen Auftrag zu erledigen hat. Es wird also seine erste richtige Mission seit seinem Disziplinarverfahren sein. Und ich kann nur hoffen, dass er es dieses Mal nicht vermasselt.“ Carina freute sich zwar kurz für ihren Mentor, runzelte aber dennoch irritiert die Stirn. „Darf ich fragen, für welchen Auftrag sie gleich drei Shinigami auf einmal brauchen?“ „Ja, das würde mich auch interessieren“, sagte Ronald und William räusperte sich kurz. „Am 17. April wird ein Passagierschiff namens „Campania“ vom Hafen in Southampton in See stechen, mit dem Ziel 3 Wochen später New York City zu erreichen.“ Carina hob eine Augenbraue. Von Southampton nach New York? Irgendwie kam ihr das wage bekannt vor… „Auf diesem Schiff werden sich viele Todesfälle ereignen, daher wird dementsprechend auch mehr Personal benötigt.“ Er nahm 2 kleine, in schwarzes Leder eingebundene, Notizbücher von seinem Schreibtisch und reichte den beiden jungen Shinigamis jeweils eines. Carina schlug sogleich die erste Seite auf und was sie da sah, ließ sie erstarren. Es fühlte sich an, als hätte jemand ihr Herz genommen und in einen Eimer voller Eiswürfel gesteckt. „D-das…das ist doch nicht wahr“, stammelte sie vollkommen fassungslos und blätterte weiter. Selbst Ronald konnte sie neben sich kurz schlucken hören. Das hier waren hunderte Namen. Hunderte Bilder. Hunderte Tote. Carina wurde übel. „W-was zum Teufel wird dort nur passieren?“, flüsterte sie und wurde noch eine Spur bleicher, als sie nun auch die ersten Kinder unter den zukünftigen Opfern entdeckte. Noch nie hatte sie einem Kind die Seele nehmen müssen. „Selbst wir wissen nicht über die genaueren Umstände Bescheid. Allerdings lässt sich anhand der Tatsache, dass ungefähr 80 % der Menschen durch Herzversagen sterben eine Theorie aufstellen.“ „Das Schiff wird sinken“, murmelte Ronald und nun ging Carina ein Licht auf. „Natürlich. Das ist wie bei der Titanic“, dachte sie. Natürlich hatte sie den Film gesehen und natürlich hatte selbst sie sich damals die Augen ausgeheult. Sie war niemals der emotionale Typ beim Filmeschauen gewesen, aber diese schrecklichen Szenen und die Tatsache, dass all dies wirklich passiert war, hatten selbst ihr den Rest gegeben. „Sag mir bitte nicht, dass die Autorin von Black Butler die Titanic als Vorbild nimmt für diesen Vorfall“, betete sie stumm, obwohl sie genau wusste, dass dies für sie keinen Unterschied machen würde. Ronald und sie würden auf dieses Schiff gehen und sie würden diese Seelen einsammeln müssen, ob es ihnen nun passte oder nicht. „Wie bereits gesagt wird das Schiff am 17. April – also in 2 Tagen – auslaufen. Die Opfer sterben alle zwischen dem 19. und dem 20. April. Sie werden das Schiff also bereits am 17. April betreten und sich bis zum Beenden ihres Auftrages dort aufhalten.“ Carina konnte nur mit sehr großer Mühe ein Stöhnen unterdrücken. Als ob die ganze Sache nicht schon schlimm genug wäre, jetzt musste sie auch noch 4 Tage lang zusammen mit Ronald auf dieses verdammte Schiff. „Warum teleportieren wir uns nicht einfach am 19. April auf das Schiff?“, fragte Ronald und Carina schöpfte neue Hoffnung. „Bei einem Auftrag, der so viele Todesfälle beinhaltet, müssen die Umstände ganz genau geprüft werden. Ich möchte nicht nur, dass die Seelen eingesammelt werden. Ich möchte auch wissen, wie es dazu kommt, dass wir überhaupt so viele Seelen einsammeln müssen. Und da ist noch etwas, was Sie wissen sollten.“ Sein ohnehin schon ernster Blick wurde nun noch ernster. „Schlagen Sie doch bitte Seite 23 auf.“ Carina und Ronald kamen der Bitte nach und Carina zuckte zusammen, als Ronald neben ihr erschrocken aufkeuchte. „Aber wie ist das möglich?“, sagte er und deutete auf eine sehr junge Frau mit dem Namen Margaret Connor. „Dieses Mädchen…Ich habe ihre Seele doch bereits vor 2 Wochen eingesammelt.“ „Wie bitte?“, entfuhr es Carina und Ronald nickte. „Ja, ich bin mir ganz sicher. Ich dachte noch was für eine Verschwendung, sie sah wirklich verdammt gut aus.“ Nun verdrehte Carina tatsächlich die Augen, selbst William wirkte wenig angetan. „Jedenfalls ist dies kein Einzelfall.“ „Ja, den hier habe ich bearbeitet“, unterbrach Carina ihn, die nun auch ein ihr bekanntes Gesicht entdeckt hatte. „Ist bestimmt erst einen Monat her.“ „Die Einträge wurden mehrmals überprüft und als richtig eingestuft. Der Fehler liegt also nicht bei der Registratur. Dennoch wurde uns berichtet, dass Menschen gesichtet wurden, deren Seelen schon vor einiger Zeit hätten eingesammelt werden sollen. Was zur Folge hat, dass die Verwaltung eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen unsere Abteilung eingereicht hat.“ Carina und Ronald hatten mit einem Mal denselben empörten Gesichtsausdruck. „Wir haben diese Seelen eingesammelt“, sagte Carina - nun ein wenig zornig - und Ronald nickte bestätigend. William nickte. „Daran habe ich keinen Zweifel. Immerhin kenne ich Ihre Kollegen und Sie ganz genau. Solche Fehler würden meinen Angestellten nicht passieren, das habe ich auch meinen Vorgesetzten so mitgeteilt. Jedenfalls liegt es jetzt an uns, die Angelegenheit zu prüfen. Es ist also von äußerster Dringlichkeit, dass sie herausfinden was auf diesem Schiff vor sich geht. Ich verlasse mich darauf, dass Sie Licht ins Dunkel bringen werden und den guten Ruf unserer Abteilung wiederherstellen.“ Carina und Ronald nickten synchron. Solche Anschuldigungen würden sie sich bestimmt nicht gefallen lassen. 5 Minuten später verließen sie zusammen das Büro und Ronald seufzte einmal ausgiebig. „Auf was wir uns da wohl einstellen können? Leichen, die einfach weiter rum laufen? Wo gibt es denn so was?“ „Mach dich nicht lächerlich. Menschen können ohne Seele nicht weiter existieren. Da muss irgendein Trick dahinter stecken“, antwortete Carina, machte sich innerlich aber selbst ihre Gedanken. Was würde sie auf der Campania nur erwarten? Wie würde dieser Auftrag ablaufen? Und wieso hatte sie so ein verdammt ungutes Gefühl bei der ganzen Sache? Ehe die 18-Jährige sich versah hatten sie auch schon den 17. April. Sie stand sehr früh auf, packte das Nötigste zusammen und verabschiedete sich anschließend von Alice, die ihr noch ein schnelles „Komm bald wieder und pass auf dich auf“ hinterher rief. Dann traf sie sich mit Ronald – der einen furchtbaren schwarzen Hut trug – vor dem Institut, von wo aus sie sich gleichzeitig nach Southampton teleportierten. „Herr im Himmel“, war das Erste, was Carina zu dem neuen Anblick einfiel. Der Hafen war gerammelt voll, sie hatte noch nie so viele Menschen auf einem Haufen gesehen. Ihr Blick fiel auf das Schiff und erneut spürte sie dieses flaue Gefühl im Magen. „Das verdammte Schiff sieht auch noch irgendwie genauso aus wie die Titanic“, dachte sie seufzend, während Ronald und sie sich unauffällig unter die Leute mischten. Sie konnte einige Blicke auf sich spüren und wusste auch sogleich, woran das lag. Ronald anscheinend auch. „Ich hab dir doch gesagt, zieh ein Kleid an“, murmelte er und schielte kurz zu ihrer schwarzen Hose, die auch von dem schwarzen Mantel den sie trug nicht verdeckt wurde. „Hättest du wohl gerne“, murmelte sie zurück und achtete darauf, dass ihre Death Scythe zu keiner Zeit für die Menschen sichtbar wurde. Denn das hätte ihr wohl doch einige unangenehme Fragen eingebracht. „Sag mal, was ist eigentlich in dem Koffer?“, fragte sie und Ronald lächelte. „Meine Death Scythe“, antwortete er und klopfte einmal liebevoll auf das Gepäckstück. „Deine...“, begann sie und brach irritiert ab. Was für eine Death Scythe hatte er bitteschön, die so viel Platz in Anspruch nahm? „Ich werde es schon noch früh genug herausfinden“, dachte sie, während Ronald sich vor ihr durch die Menge kämpfte. Plötzlich ertönte eine laute Männerstimme. „Wir werden in Kürze in See stechen. Alle Passagiere bitte jetzt an Bord.“ Carina fluchte. Das hatte ihnen gerade noch gefehlt. William würde vermutlich durchdrehen, wenn sie das Schiff verpassten. „Hey, weißt du zufällig, wo der Eingang zur zweiten Klasse ist?“, hörte sie Ronald vor sich jemanden fragen, achtete jedoch nicht weiter auf ihn und schaute sich selbst nach dem Eingang um. „Hier lang, Carina“, rief Ronald jedoch kurze Zeit später, packte sie am Handgelenk und zog sie mit schnellen Schritten hinter sich her. Er ließ sie erst wieder los, als sie das Schiff betreten hatten. Carina war komplett außer Atem, aber dennoch froh, dass sie es auf das Schiff geschafft hatten. Bisher war alles so verlaufen wie geplant und doch…Irgendwie konnte sie sich nicht ganz entspannen. Immer noch spukten Williams Worte in ihrem Kopf herum. „Wandelnde Leichen…das muss einfach ein Fehler sein“, dachte Carina und klammerte sich an diese Hoffnung. Allein die bloße Vorstellung war einfach absurd. Von lautem Jubel begleitet setzte sich die Campania nun in Bewegung. Ronald lehnte sich gegen die Reling und stieß laut die angehaltene Luft aus. „Puh, gerade noch rechtzeitig. Wir haben es wie geplant an Board geschafft, also…“ Er nahm sich den schwarzen Hut vom Kopf und sah lächeln nach unten auf den Steg zurück. „Volle Kraft voraus in eine glänzende Zukunft! Zumindest für uns.“ Carina hätte ihm für seine gute Laune, die im Hinblick auf die baldigen Ereignisse einfach absolut unangebracht war, am liebsten eine heruntergehauen. Doch sie tat es nicht. Denn tief in ihrem Inneren wusste sie, dass er Recht hatte. Innerhalb weniger Tage würden über tausend Menschen auf diesem Schiff ihr Leben verlieren. Doch Ronald und sie würden überleben. Sie würden alles überleben. Und erneut wurde Carina mit einem schmerzhaften Stechen in ihrer Brust klar, warum das Dasein als Shinigami eine Strafe war. Kapitel 21: Mehr als nur ein Spiel ---------------------------------- „So, da wären wir“, sagte Ronald und stieß die Tür auf, bevor er sich leicht vor Carina verbeugte und in den Raum hinein deutete. „Ladys First.“ „Dieses alberne Getue kannst du dir sparen“, antwortete die 18-Jährige genervt und betrat nun das Zimmer in der zweiten Klasse. „Oh man, wenn diese Zimmer hier schon so gut eingerichtet sind, dann will ich nicht wissen, wie luxuriös die Zimmer in der ersten Klasse aussehen“, dachte sie gleich darauf und nahm sich die Zeit, die Einrichtung zu mustern. Alles war perfekt aufeinander abgestimmt worden. Die Tapete mit den goldenen Verzierungen, die Möbel aus dunklem Holz, das große Bett mit dem cremefarbenen Lacken… Carina stutzte plötzlich. „Ronald“, begann sie und Angesprochener bemerkte den unheilverkündenden Tonfall in ihrer Stimme sofort. Er schaffte es gerade noch die Tür zu schließen und seinen Koffer neben das Bett fallen zu lassen, da traf ihn auch schon ihr zorniger Blick. „Das hier ist ein Doppelzimmer.“ „Na und?“, sagte er und versuchte dabei komplett unschuldig zu klingen. „Wir sind doch auch zu Zweit.“ „Das hier ist ein Doppelbett“, fuhr sie fort und klang nun so gereizt, dass der junge Shinigami vorsichtshalber einen Schritt zurück trat. „Damit hab ich nichts zu tun. Was kann ich denn dafür, dass sie hier nur Doppelzimmer mit einem Bett haben?“ „Dann macht es dir ja bestimmt nichts aus, bis übermorgen auf der Couch zu schlafen“, erwiderte Carina mit zuckersüßer Stimme, woraufhin ihr Gegenüber sich stumm geschlagen gab. „Na schön“, sagte er und stellte seinen Koffer neben die Couch, die vermutlich zu klein für ihn sein würde. „Aber vielleicht überlegst du es dir ja noch mal anders, Carina. Viele Frauen würden sich freuen, wenn sie mit mir in einem Bett schlafen dürften.“ „Das glaub ich dir auf’s Wort“, antwortete Carina trocken und strich sich eine ihrer blonden Haarsträhnen aus der Stirn. Sie konnte sich sogar ziemlich genau vorstellen, welche Frauen Ronald damit meinte. Allein in der Registratur und in der Personalabteilung würden ihr da schon so einige Beispiele einfallen… „Oh man, die Zeit bis übermorgen wird niemals rum gehen“, murmelte sie leise und legte ihre Death Scythe aufs Bett. „Nun ja, ich mach mich dann mal auf Erkundungstour“, sagte Ronald grinsend und schien kurz zu überlegen. „Ah ja, ich denke ich werde mit der dritten Klasse anfangen.“ „War ja klar“, dachte Carina und sah Ronald dabei zu, wie er das Zimmer verließ. In der dritten Klasse hatten die Leute sicherlich wesentlich mehr Spaß, als die Menschen in der ersten und zweiten Klasse. Nein, hier waren nur Lords und Ladys, die sich für Spaß alle zu fein waren. Viel lieber wurde hier gegessen, getrunken und über andere Leute getratscht. Wie sie Ronald kannte, würde er die komplette Zeit in der dritten Klasse verbringen und sich amüsieren. „Na ja, er hat ja auch die Ruhe weg. Wie kann er nur so entspannt sein?“, dachte sie und erneut schossen ihr Williams Worte ins Gedächtnis. Wandelnde Leichen…Konnte das wirklich möglich sein? Aber wie? Seit Tagen zerbrach sie sich den Kopf über diese Frage, fand aber keine Antwort. „Selbst Mr. Crow wüsste keine Antwort, falls dieser Umstand tatsächlich eintreten sollte. Aber vielleicht mache ich mir ganz umsonst Sorgen. Möglicherweise ist es wirklich nur ein verdammt seltsames Missverständnis.“ Egal wie man es auch drehte und wendete, wenn eine Seele einmal den Körper verlassen hatte, dann war das Leben der Person beendet. „Wir müssen wirklich herausfinden was hier los ist“, murmelte die Shinigami und erhob sich in einer fließenden Bewegung. Sie ließ ihren Blazer, den Umhang und ihre Death Scythe auf dem Zimmer, denn Letztere würde sie noch nicht brauchen. Innerhalb der nächsten paar Stunden versuchte die Blondine sich einen groben Überblick über das Schiff zu verschaffen. Und das war bei der beeindruckenden Größe der Campania gar nicht so leicht. Allein die erste Klasse hatte bereits unglaublich viele Räume. Dazu gehörten neben den vielen Passagierkabinen eine riesige Lounge, ein Rauchersalon, ein Foyer, eine Aufzugshalle und noch ein komplettes Deck, das nur Mitglieder der ersten Klasse betreten dürften. „Kein Problem für mich“, dachte Carina schmunzelnd und machte sich für die Menschen um sich herum unsichtbar. Ganz entspannt schaute sie sich die einzelnen Räumlichkeiten an, entdeckte aber nichts Auffälliges. Alles schien so zu sein, wie es sein sollte. Schick gekleidete Menschen, die sich mit Luxus die Zeit der Reise vertrieben. Erneut fühlte Carina sich an die Geschichte der Titanic erinnert. „Im Film war zu dieser Zeit auch noch alles in Ordnung“, dachte sie und biss sich auf ihre Lippe. Verdammt noch mal, diese ganze Situation war einfach nur schrecklich nervenaufreibend. Warum hatte William ausgerechnet sie schicken müssen? Sie war doch noch nicht einmal ein halbes Jahr mit ihrer Ausbildung fertig. Es gab mehr als ein Dutzend Shinigami, die erfahrener waren als Ronald und sie. „Wenigstens kommt Grell noch als Verstärkung. Das beruhigt mich wenigstens ein bisschen“, murmelte sie leise vor sich hin, blieb aber im nächsten Moment wie angewurzelt stehen. Stockend versuchte sie das seltsam drückende Gefühl, das sich plötzlich in ihre Magengegend geschlichen hatte, zuzuordnen. Ihr Blick huschte durch den Raum. Sie befand sich zurzeit in der Lounge; ein Raum, wo die Passagiere der ersten Klasse prunkvolle Kuchen zu sich nehmen konnten und miteinander sprachen. Als sie die Personen ausmachte, die sich gerade an einem der Tische niederließen, wurden ihre Augen groß wie Untertassen. Mit einer raschen Bewegung glitt Carina hinter eine der nahestehenden Säulen. „Verdammt, die sind auch hier?“, schoss es ihr durch den Kopf und immer noch fassungslos beobachtete sie, wie sich Ciel Phantomhive mit seiner Verlobten unterhielt. Neben den beiden Kindern saßen noch ein Junge, der aber bereits etwas älter zu sein schien und zwei Erwachsene, die vom Aussehen her vermutlich die Eltern von Elizabeth waren. Sebastian und ein ziemlich seltsam aussehender Butler standen stumm und unbeweglich neben dem Tisch. Jetzt wusste sie auch, was dieses seltsame Gefühl gewesen war. Die Anwesenheit eines Dämons… Carina war über sich selbst verwundert, als sie bei Sebastians Anblick eine unglaubliche Wut durchzuckte. Jede Aktion, jede Bewegung, jeder Atemzug war lediglich darauf abgerichtet, sich am Ende die Seele dieses Kindes zu holen. Er machte sich ein Spiel daraus, Ciel seine Macht zu geben. Denn Dämonen wussten eines ganz genau. Das Letzte, was ihr Vertragspartner feststellen würde, unmittelbar bevor seine Zeit abgelaufen war, war die Tatsache, dass er oder sie nie wirklich die Fäden in der Hand gehalten hatten. Nein, jegliche Fäden waren dem Menschen in der Sekunde geraubt worden, als er sich auf einen Vertrag mit dem Teufel eingelassen hatte. Der einzige Faden, der ihm geblieben war, war der des unausweichlichen Todes. Doch konnte man es wirklich noch Tod nennen? Konnte man noch von Sterben sprechen, wenn sich der Teufel die Seele zu Eigen machte? „Nein“, dachte Carina und presste ihre Lippen fest aufeinander. Das war schlimmer als der Tod. Die komplette Existenz wurde in diesem Moment ausgelöscht. Es würde so sein, als hätte es diesen Menschen niemals zuvor gegeben. Wie eine Blume, die niemals die Erdoberfläche durchbrochen hatte. Es war widerwärtig und in keinster Weise zu beschönigen. Wenn die Situation eine andere wäre, dann hätte Carina vielleicht die Gelegenheit beim Schopfe gepackt und diese Kreatur der Hölle ein für alle mal erledigt. „Wobei…“, überlegte sie und verließ so unauffällig wie möglich die Lounge. Sebastian war unglaublich stark. Alleine konnte sie es vermutlich nicht mit ihm aufnehmen. Dafür würde sie schon Ronalds und Grells Hilfe brauchen. „Tja, wer weiß. Vielleicht ergibt sich ja eine passende Gelegenheit. Vorausgesetzt Grell springt über seinen Schatten und attackiert – wie war das noch gleich? – seinen geliebten Sebas-chan.“ Bei dem bloßen Gedanken musste sie grinsen. Grell stand wirklich immer auf die falschen Männer. Mittlerweile hatte sie sich wieder sichtbar gemacht und das Deck der zweiten Klasse erreicht. Das Getuschel der Frauen in ihrem Rücken ignorierte sie. Sollten die dummen Gänse doch tratschen, das machte ihr schon lange nichts mehr aus. Mit einem leisen Seufzen trat sie an die Reling und stützte ihre Ellbogen darauf ab. Für einen Moment, nur einen sehr kleinen, schloss sie ihre Augen und versuchte sich zu entspannen. Ihr blondes Haar wehte leicht nach hinten, als der frische Wind des Nordatlantiks durch es hindurch fuhr. Sie sog den salzigen Geruch des Meeres ein und fühlte die letzten Strahlen der untergehenden Sonne auf ihrer Haut. In etwas mehr als zwei Tagen würde von dieser friedlichen Atmosphäre nichts mehr übrig sein. Der Tod lauerte über diesem Schiff und das im wahrsten Sinne des Wortes. „Ach, hier steckst du“, hörte sie plötzlich Ronalds Stimme hinter sich und drehte ihren Kopf in seine Richtung. Mit einem unterdrückten Kichern auf den Lippen trat er aus einem der Aufzüge heraus. Selbst er konnte nicht glauben, wie gut sein Plan bisher funktionierte. Nicht einmal der Earl und sein Butler schienen bisher irgendetwas zu ahnen. Lediglich die Gerüchte hatten sie gehört und es war für ihn dementsprechend keine allzu große Überraschung gewesen, als er sie unter den Gästen der ersten Klasse entdeckt hatte. Er war sich außerdem ziemlich sicher, dass sich irgendwo auf der Campania Shinigami befanden. Nun entfuhr ihm tatsächlich ein Kichern. Sicherlich hatte es die armen kleinen Seelensammler komplett verwirrt, dass plötzlich Leichen durch die Gegend liefen, die keine Seele mehr hatten. „Hehe, das wird mir noch einige vorzügliche Lacher einbringen“, grinste er in sich hinein und schlenderte unbemerkt durch die Aufzugshalle. Noch hielt er sich vor den Augen der Menschen verborgen, aber das würde sich noch früh genug ändern. Immerhin musste er Ryan Stoker und die Aurora Gesellschaft ganz genau im Auge behalten, denn Fehler wären in diesem Stadium seines Plans wirklich ausgesprochen bedauerlich. Seine Augen, wie immer dicht von seinen silbernen Haaren verdeckt, huschten zu einer Traube aus Frauen, die am Eingang zum Restaurant standen und miteinander schwätzten. „Hmm?“, schoss es ihm kurz durch den Sinn, bevor er neugierig ein paar Schritte näher trat. Das die adeligen Frauen tratschten war an und für sich überhaupt nichts ungewöhnliches. Das sie es wie sonst nicht hinter einer vorgehaltenen Hand oder einem Fächer taten allerdings schon. „Also habt ihr sie auch gesehen?“, sagte gerade eine Frau mittleren Alters, ihre rechte Hand lag auf ihrem Brustkorb als hätte sie Herzschmerzen. „Ja. Wie kann dieses unverschämte Weibsbild nur?“, kam es synchron von 2 Mädchen, die nicht älter als 16 Jahre sein konnten. „Unerhört. Wie ein Mann gekleidet einfach über das Deck zu spazieren. Was bildet dieses Mädchen sich nur ein? Das ist ein noch größerer Skandal als die Affäre von Lady Alissa.“ Der Undertaker horchte auf. Eine Frau gekleidet wie ein Mann? Automatisch schob sich ein Bild vor sein inneres Auge. Das Bild eines blonden Mädchens mit marineblauen Augen… Konnte es sein? Konnte es wirklich sein, dass sie hier war? Auf diesem Schiff? Es waren zwei Jahre ohne ein Lebenszeichen von ihr vergangen und doch hatte es ihn immer interessiert, was wohl aus ihr geworden war. Natürlich hatte Carina sein Interesse in dem Moment geweckt, als sie ihm von ihrer Zeitreise erzählt hatte. Er lebte bereits ausgesprochen lange, aber niemals hatte er von so einem Vorfall gehört. Doch es war nicht nur das, was sie so interessant machte. Sie war anders. Anders als jedes weibliche Wesen, womit er es bisher zu tun gehabt hatte. Vieles davon mochte daran gelegen haben, dass sie in einem anderen Jahrhundert geboren worden war, aber hinter ihrem Charakter steckte noch mehr als das. Sie war neugierig und wissbegierig gewesen, hatte sich zu keinem Zeitpunkt davor gefürchtet ihm ihre Meinung zu sagen. Anders als die Frauen in diesem Jahrhundert hatte sie keinen Wert auf Äußerlichkeiten gelegt. Es war ihr nicht einmal peinlich gewesen, für ihn zu arbeiten und sich bei der Pflege der Gräber schmutzig zu machen. Doch was ihn bei weitem am meisten beeindruckt hatte, war ihre Reaktion auf die unmittelbare Gefahr. Als er sie damals am Friedhof hatte abholen wollen und ihre missliche Lage bemerkt hatte, hatte er inne gehalten. Er hatte nicht eingegriffen, ihr nicht diesen betrunkenen Mann vom Halse gehalten. Er hatte lediglich zugesehen und sie beobachtet. Die Angst auf ihrem Gesicht war unverkennbar gewesen, die Anspannung ihrer Schultern offensichtlich. Er konnte sich mit einer Genauigkeit daran erinnern, als ob das alles erst gerade passiert war. Ihr Blick, der zu ihrem Messer gehuscht war und das Entsetzen in ihren Augen, als sie erkannte, dass es zu weit entfernt von ihr lag. Doch mit einem Mal war da Entschlossenheit in ihren Seelenspiegeln gewesen. Sie hatte die Schaufel angehoben und ihrem Gegenüber tatsächlich gedroht. Einem Mann. Jemandem, der größer war. Stärker. In einfach jeder Hinsicht überlegen. „Aber dennoch…“ Sie hatte nicht ein einziges Mal Anstalten gemacht wegzulaufen. Daher war genau das seine Frage an sie gewesen. „Warum bist du nicht weggelaufen?“ Bei Carinas Antwort hatte es all seine Selbstkontrolle eingefordert, nicht zu lachen. Sie hatte schlicht und einfach nicht daran gedacht. Nicht eine Sekunde lang. Und das glaubte er ihr sogar. Langsam und mit federnden Schritten setzte er sich in Bewegung. Er hatte niemals geglaubt, dass sie tot war und dafür gab es einen ganz bestimmten Grund. Es gab keine Leiche. Natürlich hatte er auf ihr Verschwinden hin Nachforschungen angestellt. Schließlich interessierte es ihn nach wie vor, was es mit dieser Zeitreise auf sich hatte. Doch weder in der Öffentlichkeit, noch in der Unterwelt hatte es eine Leiche gegeben. Er hatte sogar sein Informationsnetzwerk ausgeweitet und über die Grenzen Londons hinaus nach dem blonden Mädchen gesucht, doch auch hier hatte er keine Erkenntnisse gewinnen können. Es war, als hätte sie sich plötzlich in Luft aufgelöst. Und genau das hatte er ehrlich gesagt als Erklärung hingenommen. Vielleicht hatte dieselbe Macht, die Carina ins Jahr 1886 geholt hatte, sie wieder zurückgebracht. Konnte sie also wirklich hier sein? „Das wäre schon ein ziemlicher Zufall, wenn wir uns ausgerechnet an diesem Ort wieder über den Weg laufen sollten“, dachte er und schlenderte nun lautlos über das Deck der zweiten Klasse. Und als ehemaliger Shinigami glaubte er eigentlich nicht an Zufälle. Doch in dem Moment, als er auf die rechte Seite des Decks gelangte und halb um eine Ecke gebogen war, sah er sie. Abrupt blieb er stehen. Sie stand – ihm den Rücken zugewandt – an der Reling. Das Erste, was ihm auffiel war, dass sie immer noch die Stiefel trug, die er ihr vor etwas mehr als 2 Jahren besorgt hatte. Sein Blick glitt weiter über ihre schwarze Hose, ihre weiße Bluse und blieb schlussendlich an ihren blonden Haaren hängen, die vom Wind leicht nach hinten geweht wurden. Die Zeit hatte definitiv ihre Spuren bei ihr hinterlassen. Selbst von seiner Position aus konnte er sehen, dass sie um ein paar Zentimeter gewachsen war. Und diese Hose verbarg nun wirklich keine einzige Kurve ihres Körpers. Ein Grinsen huschte ihm unwillkürlich über die Lippen. Anscheinend hatten Hosen an Frauen doch einen Vorteil… Rasch ging er die möglichen Optionen in seinem Kopf durch. Er konnte zu ihr hinüber gehen und endlich erfahren, was damals geschehen war und was sie in den letzten 2 Jahren so getrieben hatte. Oder er unternahm nichts. Doch für die letzte Option war er erstens einfach viel zu neugierig und zweitens war die Wahrscheinlichkeit ziemlich hoch, dass sie den Aufenthalt auf diesem Schiff nicht überleben würde. Viele Menschen würden hier ihren Tod finden. Entweder durch seine Bizarre Dolls oder durch die Tatsache, dass er diesen Kahn versenken würde. Hmm, ja. Er sollte auf jeden Fall mit ihr sprechen. Doch als er sich gerade in Bewegung setzen wollte, ertönte ganz in der Nähe eine Stimme. „Ach, hier steckst du.“ Seine Augen huschten zu einem Jungen, der in Carinas Alter zu sein schien. Er brauchte nur eine Sekunde, um ihn als Shinigami zu identifizieren. Der Anzug, die Brille und natürlich die Augen waren unverkennbar. Also hatte er mit seiner Vermutung richtig gelegen, die Seelensammler befanden sich bereits an Bord. Einige Frauen sahen dem jungen Mann schmachtend hinterher, anscheinend schien er sich für alle Sterblichen sichtbar gemacht zu haben. Aber was wollte ein Shinigami von Carina? Der Silberhaarige drehte seinen Kopf wieder in die Richtung der jungen Frau und was er da sah, wischte ihm das Lächeln komplett und in einer fließenden Bewegung vom Gesicht. Carinas Gesicht war erwachsener geworden, doch das war nicht das, was ihn störte. Es war auch nicht die Brille, die auf ihrer Nase saß. Es waren ihre Augen. Die gelbgrünen Augen der Shinigami leuchteten ihm hinter den Gläsern unverkennbar entgegen. Für einen Moment schien der Undertaker vergessen zu haben, wie man schluckte. „Das ist unmöglich“, wisperte er fast lautlos und starrte immer noch voller Unglaube auf die Szene, die sich ihm bot. Schnell machte die Überraschung jedoch einer nachdenklichen, festen Miene Platz. Er versuchte sich einen Reim auf diese Sache zu machen und sich gleichzeitig selbst zu erklären, wie diese neue Erkenntnis im Zusammenhang zu allem stand. Doch jede Möglichkeit, die er in Betracht zog, warf für ihn nur mehr Fragen auf, als sie schlussendlich beantwortete. Vorsichtig beugte er sich vor, darauf bedacht nicht entdeckt zu werden und verfolgte das Gespräch der beiden Todesgötter. Seine eigenen phosphoreszierenden Augen wurden nun schmal, ein gefährlicher Ausdruck huschte über sein Gesicht. „Interessant. Äußerst interessant“, murmelte er und ein leicht verrücktes Kichern entfuhr nun seinen Lippen. Er würde schon noch herausfinden, was für ein Spiel hier gespielt wurde. Und welche Rolle Carina darin spielte. Kapitel 22: Menschlichkeit -------------------------- „Na? Hattest du Spaß in der dritten Klasse?“, fragte Carina und schaute Ronald dabei zu, wie er sich einen Meter von ihr entfernt ebenfalls an die Reling lehnte. „Es war tatsächlich sehr amüsant. Du solltest das nächste Mal mitkommen. Die haben super Bier und die Stimmung ist echt klasse.“ „Ich dachte mir schon, dass du das sagen würdest. Lass so was bloß nicht William hören. Wenn der Wind davon bekommt, dass du während deiner Schicht Alkohol trinkst, dann gibt es ne Menge Ärger.“ Ronald winkte grinsend ab. „Ach, der soll sich mal nicht so anstellen. Noch ist ja überhaupt nichts passiert. Wir haben noch ewig Zeit, also sollten wir uns ein wenig zurücklehnen und entspannen, meinst du nicht auch?“ Der Undertaker grinste in sich hinein. Dieser Junge schien ja einer von der sehr unbesorgten Sorte zu sein. Es wäre interessant zu wissen, ob das übermorgen auch noch der Fall sein würde. Carina hatte währenddessen geschwiegen und ihren Kopf wieder in Richtung Meer gewandt. Ihre Miene war unergründlich. Ronald entging dies nicht. „Was habe ich jetzt schon wieder falsches gesagt?“, meinte er und kassierte prompt ein Seufzen seiner Partnerin. „Das ist es nicht“, antwortete Carina, ihr Tonfall war ungewohnt ernst. „Ich frage mich nur schon die ganze Zeit, wie du so verflucht ruhig bleiben kannst.“ Der junge Mann runzelte irritiert die Stirn. „Habe ich denn einen Grund, nicht ruhig zu bleiben?“, fragte er und nun drehte Carina ihren Kopf wieder zu ihm. In ihren Augen funkelte etwas, was weder Ronald noch der Undertaker zu deuten wussten. „Ist das dein Ernst?“, begann sie, ihre Stimme war nun nicht mehr ganz so kontrolliert wie zu Anfang des Gesprächs. „In den nächsten Tagen werden so viele Menschen auf diesem Schiff ihr Leben verlieren. Du hast die Liste gesehen.“ Für einen Moment flackerten wieder die Bilder der Kinder in ihrem Gedächtnis auf. „Das hier wird vermutlich eine der größten Tragödien in der Geschichte der Menschheit. Aber dich scheint das alles komplett kalt zu lassen.“ Nun war es an Ronald kurz zu schweigen. Er schien über seine nächsten Worte ganz genau nachzudenken, was an und für sich schon ungewöhnlich für ihn war. „Ich verstehe dein Problem ehrlich gesagt nicht.“ Carina starrte ihn ungläubig an, doch ihr Gegenüber war noch nicht fertig. „Wir sind Shinigami. Es ist unser Job sich um die Seelen der Verstorbenen zu kümmern und sie einzusammeln. Ich bin dem Unterricht nicht halb so oft gefolgt wie du, aber so viel habe ich mitbekommen: In unserem Job müssen wir unsere Gefühle beiseite schieben, denn sie behindern uns nur. Wir Shinigami sollten unsere Gefühle besser im Griff haben als die Menschen, sie machen einen nur angreifbar. Und schlussendlich sind es übermorgen doch nur sie, die sterben werden. Nur Menschen.“ „Nur Menschen“, hallte es in Carinas Kopf mit einer erschreckenden Endgültigkeit wieder. Sie starrte Ronald mit sprachlosem Entsetzen an, dahin war ihre sonst so kontrollierte Miene. „Bis vor zwei Jahren warst du auch noch ein Mensch“, hätte sie ihm am liebsten entgegen geschleudert, doch sie brachte die Worte einfach nicht über die Lippen. Schon öfters hatte sie mitbekommen, dass einige ihrer Kollegen abfällig über die Menschen sprachen. Sie als dumm, naiv und unbedeutend abstempelten. „Diese Narren…“, hatte sie mehr als nur einmal gedacht. Hatten sie denn alles vergessen? Hatten sie vergessen, dass sie selbst einmal Menschen gewesen waren? Oder war dieses ablehnende Verhalten lediglich der Tatsache geschuldet, dass sie nicht an ihr eigenes menschliches Leben erinnert werden wollten? Daran, dass sie versagt und ihrer humanoiden Existenz ein Ende gesetzt hatten? „Denkst du das wirklich?“, sagte sie auf einmal und ihre Augen bohrten sich in die ihres Gegenübers. Sie umfasste jetzt nur noch mit einer Hand die Reling, der Rest ihres Körpers hatte sich nun vollkommen in die Richtung des anderen Seelensammlers gedreht. Ronald hatte sie noch nie mit so einem ernsten Gesichtsaudruck gesehen. „Denkst du wirklich, dass menschliche Gefühle eine Schwäche sind?“ Sie ließ ihm keine Zeit für eine Antwort, sondern fuhr direkt fort. „Ich glaube das nicht. Ganz im Gegenteil. Ich halte es nicht für eine Schwäche, wenn ich mir meine Menschlichkeit erhalte. Das ist doch gerade das, was uns ausmacht. Was uns von Dämonen unterscheidet. Wir waren einmal Menschen, wir haben eine Seele. Mir ist es egal, ob die Anderen oder auch du das alles abstreiten wollt. Ich möchte diese Gefühle nicht verlieren. Mag es das für mich schwerer machen? Ja. Mag das naiv sein? Möglicherweise. Aber würde ich den menschlichen Teil in mir wegschließen und ihn verleugnen, dann wäre ich nicht besser als die Dämonen.“ Mehrere Sekunden lang herrschte drückend schwere Stille. Dann sprach Ronald das aus, was der Undertaker dachte. „Du bist die eigenartigste Frau, die ich jemals getroffen habe.“ Carina hob eine Augenbraue. „Wenn das ein Kompliment gewesen sein soll, dann war es kein Gutes“, antwortete sie, beließ es jedoch dabei. Sie hatte nicht erwartet, dass er es verstehen würde. „Da du dich ja jetzt in der dritten Klasse auskennst, brauche ich sie ja nicht auch noch mal unter die Lupe zu nehmen, oder?“, wechselte sie abrupt das Thema, worauf Ronald sogleich auch einging. „Ich denke nicht. Die dritte Klasse ist ziemlich übersichtlich, wir werden schon keine Probleme haben.“ „Hoffen wir es. Du kennst ja William. Wenn wir die Dienstaufsichtsbeschwerde nicht vollständig entkräften können, dann wird er noch unausstehlicher sein als sonst. Und bevor ich es vergesse… Da gibt es noch etwas, was du wissen solltest.“ Sie warf ihm einen vielsagenden Blick zu. „Earl Phantomhive befindet sich ebenfalls auf diesem Schiff. Und er hat seinen Seelenfresser mitgebracht.“ Ronald wirkte kurz verdutzt. „Ist das nicht dieser Basti? Der, von dem Grell immer so schwärmt?“ „Ja, ganz genau der“, seufzte Carina. Wie bereits gesagt, der Männergeschmack ihres Mentors ließ wirklich zu wünschen übrig. „Jedenfalls könnte er uns in die Quere kommen, deswegen sollten wir lieber auf der Hut sein.“ Während die 18-Jährige sich nun zum Gehen wandte, entfuhr ihr erneut ein Seufzen. „Dabei würde ich ihm am liebsten den Gar ausmachen.“ Ronald grinste. „Wenn ich ihn töte, gehst du dann mit mir aus?“ „Netter Versuch Ronald, aber nein danke“, entgegnete Carina und grinste nun ebenfalls. Er konnte es einfach nicht lassen. Die gelbgrünen Augen des Silberhaarigen blieben für einen Moment an den Lippen der Blondine hängen. Es hatte ihn schon immer fasziniert, was ein Lächeln mit dem Gesicht eines Menschen anstellen konnte. Es verwandelte das Antlitz in etwas gänzlich Neues. Gerade bei den Personen, die so gut wie nie lächelten. Und Carina gehörte definitiv in diese Kategorie. Aber da war noch etwas anderes. „Sie ist selbstsicherer geworden“, stellte er fest und irgendwie fand er Gefallen daran. Das würde die Situation um einiges interessanter machen. Und anscheinend schien sie eine ziemliche Abneigung gegen Sebastian und Dämonen im Allgemeinen zu hegen. Etwas, was sie miteinander gemein hatten. Mittlerweile konnte er seine Neugierde kaum noch zügeln. Sie war ein Shinigami, aber dennoch hatte er nie ihre Leiche zu Gesicht bekommen. Hatte er etwa etwas übersehen? Nein, unmöglich. Sein Netzwerk in der Unterwelt besaß keine Lücken, nicht eine. „Sobald wir die Zeit dazu finden, wirst du mir einige Fragen beantworten müssen, Carina“, dachte er und mit einem erfreuten Glucksen zog er sich nun zurück. Immerhin waren es nur noch zwei Tage bis zum großen Showdown und bis dahin hatte er noch einiges zu erledigen… Zum wiederholten Male starrte Carina auf ihre Armbanduhr. Zu ihrer eigenen Überraschung waren die letzten beiden Tage wie im Fluge vergangen und nun wurde es Zeit, dass sie sich auf den Weg machte. Der erste Todesfall würde sich laut der Liste in 10 Minuten im Rauchersalon der ersten Klasse ereignen. Ronald hatte sie seit Stunden nicht gesehen, vermutlich trank er wieder Bier in der dritten Klasse. „Wehe ihm, wenn er zu spät kommt“, dachte die Shinigami und befestigte ihre Death Scythe an der Hüfte. In dem Moment, wo sie durch die Tür ihrer Kabine trat, machte sie sich für das menschliche Auge unsichtbar. Immerhin konnte sie es sich nicht leisten, jetzt noch von irgendjemandem belästigt zu werden. Ihre Augen huschten zu dem ersten Eintrag in ihrer Liste. „Susanna Connor“, murmelte sie, besah sich kurz das Bild und anschließend die Todesursache. „Hoher Blutverlust. Da bin ich ja mal gespannt“, dachte sie, klappte das kleine Buch wieder zu und richtete ihre Aufmerksamkeit nun auf die doppelseitige Tür des Rauchersalons, der jetzt in Sichtweite kam. Zwei Männer standen zu beiden Seiten der Tür und öffneten sie für die Besucher. „Mein Gott, ich vergaß. Es ist ja unschicklich für den Adel, eine Tür selbst zu öffnen“, ging es ihr genervt durch den Kopf. Mit einer schnellen Bewegung huschte sie zusammen mit zwei Frauen, die sie aber ja nicht sehen konnten, in den riesigen Raum hinein und schaute sich um. Eine riesige Menschentraube hatte sich bereits gebildet, ganz vorne konnte sie Ciel und Sebastian erkennen, die sich eine verdammt lächerliche Verkleidung ausgesucht hatten. „Jeder, der die Beiden kennt, durchschaut das doch sofort.“ Im vorderen Teil des Zimmers stand ein offener Sarg und die Person, die sich darin befand, erkannte Carina trotz der schwarzen Augenbinde auf der Stelle. „Margaret Connor. Das Mädchen, dessen Seele bereits von Ronald eingesammelt wurde. Also muss die Registratur sich doch geirrt haben, denn für mich sieht diese Leiche alles andere als lebendig aus.“ Vor dem Sarg stand ein Mann in einem ganz normalen Anzug, allerdings trug er anstatt einer Anzugsjacke einen langen weißen Kittel. Anscheinend schien es sich bei ihm um einen Arzt zu handeln. Seine Haare waren kurz und braun, altersmäßig schätzte Carina ihn auf Mitte 30. Er schien schon seit einiger Zeit zu sprechen, denn das gesamte Publikum widmete allein seinen Worten ihre ganze Aufmerksamkeit. „…durch einen unglücklichen Unfall verlor Sie ihr Leben. Es war ein tragischer Unfall, den Sie niemals hätte erleiden dürfen. Denn er war nicht nur für Sie selbst, sondern auch für die Psyche Ihrer Familie äußerst ungesund.“ Die Shinigami verdrehte die Augen. Den sie niemals hätte erleiden dürfen… Andauernd passierten Unfälle, so etwas wünschte man doch keinem Menschen. „Deshalb möchte ich nun versuchen, Sie und die Ihren vollkommen zu erlösen.“ Carinas Augen verengten sich. In den nächsten Minuten würde irgendetwas passieren. Und dieser Idiot, der sich als ihr Partner aufspielte, war natürlich noch nicht da. Mit wachsamem Blick schaute sie dabei zu, wie die Gehilfen des Mannes Kabel und Sensoren an der Leiche befestigten. „Also, meine Damen und Herren. Sehen Sie selbst, wozu die Macht der Medizin fähig ist. Sehen Sie die vollkommene Erlösung.“ Zischende Geräusche ertönten, als über die Kabel Strom in die Leiche geleitet wurde. „Aber das kann niemanden wieder zum Leben erwecken. Ob da noch was anderes drin ist?“, überlegte sie, doch jegliche Gedanken ihrerseits kamen im nächsten Moment zum Stillstand. Fassungslos betrachtete sie Margaret Connor, deren Körper sich nun langsam und vollkommen selbstständig aus dem Sarg erhob. „Sehen Sie selbst. Unsere Medizin kann selbst Tote zum Leben erwecken“, rief der Doktor freudig aus und lächelte der überwältigten Menge zu. „Das ist unmöglich“, hauchte Carina und starrte weiterhin das Mädchen an, das nun von ihren Eltern umringt wurde. Die Mutter – Susanna Connor, wie Carina nun erkannte – umarmte ihre Tochter und rief: „Margie! Meine liebe Margie!! Ich danke Euch, Doktor.“ Plötzlich klatschte das Publikum begeistert und es wurden Rufe laut. „Das ist die „vollkommene Erlösung“!“ „Diese Idioten. So etwas wie eine vollkommene Erlösung gibt es doch gar nicht“, schoss es der 18-Jährigen durch den Kopf. Verdammt, was ging hier nur vor? „Wie hat er das gemacht?“, hörte sie Ciel rufen, anscheinend waren er und Sebastian genauso erstaunt wie alle Anderen auch. Susanna Connor hielt ihre Tochter immer noch fest umklammert, als wollte sie sie nie wieder los lassen. Carina wusste plötzlich, im Bruchteil der einen Sekunde bevor es passierte, dass dort vorne etwas fürchterlich schief ging. In einer fließenden Bewegung öffnete sich der Mund der Leiche bis zum Anschlag, um sich dann mit einem widerlichen Zuschnappen in dem Hals der Mutter zu versenken. Carina konnte nicht verhindern, dass sie vor Schreck zusammenzuckte. Blut spritzte in alle Richtungen, Susanna Connor stieß einen fürchterlich lauten Schrei aus. „Ma…Margie…?! Was tust d…Aaargh!“ Es war für die Shinigami keine große Überraschung, dass nun Panik in der Menge ausbrach. Die Leute stürzten alle gleichzeitig zum Eingang hinaus und rannten sich dabei fast gegenseitig über den Haufen. Um nicht von Ciel und Sebastian entdeckt zu werden, begab sich Carina ebenfalls nach draußen, blieb aber dann dicht hinter der Tür stehen. Gerade wollte sie sich dem Spektakel erneut widmen, als plötzlich Ronald neben ihr auftauchte. „Tut mir Leid, ich hab die Zeit ein wenig vergessen“, sagte er. In jeder anderen Situation hätte Carina ihm nun einen zornigen Blick zugeworfen, doch dafür hatten sie jetzt keine Zeit. Schnell und in zusammengefassten Worten erklärte sie ihm, was in den letzten 10 Minuten passiert war. „Hört sich ja nicht so großartig an.“ „Das ist wohl die Untertreibung des Jahrhunderts“, entgegnete Carina trocken und schaute Sebastian dabei zu, wie er Küchenmesser auf die Leiche warf. Sie trafen sie direkt im Hals und im Brustkorb, doch das schien das Mädchen überhaupt nicht zu stören. Auch die Pistolenschüsse der Gehilfen des Doktors machten ihr überhaupt nichts aus, woraufhin sie gleich die nächsten zwei Opfer zum Fressen gefunden hatte. „Unfassbar“, murmelte Ronald. „Ich nehme mal an, wir müssen uns Ihren Kopf vornehmen?“ Carina nickte zögerlich. „Ja, das denke ich auch. Ich hab zwar keine Ahnung, wie dieser Vorgang funktioniert hat, aber sie kann keine Seele haben, so viel steht fest. Also bleibt uns wohl nur diese Aktion. Aber momentan sind der Earl und sein Butler da drin. Vielleicht sollten wir uns besser nicht einmischen.“ Ronald grinste und öffnete nun seinen Koffer. „Du kannst ja hier bleiben, ich leiste den Beiden nur zu gerne Gesellschaft.“ Nun warf Carina ihm doch einen genervten Blick zu. „Mach doch, was du willst“, sagte sie und schaute etwas irritiert auf die Death Scythe ihres Partners. „Ein Rasenmäher? Das ist nicht dein Ernst“, sagte sie, wurde aber von einem Ausruf Ciels unterbrochen. Dieser befand sich nun zusammen mit Sebastian ganz allein vor der wandelnden Leiche. „Wie zum Teufel bringt man so etwas um?“, fragte Ciel seinen Butler, der sich anscheinend selbst seine Gedanken darüber gemacht hatte. „Ich würde sagen, indem man es so weit zerlegt, dass es sich nicht mehr bewegen kann“, antwortete er auf die Frage seines Meisters. Diesen Moment wählte Ronald, um das Duo auf sich aufmerksam zu machen. „Diese Dinger kann man nur töten, wenn man Ihnen den Schädel zermalmt.“ Mit einem Sprung war er bei dem Mädchen. Carina rümpfte angewidert die Nase, als der Kopf der 17-Jährigen durch den Rasenmäher gedreht wurde. „So geht das“, sagte Ronald grinsend, die Sache schien ihm mächtig Spaß zu machen. „Da muss man den Bogen schon raus haben“, fügte er noch arrogant hinzu und schlug seine Liste auf. „Wusste ich’s doch, die hat schon lange den Löffel abgegeben. Und ich hab denen noch gesagt, dass ich Sie längst eingesammelt habe…“ Nicht auf Sebastians und Ciels verdutzte Mienen achtend, ging er zu der Leiche der Mutter. „Aber die hier steht noch auf der Liste. Also los.“ Erneut benutzte er seine Death Scythe und die Cinematic Records schossen wie gewohnt hervor. „Susanna Connor, geboren am 23.07.1841…gestorben am 19.04.1889 an einem Schock durch hohen Blutverlust. Besondere Anmerkungen…keine. Untersuchung abgeschlossen.“ Er setzte seinen Stempel und Ciel schien nun endlich kapiert zu haben, wen er vor sich hatte. „Ein Shinigami?“, murmelte er und Ronald schaute ihn an. Carina sah von der Tür etwas fassungslos dabei zu, wie zuerst Sebastian und dann Ronald sich gegenseitig vorstellten. Das Ronald so ruhig blieb, hatte sie ihm gar nicht zugetraut. „Es ist gut, dass sie mich noch nicht zu Gesicht bekommen haben.“ Sebastian würde sicherlich relativ schnell auffallen, dass er sie schon einmal getroffen hatte. „Damals beim Undertaker…Nachdem ich diesen seltsamen Traum hatte“, dachte sie, schüttelte den Gedanken aber relativ schnell wieder ab. Für so etwas hatte sie momentan wirklich keine Zeit. „Ihr sagtet eben, dass man diese Kreaturen nur töten kann, indem man Ihnen den Schädel zermalmt. Wisst Ihr als Shinigami vielleicht etwas über diese wiedererweckten Toten?“, fragte Sebastian und klang nach Carinas Geschmack beinahe schon zu höflich. Aber nach überraschter war sie, als Ronald dem Butler tatsächlich antwortete und das sogar ziemlich ausführlich. „Nö, nix genaues jedenfalls. Ich weiß nur, dass die Hüllen einiger Seelen, die wir bereits eingesammelt hatten, wieder aktiv geworden sind. Was uns eine Dienstaufsichtsbeschwerde von der Verwaltung eingebracht hat, weshalb ich jetzt hier bin, um die Sache zu untersuchen. Und wie ich mir schon dachte, haben wir es mit waschechten Leichen ohne Seele zu tun. Schließlich erinnere ich mich noch genau daran, dass ich Margaret Connors Seele bereits vor zwei Wochen eingesammelt habe.“ Ciel legte nachdenklich eine Hand an sein Kinn. „Es handelt sich also nicht um wiedererweckte Tote, sondern lediglich um wandelnde Leichen.“ „Ist es denn überhaupt möglich, dass Körper ohne Seelen umherwandeln?“, fragte Sebastian und Carina schnalzte leise mit der Zunge. Natürlich, der Dämon interessierte sich wieder nur für die Seelen. „Die „Oben“ sagen zwar, das sei unmöglich, aber da sie – wie ihr gesehen habt – doch umherwandeln, wurden wie von der Vereinigung entsandter Todesgötter mit der Untersuchung der Sache beauftragt“, antwortete Ronald schulterzuckend, als hätte er mit der ganzen Angelegenheit nicht viel am Hut. „Und das Einzige, das Ihr bisher herausgefunden habt, ist, dass man Sie nur töten kann, wenn man Ihnen den Kopf zermalmt?“ Ronald seufzte. „Ja, auch wenn man Sie genau genommen nicht „tötet“, sondern nur „am umherwandern“ hindert.“ Ciel setzte sich ganz plötzlich in Bewegung, Sebastian dicht hinter sich. „Dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als diesen Ryan zu befragen. Gehen wir“, sagte der Junge, doch er kam nicht sehr weit. Ein lautes Surren ertönte und Sebastian drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um Ronalds Rasenmäher knapp vor seinem Gesicht abzufangen. „Wenn die Verwaltung spitzkriegt, dass ein Teufel auf dem Schiff war, mosern die bestimmt wieder rum und beschuldigen mich womöglich Ihnen zu verheimlichen, dass ich mir von einer Bestie Seelen habe klauen lassen.“ Ein unheimlicher Ausdruck, gepaart mit einem Lächeln trat nun auf Ronalds Gesicht. „Und da ich keinen Bock auf diesen Rummel plus Überstunden habe, schlage ich vor, dass du dich jetzt in Luft auflöst.“ Carina konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Natürlich würde Sebastian keineswegs einfach so verschwinden und das wusste Ronald auch ganz genau. Anscheinend wollte er unbedingt gegen den Frackträger kämpfen. „Soll mir recht sein. In der Zwischenzeit sollte ich schon einmal anfangen, die ganzen Seelen einzusammeln“, dachte sie und machte sich auf den Weg in die zweite Klasse, das schwere Gefühl in ihrem Magen vorerst ignorierend. Dafür hatte sie später immer noch genug Zeit. Kapitel 23: Lebendiger Albtraum ------------------------------- Es war äußerst schwer für ihn gewesen. Während der ganzen Versammlung im Rauchersalon hatte er sich gekonnt unter die Menschen gemischt, damit Carina ihn nicht bemerkte. Während der Vorstellung – und Ryan Stoker hatte sie wirklich zu einer großartigen gemacht – hatten seine Augen auf ihrem Gesicht gelegen. Hatten zuerst die Anspannung gesehen, anschließend die Neugier und schlussendlich das Entsetzen, als das Mädchen sich aus ihrem Sarg erhoben hatte. Er hatte nahezu sehen können, wie es in Carinas Kopf gerattert hatte. Wie sie versucht hatte, sich diese ganze Sache zu erklären, aber keine Antwort fand. Das hatte ihn noch mehr amüsiert, als ihr damaliger Fall über sein Skelett. Und dennoch hatte er die ganze Zeit nicht einmal lachen dürfen. Ja, es war wirklich äußerst schwer für ihn gewesen. Unbemerkt hatte er in der darauffolgenden Panik zusammen mit der Menge den Saal verlassen, es war beinahe schon zu einfach gewesen. Jetzt ging sein Plan in die entscheidende Phase. Wie würde wohl die Bilanz ausfallen? Von welcher Sorte würden am Ende mehr übrig sein? Mittlerweile ertönten ohne Unterlasse verzweifelte und angsterfüllte Schreie auf der gesamten Campania. In den Gängen stapelten sich bereits die Leichen der Passagiere, sie schienen seinen bizarren Puppen eindeutig unterlegen zu sein. „Carina und ihr kleiner Partner werden viel zu tun haben in dieser Nacht“, gackerte er entzückt und legte nachdenklich einen seiner langen Fingernägel ans Kinn. Er hatte noch einiges an Zeit, vielleicht sollte er einmal schauen, wie die junge Frau so zurecht kam. Seine Schritte führten ihn zu der riesigen Aufzugshalle. Hier hielten sich momentan ebenfalls einige seiner wandelnden Leichen auf, allerdings wurden sie ziemlich in Schach gehalten. Und zwar von einer Frau mit Degen. Ihre blonden Haare trug sie in einer vornehmen Hochsteckfrisur, lediglich eine lange Strähne hing ihr seitlich im Gesicht. Das lange und vornehme Kleid schien sie nicht in ihren Bewegungen einzuschränken. Nein, Francis Midford konzentrierte sich lediglich auf den Kampf. Für einen Moment wurde die Miene des Undertakers ziemlich verschlossen. Die gerade Körperhaltung und ihre Gesichtszüge riefen Erinnerungen in ihm wach. Erinnerungen an die Vergangenheit. Und an Sie. Claudia… Mit wenigen, großen Schritten ließ er die Aufzugshalle hinter sich. Seine Finger schlossen sich automatisch um ihr Medaillon, das er an einer langen Kette um seinen Körper geschlungen trug. Nein, er hatte nicht die Zeit sich jetzt mit seinen Erinnerungen zu beschäftigen. Das würde ihm nur wieder jegliches Lachen rauben und es wäre doch zu traurig, wenn es kein Gelächter mehr geben würde. Zum gefühlt tausendsten Mal setzte sie ihren Stempel in das kleine Buch und wandte sich der nächsten Leiche zu. „Nimmt das denn nie ein Ende?“, stöhnte sie und schaute sich die nächsten Cinematic Records an. Natürlich hatten Ronald und sie gewusst, dass die ganze Sache kein Zuckerschlecken werden würde, aber bereits jetzt machte ihr die ganze Angelegenheit mehr zu schaffen als sie zugeben wollte. Und dabei kam das Schlimmste erst noch. Die Campania würde sinken. „Hoffentlich kommt Grell wirklich noch, zu Zweit schaffen wir das doch nie“, dachte sie und schnitt den Cinematic Record einer Frau Anfang 20 durch. Ihre Augen huschten weiter und gleich darauf breitete sich Übelkeit in ihr aus. Die Tote hielt eine kleine Gestalt in den Armen, in ihrem letzten Atemzug schien sie sie ganz eng an ihre Brust gedrückt zu haben. Carina atmete zittrig aus. Jetzt war es wohl soweit. Zum ersten Mal überhaupt würde sie sich die Seele eines Kindes holen. Zaghaft ging sie in die Knie, nur um mehrere Sekunden lediglich stillschweigend zu verharren. Der Junge war laut ihrer Liste gerade einmal 1 Jahr und 2 Monate alt gewesen. Die Shinigami bemerkte kaum, wie sich ihre Fingernägel schmerzhaft in die Innenflächen ihrer Hände bohrten. Selbst sie als Todesgott wusste nicht, wer den Tod eines Menschen festlegte. „Aber ganz egal, welche höhere Macht es auch immer sein mag“, dachte sie und biss sich vor Bitterkeit auf die Zunge, „sie ist grausam. Wie kann man einem solch unschuldigem Geschöpf nur das Leben rauben, bevor es überhaupt richtig begonnen hat?“ Alles in Carinas Körper sträubte sich gegen das Bevorstehende, doch sie hatte keine Wahl. Es war ihre Aufgabe und die musste sie erfüllen. Vorsichtig, fast sanft, senkte sie ihre Death Scythe und ließ sie leicht über die Haut des Kleinkindes fahren. Sofort schossen die Cinematic Records hervor. Sie waren nicht lang, dennoch musste Carina sich zwingen, ihre Augen nicht abzuwenden. Als sie die Aufzeichnungen schließlich durchschnitt und einen Stempel in ihr Buch setzte, benötigte sie ihre ganze Willenskraft, um sich aufzurichten und zur nächsten Leiche zu schreiten. Doch das Bild dieses Kindes wollte nicht verschwinden. Der Junge war die pure Unschuld gewesen. Automatisch dachte sie an die Lilien, die sie damals auf die Gräber der Kinder gelegt hatte und wofür sie standen. Reinheit…Unschuld…Jungfräulichkeit… Es war nicht fair. Es war einfach nicht fair, dass unschuldige Kinder sterben mussten. Carinas Kopf ruckte in die Höhe, als sie laute Geräusche vor sich vernahm. Einige der wandelnden Leichen hatten den Gang betreten, indem die 18-Jährige sich befand und steuerten nun genau auf sie zu. Jegliche Gedanken von zuvor wurden aus ihrem Kopf gewischt, als ein alles umfassender Zorn in ihrem Körper aufwallte. Diesen Kreaturen hatte sie es zu verdanken, dass sie das Bild dieses toten Jungen vermutlich nie wieder vergessen würde. Das würden sie ihr büßen! Beinahe schon unnatürlich schnell zog sie ihre Death Scythe aus der Scheide, das Silber der Klinge blitzte im Licht der Deckenbeleuchtung auf. Mit nur zwei Schritten hatte sie die erste Leiche erreicht. Die Frau, die zum Zeitpunkt ihres Todes vermutlich um die 30 Jahre alt gewesen war, streckte eine Hand nach Carina aus, doch diese gab ihr nicht die Gelegenheit sie zu berühren. Das Katana schnitt durch das Fleisch der Frau wie durch Butter und trennte ihr den Kopf sauber vom Hals ab. Blut benetzte Boden und Decke gleichzeitig, doch Carina wich geschickt zur Seite. Schließlich wollte sie ihre weiße Bluse nicht mit diesem Abschaum beschmutzen. Während der Kopf der ersten Leiche hinter ihr mit einem dumpfen Laut auf dem Boden auftraf und ungeachtet wegrollte, widmete Carina sich bereits den nächsten Toten. Für jeden Außenstehenden hätte das Ganze wie ein Massaker ausgesehen, doch das war es nicht. „Diese Menschen leben nicht. Nicht wirklich. Es gibt keinen Grund, warum ich mich zurückhalten sollte“, dachte sie. Und das tat die Shinigami auch nicht. 2 Minuten später war auf dem Gang wieder Stille eingekehrt, lediglich Carinas etwas schnellerer Atem war zu hören. In einer Bewegung ließ sie ihre nun rote Klinge wieder in die Scheide an ihrer Hüfte gleiten. Vielleicht klang es seltsam, aber sie fühlte sich nun deutlich besser. „Genau wie damals. Damals hab ich mich auch besser gefühlt“, dachte sie und gab sich ihren Erinnerungen hin. Dabei war es erst 1 ½ Jahre her… Ein Schrei entfuhr ihr, als im nächsten Moment ein heftiges Beben das Schiff erschütterte. „Was zum Teufel ist hier los?“, rief sie und hielt sich mit einer Hand an der Wand fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Was konnte bei einem so großen Schiff eine derartige Erschütterung auslösen? Gleich darauf kam ihr ein schrecklicher Gedanke. „Lass es bitte nicht das sein, was ich denke. Bitte nicht“, schoss es ihr durch den Kopf, gleichzeitig lief sie los. Vom oberen Deck würde sie sicherlich einen besseren Überblick bekommen. Dass sie die letzten 10 Minuten von einem gelbgrünen Augenpaar beobachtet worden war, bemerkte Carina jedoch nicht. „Wie ich es befürchtet hatte“, dachte die Blondine 10 Minuten später und starrte den riesigen Eisberg an, mit dem das Schiff offensichtlich kollidiert war. „Großartig. Wirklich großartig“, murmelte sie und kniff mit Daumen und Zeigefinger in ihren Nasenrücken. Das Ganze hier war ein einziger Albtraum. Und es wurde auch nicht besser, als sie plötzlich Grell und Ronald ausmachte. Die Beiden standen ganz vorne an der Reling des Schiffes und selbst aus dieser Entfernung konnte Carina erkennen, dass sie die Titanic Pose machten. Grells rote Haare passten dabei wunderbar ins Bild. „Das ist doch wohl jetzt echt nicht wahr“, stöhnte Carina innerlich auf. Wenn die ganze Situation nicht so ernst wäre, dann hätte sie vermutlich gelacht. So allerdings trat sie nur hinter die Beiden, stemmte ihre Hände in die Hüften und fragte: „Seit ihr jetzt bald mal fertig mit diesem Theater?“ Grell fuhr erfreut herum. „Da bist du ja. Und ich hab mich schon gefragt, warum ich nur von Ronald begrüßt wurde. Immerhin bist du doch meine Lieblingsschülerin.“ Beim letzten Satz begann er zu grinsen und zwinkerte ihr einmal spielerisch zu. Carina erwiderte diese Geste, indem sie die Augen verdrehte. „Ganz abgesehen davon, dass ich deine einzige Schülerin bin, habe ich gearbeitet. Dafür sind wir ja schließlich hier.“ Grell seufzte und schloss im selben Moment genießerisch die Augen. „Entspannt euch doch mal ein wenig und achtet auf die wesentlichen Dinge. Der weite Sternenhimmel. Ein Luxusschiff. Genau die richtige Bühne für eine Diva, um ihre Flügel auszubreiten.“ Carina gluckste, denn solche Ausbrüche war sie von ihrem Freund und Mentor bereits gewohnt. Ronald jedoch sah alles andere als begeistert aus. „Wenn du so weiter redest, gehe ich gleich. Das ist ja fast schon Mobbing.“ „Glaub mir“, begann Grell und zeterte nun ein wenig, „ich wäre jetzt auch lieber mit einem tollen Mann hier statt mit einem Grünschnabel wie dir.“ „Einem tollen Mann…?“, fragte Ronald und Carina sah ihm deutlich an, dass er Sebastian vor Augen hatte. Schnell schüttelte sie, unbemerkt von Grell, den Kopf. Er sollte bloß nicht Sebastian erwähnen, sonst wäre Grells Arbeitsmoral komplett im Keller. Der junge Shinigami schien anscheinend denselben Gedanken gehabt zu haben, denn er nickte ihr kurz zu. „Hmm?“, fragte Grell und drehte seinen Kopf zu den zwei Jüngeren zurück. „Ach nichts“, sagten sie synchron, woraufhin Grell genervt aufseufzte. „Also ehrlich, mit euch macht das irgendwie überhaupt keinen Spaß. Ich hab keine Lust mehr.“ Während Carina diese Aussage nicht wirklich ernst nahm, schlug Ronald seufzend sein Buch auf. „Das ist jetzt wirklich nicht der richtige Moment für solche Spielchen.“ Gleich darauf begann er aus der Liste vorzulesen. „Tim Lumis, geboren am 08.10.1868, gestorben am 20.04.1889 an einem Herzstillstand. Alan Forster, geboren am 21.09.1817, gestorben am 20.04.1889 an einem Herzstillstand. Nick Beaton, geboren am 24.06.1872, gestorben am 20.04.1889 an…siehe oben. Helen Ross, geboren am 17.05.1835…gestorben…siehe oben. Also, wenn ich das richtig sehe haben wir noch 1034 Seelen einzusammeln.“ Während sich in Carinas Magen bereits wieder ein schwerer Kloß bemerkbar machte, fuhr Ronald ungehindert fort. „Und nebenher sollen wir auch noch die Sache mit den wandelnden Leichen untersuchen. Die in der Verwaltung haben doch ein Rad ab.“ Grell wirkte wenig beeindruckt. „Pah! Wegen dem bisschen jammerst du schon rum? Für einen Schnitter ist das Einsammeln von Seelen doch Ehrensache. Und diese Untersuchung erledigen wir locker nebenher.“ „Hoffentlich hast du Recht“, erwiderte Carina, schöpfte aber durch Grells lockere Einstellung neuen Mut. Vielleicht würde das Ganze ja doch funktionieren. Ronald hingegen konnte sich einen kleinen Seitenhieb nicht verkneifen. „Du hast gut reden nach deinem monatelangen Hausarrest.“ Der Rothaarige winkte den Kommentar mit einer Hand ab. „Klappe! Sehen wir lieber zu, dass wir hier fertig werden und dann ab nach Hause. Mit Wills Strafpredigten und ein paar Überstunden komme ich klar, aber so einen Hausarrest tue ich mir nicht noch mal an. Nie wieder, das schwöre ich euch.“ Carina grinste und folgte ihren Kollegen zurück ins Innere des Schiffes. Wenn Grell so dachte, dann schien der Hausarrest seine Wirkung ja nicht verfehlt zu haben. Die drei Shinigami bearbeiteten zuerst den Flur, der zu den Kabinen der ersten Klasse führte. Während sie Seele um Seele einsammelten, wurde Carina wieder ein wenig ruhiger. Dieser Fall hatte sie bisher doch mehr Nerven gekostet, als sie zu Anfang gedacht hatte. Ob William Ronald und sie nur ausgewählt hatte, um zu schauen wie sie mit der Situation zurechtkamen? „Durchaus möglich“, dachte sie und schnitt den Cinematic Record der letzten Leiche auf diesem Gang durch. Ronald blätterte erneut in seinem Buch. Routiniert war er ja, das musste Carina ihm lassen. „Als nächstes kommt der dritte Kesselraum dran. Das heißt, wie müssen ganze fünf Stockwerke tiefer.“ Weder Carina noch Grell waren begeistert. „Fünf Stockwerke? Wie umständlich“, nuschelte Grell. „Nützt ja nichts. Wir sollten uns lieber beeilen, es ist bald soweit“, entgegnete Carina und schaute zum wiederholten Male auf ihre Uhr. Während die Drei sich auf den Weg zum Kesselraum machten, wandte sich das Thema wieder den wandelnden Leichen zu. „Ich frage mich echt, wieso diese Leichen wieder aktiv geworden sind“, sagte Ronald und schob missmutig seinen Rasenmäher vor sich her. „Tja, das versteht keiner. Deshalb sollen wir die Sache ja untersuchen“, antwortete Grell. Carinas Gesichtszüge wurden eine Spur ernster. „Ein Körper, aus dem die Seele entwichen ist, hat keinen Willen mehr. Es ist im Grunde genommen also völlig unmöglich, dass diese Leichen herumlaufen können.“ „Oder besser gesagt“, unterbrach Grell seine Schülerin, „es war unmöglich. In der Welt, die ich kenne.“ Ronald grinste schadenfroh. „Na, dann muss ein Jungspund wie ich das erst recht nicht verstehen.“ Grells Gesichtsausdruck verfinsterte sich schlagartig. „Na, hör mal. Soll das heißen, ich gehöre zum alten Eisen???“ Doch um eine Antwort kam Ronald glücklicherweise herum. Plötzlich ertönte am Ende des Ganges lautes Hufgetrappel. Aber… „Jetzt sagt mir bitte nicht, dass es auf diesem Schiff auch noch Pferde gibt“, rief Carina genervt. Die Antwort kam zwei Sekunden später in Form einer Kutsche mit einem toten Fahrer und zwei toten Pferden um die Ecke gefahren. „Das gibt’s nicht“, keuchte sie komplett verblüfft. „Das ist doch völlig unmöglich“, sagte nun auch Ronald, doch der Begriff „unmöglich“ schien auf diesem Schiff schon lange keine Rolle mehr zu spielen. Zur großen Überraschung der beiden jungen Shinigami grinste Grell nun wieder. „Tja, dann haben wir wohl eine ganze Parade von „Unmöglichkeiten“!“ „Das trifft es wohl ziemlich genau“, ließ die 18-Jährige verlauten und schaute verblüfft dabei zu, wie Grell die Kutsche samt Pferden und Reiter mit einem Hieb teilte. „Hey, das macht richtig Spaß“, jubelte er und richtete seine Death Scythe nun gegen Boden. „Bei so einem Fest ist Zurückhaltung fehl am Platz. Kommt ihr Beiden. Nutzen wir den Schwung und ziehen weiter.“ Mit diesen Worten bohrte er seine Kettensäge durch das Holz und schnitt in rasender Geschwindigkeit ein Loch hinein. „So kommen wir definitiv schneller fünf Stockwerke tiefer“, bemerkte Carina amüsiert an und Ronald seufzte. „Wenn der während deiner Ausbildung genauso war, dann wird mir jetzt so einiges klar.“ In diesem Moment gab der Boden unter ihnen nach. Grell sprang voran, dicht gefolgt von seiner Schülerin und Ronald. „Oh nein“, dachte Carina, als sie erkannte wer dort unten stand und erschrocken zu ihnen hinaufblickte. Sebastian hatte sich schützend vor Ciel und seine Verlobte gestellt und alle Drei schauten die Seelensammler mit größtem Entsetzen an. Grell landete leichtfüßig auf dem Boden und richtete sich langsam auf. Das Grinsen auf seinem Gesicht hätte nicht breiter sein können. Ganz offensichtlich bescherte ihm Sebastians Anblick eine Menge Freude. „Was für ein Prachtkerl“, sagte er und der Dämon im Frack reagierte sofort. „Ihr hier?“, sagte er und wirkte alles andere als begeistert. „Grell Sutcliff“, sagte nun auch Ciel, woraufhin der Rothaarige lachte. „Genaaau. Lange nicht gesehen Sebas-chan. Dass wir uns hier wieder begegnen, muss Schicksal sein.“ „Das ist reiner Zufall“, entgegnete der Butler sichtlich genervt. „Hach, diese kühle Arroganz. Die liebe ich ganz besonders an dir“, schwärmte Grell, während Ronald hinter ihm schwer seufzte. „Herrje, du hast ihn also gefunden. Vergiss nicht, dass wir noch jede Menge Arbeit vor uns haben, Kollege.“ „Der Zug ist längst abgefahren, Ronald. Jetzt hat er nur noch Augen für diesen Aasgeier“, bemerkte Carina spöttisch und Sebastians Blick fiel nun zum ersten Mal auf sie. Zu ihrer großen Überraschung konnte sie in seinem Gesicht ablesen, was er dachte. Er wusste, er hatte sie schon einmal gesehen, konnte sich aber nicht mehr daran erinnern wo. „Hoffentlich bleibt das auch so“, dachte sie. Immerhin sollte der Dämon lieber nicht zu viel über ihre Vergangenheit wissen. Automatisch dachte sie wieder daran, wie er sie in der Zukunft vor dem Auto gerettet hatte. Selbst nach 2 Jahren ließ sie die Unwissenheit, wie und warum sie überhaupt in diese Zeit gelangt war, nicht los. Vielleicht würde sich dieses Rätsel niemals lösen. Jedenfalls war es ihr auch dieses Mal nicht vergönnt, sich eingehender ihren Gedanken zu widmen, denn Grells Ruf halte durch den ganzen Raum und riss sie aus ihrer Starre heraus. „Verdammt, habt ihr Beiden etwa gewusst, dass Sebas-chan hier ist? Warum habt ihr mir das denn nicht gleich gesagt? Dann hätte ich mich wenigstens noch sorgfältig schminken können.“ Kapitel 24: Die Enthüllung -------------------------- „Verdammt, habt ihr Beiden etwa gewusst, dass Sebas-chan hier ist? Warum habt ihr mir das denn nicht gleich gesagt? Dann hätte ich mich wenigstens noch sorgfältig schminken können.“ „Genau das haben wir ja befürchtet, also haben Carina und ich es dir lieber nicht gesagt“, sagte Ronald mit einem einfachen Schulterzucken, was Grell beinahe sofort an die Decke gehen ließ. „Ihr elenden…“, begann er, unterbrach sich jedoch gleich darauf selbst. Hinter seinem Rücken hatten Sebastian und Ciel nämlich gerade versucht sich unauffällig aus dem Staub zu machen. Carina konnte es ihnen nicht einmal verübeln. „Moment mal“, rief Grell und war innerhalb eines Augenaufschlags wieder vor den Beiden, seine Death Scythe über dem Kopf erhoben und bereit zum Zuschlagen. „Hiergeblieben“, meckerte er und die Kettensäge fuhr mit einem lauten Surren herab. Sebastian packte die beiden Kinder und brachte sich mit einem geübten Sprung in Sicherheit. Grell grinste. „Erst machst du mich so an, dass ich in Flammen stehe und dann lässt du mich einfach links liegen? Mistkerl.“ „Dass Ihr Feuer gefangen habt, ist ohne mein Zutun geschehen. Würdet Ihr jetzt also bitte den Weg frei machen, wir haben es eilig“, entgegnete Sebastian sichtlich genervt, was jedoch keinen im Raum großartig beeindruckte. „Und wenn ich nein sage?“, fragte Grell, seine Stimme nahm nun einen zuckersüßen Ton an. „Wendest du dann Gewalt an? Auch gut. Ich stehe auf brutale Kerle. Und ein schönes, heißes Liebesgemetzel ist sogar noch besser als eine Romanze.“ „Also manchmal ist er echt unmöglich“, dachte Carina kopfschüttelnd, während Elisabeth ein verängstigtes „Wer ist das?“ von sich gab. „Nur ein Perverser. Aber er ist ansteckend, also kommt Ihm lieber nicht zu nahe und bleibt schön in Deckung“, antwortete der Butler und stellte sich schützend vor die Verlobte seines Herrn. Im nächsten Moment stürzte Grell nach vorne. „Dann wollen wir mal. Und vergiss nicht, ich lasse nur meinen Gefühlen freien Lauf“, rief er und der Schlagabtausch begann. Carina fand es immer wieder faszinierend, was für gute Reflexe der Rothaarige an den Tag legte. Denn rein äußerlich betrachtet, traute man ihm dies gar nicht zu. Als Sebastian ein weiteres Mal der Säge auswich, bohrte sich diese mit Leichtigkeit in die Wand. „Verflucht“, rief Carina, als mit einem Mal eine große Menge Wasser in den Raum eindrang und alle Anwesenden vollkommen durchnässte. Ciel hielt seine Verlobte im Arm, doch der Wasserdruck war für seinen kleinen Körper einfach zu stark. „Junger Herr“, schrie Sebastian und stürmte in dessen Richtung. Jedoch hatte er nicht mit Ronald gerechnet. Der junge Shinigami warf sich erneut samt Rasenmäher auf den Dämon, wodurch dieser dazu gezwungen war ihn erneut abzuwehren. „Ich bin auch noch da, schon vergessen?“, sagte Ronald und leckte sich das Wasser provokant von den Lippen. Die Augen des Butlers glühten vor Zorn rot auf, setzte er hiermit doch die Sicherheit seines Herrn und Meisters aufs Spiel. Ciel war inzwischen zu Boden gegangen und hustete sich die Seele aus dem Leib. Die Kälte schien ihm nicht sonderlich zu bekommen. Doch als er aufsah, wurde er erst richtig bleich. „Lizzy“, schrie er und Carina drehte sich um. Das blonde Mädchen lag ein Stück abseits im Wasser, doch das war nicht der Grund von Ciels panischem Ausruf. Nein, der Grund waren die Leichen, die sich langsam auf seine Verlobte zu bewegten und ihre vermoderten Hände nach ihr ausstreckten. Der kleine Earl versuchte sich aufzurichten, zuckte jedoch gleich darauf schmerzhaft zusammen. „Er hat sich am Bein verletzt“, dachte Carina und besah sich weiterhin die Situation. Sie hatte nichts gegen das Mädchen, aber als Shinigami dürfte sie sich nicht einmischen. Außerdem wusste Carina, dass Elizabeth Midford nicht auf der Liste stand. „Vermutlich wird Sebastian sie irgendwie retten“, vermutete sie stumm. Doch zuweilen sah es nicht danach aus. Er war immer noch mit Ronald beschäftigt. „Lizzy. Steh auf. Lizzy“, rief Ciel und Angesprochene kam langsam wieder zu sich. Voller Entsetzen starrte sie die wandelnden Toten an, die blanke Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben. „Verdammt“ zischte der Junge und erhob seine Pistole. Einige der Leichen wurden in den Kopf getroffen und sackten zu Boden. Doch es waren zu wenig Kugeln und zu viele Gegner. „Nein, die Kugeln sind alle“ erschrak Ciel, als die Pistole plötzlich nur noch klickte. Diesen Moment wählte Sebastian, um sich von Ronald loszureißen. Doch sowohl der Frackträger als auch die Shinigami sahen, dass er es niemals schaffen würde das Mädchen rechtzeitig zu erreichen. Elizabeths Blick fiel auf Ciel und plötzlich verformten sich ihre zitternden Lippen zu einem Lächeln. „Ich…hätte mich dir so gerne bis zuletzt von meiner lieblichen Seite gezeigt, Ciel“, wisperte sie und Angesprochener streckte panisch seine Hand nach ihr aus. „Vielleicht liebt er sie ja wirklich“, dachte Carina, während der 13-Jährige erneut nach seiner Verlobten schrie. Und dann passierte in weniger als einer Sekunde das Unfassbare. Etwas, womit niemand im Raum gerechnet hatte. Nach Ciels Gesichtsausdruck zu schließen, er am allerwenigsten. Elizabeth richtete sich in einer fließenden Bewegung auf, drehte sich herum und rammte – als würde sie es jeden Tag tun – der ersten Leiche vor ihr einem Degen mitten durch den Schädel. Für einen Moment blieb Carina der Mund offen stehen. Das blonde Mädchen wirbelte mit ihrem Degen hin und her, die Toten fielen nach und nach zu Boden. „Ihre Technik und Reflexe sind unglaublich. Als hätte sie nie etwas anderes gemacht“, dachte Carina und schaute der Fechterin dabei zu, wie sie nun auch noch zwei Leichen beseitigte, die hinter ihrem Verlobten gelauert hatten. Selbst das Kämpfen mit zwei Degen schien ihr nicht besonders schwer zu fallen. „Ich habe mir geschworen, dir diese dunkle, harte Seite von mir niemals zu zeigen. Aber jetzt ist es an mir, dich zu beschützen, Ciel.“ Sie wandte ihr Gesicht den restlichen Toten zu, ihre beiden Waffen schützend vor sich gehalten. „Ich bin die Tochter von Marquis Alexis Leon Midford, dem Anführer der englischen Ritterschaft. Ich bin Elizabeth, die Verlobte des Wachhundes der Königin!“ Die 18-Jährige konnte nicht verhindern, dass Bewunderung in ihr aufstieg. Dieses Mädchen war unglaublich, etwas Besonderes. „Wäre Sie doch nur in meiner Zeit geboren und müsste sich nicht den schrecklichen Begebenheiten dieses Jahrhunderts anpassen. Sie könnte so viel erreichen“, schoss es ihr durch den Kopf. Wie viele Frauen musste es geben, die ihre Talente unterdrücken mussten? Einfach, weil es sich für sie nicht gehörte? Während die Shinigami ihren Gedanken nachgehangen hatte, hatte Elizabeth nun auch die letzten Leichen beseitigt. Ihr Blick fiel als nächstes auf Grell und Carina bewegte sich instinktiv. Ihr Katana schlug mit dem Degen des Mädchens zusammen und brachte sie somit kurz vor Grell zum Stillstand. Elizabeths marineblaue Augen weiteten sich erschrocken und Carina lächelte. Mühelos hielt sie dem Druck der Klinge stand. „Na, was wirst du jetzt machen, Verlobte des Wachhundes der Königin?“, fragte sie, woraufhin Angesprochene sie entschlossen anfunkelte. Grell, der immer noch hinter Carina stand, grinste. Irgendwie erinnerte ihn dieses Kind doch schwer an seine Schülerin. Hatte diese ihn doch auch damals so angefunkelt, als er über ihren Berufswunsch gelacht hatte. Im nächsten Moment wich Carina zwei Schritte zurück, denn Sebastian hatte sich zwischen die beiden Kämpferinnen gestellt. Während er sich bei Elizabeth dafür entschuldigte, dass sie sich selbst hatte verteidigen müssen, kehrte Carina zu ihren beiden Mitstreitern zurück. „Du bist schneller geworden“, murmelte Grell zufrieden. Die Blondine zwinkerte ihm kurz zu, drehte sich dann aber wieder zu Sebastian um. Der Butler hatte seine Aufmerksamkeit nun auf die Todesgötter gerichtet. „Überlasst mir alles weitere, Mylady“, sagte er und zupfte sich einen seiner weißen Handschuhe zurecht. „Maaann! Musst du mir gleich zu Beginn schon den Spaß verderben?“, maulte Grell und zückte erneut seine Death Scythe. „Na, was solls. Dann kämpfen wir eben weiter.“ Gerade als der Dämon sich auf den Rothaarigen stürzen wollte, hielt Ciel ihn zurück. „Warte Sebastian. Wir haben jetzt keine Zeit, uns um die Shinigami zu kümmern. Diesmal ist Ryan die Schlüsselfigur, nur er kann diese Leichen stoppen. Wir müssen ihm nach.“ „Häää? Was sagst du da? Du meinst, wenn wir diesen Ryan ausquetschen, erfahren wir etwas über diese wandelnden Leichen?“, fragte Grell. „Wäre keine schlechte Idee“, warf Carina ein, denn das war immerhin der Hauptgrund, warum sie überhaupt hier waren. „Seht mal, werte Kollegen“, meinte Ronald in diesem Moment und hielt Angesprochenen sein Buch unter die Nase. „Verdammt“, fluchte Carina innerlich, als sie erkannte worauf Ronald hinauswollte. Dieser Ryan stand auf ihrer Liste und er schien kein geringerer zu sein als dieser Arzt, der vorhin die erste Leiche hatte „auferstehen“ lassen. Wenn sie ihn ausquetschen wollten, dann mussten sie sich beeilen. „Verstehe“, murmelte Grell leise und warf den beiden Jüngeren einen kurzen Blick zu. „Dann haben wir wohl tatsächlich keine Zeit zu verlieren.“ Mit einer geübten Bewegung sprangen die drei Shinigami wieder durch das Loch und landeten ein Stockwerk höher. „Was für ein Jammer. Wie’s scheint, müssen wir das hier ein andermal fortsetzen, Sebas-chan“, rief Grell, zwinkerte dem Butler zu und formte gleichzeitig einen Kussmund. „Aber nächstes Mal werde ich dich von Kopf bis Fuß in Rosenrot hüllen, das verspreche ich dir. Also bis dann, Süßer.“ Während Carina in lautes Prusten ausbrach, sah Ronald eher so aus, als müsste er sich jeden Moment übergeben. „Ehrlich, was ist bei ihm nur schief gelaufen?“, murmelte er vor sich hin. „Tze, du solltest mal ein wenig mehr Toleranz zeigen. In einem Jahrhundert wird so was normal sein“, entgegnete Carina. Ronald schaute sie fragend an. „Ach ja, und woher willst du das wissen?“ Erst jetzt bemerkte die Blondine, was sie da eigentlich gerade gesagt hatte. „D…d-das denke ich jedenfalls. Die Gesellschaft entwickelt sich doch bestimmt irgendwann weiter, oder nicht?“ Ronald zuckte die Schultern. „Kann sein. Aber hoffentlich dauert das noch, stell dir mal vor von Grell gäbe es mehrere Ausgaben. Gruselig.“ Carina atmete unbemerkt auf. Das war knapp gewesen. Sie musste mit solchen Aussagen vorsichtiger sein. „Hey, hört auf zu trödeln ihr Beiden. Wir haben nicht mehr viel Zeit diesen Ryan zu finden, schon vergessen?“, rief Grell von vorne, woraufhin die beiden Angesprochenen ihre Schritte beschleunigten. „Ja, aber wo sollen wir mit suchen anfangen? Das Schiff ist riesig, er könnte überall sein“, entgegnete Ronald. Carina schlug ihre Liste auf und besah sich ein weiteres Mal die Seite von Ryan Stoker. „Er stirbt in der Lounge der 1. Klasse. Vielleicht sollten wir da mit unserer Suche beginnen, er könnte sich in der Nähe befinden.“ „Gute Idee“, sagte Grell und die Drei machten sich auf den Weg. Schnell, wie sie nun einmal waren, hatten sie den gewünschten Ort in weniger als 10 Minuten erreicht. Und das Glück schien ihnen dieses Mal hold zu sein. Auf dem oberen Stockwerk der Lounge entdeckten sie Ryan. „Puh, wenigstens das hat heute funktioniert“, murmelte Carina, als das Schiff erneut ordentlich wackelte und nun sogar in eine Schieflage kippte. Keinen Zweifel, das Schiff würde in naher Zukunft sinken. Der Arzt konnte sich nicht mehr halten und rutschte über das obere Geländer. Doch Grell reagierte rechtzeitig. Mit einem Satz war er beim Geländer, packte den Braunhaarigen am Bein und hinderte ihn somit daran in die Tiefe zu stürzen. „Hui, was haben wir denn da für ein Sahneschnittchen? Ich hab diiich.“ „Wahrscheinlich heitert ihn das nicht sonderlich auf“, dachte Carina mit einer Spur von Sarkasmus, denn sicherlich war Grell manchmal schlimmer als der Tod. „Du bist Ryan, stimmt’s?“, fragte Grell nun, das Ganze amüsierte ihn sichtlich. Der Mann, der übrigens immer noch Kopfüber hing, starrte den Rothaarigen entsetzt an. „Wo…Woher wissen Sie, wie ich…?“ „Genug! Sparen wir uns die Formalitäten. Sie sind also derjenige, der diese Leichen mit Hilfe eines Tricks umherwandern lässt“, unterbrach Ronald ihn und lehnte sich zu Grells Missfallen gegen den Rothaarigen, um ebenfalls auf Ryan hinunter zu sehen. Carina begab sich nun an Grells andere Seite. „Ja, den habe ich auf dieser seltsamen Versammlung gesehen. Definitiv steckt er dahinter. Halt ihn ruhig noch ein wenig länger so Grell, spätestens wenn das ganze Blut in seinen Kopf geschossen ist, wird er den Mund aufmachen.“ Grell grinste, hörte sich das doch nach einer verdammt lustigen Idee an. Ronald jedoch sprach weiter. „Wissen Sie, so was Irreguläres geht ja gar nicht, oder?“ Carina und Grell warfen ihrem Kollegen einen kurzen Blick zu, dieser lächelte nun. „Sehr richtig. Denn der Tod ist in dieser Welt eine absolut unumstößliche Regel.“ „Wo er recht hat…“, dachte die 18-Jährige, während Grell anscheinend nun die Geduld ausging. „Und?“, fragte er, seine Augen verengten sich leicht. „Wie kann man diese Leichen aufhalten?“ Ryan schien es nicht eine Minute in den Sinn zu kommen, diese Frage nicht zu beantworten. „In…in meiner Kabine steht ein Apparat, mit dem man die vollkommene Erlösung abschalten kann.“ „Oh man, geht das wieder los. Sie Trottel, es gibt keine vollkommene Erlösung“, erwiderte Carina, nun ebenfalls sichtlich genervt. Grell zog den Mann in eine aufrechte Position. „Nun schön, bring uns in deine Kabine. Und zwar etwas flott, eine Dame lässt man nicht warten.“ 5 Minuten später standen sie in einer der luxuriösen Kabinen der 1. Klasse. „Und?“, fragte Grell, während er gleichzeitig mit einer seiner langen Haarsträhnen spielte. „Wo ist dieser Apparat nun?“ Ryan wirkte mit einem Fall vollkommen entsetzt. „Da…das kann nicht sein… Er war ganz sicher hier. Oh nein…“ Er wurde furchtbar bleich, Carina beobachtete seine Gesichtszüge genau. „Er spielt das nicht. Sein Entsetzen ist echt“, dachte sie und wandte sich ihren Mitstreitern zu. „Jemand muss den Apparat geholt haben. Die Tür war nicht aufgebrochen, also muss es jemand mit Zugang zu dieser Kabine gewesen sein.“ Ryan fuhr zu ihr herum. „Dann kann es nur einer gewesen sein“, meinte er und lief, ohne auf die verdutzenden Gesichter der Shinigami zu achten, aus dem Raum. „Folgen wir ihm“, sagte Ronald. Die Todesgötter hefteten sich an seine Fersen und es dauerte nicht lange, bis sie erkannten wohin der Arzt eilte. „Ernsthaft? Aus der Lounge kommen wir doch gerade“, meinte Carina wenig begeistert und schaute Ryan dabei zu, wie er zum Geländer eilte und nach unten sah. “Hey“, rief er auch sogleich und schien ziemlich wütend zu sein. „Du Mistkerl. Was hast du mit dem Apparat vor?“ Sogleich ertönte von irgendwo unten eine glockenhelle Stimme. „Aaah, Ryan. Auf dich habe ich gewartet. Heute ist der große Tag, an dem das Reich, das du erschaffen hast, in nur einer Nacht untergeht wie Pompeji, während mein neues Reich geboren wird.“ „Noch so ein Spinner“, sagten Grell, Carina und Ronald synchron, während Ryan nur ein vollkommen verwirrtes „Häh?“ hervorbrachte. Die Shinigami traten nun ebenfalls an das Geländer. Unten hatte sich einiges getan. Dort, wo zwei Treppen ineinander liefen und eine Zwischenebene zwischen dem Erdgeschoss und erstem Stock bildeten, stand eine kleine Maschine. Zweifellos die Apparatur, um die es die ganze Zeit ging. Neben ihr, mit einem Weinglas in der Hand, stand ein junger Mann mit schulterlangen blonden Haaren und weichen Gesichtszügen. Dass er adelig war, wäre selbst einem Blinden aufgefallen. Neben ihm standen noch vier Personen. Drei Männer in schwarzen Anzügen, die anscheinend seine Gehilfen waren und sich gerade aus der Lounge zurückzogen und dann noch… Carina rang hörbar nach Luft. Glücklicherweise waren Ronald und Grell viel zu abgelenkt von der Situation und achteten deswegen nicht auf sie. „Aber…aber wie…was macht er auf diesem Schiff?“, schoss es ihr durch den Kopf und völlig aus der Fassung gebracht starrte sie den Bestatter an, der unten neben dem blonden Mann stand. Der Undertaker sah noch genauso aus wie vor zwei Jahren, er schien sich kein Stück verändert zu haben. Sein Hut, die schwarzen Roben und die Narben, alles war so wie immer. Die 18-Jährige versteifte sich, ihre Körperhaltung ähnelte nun eher einer Statue. Erinnerungen an die Zeit in seinem Laden kamen in ihr hoch. Sie hatte niemals damit gerechnet, ihn wiederzusehen. Und jetzt war er hier. Hier, an diesem furchtbaren Ort und tat das, was er am allerbesten konnte. Grinsen. Ja, ein breites Grinsen zierte noch immer sein Gesicht. Verflucht, wie würde er reagieren, wenn er sie entdeckte? Just in diesem Moment hob der Silberhaarige seinen Kopf und obwohl Carina nach wie vor seine Augen nicht sehen konnte, wusste sie, dass er sie anstarrte. Seine Miene veränderte sich nicht, sein Grinsen verrutschte nicht einmal. Die Blondine hatte irgendeine Reaktion seinerseits vermutet, immerhin war sie vor zwei Jahren urplötzlich verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Und sie sah vollkommen verändert aus mit ihren Klamotten, den grünen Augen und ihrer Brille. Warum tat er also so, als hätte er sie noch nie gesehen? „Irgendetwas stimmt hier nicht“, dachte die Shinigami, wusste aber nicht so recht was. „Mit der Macht dieses Apparates werde ich ein ganz neues Reich erschaffen“, meinte der blonde Mann nun und deutete euphorisch auf besagtes Gerät. In diesem Moment fiel Carina auf, dass sich noch zwei weitere Personen im Raum befanden. Sebastian stand etwas abseits auf einer der Treppen und hielt Ciel auf einem seiner Arme. Anscheinend hatte sich dieser sein Bein doch schlimmer verletzt und konnte nicht mehr selbst laufen. Beide schienen ebenso wie alle anderen komplett verwirrt von dem Gerede des Mannes zu sein. „Ein Reich der Sittenlosigkeit und Dekadenz, beherrscht von denen, die das ewige Leben erlangt haben. Ich nenne es Kaiserreich Aurora.“ „Das klingt ja abgefahren“, meinte Ronald. „Das klingt einfach nur dämlich“, ergänzte Carina, während Grell sich über die Lippen leckte und schon einmal seine Kettensäge schulterte. „Keine Sorge, ich werde den Kerl gleich blutrot färben.“ „Nicht so hastig“, ertönte es von besagtem Kerl. Er streckte seine linke Hand aus und nun schwebte sein Weinglas gefährlich nahe über der Apparatur. „Oder ist es euch egal, was mit diesem Apparat passiert?“ Sogleich schlang Ronald die Arme um Grell und hielt ihn somit davon ab, sich auf die männliche Blondine zu stürzen. „Halt Kollege. Abbruch.“ „Er hat Recht Grell, wir brauchen diese Maschine“, wisperte Carina leise und der Rothaarige beruhigte sich wieder ein wenig. „Hi hi…Das nenne ich wahre Macht. Mit einem einzigen Glas Wein habe ich Euch alle in der Hand.“ Während Sebastian ebenfalls alles andere als begeistert aussah, splitterten plötzlich um sie herum sämtliche Scheiben und ein Meer aus Leichen strömte in die riesige Halle. Erschrockene Schreie erklangen. „Hilfe…Das sind ja Hunderte“, stellte Ronald entsetzt fest, als immer mehr der Toten in den Raum rannten. „Schnell, Viscount. Aktivieren Sie den Apparat“, rief Ciel über den Lärm hinweg. „Pah“, antwortete der Blonde theatralisch. „Ich bin kein Viscount mehr. Ich bin jetzt Kaiser. Und ich werde den Apparat nur aktivieren, wenn du mich so nennst mit deinem süßen Rotkehlchenschnabel.“ „Ich bin doch dafür, ihn gleich zu töten“, hörte Carina Ciel sagen, während sie ihre Death Scythe erhob und einige der Leichen zu Fall brachte. Grell und Ronald taten es ihr gleich und auch Sebastian wehrte sich. „Kühne Kämpfer, die ihr Leben riskieren während ich bei einem Glas Wein auf sie hinabschaue. Ich fühle mich wie in einem Kolosseum der Dekadenz. Ganz wie Kaiser Nero!“ „Okay, lasst uns den Kerl endlich umbringen“, riefen Carina und Ronald gleichzeitig, denn dieser Typ raubte ihnen noch den letzten Nerv. „Ihr habt mich doch gerade selbst noch davon abgehalten“, schrie Grell, mehr genervt als alle anderen zusammen und zerstückelte nebenher seelenruhig eine weitere Leiche. „Schalt das Ding da endlich ein, mach schon.“ „Na schön“, antwortete der selbsternannte Kaiser. „Der Moment der Reichsgründung ist gekommen. Also, liebe Untertanen! Es wird Zeit, Eurem Kaiser Treue zu schwören und den Tanz des Phönix aufzuführen.“ Eine negative Aura schwappte durch den Raum und Carina war sich sicher, dass alle Anwesenden dasselbe dachten: „Töten wir ihn endlich!“ Dementsprechend unangebracht war das leise Kichern des Undertakers. „Na, na, na. Wollt ihr ihn wirklich töten, ohne zu wissen, was dieser Apparat kann?“ „Wir sind umgeben von menschenfressenden Leichen und er kann noch lachen?“, dachte Carina, während die Anderen um sie herum plötzlich eine ziemlich seltsame Pose ausführten und laut „Phönixe“ riefen. „Gott, wo bin ich hier nur gelandet?“, murmelte sie. „Sehr gut, Freunde! Und nun zeige ich Euch wie meine Todesarmee sich vor mir niederwirft.“ Der Viscount drückte einen der Knöpfe, der sich seitlich an der Maschine befand. Eine Sekunde lang herrschte angespannte Stille, als alle darauf warteten, dass etwas passierte. „Nanu?“, entfuhr es dem „Kaiser“ verblüfft, als überhaupt gar nichts passierte und die Leichen weiterhin laut brüllend umherwandelten. Der Undertaker brach fast zusammen vor Lachen und Carina konnte es ihm nicht einmal verübeln. „Was hat das zu bedeuten?“, rief Ciel verärgert und der Viscount wandte sich an Ryan. „Ryan! Der Apparat, den du entwickelt hast, funktioniert ja gar nicht.“ „Wi…wie bitte?“, entgegnete Angesprochener und Carina bekam das dumme Gefühl, dass auch der Arzt keine Ahnung von der Maschine hatte. Ciel anscheinend auch. „Heißt das, Sie haben ihn gar nicht gebaut?“, fuhr er den Viscount an. „Ich? Das könnte ich doch gar nicht. Ich hab ihn mir nur ausgeliehen.“ „Du Mistkerl hast mich hintergangen“, brüllte Ryan und machte die vollkommene Verwirrung aller Anwesenden nun perfekt. „Pah, was für eine Farce. Komm Carina“, rief Grell und schwang sich mit einer fließenden Bewegung über das Geländer. Carina reagierte sofort und sprang ihrem besten Freund und Mentor hinterher. Sie landete eine Sekunde nach ihm, doch in dieser kurzen Zeitspanne schaffte es der Rothaarige bereits, drei Leichen auf einmal zu enthaupten. Über sich hörte sie Ronald ein beeindrucktes Pfeifen von sich geben. „Was für ein Draufgänger. Huch, Kollege. Wir dürfen doch nicht auf eigene Faust töten“, rief er plötzlich und Carina wandte sich um. Grell lief mit gezückter Kettensäge auf den Viscount zu, seine Absicht war dabei mehr als deutlich. „Grell, nein. Denk an den Hausarrest“, rief Carina ihm hinterher, doch das schien dem Shinigami momentan vollkommen egal zu sein. Seine Death Scythe fuhr hinab, traf jedoch nie ihr Ziel. Carinas Augen weiteten sich. Was zum Teufel… Grells Waffe war abgeblockt worden. Aber nicht von Ronald. Und auch nicht von Sebastian. Es war der Undertaker. Schützend hatte er sich vor den Viscount gestellt. In seiner Hand hielt er eine Sotoba, die er mit Leichtigkeit gegen Grells Death Scythe gedrückt hielt. „Was?“, rief Grell erschrocken aus, konnte anscheinend selbst nicht fassen, was er da sah. „Heh heh…Ich hab schon lange nicht mehr so gelacht…Und ich finde, wenn dieser Witzbold sterben würde, wäre das ein tragischer Verlust für diese Welt. Findet ihr das nicht auch, liebe Ritter der Sense?“ Während Carina noch versuchte zu begreifen, dass der Undertaker allem Anschein nach über Shinigami Bescheid wusste, fiel Grell etwas ganz anderes auf. „Meine Death Scythe kriegt das Ding nicht durch…?!“ „Stimmt, wie kann das sein? Sotoba sind aus Holz und eine Death Scythe kriegt doch eigentlich alles durch“, dachte Carina. Aber die viel wichtigere Frage war doch, wieso konnte der Silberhaarige kämpfen? Das musste doch einen Grund haben. Er war doch nur ein einfacher Bestatter, was zum Teufel war hier bloß los? Im nächsten Moment drückte der Undertaker seinen Arm durch, sodass Grell im hohen Bogen in Richtung Decke flog. Noch in derselben Sekunde glitt die schwarze Robe des Bestatters beiseite und enthüllte weitere Sotoba. Mit einem breiten Grinsen warf er sie in Grells Richtung. Dieser reagierte zu spät. Die Holzgeschosse flogen an ihm vorbei und krachten durch die Decke aus Glas. Ein Regen aus Glassplittern ergoss sich über die Anwesenden. Während Sebastian sich schützend über seinen Herrn warf, schnitt einer der Splitter eine blutende Wunde in Grells Stirn. Carina hingegen achtete nicht auf das Glas. Ihr Blick war nach wie vor auf den Undertaker gerichtet. Er hatte seinen Hut verloren, seine langen Haare fielen ihm nun noch mehr ins Gesicht als zuvor. Er hob seine Hand, um sie sich nach oben über den Kopf zu streichen. „Hach…wie traurig, dass es hier bald kein Gelächter mehr geben wird.“ Carina merkte nicht einmal, wie ihr langsam der Mund aufklappte. Sie merkte auch nicht, dass Grell fluchend neben ihr landete. Nein, das Einzige, was sie wahrnahm, waren seine Augen. Seine phosphoreszierenden Augen. Die Augen eines Shinigami. Kapitel 25: Das Ende des Versteckspiels --------------------------------------- Sie faszinierte ihn. Anders konnte der Undertaker es nicht ausdrücken. Carina hatte ihn nicht bemerkt, doch er hatte dafür umso mehr gesehen. Wie sie mit ihrer Death Scythe nach und nach die Seelen der Verstorbenen eingesammelt hatte. Die Waffe stand ihr außerordentlich gut und allem Anschein nach wusste sie mit ihr umzugehen. Es hatte ihn ein wenig überrascht, dass sie eines der wesentlich älteren Modelle gewählt hatte, denn normale Waffen hatten ihren Platz in der Welt der Shinigami schon seit langer Zeit verloren. Nun ja, aber Carina war ja ohnehin immer wieder für eine Überraschung gut. Der Silberhaarige wollte sich gar nicht erst vorstellen, wie ihre Berufswahl bei den anderen Seelensammlern angekommen war. „Hehe, sie ist ihrer Zeit nun einmal voraus“, hatte der Undertaker lautlos kichernd gedacht und der jungen Frau weiterhin bei ihrer Arbeit zugesehen. Und erneut hatte sie ihn überrascht. Wie sie vor dem Kind in die Knie gegangen war und vorsichtig, beinahe zärtlich, dessen Seele genommen hatte. Die Traurigkeit in ihren Augen hatte er sogar von seiner Position aus sehen können. Erneut kamen ihm ihre Worte vom Deck in den Sinn. Ja, sie schien sich ihre Menschlichkeit tatsächlich erhalten zu haben. Aber ob das lange Zeit so gut gehen würde? Wie viele Seelen konnte die 18-Jährige holen, ohne sich selbst zu verlieren? Zeitgleich mit Carina hob er den Kopf, um seine Kreationen in den Gang einbiegen zu sehen. Nun, das würde sicherlich interessant– Die Blondine ließ ihm keine Zeit, seine Gedanken zu beenden. Der Silberhaarige erhaschte gerade noch einen kurzen Blick auf ihr zornerfülltes Gesicht, da köpfte sie bereits die erste Leiche. Vollkommen verblüfft ertappte der Shinigami sich dabei, wie er seine Augen nicht von ihrem herumwirbelnden Körper abwenden konnte. Natürlich hatte der Bestatter damit gerechnet, dass sie nun kämpfen konnte, aber ihre Bewegungen…ihre komplette Ausstrahlung… „Das ist mehr als nur normaler Standard. Sie scheint einen guten Lehrer gehabt zu haben.“ Aber auch Talent schien hier seine Hände mit im Spiel zu haben. Es waren vielleicht 2 Minuten vergangen, da gehörten die wandelnden Leichen in diesem Gang der Vergangenheit an. Erneut richteten sich seine Augen auf ihr Gesicht. Die Shinigami schien in Gedanken versunken zu sein, denn als aus heiterem Himmel das Schiff erbebte schrie sie erschrocken auf. „Was zum Teufel ist hier los?“, rief sie und hielt sich mit einer Hand an der Wand fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Auch der Undertaker hatte mit diesem Umstand nicht gerechnet. Eigentlich war es ja sein Plan gewesen das Schiff selbst zu versenken, doch anscheinend war dies nun gar nicht mehr nötig. Hastige Schritte ertönten, als Carina losrannte und sich in Richtung Deck aufmachte, um die Ursache der Erschütterung herauszufinden. Ein Lächeln kräuselte sich auf seinen Lippen. „Du übertriffst all meine Erwartungen, Carina. Ich kann es gar nicht abwarten, wieder auf dich zu treffen.“ Und nun war es endlich so weit. Schützend hatte er sich vor den Viscount gestellt und die Death Scythe des rothaarigen Shinigami mit einer einfachen Bewegung gestoppt. Als nächstes drückte er seinen Arm durch, sodass sein Gegenüber im hohen Bogen in Richtung Decke flog. Mit einem breiten Grinsen auf den Lippen enthüllte der Silberhaarige weitere Sotoba, die er anschließend in Richtung Decke warf. Ein Regen aus Glassplittern ergoss sich über die Anwesenden. Während Sebastian sich schützend über seinen Herrn warf und der Rothaarige eine Wunde an der Stirn beigebracht bekam, richtete der Verursacher seinen Blick auf Carina. Die junge Frau stand nach wie vor mitten im Raum, den Regen aus Glas komplett ignorierend. Ihre Augen waren auf ihn gerichtet, spiegelten eine Mischung aus Überraschung und Fassungslosigkeit wieder. Sein Grinsen wurde eine Spur breiter, als er sich seine langen silbernen Strähnen aus dem Gesicht strich und somit das erste Mal seit 20 Jahren sein wahres Wesen preisgab. „Hach…wie traurig, dass es hier bald kein Gelächter mehr geben wird.“ Und nun mischte sich noch ein anderes Gefühl in die grünen Augen der 18-Jährigen. Entsetzen. Carina schossen plötzlich tausende von Gedanken durch den Kopf. Es war, als hätte sie jemand betäubt. Oder ihr Haupt zumindest hart gegen eine Wand geschlagen. Fragen krochen aus allen Winkeln ihres Gehirns hervor, die Erkenntnis traf sie bis ins Mark. Er war ein Shinigami, war es bereits die ganze Zeit gewesen. Diese wandelnden Leichen…er musste seine Finger mit im Spiel gehabt haben. Was für eine andere Erklärung konnte es sonst hierfür geben? Doch all diese Tatsachen interessierten sie momentan nicht. Es war nur ein Gedanke, der sich vor allen anderen an die Oberfläche drängte. Ein Gedanke, der in diesem Moment ihr komplettes Sein ausfüllte. Nur einer. Er war das wunderschönste Wesen, das sie je gesehen hatte. „W-was?“, schoss es ihr noch in derselben Sekunde durch den Sinn, als sie realisierte was sie da gerade gedacht hatte. Sogleich spürte sie Hitze in ihren Wangen aufsteigen. Was zum Teufel war denn jetzt los? Sie hatte gerade doch wohl wahrlich größere Probleme und alles, an was sie denken konnte war, dass er schön war? „Jetzt drehe ich langsam durch.“ „Das darf einfach nicht wahr sein“, hauchte sie atemlos und zuckte zusammen, als sich ihre Blicke zum ersten Mal richtig kreuzten. Nicht wie sonst durch seinen Vorhang aus Haaren unterbrochen. Verdammt, er schien nicht im Mindestens überrascht zu sein. Wie lang wusste er schon, dass sie ein Shinigami war? Wie lange wusste er schon, dass sie Selbstmord begangen hatte? „Aber natürlich“, fiel es ihr plötzlich ein. „Er muss meine Leiche beerdigt haben. Aber von der Wunde allein konnte er doch nicht darauf schließen, dass es Selbstmord war. Oder etwa doch?“ „Undertaker…?“, hörte sie Ciel vollkommen entsetzt flüstern und konnte es ihm nachempfinden. Der Bestatter hatte seine wahre Natur wirklich meisterhaft verborgen. Komischerweise sprach Sebastian nun genau das aus: „Ihr habt Eure Identität wirklich meisterhaft verborgen. Da Ihr Eure Augen verdeckt hattet, habe ich nichts bemerkt.“ „Ich bin auch drauf reingefallen“, sagte Grell nun und strich sich vorsichtig über seine blutende Wunde. „Hast du seine Augen gesehen, Kollege?“, fragte Ronald, der nun ebenfalls vom oberen Stockwerk hinunter gesprungen war und die Szene ungläubig betrachtete. „Ja. Sie phosphoreszieren. Kein Zweifel, der Kerl ist ein Shinigami.“ „Hehe…Wie nostalgisch! So hat mich schon seit einem halben Jahrhundert keiner mehr genannt“, lächelte der Undertaker, seine Stimme hatte nun einen anderen Ton angenommen. Er klang so, wie Carina es schon öfters gehört hatte, wenn es um ernste Themen gegangen war. So hatte er sich auch angehört, als er versucht hatte sie zu küssen. Anscheinend war das Versteckspiel seinerseits nun endgültig vorbei. „Der Undertaker ist ein Shinigami?“, rief Ryan entsetzt und lief nun mit eiligen Schritten die Treppe hinunter. „Was hat das alles zu bedeuten, Undertaker? Du hast mir doch gesagt, mit diesem Apparat könne man die Leichen kontrollieren.“ Nachdenklich legte der Silberhaarige daraufhin einen seiner langen Fingernägel ans Kinn. „Ach ja, hab ich das?“ Bei Ryan schien es endlich Klick zu machen. „Du hast mich betrogen? Das Ganze war eine Lüge? Auch dass wir nach Amerika fahren, um die vollkommene Erlösung überall zu verbreiten? Alles?“ „Er hat ihm diesen Schwachsinn also ins Hirn gesetzt“, dachte Carina und endlich ergab diese ganze Sache einen Sinn. Der Undertaker zuckte lediglich mit seinen Schultern. „Na ja, die Ernsthaftigkeit, mit der du dich der Medizin gewidmet und versucht hast, Tote zum Leben zu erwecken, war so lustig, dass du die perfekte Besetzung für meine Pläne warst.“ „Und was war mit unserem Plan, der ganzen Welt mit Hilfe der Medizin zu einem gesunden Leben zu verhelfen?“ „Das war dein Plan, oder?“, antwortete der Bestatter und fügte hinzu: „Außerdem haben deine Heilkräfte ja offenbar nicht ausgereicht, um Menschen wiederzubeleben. In dem Moment, als du dich auf meine Technik verlassen hast, hast du das Gebiet der Medizin verlassen. Jemand, der seine Patienten einer Operation unterzieht, die er selbst nicht mal versteht, ist kein Arzt mehr.“ Die Worte trafen den Arzt mitten ins Herz, Schock und Unglaube waren ihm ins Gesicht geschrieben. Entkräftet ging er in die Knie. „Da…das ist nicht fair…“, flüsterte er und sah erst wieder auf, als der Undertaker ihm sanft eine Hand auf den Kopf legte. „Du hast mir meine Geschichte wie ein argloser Tropf geglaubt. Braver Junge.“ „Er ist nicht dumm, so viel steht fest. Dieser Ryan hat nicht eine Sekunde an ihm gezweifelt“, dachte Carina. „Genau wie ich.“ „Dann bist du der Drahtzieher hinter den Wiederbelebungsexperimenten der Auroragesellschaft, Undertaker?“, fragte Ciel mit einem kühlen Unterton in der Stimme, woraufhin sich Angesprochener spielerisch einen Finger vor den Mund hielt. „Sag ich nicht…“, trällerte er und Carina fragte sich, ob der Mann wohl wusste, wie gut jede seiner Bewegungen aussah. „…würde ich ja jetzt gerne sagen, aber mit deiner Phönixpose hast du mich für eine Menge an Informationen entschädigt. Also verrate ich es dir doch. Hehe… Ja, ich war es, der diese wandelnden Leichen erschaffen hat.“ „Also doch“, schoss es der 18-Jährigen durch den Kopf und ein schwerer Stein bildete sich in ihrem Magen. Das gefiel ihr ganz und gar nicht. „Und wozu?“, fragte Ciel, anscheinend interessierte er sich für die Antwort genauso sehr, wie die drei Shinigami. „Na ja, am Anfang war es wohl reine Neugier am Menschen. Du musst wissen, der Mensch besteht aus einem fleischlichen Körper und einer Seele. Und solange er beides hat, existiert er und fährt fort, seine Erinnerungen im Cinematic Record festzuhalten. Wenn sein Körper verfällt und der Schnitter seine Seele holt, endet der Cinematic Record und aus einem Lebenden wird ein Toter.“ Kurz hielt er inne, um seine Worte auf die Anderen wirken zu lassen. „Wir Shinigami arbeiten unsere Listen ab, ziehen den Menschen die Seele aus dem Körper und beenden ihren Cinematic Record. Tag für Tag, monoton und gleichgültig. Ich habe meine Tage als Todesgott lange Zeit so verbracht, aber dann kam mir eines Tages ein Gedanke. Was würde passieren, wenn es nach diesem Ende noch eine Fortsetzung gäbe?“ Carina warf Grell und Ronald einen schnellen Blick zu, auf den Gesichtern der Beiden spiegelte sich das gleiche Entsetzen wieder, wie auf ihrem Eigenen. „Wenn man Erinnerungen, die ihre Seele verloren und ihr Ende erreicht haben, eine Fortsetzung anfügen würde, was würde dann mit dem Körper geschehen? Schließlich sind wir Seelensammler einzig und allein hinter den Seelen her. Der Körper und die Erinnerung im Gehirn bleiben in dieser Welt zurück“, fuhr der Undertaker fort und endlich schien Grell aus seiner Starre zu erwachen. „Sag bloß…du hast ihre Records bearbeitet?“ „Ist das möglich?“, entfuhr es Carina, zum ersten Mal erhob sie seit Undertakers Enthüllung die Stimme. Dieser grinste und deutete auf die wandelnden Leichen. „Warum seht Ihr Euch ihre Records nicht einfach selbst an?“ Das ließ Grell sich nicht zweimal sagen. Sogleich zückte er seine Kettensäge und zog sie durch eine der Toten. Gleich darauf schossen die Cinematic Records hervor. Carina und Ronald beobachten den Film, bis jetzt war alles ganz normal. Doch ab dem Zeitpunkt, wo der Tod eingetreten und eigentlich das Ende gekommen war, erschien mit einem Mal der Undertaker in dem Kurzfilm. Irritiert stellte Carina fest, dass er einen Anzug trug und im Allgemeinen aussah wie Charlie Chaplin. Vergnügt grinste er in die imaginäre Kamera. „Ich glaub’s nicht“, stöhnte Carina, während Grell ein empörtes „Huch? Was ist das denn?“ ausstieß. „Das ist ja…“, murmelte Sebastian, beendete seinen Satz allerdings nicht, denn in dem Moment rief Ciel fragend: „Was passiert denn in dem Film?“ Natürlich, er konnte den Cinematic Record nicht sehen, er war immerhin ein Mensch. „Das Ende der Cinematic Records, das normalerweise zusammen mit dem Tod kommt, wird dadurch, dass ich einen gefälschten Record angehängt habe, nie erreicht. Also haben die Körperteile das Gefühl, dass sie „noch am Leben sind“ und setzen sich – ohne eine Seele zu besitzen – erneut in Bewegung.“ „So funktioniert das also“, murmelte Carina und verstand es nun endlich. Endlich hatte sie das fehlende Puzzleteil gefunden. Doch der Undertaker war noch nicht fertig. „Alle Lebewesen versuchen instinktiv, entstandene Lücken zu füllen. Hat man sich eine körperliche Wunde zugezogen, versucht man sie zu schließen. Fühlt die Seele sich einsam, sucht man sich einen anderen Menschen, um die Leere zu füllen. Und sie füllen die Lücke ebenfalls instinktiv. Sie wollen eine Seele, also versuchen sie die Körper der Lebenden zu öffnen, um die Bilanz mit dem nicht enden wollenden Cinematic Record auszugleichen.“ „Das ist grausam. Wie kann er so etwas nur zulassen?“, fragte Carina sich, der Stein in ihrem Magen wurde von Sekunde zu Sekunde schwerer. „Deshalb verfolgen sie uns, obwohl sie weder sehen noch hören können? Sie spüren unsere Seelen“, erkannte Ciel, woraufhin Carina etwas Eigenartiges auffiel. Der Undertaker hatte plötzlichen einen seltsamen Gesichtsausdruck, seine Augen waren leicht verengt und seine nächsten Worte klangen so, als ob sie ihm körperliche Schmerzen bereiten würden. „Ja, auch wenn man sich die Seele eines Anderen natürlich nicht aneignen kann…“ „Hat er das in der Vergangenheit etwa schon ausprobiert?“, fragte sie sich gedanklich, hatte jedoch keine Zeit genauer darüber nachzudenken, denn schon fuhr der Bestatter fort. „Aber auch, wenn ich die Cinematic Records manipulieren kann, Seelen kann ich nicht erschaffen. Ich habe viel herumexperimentiert, aber es kamen meist reine Fleischpuppen ohne jedes Bewusstsein dabei heraus. Sie sind weder lebendig noch tot. Deshalb nenne ich sie „Bizarre Dolls“, meine bizarren Puppen.“ „Das ist der Gipfel der Geschmacklosigkeit“, presste Ciel hervor. Langsam schritt der Undertaker die Treppe nach oben, auf eine seiner weiblichen Puppen zu. „Wie’s scheint, bist du noch zu unreif, um ihre Schönheit zu sehen Earl.“ Er stellte sich hinter die tote Frau, legte einen Arm um ihre Hüfte und den Anderen um eine ihrer ausgestreckten Hände. Carina sah ihm erschüttert und auf eine seltsame Weise fasziniert dabei zu. Die Szene hatte etwas Schreckliches und Intimes zugleich. „Sieh nur ihre hübsch zusammengenähte, wächsern weiße Haut. Als wäre sie noch am Leben. Und dieser Mund, der weder lärmendes Geschwätz noch Lügen von sich geben kann. Sie ist doch nun wahrlich viel schöner als zu Lebzeiten, findest du nicht?“ Carina starrte ihn sprachlos an. Meinte er das wirklich ernst? „Ich übergebe mich gleich“, zischte Ciel und hielt sich seine rechte Hand vor den Mund. „Das sagst du. Aber es gibt genug Leute, die gerne einige dieser bizarren Puppen hätten. Immerhin kennen sie weder Schmerz noch Furcht und fressen auf ihrer zielstrebigen Suche nach einer Seele die Lebenden. Sag selbst. Sind sie nicht die perfekten Tierwaffen?“ Ungläubiges Entsetzen schwappte durch den Raum. Am liebsten hätte Carina ihm den Mund zu gehalten. War ihm ein Menschenleben denn wirklich gar nichts wert? Hatte sie sich etwa so in ihm getäuscht? Oder steckte vielleicht etwas anderes dahinter und der Undertaker wollte nur von seinem eigentlichen Ziel ablenken? „Wenn dem so sein sollte, dann funktioniert es hervorragend“, stellte sie nachdenklich fest. „Und da diese Exzentriker unbedingt mal sehen wollten, wozu man die Dinger alles gebrauchen kann, habe ich mich entschlossen, auf einem Luxusliner ebenso viele Bizarre Dolls einzuschiffen wie Passagiere und sie mal zu testen. Ich wollte sie aufeinander loslassen und sehen wie viele von jeder Sorte überleben.“ „Ihr seid krank“, stellte Sebastian stirnrunzelnd fest und Carina konnte ein Schnauben kaum unterdrücken. „Der muss gerade reden. Wie viele Menschen hast du denn wohl schon auf dem Gewissen, Teufel?“, dachte sie, musste aber innerlich zugeben, dass der Undertaker ebenso schuldig war. Wie alt er wohl war? Wann hatte er aufgehört, sich für das Leben der Menschen zu interessieren? „Damit, dass wir einen Eisberg rammen, habe ich allerdings nicht gerechnet. Da ich, seit ich kein Schnitter mehr bin, auch keine Liste mehr besitze. Das erspart mir immerhin die Mühe, den Kahn selbst zu versenken und ich schlage zwei Fliegen mit einer Klappe.“ „Verstehe“, meinte Sebastian. „Dieses Schiff sollte Amerika von Anfang an nie erreichen…richtig?“ Der Silberhaarige nickte. „Wie es scheint, haben dank Euch mehr Menschen überlebt, als ich dachte. Das nimmt man mir sicher übel.“ „Je mehr ich höre, desto weniger können wir ihm das durchgehen lassen“, sagte Grell auf einmal und Ronald stimmte ihm sogleich zu. „Stimmt. Dass ein Schnitter die Todesstatistik verzerrt, geht ja gar nicht. Der Kerl hat noch nicht mal eine Brille. Das ist wohl einer von diesen Separatisten, was?“ Carina schwieg, was Ronald kurz verwunderte. Eigentlich hatte er erwartet, dass die Blondine dem zustimmen würde, immerhin waren ihr Menschenleben doch so wichtig. „Wen kümmert das? Sich als Schnitter in die Angelegenheiten von Leben und Tod in der Menschenwelt einzumischen ist ein klarer Regelverstoß“, meinte Grell, woraufhin die beiden jungen Shinigami ein synchrones „Du musst gerade reden“ vor sich hinmurmelten. „Am Besten nehmen wir ihn gleich fest und übergeben ihn der Obrigkeit, dann kann er denen direkt erzählen, wie diese wandelnden Leichen funktionieren.“ Carina biss sich auf die Lippe. Natürlich hatte Grell irgendwo recht, aber sie konnte den Undertaker doch nicht einfach… „Er hat mir damals das Leben gerettet, indem er mich aufgenommen hat. Er hat sich um mich gekümmert, obwohl er es gar nicht musste. Warum – verdammt noch mal – muss ich jetzt in solch eine Zwickmühle geraten?“, dachte sie und überlegte nebenbei fieberhaft, wie sie Grell und Ronald ihr Verhalten erklären sollte. „Außerdem“, sprach Grell und seine Stimme wurde mit einem Mal laut und schrill, „hat er neben besagtem Regelverstoß auch noch das Gesicht einer Jungfrau verletzt! Und egal wie gut er aussieht, das werde ich ihm niemals verzeihen!!“ „Anscheinend bin ich nicht die Einzige, die denkt, dass er gut aussieht. Gott sei Dank“, dachte Carina erleichtert und sah dabei zu, wie sich ihr Mentor auf den Undertaker stürzte. „Hoppla“, sagte dieser und wehrte den Schlag erneut mit einer seiner Sotoba ab. Genau in diesem Moment tauchte Ronald hinter ihm auf, seinen Rasenmäher bereits im Anschlag. „Ich bin hinter di…Argh.“ Sebastian hatte dem jungen Mann hart gegen den Arm getreten, sodass dieser zu Boden krachte und einige Meter weit rutschte. „Hey“, rief er empört und auch Grell war alles andere als begeistert. „Sebas-chan! Was hast du vor?“ „Ich kann Euch leider nicht erlauben, ihn mitzunehmen.“ „Häää?“, entfuhr es dem Rothaarigen verwirrt, woraufhin Ciel ihm die entsprechende Antwort lieferte. „Wir sind verpflichtet, Ihrer Majestät – der Königin – die Wahrheit zu präsentieren und können den Kerl auf keinen Fall entkommen lassen.“ Sebastian lächelte und zupfte sich seine weißen Handschuhe zurecht. „Ihr habt es gehört. Ich nehme mir jetzt die Freiheit, den Betreffenden festzunehmen.“ Grells Augen verengten sich, er war nun sichtlich wütend. „Das fällt in den Zuständigkeitsbereich der Schnitter. Also halt dich da gefälligst raus.“ Auch Sebastian wirkte nun bedrohlich. „Das ist meine Aufgabe als Butler. Also haltet Ihr Euch da bitte raus.“ Hinter ihnen grinste der Undertaker vor sich hin, ihm schien das Ganze nicht sonderlich Sorgen zu bereiten. „Hach. Du bist immer so herrlich stoisch, Sebas-chan. Na schön. Wenn du mir so kommst, werde ich mich auch nicht zurückhalten.“ Sebastians nächster Kommentar triefte gerade so vor Sarkasmus. „Dass das Wort „Zurückhalten“ in Eurem Wortschatz überhaupt vorkommt, ist für mich die größte Überraschung des heutigen Tages.“ „Hüte mal lieber deine Zunge, Dämon“, schaltete sich Carina nun endlich ein und trat ein paar Schritte näher. „Dich werden wir hier ganz bestimmt nicht machen lassen, was du willst!“ Hinter ihr richtete sich Ronald langsam auf, unterdrückte Wut stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Okay, lasst uns das hier abkürzen und sagen, der Schnellere gewinnt. Und gegen einen Tattergreis wie dich verlier ich ganz bestimmt nicht“, richtete er seinen letzten Satz an den Undertaker. Dieser senkte nun leicht den Kopf und kicherte in sich hinein. „Hehe…Das ist ja die reinste Hasenjagd. Fragt sich nur…“ Er hob seinen Kopf und zeigte ihnen ein schon fast unheimliches Lächeln. „…wer hier der Hase ist.“ Kapitel 26: Der Untergang der Campania -------------------------------------- Als hätten die drei Männer sich vorher abgesprochen, stürzten sie im nächsten Moment zeitgleich los. „Primaten“, dachte Carina genervt, während sie noch auf eine passende Gelegenheit zum Angriff wartete. Ronalds Ziel war Sebastian. Der Butler wollte gerade Messer in Richtung des Undertakers werfen, als ein Rasenmäher mit einem lauten Surren auf ihn zuflog. Der Seelenfresser konnte sich gerade noch so unter dem Gartengerät weg ducken. Ronald grinste schadenfroh. „Hoppla. Mein Fehler“, antwortete er spöttisch, was sogar Carina grinsen ließ. Manchmal war Ronalds Sarkasmus wirklich zu gut. Sebastians linke Augenbraue zuckte gefährlich. „Eure Augen sind wohl nicht so gut, was?“ Beim letzten Wort warf er die Messer, woraufhin Ronald nun derjenige war, der sich wegducken musste. „Ups“, meinte er nur dazu und nun flogen die Küchenutensilien auf den Undertaker zu, der gerade Grells Death Scythe auswich. Mit einem Grinsen wehrte der Silberhaarige sie ab. „Weil Shinigami alle kurzsichtig sind“, kicherte er. Grell tauchte hinter ihm auf, seine Kettensäge erneut zum Schlag erhoben. „Tja, dann bist du wohl im Nachteil“, rief er und spielte auf die nicht vorhandene Brille des Shinigami an. Sebastian wirkte durch diese neue Information kurz abgelenkt und genau diesen Moment wählte Carina, um hinter ihm zu landen. Doch natürlich war es nicht so leicht. Ihr Katana verfehlte den Dämon knapp, als dieser zur Seite weg sprang und sich nun ihr zuwandte. „Frauen sollten nicht mit Waffen spielen, Mylady“, reizte der Butler Carina mit einem herablassenden Lächeln und traf damit natürlich einen wunden Punkt. „Steck dir dein Mylady sonst wohin“, knurrte die 18-Jährige und holte erneut zum Schlag aus. Doch dieses Mal war der Butler schneller. Seine Hand schoss hervor und obwohl Carina den Kopf noch wegzog, schlug er ihr die Brille von der Nase, die in einem hohen Bogen in die Luft flog. Sofort wurde ihre Sicht sehr unscharf und automatisch blinzelte sie. Sebastian, der genau dies mit seiner Aktion beabsichtigt hatte, grinste siegessicher. Jetzt war es eine Leichtigkeit, das Mädchen…Ein harter Tritt traf ihn plötzlich mitten ins Gesicht und ließ den Butler der Phantomhives rückwärts durch den Raum fliegen. Carina senkte ihr linkes Bein und landete leichtfüßig auf dem Boden. Während sich ein vergnügtes Lächeln auf ihren Lippen abzeichnete, streckte sie die Hand nach oben und fing ihre Brille blind auf. „Glaub ja nicht, ich würde mich nur auf meine Augen verlassen, Frackträger“, fauchte sie und setzt sich ihre Gläser wieder auf. „Unterschätz mich lieber nicht!“ Angesprochener Frackträger starrte die junge Frau ungläubig vom Boden aus an und auch Ciel konnte es nicht fassen. Sebastian war von einer Frau getreten worden? „Nicht übel, Carina“, rief Ronald, der gerade schnellen Schrittes auf den Undertaker zu rannte. Dieser zeigte sich wenig beeindruckt und sprang im letzten Moment hoch, um auf den Schultern des jungen Mannes zu landen. Ronald riss die Augen auf und musste seinen Kopf in der nächsten Sekunde nach hinten strecken, um nicht von einer Sotoba aufgespießt zu werden. Dabei verlor er, wie bereits Carina zuvor, seine Brille. „Wäääh, meine Brille“, rief er und streckte seine Hand nach der fliegenden Sehhilfe aus. Diese Unachtsamkeit nutzte der Undertaker aus, um dem Shinigami seinen linken Fuß mit einem kräftigen Tritt ins Gesicht zu rammen. „Das kommt davon, wenn man sich nur auf seine Augen verlässt, du Grünschnabel! Nimm dir an deiner Kollegin da hinten mal ein Beispiel.“ „Muss der mir jetzt auch noch Komplimente machen?“, dachte Carina empört und schaute zu Grell, der nun Ronalds Brille auffing. „Was treibst du denn da?“, schrie der Rothaarige genervt und warf dem Jüngeren seine Brille zu. „Danke Kollege“, rief Ronald lächelnd und mit leicht geschwollener Wange, doch in dem Moment als er nach dem Gestell greifen wollte, flog ein Messer quer durch den Raum und pinnte die Brille an die gegenüberliegende Wand. Sebastian schien genug von dem ganzen Theater zu haben und attackierte den Undertaker nun frontal. „Na na“, meinte dieser und wehrte die Messer zum wiederholten Male ab. „Glaubst du etwa allen Ernstes, du kannst mich mit Besteck jagen?“ Er holte mit seiner Sotoba aus und zielte auf Sebastians Gesicht. Der Butler lächelte jedoch nur und drehte seinen Oberkörper zur Seite. „Nun ja, es ist sicher nicht vergleichbar mit einer Death Scythe, aber das Tafelsilber meines Herrn ist erstklassig geschärft.“ Mit einem der Messer schnitt er die Sotoba nach und nach in mehrere Teile, sodass der Bestatter gezwungen war zurückzuweichen. „Offensichtlich“, stellte der Shinigami fest und richtete sich in einiger Entfernung wieder auf. „Was ist denn los mit Euch? Vier gegen einen und Ihr seid mit Eurem Latein schon am Ende, wobei die werte Dame Ihr Glück ja noch gar nicht versucht hat? Ihr wolltet mich doch jagen.“ „Will der mich etwa provozieren?“, schoss es Carina zornig durch den Kopf, während sie den Silberhaarigen mit verengten Augen musterte. Doch da war noch etwas anderes, was sie beschäftigte. „Gerade eben konnte Grells Death Scythe diese Sotoba nicht durchsägen. Aber bei Sebastian hat es funktioniert. Wieso?“ Ronald, der nun wieder seine Brille aufgesetzt hatte, schien die Geduld zu verlieren. „Der Kerl treibt mich noch zur Weißglut…!“ „Beeilen wir uns“, sagte Grell, auch er schien keine Lust mehr auf das ganze Spektakel zu haben. „Der Kahn kentert gleich. Die Zeit drängt.“ Ronald schaute auf seine Armbanduhr, die eigentlich noch gar nicht erfunden worden war. „Stimmt.“ Bevor Sebastian oder Carina reagieren konnten, stürzten sich die beiden Shinigami gleichzeitig auf den Undertaker. „Um Stilfragen können wir uns jetzt nicht kümmern“, schrie Grell. „Uns bleibt nur noch ein Frontalangriff!“, rief Ronald. Die Kettensäge und der Rasenmäher trafen zeitgleich auf die Sotoba, dennoch hielt der Undertaker dem Angriff mühelos stand. „Das gibt es doch nicht“ brüllte Carina über den Lärm hinweg, Grell schien ebenso schockiert zu sein. „Das ist völlig unmöglich! Es gibt nichts, was eine Death Scythe nicht durchkriegt. Und doch…Wie schafft er es, meiner Death Scythe zu widerstehen?“ Bei diesen Worten bildete sich ein weiteres Lächeln auf den Lippen des Totengräbers. „Eine Death Scythe durchschneidet alles? Aha…Findest du diesen Slogan nicht lächerlich? Nun ja, ich kann jedenfalls nicht darüber lachen. Jeder weiß doch, dass es mindestens eines gibt, was sie nicht durchkriegt.“ In der einen Sekunde, die Carina brauchte um zu begreifen was der Undertaker meinte, drückte dieser seine Arme durch und die Sotoba in seinen Händen wich etwas weitaus Größerem. Grell und Ronald riss es nach hinten weg, Blut spritze aus langen Wunden auf ihren Oberkörpern. „Grell“, schrie Carina und war im nächsten Moment neben ihm. Mit sichtlicher Mühe richtete sich der Rothaarige auf, Blut lief ihm aus den Mundwinkeln. „Gnn…Das ist…“ „Eine Death Scythe“, beendete Carina seinen Satz und schaute die Waffe an, die der Deserteur in der rechten Hand hielt. Und was für eine Death Scythe das war!!! Die Sense, deren scharfe Klinge im Licht funkelte, war länger als der Undertaker selbst. Am oberen Ende des Griffes befand sich ein Totenschädel, um dessen Stirn und Mund sich dornige Ranken schlangen. Die Klinge war so platziert, dass es aussah, als würde sie aus dem Hinterkopf des Totenschädels wachsen. Gleich darunter befand sich in der Mitte des Griffes ein Miniaturskelett, das schließlich in dem länglichen Stiel endete, den der Undertaker in der Hand hielt. Beim Anblick dieser Todessense wurde Carinas Hals plötzlich furchtbar trocken. Auch Ronald und Grell waren für den Moment komplett sprachlos. „Ach so“, meinte Sebastian nun und legte nachdenklich eine Hand ans Kinn. „Sobald mehrere Death Scythes im Spiel sind, gilt der Slogan „eine Death Scythe durchschneidet alles“ nicht mehr.“ „Muss man die nicht abgeben, wenn man den Dienst quittiert?“, fragte Ronald fassungslos, woraufhin der Silberhaarige liebevoll das Schneideblatt seiner Sense berührte. „Nach allem, was wir zusammen erlebt haben, konnte ich mich nicht von ihr trennen und hab alles riskiert, um sie mitzunehmen.“ Er hob die riesige Waffe über den Kopf, ein schelmischer Ausdruck huschte über sein Gesicht. „Also. Wie wär’s, wenn ich jetzt zur Abwechslung mal Euch jage? Wie erbärmliche kleine Karnickel bei einer Hasenjagd!“ „In Deckung“, schrie Carina, als die Waffe zuerst die Luft und dann eine der Säulen in der Lounge durchschnitt. Was zur Folge hatte, dass der halbe Raum in sich zusammen stürzte. „Der spinnt wohl“, dachte sie und fasste einen Entschluss. Sie konnte ihn so nicht weitermachen lassen, nachher brach noch der ganze Saal zusammen und das wollte Carina auf keinen Fall. Mit einem gezielten Sprung beförderte die 18-Jährige sich über den Bestatter und holte mit aller Kraft, die sie in ihrem Körper hatte, zum Schlag mit ihrer Death Scythe aus. Kurz war dem Undertaker anzusehen, dass er mit so einer Aktion ihrerseits nicht gerechnet hatte, doch dann erklang ein hohes Kreischen, als die beiden Klingen aufeinander trafen. Ein Anflug von Schweiß trat ihr auf die Stirn, als sie versuchte dem Druck seiner Waffe standzuhalten. Das Grinsen des Undertakers wurde breiter. „Lange nicht gesehen, Carina. Willst du mich wieder zum Lachen bringen oder was soll diese Aktion bewirken?“ „Halt den Mund“, zischte sie, während ihr gleichzeitig die Zornesröte ins Gesicht stieg. Sollte dieser Mistkerl doch an seinem breiten Grinsen ersticken! Wenn es überhaupt noch möglich war, grinste der Totengräber nun noch breiter. Sie mochte vielleicht selbstbewusster geworden sein, aber ihr Temperament war zweifellos das Gleiche geblieben. „Auch wenn ich nur zu gerne dieses Gespräch mit dir fortführen würde, momentan scheint ein denkbar ungünstigster Zeitpunkt dafür zu sein. Aber später werde ich ganz bestimmt an diese Unterhaltung anknüpfen.“ „Später? Was meint der mit später?“, konnte Carina gerade noch denken, da verstärkte sich plötzlich der Druck seiner Sense um das Doppelte. Ihre gelbgrünen Augen weiteten sich erschrocken und obwohl sie so schnell es ging nach hinten wich, erwischte die Spitze seiner Klinge sie am linken Oberarm. Sofort breitete sich ein Brennen an der getroffenen Stelle aus und der Stoff ihrer weißen Bluse verfärbte sich blutrot. Ein Zischen entfuhr ihren Lippen und reflexartig packte sie sich an die Wunde. Es war nicht so, dass sie während ihrer Ausbildung noch nie von einer Klinge verletzt worden war, aber das waren keine Death Scythes gewesen. Vielleicht hätte ihr mal jemand sagen sollen, dass das um eine ganze Ecke mehr wehtat. Der Undertaker war inzwischen wieder mit Sebastian beschäftigt, der mit Leichtigkeit mehrere Tische auf ihn schleuderte. Der Shinigami jedoch zerteilte die Möbel sauber in der Mitte. „Das nützt dir auch nichts. Tische durchschneidet meine Sense wie Plätzchen.“ Der Butler lächelte und tauchte plötzlich hinter dem Silberhaarigen auf. „Eure Sense hat eine große Reichweite. Ich wollte nur in den Kreis zwischen Euch und der Klinge gelangen.“ Der Undertaker musste rückwärts in die Luft springen, um dem folgenden Tritt auszuweichen. „Du kommst wirklich auf ausgefuchste Ideen, Butler. Aber…“, begann er und landete hinter Ciel, die Hand an dessen Kragen, „…ich auch!“ Ciel wirkte mehr erschrocken als ängstlich und starrte seinen ehemaligen Auskunftsgeber an, als dieser ihn näher zu sich zog. „Jetzt kommst du endlich in den Sarg, den ich extra für dich angefertigt habe, Earl.“ Sebastian schien angesichts der Tatsache, dass sein Meister bedroht wurde, jegliche Fassung zu verlieren. Sein Gesicht wurde zu einer bedrohlichen Fratze, die Hände waren plötzlich wie Klauen gekrümmt und in einer enormen Geschwindigkeit stürzte er auf den Undertaker und Ciel zu. Doch als er sie gerade erreicht hatte, ließ der Undertaker den Jungen los und schleuderte ihn quer durch den Raum, direkt an Sebastian vorbei. „Ich dachte mir schon, dass du kommst“, sagte er monoton und sah dabei zu, wie der Dämon sich umdrehte und versuchte nach seinem Herrn zu greifen. Aber der Shinigami ließ ihm keine Gelegenheit dazu. Das Sensenblatt des Bestatters drang bis zum Heft in den Bauch des Dämons ein, Blut spritzte in alle Richtungen und sogar von ihrer Position aus konnte Carina sehen, wie sehr Sebastian dieser Angriff zusetzte. „So schwach und zerbrechlich die Menschen auch sind, ihnen das Leben zu entreißen ist ein hartes Stück Arbeit, Butler. Ich hab mich schon immer gefragt, wieso eine Bestie wie du sich einen Frack überzieht und den Butler spielt. Jetzt werde ich es erfahren…aus deinem Cinematic Record.“ Und wie aufs Stichwort, schossen die Filmaufnahmen aus dem Körper des Dämons hervor. Carina konnte nicht alle Bilder erkennen, aber den Großteil der Geschichte kannte sie ja bereits. Der Vorgang dauerte nicht sehr lange, denn als Ciel weiter in Richtung Boden fiel und den Namen seines Butlers schrie, schien dieser wieder zu sich zu kommen. Mit letzter Kraft und einem lauten Schmerzensschrei griff er nach seinem Vertragspartner und krachte mit ihm an seiner Brust zu Boden. Der Undertaker landete hinter ihnen, ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen. „Ich dachte mir schon, dass du es irgendwie schaffst, den Earl zu retten. Schließlich bist du sein Butler.“ Es war ein unschöner Anblick wie Ciel, nun ebenfalls überall voller Blut, sich von Sebastian erhob und diesen geschockt anstarrte. „Natürlich. Wenn sein Schoßhündchen stirbt, sieht er ganz schön alt aus. Wobei man es ihm eigentlich nur wünschen könnte“, dachte Carina. „Sebastian? Hey! SEBASTIAN!“ „Müsst ihr so brüllen? Ich höre Euch doch“, gab Angebrüllter plötzlich von sich und richtete seinen Oberkörper keuchend auf. Mit einem finsteren Gesichtsausdruck spuckte er einen Schwall Blut zu Boden. Solche Verletzungen schien der Teufel nicht gewöhnt zu sein. „Dein Cinematic Record war wirklich interessant. Aber wie’s aussieht, bringst du dem Earl nur Unglück.“ Carina schaute den Silberhaarigen erstaunt an. Das hörte sich ja beinahe so an, als würde der Bestatter sich um den Wachhund der Königin sorgen. Erneut hob dieser seine Sense. „Darum werde ich dich jetzt vernichten.“ Doch leider sollte es so weit nicht kommen. Im nächsten Moment schwankte der ganze Raum und sackte gleich darauf nach unten. „Was denn, jetzt schon?“, schrie Grell, während Ronald ein überraschtes „Verdammt“ von sich gab. Der Undertaker kicherte. „Hoppla. Ist es schon so weit?“ „Das Gewicht des Wassers zieht das Schiff nach unten“, erkannte Carina und schwang sich auf das - nun senkrecht stehende – Geländer. Auch ihre Kollegen und Sebastian fanden in dem Chaos Halt. Für Ryan jedoch kam jede Hilfe zu spät. Der Arzt rutschte mit einem Schrei über den Boden, ein widerliches „Platsch“ ertönte und ließ nun wirklich keinen Platz für Fantasie übrig. „Ryan Stoker“, begann Grell und grinste nun wieder selbstsicher, „geboren am 24.08.1854, gestorben am 20.04.1889 bei einem Sturz in die Tiefe. Besondere Anmerkungen: Keine.“ Er senkte seinen Kopf und schaute auf Sebastian hinab, der zusammen mit Ciel an einer Stange des ehemaligen Geländers baumelte. „Hör zu, Sebas-chan. Wie du siehst, bleibt uns keine Zeit mehr. Und so leid es mir tut, der Undertaker gehört mir. Also bleib du einfach da und sieh zu.“ „Wie bitte?“, rief der Schwarzhaarige empört, musste sich aber nun wieder mit Ronald und seinem Rasenmäher herumschlagen. Dieser schien wirklich Spaß daran zu haben, den Dämon zu attackieren. „Deine Death Scythe ist stärker, Kollege, also überlasse ich den Undertaker dir. Ich erledige lieber diesen völlig geschwächten Kerl hier und bekomme als Dankeschön ein Date mit Carina.“ „Hat dich was am Kopf getroffen oder warum behauptest du so einen Schwachsinn?“ rief Carina genervt zu ihm herüber, doch der Anzugträger ignorierte sie. „Pah“, meinte Ciel auf einmal und zog somit alle Aufmerksamkeit der Drei auf sich. „Du solltest meinen Butler nicht unterschätzen. Geschwächt, sagst du? Du denkst, du hättest ihn schon besiegt? Das ist ja geradezu lächerlich. Nicht wahr, Sebastian?“ Der Dämon lächelte. „Allerdings Herr“, antwortete er, musste aber gleich darauf wieder Blut husten. Ronald sah beinahe so aus, als hätte er ein wenig Mitleid. „Haaach“, seufzte er und schaute augenverdrehend nach oben. „Ich fühle mich, als würde ich ein wehrloses Kätzchen quälen…“ Doch dieser Satz sollte den Shinigami teuer zu stehen kommen. Sebastians Faust traf ihn mitten ins Gesicht. Ronald konnte gerade noch ein verwirrtes „Häh?“ ausstoßen, da kickte der Butler ihn mit mehreren Tritten gezielt nach unten und packte ihn anschließend am Kragen. „Habt Ihr gerade wehrloses Kätzchen gesagt?“, fragte der Teufel mit einem beunruhigend gelassenen Lächeln und verpasste dem Shinigami immer wieder neue Schläge. Carina, die sich die Situation angesehen hatte, wurde plötzlich von Ciel angesprochen, der zuvor von Sebastian abgesetzt worden war. „Gegen Sebastian habt ihr keine Chance.“ Carina konnte einfach nicht anders, sie grinste. Der Junge war einfach zu vorlaut für sein Alter. „Weißt du, es ist gar nicht so schwer einen Dämon zu töten, wie du vielleicht denkst. Abgesehen davon sind nicht wir diejenigen, die sich Sorgen machen müssen.“ „Was soll das heißen?“, fragte Ciel und zuckte zusammen, als die 18-Jährige ihm einen kühlen Blick zuwarf. „Wir sind nicht diejenigen, die ihre Seele verkauft haben.“ Der junge Adelige wurde bleich, hatte ihm das doch nie jemand einfach so an den Kopf geworfen. Kommentarlos, aber nicht ohne ihr noch einen bösen Blick zuzuwerfen, humpelte Ciel in die Richtung seines Butlers und ließ Carina stehen, die ihm belustigt hinterher sah. Der Junge schien wirklich noch nicht zu begreifen, worauf er sich damals eingelassen hatte… In der Zwischenzeit hatte Grell mit dem Undertaker gekämpft. Immer wieder krachten ihre beiden Death Scythe gegeneinander und jedes Mal endete es in einem Unentschieden. „Seine Bewegungen erinnern mich an die von Carina. Also wird er ihr Mentor gewesen sein“, dachte der Silberhaarige und wehrte erneut die Kettensäge ab. Dabei lag sein Blick auf Grells rotem Mantel. „Wusst ich’s doch, dass ich dich schon mal gesehen hab. Du bist der Shinigami, der Madame Red’s Butler gespielt hat. Das heißt, du hast auch einige Menschenleben gewaltsam beendet.“ „Weißt du“, fing Grell an und holte erneut mit seiner Säge aus, „naseweise Typen wie du sind alles andere als sexy.“ Der Undertaker wich lachend aus. „Wird es für Euch Schnitter nicht langsam Zeit zu verschwinden?“ Der Rothaarige grinste spöttisch, während er dem Bestatter hinterher schoss. „Solange dieser gut aussehende Kerl hier ist, kann ich doch nicht einfach nach Hause gehen wie Cinderella.“ Im nächsten Moment krachte ein ziemlich verbeulter Ronald seitlich in ihn hinein und beide Shinigami stürzten zu Boden. Sebastian stand breit lächelnd auf den Rasenmäher gestützt da, neben ihm Ciel. „Die jungen Leute heutzutage sind ja so was von verweichlicht. Ist es nicht out, sich nur auf seine Sense zu verlassen? Bleibt nur noch…“, meinte der Butler schadenfroh und wandte seinen Blick dem Undertaker zu. Doch erneut wackelte und schwankte das ganze Schiff und Carina war sich sicher, nun sank die Campania wirklich komplett. Und sie sollte Recht behalten, denn im nächsten Moment barsten ein paar der Fenster und Unmengen von Wasser strömten in den Raum. Während Sebastian seinen Herrn wieder hoch auf seinen Arm hob, keuchte dieser erschrocken auf, denn natürlich war das Wasser eiskalt. „Also dann, Zeit Adieu zu sagen“, meinte der Undertaker plötzlich und richtete sich auf. „Es war wieder äußerst interessant mit Euch.“ Sebastian und Grell bekamen mit einem Mal den gleichen verbissenen Gesichtsausdruck. Beide machten gleichzeitig einen Satz nach vorne und dieses Mal war der Undertaker nicht schnell genug. Er konnte zwar sowohl Sebastians Tritt, als auch Grells Kettensäge ausweichen, verlor dabei jedoch die lange Kette mit den Medaillons, die er um seinen Körper trug. Carina traf es fast wie ein Schlag, als sie das Entsetzen auf seinem Gesicht sah. Wie viel mochten ihm diese Anhänger wohl bedeuten, dass er solch eine Reaktion zeigte? Wie es der Zufall wollte, fing Ciel die Kette auf. Der Undertaker starrte ihn an und plötzlich bildete sich ein erneutes Lächeln auf seinem Gesicht. Plötzlich schien ihm der Verlust seiner Kette nicht mehr so viel auszumachen. „Earl. Das überlasse ich fürs Erste dir. Pass gut darauf auf!“ Er strich sich seine langen, nassen Haare aus dem Gesicht und schaute bei seinen folgenden Worten plötzlich so hingebungsvoll auf, dass sich Carinas Herzschlag beschleunigte. „Das ist mein Schatz.“ „Warte Undertaker“, schrie Ciel, doch der Undertaker zückte bereits seine Sense. „Also dann, Earl. Auf ein Wiedersehen.“ Carina drehte sich zu Grell um, als ihr klar wurde was als Nächstes passieren würde. „Grell“, schrie sie und streckte ihre Hand nach ihm aus. Der Rothaarige verstand und tat es ihr gleich. Der Sensenhieb spaltete die komplette Lounge und vermutlich auch das Schiff gleich mit. Es fehlten nur noch wenige Zentimeter zwischen Grell und ihr, gleich würde sie seine Hand… Die Welle aus eiskaltem Wasser traf sie wie ein Schock. Sie öffnete ihren Mund, doch nun war bereits ihr kompletter Körper unter Wasser. Wie tausende kleine Nadelstiche fühlte sich der Schmerz an, der nun über ihren Körper hereinbrach. Im Nachhinein konnte Carina nicht mehr sicher sagen, ob sie nun für kurze Zeit das Bewusstsein verloren hatte oder nicht. Aber als sie die Augen wieder aufschlug, befand sie sich unter Wasser und trieb langsam aus dem Schiffswrack heraus. „Jetzt bloß keine Panik“, schoss es ihr durch den Kopf, wobei sie natürlich Panik hatte. Die Tatsache, dass sie durch so etwas nicht sterben konnte, beruhigte sie nämlich in keinster Weise. Mit schnellen Arm- und Beinbewegungen schwamm sie in Richtung Wasseroberfläche, die allerdings noch sehr weit entfernt war. Der Wasserdruck lag dabei unangenehm hart auf ihren Ohren und langsam aber sicher begann auch ihre Lunge wegen Sauerstoffmangel zu brennen. „Bitte lass mich jetzt nicht ohnmächtig werden, bitte lass mich jetzt nicht ohnmächtig werden“, dachte sie und Erleichterung machte sich in ihr breit, als die rettende Oberfläche und somit auch der Sauerstoff langsam näher kamen. Doch so weit sollte sie nicht kommen. Plötzlich schlang sich etwas Hartes um ihren rechten Stiefel und zog sie wieder ein Stückchen zurück in die Tiefe. Erschrocken drehte sie sich um und bekam beinahe einen Herzinfarkt, als sie sah was oder besser gesagt wer sie da festhielt. Der Undertaker grinste zu ihr hinauf, seine rechte Hand – die sie am Stiefel gepackt hatte – zog die 18-Jährige mit einem Ruck nach unten. „Mistkerl“, brüllte sie gedanklich und versuchte sich aus seinem unnachgiebigen Griff zu befreien. Doch der Bestatter hatte anscheinend anderes im Sinn, denn als sie mit ihm auf einer Augenhöhe war, schlang er seinen Arm um ihre Hüfte, um sie anschließend an seinen Oberkörper zu ziehen. Und dann – aus heiterem Himmel und ohne jegliche Vorwarnung – küsste er sie. Was…was zum…WAS??? Mit einem Mal war es so, als hätte ihr Gehirn einen Kurzschluss erlitten. Ihr Kopf war leer, das wirbelnde Chaos ihrer Gedanken beseitigt. Wäre in diesem Moment ein Hai neben ihr aufgetaucht, Carina hätte es vermutlich nicht einmal bemerkt. Das Einzige, was sie wirklich bewusst wahrnahm, waren seine Lippen auf ihren. Sein Mund, der deutlich zu einem Grinsen verzogen war. Seine stechenden gelbgrünen Augen. Und das Brennen in ihrer Lunge, das genau jetzt seinen Höhepunkt erreichte. Panisch versuchte sie sich von ihm zu lösen, sich irgendwie loszureißen, sie brauchte Luft Luft LUFT. Doch der Silberhaarige hielt sie weiterhin unerbittlich fest, gab ihr keine Chance an die heiß ersehnte Wasseroberfläche vorzudringen. Und dann versank die Welt in einem Meer aus Dunkelheit… Kapitel 27: Fragen und Antworten -------------------------------- William T. Spears war wütend. Anders konnte man es beim besten Willen nicht ausdrücken. Nicht nur, dass seine drei ausgesandten Seelensammler anscheinend auf ganzer Linie versagt hatten. Nein, jetzt musste er wegen diesen Taugenichtsen auch noch Überstunden schieben und jeder in seiner Abteilung wusste, wie sehr er das hasste. „Die Drei können sich auf was gefasst machen“, dachte er und schob sich seine Brille instinktiv auf der Nase zurecht. Das kleine Rettungsboot, in dem er sich befand, schwamm langsam an den Überresten der Campania vorbei und somit konnte der Schwarzhaarige in aller Ruhe die Seelen der Menschen einsammeln, die reglos im Wasser trieben. Es dauerte auch nicht lange, da entdeckte er Grells rotes langes Haar, das aus der Dunkelheit heraus stach. Der Shinigami schwamm bewegungslos mit dem Kopf nach unten im Wasser, neben ihm in beinahe derselben Position Ronald Knox. William konnte seine Wut kaum bändigen, als er zuerst Ronald und anschließend Grell mit seiner Death Scythe aus dem Wasser fischte. „Noch nicht einmal ordentlich einsammeln könnt Ihr. Nicht zu fassen.“ Er blickte auf die beiden bewusstlosen Gestalten hinab. „Bist du während deines Hausarrests völlig eingerostet, oder was? Versetzt Euch mal in meine Lage! Euretwegen muss ich extra ausrücken, dabei habe ich wahrlich genug Arbeit auf dem Schreibtisch liegen. Jetzt kann ich heute wieder nicht pünktlich Schluss machen. Unfassbar.“ Als die Shinigami immer noch nicht reagierten, donnerte William Grell seinen Fuß ins Gesicht und weckte Ronald mit seiner Death Scythe. „Los, aufwachen, Grell Sutcliff! Hoch, Ronald Knox!“, keifte er, woraufhin die beiden Männer endlich wieder zu sich kamen. Sogleich bekam Grell seinen allseits bekannten Herzchenblick. „Oh Will. Du bist gekommen, um mich abzuholen.“ Er wollte den Schwarzhaarigen umarmen, doch dieser wich geistesgegenwärtig zur Seite. Der Rothaarige fiel erneut ins Wasser und hatte keine Sekunde später Williams Death Scythe auf dem Kopf, die ihn wieder unter Wasser drückte. „Ich bin nicht hier, um dich abzuholen…“, knurrte William und selbst Grell bemerkte, dass sein Schwarm kurz davor war zu explodieren. „…sondern um einmal mehr die Fehler unfähiger Schnitter wie Euch auszubügeln. Macht schon, fangt an einzusammeln.“ „Wir sind doch völlig hinüber“, jammerte Ronald, der immer noch ziemlich verbeult und blutig aussah. William schien diese Tatsache nicht sonderlich zu interessieren. „Es ist nun mal Aufgabe eines Schnitters, die Seelen jederzeit gewissenhaft und pünktlich einzusammeln“, erwiderte er kühl und brachte damit Grell, der gerade dabei war zurück ins Boot zu steigen, wieder in Wonne. „Dieser Blick, der jegliche Humanität ignoriert und kälter ist als das Meer, macht mich ganz heiß“, seufzte er. „Du bist ja plötzlich quicklebendig, Grell“, sagte Ronald trocken und sah sich suchend in der Gegend um. William rückte sich seine Brille erneut zurecht und wurde nun von einem auf den anderen Moment erstaunlich ernst. „Wenn Ihr mit dem Einsammeln fertig seid, kommt Ihr sofort in die Zentrale zurück und gebt einen detaillierten Bericht ab. Und zwar einen Bericht über die Rechtsbrecher, klar?“ Während Grell begeistert nickte, zogen sich Ronalds Augenbrauen zusammen. „Habt Ihr Beiden nicht etwas vergessen?“, fragte er, woraufhin sich William und Grell zu ihm drehten. „Was meinen Sie?“, fragte William genervt, wollt er diese Angelegenheit doch so schnell wie möglich hinter sich bringen und ins Büro zurückkehren. Doch auch Grell war nun aufgefallen, dass hier etwas ganz Entscheidendes fehlte. Oder besser gesagt jemand. „Wo zur Hölle ist Carina?“ Als Carina wieder zu sich kam, hatte sie im ersten Moment immer noch das Gefühl unter Wasser zu sein. Erschrocken riss sie die Augen auf und schnappte panisch nach Luft. Doch gleich darauf bemerkte sie, dass ihre Lungen gar nicht mehr vor Schmerz brannten und die eisige Kälte um ihren Körper herum verschwunden war. Die Blondine blinzelte mehrere Male und kam nun wieder vollständig zu sich. „Was…wo bin ich?“, dachte sie und schaute sich in dem relativ dunklen Zimmer um. Sie lag auf einem ziemlich großen Bett, das mittig an einer Wand im Raum stand. In dieser Wand waren zwei riesige, bodentiefe Fenster zu beiden Seiten des Bettes eingelassen worden. Anscheinend war Vollmond, denn dieser spendete durch die Fenster so viel Licht, dass sie trotz der Dunkelheit alles im Raum erkennen konnte. Das Zimmer an sich war relativ spärlich eingerichtet und doch kam Carina nicht umhin zu bemerken, dass alles ein gewisses Maß an Luxus bereithielt. An der Wand links von ihr befand sich ein Schrank, der beinahe die komplette linke Seite einnahm. Gegenüber an der rechten Wand stand eine dunkelbraune Kommode, auf dessen Oberfläche ein Standspiegel und mehrere Flakons platziert worden waren. Auch konnte Carina kleine Döschen, Tuben und Pinsel erkennen, vermutlich handelte es sich dabei um Make-Up. Direkt neben ihr am Bettrand befand sich ein kleines Nachttischchen, auf dem eine Glaskaraffe mit Wasser und mehrere kleinere Gläser hingestellt worden waren. Carina sah auf und entdeckte genau gegenüber vom Bett eine Tür. Anscheinend schien das Zimmer kein angrenzendes Badezimmer zu haben, denn eine zweite Tür gab es nicht. „Wie zum Teufel bin ich hier hingekommen? Was ist pa…“ Wie ein Schlag ins Gesicht kamen mit einem Mal die Erinnerungen an die Campania zurück. Wie sie nach dem Kampf im Meer gelandet war. Wie sie versucht hatte, die Wasseroberfläche zu erreichen. Wie der Undertaker sie davon abgehalten hatte. Und an den… Ihr Gesicht glühte rot auf. Wütend und fassungslos zugleich saß sie auf dem Bett und starrte das Lacken an, ohne es jedoch wirklich wahrzunehmen. „Dieser Mistkerl“, knurrte sie zornig und ballte ihre Hände zu Fäusten. Wie konnte er es wagen? Wie konnte er es nur wagen, sie einfach so zu küssen? „Und als ob das nicht schon schlimm genug ist, hat der mich anscheinend auch noch entführt? Na warte…“, dachte sie und erhob sich lautlos vom Bett. Dieser Idiot hatte sie nicht einmal gefesselt oder in einer sonstigen Art und Weise dafür gesorgt, dass sie dort blieb wo sie war. Er unterschätzte sie und das ärgerte Carina maßlos. Kurz warf sie einen Blick in den Spiegel, der auf der Kommode stand und seufzte kurz darauf genervt auf. Gott, sie hatte auch schon mal besser ausgesehen. Ihre Hose sah ja noch halbwegs in Ordnung aus, aber ihre Bluse hatte wirklich einiges abbekommen. Von dem Wasser war sie komplett zerknittert worden, hier und da waren einige Bluttropfen gelandet und ihr linker Ärmel war beinahe komplett in die rote Flüssigkeit gehüllt worden. Vorsichtig berührte sie die Wunde über ihrem Ellbogen und zuckte zusammen, als sie erneut den stechenden Schmerz des Schnittes spürte. Anscheinend taten Verletzungen von einer Death Scythe nicht nur verdammt weh, sie heilten auch wesentlich langsamer. „Großartig, als hätte ich nicht schon genug Probleme gehabt. Ich muss mich vor seiner Sense in Acht nehmen, das Teil ist wirklich…Moment mal!“ Kalte Panik schnürte ihr die Kehle zu, als ihr plötzlich klar wurde, dass ihr etwas ganz Entscheidendes fehlte. Schnell ließ sie ihren Blick noch ein zweites Mal durch den kompletten Raum schweifen, doch auch jetzt konnte sie sie nicht entdecken. Ihre Death Scythe!!! „Ich bring ihn um“, schoss es der 18-Jährigen durch den Kopf. Niemand nahm ihr ungestraft ihr Katana weg! Ausgerechnet jetzt kamen ihr wieder die Worte des Mannes in den Sinn, der sie beim Aussuchen ihrer Death Scythe begleitet hatte. „Gehen Sie pfleglich mit ihrer Death Scythe um, Sie haben schließlich nur die Eine.“ „Scheiße! Jetzt hab ich ein verdammt großes Problem. Einfach aus dem Fenster springen geht jetzt wohl nicht mehr. Ich brauche meine Death Scythe zurück.“ Ohne ein Geräusch zu verursachen, stand sie nun vollständig auf und bemerkte dabei beiläufig, dass ihr jemand die Stiefel ausgezogen und neben das Bett gestellt hatte. Barfuß trat sie nun an eines der beiden Fenster heran und schaute hinaus. Carina vermutete, dass sie sich mindestens im dritten Stock befand, denn sie hatte von ihrem Standpunkt aus einen guten Überblick über das weitläufige Gelände. An und für sich war es ein riesiger quadratischer Hof, eingerammt von 4 ziemlich großen Gebäuden. Lediglich an einer Seite gab es einen Durchgang, der allerdings nur zu weiteren Häusern zu führen schien. Die Gebäude waren allesamt in gotischem Stil erbaut worden. „Erinnert mich an einen Krankenhauskomplex. Oder an eine Schule. Jedenfalls scheine ich noch in England zu sein, der Baustil spricht für sich.“ Die 18-Jährige strich sie sich durch die etwas zerzausten Haare und tippte sich nachdenklich mit ihrem rechten Zeigefinger ans Kinn. Dass der Undertaker nach seiner Aktion auf der Campania nicht in sein Bestattungsinstitut zurückkehren konnte, war nur logisch. Immerhin würde der Earl dort als erstes nach ihm suchen lassen. Das hier schien also sein vorerst neuer Unterschlupf zu sein. „Super, wirklich super. Wie schaffe ich es nur immer, in solche Situationen hinein zu geraten? Grell flippt vermutlich schon aus vor Sorge und was William von der ganzen Sache hält, will ich vermutlich überhaupt nicht wissen…“ Ihre Augen verweilten erneut an der Tür. Sie hasste das Ungewisse, was zweifellos hinter ihr lauerte. Sollte sie es wagen? „Was kann schon großartig passieren? Hier zu bleiben ist keine Lösung, da kann ich genauso gut nach meiner Death Scythe suchen“, murmelte sie und nahm innerlich allen Mut zusammen. Sie hatte die Campania überlebt, da würde sie das hier auch schaffen. Doch bevor die Shinigami auch nur einen Fuß in Richtung Tür setzen konnte, ertönten aus der Ferne Schritte. Schritte, die langsam näher kamen. Carina erstarrte, ihr ganzer Körper schien auf einmal aus Eis zu bestehen. Ihr Herz pochte ihr so hart gegen die Brust, als würde es jeden Moment herausspringen wollen und obwohl sie definitiv Angst verspürte, konnte sie den Blick einfach nicht vom Zimmereingang abwenden. Und genau in dieser Situation hatte sie natürlich ihre Death Scythe nicht am Körper. Wirklich großartig! Genau vor der Tür verstummten die Schritte plötzlich und angespannte Stille kehrte ein. Die junge Frau hielt den Atem an. Lauschte er etwa, ob sie bereits erwacht war? „Vielleicht sollte ich es mit einem Überraschungsangriff probieren“, kam es ihr kurz in den Sinn, doch gleich darauf verwarf sie den Gedanken wieder. Ihr Gegner war stärker als sie, das konnte sie ohne Zweifel sagen. Vermutlich war ein Überraschungsangriff genau das, womit er rechnete. „Bleib ruhig“, dachte sie und grub ihre Fingernägel in die Handflächen. „Zeig ihm nicht, dass er im Vorteil ist.“ Und dennoch musste sie, als der Undertaker in vollkommener Gelassenheit endlich den Raum betrat, erneut an diesen verdammten Kuss denken. „Wage es dich jetzt rot zu werden“, fuhr sie sich gedanklich selbst an und tatsächlich schien ihr Körper ihr dieses eine Mal zu gehorchen. Carina rührte nicht einen Muskel, während der Bestatter langsam die Tür hinter sich schloss und sich anschließend mit einem breiten Grinsen zu ihr herumdrehte. „Entschuldige bitte die Unterbrechung. Jetzt können wir unser Gespräch gerne fortführen.“ Carina benötigte all ihre Selbstbeherrschung, um ihn nicht zornig anzufunkeln. „Das hat er also auf der Campania damit gemeint, als er sagte „später werde ich ganz bestimmt an diese Unterhaltung anknüpfen“. Also hatte er von Anfang an vor, mich mit sich zu nehmen…“ Ihre Augen huschten über seinen Körper. Sie konnte seine Sense nicht entdecken, aber das bedeutete nichts. Zuvor hatte er sie immerhin ebenfalls erfolgreich verbergen können. Wenn er sie mit seiner übergroßen Death Scythe attackieren würde, dann… Das Bild von Sebastians riesiger Fleischwunde kam ihr in den Sinn und automatisch spannte sich ihr Körper noch weiter an. „Das ist nicht gut. Seine Waffe könnte mich umbringen.“ Als hätte der Undertaker ihre Gedanken gelesen oder sie zumindest erahnt, begann er leise zu kichern. „Hehe…keine Angst, ich habe nicht vor dich umzubringen, Carina.“ „Ich habe keine Angst“, entgegnete die 18-Jährige kühl. Schon wieder fühlte sie sich unter seinem Blick wie das Mädchen von vor zwei Jahren. Das Mädchen, das schwach war und hilflos. „Wenn er mich einschüchtern will, kann er lange warten.“ „Gib mir meine Death Scythe zurück“, forderte sie und schaffte es tatsächlich dabei vollkommen ruhig zu klingen. Sie duzte ihn ganz bewusst, denn die Zeit des Siezens war nun offiziell vorbei. „Na na“, meinte er tadelnd und wackelte mahnend mit dem Zeigefinger. „Erst einmal wirst du mir ein paar Fragen beantworten.“ Carinas Augen weiteten sich kurz. Behandelte er sie gerade etwa wie ein Kleinkind? Schön, das Spiel konnte man auch zu zweit spielen. „Ich beantworte dir gar nichts, du Mistkerl“, zischte sie zornig. Das schien den Totengräber allerdings nur noch mehr zu amüsieren. „Ich wusste, dass du mich wieder zum Lachen bringen würdest“, sagte er und trat nun einen Schritt vor. Gleich darauf trat Carina aus reinem Reflex einen Schritt zurück. Im selben Moment ärgerte sie sich über ihre eigene Reaktion. So viel zu ihrer gespielten Gelassenheit. Der Undertaker machte keinen weiteren Schritt, aber mit seiner ersten Frage brachte er sie nun wirklich aus dem Konzept. „Wie hast du dich umgebracht?“ „Endlich verstehe ich, wie Grell sich damals gefühlt haben muss“, dachte Carina und erinnerte sich grimmig daran, wie sie ihrem Mentor am ersten Tag nach ihrem Selbstmord genau dieselbe Frage gestellt hatte. „Grell hatte Recht. Es ist wirklich eine unverschämte Frage.“ „Da du ein Shinigami bist“, sagte sie und betonte ganz stark das vorletzte Wort, „weißt du, dass ich dir diese Frage niemals beantworten werde. Oder sorgen die vielen Jahre der Abwesenheit bereits für Gedächtnisschwund?“ Der Silberhaarige strich sich mit einem seiner langen Fingernägel beiläufig über das Kinn, doch Carinas Blick blieb an dieser Bewegung hängen. Schon wieder sah er bei dieser simplen Geste schlicht gut aus. „Herrgott, diese Gedanken müssen aufhören. Ich spinne ja wohl.“ „Hehe, ich dachte mir schon, dass du so reagieren würdest. Aber versetze dich doch einmal in meine Sicht der Dinge. Zuerst machst du mich mit deiner Ankunft vor 2 ½ Jahren richtig neugierig und dann verschwindest du einfach vom einen auf den anderen Tag. Kein Lebenszeichen, keine Leiche, rein gar nichts. Und als ich dich das nächste Mal wiedersehe, bist du plötzlich ein Shinigami. Hehe, ist es da wirklich verwunderlich, dass ich nachfrage?“ „Was soll das heißen, es gab keine Leiche?“, platzte es aus Carina heraus, bevor sie es verhindern konnte. Ihre Gedanken rasten nun. „Wie kann das sein? Es muss eine Leiche gegeben haben. Aber dann müsste sie gefunden worden sein. Verflucht, was ist mit meinem menschlichen Körper passiert?“ Der Undertaker schien ihre Verwirrung bemerkt zu haben. „Nun ja, du bist ein Sonderfall, wenn man von deiner Herkunft ausgeht. Vielleicht ist dein Körper ja wieder in deine Zeit zurückgekehrt.“ „Alles, nur das nicht“, betete Carina stumm. Diesen Anblick bzw. die Gewissheit, dass sie tot war, wollte sie weder ihren Eltern noch Bianca zumuten. „Aber anhand deines Gesichtsausdrucks nehme ich an, dass man deinen Körper hätte finden müssen. Woraus ich schließe, dass du an einem öffentlichen Ort gestorben bist, richtiiiiiiig?“ Ertappt wandte Carina die Augen leicht zur Seite. Für diesen Typen schien sie wie ein offenes Buch zu sein. Dabei bemühte sie sich doch sonst immer so erfolgreich darum, ihre Gefühle und Gedanken zu verbergen. „Sag es mir. Was hat dich dazu bewogen, deinem Leben ein Ende zu setzen?“, fragte er, seine gelbgrünen Augen schienen sie bei diesen Worten zu durchbohren. Es waren die Augen, die jeder Shinigami besaß und doch stachen sie bei ihm mehr hervor. Es war unheimlich und faszinierend zugleich. Carina schwieg, würde sie ihm nach seiner letzten Aktion doch nicht so ohne weiteres seine gewünschte Antwort liefern. Das Lächeln auf dem Gesicht des ehemaligen Seelensammlers wurde breiter. „Nun schön, dann muss ich mir die Antwort halt auf anderem Wege holen.“ Mit zwei schnellen Schritten war er bei der 18-Jährigen. Diese wich zwar rechtzeitig zurück, spürte aber gleich darauf die Zimmerwand in ihrem Rücken. „Scheiße“, dachte sie noch, als er im nächsten Moment ihre Arme packte und hart gegen die Wand drückte. Alles überwältigende Wut erfasste sie. Das hier war dieselbe Pose wie damals. Dieselbe Situation wie an dem Abend, wo er versucht hatte sie zu küssen. Aber sie war nicht mehr dieselbe. Die alte Carina hatte in seinem Griff gehangen wie ein wehrloser Fisch im Netz. Aber die neue Carina würde das nicht. Auf gar keinen Fall! Das Grinsen auf dem Gesicht des Undertakers wich einer erstaunten Miene, als die Shinigami blitzschnell ihr rechtes Bein hob und es ihm hart in die Seite rammte. Der Tritt zwang ihn dazu sie loszulassen und ein paar Schritte nach hinten zurück zu weichen. Durch die schnelle Bewegung hatte sich der zweite Knopf ihrer Bluse geöffnet, doch das bemerkte die Blondine überhaupt nicht, so in Rage war sie. „Glaub ja nicht, dass ich mir so was noch einmal gefallen lasse“, zischte sie und starrte ihn zornig an. „Ich bin nicht schwach, jedenfalls jetzt nicht mehr und wenn du unbedingt einen Kampf mit mir willst, den kannst du haben.“ „Ach ja? Das würde dann aber ein sehr kurzer Kampf werden“, lachte der Silberhaarige, liebte er es doch die 18-Jährige zu provozieren. „Na warte“, dachte Carina, drückte sich mit einem Fuß an der Wand hinter ihr ab und stürmte dann auf ihn zu. Der Totengräber griff in seinen Umhang, eine seiner Sotoba würde hier sicherlich ausreichen. Doch kurz bevor die Blondine ihn erreichte, sprang sie mit einem plötzlichen Satz in die Luft. Der Undertaker sah kurz etwas unter dem Rand ihres Ausschnittes aufblitzen, da landete die Seelensammlerin bereits geschickt hinter ihm und steuerte auf die Tür zu. „Sie hat mich ausgetrickst“, dachte er und kicherte. Das hatte sie sich so gedacht. Carinas Hand griff bereits nach der Türklinke, doch sie war zu langsam. Etwas Hartes und Spitzes traf sie in ihre Kniekehle, sodass ihr das Bein automatisch wegsackte. Die Shinigami fiel zu Boden und konnte gerade noch die Sotoba sehen, die der Undertaker auf sie abgefeuert hatte, da packte er sie bereits am linken Bein und zog sie von der Tür weg. Ein erschrockener Schrei entfuhr ihr, als der Mann sie mit einem Ruck auf den Rücken drehte und nun über ihr kniete, jeweils einen Arm zu beiden Seiten ihres Kopfes abgestützt. Und nun nützte Carina jegliche Körperbeherrschung nichts mehr. Sie wurde rot, konnte es ganz genau an der Hitze in ihren Wangen spüren. Er war zu nah. Reflexartig drückte sie ihre Hände gegen seine Brust, konnte den rauen Stoff seines Oberteils unter ihren Fingern fühlen. Doch ganz abgesehen davon, dass er gleich darauf ihre Hände mit seiner linken Hand packte und über ihrem Kopf auf den Boden drückte, sie hätte ihn nicht von sich runter schieben können. Wie Carina es bereits vermutet hatte, war er stärker als sie. Womöglich war er sogar stärker als Grell. Seine langen, silbernen Haare fielen ihm über die Schultern, als er sich weiter über sie beugte. Mittlerweile war er ihr so nah, dass sie seinen Duft wahrnehmen konnte. Er war eine Mischung aus frischer Graberde, Zimt und seinem ganz eigenem maskulinen Geruch. Carina konnte nicht verhindern, dass sie kurz tief einatmete und den Duft tiefer in sich einsog. „Er riecht gut…“ „Hehe, das war ein netter Versuch, Carina. Aber ganz so leicht trickst du mich dann doch nicht aus.“ Sofort war sein gutes Aroma vergessen, auf Anhieb kam sie wieder in die Gegenwart zurück. „Arroganter Mistkerl“, keuchte sie und ihr Blick flackerte für nicht einmal eine Sekunde zu ihren Beinen. Gleichzeitig versuchte sie sie hochzuziehen und ihn da zu treffen, wo es einem Mann so richtig wehtat. Doch der Undertaker hatte anscheinend auch damit gerechnet, denn zeitgleich drückte er seine Knie auf ihre Oberschenkel. „Na na, das ist aber nicht die feine englische Art. Wobei, du kommst aus Deutschland, ich sollte mich nicht wundern.“ „Geh runter von mir“, fauchte Carina und versuchte ihn mit ihren Blicken zu erdolchen, denn bewegen konnte sie sich jetzt immerhin gar nicht mehr. „Zuerst wirst du mir meine Antwort geben. Obwohl, ich glaube du hast sie mir gerade eben schon unabsichtlich geliefert.“ Seine rechte Hand schloss sich um den Kragen ihrer Bluse, die Reaktion der Blondine erfolgte unmittelbar. „Wag es dich, du Perversling“, zischte sie, das Rot auf ihren Wangen nun noch intensiver als zuvor. Aber das, was sie fühlte, war nicht nur Verlegenheit. Es war Scham. Sie schämte sich für das, was sie sich damals angetan hatte. Was sie ihrer Seele angetan hatte. Carina wollte nicht, dass er die Narbe sah. Diese grässliche Narbe… Doch für weitere Proteste war es längst zu spät. Carina schloss ihre Augen, als der Mann über ihr den weißen Stoff beiseite zog und somit das längliche Wundmal enthüllte. Die Augen des Bestatters ruhten auf dem rosafarbenen Schnitt, der mittig auf ihrem Dekolleté begann und sich dann schräg zu ihrer linken Brust hinunter zog. Das Ende der Narbe verschwand unter dem weißen BH, den sie trug. Man musste kein Experte sein, um zu wissen wie sie zu so einer Verletzung gekommen war. Aber nun tauchten noch weitere Fragen in seinem Kopf auf. Für einen Moment konnte er es kaum fassen. Doch es konnte keine andere Erklärung geben. „Sie hat sich ein Messer in den Brustkorb gestoßen… Aber wieso? Wenn man sich umbringen will, dann wählt man in der Regel andere Methoden. Methoden, die einen nicht so schmerzhaft sterben lassen.“ Und er kannte die menschliche Anatomie auswendig. Er wusste, dass solch ein Tod alles andere als schmerzlos war. Wieso also hatte sie sich gerade dafür entschieden? Hatte sie etwa keine andere Wahl gehabt? „Bist du jetzt zufrieden?“, entfuhr er der Shinigami unter ihm tonlos, wodurch sie ihn aus seinen Gedanken riss. Ihre Augen starrten ihn ohne jegliches Gefühl an, die Röte auf ihren Wangen war verschwunden. Es war, als wollte sie ihn mit diesem Blick bestrafen. „Ich würde lügen, wenn ich Ja sagen würde“, sagte er mit ernster Stimme, kein Lächeln lag ihm dieses Mal auf den Lippen. Eine Gänsehaut breitete sich auf ihrem gesamten Körper aus, als er mit dem langen Nagel seines rechten Zeigefingers langsam über ihre Narbe strich. „Dummes Ding“, flüsterte er und schaute sie unverwandt an. Die 18-Jährige erwiderte seinen Blick, war gebannt von diesen abgrundtiefen Augen. Hinter seinen Seelenspiegeln lagen Dinge verborgen, die sie nicht greifen konnte. Möglicherweise auch nicht begreifen konnte. Aber warum versetzte ihr diese Tatsache so ein unglaublich bedrückendes Gefühl? „Warum will ich dich verstehen, Undertaker?“ „Weißt du“, begann der Silberhaarige und erst jetzt - wo sein Atem über ihr Gesicht strich – bemerkte Carina, dass der Bestatter sich noch weiter zu ihr hinunter gebeugt hatte. Und dieses Mal wusste Carina, was jetzt gleich passieren würde. Ihr Körper schien es regelrecht zu spüren. „Mit deinen blauen Augen hast du mir besser gefallen“, beendete er wispernd seinen Satz und drückte seinen Mund zum zweiten Mal an diesem Tag auf Ihren. Und im Gegensatz zu all seinen Erwartungen, all seinen Vorstellungen wie diese Situation verlaufen würde, schaffte Carina es tatsächlich ihn erneut zu überraschen. Indem sie seinen Kuss erwiderte. Kapitel 28: Der Deal -------------------- Obwohl Carina es geahnt hatte, war sie auf die Explosion in ihrem Inneren nicht vorbereitet. Als er sie unter Wasser geküsst hatte, hatte sie weder seine Wärme noch seinen Geschmack wahrgenommen. Etwas, was sie nun mit der Heftigkeit einer Dampfwalze überrollte. Er schmeckte nach karamellisiertem Zucker, was die Shinigami automatisch an seine Knochenkekse erinnerte. Doch noch weniger war Carina darauf vorbereitet, dass sie seinen Kuss tatsächlich erwiderte. Es fühlte sich im ersten Moment ziemlich merkwürdig an. Vermutlich, weil sie noch nie zuvor von jemandem auf den Mund geküsst worden war. Seine Lippen waren weich und lagen so perfekt auf ihrem Mund, als wären sie exakt dafür angefertigt worden. Es machte ihr beinahe schon ein wenig Angst, wie perfekt er sie küssen konnte. Und plötzlich hatte Carina die seltsame Furcht, es zu vermasseln. Ihr Herz pochte ihr schnell gegen die Brust, ihre Hände waren vor Nervosität ganz feucht und sie hatte keine Ahnung, was sie machen sollte. Gott, sie hatte doch noch nie jemanden geküsst. Was, wenn er etwas von ihr erwartete? Doch es schien den Silberhaarigen nicht zu stören, dass sie nichts tat. Plötzlich drängten sich seine Lippen noch näher an ihre. Sein Geschmack wurde intensiver, mittlerweile konnte sie die Hitze spüren, die von seinem Körper ausging. „Ich sollte das nicht genießen. Ich sollte ihn nicht so nah an mich heranlassen. Warum also tue ich es doch?“ Inzwischen presste sich sein ganzer Oberkörper gegen ihren, seine rechte Hand hatte sich unter ihren unteren Rücken geschlichen und hielt sie an Ort und Stelle. Aus heiterem Himmel musste die 18-Jährige plötzlich an die junge Mutter auf der Campania denken. Auch sie hatte ihr Kind in ihrem letzten Moment so an sich gedrückt… Carinas Augen flogen auf. Was zum Teufel tat sie hier? Mit einem Ruck riss sie ihren Kopf zur Seite weg. Kurz fühlte sich ihr Mund dabei seltsam kalt an, doch diese Tatsache wurde von ihrem Schock über sich selbst vollkommen überschattet. Die Bilder des letzten Tages prasselten auf sie ein. Jeder Mensch, jedes Gesicht, jede einzelne Seele, die sie hatte nehmen müssen. Und sie erinnerte sich an den Schmerz. An das Bedauern. „Und jetzt knutsche ich mit der Person, die dafür verantwortlich ist?“ In diesem Moment war sie von sich selbst angewidert. „Geh runter von mir“, verlangte sie erneut, ihre Stimme nun kalt und unnahbar. Der Undertaker hatte genau gespürt, wie sie sich plötzlich unter seinem Griff versteift hatte. Sein Blick verharrte noch wenige Sekunden auf ihrem Gesicht, dann ließ er sie tatsächlich los und stieg von ihr herunter. Carina richtete sich sogleich auf, machte aber keine Anstalten davon zu laufen. Nein, die Zeit war nun endgültig vorbei. Erst einmal musste sie ihre Gefühle in den Griff bekommen. Die 18-Jährige atmete mehrere Male ein und aus, dann erst traute sie sich den Mund zu öffnen. „Warum? Warum hast du diese Leichen auf die Campania geschickt? Und jetzt komm mir nicht wieder mit dieser Story von vorhin, davon glaube ich nämlich kein Wort.“ Ihr Gegenüber legte seinen Kopf leicht schief. „Ach ja? Und wie kommst du darauf?“ Seine Stimme verriet nicht, was er dachte und das bestärkte Carina darin, einfach weiter zu reden. „Weil ich dich kenne.“ Erneut wurden ihre Wangen rot. Gott, wie dumm sich das anhörte. „Nun ja, jedenfalls glaube ich das. Denk was du willst, aber ich spüre, dass da noch mehr hintersteckt. Hab ich Recht?“ Jetzt wirkte der Silberhaarige amüsiert. „Hehe, wer weiß“, kicherte er, seine Augen leuchteten in der Dunkelheit des Raumes. „Verdammt, sag mir wenigstens, dass der Tod dieser ganzen Menschen einen Grund hatte“, zischte sie zornig. „Denn das waren sie. Menschen. Menschen mit einem ganz normalen Leben. Bis sie von deinen blutrünstigen Monstern getötet wurden.“ „Weißt du Carina, du faszinierst mich. Nein, wirklich“, entgegnete der ehemalige Seelensammler, als er ihre ungläubige Miene sah. „Du erhältst dir deine Menschlichkeit wirklich um jeden Preis. Selbst, wenn du dir damit alles schwerer machst. Aber das weißt du längst, nicht wahr? Jedenfalls konnte ich das aus deiner Rede gegenüber diesem Burschen ziemlich deutlich heraushören, hehe.“ „D-du warst dort?“, stotterte sie überrumpelt und fühlte sich gleich darauf wie der letzte Trottel. „Ja und meiner Meinung nach hatte dieser Ronald durchaus Recht. Du bist eigenartig. Aber was heißt das schon?“ „Wenn hier einer von uns Beiden eigenartig ist, dann ganz bestimmt nicht ich“, antwortete sie augenverdrehend und verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust. Sie wusste doch schon längst, was er hier versuchte. „Lenk nicht vom Thema ab. Du hast meine Frage nicht beantwortet.“ Kurz herrschte drückende Stille, dann lächelte der Undertaker und zeigte ihr dabei seine weißen Zähne. „Ja, es hatte einen anderen Grund.“ „Und welchen?“, fragte die Blondine angespannt, denn so langsam wollte sie die Antwort wirklich wissen. Das Kichern des Silberhaarigen durchschnitt die Stille. „Na na, es wäre doch langweilig, wenn ich es dir einfach so verraten würde. Immerhin hast du auch meine Frage nicht beantwortet.“ Allmählich riss Carina der Geduldsfaden. „Was interessiert es dich überhaupt? Wir kannten uns gerade mal 2 Wochen.“ Ein schelmisches Funkeln trat in die phosphoreszierenden Augen des Undertakers. „Das sah gerade eben aber anders aus“, grinste er, woraufhin der 18-Jährigen beinahe der Kragen platzte. „Ja, weil Mr. Ich-bin-attraktiv-und-schrecke-vor-nichts-zurück seinen Mund nicht bei sich behalten kann.“ Sogleich prustete Angesprochener lauthals los. Wie sie es schon einige Male bei ihm gesehen hatte, beugte er sich dabei nach vorne und hielt sich den Bauch fest. „Gott, bitte schenke mir stärkere Nerven“, schoss es ihr durch den Kopf, während sie das Ende seines üblichen Lachanfalls abwartete. „Weißt du…“, begann er keuchend, als er sich wieder beruhigt hatte und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Du hast dich gerade wirklich genau so wie dieses Rotkäppchen angehört…“ Carina zog die Augenbrauen zusammen. „Rotkäppchen?“, überlegte sie kurz, bevor ihr das wohlbekannte Licht aufging. „Halt Grell da raus“, sagte sie missmutig, konnte ein Zucken ihrer Mundwinkel allerdings nicht vermeiden. Tatsächlich, Grell hätte sicherlich etwas Ähnliches von sich gegeben. „Ihr steht euch nahe“, stellte der Undertaker ohne jegliche Wertung fest, woraufhin die Shinigami nickte. „Ja, er ist wie ein Bruder für mich. Also mach dich nicht lustig über ihn.“ Für einen Moment war sie über ihre eigenen Worte erstaunt, doch gleich darauf wurde ihr klar, dass sie stimmten. Grell war wirklich zu so etwas wie einem großen Bruder für sie geworden. Bestimmt machte er sich bereits furchtbare Sorgen und trieb die anderen Shinigami in den Wahnsinn… Sie musste wieder zurück. „Also, was muss ich tun, damit du mich gehen lässt? Irgendeinen Grund wirst du ja wohl gehabt haben, weshalb du mich mitgenommen hast.“ Erneut erschien dieses eine Lächeln auf den Lippen des Undertakers. Das zahnlose und ernste Lächeln, das sie unwillkürlich schlucken ließ. „Du kannst gehen, wann du möchtest. Ich halte dich nicht auf.“ Carina zog eine Augenbraue in die Höhe. Wo war der Haken? Es musste einen geben, der Bestatter war einfach viel zu gut gelaunt. „Na gut“, begann sie zögerlich und versuchte ihr Glück, „dann gib mir meine Death Scythe zurück und ich verschwinde.“ Das Grinsen auf seinem Gesicht wurde wieder breiter. Carina kannte ihn mittlerweile gut genug um zu wissen, dass das ein schlechtes Zeichen war. „Davon, dass ich dir deine Death Scythe zurückgebe, war nicht die Rede.“ „Wie bitte?“, erwiderte die 18-Jährige verblüfft und bekam sogleich eine Antwort. „Du kannst jederzeit gehen, aber deine Death Scythe werde ich dir nicht zurückgeben. Du musst sie schon selbst finden. Und um es gleich einmal vorweg zu nehmen, ich bin sehr gut darin Dinge zu verstecken, hehe.“ Und da war er, der Haken. Carina ballte ihre Hände zu Fäusten. Natürlich, sie hatte es ja befürchtet. So einfach würde er sie nicht ziehen lassen. „Machen wir doch einen Deal“, ergriff er plötzlich erneut das Wort und hielt seinen rechten Zeigefinger in die Höhe. „…Einen Deal?“, fragte Carina nach kurzem Zögern und schaute ihn misstrauisch an. Was ging jetzt schon wieder in seinem Kopf vor? „Du darfst dich frei auf dem ganzen Gelände bewegen, um nach deiner Death Scythe zu suchen und sobald du sie hast, lasse ich dich ohne Widerstand gehen. Aber solange du sie suchst, spielen wir nach meinen Spielregeln.“ Die 18-Jährige dachte kurz über seine Worte nach. Nein, so schnell würde sie ihm nicht zustimmen. Sie kam aus dem 21. Jahrhundert und in dieser Zeit lernten Mädchen, dass sie in einem Vertrag auch immer das Kleingedruckte lesen sollten. „Und was wären das für Spielregeln?“ „Vorrangig natürlich, dass du nicht den Kontakt zu den Shinigami suchst oder mich in einer sonstigen Art und Weise verrätst. Hehe, dann wäre der ganze Spaß doch viel zu schnell vorbei. Ach ja, und natürlich“, fuhr er fort und richtete seine, nun dunkel aufblitzenden, Augen direkt auf ihr Gesicht, „dass du mir bei meinem Plan nicht in die Quere kommst. Egal, was für Dinge oder Menschen du auch sehen wirst.“ „Menschen? Du meinst wohl Leichen“, zischte sie und ihr Gegenüber zuckte mit den Schultern. „Nenn es wie du möchtest, aber wenn du dein Schwert wiederhaben möchtest, dann wirst du dich wohl darauf einlassen müssen. Und sei ehrlich zu dir selbst, könntest du einfach so in die Welt der Shinigami zurückkehren, ohne wenigstens ein bisschen über mich und meine Pläne herausgefunden zu haben? Denn auch ich kenne dich gut genug Carina, um zu wissen, dass du deine Neugierde kaum unter Kontrolle halten kannst. Es wäre doch schade, sie unbefriedigt zu lassen.“ Carina brauchte keine Sekunde um zu erkennen, dass er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. „Verflucht. Er hat Recht“, dachte sie und war kurz auf sich selbst wütend. Sie stellte sich die Situation vor. Wenn sie ihre Death Scythe jetzt sofort hätte und wieder zurückkehren würde. „Ich würde mich mein ganzes Leben lang fragen, was seine Beweggründe gewesen sind. Würde mir immer wieder dieselben Fragen stellen, ohne jemals eine Antwort zu bekommen. Und wenn man unsterblich ist, dann ist das eine verdammt lange Zeit.“ Ein schweres Seufzen entfuhr ihren Lippen und unbewusst strich sie sich durch die blonden Haare. Wenn William das jemals erfahren würde, dann würde er ihr den Hals umdrehen. Ganz zu schweigen von Grell oder Alice. „Also? Haben wir einen Deal?“, fragte der Undertaker kichernd nach, obwohl er die Antwort in seinem tiefsten Inneren schon längst kannte. „Ja. Wir haben einen Deal“, gab Carina sich geschlagen und hoffte noch im gleichen Augenblick, dass sie diese Entscheidung nicht irgendwann bereuen würde. „Wunderbar.“ Grinsend klatschte der Undertaker seine Hände zusammen. Das würde ein riesiger Spaß werden, da war der Silberhaarigen sich sicher. Carina hingegen wagte es nun zum ersten Mal, den Blick von ihrem Gegenüber abzuwenden und noch ein weiteres Mal aus dem Fenster zu schauen. Ihre Neugierde nahm erneut Überhand. „Wo sind wir hier?“, fragte sie und betrachtete erneut den Innenhof. „Das hier ist das Weston College“, erwiderte der Shinigami und klang dabei so enthusiastisch, dass Carina sich fragte ob er schon die ganze Zeit auf diese eine Frage gewartet hatte. „Da lag ich mit meinen Vermutungen also gar nicht so weit daneben.“ Dennoch musste sie einfach nachfragen. „Weston College?“ „Das Weston College gilt als die beste öffentliche Schule Englands, weshalb die Adelsfamilien des ganzen Landes ihre Söhne hier ausbilden lassen.“ Der Undertaker hob verwundert den Blick, als der jungen Frau am Fenster ein Geräusch entfuhr. Im ersten Moment konnte er es nicht zuordnen, doch als er das unterdrückte Lächeln auf ihrem Gesicht sah fiel der Groschen. Das breite Grinsen, das nun auf sein Gesicht trat, war beinahe beängstigend. „Hehe, was habe ich denn so lustiges gesagt, dass du lachen musst? Was du im Übrigen viel öfter tun solltest.“ Carina drehte ihr Gesicht in Richtung Fenster, als sie spürte wie sie zum wiederholten Male an diesem Tag rot wurde. Langsam machte ihr das wirklich Sorgen. Ob sie wohl Fieber hatte? „Ich dachte nur, dass das wohl der letzte Ort sein dürfte, wo der Earl und sein Schoßhündchen dich vermuten würden. Ein Jungeninternat, das nur von den Söhnen der Adeligen besucht wird? Das passt nicht zu dir. Ganz und gar nicht.“ Nun konnte auch der Undertaker nicht anders, er lachte freudig auf. „Da könntest du durchaus Recht haben. Aber eins solltest du wissen. Das Weston College ist so exklusiv, dass es keinerlei Einmischung der Regierung duldet. Es ist wie ein abgeschlossener Raum, in dem selbst die Königin nichts zu sagen hat.“ „Ah ja, die Königin“, dachte Carina und erinnerte sich daran, dass der Bestatter genau diese nicht mochte. Verübeln konnte sie es ihm nicht, er war immerhin mal Shinigami gewesen, also musste er von ihren Taten wissen. Aber was hatte er damals noch mal gesagt? „Ich habe etwas Wichtiges verloren und sie ist nicht ganz unschuldig daran.“ Was hatte er damit wohl gemeint? Noch ein Geheimnis, dass er mit sich trug. Und die 18-Jährige war entschlossen, wenigstens ein paar von Ihnen zu lösen. „Die Sonne geht bald auf. Vielleicht gönnst du dir noch ein paar Stunden Schlaf, bevor du dich auf die Erkundung des Geländes begibst, hehe. Ich wünsche dir jedenfalls viel Spaß dabei.“ „Als könnte ich jetzt schlafen“, dachte sie, sagte aber stattdessen: „Sei lieber nicht so selbstsicher. Ich werde meine Death Scythe schon finden. Du hast doch selbst gesagt, dass du dich von deiner Sense nicht trennen konntest, weil ihr so viel zusammen erlebt habt. Tja, für mich gilt dasselbe. Ich habe auch nicht vor, sie so einfach herzugeben.“ „Gut zu wissen“, murmelte er wissend und konnte seine Freude darüber kaum verbergen. Schlussendlich hatte er tatsächlich Recht gehabt. Solange die Shinigami ihre Death Scythe nicht hatte, würde sie nicht einfach so verschwinden. Carina schaute dem Silberhaarigen nach, als er langsam zur Tür schritt. Anscheinend würde er ihr jetzt wirklich etwas Raum und Zeit für sich selbst geben. „Die kann ich auch dringend gebrauchen. Ich muss meine Gedanken sortieren.“ „Ach ja und Carina“, sagte er plötzlich und zog damit wieder die Aufmerksamkeit der Blondine auf sich. Sein Gesicht zierte erneut dieses bedeutende Lächeln. „Gut zu wissen, dass du mich attraktiv findest.“ Carina klappte der Mund auf wie ein Fisch auf dem Trockenen, aber bevor sie auch nur ein Wort sagen konnte hatte der Undertaker bereits die Tür hinter sich geschlossen und sie alleine im Zimmer stehen lassen. Für einen Moment herrschte in dem dunklen Raum erdrückende Stille, die schließlich nur durch einen geflüsterten Satz unterbrochen wurde. „Worauf hab ich mich hier nur eingelassen?“ Kapitel 29: Sorge und Suche --------------------------- „Was soll das heißen, ihr habt sie nicht gefunden?“, fuhr Alice den Rothaarigen aufgebracht an und vergrub ihre manikürten Fingernägel in seinem Kragen. „Das soll heißen“, antwortete Grell, mindestens ebenso außer sich wie die Schwarzhaarige, „dass wir den ganzen verdammten Ozean abgesucht haben und sie nicht gefunden haben.“ Der Seelensammler riss sich aus ihrem Griff los und schritt nun unruhig in seinem Zimmer hin und her. Verdammt, er machte sich auch so schon genug Sorgen, musste diese nervige Ziege jetzt auch noch in seiner Wohnung auftauchen und ihn belästigen? William, Ronald und er hatten den kompletten Bereich rund um die Campania abgesucht, in der Hoffnung, dass Carina nur irgendwo bewusstlos herumtrieb. Als diese Suche nicht gefruchtet hatte, hatte William noch andere Shinigami zur Unterstützung gerufen. Anschließend hatten sie stundenlang gesucht, aber am Ende hatten sie sich geschlagen geben müssen. Innerhalb so einer kurzen Zeit hätte die junge Shinigami unmöglich so weit vom eigentlichen Geschehen abtreiben können. Da waren sich Grell und William ausnahmsweise einmal einig. Also konnte es nur eine Erklärung für ihr Verschwinden geben. „Wenn ich diese silberhaarige Sahneschnitte in die Finger bekomme, dann kann er aber was erleben“, fluchte Grell innerlich und biss sich auf seine makellosen Lippen. Niemals hätte er gedacht, dass er sich um das blonde Mädchen so viele Sorgen machen würde. Anfangs hatte ihn die Vorstellung einer Schülerin nur genervt, aber ohne dass er es gemerkt hatte, war ihm Carina immer mehr ans Herz gewachsen. Klar, sie konnte schon manchmal nerven, aber bei der Vorstellung, dass ihr etwas passiert sein könnte, drehte sich ihm der Magen um. „Sie ist fast schon so etwas wie meine kleine Schwester. Ich werde sie finden, früher oder später.“ „Grell. Hörst du mir überhaupt zu?“, zischte Alice, die den Rothaarigen in den letzten Sekunden erneut mit Vorwürfen überschüttet hatte. Grell platzte der Kragen. „Glaubst du vielleicht du bist die Einzige, die sich um Carina sorgt?“, schrie er und seine Stimme rutschte automatisch eine Oktave höher. Alice blinzelte ihn überrascht an. Mit so einem Ausbruch seinerseits hatte sie dann doch nicht gerechnet. „Carina ist meine Schülerin, natürlich werde ich alles versuchen, um sie zu finden, du dumme Ziege. Normalerweise würde ich mir überhaupt keine Sorgen machen. Ich weiß, dass sie stark ist, stärker als so manch anderer. Aber dieser Typ…dieser Undertaker…“ Er brauchte seinen Satz nicht zu beenden, Alice verstand auch so. Dieser abtrünnige Shinigami musste wirklich stark sein, immerhin hatte er Ronald, Grell und einen Dämon in Schach halten können. Und so einer sollte Carina jetzt in die Finger bekommen haben? Was, zum Teufel, bezweckte er überhaupt damit? Was wollte er von Carina? „Also“, begann Grell schnippisch und versuchte, die Reste seiner Selbstachtung wieder zu finden. „Wenn du mich dann jetzt entschuldigst, Prinzessin auf der Erbse, ich habe eine Suchaktion zu leiten.“ Mit schwingenden Hüften ging er an der Schwarzhaarigen vorbei und griff nach der Türklinke. Doch bevor er sie ganz öffnen konnte, spürte er plötzlich ein Ziehen an seinem linken Ärmel. Verwundert drehte er sich zu der jungen Frau aus der Registratur zurück. Ihre Augen lagen im Schatten, mit den Fingerspitzen ihrer rechten Hand hatte sie seinen linken Ärmel ergriffen. Bevor der Rothaarige einen blöden Kommentar von sich geben konnte, bemerkte er plötzlich, dass sie zitterte. Ihre Schultern bebten regelrecht. „Bitte…“, flüsterte sie leise und als sie ihn nun endlich ansah, konnte er die Tränen in ihren gelbgrünen Augen sehen. „Bitte bring Carina zurück.“ Einen langen Moment passierte gar nichts. Alice schaute dem femininen Seelensammler lediglich in die Augen und Grell konnte kaum fassen, dass die schwarzhaarige Nervensäge ihn tatsächlich um etwas bat. „Ihr scheint ja wirklich etwas an Carina zu liegen“, gestand sich der Shinigami widerwillig ein und sprang schließlich über seinen Schatten, indem er der Frau vor sich einen aufmunternden Blick zuwarf. In dieser Hinsicht wollten sie Beide immerhin zum allerersten Mal das Gleiche. „Keine Sorge. Das werde ich!“ „Dieser Mistkerl“, zischte Carina wütend und ballte ihre Hände zu Fäusten. Dabei hatte der Tag relativ gut angefangen. Als sie nach 2 Stunden endlich den Versuch aufgegeben hatte, wenigstens ein bisschen Schlaf zu finden, war sie aus dem riesigen Bett aufgestanden und hatte zum ersten Mal das Zimmer verlassen. Sofort war ihr die Tür aufgefallen, die sich direkt neben dem Schlafzimmer befand. Erleichtert hatte sie festgestellt, dass es sich um das Badezimmer handelte. Es war ebenso wie das andere Zimmer ziemlich luxuriös eingerichtet worden. Eine große Badewanne war in die linke Seite des Raumes eingelassen worden. Dort hätten ohne Mühe auch drei Menschen Platz gefunden. Auf der rechten Seite befand sich ein breites Waschbecken, gleich davor an der Wand ein hoher rechteckiger Spiegel. Zu beiden Seiten des Waschbeckens standen mittelgroße Holzschränkchen, die mit Hand- und Badetüchern sowie mit Badeutensilien gefüllt waren. Carina dachte gar nicht lange nach. Sie schloss die Tür hinter sich ab und zog rasch die Klamotten aus. Zuerst die kaputte Bluse, dann die dreckige Hose und anschließend noch ihre Unterwäsche. Als Letztes legte sie ihre Brille vorsichtig auf einen der Schränke und ließ sich nach 5 Minuten endlich ins angenehm warme Wasser sinken. Nur mit Mühe konnte sie sich ein Stöhnen verkneifen. Gott, endlich konnte sie sich wieder anständig waschen. Auf der Campania hatte sie ihre Zeit im Bad auf das Nötigste beschränkt, immerhin war Ronald gleich im nächsten Zimmer gewesen und bei diesem Idioten wusste man ja nie. Und dann war die Sache mit den Leichen passiert. „Und keiner kann mir sagen, dass man nach so etwas kein ausgiebiges Bad bräuchte.“ Auch ihre Muskeln lockerten sich merklich in der Wärme des Wassers. All die Anspannung der letzten Tage fiel – wenn auch nur für einen kleinen Moment – von ihr ab. Allerdings begannen gleich darauf wieder unzählige Gedanken in ihrem Kopf herumzuwirbeln. Sie konnte sich noch ganz genau an die Zeit im Bestattungsinstitut erinnern. Nicht einmal für eine Sekunde hatte sie in Erwägung gezogen, dass der Undertaker mehr sein könnte, als nur ein verrückter Bestatter. War sie denn blind gewesen? Im Nachhinein wirkte diese Tatsache so offensichtlich, dass sie doch darüber hätte stolpern müssen. „Gott, was war ich naiv…“, schoss es der 18-Jährigen unwillkürlich durch den Kopf, während sie nach einem der vielen Haarwachmittel griff. Hatte sie damals wirklich gedacht, dass der Undertaker nur ein unwichtiger Nebencharakter im Manga war? Dieser Gedanke wirkte nun nahezu lächerlich. „Wenn der ein Nebencharakter geblieben ist, dann fress ich einen großen Besen.“ Nach einer guten halben Stunde stieg sie aus der Badewanne heraus und trocknete sich gründlich ab. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie sich gar keine Wechselklamotten mitgebracht hatte. „Na großartig“, murmelte sie und schlang sich mit einem unguten Gefühl ein großes Badetuch um den Körper. Wenn der Silberhaarige jetzt vor der Tür stand, dann würde er sein blaues Wunder erleben. Doch das Glück schien dieses Mal auf ihrer Seite zu sein. Carina öffnete vorsichtig die Badezimmertür und huschte im nächsten Augenblick schnell ins Schlafzimmer zurück. Nachdem sie die Tür hinter sich verriegelt hatte, ging sie auf den riesigen Schrank zu und öffnete neugierig die erste Doppeltür. Fein säuberlich aneinandergereiht hingen dort Herrenanzüge, Hemden und Anzugsschuhe. „Wer hier wohl gewohnt hat? Na ja, eigentlich kann es mir egal sein. Wenn der Undertaker ja jetzt hier ist, ist derjenige vermutlich eh schon tot.“ Leise schloss sie die linke Schrankseite und wandte sich nun der Rechten zu. Gleich darauf musste sie die Augen verdrehen. „Ich hätte es eigentlich wissen müssen“, murmelte sie und starrte auf die Kleider, die hier verwahrt wurden. Ein schwerer Seufzer entfloh ihren Lippen. Ihre Shinigami Uniform war ruiniert und die Hosen in diesem Schrank würden ihr wohl kaum passen. „Super, jetzt geht das wieder los“, regte sie sich auf und wühlte sich durch den Schrank. Nach ca. 10 Minuten hatte sie sich endlich für ein Kleid entschieden. Vom Schnitt her war es ihrem ersten Kleid ziemlich ähnlich. Es war dunkelrot, mit langen Ärmeln und einem Rundhalsausschnitt, der hoch genug war um ihre Narbe gänzlich zu verdecken. Der Rock des Kleides bedeckte ihre Knie und stand leicht ab. Darunter hatte sie, wie damals auch, eine schwarze Strumpfhose und ihre schwarzen Stiefel angezogen. „Grell würde es lieben“, gab sie zu und musste widerwillig grinsen, als sie sich im Spiegel betrachtete. Es war immerhin kein Geheimnis, dass Rot seine absolute Lieblingsfarbe war. „Dann wollen wir uns dieses Weston College doch mal etwas genauer ansehen“, dachte Carina und wählte – anstatt den normalen Weg durch die Tür zu nehmen – das Fenster. Flink kletterte sie auf das Dach des höchsten Gebäudes und ließ zum ersten Mal den Blick über den gesamten Campus gleiten. Sie traf fast der Schlag. „Wie soll ich denn auf diesem riesigen Gelände jemals meine Death Scythe finden?“, schoss es ihr durch den Kopf. Ein Haus allein hatte bestimmt schon um die 100 Zimmer, von vier Gebäuden ganz zu schweigen. Und ein Schwert konnte man so gut wie überall verstecken. In Truhen, Schränken, Abstellkammern, aufklappbaren Tischen, unter einem Bett… Diese Suche konnte Tage, wenn nicht sogar Wochen dauern. Eine Nadel im Heuhaufen zu suchen wäre vermutlich einfacher. „Dieser Mistkerl“, zischte Carina wütend und ballte ihre Hände zu Fäusten. Dabei hatte der Tag so gut angefangen. 2 Stunden später ließ sie sich auf dem dicken Ast eines Baumes nieder und versuchte zu verarbeiten, was sie bisher in Erfahrung gebracht hatte. Das Weston College war nicht nur allein ein Internat nur für Jungen; nein, hier auf dem Campus waren Frauen strengstens verboten. Nur zu offiziellen Anlässen erhielten weibliche Verwandte die Erlaubnis, das Gelände überhaupt betreten zu dürfen. „Super. Jetzt kann ich also die ganze Zeit unsichtbar hier rumlaufen. Ganz große klasse.“ An und für sich war das kein Problem, aber so konnte sie die Zeit, die sie hier sein würde, lediglich mit dem Undertaker sprechen. Und sie konnte niemanden um Hilfe bitten. Ursprünglich hatte sie sich darüber nämlich schon Gedanken gemacht. Immerhin kannten die Schüler das Gelände und die Schule tausend Mal besser als sie und hätten ihr bestimmt den ein oder anderen nützlichen Tipp bei der Suche geben können. „Tja, daraus wird jetzt wohl nichts mehr“, dachte Carina zerknirscht. Und wo sie gerade von den Schülern sprach… „Erst die Titanic und jetzt die Parallele zu Harry Potter. Die Autorin schien wirklich eine sehr ausgeprägte Fantasie zu haben.“ Im Ernst, die Schüler befanden sich in 4 Häusern? Selbst jemandem, der nur die Filme geschaut hatte, wäre diese Ähnlichkeit aufgefallen. Und Carina war seit ihrem sechsten Lebensjahr ein eingefleischter Harry Potter Fan, daher hatte sie diese Information fast wie ein Schlag ins Gesicht getroffen. Gleichzeitig war ihr bewusst geworden, dass sie auf das Erscheinen des ersten Bandes noch 108 Jahre warten musste. „Kann mich mal bitte jemand umbringen?“, dachte sie und versank für wenige Sekunden in Selbstmitleid. „Dennoch...Die Idee von den Häusern ist gar nicht so übel“, musste Carina widerwillig zugeben und ließ sich die ganze Geschichte noch einmal durch den Kopf gehen. Die Häuser trugen die Namen “Scarlet Fox”, “Green Lion”, “Sapphire Owl” und “Violet Wolf”. Die Schüler des Hauses Scarlet Fox schienen alle sehr bekannten adeligen Familien anzugehören, denn Vorrausetzung dort war eine besonders edle Geburt. Das Wappen von ihnen war rot und zeigte einen Fuchs mit einer Rose. Außerdem hatte es eine Krone auf der oberen Seite des Wappens. „Scheint recht passend zu sein. Diese Schüler scheinen noch arroganter zu sein, als die üblichen reichen Fatzken.“ Dann war da noch das Haus Green Lion. Dort wurde ganz besondern Wert auf hervorragende Kampfkünste und Sport allgemein gelegt, was man auch den Schülern durchaus ansah. Alle waren sie groß, hatten eine aufrechte Haltung und schienen sich vor nichts zu fürchten. Dieses Wappen war logischerweise grün und zeigte ein Löwe mit Stechpalme im Hintergrund, sowie einen Ritterhelm am obersten Kopf des Wappens. Das Haus Sapphire Owl war sozusagen der große Streber des Colleges. Alle Schüler dort waren besonders intelligent und lernfähig. Das Wappen des blauen Hauses zeigt eine weiße Eule mit Enzian und einer Krone oberhalb des Zeichens. Es war definitiv schlichter als die ersten beiden Wappen, sah aber gar nicht so übel aus. Das vierte und somit letzte Haus – Violet Wolf - stach durch die Schüler hervor, die besonders künstlerisch veranlagt waren. Das Wappen zeigte einen Wolf mit einer Dahlie und hatte ebenfalls eine Krone oberhalb des Zeichens. Unwillkürlich fragte Carina sich, in welchem Haus sie wohl wäre. Scarlet Fox schied natürlich aus, so viel stand fest. „Und Violet Wolf auch. Daran würde wohl niemand zweifeln, wenn er mich mal an einem Instrument oder beim Zeichnen gesehen hätte“, gluckste Carina in Gedanken. Nein, Musik und Kunst gehörten wahrlich nicht zu ihren Stärken. Die Entscheidung zwischen den beiden anderen Häusern fiel ihr persönlich schon schwerer. Sicher, vor ein paar Jahren wäre ihr die Antwort recht leicht gefallen. „Da war ich auch noch kein Shinigami und hatte Grell als Lehrer, der es wirklich geschafft hat mir das Kämpfen beizubringen.“ Doch andererseits konnte sie sich Sapphire Owl auch gut vorstellen. Schlechte Noten hatte sie nie gehabt und mehr als einmal hatte man sie in der Schule als Streberin bezeichnet. „Was für mich nie wirklich als Beleidigung durchgegangen ist. Was kann schon schlimm daran sein intelligent zu sein?“ Um genau zu sein war es ja anscheinend eines der Dinge gewesen, die den Undertaker an ihr interessant gefunden hatte. Der Undertaker… Immer, wenn sie an ihn dachte, konnte sie ihre Gefühle nicht einordnen. Einerseits fürchtete sie sich vor ihm. Er war ein erstklassiger Kämpfer, sicherlich war er einmal ein hervorragender Shinigami gewesen. Doch es waren die Dinge, zu denen er imstande war, die sie beunruhigten. Wer wusste schon, was so alles in seinem Kopf vorging? Wer wusste schon, was er alles erlebt hatte, was seine Person ausmachte? Er war in dieser Hinsicht ein lebendes Rätsel. Und was Carina noch mehr Sorgen machte, war sein Plan. „Er hat einen, so viel steht fest. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass er sehr weit gehen würde, um seine Ziele zu erreichen. Was, wenn ich ihm irgendwann dabei im Weg stehen würde? Dann wäre ich vermutlich die nächste Leiche“, schoss es ihr durch den Kopf und ein unangenehmer Schauder fuhr ihr über die Arme. Ja, der Silberhaarige hatte das bei ihrem letzten Gespräch mehr als deutlich gemacht. Anderseits hatte er sie damals gerettet, war wirklich selbstlos und hilfsbereit gewesen. Er war verrückt, amüsierte sich ständig auf Kosten anderer Leute, grinste albern und konnte den Leuten in seiner Nähe wirklich den letzten Nerv rauben… „Aber irgendwie mag ich ihn trotzdem“, murmelte Carina und seufzte schwer. Allein die Tatsache, dass sie ihn auf dem Schiff nicht genauso ernsthaft attackiert hatte wie Grell und Ronald, bewies das doch schon. Aber wem machte sie hier eigentlich etwas vor? Natürlich, sie mochte ihn, aber das war nicht alles. „Ich finde ihn anziehend. In jederlei Hinsicht. Und das macht mich noch wahnsinnig.“ Verflucht noch mal. Und dass er sie bereits zwei Mal geküsst hatte, machte die Sache nur noch schlimmer. Sicher, Carina machte sich keine Illusionen. Jemand, der so aussah wie der Silberhaarige, konnte kein Interesse in dieser Art an ihr haben. „Was ich schließlich auch nicht habe. Nur, weil ich ihn gutaussehend finde und attraktiv, habe ich noch lange nicht solche Gefühle für ihn. Allerhöchstens ist das eine kleine Schwärmerei. Dennoch, allein das ist schon lästig genug. Immerhin habe ich keine Ahnung, ob ich ihm vertrauen kann oder nicht.“ Trotzdem hatte sie momentan ein ganz anderes Problem. Sie musste nach wie vor ihre Death Scythe finden. In einer fließenden Bewegung richtete die 18-Jährige sich auf. Vielleicht musste sie die ganze Sache logisch angehen. „Wenn ich der Undertaker wäre, wo würde ich dann etwas verstecken?“ Im nächsten Moment schlug sich die Shinigami eine Hand gegen die Stirn. Großartig, sich in den Undertaker hineinzuversetzen war in etwa so schwierig, wie Grell dazu zu bringen, sich nicht mehr für William zu interessieren. Also ein Ding der Unmöglichkeit. „Moment mal“, dachte sie plötzlich, als ihr etwas einfiel. „Seine Death Scythe und seine Sotobas hat er am Körper getragen, ohne, dass es jemand bemerkt hat. Vielleicht trägt er auch meine Death Scythe bei sich.“ Der Gedanke war logisch betrachtet sogar relativ einleuchtend. „Das sähe ihm ähnlich. Lässt mich wie den letzten Idioten durch die komplette Schule rennen und dabei trägt er sie die ganze Zeit dicht bei sich. Das muss es sein.“ Stellte sich nur noch die Frage, wie sie diese Theorie überprüfen sollte. Es nützt nichts, erst einmal musste sie ihn finden. Dann konnte sie immer noch improvisieren. „Na dann mal los“, sagte sie zu sich selbst und machte sich auf den Rückweg zu den Räumlichkeiten, in denen sie erwacht war. Was konnte bei dem Plan schon schief gehen? Kapitel 30: Die Abstellkammer ----------------------------- Da Carina den schlechtesten Orientierungssinn aller Zeiten hatte und den direkten Weg nicht kannte, nahm sie einfach genau den Gleichen wie schon zuvor – den indirekten Weg durchs Fenster. „Ich sollte mir das abgewöhnen. So langsam komme ich mir schon vor wie ein Einbrecher“, murmelte sie leise und schloss die Fenstertür langsam hinter sich. Das Schlafzimmer sah noch genauso aus, wie vor wenigen Stunden. Anscheinend hatte der Undertaker es nicht betreten. Zielstrebig steuerte Carina die Tür an, öffnete sie und trat heraus. Dieses Mal ignorierte sie den Eingang zum Badezimmer und ging den schmalen Flur entlang. Zum wiederholten Male fragte sie sich, wer hier wohl gewohnt hatte. Schüler konnten es nicht gewesen sein, im Schlafzimmer stand nur ein Bett. In den anderen Räumlichkeiten, die sie in den letzten Stunden gesehen hatte, waren die Jungen immer mindestens zu dritt auf einem Zimmer gewesen. „Vielleicht ein Lehrer?“, vermutete sie stumm und gelangte zu einer ziemlich breiten Tür. Vorsichtig schob sie sie auf, woraufhin das Holz unter der Bewegung leise knarzte. Der Raum dahinter war unverkennbar ein Arbeitszimmer. 3 der vier Wände wurden von Bücherregalen gesäumt, genau mittig vor dem hinteren Wall stand ein ziemlich großflächiger Schreibtisch samt Stuhl. An der bücherfreien Wand auf der linken Seite hingen – fein säuberlich in einer Reihe – die Sotobas des Undertakers. „Es sind nur 10 Stück. Auf der Campania hatte er elf. Heißt, die eine Sotoba, die sich als seine Sense herausgestellt hat, trägt er bei sich. Also gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder hat er nur einen seltsamen Sinn für Dekoration oder er hat sie hier aufgehängt, um statt ihnen meine Death Scythe bei sich zu tragen.“ Keine der zwei Möglichkeiten wollte sie ausschließen. Dass seine Deko ungewöhnlich sein konnte, hatte sie ja schon in seinem Bestattungsunternehmen bemerkt. Immerhin, im Nachhinein machte es deutlich mehr Sinn, dass er seinen Job als Bestatter so meisterhaft ausgeführt hatte. „Wieder ein Punkt auf der Liste, warum ich etwas hätte merken müssen“, murmelte sie und trat in den Raum hinein. Beim Anblick der ganzen Bücher machte ihr Herz einen freudigen Satz. Sie konnte nicht verhindern, dass sich ein verzücktes Lächeln auf ihre Lippen legte. Mit bedächtigen Schritten stellte sich die 18-Jährige direkt vor eines der Regale und strich sanft über mehrere der ledernden Bücherrücken. Als sie eines der Bücher wiedererkannte, griff sie danach und zog es vorsichtig aus dem Regal heraus. Staub wirbelte auf und brannte kurz in ihren Augen. „Stolz und Vorurteil von Jane Austen. Wow, ist sogar eine Erstausgabe“, murmelte sie und blätterte eine der vergilbten Seiten mit Bedacht um. An die Geschichte konnte Carina sich noch gut erinnern, es war ein netter Zeitvertreib gewesen. Die 18-Jährige konnte sich zwar nicht mehr genau daran erinnern, wann es passiert war, aber eigentlich hatten Bücher sie schon immer fasziniert. Die Erwartungen an das Geschriebene, wenn man das Werk zum ersten Mal in der Hand hielt. Das Gefühl unter den Fingern, wenn man Seite um Seite umblätterte. Die Freude und gleichzeitige Enttäuschung, wenn man die letzte Seite einer Geschichte gelesen hatte. Ja, nichts war besser als ein gutes Buch. „Du magst Bücher?“, erklang hinter ihr plötzlich und unerwartet die Stimme des Undertakers, was die Shinigami erschrocken zusammenzucken ließ. Sie hatte nicht einmal gehört, wie er herein gekommen war. „Nein“, seufzte sie und klappte das Buch zu. „Ich liebe sie.“ Behutsam stellte sie das Werk an seinen ursprünglichen Platz zurück und drehte sich dann zu dem Shinigami um. Gleich darauf wurden ihre Augen eine Spur größer. Der Silberhaarige hatte nicht mehr die Kleidung an, die er üblicherweise trug. Jetzt war er eher gekleidet wie ein englischer Gentleman. Seinen Oberkörper bedeckten ein weißes Hemd, eine schwarze Anzugsweste und eine ebenfalls schwarze Krawatte. Abgerundet wurde das Bild durch eine schwarze Anzugshose und –schuhe. Anscheinend hatte er bis gerade eben auch ein Jackett und einen Zylinder getragen, denn diese Kleidungsstücke lagen nun auf dem Schreibtisch. Carinas Mund war mit einem Mal furchtbar trocken. Die Augen des ehemaligen Seelensammlers huschten kurz, aber dafür intensiv über ihr Erscheinungsbild. Das Kleid stand ihr. „Das Kleid steht dir gut“, sagte er nun auch laut. Die 18-Jährige wirkte zuerst verblüfft und dann auf eine seltsame Art verlegen. Was sollte sie darauf jetzt antworten? Danke? Carina hatte noch nie gut mit Komplimenten umgehen können. Nie wusste sie, ob ihr Gegenüber es wirklich ernst meinte oder sie lediglich ein wenig verspotten wollte. Vermutlich lag das vorrangig daran, dass sie nie wirklich richtige Komplimente bekommen hatte. „Was ist das hier für eine Wohnung?“, wechselte sie schnell das Thema und bekam auch sogleich eine Antwort. „Das hier ist das Reich des Direktors. Nett, nicht?“ „Ich nehme an, dass der werte Herr Direktor nicht mehr unter uns weilt?“, seufzte Carina ein wenig genervt, wurde gleich darauf aber eines besseren belehrt. „Oh doch, doch. Er lebt noch. Der Direktor hat sich vor ein paar Wochen auf eine Weltreise begeben und wird erst im Herbst nächsten Jahres zurückerwartet. Und da dachte ich mir, bis er zurück ist übernehme ich seinen Job.“ „Du? Als Direktor?“, fragte die Shinigami zweifelnd, während ihre rechte Augenbraue immer höher wanderte. Das erklärte zumindest seine Kleidung. Und es machte seine Tarnung in ihren Augen noch perfekter. Der Earl und Sebastian würden da sicherlich nicht drauf kommen. „Uuuuuuund? Wie lief deine Suche so bisher?“, fragte der Undertaker plötzlich unschuldig, aber mit einer Spur Schadenfreude in der Stimme. Carina schluckte, um ihre Kehle zu befeuchten. Dann versuchte sie die Wut in ihrem Bauch zu zügeln. „Bisher erfolglos, wie du dir ganz sicher bereits gedacht hast“, fauchte sie. Ein breites Grinsen flog ihr entgegen, woraufhin ihre rechte Augenbraue gefährlich in die Höhe zuckte. Wollte dieser Mistkerl sie eigentlich verarschen? „Jetzt muss ich mir irgendwas einfallen lassen, wie ich überprüfen kann, ob er meine Death Scythe tatsächlich bei sich trägt. Aber wie stelle ich das an?“ „Soll ich dir einen Tipp geben?“, sagte er auf einmal, was Carina stutzen ließ. Er wollte ihr helfen? Nein, da musste irgendetwas faul dran sein. Misstrauisch beäugte sie ihn. „Zu welchem Preis?“, fragte sie und der Undertaker klatschte erfreut in die Hände. „Du kennst die Antwort.“ „Das ist jetzt nicht dein Ernst“, stöhnte sie und schlug sich die Hand gegen die Stirn. Gott, damals schon hatte sie es nicht geschafft, ihn durch einen Witz zum Lachen zu bringen und jetzt hatte sie nicht einmal ein Skelett zur Hand, über das sie stolpern konnte. „Aber Moment mal“, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf. „Das könnte mein Problem doch lösen.“ Der Plan gefiel ihr so gut, dass sie ein Grinsen nicht zurückhalten konnte. Der Undertaker, dem das nicht entging, wirkte mit einem Mal sehr verunsichert. Was heckte das junge Ding jetzt schon wieder aus? „Ich soll dich also zum Lachen bringen. Richtig?“, fragte sie ganz unschuldig nach und trat langsam einen Schritt auf den Bestatter zu. Dieser war sich seiner Sache plötzlich nicht mehr allzu sicher, ließ sich allerdings nichts anmerken. „Hehe, wenn du das schaffst, gebe ich dir einen Tipp. Versprochen“, meinte er und bemerkte erst jetzt, dass die Blondine mittlerweile genau vor ihm stand. Automatisch – und hey, er war auch nur ein Mann – glitt sein Blick zu dem Rundhalsausschnitt des Kleides. Carinas Grinsen wurde eine Spur breiter. „Er will lachen? Das kann er haben.“ Und während der Silberhaarige für einen kurzen Moment abgelenkt war, schnellten ihre Hände nach vorne und umfassten seine Seiten. Während der Blick des Undertakers nun blitzschnell in ihr grinsendes Gesicht zurückkehrte, begann sie bereits die Finger zu bewegen und die Reaktion folgte auf dem Fuße. Zuerst entfuhr ihm lediglich ein überraschter Laut, doch eine Sekunde später krümmte sich sein Körper bereits vorn über. Er versuchte automatisch ihren Berührungen zu entgehen, doch Carinas Hände waren flink und fanden ständig einen neuen empfindlichen Punkt. Dann brach das erste Gelächter aus ihm heraus, doch Carina war dennoch noch nicht fertig. „Man sollte immer vorsichtig sein mit dem, was man sich wünscht“, rief sie über seinen Lachanfall hinweg und verstärkte ihre Kitzelattacke nun auch noch. Mittlerweile liefen dem ehemaligen Sensenmann die Tränen über die Wangen und vor lauter Anstrengung ging er bereits in die Knie. „Perfekt“, schoss es ihr durch den Kopf und mit Bedacht tasteten ihre Finger seinen kompletten Oberkörper ab. Verflucht, sie spürte überhaupt nichts. „Na ja, außer seinen stahlharten Muskeln und der Tatsache, dass ich schon wieder rot werde.“ „Stopp! Das…ist genug“, japste der Silberhaarige unter ihr und seufzend ließ sie von ihm ab. Wenn er ihre Death Scythe bei sich trug, dann war sie anscheinend zu blöd um sie zu finden. „Und seine Hose taste ich ganz bestimmt nicht ab.“ Der Undertaker erhob sich, hielt sich dabei aber immer noch keuchend den Bauch. „Okay“, atmete er schwer und kicherte amüsiert. „Hehe, ich gebe zu, auf diese Idee ist noch niemand gekommen.“ „Ich bin ja auch nicht niemand. Also? Wie lautet der Tipp?“ Eines seiner gelbgrünen Augen blitze auf, als er sich seinen Pony wieder ein wenig weiter aus dem Gesicht schob. „Ich versichere dir“, begann er und grinste nun wieder sein spitzbübisches Lächeln, „dass ich dein Schwert nicht bei mir trage.“ Carina blinzelte. Was hatte er da gerade gesagt? Verdammt, hatte er etwa… Sein schelmisches Grinsen wurde noch um eine Spur breiter, als er sich vorbeugte und sein Gesicht nun genau über ihrem schwebte. „Glaubst du etwa, ich habe nicht mitbekommen, was du da gerade gemacht hast?“ Carinas Gesicht nahm die Farbe ihres Kleides an. Er hatte sie komplett durchschaut. Rasch wandte sie den Blick von seinem Gesicht ab und entgegnete murmelnd, aber auch ein wenig beschämt: „Ein Versuch war es wert.“ Mürrisch schaute sie ihn nun doch wieder aus den Augenwinkeln an. Er wirkte mehr als nur amüsiert. „Außerdem weiß ich jetzt zumindest, dass du mich nicht grundlos durch die Schule rennen lässt.“ Und schon wieder zog der Undertaker eine Unschuldsmiene. „Hehe, traust du mir so etwas wirklich zu?“ „Ja“, kam es deutlich und wie aus der Pistole geschossen aus dem Mund der Blondine. Missmutig verschränkte sie die Arme vor der Brust. Gott, wie sollte sie ihre Death Scythe nur jemals finden? „Du siehst aus, als könntest du auch ein paar gute Lacher vertragen“, ertönte neben ihr die Stimme des Totengräbers und eine ungute Vorahnung ließ Carina herumfahren. Gerade noch so stolperte sie einen riesigen Schritt nach hinten und entging somit nur knapp den filigranen Händen des Silberhaarigen. „Oh nein“, sagte sie und hob warnend einen Finger. Ihr Gesichtsausdruck ähnelte nun am ehesten dem eines Tieres auf der Flucht. „Wag dich das ja nicht.“ Doch als sie seinen belustigten Blick sah und sein unheilverkündendes Kichern hörte, wusste Carina, dass es für jegliche Warnungen bereits zu spät war. Sie hatte dieses Spiel begonnen, der Undertaker wollte nun auch mitspielen. Mit einem Geräusch, das irgendwo zwischen einem Japsen und einem Quietschen lag, wirbelte sie herum und rannte zur Tür, den Bestatter dicht hinter sich. „Nein. Bleib weg“, rief sie und flitzte durch den Flur, dicht gefolgt von der Eingangstür. „Na sieh mal einer an. Du kannst ja doch ganz schön flink sein“, lachte der Mann hinter ihr und beschleunigte seine Schritte. Der nächste Flur führte in ein riesiges Treppenhaus, wo die Treppen der 4 Stockwerke sich wendelartig nach unten schlängelten. Ein verschmitztes Grinsen legte sich auf ihr Gesicht. „Nehme ich eben eine Abkürzung.“ Mit einem Satz landete sie auf dem Geländer und stieß sich gleich darauf kraftvoll ab. Kurz erfasste sie in ihrer Magengegend das Gefühl was man hatte, wenn ein Aufzug sich ruckartig nach unten in Bewegung setzte. Doch sie hatte schon längst keine Angst mehr vor Höhen. Ihre Hände fuhren zu dem Saum ihres Kleides und sorgten dafür, dass es an Ort und Stelle blieb. Gedanklich bereitete sich auf den Aufprall vor und landete keine 10 Sekunden später zielstrebig auf ihren Füßen. Am Anfang ihrer Ausbildung wäre so ein Manöver noch undenkbar gewesen. Das Lachen des Undertakers schallte über ihr durch das gesamte Treppenhaus. Er schien wirklich Spaß an diesem Katz- und Mausspiel zu haben. Hastig rannte Carina weiter. Sie hatte zwar selbst keine Ahnung wohin, aber es gab genug Kurven, Abbiegungen, enge Gänge und Treppen, die sie nehmen konnte. Nach ca. 15 Minuten, in denen sie wirklich ohne Pause durch das riesige Gebäude gerannt war, hielt sie das erste Mal an und atmete tief durch. „Mein Gott, ich muss dringend an meiner Kondition arbeiten“, dachte sie sich, gleich darauf knurrte ihr der Magen. „Stimmt, ich hab ja auch eine halbe Ewigkeit nichts mehr gegessen“, murmelte sie, während ihr Blick auf eine ziemlich abgelegene Tür fiel. Vorsichtig sah sie sich auf dem leeren Gang um. Scheinbar schienen momentan alle Schüler Unterricht zu haben und anhand der Stille nahm die Blondine an, dass sie es tatsächlich geschafft hatte den Bestatter abzuhängen. Auf leisen Sohlen schlich sie zur Tür und öffnete sie. Scheinbar handelte es sich hier um eine ziemlich kleine und dunkle Abstellkammer, denn es stand alles Mögliche darin. Ein Besen, Eimer in allen erdenklichen Größen und Farben, ein Wischmopp und noch viele andere Dinge, die Carina in der Dunkelheit des Raumes allerdings nicht erkennen konnte. Fast lautlos schloss sie die Tür hinter sich und seufzte einmal in die Stille der kleinen Kammer hinein. Erst einmal würde sie ein paar Minuten hier drin bleiben und sich einen Plan zurechtlegen, wie sie denn ihre Suche strukturieren würde. Anschließend konnte sie sich immer noch etwas zu Essen organisieren. Und so viel stand fest, in dieser kleinen Abstellkammer würde der Undertaker sie ganz bestimmt nicht… Carina erlitt beinahe einen Herzinfarkt, als aus heiterem Himmel zwei Arme aus der Dunkelheit heraus schossen und sich von hinten um ihre Hüfte schlossen. Ein erschrockener Schrei, viel höher als normalerweise, entfuhr ihr und vollkommen geschockt starrte sie in das breit grinsende Gesicht des Undertakers. „Aber…aber das kann nicht sein“, ging es ihr fassungslos durch den Kopf, während sie ihn wie betäubt anstarrte. Ernsthaft, wie zum Teufel hatte er vor ihr hier sein können? „Hab dich~~~“, flötete er ihr ins Gesicht und bevor sie auch nur ein weiteres Wort, geschweige denn eine Frage formulieren konnte, stürzten sich nun seine Finger auf die empfindlichen Punkte an ihren Seiten. Die 18-Jährige zeigte in etwa dieselbe Reaktion wie ihr Gegenüber zuvor. Ihr Oberkörper krümmte sich nach vorne, hastig versuchte sie seine Hände von sich wegzuziehen, jedoch vergeblich. Carina konnte nicht verhindern, dass sie in lautes Gelächter ausbrach. Wie lange war es schon her, dass sie so herzhaft gelacht hatte? Sie konnte sich nicht erinnern. Das hier war irgendwie…befreiend. Schön. Richtig. Dadurch, dass sie sich so weit nach vorne gebeugt hatte, bemerkte sie gar nicht das ehrliche Lächeln auf den Lippen des Shinigami. Er hatte ja schon immer gesagt, dass es traurig wäre, wenn es kein Gelächter mehr geben würde. Und er mochte ihr Lachen. „B-bitte…ich…kann nicht mehr“, keuchte sie schwer, denn der Undertaker schien noch lange nicht die Absicht zu haben sie loszulassen. Mittlerweile hatte sie Seitenstiche, ihr Zwerchfell schmerzte von der ganzen Lacherei und der wenigen Luft, die sie bekam. Die junge Frau sackte erschöpft gegen die Tür der Abstellkammer zurück und dann endlich, endlich ließ er von ihr ab. Ihre Lungen brannten und sie spürte, wie rot sie von der Anstrengung im Gesicht geworden war. „Hehehe. Nicht so angenehm, was?“, kicherte der Silberhaarige vergnügt, der sich mit seinem rechten Arm ebenfalls an der Tür abstützte und so auf sein Kitzelopfer hinunter blicken konnte. Carina warf ihm daraufhin einen gespielt bösen Blick zu. „Ich hab aber nicht darum gebeten“, atmete sie immer noch ein wenig schwer und schaute zu ihrem Gegenüber auf. Seine silbernen Haare fielen ihm größtenteils über die Schultern. Die Narbe in seinem Gesicht war ihr noch nie so reizvoll vorgekommen. Erst jetzt fiel Carina auf, dass der erste Knopf seines Hemdes geöffnet war und so einen Blick auf eine weitere Narbe am Ansatz seiner Brust preis gab. Seine phosphoreszierenden gelbgrünen Augen leuchteten ihr in der Dunkelheit entgegen, wodurch ihr Herz einen Schlag übersprang. Gott, wie konnte ein Mann allein nur so attraktiv sein? „Es sollte verboten sein, so gut auszusehen“, dachte Carina, als sie ganz plötzlich wieder diese Stimmung zwischen ihnen spürte. Es als Knistern zu bezeichnen wäre viel zu kitschig und noch dazu die Untertreibung des Jahrhunderts gewesen. Da war diese…diese Nähe zwischen ihnen, die sie immer noch nicht in Worte fassen konnte. Und apropos Nähe… Der Bestatter war ihr wieder einmal deutlich näher, als es für zwei Personen normal bzw. unbedenklich war. Und sie waren in einer dunklen Abstellkammer. Ganz allein. Wie schaffte sie es nur immer, in solche Situationen zu geraten? Als der Totengräber sich tiefer zu ihr runterbeugte und sein Atem mittlerweile über ihre Lippen strich, bewegte sich Carina um keinen Millimeter. Vermutlich hatte sie sogar ohne es zu bemerken das Atmen eingestellt. Sie erinnerte sich mit einer schier unglaublichen Intensität an das Gefühl von seinem Mund auf ihrem, an die Wärme und die unerwartete Geborgenheit. Und plötzlich sehnte sie sich nach diesem Gefühl. Sie wollte, dass er sich endlich noch ein Stück weiter vorbeugte und sie erneut küsste. Ihr Herz flatterte vor Aufregung. Ihre Augen – die übrigens ebenfalls in der Dunkelheit leuchteten – brannten sich in Seine. Und dann war es innerhalb eines Augenaufschlags plötzlich vorbei. Carina starrte den Undertaker verwirrt an, denn dieser hatte wenige Millimeter vor ihrem Gesicht inne gehalten und einfach angefangen zu lachen. Für einen Moment war die junge Frau komplett neben der Spur. Was… Hatte sie etwas nicht mitbekommen oder warum lachte er jetzt? „Wie war das noch?“, murmelte er leise und schon wieder wehte ein Luftzug über ihre Lippen. „Mr. Ich-bin-attraktiv-und-schrecke-vor-nichts-zurück kann seinen Mund nicht bei sich behalten? Hehe… Ich beweise dir gerne das Gegenteil.“ Die Shinigami hielt automatisch die Luft an, als er sich nun an ihrem Gesicht vorbei beugte und sein Mund an ihrem rechten Ohr zum Liegen kam. „Wenn du einen Kuss möchtest, dann hol ihn dir!“ Carina konnte seit einiger Zeit guten Gewissens von sich selbst behaupten, dass sie relativ schlagfertig war. Aber zu diesen Worten fiel selbst ihr keine passende Antwort ein. Mit einem zufriedenen Grinsen lehnte sich der Undertaker wieder zurück und griff an ihr vorbei nach dem Türknauf. Dann ließ er sie in der Dunkelheit der Abstellkammer zurück, das Zufallen der Tür hörte sich in den Ohren der Seelensammlerin wie ein Schlag ins Gesicht an. Fassungslos schloss sie ihre Augen. „Nein, ich bin nicht in ihn verknallt. Nein, auf gar keinen Fall.“ Aber sie war ihm restlos verfallen. Und das war in diesem Fall wahrscheinlich noch schlimmer. Kapitel 31: Puderzucker ----------------------- Frustriert ließ Carina ihren Kopf auf die Tischplatte sinken. Ein Stöhnen entrang sich ihrer Kehle. „Ich kann so nicht arbeiten“, murmelte sie in die Stille des Raumes hinein und kam sich gleich darauf ziemlich blöd vor. In letzter Zeit kamen diese Selbstgespräche immer häufiger vor. Das musste aufhören! „Denn langsam wird’s echt peinlich.“ Arghhhh, schon wieder! Ihr kleiner Ausflug in die Abstellkammer war erst wenige Stunden her und je länger sie darüber nachdachte und die Situation analysierte, desto peinlicher wurde das Ganze. Sie hätte sich bereitwillig von ihm küssen lassen, hätte er es denn wirklich versucht. Carina wusste das. Und – was weitaus schlimmer war – der Undertaker wusste es auch. Aber konnte man ihr das wirklich verübeln? „Ganz im Ernst“, dachte sie und strich sich die zersausten Haare aus der Stirn. „Erst bringt er einen mit seinem eigensinnigen Humor fast zum Platzen und dann lächelt er wieder dieses verfluchte Lächeln, das mit Leichtigkeit Weltkriege beenden könnte.“ Das machte sie noch wahnsinnig. Um sich von ihren eigenen Gedanken abzulenken, hatte sie die restlichen Stunden damit verbracht nach ihrer Death Scythe zu suchen. Ganze 5 Stunden lang hatte es gedauert, bis sie mit dem ersten Stock im Westflügel fertig geworden war. Weit und breit keine Spur von ihrem Katana. „Und es war nur der erste Stock. Vom Westflügel. Wenn ich in der Geschwindigkeit weiter mache, sitze ich in einem halben Jahr noch hier fest.“ Ganz ehrlich, konnte die Situation noch schlimmer werden? Wie auf Kommando knurrte ihr Magen laut und grummelnd auf. Mit einem erneuten Stöhnen rieb die 18-Jährige sich über den Bauch. Stimmt, sie hatte wirklich seit einer halben Ewigkeit nichts mehr gegessen. Sicher, als Shinigami hielt sie es wesentlich länger ohne Essen aus als die Menschen und sie konnte streng genommen auch nicht verhungern. Aber jeder kannte das Gefühl, wenn einem der Magen in den Kniekehlen hing. Es war nicht besonders angenehm. Seufzend richtete sie sich auf und schaute sich suchend um. Momentan befand sie sich im Salon des Direktors, der sich direkt neben dem Arbeitszimmer befand. „Sicherlich gibt es hier auch irgendeine Küche. Hoffe ich zumindest“, murmelte sie schlecht gelaunt und trat auf den Flur hinaus. Es dauerte gar nicht lange, da wurde sie bereits fündig. Die Küche war nur halb so groß wie das Arbeitszimmer, aber hatte dafür alles Nötige. Auf der linken Seite des Raumes standen dicht nebeneinander gedrängt zwei Schränke, ein Gasherd, ein für das Jahrhundert typischer Ofen und ein Spülstein. An der rechten Wand, direkt neben der Tür, hingen in einer silbernen länglichen Fassung allerlei wichtige Utensilien, die eine Küche brauchte. Carina erkannte kupferne Töpfe, größere und kleinere Messingpfannen, kupferne Teekessel, gusseiserne Schmortöpfe, Schöpflöffel, Tranchiermesser und sogar eine Petroleumlampe. Ganz hinten in der rechten Ecke stand schlussendlich dann noch ein massiver Holztisch mit zwei Stühlen. Die Gegenstände in diesem Raum schienen relativ unbenutzt zu sein. Anscheinend aß der Direktor des Colleges öfters woanders oder hatte schlichtweg keine Frau, die für ihn kochte. „Damit lässt sich doch hoffentlich etwas anfangen“, dachte die Shinigami und öffnete einen der Schränke. Sogleich verdrehte sie die Augen. „Man sieht, dass der Undertaker jetzt hier lebt“, bemerkte sie trocken und ohne zu bemerken, dass sie schon wieder Selbstgespräche führte. Mehl, Eier, Puderzucker, Vanillezucker… Kurz, alles was man zum Backen von Keksen brauchte. Erneut knurrte ihr erwartungsvoll der Magen. Sie durchsuchte die anderen Schränke, fand jedoch nur noch Rotwein, eine Schale mit Obst und eine kleine Dose Haselnüsse. „In der Not frisst der Teufel Fliegen. Und warum eigentlich nicht? Ich hatte schon seit Ewigkeiten nichts Süßes mehr.“ In der Welt der Shinigami gab es Süßigkeiten nicht gerade in Hülle und Fülle, lediglich Grell brachte immer mal wieder etwas Schokolade zum Training oder ihren „Mädelsabenden“ mit. Da konnten ein paar Plätzchen doch nicht schaden. „Und ich weiß auch schon genau, was für welche ich mache“, überlegte sie mit einem Lächeln und erinnerte sich an ihr Zuhause. Dort, wo sie aufgewachsen war. Kurz vor Weihnachten hatten ihre Mutter und sie immer zusammen Nussplätzchen gebacken, es war beinahe schon so etwas wie eine kleine Tradition gewesen. Die Erinnerung an diese Zeit war schön und bitter zugleich. Zielstrebig griff sie nach einer Schüssel und stellte sich alle benötigten Zutaten daneben. Das Rezept war so einfach, das hatte selbst sie immer mit Leichtigkeit hinbekommen. Zuerst zündete sie das Feuer unter dem Backofen an, denn wie Carina sich selbst kannte, würde sie das nachher vergessen und konnte dann erst einmal warten, bis der Ofen heiß genug war. Gekonnt nahm sie sich ein paar Eier, schlug sie an der Kante der Schüssel auf und vermischte sie anschließend mit Puder- und Vanillezucker. Die Arbeit war mühseliger als sonst, denn jetzt musste sie anstatt eines Handmixers einen Schneebesen benutzen und das dauerte eine ganze Weile länger. Auch bei den Haselnüssen musste sie improvisieren und diese erst klein mahlen. In der Zukunft hatten sie einfach immer gemahlene Haselnüsse abgepackt gekauft. Auch diese verrührte sie mit der schon lecker aussehenden Masse. „So, jetzt nur noch den Apfel kleinreiben“, murmelte sie und kippte das geraspelte Obst anschließend ebenfalls in die Schüssel. „Hmm, lecker“, dachte sie genüsslich, als sie mit einem Löffel den Teig probierte. Ein kurzer Gedankenblitz ließ sie grinsen. „Ja, eigentlich keine schlechte Idee“, sagte sie und begann den Teig zu kleinen Knochen zu formen. Am Ende sahen die Kekse tatsächlich so aus wie die vom Undertaker. Lediglich der Teig war ein Anderer. Ungeduldig schob sie die Kekse in den Backofen und blieb davor knien. Nach 5 Minuten duftete es in der ganzen Küche nach Nüssen und der Shinigami lief das Wasser im Mund zusammen. Gott, wie hatte sie diese Kekse vermisst… Es dauerte gerade einmal 25 Minuten, dann konnte sie das Gebäck bereits aus der Hitze erlösen und zum Abkühlen neben die Spüle stellen. In aller Ruhe begann sie die benutzten Utensilien abzuwaschen, denn natürlich gab es in dieser Zeit auch noch keine Spülmaschine. Als die junge Frau sich gerade die Schüssel mit dem restlichen Puderzucker vornehmen wollte, spürte sie plötzlich, dass sie nicht mehr allein im Raum war. Automatisch schärfte sie ihre Sinne und erkannte den Undertaker an seinen – beinahe – lautlosen Schritten. Ein Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Sie dachte gar nicht daran, sich umzudrehen. Dieses Mal würde der Undertaker sein blaues Wunder erleben, noch mal würde sie sich von ihm nicht überrumpeln lassen. Nein, jetzt war sie an der Reihe. Ein kaum wahrzunehmender Luftzug wehte an ihr vorbei, als der Silberhaarige seine linke Hand ausstreckte, um einen der Kekse vom Blech zu stibitzen. Ihr Grinsen wurde breiter. Im nächsten Moment drehte sie sich in einer fließenden Bewegung um, verstärkte dabei ihren Griff um die Schüssel und kippte dem vollkommen ahnungslosen Bestatter die geballte Ladung Puderzucker mitten ins Gesicht. Eine Sekunde lang starrten die beiden Shinigami sich lediglich schweigend an. Dann blinzelte der Undertaker und brach somit jegliche Selbstbeherrschung, die Carina noch gehabt hatte, entzwei. Die 18-Jährige lachte laut los und musste sich an der Spültheke hinter sich abstützen. Sein Gesicht war einfach göttlich gewesen. Von oben bis unten war er in den weißen Puder gehüllt. Auch sein Anzug würde nun eine dringende Grundreinigung brauchen. „D-das sind… ahehehe…meine Kekse“, presste sie zwischen ihren Lachern hervor, während der Totengräber sie immer noch lediglich anstarrte. Doch plötzlich breitete sich ein kleines Lächeln auf seinen Lippen aus. „Hehe…Ich schätze, das hab ich nicht anders verdient.“ „Stimmt“, entgegnete Carina und hatte nun endlich wieder ihre Stimme gänzlich unter Kontrolle. „Rache ist süß. Dieses Mal sogar im wahrsten Sinne des Wortes.“ „Wie wahr, wie wahr“, antwortete der Undertaker grinsend und wischte sich den Puderzucker vom Gesicht, um ihn sich anschließend genüsslich mit seinen langgliedrigen Fingern in den Mund zu schieben. Einen Moment lang schaute sie ihm schweigend dabei zu. Sollte sie die Situation von vorhin zur Sprache bringen? „Aber wie? Was soll ich sagen? Hey, ich stehe zwar total auf dich, aber das mit uns wird sowieso nie klappen, daher lassen wir es lieber gleich sein? Nein, da schweig ich das Ganze doch lieber tot.“ „Sag mal“, begann sie, wandte sich von ihm ab und begann, die kleinen Knochenkekse in die nun leere Schüssel zu füllen. Da gab es eine Frage, die ihr schon länger auf der Zunge brannte. „Warum hast du mir eigentlich damals geholfen? Ich meine, du hattest doch gar keinen Nutzen davon. Oder was hat ein Shinigami, der anscheinend schon länger im Verborgenen lebt, davon einem Menschen zu helfen? Was war der Grund?“ Obwohl sie den Bestatter nicht sehen konnte, konnte sie aus seinen nächsten Worten das Lächeln heraushören. Es musste eines dieser zahnlosen Lächeln sein, denn sein Ton war tief und ernst. „Interesse“, beantwortete er schließlich ihre Frage und verwundert drehte die 18-Jährige sich zu ihm. Und ganz wie sie es vermutet hatte, lag schon wieder dieses eine Lächeln auf seinen Lippen. Dieses Lächeln, das jedes Mal irgendetwas mit ihrem Gehirn und ihren Knien machte. „Du bist eines Abends einfach so in meinen Laden gefallen. Warst verwirrt, verängstigt und so seltsam gekleidet. Ich habe auf den ersten Blick gesehen, dass du anders warst. Als du dann noch sagtest, du kämst gar nicht aus dieser Zeit, sondern aus der Zukunft…Na ja, das hat mich neugierig gemacht. In meiner ganzen Zeit als Shinigami - und glaube mir, ich bin schon ziemlich lange einer – habe ich noch nie von so einem Vorfall gehört. Ich wollte wissen, was es mit dir auf sich hat.“ Überrascht über seine vollkommen ehrliche Antwort, starrte Carina ihn an. Ihr Blick blieb dabei auf einem kleinen Fleck Puderzucker auf seinem Kinn hängen, den er anscheinend beim Abwischen übersehen hatte. „Nun, sonderlich viel hat es dir schlussendlich ja doch nicht gebracht. Ich bin jetzt schon 2 1/2 Jahre hier und konnte selbst überhaupt nichts in Erfahrung bringen.“ „Oh, glaube mir. Es hat mir in einiger Hinsicht etwas gebracht“, grinste er schelmisch und brachte Carina dadurch zum wiederholten Male in Verlegenheit. Konnte er denn nicht einmal für mehr als 5 Minuten ernst bleiben? „Ich nehme an, die anderen Shinigami wissen nichts von deiner Vergangenheit?“ Die Blondine schüttelte den Kopf. „Nein und ich würde es begrüßen, wenn das auch so bleibt. Das würde nur unnötige Fragen aufwerfen. Dennoch, es interessiert mich immer noch brennend, wieso ich hierher geschickt wurde. Und von wem. Oder…von was.“ Die letzten Worte kamen ihr nur zögerlich über die Lippen, dennoch erregten sie die Aufmerksamkeit des Undertakers beinahe sofort. Er hob eine seiner geschwungenen Augenbrauen, sodass sie unter seinem Haaransatz verschwand. Er brauchte die Frage, die ihm auf der Zunge lag, nicht auszusprechen. Carina verstand sie auch so. Ein Seufzer glitt ihr über die Lippen. „Möglicherweise“, begann sie und wählte ihre Worte mit Bedacht, „habe ich damals nicht die ganze Wahrheit gesagt.“ Jetzt wanderte auch noch seine andere Augenbraue in die Höhe. „Na großartig…“ Der Silberhaarige wusste wirklich, wie man jemanden ganz ohne Worte nervös machen konnte. Schließlich berichtete sie ihm von der Hand mit den Krallen, die sie damals auf dem Friedhof an der Schulter gepackt hatte. „Das Nächste, woran ich mich erinnern kann, ist die Gasse in London, in der ich aufgewacht bin“, endete sie. Mittlerweile saßen der Undertaker und sie auf den beiden Stühlen in der Küche und aßen munter Kekse. „Hehe…das klingt für mich ganz nach einem Dämon.“ „Daran habe ich auch schon gedacht. Aber was hätte ein Dämon davon mich in die Vergangenheit zu schicken? Sind Dämonen überhaupt zu so etwas in der Lage?“ Lässig überschlug der Mann die Beine. „Unter den Dämonen gibt es meines Wissens nach Rangordnungen. Ein mächtiger Dämon ist zu vielen Dingen imstande, aber ob Zeitreisen dazu gehören kann ich nicht sagen. Dennoch hast du Recht, derjenige muss einen Grund gehabt haben. Dämonen tun nie etwas ohne Eigennutz daraus zu ziehen.“ „Wohl wahr“, murmelte sie leise und dachte erneut an ihren Traum, der sie schon seit ihrer Ankunft immer mal wieder verfolgte. „Und was ist mit Sebastian?“, fragte sie, woraufhin der Bestatter sie etwas verwirrt anstarrte. „Wie kommst du ausgerechnet auf den Butler?“ „Abgesehen davon, dass er der einzige Dämon ist, den ich kenne? Na ja, kurz nachdem ich in deinem Bestattungsinstitut gelandet bin, hatte ich einen ziemlich seltsamen Traum. Wobei, es war eher…eine Erinnerung. Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen, aber ich bin fest davon überzeugt, dass das wirklich passiert ist. Irgendjemand hat mir als Kind das Leben gerettet. Ich konnte zwar nicht sehen wer, aber ich habe seine Stimme gehört. Und am nächsten Tag kommt der Earl mit seinem Schoßhündchen angelaufen und ich wusste genau, dass es seine Stimme war, die ich gehört habe. Kein Zweifel.“ Ein genervter Laut entfuhr ihr. „Hättest du ihn auf der Campania nicht einfach töten können? Dann hätte die Welt ein Problem weniger.“ Der Undertaker stieß ein leises Lachen hervor. „Ist das der Grund, warum du Dämonen nicht ausstehen kannst?“ Carina wich seinem Blick aus. „Nein“, murrte sie. „Das hat einen anderen Grund.“ Er warf ihr einen wissenden Blick zu. „Möglicherweise kenne ich den Grund“, sagte er bedächtig, wechselte jedoch dann abrupt das Thema. „Du solltest wissen, dass ich wirklich vorhatte ihn zu töten. Er bringt dem Earl nur Unglück. Ich hätte ihn gerne tot gesehen.“ „Was für eine Beziehung hast du zu der Familie Phantomhive?“, fragte sie neugierig nach, woraufhin der Undertaker sie breit angrinste. „Sag ich nicht~“, flötete er, was Carina die Augen verdrehen ließ. Also noch eines seiner Geheimnisse… „Wie dem auch sei“, entgegnete sie, „wir kommen in dieser Hinsicht vorerst sowieso nicht weiter. Vielleicht werde ich es nie erfahren, aber dann ist es halt so. Ich kann mir nicht bis in alle Ewigkeit jeden Tag die Frage stellen, wieso und weshalb. Sonst würde ich irgendwann total durchdrehen. Doch momentan liegt meine Priorität sowieso woanders.“ Die Blondine erhob sich von ihrem Stuhl. „Wenn du mich entschuldigst. Ich gehe früh schlafen, damit ich morgen den lieben langen Tag damit verbringen kann, weiterhin nach meiner Death Scythe zu suchen. Es sei denn, du fühlst dich plötzlich dazu berufen es mir vielleicht doch zu sagen?“ „~Gute Nacht~“, trällerte er ihr als Antwort entgegen und Carina schüttelte leicht belustigt den Kopf. Natürlich würde er ihr nicht helfen, das hatte sie auch nicht wirklich erwartet. Sie hatte sich schon halb von ihm abgewandt, drehte sich jedoch plötzlich wieder zu ihm zurück. Jetzt, wo sie stand und er saß, konnte sie endlich einmal auf ihn hinab sehen. Da gab es etwas, was sie schon die ganze Zeit störte. Zielstrebig streckte sie ihre Hand nach seinem Gesicht aus und strich ihm anschließend mit dem Daumen ganz sachte über das Kinn. Seine phosphoreszierenden Augen folgten jeder ihrer Bewegungen, seine Miene war ansonsten ausdruckslos. Nur zu gerne hätte sie jetzt gewusst, was er gerade dachte. Ein wenig tollkühn zog sie ihre Hand wieder zurück, um anschließend den Daumen mit ihren Lippen zu umschließen. Der Puderzucker prickelte auf ihrer Zunge. „Du hattest da noch was“, sagte sie mit einem beinahe frechen Unterton in der Stimme und verließ, ohne auf seine nun verdutzte Miene zu achten, die Küche. Die Bibliothek der Shinigami war ein heiliger Ort. Eine Stätte des Wissens, ein Platz des Gedenkens und vor allem ein Raum für Erinnerungen, die drohten in Vergessenheit zur geraten. Hier verwahrten die Shinigami ihre größten Heiligtümer. Alle Cinematic Records lagerten hier, zusammen mit den Akten zu jeder einzelnen Person. Wenn man etwas über das Leben und den Tod eines Menschen herausfinden wollte, dann war die Bibliothek der richtige Anlaufpunkt. Es gab strenge Regeln, was die Öffnungszeiten anging und wenn es auch nur einer wagte, diese zu überschreiten, dann bekam er gehörige Probleme mit William. Der schwarzhaarige Bürokrat duldete keine Regelverstöße. Und dennoch… Obwohl die Tore bereits seit Stunden verschlossen waren und alles in die tiefe Dunkelheit der Nacht gehüllt war, stand in einem der unzähligen Räume der Bibliothek eine kleine Kerze auf einem Tisch, deren Flamme gerade genug Licht spendete, um dem Zweck dienlich zu sein für den sie beschafft worden war. Auf dem dunklen Holz des Tisches lagen mehrere zugeklappte dicke Wälzer. Das einzige offene Buch lag vor dem Eindringling, der sich unberechtigten Zugang zu den Räumlichkeiten verschafft hatte. Seine schwarz behandschuhten Finger glitten zügig über die Zeilen, schlugen Seite um Seite um. Ein schweres Seufzen entfuhr seinen Lippen. „Wie ich es mir dachte“, murmelte die Person und schloss nun auch diesen Band. Lautlos und überaus vorsichtig erhob sich der Eindringling von seinem Stuhl und stellte die Bücher wieder an ihren angestammten Platz zurück. Mittlerweile schien es keinen Zweifel mehr zu geben, seine anfängliche Theorie schien sich bestätigt zu haben. Ja, vom ersten Augenblick an hatte er es gewusst. Hatte es in dem Moment gewusst, in dem er sie das erste Mal gesehen hatte. Ein breites, leicht verrücktes Grinsen legte sich auf seine Lippen und ein dunkles Kichern hallte durch die Stille der Nacht. Das war perfekt. Die ganze Situation, oh ja, sie war wahrlich perfekt. Die Euphorie, die er in diesem Moment empfand, sprengte jegliche Gefühlsskala. Früher oder später würde er sie aufspüren und dann konnte er seinen Plan endlich, endlich in die Tat umsetzen. „Und wenn ich dich schließlich gefunden habe…dann spielen wir nach meinen Regeln, Carina!“ Kapitel 32: Traum vs. Realität ------------------------------ Es vergingen zwei ganze Wochen. Tag für Tag suchte Carina nach ihrer Death Scythe. Und Tag für Tag wurde ihre Laune deutlich schlechter. Mittlerweile versuchte sie sogar die schwache Präsenz ihres Katanas zu fühlen, doch egal was sie auch versuchte, die Todessense blieb verschwunden. Der Undertaker fand das Ganze natürlich sehr amüsant und ließ auch keine Gelegenheit aus, um ihr dies mitzuteilen. Es gab Momente, da war Carina kurz davor ihn zu erschlagen. Oder zu erwürgen… „Ich drehe hier noch durch“, fauchte sie an diesem Abend ihr eigenes Spiegelbild an, während sie sich die Haare mit einem Handtuch abtrocknete. „Zwei komplette Stockwerke! Zwei verdammte Stockwerke und nicht eine Spur von ihr. Das darf doch wohl nicht wahr sein!“ Wütend pfefferte sie das Handtuch in die nächste Ecke und zog sich ihren selbstgemachten Schlafanzug an. Dieser bestand aus einem der weißen Hemden aus dem Schrank und einer der schwarzen Hosen. Die Hose hatte sie abgeschnitten, sodass der schwarze Stoff mittig auf ihrem Oberschenkel endete. Das Hemd war ihr natürlich viel zu groß, daher hatte sie es auf Mitte der Hose seitlich festgeknotet. Denn eins stand fest, noch einmal würde sie so ein schreckliches Nachthemd mit Rüschen bestimmt nicht tragen. Nachdem sie die blonde Mähne auf ihrem Kopf halbwegs gebändigt hatte, trat sie aus dem Badezimmer heraus und schwenkte direkt ins Schlafzimmer um. Heute Nacht würde sie sicherlich schlafen wie ein Murmeltier, diese ganze Sucherei raubte ihr noch den letzten- „W-was zur Hölle tust du hier?“, stammelte sie fassungslos, als sie den Bestatter entdeckte. Im Schlafzimmer. Im…Bett. „Das ist jetzt nicht wahr.“ Sie war nun schon 15 Tage hier und bisher hatte er sich kein einziges Mal hier blicken lassen. Warum fing er ausgerechnet jetzt damit an? „Hallöchen“, flötete er fröhlich und winkte ihr mit einer seiner langgliedrigen Hände zu. Sein Blick blieb an ihren Beinen hängen und mit einem Mal wünschte Carina sich, dass sie die Hose länger gelassen hätte. Automatisch ging sie in eine abwehrende Haltung und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich wiederhole mich nur ungern, aber was machst du hier?“, legte sie jetzt die Betonung auf das letzte Wort. Sein Grinsen wurde breiter, doch jetzt zog er das Gesicht eines Unschuldslamms. „Ich weiß gar nicht, was du meinst. Das hier ist ein Bett, es ist spät und ich bin müde.“ Carina stöhnte. „Toll und wo soll ich jetzt schlafen?“ Der Silberhaarige zog eine Augenbraue in die Höhe. Dann hob er seine rechte Hand und klopfte damit zweimal auf die rechte Betthälfte. Kurz legte die Shinigami ihre Stirn in Falten, doch dann machte es klick. Äußerlich passierte gar nichts. Für den Undertaker musste es so aussehen, als würde sie ihn lediglich stumm wie ein Fisch anstarren. Doch in ihrem Inneren passierten gefühlte 10 Dinge gleichzeitig. Zuerst war da eine Mischung aus Fassungslosigkeit und Empörung. Er wollte wirklich, dass er und sie in einem Bett schliefen? Zusammen, zur gleichen Zeit? „Was erlaubt er sich eigentlich? In dieser Zeit ist so etwas für eine Frau quasi schon ein Heiratsantrag.“ Dann kam die Scham. Allein schon der Gedanke löste in ihr etwas aus, das sich wie Elektrizität unter ihrer Haut anfühlte. Ihre Augen wanderten zu seinem Oberkörper. Er hatte sein Hemd noch an, allerdings waren die obersten zwei Knöpfe geöffnet und gaben ihr zum zweiten Mal einen Blick auf die blasse Haut und die Narbe preis. Über seinen Beinen lag die Bettdecke, sodass sie nicht sehen konnte ob er noch seine Anzugshose trug. Doch irgendwie bezweifelte die 18-Jährige das. Ob er wohl nur eine Unterhose… Carina dachte den Gedanken nicht zu Ende. Eigentlich sagte ihr ihre Empörung, dass sie ihm klipp und klar sagen sollte, dass er diese Idee schleunigst wieder vergessen konnte. Aber auf der anderen Seite sagte eine andere Stimme in ihrem Kopf, dass sie sich nicht so anstellen sollte. „Genau“, dachte sie und zog die Augenbrauen über sich selbst ein wenig zusammen. „Richtig. Ich bin eine erwachsene und starke Frau, ich sollte mich nicht so zieren und… das Ganze etwas lockerer nehmen.“ „Na schön“, meinte sie schließlich, was nun wiederum seine Augenbraue in die Höhe wandern ließ. Anscheinend hatte er eher mit einer heißen Diskussion bzw. einem heftigen Streit um das Bett gerechnet. „Aber“, fügte sie noch hinzu und hob drohend einen Zeigefinger, „du bleibst auf deiner Seite des Bettes. Ach ja, und du behältst deine Hände schön bei dir, verstanden? Ich weiß, ich kann dich nicht töten, aber es gibt schlimmere Dinge als den Tod. Und ich kann sehr kreativ werden, wenn ich will.“ Ein tiefes Lachen entfuhr seinen Lippen als er nickte, was Carina abermals eine Gänsehaut auf die Arme trieb. Dieses Lachen war einfach nicht mit seinem Kichern zu vergleichen. Sein Lachen übte beinahe eine Art magische Anziehungskraft auf sie aus und verwirrte die Seelensammlerin jedes Mal aufs Neue. Mit langsamen und bedächtigen Schritten ging sie auf die von ihr aus gesehen linke Seite des Bettes zu. Ihr Herz pochte mit jedem einzelnen Schritt und geriet kurz außer Takt, als sie sich auf dem Laken niederließ. „Ich kann nicht fassen, dass ich das gerade wirklich tue“, schwirrte es ihr durch den Kopf, bevor sie sich auf den Rücken legte und ihre nackten Beine unter der Bettdecke verschwanden. „Wenn Grell das wüsste, dann wäre was los. Ich könnte mir einen Vortrag über Dinge anhören, die sich für eine unverheiratete Dame ganz und gar nicht gehören. Ganz sicher.“ Ein Kichern ertönte neben ihr. „Du kannst ruhig ein wenig näher kommen, ich beiße nicht“, ertönte seine leicht kratzige Stimme und erst jetzt fiel Carina auf, dass ihr rechter Arm die Kante vom Bett berührte. Sie hatte sich tatsächlich unterbewusst an den äußersten Rand gequetscht. „Bei dir weiß man ja nie“, murmelte sie missmutig zurück, rückte aber ein Stück naher an ihn heran. Gott sei Dank war dieses Bett so breit… Der Bestatter grinste und wusste ganz genau, dass sein nächster Satz der Schnitterin nicht gefallen würde. „Dabei hört man doch immer wieder, wie einfach die deutschen Frauen zu haben sind.“ Wie er es vermutet hatte schnellte der Kopf der blonden Frau gleich darauf zu ihm herum. „Wie bitte?“, entfloh es ihr wütend, während sie die Finger in die Bettdecke krallte. Sofort erkannte sie an der Art seines Grinsens, dass er dieses Vorurteil nicht wirklich ernst gemeint hatte. „Ich glaub’s ja wohl nicht“, dachte sie. „Er mag es wirklich mich zu provozieren. Wenn der wüsste… Für meine Unschuld bin ich quasi in den Tod gegangen.“ „Vielleicht“, begann die Deutsche und funkelte ihn zornig an, „liegt dieses schreckliche Vorurteil auch nur darin begründet, dass die Engländerinnen so furchtbar verklemmt sind.“ Ein kehliges Lachen entfuhr dem Silberhaarigen sogleich. „Abgesehen davon“, fuhr sie lauter fort, um sein Gelächter zu übertönen, „halte ich solche Aussagen für vollkommenen Schwachsinn. Man kann eine Kultur nicht über einen Kamm scheren. Jeder Mensch ist verschieden. Und übrigens“, endete sie nun ein wenig spitz, „gibt es in wirklich jeder Kultur leichte Mädchen. Zu deiner Information, ich gehöre nicht dazu.“ „Oh, das habe ich auch nicht eine Sekunde lang gedacht“, gab er zu, sein Grinsen verließ dabei nie seine Lippen. Er beugte sich ein wenig näher zu ihr. „Wenn du schon bei ein paar Küssen so in Verlegenheit gerätst…“ Ein Kissen traf ihn hart ins Gesicht und beendete seinen Satz abrupt. Carina drückte ihren Arm durch, sodass sein Kopf zurück ins Bett gedrückt wurde. „Es sind nicht die Küsse, die mich so in Verlegenheit stürzen“, fauchte sie, aber brachte die weiteren Worte, die ihr auf der Zunge lagen, nicht hervor. Dass er es war, der ihre Gedanken so ins Chaos stürzte. Sein Gesicht, seine Augen, sein Geruch, sein Charakter… Als das erstickte Lachen unter dem Kissen an ihre Ohren drang, riss sie es ihm wütend vom Gesicht. „Aehehehe, ich liebe es, wenn du so wütend wirst“, brach er erneut in einen kleinen Lachanfall aus. Die Blondine drehte ihm gleich darauf den Rücken zu und lag nun auf der rechten Seite. „Gute Nacht“, schnaubte sie und war froh darum, dass er ihre roten Wangen nicht sehen konnte. „Schlaf gut“, kicherte es hinter ihr, was Carina die Augen verdrehen ließ. Doch gleichzeitig schlich sich ein kleines Lächeln auf ihre Lippen. Verdammt, er machte sie irgendwann wirklich noch einmal wahnsinnig. Es war ein großes Glück, dass das Herrenhaus der Familie Wellington etwas abseits von London auf dem Lande lag. Und es war ein ebenso großes Glück, dass die Angestellten in einem separaten kleinen Wohnheim untergebracht waren. So konnte niemand die Schreie des Viscounts hören. Richard Wellington war ein 36-jähriger Mann mit langem, braunem Haar, das er stets zu einem lockeren Zopf zurückgebunden trug. Sein Leben lang war er auf seine spätere Rolle vorbereitet worden. Hatte Privatunterricht jeglicher Art erhalten, konnte sich mit dem Geld seiner Eltern alles erlauben, was er sich wünschte. Er war klug und gebildet, doch das waren nicht seine herausragendsten Eigenschaften. Er sah gut aus und war sich dieser Tatsache nur allzu bewusst. Schon früh hatten seine Eltern ihn mit der Tochter eines wichtigen Geschäftspartners verlobt. Natürlich tat er genau das, was man von ihm erwartete. Er heiratete das Mädchen, das seiner persönlichen Meinung nach gerade mal das gesunde Mittelmaß erfüllte. Er setzte früh einen männlichen Erben in die Welt, der seinen Familiennamen weitertragen würde. Er übernahm den Titel und die Geschäfte seines Vaters, als dieser starb und bereitete seinem Andenken bis heute große Ehre. Doch natürlich gab es immer auch eine andere Seite der Medaille. Die andere Seite sah so aus, dass er neben seiner Ehe unzählige Affären führte. Mit Frauen, die zwar eindeutig unter seiner Würde waren, die aber um einiges ansehnlicher waren als seine eigene Ehefrau. Natürlich wurde es mit der Zeit schwieriger. Auch er wurde älter und selbst die Frauen aus den niederen Schichten schienen sich mittlerweile nur noch wegen seines Geldes mit ihm zu amüsieren. Der Viscount wurde immer frustrierter. Was wäre in ein paar Jahren? Wenn er über 40 sein würde, grau und faltig werden würde? Er war nicht so reich, dass er seine Bettgeschichten immer und immer wieder würde bezahlen können. Sein Sohn hingegen stand in der Blüte seines Lebens. Ihm standen noch alle Türen offen, war er doch ebenso wie sein Vater mit einem charismatischen Aussehen gesegnet. Durch seine persönliche Midlife-Crisis trieb er sich abends mehr und mehr in Kneipen herum. Trank, spielte und umgab sich mit Männern, auf die er früher mit erhobenem Kopf herab gesehen hatte. Bald gingen seine zwei Spießgesellen und er nachts auf Spritztouren durch das dunkle London. Und dann…trafen sie ihr erstes Opfer. Es war ein Mädchen, vielleicht 17 oder 18, mit roten Locken und kleinen Sommersprossen auf den Wangen. Ihr hellgrünes Kleid passte perfekt zu ihren Augen und ließ ihr Haar förmlich noch mehr leuchten. Es war beinahe schon zu leicht, sie in die Gasse zu ziehen. Sich das zu nehmen, was er begehrte. Zu sehen, wie der Glanz in ihren Augen langsam erlosch und ihren Widerstand unter sich schwinden zu spüren. Dieses Gefühl der Macht war sondergleichen und daher kam es ihm nicht eine Sekunde lang in den Sinn damit aufzuhören. Umbringen jedoch tat er keins der Mädchen. Stets erledigten dies seine Begleiter, denn in seinen Augen stand er immer noch weit über ihrem Niveau. Ein Richard Wellington machte sich die Hände nicht selbst schmutzig. Natürlich blieb es nicht bei einem Opfer. Schon bald traute sich in London keine Frau mehr ohne Begleitung auf die Straße. Dennoch, es ließ sich ab und zu immer mal wieder junge Beute in der Dunkelheit der Nacht blicken. Oft waren es Obdachlose oder Prostituierte, manchmal auch Mädchen aus Waisenhäusern. Die Angst bei seinen Schandtaten erwischt zu werden hatte er schon längst verloren, kümmerte sich in dieser Stadt doch jeder nur stets um sich selbst. Dabei hätte er es tief in seinem Innersten wissen müssen. Er hätte wissen müssen, dass seine Taten ihn irgendwann ins Verderben stürzen lassen würden. Nur in welcher Form das Verderben schlussendlich zu ihm kam, darauf hätte er niemals kommen können… „Nein. D-du bist nicht real. DU BIST NICHT REAL!!!“ Ein weiterer Schrei hallte durch das riesige Anwesen, blieb jedoch ungehört. Blut benetzte den Boden, der Körper des Mannes krümmte sich am Boden zusammen. Möbel lagen kreuz und quer im Zimmer verteilt, der sonst so edle Salon glich einem einzigen Trümmerfeld. „N-nein, b-b-bitte. Ich gebe dir alles, was du willst. Geld, meine Besitztümer, mein Anwesen. Nur b-bitte töte mich nicht.“ Keine Sekunde später spritzte noch mehr Blut durch die Luft, als sich sein linker Arm vom Rest seines Körpers verabschiedete. Sein jetziger Schrei war mehr eine Mischung aus einem Heulen und Krächzen. „Ich will dein Geld nicht, du Wurm“, zischte sie, ihre Klinge zum erneuten Schlag erhoben. „Ich will Vergeltung.“ Oh, sie wollte mehr als das. Sie wollte ihn leiden sehen. Sie wollte ihm ins Gesicht sehen, wenn das Leben langsam daraus weichen würde. Er sollte mindestens genauso leiden, wie sie es getan hatte und immer noch tat! Doch als sie gerade zum nächsten Schlag ausholen wollte, veränderte sich der Raum. Plötzlich war sie nicht mehr im Salon des Herrenhauses der Familie Wellington, sondern wieder in dieser engen Gasse. Ihre Waffe war verschwunden, stattdessen wurde sie von drei Männern zu Boden gepresst. Angst drückte ihr die Lunge zu, als dieses Mal sie diejenige war, die schrie. „Carina.“ „Nein, lasst mich los“, rief sie verzweifelt und schlug um sich. Ihre Augen richteten sich gen Boden. Blut, dort war überall Blut. Ihr Blut. „Carina!“ So viel Blut… Plötzlich packten sie zwei Arme hart an den Schultern. Ihre Augen flogen auf, um sie herum herrschte Dunkelheit. Jemand kauerte über ihr, doch bevor sie die gelbgrünen Augen in der Dunkelheit ausmachen konnte, übernahm ihr Instinkt die Kontrolle über ihren Körper. Bevor sie es wirklich selbst richtig realisiert hatte, zog sie ihren rechten Ellbogen nach hinten und schlug der Gestalt über sich mit ihrer rechten Faust mitten ins Gesicht. Ein überraschter Laut wehte durch den Raum, direkt gefolgt von einem lauten Krachen, als der Körper über ihr vom Bett runter flog und zu Boden krachte. Wie von der Tarantel gestochen setzte Carina sich im Bett auf. Ihr Herz hämmerte ihr so hart gegen die Brust, als wolle es jeden Moment herausbrechen. Für einen kurzen Moment glaubte sie Blut an ihren Händen kleben zu sehen, doch dann kam sie endgültig im Hier und Jetzt an. Dennoch, ihr ganzer Oberkörper zitterte wie Espenlaub. Ihre Augen erfassten den Undertaker, der vor dem Bett auf dem Boden saß und sich die blutende Nase hielt. Einen kurzen Moment lang wallten Schuldgefühle in ihr auf, doch diese wurden schnell von ihrer Wut verdrängt. Der Traum hatte sie wie jedes Mal aufgewühlt und jetzt waren ihre Nerven bis zum Äußersten gereizt. Er konnte nichts dafür, das wusste sie. Aber gerade war er leider der Einzige im Raum, auf den sie ihre Wut richten konnte. „Ich hatte dich gewarnt, dass du auf deiner Seite bleiben sollst“, warf sie ihm laut an den Kopf, während der Silberhaarige sie lediglich anstarrte. Sie hatte Kopfschmerzen. Einerseits durch die Aufregung, andererseits wegen ihrem Nacken, der sich mittlerweile anfühlte als wäre er aus Stein gemeißelt worden. „Alle Achtung, der Schlag war nicht von schlechten Eltern“, meinte der Undertaker schließlich und richtete sich vom Boden auf. Tatsächlich trug er unter seinem weißen Hemd nur eine schwarze Unterhose. Carinas Blick blieb mehrere Sekunden lang an seinen langen, muskulösen Beinen hängen. Hier hatte er nur eine relativ kleine Narbe seitlich am rechten Oberschenkel. Es war unglaublich und hörte sich vermutlich total dämlich an, aber diese ganzen „Makel“ machten ihn nur noch attraktiver. Dennoch, nicht einmal sein gutes Aussehen konnte sie jetzt beruhigen. Plötzlich wünschte sie sich Grell herbei, der ihr sagte, dass alles gut werden würde und ihr unbeholfen auf den Rücken klopfte. Der ihr eine Lösung für das Problem vorschlug. „Wann wirst du mir endlich sagen, was damals passiert ist?“, fragte der Shinigami und nahm die Hand von der Nase, die anscheinend nicht mehr blutete. „Wie kommst du jetzt schon wieder auf das Thema?“, meinte Carina und setzte eine aalglatte Miene auf. Der Bestatter hob eine Augenbraue. „Ich mag vielleicht alt sein, aber ich bin nicht senil. Jemand, der im Schlaf um sich schlägt als wäre der Leibhaftige hinter ihm her, der scheint mit seinem Unterbewusstsein nicht ganz im Reinen zu sein. Also?“ „Du kennst meine Antwort“, zischte die Seelensammlerin und schlug die Bettdecke zurück um aufzustehen. Sie musste hier raus, das Zimmer erdrückte sie! Kaum war sie auf den Beinen, da ging sie auch schon mit zügigen Schritten auf die Schlafzimmertür zu. Leider musste sie dafür auch an dem Undertaker vorbei, doch dieser schien etwas anderes im Sinn zu haben. Gerade als sie ihn passiert hatte, schlang sich seine linke Hand um ihr rechtes Handgelenk. „Vielleicht würde es dir helfen darüber zu sprechen“, entgegnete er und ignorierte ihren zornigen Blick. „Ich habe bereits mit jemandem darüber gesprochen“, erwiderte sie kühl, woraufhin dem Totengräber ein trockenes Lachen entfuhr. „Mit Rotkäppchen? Scheint nicht wirklich etwas gebracht zu haben, oder?“ „Doch“, sagte sie, wich aber seinem Blick aus. „Nur auf eine andere Weise, als ich gehofft hatte.“ „Hör mal, ich möchte jetzt wirklich nicht darüber reden. Lass mich einfach vorbei. Bitte“, fügte sie noch hinzu und schaute ihm nun wieder ausdruckslos ins Gesicht. Der Silberhaarige zögerte kurz, ließ jedoch im nächsten Moment ihr Handgelenk los, um seine Hand anschließend direkt an ihre Wange zu führen. Carina atmete stockend aus, als sie seine filigranen Finger auf ihrer Haut spürte. Der lange Nagel seines Daumens kratzte ganz leicht, aber seine Handinnenfläche war warm und weich. Automatisch lehnte sie sich in seine Berührung hinein. Ihre Wut verpuffte beinahe komplett. Wieso – verdammt noch mal – hatte er so eine besänftigende Wirkung auf sie? Ein vertrautes Lächeln legte sich auf die Lippen des Undertakers, beinahe so als wüsste er ganz genau, was ihr durch den Kopf ging. „Du bist so ein Sturkopf, Carina“, grinste er und die Angesprochene starrte ihn an, als würde sie ihn zum ersten Mal richtig sehen. Irgendetwas in ihrem Inneren schaltete plötzlich um. Der Bestatter ließ seine Hand langsam sinken und begann einen Schritt zurückzutreten, damit die 18-Jährige an ihm vorbei treten konnte. Doch das tat sie nicht. Unerwarteterweise spürte er nun ihre Hand, die sich um den rechten Kragen seines Hemdes schloss. Und bevor er auch nur im Entferntesten ahnen konnte was sie vorhatte, hatte sie ihn bereits zu sich heruntergerissen und küsste ihn. Mitten auf den Mund. Seine Augen weiteten sich und für einen langen Moment schaute er ihr lediglich in die gelbgrünen Seelenspiegel. Carina erwiderte seinen Blick, doch als er seine Augen schloss tat sie es ihm gleich. Seine Lippen waren schon wieder so wunderbar warm und sie schmeckte erneut die Mischung aus Zucker und Karamell, die sofort begann auf ihrem Mund zu prickeln. Nur ein paar Sekunden… Nur für ein paar Sekunden wollte sie alles vergessen und sich ganz auf dieses seltsame Gefühl tief in ihrer Magengegend konzentrieren. Und als sich seine Hände an ihre Hüften legten und sich seine schwarzen Fingernägel in ihre Haut drückten, ließ sie es zu. Ihre linke Hand legte sich nun ebenfalls um seinen Kragen und sie zog ich noch dichter an sich heran. Er hatte es ihr doch gesagt. Wenn sie einen Kuss haben wollte, sollte sie ihn sich holen. Automatisch begann Carina diesen Kuss mit den beiden Anderen zu vergleichen. Ihr Erster unter Wasser war schockierend gewesen, der Zweite aufregend und dieser hier…dieser war um einiges intimer. Kurz - ganz kurz - kamen ihr Zweifel, doch keine Sekunde später spürte sie die Wand in ihrem Rücken, wodurch ihre Gedanken erneut auf den Silberhaarigen gelenkt wurden. Gleichzeitig verlor sie den Boden unter den Füßen, als der Totengräber die Unterseite ihrer Schenkel ergriff und sie zu ihm auf Augenhöhe hob. Instinktiv schlang die 18-Jährige ihre Hände um seinen Hals, auf der Suche nach einem besseren Halt. Ihre Brüste drückten sich unter dem dünnen weißen Hemd gegen seinen Oberkörper und augenblicklich schossen kleine Blitze zwischen ihre Beine. Ein heißeres Keuchen entfuhr ihren Lippen, wurde durch den Kuss allerdings etwas gedämpft. Sogleich konnte sie die Hitze in ihren Wangen fühlen. Gott, sie hatten sich schon zwei Mal geküsst, hatten diese Nacht sogar nebeneinander in einem Bett geschlafen. Wie konnten ihr diese Dinge immer noch peinlich sein? Plötzlich fühlte sie, wie eine seiner Hände von ihrem Schenkel verschwand und sich ganz sanft unter ihr Hemd stahl. Als sie seine Finger auf der Haut dicht bei ihrem Bauchnabel spürte, bekam sie eine Gänsehaut am ganzen Körper. Ihre Augen flogen flatternd auf. Carina wusste, sie waren schon weit über eine einfache Knutscherei hinaus. Wenn sie jetzt nicht damit aufhören würden…Wenn sie hier nicht einen Schlussstrich ziehen würde, dann würden sie genau dort enden, wo sie bis vor wenigen Minuten noch gewesen waren. Im Bett. Und dieses Mal würden sie nicht nur nebeneinander schlafen, so viel stand fest. Doch…wollte sie das wirklich? Kapitel 33: Vorbereitungen -------------------------- Erneut fühlten sich Carinas Lippen so wahnsinnig kalt an, als sie ihren Mund sachte von seinem löste. „Warte“, hauchte sie ihm zittrig ins Gesicht und bemerkte nur nebenbei, dass sie heiser war. Die phosphoreszierenden Augen des Undertakers glühten ihr in der Schwärze des Zimmers entgegen und das unausgesprochene Verlangen, das sie darin glaubte zu sehen, ließ die Shinigami unwillkürlich schlucken. Die Antwort auf ihre Frage lautete gleichzeitig ja und nein. Ja, sie wollte das Ganze hier. Ja, sie konnte sich Sex mit ihm vorstellen und ja, sie würde ihm sogar ihre Unschuld geben, denn sie wusste in diesem Moment mit einer erschreckenden Klarheit, dass sie das niemals – nicht in 100 Jahren oder darüber hinaus – bereuen würde. Aber nein, sie wollte es nicht unter diesen Umständen. Es erschien ihr nicht richtig, dass sie möglicherweise nur mit ihm schlief, weil der Traum sie so durcheinander gebracht hatte und sie ihn schlussendlich als Ablenkung sah. „Kannst du mich bitte runter lassen?“, flüsterte sie und löste langsam ihre verkrampften Finger um seinen Hals. Der Undertaker kam ihrer Bitte sofort nach, hielt seinen Blick jedoch weiterhin auf ihr Gesicht gerichtet. Carina konnte an der Hitze in ihren Wangen spüren, dass sie wieder einmal errötet war. Warum passierte das jedes Mal auf’s Neue? Natürlich versuchte sie von außen gelassen zu bleiben, jedoch war es recht fraglich, ob ihr das auch wirklich gelang. Jedenfalls wirkte ihre Stimme alles andere als ruhig, als sie sagte: „So, ich hab mir meinen Kuss geholt. Das nächste Mal bist du dran.“ Sofort nachdem sie das gesagt hatte, wurden ihr zwei Dinge klar. Erstens, dass sich das total kindisch anhörte und zweitens, dass sie indirekt gesagt hatte es würde ein nächstes Mal geben. Verunsichert trat die Blondine einen Schritt zurück und als der Bestatter sich nicht bewegte, drehte sie sich langsam um und öffnete die Tür. Ihr Gehirn brauchte ganz dringend frischen Sauerstoff! „Carina.“ Die Angesprochene zuckte aufgrund seiner Stimme zusammen. Doch dieses Mal lag es nicht nur an seiner tiefen Tonlage. Irgendetwas Unterschwelliges lag in seiner Stimme; etwas Dunkles, das sie nicht zuordnen konnte. Widerstrebend drehte sie sich noch einmal zu ihm zurück und musste aufgrund seines Blickes erneut schlucken. Seine Augen schienen sie regelrecht zu durchbohren, ein kleines aber bedrohliches Lächeln hatte sich auf seine Züge gelegt. „Du spielst mit dem Feuer“, flüsterte er und der gefährliche Unterton trieb Carina eine Gänsehaut auf die Arme. Ihre Augen weiteten sich, während ihr Körper für einen Moment zu Eis erstarrte. „Pass auf, dass du dir nicht die Finger verbrennst.“ Die 18-Jährige nahm sich zusammen, befeuchtete ihre trockene Kehle und sagte dann schließlich mit fester Stimme: „Keine Sorge. Ich passe schon auf mich auf.“ Sie legte eine Portion Spott hinein, damit er ja nicht glaubte, dass sie Angst vor ihm hatte. Obwohl das natürlich nicht so ganz der Wahrheit entsprach… Ihr Herz wurde nur nach und nach langsamer, als sie die Tür hinter sich zufallen ließ und erst einmal tief durchatmen musste. Ohne überhaupt einen Plan zu haben wohin sie gehen sollte, öffnete sie das nächste Fenster und schwang sich auf das Dach hoch, wo sie sich auf die anthrazitfarbenen Dachziegel sinken ließ. Es war Ende April, Londons schöner Frühling hatte das Wetter bereits wesentlich beeinflusst. Das und die Tatsache, dass sie ein Shinigami war, ließen die junge Frau in ihrem knappen Outfit nicht frieren. Der Mond beschrieb einen halben Kreis und spendete ihr ein wenig Licht. Carina versuchte zum wiederholten Male ihre Gedanken in eine Richtung zu lenken. Denn momentan ging es in ihrem Gehirn vor wie auf einer Kreuzung: Jeder Gedanke schlug eine andere Richtung ein, schlussendlich übersah einer den anderen und alles prallte gegeneinander. Erschöpft legte sie sich auf den Rücken und betrachtete die wenigen Sterne am Himmel. Hatte sie etwa vergessen, was er getan hatte? Seine Bizarre Dolls? Hatte sie das wirklich alles schon wieder vergessen? „Nein, habe ich nicht. Aber…irgendwie…irgendwie schreckt es mich nicht mehr so ab wie am Anfang. Dabei sollte es das. Das, was diese Kreaturen getan haben, war schrecklich. Aber…bin ich…bin ich denn wirklich besser als er? Nach allem, was ich getan habe?“ Es versetzte der jungen Frau einen Stich, dass sie über diese Frage überhaupt nachdenken musste. Vielleicht war sie den anderen Shinigami da oben doch gar nicht so unähnlich… Doch jetzt tat sie das, was sie seit 2 1/2 Jahren erfolgreich tat: Die wirklich unangenehmen Gedanken, die ihr die Kehle zuschnürten, beiseite schieben und verdrängen. „Außerdem“, dachte sie und kehrte nun wieder zum anfänglichen Thema zurück. „Wer sagt überhaupt, dass er mit mir geschlafen hätte? Ich meine…er ist so schön, mit keinem zu vergleichen und ich…na ja, ich bin nur ich. Ich bin weder besonders schön, noch schlank und auch nicht in irgendeiner Art und Weise liebenswürdig.“ Ein schweres Gefühl legte sich auf Carinas Brust. Nie war sie eines der Mädchen gewesen, die hinter vorgehaltener Hand kicherten, sich die Nägel lackierten und die immer als erstes in der Schule fünf potenzielle Jungs zum Freund hatten. Eigentlich war sie so ziemlich das genaue Gegenteil davon gewesen. Und das hatte sie bis heute auch nicht einmal gestört, doch ganz plötzlich wünschte sich die 18-Jährige, dass sie wenigstens ein bisschen Ahnung von solchen Dingen hätte. Das würde die ganze Sache wenigstens ein bisschen einfacher machen. Trotzdem…irgendetwas war da zwischen ihnen, nach wie vor. Und es machte sie einfach verrückt, dass sie es nicht genau benennen konnte. Carina wusste nicht genau wann, aber schließlich war sie auf dem Dach inmitten ihrer Grübelei eingeschlafen. Erst als die ersten Sonnenstrahlen sie bereits an der Nase kitzelten, wachte die Blondine blinzelnd auf. Ein lautes Gähnen entfuhr ihr und noch etwas benommen wischte sie sich den Schlaf aus den Augen. Nach dem Stand der Sonne zu urteilen war es sicherlich schon fast Mittag… Trotzdem fühlte Carina sich nicht sonderlich ausgeschlafen. Ganz im Gegenteil, ihr Kopf fühlte sich an, als würde er jeden Moment explodieren. „Da sind einfach zu viele Gedanken drin“, seufzte die Shinigami genervt und erhob sich vorsichtig von ihrem nächtlichen Schlafplatz. Doch sobald die 18-Jährige sich komplett erhoben hatte, stutzte sie mit einem Mal. Es war Samstag und dennoch herrschte eine ungewohnt hohe Geräuschkulisse am Weston College. Neugierig trat sie näher an den Rand des Daches heran und spähte in den quadratischen Hof hinab. „Was ist denn hier los?“, fragte die Shinigami sich sogleich, als sie das rege Treiben bemerkte. Überall wuselten Schüler und Lehrer umher, die anscheinend dabei waren das komplette College zu dekorieren. Überall hingen bereits Girlanden, Kränze, bunte Blumen, Schleifen in allen Längen und Farben… Sogar der Boden des sonst so normalaussehenden Schulhofes glänzte wie neu. „Hab ich irgendetwas nicht mitgekriegt? Wird hier irgendein Fest gefeiert?“, überlegte Carina stumm, schüttelte jedoch dann über sich selbst den Kopf. Nein, das konnte nicht sein. Ostern war letzte Woche gewesen und den ersten Mai hatten sie noch nicht. Abgesehen davon wusste sie nicht einmal, ob der 1. Mai in England überhaupt gefeiert wurde. „Das sollte ich mir näher ansehen. Na ja, nachdem ich mich angezogen habe“, fügte sie hinzu, als sie an sich hinunter schaute und sich daran erinnerte, dass sie immer noch ihre Schlafmontur trug. Leichtfüßig schwang sie sich zurück ins Haus und war mehr als erleichtert als sie feststellte, dass der Undertaker nicht in der Wohnung war. Schnell zog sie sich um und begab sich anschließend zügig in den Innenhof. Mittlerweile waren einige Kutschen angekommen. Ein Junge, vermutlich 12 oder 13, lief gerade auf eine Kutsche zu und umarmte die Frau und den Mann, die vorsichtig daraus ausstiegen. Vermutlich waren das seine Eltern. Carina erinnerte sich daran, was sie vor zwei Wochen, ganz am Anfang ihrer Zeit hier, einmal herausgefunden hatte. Das Weston College war nicht nur allein ein Internat nur für Jungen; nein, hier auf dem Campus waren Frauen strengstens verboten. Nur zu offiziellen Anlässen erhielten weibliche Verwandte die Erlaubnis, das Gelände überhaupt betreten zu dürfen. „Also muss doch irgendein Fest oder eine Feier stattfinden, sonst wären die ganzen Mütter und Schwestern nicht hier. Toll und der werte Herr Bestatter hat es natürlich nicht für nötig erachtet mir dies mitzuteilen.“ Vorsichtig schaute die Blondine sich um, ob auch ja niemand in ihre Richtung schaute. Als sie sich unbeobachtet genug fühlte, machte sie sich wieder für Menschen sichtbar. „Entschuldige“, fragte sie auch sogleich den nächsten Schüler, der an ihr vorbeiging. Seiner Schuluniform nach zu urteilen, gehörte er zu dem Haus Sapphire Owl. „Kannst du mir vielleicht sagen, was heute für eine Veranstaltung stattfindet?“ Kurz wirkte der Junge verwundert, entgegnete dann jedoch höflich: „Der jährliche Osterball natürlich. Aber der findet doch jedes Jahr statt. Immer eine Woche nach Ostern.“ „Ah natürlich. Vielen Dank für deine Hilfe“, entgegnete die Shinigami ebenso höflich und wandte sich von dem Schüler ab. Ein Ball also… Irgendwie konnte sie sich kaum etwas Langweiligeres vorstellen als einen Ball. Dort passierte doch nichts Weltbewegendes. Man trank, tanzte ein wenig, hörte sich langweilige Geschichten oder Lästereien der vornehmen Damen an…Nein, definitiv nicht ihre Welt. Dennoch…wenn sie sich den Totengräber in seinem Anzug vorstellte… „Und es geht wieder los“, stöhnte sie genervt. Und jetzt kamen auch noch die Erinnerungen an letzte Nacht zurück, was das Ganze nicht wirklich besser machte. Die Seelensammlerin machte auf dem Absatz kehrt, während sie sich wieder ihrer Aufgabe besann und sich gleichzeitig unsichtbar machte. Sie war immer noch hier, um ihre Death Scythe zu finden. Und aus keinem anderen Grund. Schnell wurde Carina jedoch klar, dass sie eine ganz entscheidende Tatsache außer Acht gelassen hatte. Durch die vielen Schüler und die ganze Schmückerei war es viel mühsamer als sonst nach ihrem Katana zu suchen. So dauerte das Durchsuchen der Zimmer viel zu lange. Außerdem wurde der komplette Südflügel als Ballsaal benutzt, daher konnte sie dort erst recht nichts erreichen. Nach drei Stunden war die Blondine so genervt, dass sie für diesen Tag freiwillig das Handtuch warf. Selbst ein ausgiebiges Bad in der Badewanne konnte sie nicht richtig entspannen. Irgendwie hatte sie so ein Gefühl im Magen, dass dieser Tag noch viel schlimmer werden würde. Und wie das so mit ihrem Instinkt war, stellte sich das als ziemlich wahr heraus. Sie hatte sich gerade ihre Haare getrocknet, da klopfte es lautstark gegen die Wohnungstür. Irritiert steckte sie den Kopf aus dem Badezimmer. In den fast 3 Wochen, in denen sie inzwischen hier war, hatte es nicht einmal an die Tür geklopft. Wozu auch? Außer dem Undertaker und ihr hielt sich niemand in der Wohnung auf. Und sie waren beide Shinigami, sie brauchten keinen Schlüssel oder mussten irgendwo anklopfen. Erneut klopfte es, dieses Mal sogar noch lauter als beim ersten Mal. „Was solls“, dachte sich Carina, rief „Moment noch“ und zog rasch einen Morgenmantel über, der an der Wand neben der Badewanne hing. Neugierig, aber mit gebührendem Abstand, öffnete sie die Tür und staunte nicht schlecht, als sie zwei junge Damen erkannte. Beide schienen ungefähr in ihrem Alter zu sein, trugen Dienstmädchenuniformen und lächelten ihr freundlich entgegen. „Ja bitte?“, entfuhr es Carina, die die beiden Brünetten immer noch total perplex anstarrte. „Einen schönen guten Abend, Lady Carina“, sagte die rechte Frau und beugte leicht ihren Kopf. „Wie hat sie mich gerade genannt? Lady?“ Carina wurde von Sekunde zu Sekunde verwirrter. „Der Direktor bat uns Ihnen beim Anziehen zu helfen“, sagte nun das zweite Dienstmädchen. „Wie bitte?“, rutschte es der 18-Jährigen ganz ohne ihr Zutun heraus. Die beiden Mädchen kicherten synchron. „Sie wollen doch nicht etwa, dass der Ball ohne Sie anfängt, oder?“ Eine Sekunde dauerte es, möglicherweise auch zwei, aber dann machte es Klick in ihrem Kopf. Sie war kurz davor, den Beiden einfach die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Das hatte sich der werte Herr ja fein überlegt. „Was soll der Mist? Warum will er mich auf diesen verdammten Ball schleppen? Ist das jetzt die Rache für letzte Nacht?“ „Kommt rein“, seufzte sie schließlich, die Mädchen konnten ja schließlich nichts dafür. „Entschuldigt mich kurz. Ich gehe mir nur schnell Unterwäsche anziehen und…ähm, rufe euch dann, in Ordnung?“ Sie kannte sich mit diesem ganzen Kram nicht aus, erst recht nicht wie man mit Dienstpersonal sprach. „Selbstverständlich“, ertönte es unisono von den Beiden, die sich erneut leicht vor ihr verneigten. „Oh man“, dachte Carina, schüttelte kurz den Kopf und eilte dann ins Schlafzimmer. Abrupt blieb sie stehen. „Was zum…“ Ihr Blick heftete sich an ein cremefarbenes, rechteckiges Päckchen, das in der Mitte des Doppelbettes lag. Eine rote Schleife umschloss das Konstrukt und gab dem ganzen Bild den letzten Schliff. Misstrauisch beäugte die Blondine das Paket, bevor sie sich langsam auf dem Bett niederließ und ihre Hand danach ausstreckte. Unter der Schleife steckte eine kleine weiße Karte, auf der in einer geschwungenen Schrift nur wenige Worte standen. Meine Spielregeln. Schon vergessen? Carina hatte nun ein sehr ungutes Gefühl im Bauch. Ja, sie erinnerte sich sehr wohl an ihren gemeinsamen Deal, daran musste der Totengräber sie nicht extra erinnern. „Worauf auch immer er das jetzt bezieht, ich habe so das Gefühl es wird mir nicht gefallen.“ Vorsichtig löste sie das rote Band und klappte, nun doch ein wenig neugierig, den Deckel auf. Sogleich ließ sie das Päckchen fallen. Ihre Augen wurden groß wie Untertassen. Das…nein, das…das konnte er nicht ernst meinen. Für einen Moment stockte ihr der Atem, dann wurde sie so rot wie ein leuchtendes Neonschild. „Ernsthaft? Soll das jetzt ein Running Gag zwischen uns werden? Dass mich jedes Mal, wenn er mir ein Päckchen überreicht, ein Kleid erwartet?“ Sachte ließ sie ihre rechte Hand durch den weichen, marineblauen Stoff des Ballkleides fahren. Und was für ein Kleid das war! Der Bestatter wollte also, dass sie auf den Ball kam. In diesem Kleid. Er wollte sie…in diesem Kleid sehen. Fluchend schlug Carina sich auf die roten Wangen, als würde ihr Blut dadurch aus ihrem Gesicht weichen. Tja, schön wäre es ja. Verdammt… Dieses Mal hatte er sie wirklich nach allen Regeln der Kunst hereingelegt. „Aber nicht mit mir, Undertaker. Du willst mich auf dem Ball? Du willst mich in diesem Kleid sehen? Kannst du gerne haben“, murmelte sie trotzig, schlüpfte in einen hellblauen Slip und zog sich kurzerhand ein sehr dünnes, weißes Unterhemd über. „Ihr könnt jetzt eintreten“, rief sie so laut sie konnte und keine zwei Sekunden später standen die beiden Dienstmädchen bereits im Zimmer. Carina lächelte. „Verratet Ihr mir Eure Namen?“, fragte sie und eines der Mädchen antwortete. „Das“, sagte sie und deutete auf ihre Kollegin, „ist Mary und mein Name ist Samantha, Lady Carina.“ „Nun, Mary und Samantha, vielen Dank, dass Ihr mir behilflich sein werdet. Dann lasst uns am Besten sofort beginnen. Ich möchte doch nicht zu spät zum Ball kommen.“ Die beiden Angesprochenen nickten, wie immer stets höflich, und eilten zum Kleiderschrank, um die notwendigen Utensilien hervorzuholen, darunter auch ein – für diese Zeit übliches – Korsett. Carinas Lächeln verrutsche ein wenig, aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie würde dem Undertaker schon zeigen, dass sie auch anders konnte. Der würde sich noch früh genug wundern. Dennoch…allein das Anziehen würde sicher kein Zuckerschlecken werden. Automatisch musste sie an die Szene im Manga denken, in der Ciel sich als Frau verkleidet hatte und zuvor von Sebastian angezogen wurde. Und genau das Gleiche stand nun ihr bevor. Sie schluckte. Das würde sicherlich unangenehm werden. Kapitel 34: Der Ball -------------------- Carina sollte Recht behalten. Es wurde unangenehm. Hatte sie sich in der Zukunft tatsächlich über kratzige Schals und unangenehm enge Hosen beschwert? In Ordnung, sie nahm alles wieder zurück. Natürlich wusste sie, dass nur Death Scythe einen Shinigami töten konnten, aber…„Dieses Korsett ist schon verdammt nah dran“, zischte sie so leise, dass die beiden Mädchen hinter ihr sie nicht hören konnten. Und es gab tatsächlich Frauen, die das jeden Tag trugen? Okay, ihre Achtung vor den Frauen dieses Jahrhunderts stieg gerade beachtlich. „Zumindest kann ich in dem Ding noch atmen. Irgendwann hört der Spaß ja auch mal auf.“ Ihr Blick glitt hinunter zu ihrem Dekolleté, vorbei an der Narbe und verharrte schließlich an ihrem Busen. „Mein Gott, das presst meine Brüste so zusammen, dass es jetzt mehr nach C als nach B aussieht“, schoss es ihr durch den Kopf und sie musste gleichzeitig ihre Augen verdrehen. Das erklärte auch so einiges… Ca. 1 Stunde später lagen das Korsett plus diverse Unterröcke an ihrem angestammten Platz und Mary und Samantha waren gerade dabei ihr das eigentliche Kleid anzuziehen. Es fühlte sich überhaupt nicht unangenehm an, wie Carina insgeheim gedacht hatte. Nein, der marineblaue Stoff lag weich auf ihrer Haut und passte natürlich wie immer perfekt. Der Undertaker hatte wieder einmal bewiesen, dass er ein perfektes Augenmaß besaß. Es schmiegte sich eng an ihr Becken, währen das Korsett sie ungewöhnlich schlank machte. Die Ärmel, die nur wenige Zentimeter lang waren, waren leicht gepufft und die kleinen, hellblauen Rüschen erhöhten den Stoff an ihrer Brust hinreichend genug, damit ihre Narbe vollständig verdeckt war. Die Vintage-Verzierungen auf dem Rock, bestehend aus ineinander übergreifenden Blumenmustern, gaben dem Kleid den letzten Schliff. Probeweise bewegte Carina ihre Arme und Beine. Eigentlich konnte sie sich relativ frei bewegen. „Nur schnelles Rennen wird in diesem Kleid schwierig. Na ja, hoffen wir einfach mal, dass das diesen Abend nicht notwendig sein wird.“ Die 18-Jährige lehnte dankend die langen weißen Handschuhe ab. Und als die beiden Dienstmädchen ihr schließlich noch bei ihrer Frisur und dem passenden Make-up helfen wollten, lehnte sie dies ebenfalls ab. „Keine Sorge“, sagte die Shinigami, während sie ihre Helferinnen freundlich, aber mit Nachdruck, zur Tür hinausschob. „Den Rest bekomme ich schon alleine hin. Vielen Dank für Eure Hilfe.“ Die Beiden wirkten zwar verwirrt, widersprachen ihr aber nicht. Wenige Sekunden später setzte Carina sich an den Schminktisch, der im Schlafzimmer stand und legte ihre Brille vorsichtig neben dem rechteckigen Spiegel auf den Tisch. Sogleich wurde ihre Sicht schlechter, doch im Gegensatz zu den meisten Shinigami machte ihr das nichts mehr aus. Ziemlich am Anfang ihrer Ausbildung - direkt nachdem sie erfahren hatte, dass alle Shinigami stark kurzsichtig waren und daher alle eine Brille trugen – hatte sie angefangen große Teile ihres Trainings ohne die Sehhilfe durchzuziehen. Immerhin war es so ziemlich der größte Schwachpunkt ihrer Rasse und sollten ihre Gegner davon Kenntnis besitzen, konnte es beträchtliche Folgen haben. Daher war es der 18-Jährigen auch gar nicht schwer gefallen Sebastian einen Tritt zu verpassen, nachdem er ihr die Brille von der Nase geschlagen hatte. Nein, so leicht würde sie es ihren Feinden ganz bestimmt nicht machen. Und wenn jemand bewiesen hatte, dass man als Shinigami auch sehr gut ohne Brille zurecht kam, dann war es der Undertaker. Er hatte keine gehabt und sich trotzdem erfolgreich gegen drei Shinigami und einen Dämon behauptet. Ihr Blick fiel auf die vielen verschiedenen Arten von Make-up, die auf dem Tisch verteilt standen. Kleine Creme Döschen, längliche Tuben in allen Formen und Größen, runde Gläschen mit Öl, rechteckige Kästchen mit mindestens zehn unterschiedlichen Farbtönen… Carina rümpfte die Nase. Wer zum Teufel klatschte sich auch bitteschön nur die Hälfe von diesem Zeug ins Gesicht? Also, sie ganz bestimmt nicht. Bis heute konnte sie Frauen nicht verstehen, die sich jeden Tag Unmengen an Schminke ins Gesicht klatschten, um ihrer Umwelt bzw. natürlich ganz besonders den Männern zu gefallen. „Und wenn die Männer sie dann das erste Mal ungeschminkt zu Gesicht bekommen, fallen sie aus allen Wolken und bekommen beinahe einen Herzinfarkt. Nein, ich bevorzuge lieber den natürlichen Look und kaschiere lediglich ein wenig.“ Sie hatte sich zwar nicht täglich geschminkt, wusste aber ganz genau wie es funktionierte. Carina suchte sich einen hellen Puder heraus, der zu ihrer natürlichen Hautfarbe passte und trug ihn mithilfe eines kleinen Schwämmchens nach und nach auf ihr Gesicht auf. Er machte die Haut ebenmäßiger und deckte alle Unreinheiten ab. Die Wimpertusche aufzutragen war schon deutlich schwieriger als im 21. Jahrhundert. Hier bestand diese nämlich noch aus einer kleinen Box, in der sich ein schwarzer Block aus Farbe befand. Die 18-Jährige nahm sich eine kleine Bürste, die schon eher der aus der Zukunft ähnelte, und strich sachte über die schwarze Farbe. Anschließend übertrug sie sie auf ihre Wimpern, die nun deutlich hervorgehoben wurden. Als letztes zog sie auf beiden Seiten unterhalb ihrer Augen auf der Wasserlinie noch einen schwarzen Strich und besah sich anschließend noch einmal im Spiegel. Ihr persönlich reichte das schon. Man konnte sehen, dass sie sich geschminkt hatte, aber es war nicht übertrieben und noch vollkommen im Rahmen. Ganz sicher würde sie nicht wie die adeligen Frauen damit anfangen jetzt auch noch Unmengen von Rouge, Lidschatten und Lippenstift aufzutragen. „So und jetzt zu den Haaren“, murmelte sie und konnte sich ein Grinsen einfach nicht verkneifen. Zum ersten Mal kam es ihr wirklich zugute, dass die Shinigami ihr Aussehen beliebig verändern konnten. Bedächtig schloss die Seelensammlerin die Augen und ließ ihre Finger sanft durch ihre blonden Haare fahren. Sie würde die Haare weiterhin offen tragen, stellte sich allerdings anstelle der glatten, unten ein wenig gekräuselten, Frisur etwas anderes vor. Als sie die Augen wieder öffnete, schlich sich ein breites Lächeln auf ihre Züge. Ihr blondes Haar fiel nun stufig und perfekt gelockt über ihre Schultern, zwei ebenfalls gelockte Strähnen rahmten ihr Gesicht ein. Wow, beim Friseur hätte so etwas eine halbe Ewigkeit gedauert. Wenn sie das Alice erzählen würde, dann konnte Carina sich definitiv vorstellen, dass sie es ihr beibringen musste. Die Schwarzhaarige würde ansonsten vor Neid platzen! Zum wiederholten Mal betrachtete sie nun ihr Spiegelbild. Ja, sie sah immer noch aus wie sie selbst, nur…anders. Auf eine seltsame Art und Weise, die sie nicht genau benennen konnte. Dieses Ballkleid machte der jungen Frau erneut mit aller Deutlichkeit bewusst, dass das hier das 19. Jahrhundert war. Es würde noch sehr, sehr lange dauern bis sich die Mode auch nur in die Richtung ihre Zeit bewegen würde. Bis dahin würde sie sich in solchen Sachen herumschlagen müssen. „Ach, ist doch sowieso egal. Sobald ich meine Death Scythe zurück habe, kann ich ja wieder Bluse und Hose tragen.“ Gerade wollte sich die Blondine erheben, da schaute sie noch ein letztes Mal in den Spiegel. „Also…irgendwie…irgendetwas fehlt noch“, dachte sie, wusste aber nicht so recht was es war. Doch dann kam ihr plötzlich eine Erinnerung an den Undertaker in den Sinn. Oder besser gesagt an das, was er gesagt hatte bevor er sie ein zweites Mal geküsst hatte. „Weißt du…Mit deinen blauen Augen hast du mir besser gefallen.“ Carina biss sich auf die Lippe. Sollte sie wirklich…Na ja, warum eigentlich nicht. Erneut schloss sie die gelbgrünen Augen der Shinigami und als sie sie wieder öffnete, blinzelten ihr die marineblauen Augen entgegen, mit denen sie zur Welt gekommen war. Ein melancholisches Lächeln legte sich auf ihr Gesicht. So hätte sie also mit 18 Jahren ausgesehen, wenn sie sich nicht umgebracht hätte… „Hör auf Trübsal zu blasen. Das bringt nichts“, redete sie sich selbst ein. Die Vergangenheit konnte man nicht ändern. Es würde ihr nur Kummer bringen, wenn sie über alternative Geschichten nachdachte, die ohnehin niemals eintreten würden. Und jetzt musste sie erst einmal diesen Ball hinter sich bringen. Vorsichtig erhob sie sich, musste sie sich doch noch an die neuen Schuhe gewöhnen. Die hellblauen Schuhe, eine Art Ballerina mit Absatz, wurden an ihren Knöcheln mit einer Schleife aus Samtstoff festgeschnürt und passten von der Größe her perfekt. Sie verschwanden allerdings vollständig unter dem langen Saum des Kleides. „Solange ich nicht stolpere“, murmelte sie und begab sich mit zügigen Schritten in den Teil des Colleges, in dem sich der riesige Festsaal befand. Vor den riesigen Flügeltüren blieb sie schließlich stehen. Ein kurzes Zögern durchzuckte ihren Körper. Carina konnte es kaum glauben, aber sie war tatsächlich nervös. Vorsichtig spinkste sie in den Saal hinein und atmete gleich darauf erleichtert auf. Überall waren Männer in schicken Anzügen zu sehen und mindestens genauso viele Damen in prunkvollen Kleidern. Dazu kamen jede Menge Butler und Dienstmädchen, die die Gäste mit Getränken versorgten. In dem riesigen Raum waren so viele Menschen, da würde sie gar nicht weiter auffallen. „Glück gehabt“, dachte sie und trat durch die Doppeltür. Doch wie es nun einmal so oft in ihrem Leben war, hatte sie sich da mächtig geirrt. Denn kaum hatte die junge Frau den Raum betreten, da trat von der Seite ein Mann an sie heran. Er war kaum größer als sie selbst, trug einen dunkelbraunen Schnäuzer und war um die Taille herum ziemlich dick. In seiner linken Hand hielt er einen länglichen Stab aus Metall, der den Boden berührte. „Lady Carina?“, fragte er und Carina, vollkommen verblüfft, nickte lediglich. „Ah, der ehrenwerte Herr Direktor hat sie schon angekündigt. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.“ Er hob den Stab in die Höhe und in diesem Moment realisierte Carina, wozu der Mann hier an der Tür positioniert war. „Oh nein, bitte nicht“, schoss es ihr durch den Kopf, doch es war bereits zu spät. Das runde Ende des Stabes knallte gegen den Boden und ein dumpfer Laut hallte durch den ganzen Saal. Natürlich hatte das zur Folge, dass sich mindestens die Hälfte aller Gesichter dem Eingang und somit automatisch auch ihr zuwandten. Die Shinigami wurde so rot wie noch nie zuvor in ihrem Leben und wünschte sich tatsächlich wieder einfach unsichtbar werden zu können. Zu dumm, dass es dafür nun zu spät war. Als nächstes ertönte die laute Stimme des Mannes neben ihr, der sie ansagte. Wer in Gottes Namen war auf die blöde Idee gekommen, dass in dieser Zeit jeder Gast der erschien noch namentlich verkündet werden musste? „Lady Carina, die ehrenwerte Gattin unseres geschätzten Direktors.“ Carina erstarrte. Was hatte der Mann da gerade gesagt? Gattin? Gattin wie in…Ehefrau? Ihr Gesicht stand nun wahrlich in Flammen und während unter ihr begeisterter Applaus ertönte, suchten ihre Augen den Saal ab. Es dauerte gar nicht lange, da wurde sie bereits fündig. Der Undertaker stand ziemlich mittig im Raum. Er trug einen vornehmen schwarzen Anzug, sein Haar hatte er sich auf der linken Seite zurück geflochten, während ihm die restlichen silbernen Strähnen wie immer über den Rücken fielen. Auf seinem Kopf saß der Zylinder, den Carina bereits im Arbeitszimmer gesehen hatte. Er lächelte ihr mit einem breiten Grinsen entgegen. Sie würde ihn umbringen! Ohne auch nur die geringste Miene zu verziehen, hob sie den Saum ihres Kleides um ein paar Millimeter an und schritt langsam – und vor allem vorsichtig – die lange Treppe hinunter. Das hätte ihr gerade noch gefehlt, dass sie vor den Augen hunderter Gäste die Stufen hinabstürzte. Endlich unten angekommen ging sie mit zügigen Schritten auf den ehemaligen Seelensammler zu, nickte hier und da Leuten zu – sie gar nicht kannte, von denen sie allerdings trotzdem gegrüßt wurde – und achtete darauf, dass das steife Lächeln nicht von ihrem Gesicht wich. Elegant schlängelte sie sich an den Paaren vorbei, die zu einer langsamen Melodie auf der Tanzfläche tanzten. Auf den letzten Metern kam ihr der Undertaker bereits entgegen. Sein Grinsen hatte sich in ein Lächeln verwandelt. „Du siehst wunderschön aus, Liebling“, sagte er, nicht gerade leise wohl bemerkt, und nahm Carina damit allen Wind aus den Segeln. „Aller guten Dinge sind drei“, dachten sich ihre Wangen und wurden erneut rot. „Lass das“, zischte sie leise, sodass es außer ihm niemand hören konnte. „Was denn?“, fragte er, nun ebenso leise, legte einen Arm um ihre Hüfte und seinen Mund an ihr Ohr. „Darf ich meiner Frau denn keine Komplimente machen?“ Wie gerne hätte sie dem Bestatter dafür in die Seite geboxt. Aber leider konnte sie diesem Drang nicht nachgeben, nicht vor all den Leuten. „Ernsthaft?“, zischte sie stattdessen und schaute ihn böse an. „Deine Ehefrau? Ist das jetzt die Rache für letzte Nacht?“ Der Undertaker kicherte. „Du hast aber auch wirklich gar keinen Sinn für Humor, Carina.“ „Was soll das hier eigentlich werden? Warum musste ich auf diesen lächerlichen Ball kommen?“, wechselte sie abrupt das Thema und betrachtete eine kleine Gruppe von Frauen, die angeregt miteinander tratschten und sich ständig die Hände vor den Mund schlugen, um dahinter versteckt kichern zu können. Gott stehe ihr bei… „Um ganz ehrlich zu sein“, begann er und Angesprochene wandte sich ihm wieder zu, „wollte ich dich unbedingt einmal in so einem Kleid sehen.“ Carina schwieg, ihre Gedanken jedoch überschlugen sich. Meinte er das wirklich ernst? Konnte…konnte er sie wirklich attraktiv finden? „Außerdem wusste ich, dass es dich in Rage versetzen würde und da konnte ich einfach nicht widerstehen“, setzte der Bestatter gackernd nach und bewirkte damit, dass eine Ader auf Carinas Stirn erschien. Eine Wutader, um ganz genau zu sein. „Ach, mach doch was du willst“, murmelte sie beleidigt und verschränkte die Arme vor der Brust, was ihr von einigen Frauen einen empörten Blick einbrachte. „Na, wenn du schon so fragst“, entgegnete er und hielt ihr plötzlich seine behandschuhte Hand hin. „Tanz mit mir!“ Carina blinzelte. Hatte er nicht einmal zu ihr gesagt, dass sie es am laufenden Band schaffte ihn zu überraschen? Nun, heute war er derjenige, der für mehrere Überraschungen gut war. Ihr Blick fiel auf seine Hand, dann wieder zurück in sein lächelndes Gesicht. Sie schlug die Augen nieder. „Offiziell bin ich seine Frau, es käme also seltsam an, wenn ich einen Tanz mit meinem Ehemann ausschlagen würde.“ Natürlich wusste sie, dass das gelogen war. Selbst, wenn er sie nicht als seine Gattin ausgegeben hätte, hätte sie mit ihm getanzt. Noch nie hatte sie jemand zum Tanz aufgefordert. „In Ordnung“, murmelte sie und ergriff seine Hand. Der Handschuh war warm und schmiegte sich an ihre Handinnenfläche, doch viel lieber hätte Carina seine Haut an ihrer gespürt. Sanft zog er sie auf das Tanzparkett. Ihr Herz besaß doch tatsächlich die Frechheit schneller zu schlagen, als er ihr seine rechte Hand auf den Rücken legte, knapp unter dem Schulterblatt. Mit trockenem Mund umschloss sie seine linke Hand fester und legte ihre Rechte bedacht auf seiner Schulter ab. Der Takt des Liedes war langsam, doch das kam Carina gerade recht. Sie konnte tanzen, ja, aber ihr Fachgebiet war es nicht gerade. Doch schnell stellte sich heraus, dass sie sich gar keine Sorgen machen musste. Er führte sie gekonnt über die Tanzfläche, als wäre es für ihn das Einfachste von der Welt. Die ganzen Menschen um sie herum rückten in weite Ferne, alles was sie noch wahrnehmen konnte, war sein Gesicht. Ihr Blick fiel auf seine silbernen Haare. „Sag mal, ist das nicht ziemlich riskant für dich so öffentlich aufzutreten? Deine Haare sind ja nicht gerade unauffällig.“ „Glaubst du, du bist die Einzige, die ihr Aussehen ändern kann?“, meinte er mit einem Blick in ihre blauen Augen. „Bis auf dich sehen mich alle anderen Menschen in diesem Raum nur als den Direktor, der seine Haare unter dem Zylinder verborgen trägt.“ Carina hob eine Augenbraue. Sie konnte ihr Aussehen nur für alle gleichermaßen verändern. Erneut fragte sie sich, wie alt der ehemalige Todesgott wohl sein mochte und wie gut er in seinem Job wohl gewesen war. Plötzlich begann der Totengräber wieder zu grinsen. „Hehe, das hätte ich jetzt nicht erwartet. Ich dachte nach diesem Tanz bräuchte ich neue Füße.“ „Du weißt wirklich wie man eine Frau so richtig aufbaut“, meinte die Blondine trocken. „Wer hat dir das Tanzen beigebracht? Deine Mutter?“ Carina schüttelte den Kopf. „Nein, ich hatte in der sechsten Klasse einen Tanzkurs“, flüsterte sie leise, erinnerte sie sich doch noch zu gut an diese äußerst peinlichen Stunden im Sportunterricht. Am Anfang hatte sie nämlich so gar nichts auf die Reihe bekommen und war tatsächlich jedem ihrer Tanzpartner mindestens dreimal auf jeden Fuß getreten. Zum Glück war sie lernfähig. Als die Melodie verklungen war verbeugte sich der Undertaker vor ihr und Carina – hoffend, dass sie es halbwegs richtig tat – knickste. Gleichzeitig wurde sie, wie sollte es auch anders sein, rot im Gesicht. Das würde sie in der Zukunft definitiv nicht vermissen. Der ganze Anstandskram war mehr als nur überflüssig in ihren Augen. Es war einfach nur über alle Maßen peinlich. Jetzt, wo sie wieder am Rand standen und der Undertaker sich gerade mit einem der Professoren unterhielt, fühlte die 18-Jährige sich gleich viel wohler. Sie hatte es schon immer gehasst im Mittelpunkt zu stehen. Im Gegensatz zu manch anderen war sie manchmal einfach nur froh im Hintergrund zu stehen und nicht aufzufallen. Wenn sie so darüber nachdachte, war sie in der Hinsicht das genaue Gegenteil von Grell. „Ja, der hätte sich hier sicherlich prächtig amüsiert“, dachte sie grinsend, blinzelte jedoch im nächsten Moment überrascht, als der Professor nun sie ansprach. „Sie können sich meine Überraschung ja gar nicht vorstellen, als ich erfahren habe, dass unser lieber Herr Direktor geheiratet hat. Meinen herzlichen Glückwunsch Ihnen beiden.“ Carina hob eine Augenbraue, während der Undertaker ihr über die Schulter des Lehrers ein schelmisches Grinsen schenkte. Sie brachte ein halbwegs echt wirkendes Lächeln zustande. „Vielen Dank. Ja, für uns kam die ganze Angelegenheit auch sehr überraschend.“ Die Lippen des Undertakers pressten sich bei ihrer Betonung dichter zusammen, anscheinend hatte er Schwierigkeiten damit sein Lachen unter Kontrolle zu behalten. Schnell versuchte Carina das Thema zu wechseln. „Und was unterrichten Sie so, Mr. …?“ „Winterbottom“, antwortete der schwarzhaarige Mann – Carina schätzte ihn auf Anfang 30 – freundlich. „Ich bin auf dem Weston College für den Bereich Sprachen zuständig und unterrichte die Schüler in Englisch, Französisch und Latein.“ „Das…klingt abwechslungsreich“, antwortete Carina, die in Französisch damals auf ihrer Schule verdammt schlecht gewesen war. Was ironisch zu betrachten war, wenn man bedachte, dass sie in Englisch Klassenbeste gewesen war. „Oh ja, das ist es auch. Und ich bin guter Dinge, dass im nächsten Schuljahr auch noch Spanisch und Deutsch dazu kommen werden.“ „Wie kann man nur so viele Sprachen sprechen?“, dachte sie, sagte aber anstatt dessen mit einem Grinsen auf Deutsch: „Schön, dass wenigstens einer in diesem Raum meine Sprache spricht.“ Ein entzückter Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. „ Sie sind Deutsche? Natürlich sind Sie Deutsche, Ihre Aussprache ist perfekt.“ Er sprach nun ebenfalls auf Deutsch und schien komplett aus dem Häuschen zu sein. Anscheinend hatte er noch nicht viele Menschen in England getroffen, die der deutschen Sprache mächtig waren. Der Undertaker hingegen hatte beide Augenbrauen in die Höhe gezogen, verstand er doch kein einziges Wort. Carina zwinkerte ihm grinsend zu und unterhielt sich noch einige Minuten weiter mit dem Professor auf Deutsch, um den Silberhaarigen ein kleines bisschen zu ärgern. Doch schon bald entschuldigte sich der Schwarzhaarige sich mit den Worten, dass er sich noch mit ein paar anderen Gästen unterhalten musste, er sich aber freuen würde sich bald einmal wieder mit ihr zu unterhalten. „Über was habt ihr gesprochen?“, fragte der Bestatter, sobald der Professor in eine andere Ecke des Raumes verschwunden war. Jetzt war es an Carina eine Augenbraue zu heben. „Neugierig sind wir ja gar nicht, was? Er hat mich nur gefragt wo ich genau herkomme, wie ich als Deutsche England empfinde und so weiter.“ „Vielleicht sollte ich mir diese Sprache auch mal aneignen. So schwer kann sie ja nicht sein.“ Nun konnte Carina gar nicht anders, als aufzulachen. „Im Gegensatz zu Englisch? Oh doch, du würdest dich wundern.“ Plötzlich traten ein Mann und eine Frau von der Seite an sie heran. Perplex schauten der „Direktor und seine Frau“ die beiden Adeligen an. „Es ist uns ja eine solche Freude Sie endlich einmal kennen zu lernen, Herr Direktor“, begann die rothaarige Frau schwärmerisch, stellte sich anschließend als Elizabeth Crowford vor und schlug die Hände vor der Brust zusammen. Carina schaffte es gerade noch bei dem schleimigen Tonfall nicht die Augen zu verdrehen. Eigentlich war es doch genauso wie sie von Anfang an gedacht hatte. Dieser Ball war nur dafür da, damit die Eltern der ganzen reichen Schüler den Lehrern und natürlich dem Direktor in den Hintern kriechen konnten. Wenn die alle wüssten, dass das hier gar nicht ihr Direktor war… Sie bekam gar nicht mit was der Undertaker sich als Gesprächsthema für die Beiden einfallen ließ, schaute allerdings kurz auf, als die Frau ihren Sohn dazu winkte. „Das ist mein Sohn Cole. Er ist jetzt in seinem vorletzten Jahr und gehört zum Haus Scarlet Fox.“ Der Junge, der ebenso wie seine Mutter rothaarig war, deutete eine leichte Verbeugung an und richtete seine Augen anschließend allerdings nicht auf den Zylinderträger, sondern auf sie. Carina lief mit einem Mal ein Schauer über den Rücken. Irgendetwas an dem Ausdruck in den Augen des Jungen passte ihr ganz und gar nicht. Irgendwo hatte sie einen ähnlichen Ausdruck doch schon einmal gesehen… Doch als ein paar Minuten später die Eheleute samt Sohn zum Büfett verschwanden, tat sie die Begegnung mit einem Schulterzucken ab. Hätte sie erkannt, dass es die drei Männer von damals gewesen waren, die sie ebenfalls mit einem derartigen Ausdruck gemustert hatten, hätte sie ihn wohl keine Sekunde lang aus den Augen gelassen… Kapitel 35: Hingabe ------------------- Die Zeit auf dem Ball dehnte sich aus wie zäher Kaugummi. Langweilige Gespräche wurden von noch langweiligeren Gesprächen abgelöst und langsam aber sicher taten Carina von der ganzen Herumsteherei die Füße weh. Wahrscheinlich tranken die meisten Leute sich diese Veranstaltung mit dem ganzen Champagner schön, aber das traute sich die 18-Jährige nicht. Wenn der Undertaker in der Nähe war, konnte sie ohnehin schon kaum einen klaren Kopf bewahren, doch wenn sie jetzt noch Alkohol trank, dann würde das sicherlich in einer heillosen Katastrophe enden. Die Blondine stand gerade endlich einmal alleine und lehnte sich unbemerkt an eine Säule, da fiel ihr Blick auf den jungen Mann, der vor ca. eine Stunde mit seinen Eltern um den angeblichen Direktor herumscharwenzelt war und jede Menge Süßholz geraspelt hatte. Wie war sein Name noch einmal gewesen? Cole Crowford? Jedenfalls hatte Carina sein Blick und generell seine ganze Ausstrahlung nicht sonderlich gefallen. Und auch jetzt gefiel es ihr nicht, wie er im hinteren Teil des Parketts an einer Wand lehnte und seine Augen immer wieder über die Mädchen auf der Tanzfläche gleiten ließ. Sie hatte sich ja schon zu Anfang gedacht, dass die Schüler des Hauses Scarlet Fox nicht ihre Favoriten waren und dieser 17-Jährige bestätigte ihre Vermutung nur. Der silberhaarige Bestatter stand derweilen am Büfett und plauderte angeregt mit seinen Lehrkräften. Anscheinend fand er es wirklich erheiternd witzig sich als Direktor auszugeben und die Gelehrten für dumm zu verkaufen. Na ja, schlau genug war er ja… Plötzlich sah die Shinigami aus den Augenwinkeln, dass sich der junge Adelige in Bewegung gesetzt hatte. Seine Augen waren starr nach vorne gerichtet und auf seinen Lippen lag ein triumphierendes, beinahe schon freudiges, Lächeln. Carina folgte seinem Blick und erkannte ein blondes Mädchen, vielleicht 15 oder 16 Jahre alt, das sich gerade Richtung Ausgang begab. Die Seelensammlerin konnte genau fühlen, wie sich sofort ein kaltes Gefühl in ihrem Magen breit machte. Das Mädchen verließ die Halle und keine 10 Sekunden später tat Cole es ihr nach. Carina setzte sich ebenfalls ruckartig in Bewegung, machte sich noch währenddessen transparent für die Menschen um sich herum. Generell dachte sie ja nicht das Schlechteste von ihren Mitmenschen, aber dieser Junge… „Vielleicht bilde ich mir das Ganze auch nur ein.“ Aber sollte er wirklich das vorhaben, was sie dachte, dann… Um ehrlich zu sein hatte sie keine Ahnung, was sie in so einem Fall tun würde. Mit schnellen Schritten eilte sie aus dem Saal und sah gerade noch das Schwalbenschwänzchen von Coles Anzug hinter der nächsten Ecke verschwinden. Automatisch beschleunigte sie ihre Schritte und hatte ihn in weniger als 10 Sekunden eingeholt. Kurz verfluchte sie ihr Kleid, denn ohne diesen langen Saum hätte sie das auch locker in 5 Sekunden schaffen können. Nach wenigen Sekunden erkannte Carina, dass das Mädchen zum Balkon ging, der direkt an den Festsaal angrenzte. Es handelte sich dabei um einen weitläufigen, im Halbkreis verlaufenden, Balkon. Er war doppelt so lang und breit wie Carinas komplettes Zimmer, das sie daheim besessen hatte und bot einen perfekten Blick auf den Sternenhimmel. Vermutlich wollte die Schülerin nur kurz frische Luft schnappen und sich ein wenig Zeit für sich nehmen. Carina konnte es ihr nicht verdenken, sie hätte vermutlich schon bald selbst das Handtuch geworfen und ein wenig Zeit für sich selbst beansprucht. Der Junge vor ihr bewegte sich erstaunlich geräuschlos, das Mädchen hatte mit ihren menschlichen Sinnen nicht die geringste Chance ihn zu bemerken. Das kalte Gefühl breitete sich nun ebenfalls auf Carinas Brust aus. „Bleib ruhig“, dachte sie sich. „Vielleicht ist er nur in sie verliebt und möchte ihr den Hof machen.“ Die Hoffnung starb ja bekanntlich immer zuletzt. Der Himmel war klar und ein angenehmer Wind wehte über den breiten Balkon, als Carina gleichzeitig mit dem Jungen ins Freie trat. Das blonde Mädchen hatte sich in ca. 10 Meter Entfernung an das brusthohe Geländer angelehnt und schien die nächtliche Stille zu genießen. Ihr hellgrünes Kleid schmiegte sich an ihren dünnen Körper und stand im starken Kontrast zu der Dunkelheit um sie herum. Der Rothaarige wartete noch einen Moment an der Tür, schaute sich sogar zu allen Seiten um, ob er auch ja unbeobachtet war. Carinas Augen verengten sich. Wenn er nur wüsste… Schließlich setzte er sich in Bewegung, gab sich im Gegensatz zu vorhin allerdings keine Mühe mehr lautlos zu sein. Das Mädchen fuhr überrascht herum, war sie sich doch ganz sicher gewesen hier endlich mal ein wenig Abstand zu dem ganzen Trubel zu bekommen. „H-hallo“, meinte sie leicht schüchtern und starrte den - ihr fremden - Jungen an, der sie anlächelte. Das Lächeln hätte nicht falscher sein können. Anstatt sie ebenfalls zu begrüßen, sagte er: „Es ist ganz schön riskant für ein Mädchen ganz alleine nachts durch die Schule zu streifen.“ Die Kleine wurde mit einem Mal furchtbar blass und Carina konnte es ihr nachfühlen. Keiner wusste besser als sie selbst, was genau in diesem Moment in der jungen Adeligen vorging. „D-dann…dann sollte ich wohl schleunigst wieder reingehen, nicht wahr?“, antwortete das Mädchen versucht ruhig und bewegte sich auf den Eingang zu. Doch ihre Schritte waren eine Spur zu hastig, ihr Atem ging zittrig und verriet ihre Angst. Das Lächeln auf dem Gesicht des Jungen wurde breiter. Carina ballte die Hände zu Fäusten. Wut pulsierte durch jede Faser ihres Körpers. Der Junge war 17, gerade einmal halbwegs erwachsen und erdreistete es sich, über solche Sachen überhaupt nachzudenken? Geschweige denn sie in die Tat umzusetzen? Das ausgesuchte Opfer versuchte den Rothaarigen zu umrunden, doch dieser packte mit einem Ruck ihr Handgelenk. Ein entsetzter Schrei entfuhr der Kehle der Blondine und panisch versuchte sie von ihrem Angreifer loszukommen. Natürlich war Cole jedoch viel kräftiger. Ein weiterer Ruck ging durch den Arm der Jugendlichen und beförderte sie mit Schwung gegen seine Brust. Carina schloss die Augen. Am liebsten wäre sie einfach dazwischen gegangen. Das war das einzig Richtige. Aber…sie war ein Shinigami. Sie dürfte sich nicht in die Angelegenheiten von Menschen einmischen. Und sie hatte die Todesliste nicht mehr. Was, wenn das Mädchen auf der Liste stand? Was, wenn sie durch ihr Eingreifen dafür sorgte, dass sich das Sterbedatum des Mädchens änderte? „Wenn du dich benimmst und den Mund hältst, dann lasse ich dich danach auch wieder unbeschadet auf den Ball gehen.“ Carina öffnete die Augen. Ihr Herz hatte die ganze Zeit schneller als üblich gepocht, doch jetzt erhöhte sich ihr Puls rasant. Wie bereits in der vorherigen Nacht wurde sie von Erinnerungen gepackt. „Wenn du dich benimmst und schön still hältst, dann lassen wir dich auch laufen.“ Der Zorn, von dem sie nun gepackt wurde, hatte nichts mehr mit einem normalen menschlichen Gefühl zu tun. Dieser Hass, der sich nun in ihrer Magengegend ansammelte, war heiß und drückt gegen die Außenwände ihres Körpers, um endlich herausbrechen zu können. Sie vergaß jegliche Warnung des Undertakers, dass sie sich nicht in Dinge einmischen sollte, die andere Shinigami auf den Plan rufen könnten. Ihr Gehirn setzte für einen kurzen Moment vollständig aus. Und in diesem kurzen Moment entschloss sich ihr Körper instinktiv zu reagieren. Ein erschrockenes Japsen entfuhr dem jungen Mann, als sich nun aus heiterem Himmel eine Hand um sein Handgelenk schloss. Erstaunt starrte er die junge Frau an, die nun neben ihm und seiner Beute stand und ihn mit einem Blick anstarrte, der ihm für einen Moment das Blut in den Adern gefrieren ließ. „Lass sie los“, sagte Carina eisig, ihre Stimme war jedoch erschreckend ruhig. Hätte der Junge genug Grips besessen, hätte er ihrem Befehl genau jetzt Folge geleistet. Denn das war es – ein Befehl. Doch natürlich begriff der Scarlet Fox in diesem Moment nicht, mit wem er sich hier gerade anlegte. „Ah, Sie sind doch die Frau des Direktors“, sagte er, der selbstsichere Ausdruck kehrte auf sein Gesicht zurück. In seinen Augen war sie nur eine junge Frau. Nichts, wovor man Angst haben musste. „Lass sie los“, wiederholte Carina, dieses Mal langsamer. Ihre Pupillen wurden schmäler, auch ohne Brille konnte sie die Belustigung in seinen Augen sehen. „Sonst was?“, fragte er arrogant. „Möchtest du mit ihr tauschen? Um ehrlich zu sein hatte ich über dich ebenfalls einen Moment nachgedacht. Aber du gehörst dem Direktor, das war mir dann doch etwas zu heikel.“ Der Geduldsfaden der 18-Jährigen spannte sich merklich an. Gehören? So wie er das sagte hörte sich das an, als wären Frauen für ihn das Gleiche wie Gegenstände. Etwas, worauf man Besitzansprüche stellen konnte. „Aber jetzt, wo du schon mal hier bist“, begann er und grinste verschlagen, „könnten wir ja auch zu dritt Spaß haben.“ Genauso gut hätte er sich eine Schere nehmen und den Faden in ihrem Inneren durchschneiden können. Jeder, der sie nur ein wenig kannte, hätte in diesem Moment sehen können wie ihr der Kragen endgültig platzte. Carina nutzte ihre übermenschliche Kraft und drückte ihre Hand fest zusammen, sodass die beiden Knochen in seinem Handgelenk knirschten und aneinander rieben. Ein Schmerzensschrei entfuhr dem Jungen und automatisch war er nun dazu gezwungen das Mädchen loszulassen. Diese eilte mit kreideweißem Gesicht hinter ihre Retterin, Tränen strömten ihr übers Gesicht und verschmierten ihr aufwendiges Make-up. Carina ließ Cole los und während dieser sich jammernd ans Handgelenk fasste, drehte sie sich zu der Adeligen herum. „Geh wieder rein. Und sag niemandem was hier draußen passiert ist, einen Aufstand möchte ich nur ungern auslösen. Aber keine Sorge“, lächelte sie die Kleine aufmunternd an. „Ich werde dafür sorgen, dass er dich nicht noch einmal belästigt.“ Das Mädchen wirkte immer noch arg verängstigt - was angesichts ihrer Situation nur natürlich war - nickte aber und verabschiedete sich mit einem leise gemurmelten „Danke“. „Hnn, was soll der Scheiß?“, rief der Rothaarige nun sichtlich wütend aus und starrte Carina an, die sich ihm wieder zuwandte. „Du hast mir fast die Hand gebrochen. Und jetzt lässt du die Kleine auch noch einfach gehen. Na warte.“ Er trat einen Schritt auf die Blondine zu, diese rührte sich keinen Millimeter. Auf ihrer Miene spielte sich ein spöttisches Lächeln ab. „Na warte…was?“, fragte sie geradeheraus und ließ sich keine Sekunde lang von ihrem Gegenüber aus der Ruhe bringen. „Was willst du machen, huh? Ich hab keine Angst vor dir, du kleiner Wicht.“ Der kleine Wicht schien von seinem neuen Namen ganz und gar nicht begeistert zu sein. Mit unbeherrschtem Antlitz holte er mit seinem rechten Arm aus und wollte sie mit der Faust ins Gesicht treffen. Dieser arme, arme Trottel. Carina fing die Faust lange vor ihrem Gesicht ab und bevor der Junge auch nur begreifen konnte was passierte, rammte sie ihm ihre Faust frontal gegen die Nase. Sein Kopf wurde zur Seite weggeschleudert, er stolperte einen Schritt zurück und beinahe sofort fing seine Nase an zu bluten. Es lief ihm über die Lippen, rann an seinem eckigen Kinn hinab, nur um anschließend auf sein teures, weißes Hemd zu tropfen. „Das war bereits lange überfällig“, erwiderte sie spöttisch und konnte eine Sekunde lang kaum fassen, wie gut sich dieser Schlag angefühlt hatte. Hätte sie sich doch nur damals so gegen ihre eigenen Angreifer zur Wehr setzen können… Erneut packte sie die Wut. Der betrunkene Mann vom Friedhof war damals davon gekommen. Ihn hier würde sie nicht so einfach davon kommen lassen. Viel zu schnell für einen Menschen packte sie den 17-Jährigen am Kragen seiner schwarzen Anzugsjacke und ging mit ihm mehrere Schritte rückwärts, bis sie das Balkongeländer erreichten. Gleichzeitig verfärbten sich ihre Augen wieder zu dem Gelbgrün der Shinigami und leuchteten ihrem Gegenüber in der Dunkelheit entgegen. „Was…“, begann der Junge, als er mit dem Rücken gegen das Geländer krachte, und zum ersten Mal konnte die Shinigami einen Hauch von Angst in seinem Gesicht sehen. Doch ihr Mitleid für ihn hielt sich in Grenzen. „Du hältst dich wohl für ganz toll, nicht wahr? Mädchen in der Dunkelheit überfallen zu wollen, wenn sie ganz allein sind und sich nicht wehren können. Aber soll ich dir mal was sagen? Das ist feige und abstoßend, sonst nichts.“ Sie drückte ihn weiter nach hinten, sein oberer Rücken hing mittlerweile über das Geländer hinaus. Der Rothaarige wurde grün im Gesicht, als er den Kopf ein wenig drehte und sehen konnte, wie weit es hinter ihm in die Tiefe ging. Lediglich Carinas Griff hielt ihn davon ab über das Geländer zu stürzen und sich unten alle Knochen zu brechen. Nein, einen Sturz aus der Höhe wurde er ganz sicherlich nicht überleben. „Es wäre so einfach“, dachte die Seelensammlerin und schaute auf ihre Hand. „Ich müsste ihn einfach nur loslassen. Einfach nur loslassen und dann…“ Plötzlich erschrak sie über ihre eigenen Gedanken. Was zum Teufel dachte sie denn da? Hatte…hatte sie gerade wirklich darüber nachgedacht ihn in den Tod stürzen zu lassen? Er war schäbig und mies und ein echtes Arschloch, aber er war immer noch ein Mensch. „B-bitte…ich will noch nicht sterben“, flehte er, mittlerweile liefen ihm die Tränen übers Gesicht. Carina schaute ihm einen sehr langen Moment lediglich ins Gesicht, dann – ganz langsam – zog sie ihn ein Stück zurück, sodass er wieder gerade auf dem Balkon stand. Der Junge atmete zittrig ein und wieder aus, die tränennassen Wangen bebten. „W-wer oder was bist du?“, stammelte er, denn diese unglaubliche Kraft und diese seltsamen Augen konnten keinem normalen Menschen gehören. Mit einem weiteren kräftigen Ruck an seinem Kragen brachte sie ihn direkt vor ihr Gesicht, ihre Nasenspitzen berührten sich fast. „Ich bin dein schlimmster Albtraum, wenn du es je wieder wagen solltest auch nur daran zu denken eine Frau schlecht zu behandeln. Und glaube mir, ich werde es herausfinden.“ Ein Wimmern verließ seine Lippen und als die Shinigami ihn endlich losließ, stürzte er so schnell er konnte in Richtung Ausgang, wobei er zweimal über seine eigenen Füße stolperte. Carina blieb alleine zurück, stützte sich mit einer Hand am Geländer ab und fuhr sich mit der anderen durch ihr gelocktes Haar. „Habe ich…habe ich wirklich darüber nachgedacht ihn umzubringen? Was zur Hölle ist nur los mit mir?“ Sie war so zornig gewesen, dass sie überhaupt keine Bedenken gehabt hatte. Machte sie das nicht schon fast zu einem genauso schlimmen Charakter wie dieser Junge? Plötzlich wurde sie sich einem komischen Gefühl in ihrem Rücken bewusst. Ein genervtes Seufzen entfuhr der 18-Jährigen. „Wie lange stehst du schon da?“, fragte sie, ihre Stimme fest und monoton. Ein Kichern drang aus dem Schatten neben dem Eingang, gleich darauf ertönten langsame Schritte. „Seit dem Es ist ganz schön riskant für ein Mädchen ganz alleine nachts durch die Schule zu streifen“, antwortete der Undertaker und trat aus dem Schatten hervor. Ein missbilligendes Schnauben entfloh der Blondine. „Also quasi seit Anfang an“, meinte sie gereizt und wandte ihr Gesicht von ihm ab. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Er hatte alles mitbekommen. So ein verfluchter Mist! Der Silberhaarige beobachtete die junge Frau stillschweigend. Natürlich hatte er ihr Verschwinden relativ schnell bemerkt und war ihr gefolgt. Doch was er in den letzten 10 Minuten alles zu sehen bekommen hatte, damit hatte er wahrlich nicht gerechnet. Die Shinigami vor ihm war mit solch einer inneren Wut erfüllt, dass sie sich kaum unter Kontrolle hatte. „Warum bist du so wütend?“, fragte er, seine Neugierde war klar und deutlich in seiner Stimme zu vernehmen. Die Blondine rührte sich einen Moment überhaupt nicht, wirkte mehr wie eine Säule als ein lebendiges Wesen. Selbst aus dieser Entfernung konnte der Bestatter sehen, dass ihre Schultern zitterten. Und keiner konnte ihm erzählen, dass das von der nächtlichen Kälte herrührte. Carina hatte die Augen erneut geschlossen. Sie war kurz davor ihm erneut zu sagen, dass ihn das einen Scheiß anging. Dass er endlich damit aufhören sollte ihr Fragen zu stellen, die sie nicht beantworten wollte. Und doch… bewegte sich plötzlich ihr Mund und es kamen Wörter heraus, mit denen nicht einmal sie selbst gerechnet hatte. „Weil ich selbst kein Stück besser bin als dieser Mistkerl. Weil auch ich furchtbare Dinge getan habe.“ Eine Augenbraue von ihm wanderte in die Höhe. „Die da wären?“ Sie wusste, dass er eine Antwort erwartete. Carina schluckte, ihre Kehle war komplett ausgedörrt. „Erinnerst…erinnerst du dich noch an das Mädchen, dessen Leiche damals in dein Institut getragen wurde, als ich dort war?“ Kurz schien der Bestatter überlegen zu müssen, doch dann dämmerte es ihm. „Ja“, sagte er und musste kurz schmunzeln. Damals hatte Carina beinahe eine Panikattacke bei dem Anblick der Toten bekommen. Heute war sie ein Shinigami und hatte schon unzählige Leichen gesehen. „Du hast damals zum Earl gesagt, dass es mindestens zwei Täter gewesen sein müssen“, redete sie weiter und versuchte ruhig zu bleiben. „Du hattest Recht. Aber es waren drei, um ganz genau zu sein.“ Drückende Stille herrschte mit einem Mal auf dem Balkon. Carina drehte ihren Kopf und schaute in seine Augen, die nun leicht verengt waren. Wie gerne hätte sie jetzt gewusst was er dachte. „Was haben sie dir angetan?“, fragte der Undertaker und ein seltsamer, fast bedrohlicher, Unterton schwang in seiner Stimme mit. „Sie haben mich nicht vergewaltigt, falls du das meinst“, murmelte sie, das schwere Gefühl in ihrer Kehle ignorierend. „Carina“, sagte er warnend und Angesprochene wusste, dass es nun kein Zurück mehr gab. Wenn sie jetzt nicht weiter sprach, dann würde er sie dazu zwingen. Plötzlich wünschte sich die Shinigami den Mund gehalten zu haben. „Du hattest versucht mich zu küssen und…und ich war so aufgewühlt, ich wollte einfach nur weg von dir und dem Institut und… ich dachte, dass ich vielleicht draußen einen klaren Kopf bekomme. Aber ich...ich war so dumm und…hab die Zeit vergessen.“ Carina war es peinlich, dass sie immer wieder stockte, aber die Worte kamen ihr nur sehr schwer über die Lippen. „Auf dem Rückweg bin ich ihnen dann in die Arme gelaufen.“ Das Gesicht des Totengräbers war ausdruckslos, doch immer noch sandte er diese unheimliche Aura aus. War er wütend? Vielleicht, weil sie so verdammt naiv gewesen war und nicht auf seine früheren Ratschläge gehört hatte? „Natürlich habe ich versucht ihnen zu entkommen. Allerdings ist das etwas schwierig, wenn du dich in London so gar nicht auskennst und es nebenbei auch noch stockfinster ist. Und schließlich haben sie mich in dieser Gasse gestellt.“ Das Zittern ihrer Schultern wurde heftiger. „Ich…ich hatte solche Angst“, wisperte sie, als sie sich an den Moment zurückerinnerte, der immer noch wie ein Brandmal in ihr Gedächtnis eingebrannt war. „Ich hatte solche Angst vor der Vorstellung, dass… Als mir klar wurde, dass ich so oder so sterben würde, da hab ich…“ Ihre Hand wanderte zu der Narbe auf ihrer Brust und ihr war klar, dass sie nicht weiter sprechen musste. Der Undertaker konnte zwei und zwei zusammenzählen. Und jetzt ergab es auch endlich Sinn, dass sie sich ein Messer in die Brust gestoßen hatte. Wie er es bereits vermutet hatte, hatte sie schlichtweg keine andere Möglichkeit gehabt. Er wusste, dass diese Mordfälle irgendwann abrupt aufgehört hatten, man aber die Täter niemals gefasst hatte. Der Earl hatte sich maßlos darüber aufgeregt. Nun juckte es ihn selbst in den Fingern diese drei Typen auf eigene Faust aufzuspüren, doch dieser Gedanke wurde bei Carinas nächsten Worten komplett überflüssig. „Ich habe sie getötet“, flüsterte sie. „Alle drei.“ Der Silberhaarige starrte sie an, konnte im ersten Augenblick nicht glauben, was er da hörte. Carina lachte trocken auf, doch es klang unglaublich hohl. „Ich weiß, was du gerade denkst. Sie hat drei Menschen getötet? Ausgerechnet sie, die auf der Campania noch große Reden über ihre Menschlichkeit geschwungen hat? Lächerlich, nicht wahr?“ „Nein“, entgegnete er und keine Lüge lag in seiner Stimme. „Ich halte es nicht für lächerlich.“ Carina schwieg, riss die Scham über das Geschehene sie doch gerade innerlich fast auseinander. „Es war beinahe schon zu leicht sie ausfindig zu machen, weißt du? Ich musste nur drei Kneipen in London abklappern, da hab ich sie bereits erwischt. Zuerst hab ich mir die beiden Mitläufer vorgenommen. Dem Ersten hab ich nachts in einer Gasse die Kehle durchgeschnitten. Ich glaube er hat nicht einmal mehr richtig mitbekommen, was ihm passiert ist. Dem Zweiten hab ich drei Tage später in seiner Küche ein Messer in den Magen gerammt. Ich hab mal gelesen, dass man da nur sehr langsam, aber dafür sehr schmerzhaft stirbt.“ Ihre Augen waren feucht, ihr Ton gequält über das, was sie damals getan hatte. „Den Anführer“, fuhr sie flüsternd fort, „hab ich mir bis ganz zum Schluss aufgehoben. Natürlich hatte er bereits mitbekommen, dass ihm Gefahr drohte. Immerhin waren seine beiden Kumpane ja schon tot. Hat sich in seiner riesigen Villa verbarrikadiert, der Feigling. Als er mich dann gesehen hat, ist er beinahe wahnsinnig geworden. Natürlich, ich war ja vor seinen Augen gestorben, wie konnte ich da plötzlich in seinem Salon stehen?“ Carina konnte sich noch ganz genau an seine weit aufgerissenen Augen erinnern. Wie er immer wieder und wieder „Du bist nicht real“ geschrien hatte. „Ihn“, begann sie wispernd und nun rannen ihr tatsächlich Tränen über die Wangen, „ihn habe ich nicht bloß getötet. Ich habe ihn auseinandergenommen.“ Ja, im ersten und im zweiten und sogar auch im dritten Moment hatte es sich gut angefühlt. Doch natürlich hatte sie irgendwann die Erkenntnis eingeholt, was sie da eigentlich getan hatte. Sie hatte drei Menschen getötet. Und auch, wenn ihre Albträume dadurch bis auf gelegentliche Ausnahmen verschwunden waren, gab ihr das nicht das Recht über Leben und Tod zu entscheiden. Sie hatte eine der Regeln der Shinigami gebrochen. Und es war ihr egal gewesen. Es war ihr tatsächlich vollkommen egal gewesen. Dem Bestatter schien unterdessen plötzlich ein Licht aufzugehen. „Wellington“, murmelte er und Carina zuckte zusammen, als sie den Namen hörte. Mit roten und geweiteten Augen starrte sie ihn an. „Woher weißt du…?“ „Ich habe mich um seine Leiche gekümmert“, unterbrach er sie. „Nun ja, oder das, was davon noch übrig war.“ Sogleich bereute er seine Wortwahl, als sich die Qual in Carinas Gesicht nur noch vertiefte und sie sich erneut dem Balkongeländer zuwandte. „Carina…“, begann er und trat einen Schritt auf sie zu, doch dieses Mal war sie diejenige, die ihn unterbrach. „Nein“, rief sie aus und wich vor ihm zurück. Ein gehetzter Ausdruck lag in ihrem Blick. „Egal, was du mir zu sagen hast, ich will es nicht hören.“ Sie wollte nicht hören, wie die Leiche ausgesehen hatte, immerhin hatte sie sie mit eigenen Augen gesehen. Sie wollte nicht hören, wie sich der Undertaker um den zutiefst zugerichteten Körper gekümmert hatte. Und ganz sicherlich wollte sie nicht hören, wie er nun über sie dachte. Mit einem gewagten Sprung schwang sie sich über das Geländer und landete unbeschadet im Innenhof, wobei der Aufprall durch die hohen Schuhe ein wenig unangenehmer war als sonst. Ernsthaft, wie konnte Grell mit seinen hohen Stelzen nur kämpfen? Mit zügigen Schritten ging – nein, lief sie über den Innenhof in Richtung der Wohnung des Schulleiters. Hinter sich konnte sie keine Geräusche wahrnehmen, der ehemalige Schnitter schien ihr nicht zu folgen. „Gut“, dachte sie, während erneut Tränen in ihren Augen brannten. Sie wollte ihn momentan nicht um sich haben. Nein, sie wollte sich lediglich in irgendeiner Ecke verkriechen und sich immer und immer wieder fragen, wie sie nur so hatte werden können. Dieser Selbsthass in ihr, diese unbändige Wut hatte sich immer noch nicht beruhigt, als sie schließlich im Schlafzimmer der Wohnung stand. Hätte die 18-Jährige gewusst wie dieser Abend endete, sie hätte nicht einen Fuß auf diesen verfluchten Ball gesetzt. Zornig fasste sie mit beiden Armen um sich herum und versuchte den Verschluss des Kleides zu öffnen. Doch das Kleidungsstück saß immer noch genauso eng wie zu Beginn des Abends und als sich die Schnüre nach 5 Minuten immer noch nicht öffnen ließen, reichte es Carina. Zornentbrannt zog sie mit einem Ruck an dem blauen Stoff und hörte gleich darauf ein reißendes Geräusch. Das hier war sowieso nicht ihr Ding gewesen und das würde es vermutlich auch nie sein. Sie stieg aus dem Kleid, das jetzt vom Nacken bis hin zum Steißbein aufgerissen war und schmiss den Stofffetzen in die nächste Ecke. Das Korsett musste ebenfalls dran glauben und landete ebenfalls durchgerissen neben dem kaputten Kleid. Ein unfreiwilliges Schniefen entfuhr ihr, linderte den Schmerz in ihrer Brust jedoch nur ein wenig. Es war doch ein einziges Trauerspiel wie sie hier stand, lediglich mit ihrer Unterwäsche und einem dünnen Unterhemd bekleidet, verweinten Augen und einem schrecklich schlechten Gewissen. Grell würde sich sicherlich für sie schämen, wenn er sie jetzt in diesem Zustand sehen könnte. „Schade um das schöne Kleid“, ertönte es urplötzlich hinter ihr. Carina wirbelte herum, bekam gleichzeitig beinahe einen Herzinfarkt. Wie hatte er…? Sie hatte ihn weder gehört, noch gespürt und dennoch stand er nun wirklich genau hinter ihr und starrte sie an. Und zwar nicht in ihr Gesicht. Die 18-Jährige wurde mit einem Schlag feuerrot. Hatte sie ihm nicht mehr als deutlich zu verstehen gegeben, dass sie ihn momentan nicht sehen wollte? Und jetzt wagte er es tatsächlich sie auch noch in diesem Zustand anzugaffen? Zum zweiten Mal an diesem Abend platzte Carina der Kragen. „Du…“, zischte sie und holte mit der flachen Hand aus. Gut, wenn er ihre Wut unbedingt abbekommen wollte, das konnte er gerne haben. Doch bevor sie ihm eine berechtigte Ohrfeige geben konnte, fing der Silberhaarige ihre Hand spielend leicht ab. Sein Griff war fest, er tat ihr allerdings nicht weh. Seine linke Hand hielt ihre umschlungen, seine rechte legte sich mit einem Mal um ihre Hüfte und zog sie näher an sich heran. Sein Blick bohrte sich in ihr Gesicht und irgendetwas daran war anders als sonst. Aber was? „Was tust du da?“, begann sie, nun arg verunsichert von seiner Aktion. Noch nie hatte sie sich jemandem so ausgeliefert gefühlt. Nicht einmal, als sie damals in diese Sackgasse gelaufen war. „Hör auf damit. Hör auf dich so zu quälen. Das bringt nichts“, meinte er ruhig und die Blondine schluckte. „Du…du hast doch keine Ahnung“, entgegnete sie eine Spur zu hastig. Ein leichtes Lächeln schlich sich auf seine Lippen. „Ich werde dir nun etwas klar machen, Carina.“ Und bevor die junge Shinigami darauf auch nur irgendetwas erwidern konnte, beugte er seinen Kopf nach vorne und verschloss seinen Mund mit ihrem. Sein Kuss war sanft und vorsichtig, beinahe so als ob er sie um Erlaubnis fragte. Seine Hand, die bisher ruhig an ihrer Hüfte geruht hatte, rutschte ein Stück nach oben auf ihren unteren Rücken und presste ihren Körper nach vorne, sodass sich ihre Oberkörper berührten. Im ersten Moment war Carina tatsächlich so perplex, dass sie sich nicht rührte. Doch auch 5 Sekunden später hatte sie noch nichts unternommen, um dieses Kuss zu beenden. „Das darf doch wohl nicht wahr sein“, schoss es ihr durch den Kopf. „Gerade war ich noch so wütend und jetzt…und jetzt…“, die Stimme in ihrem Kopf wurde immer leiser und in dem Augenblick, wo sie verstummte, erwiderte die 18-Jährige den Kuss mit einer Heftigkeit, die sie sich selbst nicht zugetraut hätte. Seine linke Hand ließ ihr Handgelenk los und umfasste sanft ihren Hinterkopf, um den Kuss zu vertiefen. Wie auf Befehl öffnete Carina ihre Lippen einen Spalt breit und spürte sogleich seine Zunge in ihrem Mund. Haltesuchend krallte die Shinigami ihre Fingernägel in den schwarzen Stoff seines Anzugs, während er sich alle Zeit der Welt nahm um spielerisch ihre Zunge zu umkreisen. Carina konnte nicht anders. Sie keuchte in den Kuss hinein und presste beinahe automatisch ihre Beine zusammen. Seine rechte Hand schob sich an ihrem Rücken unter das Unterhemd. Sie war noch ein wenig kühl von der Kälte draußen, fühlte sich auf ihrer erhitzten Haut jedoch äußerst angenehm an. Die langen, schwarzen Fingernägel strichen sehr, sehr langsam von ihrem Steißbein an nach oben. Unwillkürlich bekam sie eine Gänsehaut entlang der Stellen, die der Undertaker berührte. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie Sauerstoff brauchte, bis der Bestatter seine Lippen von ihren löste und sie nach Luft schnappte. „Heb deine Arme“, raunte er und nach einem kurzen Zögern folgte Carina seinem Befehl. Er zog ihr das Unterhemd über den Kopf und obwohl die Blondine noch BH und Slip trug, fühlte sich auf einmal fürchterlich nackt. Sein Blick, der langsam an ihrem Körper herab glitt, machte die ganze Situation nicht besser. Ganz im Gegenteil, plötzlich wünschte Carina sich, sie hätte vorhin eine etwas aufregendere Unterwäsche angezogen. Diese hier war lediglich hellblau und ansonsten vollkommen unverziert. Ihre Wangen brannten. „Warte. Vielleicht…vielleicht sollten wir nicht…“ Abrupt und mit einem überraschten Laut fiel ihr Körper aus heiterem Himmel nach unten und landete mit dem Rücken voran hart auf dem Doppelbett. Bevor die Seelensammlerin sich von dem Schrecken erholen konnte, war der Totengräber ihr schon hinterher gekommen und kniete nun über ihr. „Oh nein. Dieses Mal nicht“, flüsterte er ihr mit einem dunklen Lachen ins Ohr und drückte sein Becken gegen ihres. Selbst durch die Anzugshose konnte sie die harte Beule fühlen, die sich nun an ihren Bauch anschmiegte. Die Wärme zwischen ihren Schenkeln wurde intensiver, beinahe drängend. Ihr Körper wollte ihn. Dennoch konnte der Undertaker die Zweifel in ihren Augen sehen. „Beruhige dich“, murmelte er und legte seine Lippen auf ihren Hals. „Ich verspreche dir, ich werde vorsichtig sein.“ Die Röte auf ihrem Gesicht verdichtete sich. Er wollte also tatsächlich… Ein Stöhnen entrang sich ihrer Kehle, als der Shinigami sein Gesicht in ihrer Halsbeuge vergrub und die empfindliche Haut mit seinen Zähnen reizte. Die Finger der 18-Jährigen vergruben sich im Bettlaken und ungewollt drückte sie ihre Hüfte ein Stück nach oben, sodass diese an seiner Erektion rieb. Dem Undertaker entfuhr eine Mischung aus einem Keuchen und Knurren, das Carina mehr als nur gefiel. „Hör auf dich dagegen zu wehren“, hörte sie sich selbst denken und ihre Muskeln entspannten sich ein wenig. Der Bestatter ließ von ihr ab, allerdings nur um seinen Oberkörper aufzurichten und sich die Krawatte mit einem gekonnten Ruck vom Körper zu ziehen. Das Jackett folgte auf dem Fuße. Als er sich wieder ein bisschen hinabbeugte, lag ein spielerisches Grinsen auf seinen Lippen. „Hehe, bist du so nett und ziehst mir das Hemd aus, Carina?“, fragte er, wobei es eher nach einer Aufforderung als nach einer Frage klang. Ihr Name hörte sich auf seinen Lippen irgendwie so ganz anders an, als sie es von ihren Mitmenschen gewohnt war. Die Blondine schluckte und hob ihre zittrigen Hände an die Knopfleiste seines Hemdes. Natürlich bekam sie durch ihre Nervosität die Knöpfe nicht sofort auf, aber der Mann über ihr übte sich in Geduld. Nachdem sie endlich den letzten Knopf geöffnet hatte, wanderten ihre Hände zu seinen Schultern und zogen den weißen Stoff nach hinten. Das Hemd fiel zur Seite weg und über die Bettkante zu Boden. Carina konnte nicht verhindern, dass sie seinen Oberkörper mit unverhüllter Neugierde musterte. Mit Ausnahme der größeren Narbe auf seiner Brust und einer etwas kleineren in der Nähe seines Bauchnabels war seine Haut glatt und straff. Kleine, feine Härchen bedeckten seinen Brustkorb und etwas tiefer konnte sie die leichte Andeutung eines Sixpacks erkennen. Seine Schultern und Oberarme – die ebenfalls Narben aufwiesen – waren schmal, aber muskulös. Ihr Mund wurde trocken. Plötzlich griff der Todesgott nach ihrer rechten Hand und legte sie sachte, aber bestimmt auf seine Brust. Unter der warmen Haut konnte sie sein Herz schlagen hören, möglicherweise einen winzigen Takt zu schnell. Er beugte den Kopf nach vorne, sodass seine Stirn an der ihren lag. „Berühr mich, Carina.“ Angesprochene schluckte. Sie hätte so gerne etwas gesagt, wusste jedoch nicht was. Anscheinend war das hier ein Zeitpunkt, der keine Worte benötigte. Vorsichtig ließ sie ihre Finger über sein Schlüsselbein fahren, anschließend über das etwas weichere Brustbein, wobei sie seine Brustwarzen nicht berührte. Der Undertaker hatte genießend seine Augen geschlossen, denn die Fingernägel der jungen Frau, die leicht über seine Haut kratzten, fühlten sich äußerst angenehm an. Auf der Höhe seines Bauchnabels kam ihre Hand langsam zum Stehen. Ihre Augen verweilten auf der – nun deutlich sichtbaren – Beule in seiner Hose und allein der Anblick schickte ein starkes Gefühl der Erregung zwischen ihre Beine. Carina wurde aus ihren Gedanken heraus gerissen, als über ihr ein Kichern ertönte. Sie blickte auf und schaute in sein grinsendes Gesicht. „Traust du dich nicht weiter?“, fragte er und deutete auf ihre Hand, die immer noch seelenruhig an seinem Bauch ruhte. Die Seelensammlerin wurde rot, teils vor Verlegenheit, teils aus Empörung. Konnte er seine verdammten Neckereien nicht wenigstens jetzt sein lassen? Doch sie wäre nicht sie selbst, wenn sie ihm diesen Gefallen nicht erwidern würde. Während sie ihm einen giftigen Blick schenkte, hob sie gleichzeitig ganz vorsichtig ihr linkes Knie und drückte es gegen die Schwellung. Ein zischender Laut entfuhr seinen Lippen und gegen ihren Willen musste Carina nun grinsen. Das hatte er jetzt davon. Allerdings verging ihr dieses schnell wieder, als sie das boshafte Glitzern in seinen Augen erkannte. „Na warte“, wisperte er und hob ihren Oberkörper mit einem derartigen schnellen Ruck an, dass sie gegen seine Brust knallte. Die Shinigami überlegte kurz, ob sie protestieren sollte, bemerkte dann aber, dass der Totengräber seine Finger unter den Verschluss ihres BHs geklemmt hatte. „Was…“, brachte sie gerade noch hervor, da hörte sie bereits das leise Klicken in ihrem Rücken und spürte, wie der Halt um ihre Brust nachließ. Ihre Arme schnellten nach oben, um das Kleidungsstück am Fallen zu hindern, doch der Undertaker war schneller. Seine Hände ergriffen ihre und stoppten sie genau vor ihrem Busen, der BH fiel achtlos zwischen sie auf das Bett. Dennoch waren seine Augen auf ihr Gesicht gerichtet. „Na, na, na.“ Ein spitzbübischer Ausdruck schmückte seine scharf geschnittenen Züge. „Ich sorge nur für Gleichberechtigung.“ Die Hitze in ihren Wangen war beinahe unerträglich und es war Carina mehr als nur peinlich. Sie musste die ganze Zeit aussehen wie eine überreife Tomate. Da ihr nichts Besseres einfiel, erwiderte sie mit heiserer Stimme: „Du…du hast im Gegensatz zu mir aber noch deine Hose an.“ Als sie sein überdimensionales Grinsen sah, wusste sie sofort, dass sie gerade genau das Falsche gesagt hatte. „Das lässt sich ändern“, hauchte er gegen ihr Kinn und automatisch wanderten Carinas Augen zu seinen Fingern, die in einer fließenden Bewegung den Knopf seiner Hose öffneten und anschließend den Reißverschluss nach unten zogen. Der schwarze Stoff glitt recht langsam über seine Hüften und entblößte seine kräftigen Oberschenkel, erneut blieb ihr Blick dabei an der kleinen Narbe dort hängen. Mit einem Rascheln fand sich die Anzugshose zusammen mit seinen Socken und Schuhen auf dem Boden wieder. Ebenso wie sie trug er jetzt lediglich noch ein Stück Stoff am Körper. „S-so hab ich das nicht gemeint“, stammelte die 18-Jährige und rieb unterbewusst ihre Schenkel gegeneinander. Der Druck in ihrem Unterleib wurde langsam aber sicher unerträglich. „Ich weiß“, grinste er, rührte sich allerdings vorerst nicht. Carina wusste, dass er wartete. Sie nahm einen zittrigen Atemzug und ließ dann langsam ihre Hände sinken, sah ihn dabei allerdings nicht an. Er hatte in seinem langen Leben sicherlich schon viele Frauen gehabt und sicherlich waren sie allesamt schön gewesen. „Und jetzt sieht er mich. Mich mit meinem überhaupt nicht zierlichen Körperbau und Körbchengröße B…“ Sie hatte immer schon gewusst, dass ihre Brüste nicht sonderlich groß waren, aber erst jetzt störte sie diese Tatsache wirklich richtig. Die junge Frau sah erst wieder auf, als sie die Wärme seiner Hände auf ihren Schultern fühlte. Bestimmt drückte der Bestatter sie nach unten, sodass die Shinigami flach auf dem Rücken lag. Seine Knie befanden sich seitlich von ihren Hüften, seine Handflächen lagen neben ihrem Kopf. Sein langes silbernes Haar fiel ihm über die Schultern, die Spitzen berührten ihre Brustwarzen, die sich beinahe sofort verhärteten. Etwas Hungriges lag in seinem Blick. Carina starrte in seine stechend gelbgrünen Augen und neigte ihm ohne darüber nachzudenken das Kinn leicht entgegen. Der Undertaker kam der stummen Forderung sofort nach und presste seine Lippen hart auf ihren Mund, allerdings verweilten sie dort nicht lange. Sanft fuhr er von ihrem Mund zu ihrem Kinn, drückte ihr dort erneut einen zarten Kuss auf, bevor er noch tiefer glitt. Zu Carinas größter Überraschung widmete er sich nicht sofort ihren Brüsten, sondern ließ nun seine Lippen sanft über ihre Narbe gleiten. Ganz langsam begann er in ihrem Dekolleté und arbeitete sich bis zum Ende des Wundmales vor. Sie stöhnte rau auf, drückte ihm willig ihren Oberkörper entgegen. Ihre Haut schien an dieser Stelle viel empfindlicher zu sein. „Wie fühlt sich das an?“, murmelte er gegen ihre Haut und verharrte mit seinem Gesicht nun knapp über ihrer rechten Brust. „…Gut“, murmelte Carina ebenso leise zurück. Mittlerweile konnte sie die Hitze seinen Körpers spüren, obwohl er sie nicht einmal berührte. Der Totengräber wirkte ein wenig enttäuscht. „Nur gut?“, neckte er sie und atmete langsam aus, die warme Luft strich über ihre Brüste hinweg. Wenn möglich wurden ihre Brustwarzen nun noch härter. „H-hör auf mich zu triezen“, keuchte sie, wischte nebenbei so unauffällig wie möglich ihre schwitzigen Hände am Bettlaken ab. Ihr war so unglaublich heiß… „Na schön, aber nur dieses eine Mal“, kicherte er leise und senkte seinen Mund jetzt endlich auf ihre rechte Brust hinab. Hatte sie wirklich gedacht ihre Narbe sei empfindlich? In dem Moment, als seine Zunge auf ihre weiche Knospe traf, zuckte jeder Nerv in ihrem Körper erschrocken zusammen und ging anschließend restlos in Flammen auf. Sie biss sich auf die Unterlippe, doch das erregte Wimmern konnte sie nicht mehr komplett unterdrücken. Und es wurde nur noch schlimmer, als er jetzt auch seine Hände dazu nahm, um sie zusätzlich zu reizen. Seine schwarzen Fingernägel widmeten sich zuerst ihrer linken Brust, bevor sie bedächtig weiter wanderten. Sie legten sich um ihre Hüftknochen und hielten sie an Ort und Stelle, während der Silberhaarige spielerisch an ihrer Brustwarze zog. „Ngh…b-bitte“, hauchte sie in die Stille hinein und wusste gleichzeitig nicht einmal worum sie überhaupt bat. Seine phosphoreszierenden Augen flackerten. „Carina.“ Er beugte sich so dicht über sie, dass sich ihr nackter Oberkörper an seinen presste. Die Hitze der Reibung ließ beide Shinigami aufkeuchen. Zum wiederholten Male an diesem Tag legte sich sein Mund an ihr Ohr. „Ich werde dich jetzt ganz ausziehen.“ Sie schluckte, seine raue Stimme erregte sie. „Ist das in Ordnung?“, flüsterte er und die Blondine hauchte mit zittrigen Lippen ein bebendes „Ja“. Und als er seine Finger unter die Seiten ihres Slips einhakte, hob sie ihr Becken an und ließ zu, dass er das letzte Stück Stoff von ihrem Körper entfernte. Dennoch ließ sie die Beine eng aneinandergepresst, war ihr dieser ganze Akt doch immer noch verdammt peinlich. Dabei war er so behutsam zu ihr und zeigte so viel Geduld. Es nervte Carina in diesem Moment selbst, dass sie immer noch so angespannt und verklemmt war. Der Bestatter ließ seinen Blick an ihren Beinen hinauf gleiten, kurz verweilten seine Augen auf dem goldenen Dreieck zwischen ihren Schenkeln. Mittlerweile war seine Erektion so hart, dass ihn die Enge seiner Hose schmerzte. Doch der richtige Zeitpunkt war noch nicht gekommen. Erst einmal wollte er diesen angespannten Ausdruck von ihrem Gesicht vertreiben. Seine Hände fanden ihre Hüftknochen, als er sich wieder komplett über sie beugte und seinen Mund auf ihren Hals presste. Unter seinen Lippen konnte er Carinas rasenden Puls spüren. Viel intensiver nahm er jedoch ihren Geruch wahr, eine Mischung aus Rosen und Honig, die durch ihre Erregung nur noch verstärkt wurde. Carina hingegen wurde unter seinen Berührungen fast wahnsinnig. Jetzt, wo sie keinen Slip mehr trug, konnte sie die Feuchtigkeit zwischen ihren Beinen spüren und der Druck in ihrem Bauch hatte sich in ein starkes Ziehen verwandelt. Er sollte endlich etwas dagegen unternehmen und sie nicht noch weiter anheizen. Ihre nächste Aktion überraschte sie fast genauso sehr wie ihn. Ihre Hände griffen sanft, aber mit Nachdruck in sein langes, silbriges Haar und zogen seinen Kopf ein Stück nach oben, sodass sie ihn küssen konnte. Seine Haare waren dick, flossen aber weich durch ihre Finger hindurch. Der Kuss war beinahe schon ein wenig grob, ihre geschwollenen Lippen reagierten gereizt auf seine Zunge. Völlig außer Atem löste die 18-Jährige den Kuss und rieb ihre Nase sachte an seiner. „Undertaker“, murmelte sie mit geschlossenen Augen. Ein dünner Schweißfilm bedeckte ihre Stirn. Sie konnte spüren, wie der Druck auf ihren Hüftknochen nachließ und als sie die Augen wieder öffnete, strichen seine Hände sanft über ihre Oberschenkel. Sie zogen kleine Kreise auf ihren Knien, fuhren leicht über ihre Waden, um dann anschließend wieder ein Stück nach oben zu rutschen. Er konnte fühlen, wie sich ihre Anspannung ein wenig löste. Entschlossen schaute er sie an. „Spreiz deine Beine.“ Die Blondine erwiderte seinen Blick, hätte ihre Augen nicht einmal von ihm abwenden können, wenn sie es gewollt hätte. Sie…sie hatte gar keine Angst mehr. Sie vertraute ihm. Langsam kam sie seiner Forderung nach, sogleich fühlte sie seine Streicheleinheiten an den Innenseiten ihrer Oberschenkel. Ihre Lippen brannten, als sie ihre Zähne darin vergrub. „Lass das. Ich will dich hören.“ Das Blut schoss in ihre Wangen zurück. Hatte er denn keine Ahnung was für eine Wirkung seine Worte auf sie hatten? Ihr Herz pochte heftig gegen ihre Brust und als er sie zum allerersten Mal direkt zwischen ihren Beinen berührte, ging ein Ruck durch ihre Hüfte. Ein Laut entwich ihr, den Carina von sich selbst noch nie gehört hatte. Automatisch wollte sie ihre Schenkel wieder schließen, doch jetzt war es dafür zu spät. Der Undertaker kniete zwischen ihren Beinen und er würde sich auch nicht mehr von dort wegbewegen. Einerseits beschämt, andererseits fasziniert schaute die 18-Jährige ihm dabei zu, wie er sie dort berührte, wo sie noch nie zuvor jemand berührt hatte. Seine Finger teilten ihre Schamlippen und ein überraschtes Japsen entfuhr ihr, als er gleich darauf mit zwei Fingern in sie eindrang. Es tat nicht wirklich weh, immerhin war sie mittlerweile so erregt, dass er mühelos in sie vordringen konnte. Der Undertaker spürte die Hitze ihrer Feuchtigkeit, die seine Finger beinahe sofort umschloss, und ihre unglaubliche Enge. Seine Erektion zuckte, wollte endlich aus ihrem Gefängnis befreit werden. Der Druck war kaum auszuhalten. Vorsichtig tastete er sich in ihr vor, dehnte ihr Innerstes, um sie auf das Kommende vorzubereiten. Sachte legte er die Fingerkuppe seines Daumens auf ihre Klitoris, übte leichten Druck auf die so hochempfindliche Stelle aus. Ein leises Stöhnen drang an seine Ohren, bestätigte ihn in dem, was er tat. Hatte die junge Frau eigentlich eine Ahnung, was für eine Wirkung sie auf ihn hatte? Inzwischen streckte die Shinigami ihm unbewusst ihr Becken entgegen, wollte mehr von diesen Gefühlen spüren, die er ihr schenkte. Wenn es nach ihr ginge, dann könnte dieser Moment eine Ewigkeit dauern. Wobei…vermutlich würde die Lust in ihrem Unterleib sie bis dahin umgebracht haben. Daher war sie umso überraschter, als der Bestatter sich plötzlich aus ihr zurückzog. Ein missbilligender Laut glitt über ihre Lippen, verstummte jedoch sofort, als sie sah, dass er seine Hände um den Bund der schwarzen Unterhose gelegt hatte, um sie sich endlich herunter zu ziehen. Die Nervosität kehrte sofort in vollem Unfang zurück und sie wurde auch nicht besser, als sie ihn zum ersten Mal nackt sah. Carina hatte keine Ahnung, was der Durchschnitt war – immerhin hatte sie überhaupt keine Vergleichsmöglichkeiten – aber in ihren Augen sah er alles andere als klein aus. Sie wusste, ihr Körper würde sich ihm anpassen, aber… Anscheinend hatte er ihr die Gedanken angesehen, denn plötzlich strich seine rechte Hand ihr beruhigend über die Wange. „Vertrau mir, Carina“, flüsterte er so sanft, dass ihr Herz auf die doppelte Größe anschwoll. Und obwohl sie Angst hatte und nervös war, schaute sie ihn an und entgegnete mit heiserer Stimme: „Das tue ich.“ Ein ehrliches Lächeln legte sich über seinen Mund, welches die junge Frau schüchtern erwiderte. Sie war sich immer noch sicher. Wenn sie jemandem ihre Unschuld schenkte, dann sollte er es sein. Der Silberhaarige bedeckte ihren Körper mit seinem und bereits eine Sekunde später spürte sie, wie sich sein Glied gegen ihre intimste Stelle drängte. Seine Ellbogen stützten sich neben ihren Schultern ab und da Carina keine Ahnung hatte, was sie mit ihren Armen machen sollte, legte sie ihre Hände auf seine Oberarme und hielt sich dort fest. „Undertaker“, hauchte sie kaum hörbar, suchte noch einmal den Augenkontakt mit ihm. Umso überraschter war sie jedoch, als sein Blick plötzlich eine Spur ernster wurde und er ebenfalls etwas sagte. Ein einzelnes Wort. „Cedric.“ Verblüfft starrte sie ihn an. Hatte…hatte er ihr gerade seinen richtigen… Sein Blick wurde wieder eine Spur weicher, als sei ihm bewusst geworden, dass er gerade das Richtige getan hatte. „Nenn mich Cedric“, murmelte er und Carinas Augen weiteten sich. Ihr Herz schlug schneller, ihr wurde ganz warm in der Brust. „Cedric“, flüsterte sie atemlos und sah ihn einfach nur an, während sie gleichzeitig merkte wie sich seine Erektion zwischen ihre Schamlippen drückte und ganz langsam in sie eindrang. Im ersten Moment fühlte sich der Druck befremdlich und auch ein wenig unangenehm an. Doch mit einem Mal durchzuckte sie ein jäher Schmerz, der in ihrem ganzen Körper nachhallte. Carina verzog das Gesicht und obwohl sie augenblicklich die Zähne zusammenbiss, entkam ihr doch ein leises Zischen. Es tat genauso weh, wie sie es sich immer gedacht hatte, wenn nicht sogar noch schlimmer. Der Todesgott hielt still, verharrte vollkommen regungslos über ihr. Erst jetzt bemerkte die Seelensammlerin, dass sie ihm unbewusst ihre Fingernägel in die Oberarme gedrückt hatte. Vorsichtig löste sie den Druck und war gleichzeitig sehr erleichtert, dass er ihr Zeit gab, um sich an seine Größe zu gewöhnen. „Mach weiter“, wisperte sie schließlich nach wenigen Sekunden, als der Schmerz sich nicht mehr danach anfühlte, als würde er sie jeden Moment in zwei Hälften reißen. Nach kurzem Zögern und einem langem Mustern ihres Gesichts kam er ihrer Aufforderung nach, zog sich ein Stück aus ihr zurück und bewegte sein Becken anschließend wieder nach vorne. Ein gepresstes Stöhnen entfuhr ihm, während er die Bewegung wiederholte. Der Schmerz blieb, doch Carina konzentrierte sich lediglich auf sein Gesicht. Er hatte seinen Kiefer konzentriert zusammengepresst, kleine Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Sein Atem stockte, traf hier und da auf ihre erhitzte Haut. Die Blondine wusste, dass er sich stark zusammenreißen musste, um diesen langsamen Rhythmus beizubehalten. Seine gelbgrünen Augen nahmen die ihren gefangen und in diesem Moment begriff Carina es. Obwohl es weh tat, würde sie den Schmerz immer und immer wieder in Kauf nehmen, nur um das hier zu fühlen, diese Intimität, diese Nähe zu dem Mann über ihr. Seine Hände wanderten hinter ihren Rücken, hielten sie auf der Höhe des Steißbeins fest. Ihre Stirn fiel in seine Halsbeuge, während auch ihre Hände sich von seinen Oberarmen wegbewegten und auf seinem Schulterblatt zum Liegen kamen. Seine Stöße wurden nun ein wenig schneller, ebenso wie seine Atemzüge. Seine Brust war an ihre gepresst, ihr Herz schlug direkt gegen seins, ihre Beine waren ineinander verschlungen. Der Schmerz war inzwischen zu einem stechenden Pochen abgeklungen, doch gänzlich weggehen wollte er nicht. Aber das war der 18-Jährigen gleichgültig. Sie hatte schon schlimmere Dinge erlebt als das und wenn sie ihn in ihr Ohr keuchen hörte, entschädigte sie das in jeglicher Hinsicht. Unter ihren Fingern spannte sich seine Rückenmuskulatur beständig an, um sich anschließend wieder zu entspannen. Allein schon der Gedanke, dass sie ihm Befriedigung schenken konnte, schickte jede Menge Glückshormone durch ihren Körper. Die Zeit spielte ihr einen Streich, denn in der einen Sekunde zog sie sich in die Länge, nur um in der nächsten Sekunde stehen zu bleiben. Die Art wie er in sie eindrang, nur um im direkten Anschluss seine Hüfte zu heben und dann erneut in sie zu stoßen, wurde zu einem beständigen Rhythmus. Carinas Innenschenkel pressten sich eng an die Außenseiten seiner Oberschenkel und er stieß ein knurrendes Stöhnen hervor. Herrgott, ihre Enge und diese unglaubliche Hitze brachten ihn noch um den Verstand. Er wusste, er würde sich nicht mehr lange zusammenreißen können. „Carina“, raunte er ihr mit einem tiefen Verlangen in der Stimme ins Ohr und gleich darauf konnte er fühlen, wie sie am Rücken eine Gänsehaut bekam. Sein Blick glich nun mehr einem hungrigen Raubtier. „I-ich…ich bin in Ordnung“, keuchte sie mit belegter Stimme zurück und krallte ihre Finger etwas fester in seinen Rücken. Der süße Schmerz ließ ihn beinahe kommen. Die Shinigami konnte spüren, wie seine Bewegungen hastiger wurden. Fasziniert beobachtete sie, wie er seine linke Hand wie zu Anfang neben ihrem Gesicht abstützte und seine rechte nach unten auf ihren Po rutschte. Fest drückte der Undertaker sie enger an sich, ihre verschwitzten Körper rieben aneinander und als sie vollkommen außer Atem seinen Namen – seinen richtigen Namen – krächzte, gab ihm das den Rest. Er versteifte sich über ihr, stieß ein letztes Mal zu, ehe er wenige Sekunden still verharrte und dann vorsichtig auf ihr niedersank. Seine Brust hob und senkte sich rasch, doch Carina stand ihm in diesem Punkt um nichts nach. Sie war müde und erschöpft, dabei hatte sie kaum etwas gemacht. Zwischen ihren Beinen pochte es weiterhin, gleichzeitig konnte sie sich jedoch nicht daran erinnern, jemals so glücklich gewesen zu sein. Ihr Kopf fühlte sich unglaublich schwer an, als sie ihn anhob und ihre Lippen auf seine drückte. Sofort erwiderte er den Kuss, stützte sich auf seine Ellbogen hoch, um die junge Frau nicht mit seinem Gewicht zu erdrücken. Ganz sanft hob er sein Becken und zog sich aus ihr zurück, was Carina kurz zusammenzucken ließ. Reflexartig presste sie ihre Schenkel zusammen, um den Schmerz ein wenig zu betäuben. Sie konnte das Blut an seinem erschlafften Glied sehen, der Beweis ihrer soeben verlorenen Unschuld. „Erinnerst du dich an das, was ich eben sagte?“, meinte er plötzlich und Carina schaute ihn blinzelnd an. „Tut mir leid, aber mein Gehirn ist momentan vielleicht ein wenig außer Betrieb“, krächzte sie mit errötenden Wangen zurück und sogleich ertönte sein raues, dunkles Lachen. „Ich meinte das, was ich davor sagte“, grinste er und blieb weiterhin dicht über sie gebeugt. Die Seelensammlerin musste kurz ihre Gedanken sortieren, bevor sie darauf kam was er meinte. Zögernd schaute sie zu ihm hoch. „Du meintest du würdest mir etwas klar machen“, antwortete sie langsam und der Bestatter nickte. „Lass mich dir eine Frage stellen. Hättest du gerne Sex mit auch nur einem dieser drei Männer von damals gehabt?“ Carina wurde eine Spur bleicher. „Nein, natürlich nicht“, entgegnete sie heftig, über diese Antwort musste sie überhaupt nicht nachdenken. Allein schon der Gedanke daran bescherte ihr Übelkeit. Jetzt erst Recht, da sie dieses intime Erlebnis mit dem Bestatter geteilt hatte. „Dann war es das einzig Richtige, was du damals getan hast“, erwiderte er und legte seine rechte Hand über ihr Herz und somit genau über die Narbe. Die Shinigami verstand im ersten Moment nicht, was er ihr damit sagen wollte, doch der Undertaker war auch noch nicht fertig. „Das, was dich innerlich so quält, ist nicht der Umstand, dass du dich an ihnen gerächt hast. Sondern die Tatsache, dass du deine eigene Seele beschädigt hast, indem du dir das Leben nahmst. Ist es nicht so?“ Ihr stockte der Atem, als sie sich der Wahrheit hinter seinen Worten bewusst wurde. „Er hat vollkommen Recht.“ „Wenn du dich nicht umgebracht hättest, hätten sie dich missbraucht. Hättest du lieber eine intakte Seele gehabt? Hättest du das gewollt?“ „Nein“, flüsterte sie mit zittriger Stimme zurück. Sein Zeigefinger legte sich unter ihr Kinn und zwang sie somit ihn anzusehen. „Dann gibt es keinen Grund sich deswegen zu schämen, Carina. Lass diese Qual hinter dir.“ Seine ehrlichen Worte, sein zärtlicher Gesichtsausdruck ließen alle Dämme in ihrem Inneren brechen, die sie über die letzten Jahre so mühsam aufgebaut hatte. Tränen quollen ihr aus den Augen, ihre Lippen bebten unkontrolliert und bevor Carina sich auch nur ein wenig zusammennehmen konnte, vergrub sie ihren Kopf bereits zum zweiten Mal in dieser Nacht in seiner Halsbeuge. Der Silberhaarige hielt sie in seinen Armen, die eine Hand an ihrem nackten Rücken, die andere an ihrem Hinterkopf. Plötzlich fiel ihr ein so großer Stein vom Herzen, von dem sie nicht einmal gewusst hatte, dass er überhaupt dort war. Es war, als könnte sie mit einem Mal wieder freier atmen. Und genau in diesem Moment wurde es Carina klar. Sie stand nicht nur auf ihn. Sie war ihm nicht nur verfallen. All diese Ausreden nützten ihr jetzt nichts mehr. Sie liebte ihn. Bedingungslos und mit ihrem ganzen Dasein. Und als ihr Herz bei diesem Gedanken freudig schneller pochte, konnte sie gar nicht anders als einzusehen, dass auch diese Gefühle das einzig Richtige waren. Kapitel 36: Hingabe *zensiert* ------------------------------ Die Zeit auf dem Ball dehnte sich aus wie zäher Kaugummi. Langweilige Gespräche wurden von noch langweiligeren Gesprächen abgelöst und langsam aber sicher taten Carina von der ganzen Herumsteherei die Füße weh. Wahrscheinlich tranken die meisten Leute sich diese Veranstaltung mit dem ganzen Champagner schön, aber das traute sich die 18-Jährige nicht. Wenn der Undertaker in der Nähe war, konnte sie ohnehin schon kaum einen klaren Kopf bewahren, doch wenn sie jetzt noch Alkohol trank, dann würde das sicherlich in einer heillosen Katastrophe enden. Die Blondine stand gerade endlich einmal alleine und lehnte sich unbemerkt an eine Säule, da fiel ihr Blick auf den jungen Mann, der vor ca. eine Stunde mit seinen Eltern um den angeblichen Direktor herumscharwenzelt war und jede Menge Süßholz geraspelt hatte. Wie war sein Name noch einmal gewesen? Cole Crowford? Jedenfalls hatte Carina sein Blick und generell seine ganze Ausstrahlung nicht sonderlich gefallen. Und auch jetzt gefiel es ihr nicht, wie er im hinteren Teil des Parketts an einer Wand lehnte und seine Augen immer wieder über die Mädchen auf der Tanzfläche gleiten ließ. Sie hatte sich ja schon zu Anfang gedacht, dass die Schüler des Hauses Scarlet Fox nicht ihre Favoriten waren und dieser 17-Jährige bestätigte ihre Vermutung nur. Der silberhaarige Bestatter stand derweilen am Büfett und plauderte angeregt mit seinen Lehrkräften. Anscheinend fand er es wirklich erheiternd witzig sich als Direktor auszugeben und die Gelehrten für dumm zu verkaufen. Na ja, schlau genug war er ja… Plötzlich sah die Shinigami aus den Augenwinkeln, dass sich der junge Adelige in Bewegung gesetzt hatte. Seine Augen waren starr nach vorne gerichtet und auf seinen Lippen lag ein triumphierendes, beinahe schon freudiges, Lächeln. Carina folgte seinem Blick und erkannte ein blondes Mädchen, vielleicht 15 oder 16 Jahre alt, das sich gerade Richtung Ausgang begab. Die Seelensammlerin konnte genau fühlen, wie sich sofort ein kaltes Gefühl in ihrem Magen breit machte. Das Mädchen verließ die Halle und keine 10 Sekunden später tat Cole es ihr nach. Carina setzte sich ebenfalls ruckartig in Bewegung, machte sich noch währenddessen transparent für die Menschen um sich herum. Generell dachte sie ja nicht das Schlechteste von ihren Mitmenschen, aber dieser Junge… „Vielleicht bilde ich mir das Ganze auch nur ein.“ Aber sollte er wirklich das vorhaben, was sie dachte, dann… Um ehrlich zu sein hatte sie keine Ahnung, was sie in so einem Fall tun würde. Mit schnellen Schritten eilte sie aus dem Saal und sah gerade noch das Schwalbenschwänzchen von Coles Anzug hinter der nächsten Ecke verschwinden. Automatisch beschleunigte sie ihre Schritte und hatte ihn in weniger als 10 Sekunden eingeholt. Kurz verfluchte sie ihr Kleid, denn ohne diesen langen Saum hätte sie das auch locker in 5 Sekunden schaffen können. Nach wenigen Sekunden erkannte Carina, dass das Mädchen zum Balkon ging, der direkt an den Festsaal angrenzte. Es handelte sich dabei um einen weitläufigen, im Halbkreis verlaufenden, Balkon. Er war doppelt so lang und breit wie Carinas komplettes Zimmer, das sie daheim besessen hatte und bot einen perfekten Blick auf den Sternenhimmel. Vermutlich wollte die Schülerin nur kurz frische Luft schnappen und sich ein wenig Zeit für sich nehmen. Carina konnte es ihr nicht verdenken, sie hätte vermutlich schon bald selbst das Handtuch geworfen und ein wenig Zeit für sich selbst beansprucht. Der Junge vor ihr bewegte sich erstaunlich geräuschlos, das Mädchen hatte mit ihren menschlichen Sinnen nicht die geringste Chance ihn zu bemerken. Das kalte Gefühl breitete sich nun ebenfalls auf Carinas Brust aus. „Bleib ruhig“, dachte sie sich. „Vielleicht ist er nur in sie verliebt und möchte ihr den Hof machen.“ Die Hoffnung starb ja bekanntlich immer zuletzt. Der Himmel war klar und ein angenehmer Wind wehte über den breiten Balkon, als Carina gleichzeitig mit dem Jungen ins Freie trat. Das blonde Mädchen hatte sich in ca. 10 Meter Entfernung an das brusthohe Geländer angelehnt und schien die nächtliche Stille zu genießen. Ihr hellgrünes Kleid schmiegte sich an ihren dünnen Körper und stand im starken Kontrast zu der Dunkelheit um sie herum. Der Rothaarige wartete noch einen Moment an der Tür, schaute sich sogar zu allen Seiten um, ob er auch ja unbeobachtet war. Carinas Augen verengten sich. Wenn er nur wüsste… Schließlich setzte er sich in Bewegung, gab sich im Gegensatz zu vorhin allerdings keine Mühe mehr lautlos zu sein. Das Mädchen fuhr überrascht herum, war sie sich doch ganz sicher gewesen hier endlich mal ein wenig Abstand zu dem ganzen Trubel zu bekommen. „H-hallo“, meinte sie leicht schüchtern und starrte den - ihr fremden - Jungen an, der sie anlächelte. Das Lächeln hätte nicht falscher sein können. Anstatt sie ebenfalls zu begrüßen, sagte er: „Es ist ganz schön riskant für ein Mädchen ganz alleine nachts durch die Schule zu streifen.“ Die Kleine wurde mit einem Mal furchtbar blass und Carina konnte es ihr nachfühlen. Keiner wusste besser als sie selbst, was genau in diesem Moment in der jungen Adeligen vorging. „D-dann…dann sollte ich wohl schleunigst wieder reingehen, nicht wahr?“, antwortete das Mädchen versucht ruhig und bewegte sich auf den Eingang zu. Doch ihre Schritte waren eine Spur zu hastig, ihr Atem ging zittrig und verriet ihre Angst. Das Lächeln auf dem Gesicht des Jungen wurde breiter. Carina ballte die Hände zu Fäusten. Wut pulsierte durch jede Faser ihres Körpers. Der Junge war 17, gerade einmal halbwegs erwachsen und erdreistete es sich, über solche Sachen überhaupt nachzudenken? Geschweige denn sie in die Tat umzusetzen? Das ausgesuchte Opfer versuchte den Rothaarigen zu umrunden, doch dieser packte mit einem Ruck ihr Handgelenk. Ein entsetzter Schrei entfuhr der Kehle der Blondine und panisch versuchte sie von ihrem Angreifer loszukommen. Natürlich war Cole jedoch viel kräftiger. Ein weiterer Ruck ging durch den Arm der Jugendlichen und beförderte sie mit Schwung gegen seine Brust. Carina schloss die Augen. Am liebsten wäre sie einfach dazwischen gegangen. Das war das einzig Richtige. Aber…sie war ein Shinigami. Sie dürfte sich nicht in die Angelegenheiten von Menschen einmischen. Und sie hatte die Todesliste nicht mehr. Was, wenn das Mädchen auf der Liste stand? Was, wenn sie durch ihr Eingreifen dafür sorgte, dass sich das Sterbedatum des Mädchens änderte? „Wenn du dich benimmst und den Mund hältst, dann lasse ich dich danach auch wieder unbeschadet auf den Ball gehen.“ Carina öffnete die Augen. Ihr Herz hatte die ganze Zeit schneller als üblich gepocht, doch jetzt erhöhte sich ihr Puls rasant. Wie bereits in der vorherigen Nacht wurde sie von Erinnerungen gepackt. „Wenn du dich benimmst und schön still hältst, dann lassen wir dich auch laufen.“ Der Zorn, von dem sie nun gepackt wurde, hatte nichts mehr mit einem normalen menschlichen Gefühl zu tun. Dieser Hass, der sich nun in ihrer Magengegend ansammelte, war heiß und drückt gegen die Außenwände ihres Körpers, um endlich herausbrechen zu können. Sie vergaß jegliche Warnung des Undertakers, dass sie sich nicht in Dinge einmischen sollte, die andere Shinigami auf den Plan rufen könnten. Ihr Gehirn setzte für einen kurzen Moment vollständig aus. Und in diesem kurzen Moment entschloss sich ihr Körper instinktiv zu reagieren. Ein erschrockenes Japsen entfuhr dem jungen Mann, als sich nun aus heiterem Himmel eine Hand um sein Handgelenk schloss. Erstaunt starrte er die junge Frau an, die nun neben ihm und seiner Beute stand und ihn mit einem Blick anstarrte, der ihm für einen Moment das Blut in den Adern gefrieren ließ. „Lass sie los“, sagte Carina eisig, ihre Stimme war jedoch erschreckend ruhig. Hätte der Junge genug Grips besessen, hätte er ihrem Befehl genau jetzt Folge geleistet. Denn das war es – ein Befehl. Doch natürlich begriff der Scarlet Fox in diesem Moment nicht, mit wem er sich hier gerade anlegte. „Ah, Sie sind doch die Frau des Direktors“, sagte er, der selbstsichere Ausdruck kehrte auf sein Gesicht zurück. In seinen Augen war sie nur eine junge Frau. Nichts, wovor man Angst haben musste. „Lass sie los“, wiederholte Carina, dieses Mal langsamer. Ihre Pupillen wurden schmäler, auch ohne Brille konnte sie die Belustigung in seinen Augen sehen. „Sonst was?“, fragte er arrogant. „Möchtest du mit ihr tauschen? Um ehrlich zu sein hatte ich über dich ebenfalls einen Moment nachgedacht. Aber du gehörst dem Direktor, das war mir dann doch etwas zu heikel.“ Der Geduldsfaden der 18-Jährigen spannte sich merklich an. Gehören? So wie er das sagte hörte sich das an, als wären Frauen für ihn das Gleiche wie Gegenstände. Etwas, worauf man Besitzansprüche stellen konnte. „Aber jetzt, wo du schon mal hier bist“, begann er und grinste verschlagen, „könnten wir ja auch zu dritt Spaß haben.“ Genauso gut hätte er sich eine Schere nehmen und den Faden in ihrem Inneren durchschneiden können. Jeder, der sie nur ein wenig kannte, hätte in diesem Moment sehen können wie ihr der Kragen endgültig platzte. Carina nutzte ihre übermenschliche Kraft und drückte ihre Hand fest zusammen, sodass die beiden Knochen in seinem Handgelenk knirschten und aneinander rieben. Ein Schmerzensschrei entfuhr dem Jungen und automatisch war er nun dazu gezwungen das Mädchen loszulassen. Diese eilte mit kreideweißem Gesicht hinter ihre Retterin, Tränen strömten ihr übers Gesicht und verschmierten ihr aufwendiges Make-up. Carina ließ Cole los und während dieser sich jammernd ans Handgelenk fasste, drehte sie sich zu der Adeligen herum. „Geh wieder rein. Und sag niemandem was hier draußen passiert ist, einen Aufstand möchte ich nur ungern auslösen. Aber keine Sorge“, lächelte sie die Kleine aufmunternd an. „Ich werde dafür sorgen, dass er dich nicht noch einmal belästigt.“ Das Mädchen wirkte immer noch arg verängstigt - was angesichts ihrer Situation nur natürlich war - nickte aber und verabschiedete sich mit einem leise gemurmelten „Danke“. „Hnn, was soll der Scheiß?“, rief der Rothaarige nun sichtlich wütend aus und starrte Carina an, die sich ihm wieder zuwandte. „Du hast mir fast die Hand gebrochen. Und jetzt lässt du die Kleine auch noch einfach gehen. Na warte.“ Er trat einen Schritt auf die Blondine zu, diese rührte sich keinen Millimeter. Auf ihrer Miene spielte sich ein spöttisches Lächeln ab. „Na warte…was?“, fragte sie geradeheraus und ließ sich keine Sekunde lang von ihrem Gegenüber aus der Ruhe bringen. „Was willst du machen, huh? Ich hab keine Angst vor dir, du kleiner Wicht.“ Der kleine Wicht schien von seinem neuen Namen ganz und gar nicht begeistert zu sein. Mit unbeherrschtem Antlitz holte er mit seinem rechten Arm aus und wollte sie mit der Faust ins Gesicht treffen. Dieser arme, arme Trottel. Carina fing die Faust lange vor ihrem Gesicht ab und bevor der Junge auch nur begreifen konnte was passierte, rammte sie ihm ihre Faust frontal gegen die Nase. Sein Kopf wurde zur Seite weggeschleudert, er stolperte einen Schritt zurück und beinahe sofort fing seine Nase an zu bluten. Es lief ihm über die Lippen, rann an seinem eckigen Kinn hinab, nur um anschließend auf sein teures, weißes Hemd zu tropfen. „Das war bereits lange überfällig“, erwiderte sie spöttisch und konnte eine Sekunde lang kaum fassen, wie gut sich dieser Schlag angefühlt hatte. Hätte sie sich doch nur damals so gegen ihre eigenen Angreifer zur Wehr setzen können… Erneut packte sie die Wut. Der betrunkene Mann vom Friedhof war damals davon gekommen. Ihn hier würde sie nicht so einfach davon kommen lassen. Viel zu schnell für einen Menschen packte sie den 17-Jährigen am Kragen seiner schwarzen Anzugsjacke und ging mit ihm mehrere Schritte rückwärts, bis sie das Balkongeländer erreichten. Gleichzeitig verfärbten sich ihre Augen wieder zu dem Gelbgrün der Shinigami und leuchteten ihrem Gegenüber in der Dunkelheit entgegen. „Was…“, begann der Junge, als er mit dem Rücken gegen das Geländer krachte, und zum ersten Mal konnte die Shinigami einen Hauch von Angst in seinem Gesicht sehen. Doch ihr Mitleid für ihn hielt sich in Grenzen. „Du hältst dich wohl für ganz toll, nicht wahr? Mädchen in der Dunkelheit überfallen zu wollen, wenn sie ganz allein sind und sich nicht wehren können. Aber soll ich dir mal was sagen? Das ist feige und abstoßend, sonst nichts.“ Sie drückte ihn weiter nach hinten, sein oberer Rücken hing mittlerweile über das Geländer hinaus. Der Rothaarige wurde grün im Gesicht, als er den Kopf ein wenig drehte und sehen konnte, wie weit es hinter ihm in die Tiefe ging. Lediglich Carinas Griff hielt ihn davon ab über das Geländer zu stürzen und sich unten alle Knochen zu brechen. Nein, einen Sturz aus der Höhe wurde er ganz sicherlich nicht überleben. „Es wäre so einfach“, dachte die Seelensammlerin und schaute auf ihre Hand. „Ich müsste ihn einfach nur loslassen. Einfach nur loslassen und dann…“ Plötzlich erschrak sie über ihre eigenen Gedanken. Was zum Teufel dachte sie denn da? Hatte…hatte sie gerade wirklich darüber nachgedacht ihn in den Tod stürzen zu lassen? Er war schäbig und mies und ein echtes Arschloch, aber er war immer noch ein Mensch. „B-bitte…ich will noch nicht sterben“, flehte er, mittlerweile liefen ihm die Tränen übers Gesicht. Carina schaute ihm einen sehr langen Moment lediglich ins Gesicht, dann – ganz langsam – zog sie ihn ein Stück zurück, sodass er wieder gerade auf dem Balkon stand. Der Junge atmete zittrig ein und wieder aus, die tränennassen Wangen bebten. „W-wer oder was bist du?“, stammelte er, denn diese unglaubliche Kraft und diese seltsamen Augen konnten keinem normalen Menschen gehören. Mit einem weiteren kräftigen Ruck an seinem Kragen brachte sie ihn direkt vor ihr Gesicht, ihre Nasenspitzen berührten sich fast. „Ich bin dein schlimmster Albtraum, wenn du es je wieder wagen solltest auch nur daran zu denken eine Frau schlecht zu behandeln. Und glaube mir, ich werde es herausfinden.“ Ein Wimmern verließ seine Lippen und als die Shinigami ihn endlich losließ, stürzte er so schnell er konnte in Richtung Ausgang, wobei er zweimal über seine eigenen Füße stolperte. Carina blieb alleine zurück, stützte sich mit einer Hand am Geländer ab und fuhr sich mit der anderen durch ihr gelocktes Haar. „Habe ich…habe ich wirklich darüber nachgedacht ihn umzubringen? Was zur Hölle ist nur los mit mir?“ Sie war so zornig gewesen, dass sie überhaupt keine Bedenken gehabt hatte. Machte sie das nicht schon fast zu einem genauso schlimmen Charakter wie dieser Junge? Plötzlich wurde sie sich einem komischen Gefühl in ihrem Rücken bewusst. Ein genervtes Seufzen entfuhr der 18-Jährigen. „Wie lange stehst du schon da?“, fragte sie, ihre Stimme fest und monoton. Ein Kichern drang aus dem Schatten neben dem Eingang, gleich darauf ertönten langsame Schritte. „Seit dem Es ist ganz schön riskant für ein Mädchen ganz alleine nachts durch die Schule zu streifen“, antwortete der Undertaker und trat aus dem Schatten hervor. Ein missbilligendes Schnauben entfloh der Blondine. „Also quasi seit Anfang an“, meinte sie gereizt und wandte ihr Gesicht von ihm ab. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Er hatte alles mitbekommen. So ein verfluchter Mist! Der Silberhaarige beobachtete die junge Frau stillschweigend. Natürlich hatte er ihr Verschwinden relativ schnell bemerkt und war ihr gefolgt. Doch was er in den letzten 10 Minuten alles zu sehen bekommen hatte, damit hatte er wahrlich nicht gerechnet. Die Shinigami vor ihm war mit solch einer inneren Wut erfüllt, dass sie sich kaum unter Kontrolle hatte. „Warum bist du so wütend?“, fragte er, seine Neugierde war klar und deutlich in seiner Stimme zu vernehmen. Die Blondine rührte sich einen Moment überhaupt nicht, wirkte mehr wie eine Säule als ein lebendiges Wesen. Selbst aus dieser Entfernung konnte der Bestatter sehen, dass ihre Schultern zitterten. Und keiner konnte ihm erzählen, dass das von der nächtlichen Kälte herrührte. Carina hatte die Augen erneut geschlossen. Sie war kurz davor ihm erneut zu sagen, dass ihn das einen Scheiß anging. Dass er endlich damit aufhören sollte ihr Fragen zu stellen, die sie nicht beantworten wollte. Und doch… bewegte sich plötzlich ihr Mund und es kamen Wörter heraus, mit denen nicht einmal sie selbst gerechnet hatte. „Weil ich selbst kein Stück besser bin als dieser Mistkerl. Weil auch ich furchtbare Dinge getan habe.“ Eine Augenbraue von ihm wanderte in die Höhe. „Die da wären?“ Sie wusste, dass er eine Antwort erwartete. Carina schluckte, ihre Kehle war komplett ausgedörrt. „Erinnerst…erinnerst du dich noch an das Mädchen, dessen Leiche damals in dein Institut getragen wurde, als ich dort war?“ Kurz schien der Bestatter überlegen zu müssen, doch dann dämmerte es ihm. „Ja“, sagte er und musste kurz schmunzeln. Damals hatte Carina beinahe eine Panikattacke bei dem Anblick der Toten bekommen. Heute war sie ein Shinigami und hatte schon unzählige Leichen gesehen. „Du hast damals zum Earl gesagt, dass es mindestens zwei Täter gewesen sein müssen“, redete sie weiter und versuchte ruhig zu bleiben. „Du hattest Recht. Aber es waren drei, um ganz genau zu sein.“ Drückende Stille herrschte mit einem Mal auf dem Balkon. Carina drehte ihren Kopf und schaute in seine Augen, die nun leicht verengt waren. Wie gerne hätte sie jetzt gewusst was er dachte. „Was haben sie dir angetan?“, fragte der Undertaker und ein seltsamer, fast bedrohlicher, Unterton schwang in seiner Stimme mit. „Sie haben mich nicht vergewaltigt, falls du das meinst“, murmelte sie, das schwere Gefühl in ihrer Kehle ignorierend. „Carina“, sagte er warnend und Angesprochene wusste, dass es nun kein Zurück mehr gab. Wenn sie jetzt nicht weiter sprach, dann würde er sie dazu zwingen. Plötzlich wünschte sich die Shinigami den Mund gehalten zu haben. „Du hattest versucht mich zu küssen und…und ich war so aufgewühlt, ich wollte einfach nur weg von dir und dem Institut und… ich dachte, dass ich vielleicht draußen einen klaren Kopf bekomme. Aber ich...ich war so dumm und…hab die Zeit vergessen.“ Carina war es peinlich, dass sie immer wieder stockte, aber die Worte kamen ihr nur sehr schwer über die Lippen. „Auf dem Rückweg bin ich ihnen dann in die Arme gelaufen.“ Das Gesicht des Totengräbers war ausdruckslos, doch immer noch sandte er diese unheimliche Aura aus. War er wütend? Vielleicht, weil sie so verdammt naiv gewesen war und nicht auf seine früheren Ratschläge gehört hatte? „Natürlich habe ich versucht ihnen zu entkommen. Allerdings ist das etwas schwierig, wenn du dich in London so gar nicht auskennst und es nebenbei auch noch stockfinster ist. Und schließlich haben sie mich in dieser Gasse gestellt.“ Das Zittern ihrer Schultern wurde heftiger. „Ich…ich hatte solche Angst“, wisperte sie, als sie sich an den Moment zurückerinnerte, der immer noch wie ein Brandmal in ihr Gedächtnis eingebrannt war. „Ich hatte solche Angst vor der Vorstellung, dass… Als mir klar wurde, dass ich so oder so sterben würde, da hab ich…“ Ihre Hand wanderte zu der Narbe auf ihrer Brust und ihr war klar, dass sie nicht weiter sprechen musste. Der Undertaker konnte zwei und zwei zusammenzählen. Und jetzt ergab es auch endlich Sinn, dass sie sich ein Messer in die Brust gestoßen hatte. Wie er es bereits vermutet hatte, hatte sie schlichtweg keine andere Möglichkeit gehabt. Er wusste, dass diese Mordfälle irgendwann abrupt aufgehört hatten, man aber die Täter niemals gefasst hatte. Der Earl hatte sich maßlos darüber aufgeregt. Nun juckte es ihn selbst in den Fingern diese drei Typen auf eigene Faust aufzuspüren, doch dieser Gedanke wurde bei Carinas nächsten Worten komplett überflüssig. „Ich habe sie getötet“, flüsterte sie. „Alle drei.“ Der Silberhaarige starrte sie an, konnte im ersten Augenblick nicht glauben, was er da hörte. Carina lachte trocken auf, doch es klang unglaublich hohl. „Ich weiß, was du gerade denkst. Sie hat drei Menschen getötet? Ausgerechnet sie, die auf der Campania noch große Reden über ihre Menschlichkeit geschwungen hat? Lächerlich, nicht wahr?“ „Nein“, entgegnete er und keine Lüge lag in seiner Stimme. „Ich halte es nicht für lächerlich.“ Carina schwieg, riss die Scham über das Geschehene sie doch gerade innerlich fast auseinander. „Es war beinahe schon zu leicht sie ausfindig zu machen, weißt du? Ich musste nur drei Kneipen in London abklappern, da hab ich sie bereits erwischt. Zuerst hab ich mir die beiden Mitläufer vorgenommen. Dem Ersten hab ich nachts in einer Gasse die Kehle durchgeschnitten. Ich glaube er hat nicht einmal mehr richtig mitbekommen, was ihm passiert ist. Dem Zweiten hab ich drei Tage später in seiner Küche ein Messer in den Magen gerammt. Ich hab mal gelesen, dass man da nur sehr langsam, aber dafür sehr schmerzhaft stirbt.“ Ihre Augen waren feucht, ihr Ton gequält über das, was sie damals getan hatte. „Den Anführer“, fuhr sie flüsternd fort, „hab ich mir bis ganz zum Schluss aufgehoben. Natürlich hatte er bereits mitbekommen, dass ihm Gefahr drohte. Immerhin waren seine beiden Kumpane ja schon tot. Hat sich in seiner riesigen Villa verbarrikadiert, der Feigling. Als er mich dann gesehen hat, ist er beinahe wahnsinnig geworden. Natürlich, ich war ja vor seinen Augen gestorben, wie konnte ich da plötzlich in seinem Salon stehen?“ Carina konnte sich noch ganz genau an seine weit aufgerissenen Augen erinnern. Wie er immer wieder und wieder „Du bist nicht real“ geschrien hatte. „Ihn“, begann sie wispernd und nun rannen ihr tatsächlich Tränen über die Wangen, „ihn habe ich nicht bloß getötet. Ich habe ihn auseinandergenommen.“ Ja, im ersten und im zweiten und sogar auch im dritten Moment hatte es sich gut angefühlt. Doch natürlich hatte sie irgendwann die Erkenntnis eingeholt, was sie da eigentlich getan hatte. Sie hatte drei Menschen getötet. Und auch, wenn ihre Albträume dadurch bis auf gelegentliche Ausnahmen verschwunden waren, gab ihr das nicht das Recht über Leben und Tod zu entscheiden. Sie hatte eine der Regeln der Shinigami gebrochen. Und es war ihr egal gewesen. Es war ihr tatsächlich vollkommen egal gewesen. Dem Bestatter schien unterdessen plötzlich ein Licht aufzugehen. „Wellington“, murmelte er und Carina zuckte zusammen, als sie den Namen hörte. Mit roten und geweiteten Augen starrte sie ihn an. „Woher weißt du…?“ „Ich habe mich um seine Leiche gekümmert“, unterbrach er sie. „Nun ja, oder das, was davon noch übrig war.“ Sogleich bereute er seine Wortwahl, als sich die Qual in Carinas Gesicht nur noch vertiefte und sie sich erneut dem Balkongeländer zuwandte. „Carina…“, begann er und trat einen Schritt auf sie zu, doch dieses Mal war sie diejenige, die ihn unterbrach. „Nein“, rief sie aus und wich vor ihm zurück. Ein gehetzter Ausdruck lag in ihrem Blick. „Egal, was du mir zu sagen hast, ich will es nicht hören.“ Sie wollte nicht hören, wie die Leiche ausgesehen hatte, immerhin hatte sie sie mit eigenen Augen gesehen. Sie wollte nicht hören, wie sich der Undertaker um den zutiefst zugerichteten Körper gekümmert hatte. Und ganz sicherlich wollte sie nicht hören, wie er nun über sie dachte. Mit einem gewagten Sprung schwang sie sich über das Geländer und landete unbeschadet im Innenhof, wobei der Aufprall durch die hohen Schuhe ein wenig unangenehmer war als sonst. Ernsthaft, wie konnte Grell mit seinen hohen Stelzen nur kämpfen? Mit zügigen Schritten ging – nein, lief sie über den Innenhof in Richtung der Wohnung des Schulleiters. Hinter sich konnte sie keine Geräusche wahrnehmen, der ehemalige Schnitter schien ihr nicht zu folgen. „Gut“, dachte sie, während erneut Tränen in ihren Augen brannten. Sie wollte ihn momentan nicht um sich haben. Nein, sie wollte sich lediglich in irgendeiner Ecke verkriechen und sich immer und immer wieder fragen, wie sie nur so hatte werden können. Dieser Selbsthass in ihr, diese unbändige Wut hatte sich immer noch nicht beruhigt, als sie schließlich im Schlafzimmer der Wohnung stand. Hätte die 18-Jährige gewusst wie dieser Abend endete, sie hätte nicht einen Fuß auf diesen verfluchten Ball gesetzt. Zornig fasste sie mit beiden Armen um sich herum und versuchte den Verschluss des Kleides zu öffnen. Doch das Kleidungsstück saß immer noch genauso eng wie zu Beginn des Abends und als sich die Schnüre nach 5 Minuten immer noch nicht öffnen ließen, reichte es Carina. Zornentbrannt zog sie mit einem Ruck an dem blauen Stoff und hörte gleich darauf ein reißendes Geräusch. Das hier war sowieso nicht ihr Ding gewesen und das würde es vermutlich auch nie sein. Sie stieg aus dem Kleid, das jetzt vom Nacken bis hin zum Steißbein aufgerissen war und schmiss den Stofffetzen in die nächste Ecke. Das Korsett musste ebenfalls dran glauben und landete ebenfalls durchgerissen neben dem kaputten Kleid. Ein unfreiwilliges Schniefen entfuhr ihr, linderte den Schmerz in ihrer Brust jedoch nur ein wenig. Es war doch ein einziges Trauerspiel wie sie hier stand, lediglich mit ihrer Unterwäsche und einem dünnen Unterhemd bekleidet, verweinten Augen und einem schrecklich schlechten Gewissen. Grell würde sich sicherlich für sie schämen, wenn er sie jetzt in diesem Zustand sehen könnte. „Schade um das schöne Kleid“, ertönte es urplötzlich hinter ihr. Carina wirbelte herum, bekam gleichzeitig beinahe einen Herzinfarkt. Wie hatte er…? Sie hatte ihn weder gehört, noch gespürt und dennoch stand er nun wirklich genau hinter ihr und starrte sie an. Und zwar nicht in ihr Gesicht. Die 18-Jährige wurde mit einem Schlag feuerrot. Hatte sie ihm nicht mehr als deutlich zu verstehen gegeben, dass sie ihn momentan nicht sehen wollte? Und jetzt wagte er es tatsächlich sie auch noch in diesem Zustand anzugaffen? Zum zweiten Mal an diesem Abend platzte Carina der Kragen. „Du…“, zischte sie und holte mit der flachen Hand aus. Gut, wenn er ihre Wut unbedingt abbekommen wollte, das konnte er gerne haben. Doch bevor sie ihm eine berechtigte Ohrfeige geben konnte, fing der Silberhaarige ihre Hand spielend leicht ab. Sein Griff war fest, er tat ihr allerdings nicht weh. Seine linke Hand hielt ihre umschlungen, seine rechte legte sich mit einem Mal um ihre Hüfte und zog sie näher an sich heran. Sein Blick bohrte sich in ihr Gesicht und irgendetwas daran war anders als sonst. Aber was? „Was tust du da?“, begann sie, nun arg verunsichert von seiner Aktion. Noch nie hatte sie sich jemandem so ausgeliefert gefühlt. Nicht einmal, als sie damals in diese Sackgasse gelaufen war. „Hör auf damit. Hör auf dich so zu quälen. Das bringt nichts“, meinte er ruhig und die Blondine schluckte. „Du…du hast doch keine Ahnung“, entgegnete sie eine Spur zu hastig. Ein leichtes Lächeln schlich sich auf seine Lippen. „Ich werde dir nun etwas klar machen, Carina.“ Und bevor die junge Shinigami darauf auch nur irgendetwas erwidern konnte, beugte er seinen Kopf nach vorne und verschloss seinen Mund mit ihrem. Sein Kuss war sanft und vorsichtig, beinahe so als ob er sie um Erlaubnis fragte. Seine Hand, die bisher ruhig an ihrer Hüfte geruht hatte, rutschte ein Stück nach oben auf ihren unteren Rücken und presste ihren Körper nach vorne, sodass sich ihre Oberkörper berührten. Im ersten Moment war Carina tatsächlich so perplex, dass sie sich nicht rührte. Doch auch 5 Sekunden später hatte sie noch nichts unternommen, um dieses Kuss zu beenden. „Das darf doch wohl nicht wahr sein“, schoss es ihr durch den Kopf. „Gerade war ich noch so wütend und jetzt…und jetzt…“, die Stimme in ihrem Kopf wurde immer leiser und in dem Augenblick, wo sie verstummte, erwiderte die 18-Jährige den Kuss mit einer Heftigkeit, die sie sich selbst nicht zugetraut hätte. Seine linke Hand ließ ihr Handgelenk los und umfasste sanft ihren Hinterkopf, um den Kuss zu vertiefen. Wie auf Befehl öffnete Carina ihre Lippen einen Spalt breit und spürte sogleich seine Zunge in ihrem Mund. Haltesuchend krallte die Shinigami ihre Fingernägel in den schwarzen Stoff seines Anzugs, während er sich alle Zeit der Welt nahm um spielerisch ihre Zunge zu umkreisen. Carina konnte nicht anders. Sie keuchte in den Kuss hinein und presste beinahe automatisch ihre Beine zusammen. Seine rechte Hand schob sich an ihrem Rücken unter das Unterhemd. Sie war noch ein wenig kühl von der Kälte draußen, fühlte sich auf ihrer erhitzten Haut jedoch äußerst angenehm an. Die langen, schwarzen Fingernägel strichen sehr, sehr langsam von ihrem Steißbein an nach oben. Unwillkürlich bekam sie eine Gänsehaut entlang der Stellen, die der Undertaker berührte. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie Sauerstoff brauchte, bis der Bestatter seine Lippen von ihren löste und sie nach Luft schnappte. „Heb deine Arme“, raunte er und nach einem kurzen Zögern folgte Carina seinem Befehl. Er zog ihr das Unterhemd über den Kopf und obwohl die Blondine noch BH und Slip trug, fühlte sich auf einmal fürchterlich nackt. Sein Blick, der langsam an ihrem Körper herab glitt, machte die ganze Situation nicht besser. Ganz im Gegenteil, plötzlich wünschte Carina sich, sie hätte vorhin eine etwas aufregendere Unterwäsche angezogen. Diese hier war lediglich hellblau und ansonsten vollkommen unverziert. Ihre Wangen brannten. „Warte. Vielleicht…vielleicht sollten wir nicht…“ Abrupt und mit einem überraschten Laut fiel ihr Körper aus heiterem Himmel nach unten und landete mit dem Rücken voran hart auf dem Doppelbett. Bevor die Seelensammlerin sich von dem Schrecken erholen konnte, war der Totengräber ihr schon hinterher gekommen und kniete nun über ihr. „Oh nein. Dieses Mal nicht“, flüsterte er ihr mit einem dunklen Lachen ins Ohr und drückte sein Becken gegen ihres. Selbst durch die Anzugshose konnte sie die harte Beule fühlen, die sich nun an ihren Bauch anschmiegte. Die Wärme zwischen ihren Schenkeln wurde intensiver, beinahe drängend. Ihr Körper wollte ihn. Dennoch konnte der Undertaker die Zweifel in ihren Augen sehen. „Beruhige dich“, murmelte er und legte seine Lippen auf ihren Hals. „Ich verspreche dir, ich werde vorsichtig sein.“ Die Röte auf ihrem Gesicht verdichtete sich. Er wollte also tatsächlich… Ein Stöhnen entrang sich ihrer Kehle, als der Shinigami sein Gesicht in ihrer Halsbeuge vergrub und die empfindliche Haut mit seinen Zähnen reizte. Die Finger der 18-Jährigen vergruben sich im Bettlaken und ungewollt drückte sie ihre Hüfte ein Stück nach oben, sodass diese an seiner Erektion rieb. Dem Undertaker entfuhr eine Mischung aus einem Keuchen und Knurren, das Carina mehr als nur gefiel. „Hör auf dich dagegen zu wehren“, hörte sie sich selbst denken und ihre Muskeln entspannten sich ein wenig. Der Bestatter ließ von ihr ab, allerdings nur um seinen Oberkörper aufzurichten und sich die Krawatte mit einem gekonnten Ruck vom Körper zu ziehen. Das Jackett folgte auf dem Fuße. Als er sich wieder ein bisschen hinabbeugte, lag ein spielerisches Grinsen auf seinen Lippen. „Hehe, bist du so nett und ziehst mir das Hemd aus, Carina?“, fragte er, wobei es eher nach einer Aufforderung als nach einer Frage klang. Ihr Name hörte sich auf seinen Lippen irgendwie so ganz anders an, als sie es von ihren Mitmenschen gewohnt war. Die Blondine schluckte und hob ihre zittrigen Hände an die Knopfleiste seines Hemdes. Natürlich bekam sie durch ihre Nervosität die Knöpfe nicht sofort auf, aber der Mann über ihr übte sich in Geduld. Nachdem sie endlich den letzten Knopf geöffnet hatte, wanderten ihre Hände zu seinen Schultern und zogen den weißen Stoff nach hinten. Das Hemd fiel zur Seite weg und über die Bettkante zu Boden. Carina konnte nicht verhindern, dass sie seinen Oberkörper mit unverhüllter Neugierde musterte. Mit Ausnahme der größeren Narbe auf seiner Brust und einer etwas kleineren in der Nähe seines Bauchnabels war seine Haut glatt und straff. Kleine, feine Härchen bedeckten seinen Brustkorb und etwas tiefer konnte sie die leichte Andeutung eines Sixpacks erkennen. Seine Schultern und Oberarme – die ebenfalls Narben aufwiesen – waren schmal, aber muskulös. Ihr Mund wurde trocken. Plötzlich griff der Todesgott nach ihrer rechten Hand und legte sie sachte, aber bestimmt auf seine Brust. Unter der warmen Haut konnte sie sein Herz schlagen hören, möglicherweise einen winzigen Takt zu schnell. Er beugte den Kopf nach vorne, sodass seine Stirn an der ihren lag. „Berühr mich, Carina.“ Angesprochene schluckte. Sie hätte so gerne etwas gesagt, wusste jedoch nicht was. Anscheinend war das hier ein Zeitpunkt, der keine Worte benötigte. Vorsichtig ließ sie ihre Finger über sein Schlüsselbein fahren, anschließend über das etwas weichere Brustbein, wobei sie seine Brustwarzen nicht berührte. Der Undertaker hatte genießend seine Augen geschlossen, denn die Fingernägel der jungen Frau, die leicht über seine Haut kratzten, fühlten sich äußerst angenehm an. Auf der Höhe seines Bauchnabels kam ihre Hand langsam zum Stehen. Ihre Augen verweilten auf der – nun deutlich sichtbaren – Beule in seiner Hose und allein der Anblick schickte ein starkes Gefühl der Erregung zwischen ihre Beine. Carina wurde aus ihren Gedanken heraus gerissen, als über ihr ein Kichern ertönte. Sie blickte auf und schaute in sein grinsendes Gesicht. „Traust du dich nicht weiter?“, fragte er und deutete auf ihre Hand, die immer noch seelenruhig an seinem Bauch ruhte. Die Seelensammlerin wurde rot, teils vor Verlegenheit, teils aus Empörung. Konnte er seine verdammten Neckereien nicht wenigstens jetzt sein lassen? Doch sie wäre nicht sie selbst, wenn sie ihm diesen Gefallen nicht erwidern würde. Während sie ihm einen giftigen Blick schenkte, hob sie gleichzeitig ganz vorsichtig ihr linkes Knie und drückte es gegen die Schwellung. Ein zischender Laut entfuhr seinen Lippen und gegen ihren Willen musste Carina nun grinsen. Das hatte er jetzt davon. Allerdings verging ihr dieses schnell wieder, als sie das boshafte Glitzern in seinen Augen erkannte. „Na warte“, wisperte er und hob ihren Oberkörper mit einem derartigen schnellen Ruck an, dass sie gegen seine Brust knallte. Die Shinigami überlegte kurz, ob sie protestieren sollte, bemerkte dann aber, dass der Totengräber seine Finger unter den Verschluss ihres BHs geklemmt hatte. „Was…“, brachte sie gerade noch hervor, da hörte sie bereits das leise Klicken in ihrem Rücken und spürte, wie der Halt um ihre Brust nachließ. Ihre Arme schnellten nach oben, um das Kleidungsstück am Fallen zu hindern, doch der Undertaker war schneller. Seine Hände ergriffen ihre und stoppten sie genau vor ihrem Busen, der BH fiel achtlos zwischen sie auf das Bett. Dennoch waren seine Augen auf ihr Gesicht gerichtet. „Na, na, na.“ Ein spitzbübischer Ausdruck schmückte seine scharf geschnittenen Züge. „Ich sorge nur für Gleichberechtigung.“ Die Hitze in ihren Wangen war beinahe unerträglich und es war Carina mehr als nur peinlich. Sie musste die ganze Zeit aussehen wie eine überreife Tomate. Da ihr nichts Besseres einfiel, erwiderte sie mit heiserer Stimme: „Du…du hast im Gegensatz zu mir aber noch deine Hose an.“ Als sie sein überdimensionales Grinsen sah, wusste sie sofort, dass sie gerade genau das Falsche gesagt hatte. „Das lässt sich ändern“, hauchte er gegen ihr Kinn und automatisch wanderten Carinas Augen zu seinen Fingern, die in einer fließenden Bewegung den Knopf seiner Hose öffneten und anschließend den Reißverschluss nach unten zogen. Der schwarze Stoff glitt recht langsam über seine Hüften und entblößte seine kräftigen Oberschenkel, erneut blieb ihr Blick dabei an der kleinen Narbe dort hängen. Mit einem Rascheln fand sich die Anzugshose zusammen mit seinen Socken und Schuhen auf dem Boden wieder. Ebenso wie sie trug er jetzt lediglich noch ein Stück Stoff am Körper. „S-so hab ich das nicht gemeint“, stammelte die 18-Jährige und rieb unterbewusst ihre Schenkel gegeneinander. Der Druck in ihrem Unterleib wurde langsam aber sicher unerträglich. „Ich weiß“, grinste er, rührte sich allerdings vorerst nicht. Carina wusste, dass er wartete. Sie nahm einen zittrigen Atemzug und ließ dann langsam ihre Hände sinken, sah ihn dabei allerdings nicht an. Er hatte in seinem langen Leben sicherlich schon viele Frauen gehabt und sicherlich waren sie allesamt schön gewesen. „Und jetzt sieht er mich. Mich mit meinem überhaupt nicht zierlichen Körperbau und Körbchengröße B…“ Sie hatte immer schon gewusst, dass ihre Brüste nicht sonderlich groß waren, aber erst jetzt störte sie diese Tatsache wirklich richtig. Die junge Frau sah erst wieder auf, als sie die Wärme seiner Hände auf ihren Schultern fühlte. Bestimmt drückte der Bestatter sie nach unten, sodass die Shinigami flach auf dem Rücken lag. Seine Knie befanden sich seitlich von ihren Hüften, seine Handflächen lagen neben ihrem Kopf. Sein langes silbernes Haar fiel ihm über die Schultern, die Spitzen berührten ihre Brustwarzen, die sich beinahe sofort verhärteten. Etwas Hungriges lag in seinem Blick. (...) Die Blondine erwiderte seinen Blick, hätte ihre Augen nicht einmal von ihm abwenden können, wenn sie es gewollt hätte. Sie…sie hatte gar keine Angst mehr. Sie vertraute ihm. (...) „Vertrau mir, Carina“, flüsterte er so sanft, dass ihr Herz auf die doppelte Größe anschwoll. Und obwohl sie Angst hatte und nervös war, schaute sie ihn an und entgegnete mit heiserer Stimme: „Das tue ich.“ Ein ehrliches Lächeln legte sich über seinen Mund, welches die junge Frau schüchtern erwiderte. Sie war sich immer noch sicher. Wenn sie jemandem ihre Unschuld schenkte, dann sollte er es sein. (...) „Undertaker“, hauchte sie kaum hörbar, suchte noch einmal den Augenkontakt mit ihm. Umso überraschter war sie jedoch, als sein Blick plötzlich eine Spur ernster wurde und er ebenfalls etwas sagte. Ein einzelnes Wort. „Cedric.“ Verblüfft starrte sie ihn an. Hatte…hatte er ihr gerade seinen richtigen… Sein Blick wurde wieder eine Spur weicher, als sei ihm bewusst geworden, dass er gerade das Richtige getan hatte. „Nenn mich Cedric“, murmelte er und Carinas Augen weiteten sich. Ihr Herz schlug schneller, ihr wurde ganz warm in der Brust. „Cedric“, flüsterte sie atemlos und sah ihn einfach nur an, während sie sich zusammen fallen ließen. (...) Seine Brust hob und senkte sich rasch, doch Carina stand ihm in diesem Punkt um nichts nach. Sie war müde und erschöpft, dabei hatte sie kaum etwas gemacht. Zwischen ihren Beinen pochte es weiterhin, gleichzeitig konnte sie sich jedoch nicht daran erinnern, jemals so glücklich gewesen zu sein. Ihr Kopf fühlte sich unglaublich schwer an, als sie ihn anhob und ihre Lippen auf seine drückte. Sofort erwiderte er den Kuss, stützte sich auf seine Ellbogen hoch, um die junge Frau nicht mit seinem Gewicht zu erdrücken. Ganz sanft hob er sein Becken und zog sich aus ihr zurück, was Carina kurz zusammenzucken ließ. Reflexartig presste sie ihre Schenkel zusammen, um den Schmerz ein wenig zu betäuben. „Erinnerst du dich an das, was ich eben sagte?“, meinte er plötzlich und Carina schaute ihn blinzelnd an. „Tut mir leid, aber mein Gehirn ist momentan vielleicht ein wenig außer Betrieb“, krächzte sie mit errötenden Wangen zurück und sogleich ertönte sein raues, dunkles Lachen. „Ich meinte das, was ich davor sagte“, grinste er und blieb weiterhin dicht über sie gebeugt. Die Seelensammlerin musste kurz ihre Gedanken sortieren, bevor sie darauf kam was er meinte. Zögernd schaute sie zu ihm hoch. „Du meintest du würdest mir etwas klar machen“, antwortete sie langsam und der Bestatter nickte. „Lass mich dir eine Frage stellen. Hättest du gerne Sex mit auch nur einem dieser drei Männer von damals gehabt?“ Carina wurde eine Spur bleicher. „Nein, natürlich nicht“, entgegnete sie heftig, über diese Antwort musste sie überhaupt nicht nachdenken. Allein schon der Gedanke daran bescherte ihr Übelkeit. Jetzt erst Recht, da sie dieses intime Erlebnis mit dem Bestatter geteilt hatte. „Dann war es das einzig Richtige, was du damals getan hast“, erwiderte er und legte seine rechte Hand über ihr Herz und somit genau über die Narbe. Die Shinigami verstand im ersten Moment nicht, was er ihr damit sagen wollte, doch der Undertaker war auch noch nicht fertig. „Das, was dich innerlich so quält, ist nicht der Umstand, dass du dich an ihnen gerächt hast. Sondern die Tatsache, dass du deine eigene Seele beschädigt hast, indem du dir das Leben nahmst. Ist es nicht so?“ Ihr stockte der Atem, als sie sich der Wahrheit hinter seinen Worten bewusst wurde. „Er hat vollkommen Recht.“ „Wenn du dich nicht umgebracht hättest, hätten sie dich missbraucht. Hättest du lieber eine intakte Seele gehabt? Hättest du das gewollt?“ „Nein“, flüsterte sie mit zittriger Stimme zurück. Sein Zeigefinger legte sich unter ihr Kinn und zwang sie somit ihn anzusehen. „Dann gibt es keinen Grund sich deswegen zu schämen, Carina. Lass diese Qual hinter dir.“ Seine ehrlichen Worte, sein zärtlicher Gesichtsausdruck ließen alle Dämme in ihrem Inneren brechen, die sie über die letzten Jahre so mühsam aufgebaut hatte. Tränen quollen ihr aus den Augen, ihre Lippen bebten unkontrolliert und bevor Carina sich auch nur ein wenig zusammennehmen konnte, vergrub sie ihren Kopf bereits zum zweiten Mal in dieser Nacht in seiner Halsbeuge. Der Silberhaarige hielt sie in seinen Armen, die eine Hand an ihrem nackten Rücken, die andere an ihrem Hinterkopf. Plötzlich fiel ihr ein so großer Stein vom Herzen, von dem sie nicht einmal gewusst hatte, dass er überhaupt dort war. Es war, als könnte sie mit einem Mal wieder freier atmen. Und genau in diesem Moment wurde es Carina klar. Sie stand nicht nur auf ihn. Sie war ihm nicht nur verfallen. All diese Ausreden nützten ihr jetzt nichts mehr. Sie liebte ihn. Bedingungslos und mit ihrem ganzen Dasein. Und als ihr Herz bei diesem Gedanken freudig schneller pochte, konnte sie gar nicht anders als einzusehen, dass auch diese Gefühle das einzig Richtige waren. Kapitel 37: Ein Spiel? ---------------------- Nur unglaublich langsam erwachte Carina am nächsten Tag aus ihrem festen Schlaf. Ihr Körper fühlte sich unglaublich träge an, ihre Augenlider klebten fest aufeinander. Erst nach mehrmaligem Blinzeln wurde die Umgebung schärfer. „Warum ist es so heiß hier drin?“, war der erste Gedanke, den sie fassen konnte und als sie an sich hinunterschaute, wusste sie auch sogleich die Antwort. Ihr Körper hatte sich fast komplett in der weißen Bettwäsche verheddert, der Stoff war fest um ihre Beine und um ihren Oberkörper geschlungen. Es dauerte einige Sekunden, bis sie sich frei gestrampelt hatte und als die 18-Jährige es endlich geschafft hatte, ließ sie sich auf den Rücken fallen und starrte hoch zur Decke. Die Bettseite neben ihr war leer und bereits kalt. Anscheinend war der Undertaker bereits eine ganze Weile fort. Doch Carina war das ganz recht. Sie hätte ohnehin nicht gewusst, was sie nach der letzten Nacht zu ihm sagen sollte. Vermutlich hätte sie peinlich berührt überall anders hingeschaut, nur nicht zu ihm. Dennoch… Ihr Herz fühlte sich immer noch so an, als würde es ununterbrochen Luftsprünge machen. „Und das nur, weil ich es endlich begriffen habe. Dabei lag die Antwort die ganze Zeit vor meiner Nase. Ich…ich wollte es einfach nur nicht wahrhaben.“ Doch es nützte nichts. Sie konnte ihre Gefühle nicht länger ignorieren. Vor allem jetzt, nachdem sie mit ihm geschlafen hatte. Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen. „Ich hab es tatsächlich getan. Ich hab mit ihm geschlafen. Cedric…“ Der Name passte zu ihm. Und gleichzeitig tat er es auch nicht, denn kein Name der Welt konnte ihm gerecht werden. Für sie würde er auch immer zu einem gewissen Teil der Undertaker bleiben. Vorsichtig setzte sie sich auf und schwang die Beine über die Bettkante. Überrascht zuckte sie zusammen, als sie beim Aufstehen ein Stechen zwischen ihren Schenkeln spürte. Es war nicht wirklich schmerzhaft, fühlte sich eher wie das Brennen nach dem Berühren von Brennnesseln an. Eine zarte Röte kroch auf ihre Wangen, als Carina sich erneut mit aller Deutlichkeit daran erinnerte, was gestern Nacht passiert war und weswegen sie dieses leichte Ziehen verspürte. Das Bild seines nackten Körpers würde sie nie wieder aus ihrem Kopf bekommen. Mit schnellen Schritten und immer noch vollkommen nackt ging die Shinigami ins Badezimmer und stellte sich vor den rechteckigen Spiegel. „Oh mein Gott“, entfuhr es ihr sogleich und ungläubig starrte sie in ihr Spiegelbild, das natürlich ebenfalls ungläubig zurückstarrte. Ihre blonden Haare standen ihr zerzaust vom Kopf ab, das leichte Make-up vom gestrigen Abend hob sich fleckig von ihrer blassen Haut ab. Ihre Lippen waren geschwollen und als sie das Kinn drehte, konnte sie einen dunklen Fleck mittig auf ihrem Hals erkennen. Wann zur Hölle war das denn passiert? Sachte berührte Carina das Mal und zog gleich darauf scharf die Luft ein. Es war wirklich unglaublich wie empfindlich sich ihre gesamte Haut anfühlte. „Kein Wunder, nach der Reizüberflutung…“ Plötzlich hatte sie ein ganz seltsames Gefühl an ihren Beinen. Fast so als ob… Ihre Augen richteten sich automatisch nach unten und als sie die milchig weiße Flüssigkeit sah, die zwischen ihren Oberschenkeln hinab ran, war es mit der zarten Röte von vorhin vorbei. Kurz wurde ihre schwindelig, denn ihr gesamtes Blut schien sich mit einem Mal in ihrem Gesicht zu befinden. Es war das Natürlichste der Welt, keine Frage, aber… „Oh Gott, das ist so peinlich“, flüsterte die Blondine in ihre Hände, die sie sich vor das Gesicht geschlagen hatte und bewegte sich ein paar lange Sekunden überhaupt nicht. „Die Situation hätte ich mir ersparen können, wenn wie noch Menschen gewesen wären. Denn dann hätten wir verhüten müssen und ich müsste mich jetzt nicht in Grund und Boden schämen.“ Und erneut war Carina erleichtert, dass der Silberhaarige zurzeit nicht hier war. Diesen hätte das alles sicher wahnsinnig amüsiert. Oh ja, das konnte sie sich nur allzu gut vorstellen. Schnell drehte die Schnitterin den Wasserhahn auf und ließ sich ein Schaumbad ein, um den Schweiß und auch das Sperma von ihrem Körper zu waschen. Sobald sie sich in das heiße Wasser sinken ließ, entfuhr ihr ein wohliges Stöhnen. Sofort fühlte sie, wie sich ihre Muskeln entspannten und auch das Pochen fast vollkommen verschwand. Seufzend und bis zum Kinn in der Wärme schaute Carina an die Decke. Es war seltsam, aber zum ersten Mal seit langer Zeit – wenn nicht überhaupt das erste Mal seit ihrer Zeitreise – fühlte sie sich vollkommen ausgeglichen. Dabei hatte sie wahrlich genug Dinge, die ihr eigentlich durch den Kopf spuken sollten. Ihre Death Scythe. Der Dämon, der sie hierher geschickt hatte. Grell, der vermutlich wir verrückt nach ihr suchte. Und dennoch war das momentan alles irgendwie in den hintersten Winkel ihres Unterbewusstseins gerückt. Doch plötzlich erinnerte die Shinigami sich an etwas gänzlich anderes. Etwas, was ihre Freundin Bianca vor jetzt schon beinahe drei Jahren zu ihr gesagt hatte. Ich weiß jetzt schon, dass du jemanden von den Charakteren ganz besonders mögen wirst. Und wenn ich ganz besonders sage, dann meine ich auch ganz besonders. Carina blinzelte. An dieses Gespräch hatte sie schon seit einer halben Ewigkeit nicht mehr gedacht. Aber jetzt erinnerte sie sich daran, als wäre es erst gestern gewesen. Sie hatte gefragt, ob derjenige auch ein Shinigami war. Die Brünette hatte lediglich gegrinst und geantwortet: Ja, aber mehr verrate ich nicht. „Du kleines Biest. Du hast es wirklich die ganze Zeit vermutet“, murmelte die Blondine mürrisch und musste nun ebenfalls lächeln. Ja, Bianca konnte nur den Bestatter gemeint haben. Und jetzt ergab dieses Zögern auch endlich einen Sinn. Sie hatte ihr nicht vorzeitig verraten wollen, wer der verrückte Silberhaarige wirklich war. „Sie kannte mich halt immer schon recht gut.“ Wenn sie doch jetzt nur mit ihr über alles sprechen könnte, was passiert war. Auf einmal wünschte sie sich Alice herbei. Sie würde sie ganz sicher verstehen. Alle anderen Shinigami – und dazu zählte sie auch Grell – würden es sicherlich als Verrat werten, wenn sie das mit dem Undertaker wüssten, doch die Schwarzhaarige würde ihr zuhören, da war Carina sich sicher. Und gerade jetzt konnte sie eine Freundin super gebrauchen. Eine, die kichernd mit ihr in einer Ecke hockte und sie über alle Einzelheiten der vergangenen Nacht ausfragte, woraufhin sie selbst dümmlich grinsen und vor lauter Peinlichkeit im Boden versinken würde. „Wobei…wenn es hier nicht um den Undertaker gehen würde, würde Grell dieser Rolle sicherlich auch genauso gerecht werden“, dachte sie grinsend und tauchte ihren Kopf unter, um sich anschließend die Haare zu waschen. Etwa eine halbe Stunde später stand Carina mit getrockneten Haaren wieder im Schlafzimmer und suchte sich ein weißes Frühlingskleid aus dem Schrank aus. Draußen schien die Sonne und da es nun stark auf Mai zuging, stiegen auch die Temperaturen rasch in die Höhe. Wenn sie schon gleich wieder nach ihrer Death Scythe suchen musste, dann wollte sie wenigstens nicht schwitzen. Fertig angezogen drehte Carina sich um und blieb mit einem Mal abrupt stehen. Ihre Augen fielen auf das Bett und jetzt, erst jetzt, nahm sie den eigentlich unübersehbaren Blutfleck auf dem Laken wahr. Ihr Mund ging auf und zu, wie ein Fisch auf dem Trockenen. Dann, innerhalb eines Augenaufschlags, kniete sie auf der Matratze, schmiss Kissen und Decke zu Boden und riss das Tuch herunter. „Ist heute vielleicht der offizielle Tag der Peinlichkeiten, oder was?“, murmelte sie, schon wieder hochrot im Gesicht und packte den Bezug in einen Müllsack, den sie gleich persönlich wegwerfen würde. Sie wusste nicht einmal, warum ihr gerade das Laken so peinlich war, aber in dieser Zeit hatte dieser Blutfleck natürlich noch einen ganz speziellen Wert, immerhin sollte das Ganze erst in der Hochzeitsnacht passieren. In Windeseile hatte die junge Frau das Bett wieder vollkommen neu bezogen, sogleich kühlte ihr Gesicht wieder merklich ab. Nein, sie wollte auf keinen Fall, dass der Totengräber diesbezüglich auch nur einen blöden Spruch abließ. Für sie war dieser Morgen bereits beschämend genug. Der Himmel war wolkenklar, als sie auf den Schulhof trat und ein sanfter, warmer Wind ließ den Saum ihres Kleides kurz in der Luft tanzen. Das Gefühl der warmen Sonne auf ihrer Haut ließ Carina lächeln, hatte sie dies doch seit sie ein Shinigami war nur so selten gespürt. Natürlich, die Welt der Shinigami war bei weitem nicht schlecht und sie konnte sich über nichts beschweren, aber…es war einfach nicht dasselbe. Diese Welt hier war einfach so voller Leben. Die Menschen waren so erfüllt von Hoffnung. Hoffnung auf Glück, Hoffnung auf die Liebe, Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Etwas, was die Shinigami schon lange verloren hatten. „Es gibt eben Dinge, die du besser nicht verlieren solltest. Sonst findest du sie vielleicht niemals wieder“, flüsterte die Schnitterin, entsorgte nebenbei den Müllbeutel in einem der vorgesehenen Behälter und machte sich dann auf in den Südflügel. Vielleicht würde sie ja heute mit ihrer Suche ein wenig voran kommen. Die Blondine ertappte sich allerdings selbst dabei, wie ihr der Gedanke, dass sie ihre Death Scythe heute vielleicht wieder nicht finden würde, gar nicht so viel ausmachte wie sonst. „Nein“, schimpfte sie sich gedanklich selbst aus. „Fang damit gar nicht erst an. Du kannst jetzt nicht einfach alles über den Haufen werfen, nur, weil du einmal mit ihm geschlafen hast. Reiß dich zusammen!“ Sie war sich ziemlich sicher, dass der Bestatter nicht mal im Entferntesten ahnte, dass sie wirklich in ihn verliebt war. Und wenn Carina verliebt dachte, dann meinte sie nicht eine kleine Schwärmerei oder Schmetterlinge im Bauch, die irgendwann wieder davonfliegen würden. Nein, sie sprach von Gefühlen, die sich tief in die Seele einbrannten und sie nie wieder loslassen würden. Ein Kribbeln in ihrem ganzen Körper, wenn sie nur an ihn dachte. Das Zuschnüren ihrer Lungen, wenn er sie nur ansah. Dieses Gefühl, dass tief in ihrem Bauch schlummerte und sie gleichzeitig stark und so furchtbar schwach machte. War es seltsam, wenn sie sich davor fürchtete? Ihre Füße trugen sie von Zimmer zu Zimmer, ihre Finger glitten über versteckte Truhen, durchstöberten verschlossene Schränke und bogen Dielenbretter zur Seite. Keine Spur von ihrem Katana. Zum wiederholten Male versuchte die Blondine sich in den Undertaker hinein zu versetzen, um vielleicht erahnen zu können, was er mit ihrem Schwert gemacht haben könnte. Doch nach wie vor herrschte eine Leere in ihrem Kopf. Herrgott, was war momentan nur los mit ihr? Missmutig stöberte sie weiter, merkte jedoch schon nach einer Stunde, dass die Motivation nachließ. Irgendwie konnte sie nicht glauben, dass der Silberhaarige ihre Death Scythe einfach irgendwo in der Schule verstecken würde. Nein, er hatte sich irgendetwas Gemeines ausgedacht, davon war Carina überzeugt. Sie traute es ihm einfach mehr zu, dass er das Katana direkt vor ihrer Nase verborgen hielt und sie es dennoch nicht finden konnte. „Ja, das passt schon eher“, murmelte sie und schloss eine weitere Zimmertür hinter sich. „Vielleicht sollte ich noch einmal die Wohnung durchsuchen.“ Wobei…wenn er es wirklich in der Wohnung versteckt hielt, dann würde sie sicherlich einen kleinen Tobsuchtsanfall bekommen. „Ja, das passt sogar ziemlich genau zu ihm“, sagte sie augenverdrehend und betrat nach wenigen Minuten zum zweiten Mal am heutigen Tag den Schulhof. Momentan war Mittagspause, daher hielt sich eine relativ große Anzahl an Schülern hier auf. Kein Wunder, das Wetter war großartig und perfekt dazu gemacht, sich in der warmen Mittagssonne ein wenig zu entspannen und vom Lernstress zu erholen. Carina schlängelte sich durch die Jungs hindurch, schnappte hier und da ein paar uninteressante Gesprächsfetzen auf, die sich vorrangig um langweilige Geschichten des Adels drehten, und ging zielstrebig auf das Haus am anderen Ende des Platzes zu, wo sich die Wohnung des Direktors befand. Eine kleine Gruppe, abgeschottet vom Rest der Schüler, erregte kurzzeitig ihre Aufmerksamkeit. „Oh man, selbst die Lehrer sonnen sich“, ging es ihr kurz durch den Sinn, doch dann blieb sie abrupt stehen. Moment mal. Wenn die Lehrer sich dort versammelt hatten, dann war vielleicht ja auch… Und tatsächlich, als sie sich der Gruppe nun genauer zuwandte, erkannte sie die silbernen Haare, die das Licht der Sonne reflektierten und aus der Schar so stark hervorstach, wie ein Schimmel in einer Herde schwarzer Pferde. Anscheinend schien er sie noch nicht wahrgenommen zu haben, denn gerade unterhielt er sich angeregt mit einem der anderen Professoren, der direkt neben ihm stand. Der noch recht jung aussehende Mann hatte kurzes – aber dafür ziemlich verwuscheltes – schwarzes Haar. Seine Kleidung bestand aus einem dunklen Doktorhut, einer dunklen Robe und einem hellen Halstuch, das er als eine Art Krawatte trug. Darunter trug er eine dunkle Hose, ein weißes Hemd, Jacke und eine Weste mit großen Knöpfen. Seine Hände steckten in weißen Handschuhen, was Carina irritiert zur Kenntnis nahm. War ihm die ganze Kleidung in diesem Wetter nicht viel zu heiß? Auch sein Gesichtsausdruck passte gar nicht zu den fröhlichen Mienen um ihn herum. Er schaute vollkommen emotionslos den Undertaker an, der mit seinem gewohnten Grinsen auf ihn einredete. Die Shinigami wusste nicht wieso, aber irgendwie hatte sie ein komisches Gefühl in der Magengegend, wenn sie diesen Mann anschaute. Dabei war sie eigentlich nicht eine derjenigen, die Menschen sofort nach ein paar Sekunden in eine bestimmte Schublade steckten. Genau in diesem Moment wandte der Todesgott seinen Kopf, schaute an all den Schülern, die sich zwischen ihnen befanden, vorbei und kreuzte seinen Blick mit ihrem. Beinahe sofort vergaß Carina den Professor und auch alles andere, was ihr gerade durch den Kopf gegangen war. Wie konnte irgendjemand überhaupt sein Gehirn benutzen, wenn sich diese Augen auf ihn richteten? Und dann lag auch noch dieses wissende Lächeln auf seinen Lippen, dass ihr sagte, dass er gerade an letzte Nacht zurückdachte. Ihre Wangenknochen verdunkelten sich, dennoch erwiderte sie sein Lächeln sachte. Wenn er glaubte, dass sie ihm jetzt nie wieder würde ansehen können, dann hatte er sich getäuscht. Carina hatte ganz genau gewusst, worauf sie sich da gestern eingelassen hatte. Abgesehen davon kam sie nicht aus diesem Jahrhundert, sie brauchte kein schlechtes Gewissen zu haben, so wie alle anderen Mädchen des 19.Jahrhunderts es jetzt hätten. Noch einige Sekunden lang hielt sie seinen Blick, drehte sich dann betont langsam um und ging in Richtung Wohnung davon. Vermutlich würde sie noch früh genug Gelegenheit haben mit ihm zu sprechen und sich dafür zu schämen, dass sie gestern vor ihm in Tränen ausgebrochen war. Und dass er jetzt wusste, wie sie nackt aussah. Es dauerte drei ganze Stunden die komplette Wohnung des Direktors auf den Kopf zu stellen. „Das gibt es doch einfach nicht“, fluchte Carina teils wütend, teils resigniert. Mit wenig Hoffnung wandte sie sich dem letzten Raum zu, den sie noch nicht durchsucht hatte, dem Arbeitszimmer. Hier sah immer noch alles ganz genauso aus, wie zum Tag ihrer Ankunft. Jede Menge Bücher, die Sotobas des Undertakers an der Wand, der riesige Schreibtisch samt Stuhl. Eigentlich recht übersichtlich. Carinas Blick wanderte zu den Regalen voller Bücher. „Ob man eine Death Scythe irgendwie in einem Buch verbergen kann?“ Gleich darauf schüttelte die 18-Jährige über sich selbst den Kopf. „Großartig Carina, jetzt wirst du auch noch größenwahnsinnig.“ War sie denn wirklich schon so verzweifelt? Seufzend umrundete sie den Schreibtisch, kniete sich hin und zog nacheinander jede Schublade einzeln auf. Ebenfalls eine Sackgasse. „Schade. Und ich dachte schon, die Schubladen wären zum Ausziehen, dann hätte es vielleicht reinpassen können.“ Dennoch, so schnell wollte die Schnitterin nicht aufgeben. Sie schaute sich jede Seite des Schreibtisches genauer an, suchte nach versteckten Geheimfächern und schaute als letztes sogar darunter nach. Ja, jetzt war es amtlich, sie war tatsächlich verzweifelt! Mit zusammengezogenen Augenbrauen richtete sie sich schließlich wieder vor der Rückseite des Schreibtisches auf und stützte sich mit beiden Händen darauf ab. Ihre Augen musterten die Holzmusterungen auf der Oberfläche, eine Kerze mit schon halb durchgebranntem Docht, das kleine Tintenfässchen, das samt einer Schreibfeder neben unzähligen Dokumenten stand, die fein säuberlich zusammengelegt worden waren. Ihre Augenbrauen zogen sich weiter zusammen. Das letzte Mal, als sie hier gewesen war, war die Kerze unangetastet gewesen. Was bedeuten musste, dass der Undertaker sie in der Zwischenzeit benutzt hatte. „Und das wiederum bedeutet, dass er hier zu einem späten Zeitpunkt gesessen haben muss, um irgendetwas zu schreiben. Also sind diese Unterlagen von ihm?“ Interesse flackerte in ihrem Inneren auf. Vielleicht fand sie ja jetzt heraus, was der Bestatter so tat, wenn er sich nicht in ihrer Nähe aufhielt. Voller Neugierde streckte die 18-Jährige ihre Hand nach dem Dokumentenstapel aus, doch bevor ihre Finger das Papier erreichen konnten, spürte sie plötzlich einen Luftzug hinter sich. Noch bevor Carina reagieren konnte, schmiegte sich ein Körper von hinten gegen sie und eine Hand mit langen, schwarzen Fingernägeln ergriff ihren ausgestreckten Arm. „Hat dir denn noch nie jemand gesagt, dass es unhöflich ist in den Sachen anderer herumzuschnüffeln?“, erklang es kichernd in ihr Ohr und silberne Haare tauchten in ihrem Blickfeld auf. Carina war im ersten Moment vor Schreck erstarrt, doch als sie den amüsierten Unterton in seiner Stimme wahrnahm, entspannte sie sich wieder etwas. Dennoch, sie wusste auch, dass er es ernst meinte. Die Unterlagen gingen sie nichts an. „Dann solltest du sie nicht so offen rum liegen lassen“, erwiderte sie langsam und widerstand dem Drang sich zu ihm umzudrehen. Dabei schrie alles in ihr danach. „Hehe…ich werde es mir merken“, murmelte er, sein Atem streifte ihr Ohr und seine Hand strich betont langsam über ihrem Arm nach oben. Carina versuchte sich die Gefühle nicht anmerken zu lassen, die diese bloße Berührung in ihr auslöste, doch die Gänsehaut auf ihrem Arm verriet sie. Und diese breitete sich ebenfalls über ihren Rücken aus, als der Silberhaarige seine Lippen auf ihren Nacken drückte. So sanft, als wäre es nur ein Luftzug. Er triezte sie schon wieder. „Hast du Schmerzen?“, flüsterte er fragend und die Blondine schüttelte leicht den Kopf. „Nicht mehr“, antwortete sie ehrlich, spürte gleich darauf seinen Oberkörper, der sich näher an ihren Rücken presste. „…Gut“, raunte er. Seine Stimme war dunkel. Ihre gelbgrünen Augen weiteten sich, als sie begriff. „W-was…jetzt? Hier?“ Das letzte Wort war eine Oktave höher. „Warum nicht?“ Seine linke Hand umschloss ihre Hüfte, glitt sachte nach vorne und ehe Carina realisierte, dass das hier gerade wirklich passierte, griff er ihr von vorne zwischen die Beine. Ein erschrockenes Japsen rollte über ihre Lippen. Obwohl der Stoff ihres Kleides, der Strumpfhose und der Unterwäsche dazwischen lag, fühlte sie augenblicklich dieselbe Erregung, die sie auch schon am gestrigen Abend gespürt hatte. „Dabei…dabei hat es heute Morgen doch noch so geziept. Und jetzt…“ Sie stöhnte, klammerte ihre linke Hand an seinem Ellbogen fest und die rechte an die Kante des Schreibtisches. War das normal? Sie hatten doch gestern erst das Bett miteinander geteilt. Doch Carina konnte nicht leugnen, dass die Vorstellung ihr gefiel ihn noch einmal so nahe bei sich zu haben. Ihr Kopf fiel in den Nacken und somit auf seine Schulter, da er jetzt komplett an sie gedrückt da stand. „D-du willst mich doch nur wieder von meiner Suche abhalten“, brachte sie keuchend hervor und konnte ihm nun ins Gesicht sehen. Er grinste, wie erwartet. „Vielleicht~“, grinste er jetzt noch breiter und verstärkte den Druck seiner Finger auf ihrem Geschlecht. Er konnte ihre Feuchtigkeit selbst durch die vielen Schichten Stoff hindurch spüren. Seine Augen blieben kurz voller Genugtuung an dem kleinen Fleck an ihrem Hals hängen, dann ließ er seinen Blick weiter an ihrem Kleid herabwandern. „Du siehst gut aus. Allerdings, hehe, ist es wirklich belustigend, dass du nach der gestrigen Nacht ausgerechnet ein weißes Kleid gewählt hast. Soooo eine unschuldige Farbe.“ Carina wurde rot. Er provozierte sie. Schon wieder. Sie versuchte über eine spitze Bemerkung nachzudenken, doch angesichts der Position seiner linken Hand fiel ihr das ungewöhnlich schwer. „Vielleicht“, seufzte sie schließlich und konnte kaum fassen, dass sie diese Worte aussprach. „Vielleicht solltest du es mir ausziehen, wenn es doch so unfassbar unpassend ist.“ „Hmm, vielleicht später“, antwortete er und packte nun ihre rechte Hand mit der seinen. „Zuerst möchte ich, dass du etwas für mich tust.“ Ihr Herz schlug bereits in einem schnelleren Rhythmus, aber als er ihre Hand bestimmt auf seinen Schritt drückte und sie seine bereits harte Erregung darunter ertasten konnte, brach ihr Puls sämtliche Rekorde, die ihr Körper bisher aufgestellt hatte. „Ich…ich soll…“, begann sie mit ausgetrockneter Kehle und flachem Atem, unterbrach sich dann aber selbst. Warum…warum eigentlich nicht? Er fasste sie jetzt an, er hatte sie gestern angefasst. Warum sollte sie ihm den Gefallen nicht erwidern? „…Zeig mir wie.“ Ein dunkler – fast gieriger – Ausdruck huschte über sein Gesicht. Kurz nahm er ihre Hand von seiner Hose, um sie sich geschickt mithilfe einer Hand aufzuknöpfen und seine Erektion frei zu legen. Carina schluckte, konnte sie sein Glied doch jetzt bei Licht wesentlich besser erkennen als in der Dunkelheit gestern Nacht, die nur vom Vollmond erhellt worden war. Plötzlich wurde sie, ähnlich wie bei ihrem zweiten Kuss, furchtbar nervös. Was, wenn sie etwas falsch machte? Aber komischerweise war sie auch ein wenig neugierig. Wie würde es sich anfühlen ihn anzufassen? Seine Hand legte sich erneut über ihre und führte sie, brachte sie dazu ihre Hand um ihn zu schließen. Kurz war Carina aufgrund des Gefühls unter ihren Fingern irritiert. Er war hart, ja, aber die Haut war warm und weich. „Es ist ganz leicht“, flüsterte er gegen ihr Ohr und bewegte ihre Hand in einer langsamen Bewegung über seine gesamte Länge bis hin zur Eichel, um sie dann anschließend wieder zurück nach unten zu führen. Fasziniert beobachtete die junge Frau, wie sich dabei die Haut mit ihrer Hand mitbewegte und sein Schaft noch ein wenig weiter anschwoll. Bereits nach wenigen Sekunden ließ er sie los und sah lediglich nur noch dabei zu, wie sie ihm einen runterholte. Er würde lügen, würde er sagen, dass ihm der Anblick nicht gefiel. Selten hatte er etwas mit einer Frau gehabt, die so unerfahren war wie Carina und trotzdem erregte ihn die Vorstellung, dass sie ihre ersten Erfahrungen mit ihm sammelte. Das Kichern, das nun in seiner Kehle aufsteigen wollte, unterdrückte er. Oh, er konnte ihr noch so vieles beibringen… Carina achtete penibel darauf, dass ihre etwas längeren Fingernägel seine Erektion nicht berührten, wollte sie ihm doch auf keinen Fall wehtun. Sie warf einen Blick in sein Gesicht, um ganz sicherzugehen, doch der Totengräber hatte seine Augen genießend geschlossen und atmete nun selbst ein wenig schneller. Noch immer lag seine Hand auf ihrer Mitte und reizte sie nebenbei. Carinas Blick fuhr wieder nach unten. Mittlerweile hatte sich auf der Öffnung in der Eichel bereits Sperma gebildet. Langsam rieb sie mit ihrem Daumen über die Spitze, sodass die etwas klebrige Flüssigkeit darauf haften blieb und sich beim erneuten Herabgleiten ihrer Hand auf seiner Länge verteilte. Kurz spürte sie, wie er in gegen ihre Handfläche zuckte, gleichzeitig entfuhr ihm über ihr ein angespanntes Keuchen. Ermutigt durch seine Reaktion erhöhte sie das Tempo, glitten ihre Finger dank des Spermas nun wesentlich besser über seinen Schaft. Unerwarteterweise erregte es sie ihn anzufassen. Ihn zu befriedigen. Es forderte jedoch ihre Konzentration, immerhin ließen seine Berührungen ebenfalls keine Sekunde lang nach und das machte sie noch wahnsinnig. Der Bestatter konnte ganz genau fühlen, wie sie unter seinen Fingern mit einem Mal noch feuchter wurde. Eine seiner fein definierten Augenbrauen hob sich ein Stück in die Höhe. Gefiel es ihr etwa? Das Lächeln, das sich nun auf seine Lippen legte, war eine Mischung aus Verlangen und purer Vorfreude auf das Kommende. Carina zuckte zusammen, als er plötzlich ihr Handgelenk packte. Sie sah auf und musste gleich darauf kurz schlucken. Unter den schneeweißen Wimpern hatten sich seine gelbgrünen Augen verdunkelt, er starrte sie dermaßen eindringlich an, als wollte er sie hypnotisieren. „Das reicht“, stieß er hervor und sie gehorchte unmittelbar. Während die 18-Jährige ihre Hand von seinem Glied nahm, ließ er ebenfalls von ihr ab und presste der jungen Frau seine Finger ins Kreuz. „Was…“, entfuhr es Carina überrascht, als ihr Oberkörper nicht gerade sanft auf die Oberfläche des Schreibtisches aufprallte. „Hey“, protestierte sie beleidigt, wurde sich aber gleich darauf bewusst in welcher Position sie sich hier befand. Sie, bäuchlings auf dem Schreibtisch und er hinter ihr. Sogleich verfärbten sich ihre Wangen wieder dunkelrot. Allein der Gedanke führte bereits dazu, dass sich ihr Unterleib rhythmisch zusammenzog. Freude und Nervosität kämpften in ihrem Inneren um die Vorherrschaft. Der Undertaker schien jedenfalls seine Geduld verloren zu haben. Seine langen Fingernägel krallten sich an ihren Oberschenkeln in den Stoff der Strumpfhose und rissen mit einem Ruck den dünnen Stoff in Fetzen. Carina blieb still liegen und befeuchtete sich die trockene Kehle, als sie den Luftzug an ihren Beinen spürte. Gerade noch rechtzeitig drehte sie ihren Kopf ein Stück nach hinten, um sehen zu können, dass er mit beiden Händen unter ihr Kleid gegriffen hatte und nun den Rock nach oben schob. Gleich darauf landete ihre Unterhose – ebenfalls weiß – auf dem Boden vor dem Schreibtisch. Carina biss sich auf die Unterlippe, als seine Finger ihre Hüften packten, sie ein wenig anhoben und sich seine Erektion an ihrem Hintern rieb. Ihre linke Hand klammerte sich erneut um die Kante des Tisches, während ihre rechte sich über seine legte. Unwillkürlich spannten sich ihre Muskeln ein wenig an. Sie wollte ihn, keinen Zweifel. Dennoch war sie immer noch ein wenig nervös. Gedanklich machte sie sich auf den kommenden Schmerz bereit. Ihr Blick richtete sich erneut auf die Muster im Holz und dann spürte sie Völle, als er sein Becken gegen ihres drückte und betont langsam in sie eindrang. Ihr Körper verkrampfte. Es tat weh, zwar lange nicht so sehr wie beim ersten Mal, aber das Gefühl war immer noch unangenehm. Plötzlich schloss sich seine linke Hand um ihr Kinn, bog ihren Kopf leicht zur Seite und zwang sie somit ihn direkt anzusehen. Carina konnte die unausgesprochene Frage in seinen Augen sehen. „Ich…es geht. Gib…gib mir nur eine Minute.“ Er nickte, begann dann allerdings aus heiterem Himmel zu grinsen. „Ich gebe dir auch gerne zwei“, flüsterte er und beugte sich über ihren Rücken. Die Schnitterin stöhnte, als seine Zähne sich in die empfindliche Haut zwischen Nacken und Schultern bohrten. Seine linke Hand strich federleicht über ihre Seite, reizte ihre Nerven und legte sich schlussendlich wieder um ihre Hüfte. Ohne hinzusehen konzentrierte sich Carina vollkommen auf das Gefühl seiner Lippen auf ihrem Rücken. Instinktiv entspannte sie sich ein Stück weit und drückte ihm ihre Wirbelsäule entgegen. Ohne seine Streicheleinheiten zu unterbrechen, begann er seine Hüfte leicht gegen ihre zu bewegen. Der Druck war immer noch so fremd, aber je länger er sich in ihr bewegte, desto mehr gewöhnte sie sich an das Gefühl. Das Möbelstück knarzte leicht unter ihr, als der Silberhaarige und sie einen gemeinsamen Rhythmus fanden und seine Stöße zunahmen. Carina konnte ihn hinter sich leise stöhnen hören, stellte aber für sich fest, dass es ihr besser gefallen hatte, als sie ihm gestern dabei ins Gesicht hatte schauen können. Sie konzentrierte sich stattdessen auf ihre schnellere Atmung, das Geräusch ihrer aufeinandertreffenden Körper und seinem Luftholen in ihrem Nacken. Dabei nahm sie ihrer Hand von seiner, um sie auf dem Schreibtisch abzustützen und somit besseren Halt zu finden. „Cedric“, keuchte sie hilflos in die Stille des Raumes, nahm sogleich einen härteren Stoß seinerseits wahr. Mochte er es, wenn sie seinen Namen sagte? Er beugte sich weiter zu ihr hinunter, sodass sich sein Brustkorb gegen ihren Rücken drückte. Seine rechte Hand legte sich über ihre, unterdessen schlang er seinen linken Arm von vorne über ihre Brüste, die sich gegen das weiße Kleid wölbten. Carina konnte die Muskeln in seinem rechten Unterarm sehen, die sich immer wieder an- und entspannten. War denn wirklich jeder Teil seines Körpers attraktiv? Seine Stöße waren nun fordernd und schnell, jetzt wo er wusste, dass er ihr nicht mehr wehtat. Der Anblick wie sie vor ihm auf dem Schreibtisch lag, ihr leicht in den Nacken gelegter Kopf und die vor Anstrengung rosigen Wangen brachten ihn an den Rand der Ekstase. Sie war immer noch unglaublich eng und je schneller er zustieß, umso enger schien sie zu werden. Dennoch konnte er auch spüren, dass sie immer noch nicht komplett entspannt war. Wie gut würde sich der Sex erst anfühlen, wenn die Frau unter ihm dabei genauso viel Spaß hatte wie er? Carina hatte die Augen geschlossen, begann sie doch langsam den ganzen Akt als angenehm wahrzunehmen. Vielleicht würde es beim nächsten Mal noch besser klappen. Sie spürte wie der Todesgott über ihr unruhig wurde und sich schließlich dichter an sie drängte. Seine Bewegungen wurden langsamer, dafür aber tiefer. Wenige Sekunden später verharrte er plötzlich vollkommen bewegungslos über ihr, sie konnte nur noch seine schnellen Atemzüge hören. Auch ihr eigener Atem ging schnell, ihr Herz pochte schnell gegen ihre Brust und nur ganz langsam erwachte sie aus einer Art Rausch. Hatten…hatten sie es gerade tatsächlich auf dem Schreibtisch des Direktors des Weston Colleges getrieben? Ein ungläubiges, aber dafür amüsiertes Lachen entfuhr ihren Lippen. „Also, zum Lachen wollte ich dich hiermit eigentlich nicht bringen“, ertönte es über ihr, doch auch in seiner Stimme konnte sie Amüsement hören. Der Undertaker grinste zwar, ärgerte sich innerlich allerdings ein bisschen darüber, dass die junge Shinigami immer noch nicht gekommen war. Doch ihre nächste Frage riss ihn aus seinen Gedanken. „Hat…hat es dir gefallen?“, murmelte sie und schaute ihn unsicher von unten an. Ein lautes Giggeln entfloh seinem Mund. „Hehe…Was glaubst du wohl?~“, raunte er und bewegte ein weiteres Mal seine Hüften gegen ihre, sodass Carina ein leises Seufzen entfuhr. Ehe sie sich versah, hatte er sich bereits aus ihr zurückgezogen und knöpfte seine Hose wieder zu. Seine Haare waren ein wenig zerzaust, doch mit ein paar schnellen Handgriffen strich er sich die silbernen Strähnen wieder glatt. Carina schob währenddessen den Saum ihres Kleides nach unten und hob ihren Slip vom Boden auf, um ihn sich hastig wieder anzuziehen. Die Strumpfhose hingegen war nicht mehr zu retten. Für einen kurzen Moment herrschte Schweigen, doch dann lächelte der ehemalige Seelensammler ihr breit entgegen. „Soooo, ich fürchte ich habe noch einige Dinge zu erledigen. Wir sehen uns heute Abend, Carina“, flötete er und Angesprochene blinzelte ihn irritiert an. „Äh…ja“, fiel ihr im ersten Moment vor lauter Überraschung nichts anderes ein und keine 10 Sekunden später war der Aushilfsdirektor bereits durch die Tür verschwunden. Die Blondine stand ein wenig verloren in der Mitte des Raumes, immer noch gegen die Rückseite des Schreibtisches gelehnt. Was zur Hölle… „Wir haben gerade miteinander geschlafen und jetzt… jetzt geht er einfach?“ Irgendwo tief in ihrem Bauch spürte sie einen unangenehmen Stich, der irgendwie nicht mehr weg gehen wollte. Hatte…hatte sie etwas falsch gemacht? Gestern war er ihr doch so viel näher gewesen. Plötzlich kam ihr die Erkenntnis, dass er sie heute nicht einmal auf den Mund geküsst hatte. Es war, als würde eine unsichtbare Blase um sie herum mit einer Nadel durchstochen und wie ein Luftballon platzen. Und ganz plötzlich stellte sie sich die unangenehme Frage, was das Ganze hier für ihn war. Ein Spiel? Kapitel 38: Ein Spiel? *zensiert* --------------------------------- Nur unglaublich langsam erwachte Carina am nächsten Tag aus ihrem festen Schlaf. Ihr Körper fühlte sich unglaublich träge an, ihre Augenlider klebten fest aufeinander. Erst nach mehrmaligem Blinzeln wurde die Umgebung schärfer. „Warum ist es so heiß hier drin?“, war der erste Gedanke, den sie fassen konnte und als sie an sich hinunterschaute, wusste sie auch sogleich die Antwort. Ihr Körper hatte sich fast komplett in der weißen Bettwäsche verheddert, der Stoff war fest um ihre Beine und um ihren Oberkörper geschlungen. Es dauerte einige Sekunden, bis sie sich frei gestrampelt hatte und als die 18-Jährige es endlich geschafft hatte, ließ sie sich auf den Rücken fallen und starrte hoch zur Decke. Die Bettseite neben ihr war leer und bereits kalt. Anscheinend war der Undertaker bereits eine ganze Weile fort. Doch Carina war das ganz recht. Sie hätte ohnehin nicht gewusst, was sie nach der letzten Nacht zu ihm sagen sollte. Vermutlich hätte sie peinlich berührt überall anders hingeschaut, nur nicht zu ihm. Dennoch… Ihr Herz fühlte sich immer noch so an, als würde es ununterbrochen Luftsprünge machen. „Und das nur, weil ich es endlich begriffen habe. Dabei lag die Antwort die ganze Zeit vor meiner Nase. Ich…ich wollte es einfach nur nicht wahrhaben.“ Doch es nützte nichts. Sie konnte ihre Gefühle nicht länger ignorieren. Vor allem jetzt, nachdem sie mit ihm geschlafen hatte. Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen. „Ich hab es tatsächlich getan. Ich hab mit ihm geschlafen. Cedric…“ Der Name passte zu ihm. Und gleichzeitig tat er es auch nicht, denn kein Name der Welt konnte ihm gerecht werden. Für sie würde er auch immer zu einem gewissen Teil der Undertaker bleiben. Vorsichtig setzte sie sich auf und schwang die Beine über die Bettkante. Überrascht zuckte sie zusammen, als sie beim Aufstehen ein Stechen zwischen ihren Schenkeln spürte. Es war nicht wirklich schmerzhaft, fühlte sich eher wie das Brennen nach dem Berühren von Brennnesseln an. Eine zarte Röte kroch auf ihre Wangen, als Carina sich erneut mit aller Deutlichkeit daran erinnerte, was gestern Nacht passiert war und weswegen sie dieses leichte Ziehen verspürte. Das Bild seines nackten Körpers würde sie nie wieder aus ihrem Kopf bekommen. Mit schnellen Schritten und immer noch vollkommen nackt ging die Shinigami ins Badezimmer und stellte sich vor den rechteckigen Spiegel. „Oh mein Gott“, entfuhr es ihr sogleich und ungläubig starrte sie in ihr Spiegelbild, das natürlich ebenfalls ungläubig zurückstarrte. Ihre blonden Haare standen ihr zerzaust vom Kopf ab, das leichte Make-up vom gestrigen Abend hob sich fleckig von ihrer blassen Haut ab. Ihre Lippen waren geschwollen und als sie das Kinn drehte, konnte sie einen dunklen Fleck mittig auf ihrem Hals erkennen. Wann zur Hölle war das denn passiert? Sachte berührte Carina das Mal und zog gleich darauf scharf die Luft ein. Es war wirklich unglaublich wie empfindlich sich ihre gesamte Haut anfühlte. „Kein Wunder, nach der Reizüberflutung…“ Plötzlich hatte sie ein ganz seltsames Gefühl an ihren Beinen. Fast so als ob… Ihre Augen richteten sich automatisch nach unten und als sie die milchig weiße Flüssigkeit sah, die zwischen ihren Oberschenkeln hinab ran, war es mit der zarten Röte von vorhin vorbei. Kurz wurde ihre schwindelig, denn ihr gesamtes Blut schien sich mit einem Mal in ihrem Gesicht zu befinden. Es war das Natürlichste der Welt, keine Frage, aber… „Oh Gott, das ist so peinlich“, flüsterte die Blondine in ihre Hände, die sie sich vor das Gesicht geschlagen hatte und bewegte sich ein paar lange Sekunden überhaupt nicht. „Die Situation hätte ich mir ersparen können, wenn wie noch Menschen gewesen wären. Denn dann hätten wir verhüten müssen und ich müsste mich jetzt nicht in Grund und Boden schämen.“ Und erneut war Carina erleichtert, dass der Silberhaarige zurzeit nicht hier war. Diesen hätte das alles sicher wahnsinnig amüsiert. Oh ja, das konnte sie sich nur allzu gut vorstellen. Schnell drehte die Schnitterin den Wasserhahn auf und ließ sich ein Schaumbad ein, um den Schweiß und auch das Sperma von ihrem Körper zu waschen. Sobald sie sich in das heiße Wasser sinken ließ, entfuhr ihr ein wohliges Stöhnen. Sofort fühlte sie, wie sich ihre Muskeln entspannten und auch das Pochen fast vollkommen verschwand. Seufzend und bis zum Kinn in der Wärme schaute Carina an die Decke. Es war seltsam, aber zum ersten Mal seit langer Zeit – wenn nicht überhaupt das erste Mal seit ihrer Zeitreise – fühlte sie sich vollkommen ausgeglichen. Dabei hatte sie wahrlich genug Dinge, die ihr eigentlich durch den Kopf spuken sollten. Ihre Death Scythe. Der Dämon, der sie hierher geschickt hatte. Grell, der vermutlich wir verrückt nach ihr suchte. Und dennoch war das momentan alles irgendwie in den hintersten Winkel ihres Unterbewusstseins gerückt. Doch plötzlich erinnerte die Shinigami sich an etwas gänzlich anderes. Etwas, was ihre Freundin Bianca vor jetzt schon beinahe drei Jahren zu ihr gesagt hatte. Ich weiß jetzt schon, dass du jemanden von den Charakteren ganz besonders mögen wirst. Und wenn ich ganz besonders sage, dann meine ich auch ganz besonders. Carina blinzelte. An dieses Gespräch hatte sie schon seit einer halben Ewigkeit nicht mehr gedacht. Aber jetzt erinnerte sie sich daran, als wäre es erst gestern gewesen. Sie hatte gefragt, ob derjenige auch ein Shinigami war. Die Brünette hatte lediglich gegrinst und geantwortet: Ja, aber mehr verrate ich nicht. „Du kleines Biest. Du hast es wirklich die ganze Zeit vermutet“, murmelte die Blondine mürrisch und musste nun ebenfalls lächeln. Ja, Bianca konnte nur den Bestatter gemeint haben. Und jetzt ergab dieses Zögern auch endlich einen Sinn. Sie hatte ihr nicht vorzeitig verraten wollen, wer der verrückte Silberhaarige wirklich war. „Sie kannte mich halt immer schon recht gut.“ Wenn sie doch jetzt nur mit ihr über alles sprechen könnte, was passiert war. Auf einmal wünschte sie sich Alice herbei. Sie würde sie ganz sicher verstehen. Alle anderen Shinigami – und dazu zählte sie auch Grell – würden es sicherlich als Verrat werten, wenn sie das mit dem Undertaker wüssten, doch die Schwarzhaarige würde ihr zuhören, da war Carina sich sicher. Und gerade jetzt konnte sie eine Freundin super gebrauchen. Eine, die kichernd mit ihr in einer Ecke hockte und sie über alle Einzelheiten der vergangenen Nacht ausfragte, woraufhin sie selbst dümmlich grinsen und vor lauter Peinlichkeit im Boden versinken würde. „Wobei…wenn es hier nicht um den Undertaker gehen würde, würde Grell dieser Rolle sicherlich auch genauso gerecht werden“, dachte sie grinsend und tauchte ihren Kopf unter, um sich anschließend die Haare zu waschen. Etwa eine halbe Stunde später stand Carina mit getrockneten Haaren wieder im Schlafzimmer und suchte sich ein weißes Frühlingskleid aus dem Schrank aus. Draußen schien die Sonne und da es nun stark auf Mai zuging, stiegen auch die Temperaturen rasch in die Höhe. Wenn sie schon gleich wieder nach ihrer Death Scythe suchen musste, dann wollte sie wenigstens nicht schwitzen. Fertig angezogen drehte Carina sich um und blieb mit einem Mal abrupt stehen. Ihre Augen fielen auf das Bett und jetzt, erst jetzt, nahm sie den eigentlich unübersehbaren Blutfleck auf dem Laken wahr. Ihr Mund ging auf und zu, wie ein Fisch auf dem Trockenen. Dann, innerhalb eines Augenaufschlags, kniete sie auf der Matratze, schmiss Kissen und Decke zu Boden und riss das Tuch herunter. „Ist heute vielleicht der offizielle Tag der Peinlichkeiten, oder was?“, murmelte sie, schon wieder hochrot im Gesicht und packte den Bezug in einen Müllsack, den sie gleich persönlich wegwerfen würde. Sie wusste nicht einmal, warum ihr gerade das Laken so peinlich war, aber in dieser Zeit hatte dieser Blutfleck natürlich noch einen ganz speziellen Wert, immerhin sollte das Ganze erst in der Hochzeitsnacht passieren. In Windeseile hatte die junge Frau das Bett wieder vollkommen neu bezogen, sogleich kühlte ihr Gesicht wieder merklich ab. Nein, sie wollte auf keinen Fall, dass der Totengräber diesbezüglich auch nur einen blöden Spruch abließ. Für sie war dieser Morgen bereits beschämend genug. Der Himmel war wolkenklar, als sie auf den Schulhof trat und ein sanfter, warmer Wind ließ den Saum ihres Kleides kurz in der Luft tanzen. Das Gefühl der warmen Sonne auf ihrer Haut ließ Carina lächeln, hatte sie dies doch seit sie ein Shinigami war nur so selten gespürt. Natürlich, die Welt der Shinigami war bei weitem nicht schlecht und sie konnte sich über nichts beschweren, aber…es war einfach nicht dasselbe. Diese Welt hier war einfach so voller Leben. Die Menschen waren so erfüllt von Hoffnung. Hoffnung auf Glück, Hoffnung auf die Liebe, Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Etwas, was die Shinigami schon lange verloren hatten. „Es gibt eben Dinge, die du besser nicht verlieren solltest. Sonst findest du sie vielleicht niemals wieder“, flüsterte die Schnitterin, entsorgte nebenbei den Müllbeutel in einem der vorgesehenen Behälter und machte sich dann auf in den Südflügel. Vielleicht würde sie ja heute mit ihrer Suche ein wenig voran kommen. Die Blondine ertappte sich allerdings selbst dabei, wie ihr der Gedanke, dass sie ihre Death Scythe heute vielleicht wieder nicht finden würde, gar nicht so viel ausmachte wie sonst. „Nein“, schimpfte sie sich gedanklich selbst aus. „Fang damit gar nicht erst an. Du kannst jetzt nicht einfach alles über den Haufen werfen, nur, weil du einmal mit ihm geschlafen hast. Reiß dich zusammen!“ Sie war sich ziemlich sicher, dass der Bestatter nicht mal im Entferntesten ahnte, dass sie wirklich in ihn verliebt war. Und wenn Carina verliebt dachte, dann meinte sie nicht eine kleine Schwärmerei oder Schmetterlinge im Bauch, die irgendwann wieder davonfliegen würden. Nein, sie sprach von Gefühlen, die sich tief in die Seele einbrannten und sie nie wieder loslassen würden. Ein Kribbeln in ihrem ganzen Körper, wenn sie nur an ihn dachte. Das Zuschnüren ihrer Lungen, wenn er sie nur ansah. Dieses Gefühl, dass tief in ihrem Bauch schlummerte und sie gleichzeitig stark und so furchtbar schwach machte. War es seltsam, wenn sie sich davor fürchtete? Ihre Füße trugen sie von Zimmer zu Zimmer, ihre Finger glitten über versteckte Truhen, durchstöberten verschlossene Schränke und bogen Dielenbretter zur Seite. Keine Spur von ihrem Katana. Zum wiederholten Male versuchte die Blondine sich in den Undertaker hinein zu versetzen, um vielleicht erahnen zu können, was er mit ihrem Schwert gemacht haben könnte. Doch nach wie vor herrschte eine Leere in ihrem Kopf. Herrgott, was war momentan nur los mit ihr? Missmutig stöberte sie weiter, merkte jedoch schon nach einer Stunde, dass die Motivation nachließ. Irgendwie konnte sie nicht glauben, dass der Silberhaarige ihre Death Scythe einfach irgendwo in der Schule verstecken würde. Nein, er hatte sich irgendetwas Gemeines ausgedacht, davon war Carina überzeugt. Sie traute es ihm einfach mehr zu, dass er das Katana direkt vor ihrer Nase verborgen hielt und sie es dennoch nicht finden konnte. „Ja, das passt schon eher“, murmelte sie und schloss eine weitere Zimmertür hinter sich. „Vielleicht sollte ich noch einmal die Wohnung durchsuchen.“ Wobei…wenn er es wirklich in der Wohnung versteckt hielt, dann würde sie sicherlich einen kleinen Tobsuchtsanfall bekommen. „Ja, das passt sogar ziemlich genau zu ihm“, sagte sie augenverdrehend und betrat nach wenigen Minuten zum zweiten Mal am heutigen Tag den Schulhof. Momentan war Mittagspause, daher hielt sich eine relativ große Anzahl an Schülern hier auf. Kein Wunder, das Wetter war großartig und perfekt dazu gemacht, sich in der warmen Mittagssonne ein wenig zu entspannen und vom Lernstress zu erholen. Carina schlängelte sich durch die Jungs hindurch, schnappte hier und da ein paar uninteressante Gesprächsfetzen auf, die sich vorrangig um langweilige Geschichten des Adels drehten, und ging zielstrebig auf das Haus am anderen Ende des Platzes zu, wo sich die Wohnung des Direktors befand. Eine kleine Gruppe, abgeschottet vom Rest der Schüler, erregte kurzzeitig ihre Aufmerksamkeit. „Oh man, selbst die Lehrer sonnen sich“, ging es ihr kurz durch den Sinn, doch dann blieb sie abrupt stehen. Moment mal. Wenn die Lehrer sich dort versammelt hatten, dann war vielleicht ja auch… Und tatsächlich, als sie sich der Gruppe nun genauer zuwandte, erkannte sie die silbernen Haare, die das Licht der Sonne reflektierten und aus der Schar so stark hervorstach, wie ein Schimmel in einer Herde schwarzer Pferde. Anscheinend schien er sie noch nicht wahrgenommen zu haben, denn gerade unterhielt er sich angeregt mit einem der anderen Professoren, der direkt neben ihm stand. Der noch recht jung aussehende Mann hatte kurzes – aber dafür ziemlich verwuscheltes – schwarzes Haar. Seine Kleidung bestand aus einem dunklen Doktorhut, einer dunklen Robe und einem hellen Halstuch, das er als eine Art Krawatte trug. Darunter trug er eine dunkle Hose, ein weißes Hemd, Jacke und eine Weste mit großen Knöpfen. Seine Hände steckten in weißen Handschuhen, was Carina irritiert zur Kenntnis nahm. War ihm die ganze Kleidung in diesem Wetter nicht viel zu heiß? Auch sein Gesichtsausdruck passte gar nicht zu den fröhlichen Mienen um ihn herum. Er schaute vollkommen emotionslos den Undertaker an, der mit seinem gewohnten Grinsen auf ihn einredete. Die Shinigami wusste nicht wieso, aber irgendwie hatte sie ein komisches Gefühl in der Magengegend, wenn sie diesen Mann anschaute. Dabei war sie eigentlich nicht eine derjenigen, die Menschen sofort nach ein paar Sekunden in eine bestimmte Schublade steckten. Genau in diesem Moment wandte der Todesgott seinen Kopf, schaute an all den Schülern, die sich zwischen ihnen befanden, vorbei und kreuzte seinen Blick mit ihrem. Beinahe sofort vergaß Carina den Professor und auch alles andere, was ihr gerade durch den Kopf gegangen war. Wie konnte irgendjemand überhaupt sein Gehirn benutzen, wenn sich diese Augen auf ihn richteten? Und dann lag auch noch dieses wissende Lächeln auf seinen Lippen, dass ihr sagte, dass er gerade an letzte Nacht zurückdachte. Ihre Wangenknochen verdunkelten sich, dennoch erwiderte sie sein Lächeln sachte. Wenn er glaubte, dass sie ihm jetzt nie wieder würde ansehen können, dann hatte er sich getäuscht. Carina hatte ganz genau gewusst, worauf sie sich da gestern eingelassen hatte. Abgesehen davon kam sie nicht aus diesem Jahrhundert, sie brauchte kein schlechtes Gewissen zu haben, so wie alle anderen Mädchen des 19.Jahrhunderts es jetzt hätten. Noch einige Sekunden lang hielt sie seinen Blick, drehte sich dann betont langsam um und ging in Richtung Wohnung davon. Vermutlich würde sie noch früh genug Gelegenheit haben mit ihm zu sprechen und sich dafür zu schämen, dass sie gestern vor ihm in Tränen ausgebrochen war. Und dass er jetzt wusste, wie sie nackt aussah. Es dauerte drei ganze Stunden die komplette Wohnung des Direktors auf den Kopf zu stellen. „Das gibt es doch einfach nicht“, fluchte Carina teils wütend, teils resigniert. Mit wenig Hoffnung wandte sie sich dem letzten Raum zu, den sie noch nicht durchsucht hatte, dem Arbeitszimmer. Hier sah immer noch alles ganz genauso aus, wie zum Tag ihrer Ankunft. Jede Menge Bücher, die Sotobas des Undertakers an der Wand, der riesige Schreibtisch samt Stuhl. Eigentlich recht übersichtlich. Carinas Blick wanderte zu den Regalen voller Bücher. „Ob man eine Death Scythe irgendwie in einem Buch verbergen kann?“ Gleich darauf schüttelte die 18-Jährige über sich selbst den Kopf. „Großartig Carina, jetzt wirst du auch noch größenwahnsinnig.“ War sie denn wirklich schon so verzweifelt? Seufzend umrundete sie den Schreibtisch, kniete sich hin und zog nacheinander jede Schublade einzeln auf. Ebenfalls eine Sackgasse. „Schade. Und ich dachte schon, die Schubladen wären zum Ausziehen, dann hätte es vielleicht reinpassen können.“ Dennoch, so schnell wollte die Schnitterin nicht aufgeben. Sie schaute sich jede Seite des Schreibtisches genauer an, suchte nach versteckten Geheimfächern und schaute als letztes sogar darunter nach. Ja, jetzt war es amtlich, sie war tatsächlich verzweifelt! Mit zusammengezogenen Augenbrauen richtete sie sich schließlich wieder vor der Rückseite des Schreibtisches auf und stützte sich mit beiden Händen darauf ab. Ihre Augen musterten die Holzmusterungen auf der Oberfläche, eine Kerze mit schon halb durchgebranntem Docht, das kleine Tintenfässchen, das samt einer Schreibfeder neben unzähligen Dokumenten stand, die fein säuberlich zusammengelegt worden waren. Ihre Augenbrauen zogen sich weiter zusammen. Das letzte Mal, als sie hier gewesen war, war die Kerze unangetastet gewesen. Was bedeuten musste, dass der Undertaker sie in der Zwischenzeit benutzt hatte. „Und das wiederum bedeutet, dass er hier zu einem späten Zeitpunkt gesessen haben muss, um irgendetwas zu schreiben. Also sind diese Unterlagen von ihm?“ Interesse flackerte in ihrem Inneren auf. Vielleicht fand sie ja jetzt heraus, was der Bestatter so tat, wenn er sich nicht in ihrer Nähe aufhielt. Voller Neugierde streckte die 18-Jährige ihre Hand nach dem Dokumentenstapel aus, doch bevor ihre Finger das Papier erreichen konnten, spürte sie plötzlich einen Luftzug hinter sich. Noch bevor Carina reagieren konnte, schmiegte sich ein Körper von hinten gegen sie und eine Hand mit langen, schwarzen Fingernägeln ergriff ihren ausgestreckten Arm. „Hat dir denn noch nie jemand gesagt, dass es unhöflich ist in den Sachen anderer herumzuschnüffeln?“, erklang es kichernd in ihr Ohr und silberne Haare tauchten in ihrem Blickfeld auf. Carina war im ersten Moment vor Schreck erstarrt, doch als sie den amüsierten Unterton in seiner Stimme wahrnahm, entspannte sie sich wieder etwas. Dennoch, sie wusste auch, dass er es ernst meinte. Die Unterlagen gingen sie nichts an. „Dann solltest du sie nicht so offen rum liegen lassen“, erwiderte sie langsam und widerstand dem Drang sich zu ihm umzudrehen. Dabei schrie alles in ihr danach. „Hehe…ich werde es mir merken“, murmelte er, sein Atem streifte ihr Ohr und seine Hand strich betont langsam über ihrem Arm nach oben. Carina versuchte sich die Gefühle nicht anmerken zu lassen, die diese bloße Berührung in ihr auslöste, doch die Gänsehaut auf ihrem Arm verriet sie. Und diese breitete sich ebenfalls über ihren Rücken aus, als der Silberhaarige seine Lippen auf ihren Nacken drückte. So sanft, als wäre es nur ein Luftzug. Er triezte sie schon wieder. „Hast du Schmerzen?“, flüsterte er fragend und die Blondine schüttelte leicht den Kopf. „Nicht mehr“, antwortete sie ehrlich, spürte gleich darauf seinen Oberkörper, der sich näher an ihren Rücken presste. „…Gut“, raunte er. Seine Stimme war dunkel. Ihre gelbgrünen Augen weiteten sich, als sie begriff. „W-was…jetzt? Hier?“ Das letzte Wort war eine Oktave höher. „Warum nicht?“ Seine linke Hand umschloss ihre Hüfte, glitt sachte nach vorne und ehe Carina realisierte, dass das hier gerade wirklich passierte, griff er ihr von vorne zwischen die Beine. Ein erschrockenes Japsen rollte über ihre Lippen. Obwohl der Stoff ihres Kleides, der Strumpfhose und der Unterwäsche dazwischen lag, fühlte sie augenblicklich dieselbe Erregung, die sie auch schon am gestrigen Abend gespürt hatte. „Dabei…dabei hat es heute Morgen doch noch so geziept. Und jetzt…“ Sie stöhnte, klammerte ihre linke Hand an seinem Ellbogen fest und die rechte an die Kante des Schreibtisches. War das normal? Sie hatten doch gestern erst das Bett miteinander geteilt. Doch Carina konnte nicht leugnen, dass die Vorstellung ihr gefiel ihn noch einmal so nahe bei sich zu haben. [...] Sie konnte nur noch seine schnellen Atemzüge hören. Auch ihr eigener Atem ging schnell, ihr Herz pochte schnell gegen ihre Brust und nur ganz langsam erwachte sie aus einer Art Rausch. Hatten…hatten sie es gerade tatsächlich auf dem Schreibtisch des Direktors des Weston Colleges getrieben? Ein ungläubiges, aber dafür amüsiertes Lachen entfuhr ihren Lippen. „Also, zum Lachen wollte ich dich hiermit eigentlich nicht bringen“, ertönte es über ihr, doch auch in seiner Stimme konnte sie Amüsement hören. Der Undertaker grinste zwar, ärgerte sich innerlich allerdings ein bisschen darüber, dass die junge Shinigami immer noch nicht gekommen war. Doch ihre nächste Frage riss ihn aus seinen Gedanken. „Hat…hat es dir gefallen?“, murmelte sie und schaute ihn unsicher von unten an. Ein lautes Giggeln entfloh seinem Mund. „Hehe…Was glaubst du wohl?~“, raunte er und ehe sie sich versah, hatte er sich bereits aus ihr zurückgezogen und knöpfte seine Hose wieder zu. Seine Haare waren ein wenig zerzaust, doch mit ein paar schnellen Handgriffen strich er sich die silbernen Strähnen wieder glatt. Carina schob währenddessen den Saum ihres Kleides nach unten und hob ihren Slip vom Boden auf, um ihn sich hastig wieder anzuziehen. Die Strumpfhose hingegen war nicht mehr zu retten. Für einen kurzen Moment herrschte Schweigen, doch dann lächelte der ehemalige Seelensammler ihr breit entgegen. „Soooo, ich fürchte ich habe noch einige Dinge zu erledigen. Wir sehen uns heute Abend, Carina“, flötete er und Angesprochene blinzelte ihn irritiert an. „Äh…ja“, fiel ihr im ersten Moment vor lauter Überraschung nichts anderes ein und keine 10 Sekunden später war der Aushilfsdirektor bereits durch die Tür verschwunden. Die Blondine stand ein wenig verloren in der Mitte des Raumes, immer noch gegen die Rückseite des Schreibtisches gelehnt. Was zur Hölle… „Wir haben gerade miteinander geschlafen und jetzt… jetzt geht er einfach?“ Irgendwo tief in ihrem Bauch spürte sie einen unangenehmen Stich, der irgendwie nicht mehr weg gehen wollte. Hatte…hatte sie etwas falsch gemacht? Gestern war er ihr doch so viel näher gewesen. Plötzlich kam ihr die Erkenntnis, dass er sie heute nicht einmal auf den Mund geküsst hatte. Es war, als würde eine unsichtbare Blase um sie herum mit einer Nadel durchstochen und wie ein Luftballon platzen. Und ganz plötzlich stellte sie sich die unangenehme Frage, was das Ganze hier für ihn war. Ein Spiel? Kapitel 39: Streitlust ---------------------- Es war doch immer das Gleiche. In genau den Momenten, wo es darauf ankommt etwas zu sagen, etwas Bedeutendes zu sagen, fielen einem nie die richtigen Worte ein. Nein, diese kamen erst viel viel später und dann ärgerte man sich maßlos darüber, fragte sich innerlich: „Warum zum Teufel ist mir das in der Situation nicht eingefallen? Warum verdammt noch mal habe ich das nicht gesagt?“ Doch dann war es zu spät, man konnte den Moment nicht zurückholen, um es besser zu machen. Carina hasste sich. Anders konnte man es wirklich nicht ausdrücken. „Soooo, ich fürchte ich habe noch einige Dinge zu erledigen. Wir sehen uns heute Abend, Carina.“ „Äh…ja.“ Äh ja? ÄH JA? Wie dämlich war sie bitteschön? Ganz ehrlich, sonst hatte sie immer so eine große Klappe und alles, was sie in diesem Moment hervorgebracht hatte waren zwei Wörter mit jeweils zwei Buchstaben und vollkommen sinnlosem Inhalt? Sie hasste sich dafür. Und noch mehr als über sich selbst ärgerte sie das Verhalten des Bestatters. Was glaubte er eigentlich wer er war? Erst legte er sie auf dem verfluchten Schreibtisch flach und dann ging er eine Minute später einfach, als sei nichts gewesen. Nicht, dass es ihr nicht gefallen hätte. Ganz im Gegenteil sogar. Aber auf eine merkwürdige Art und Weise fühlte sie sich schmutzig. Und benutzt. Vielleicht sollte sie ihn darauf ansprechen, wenn er zurückkam. Doch was sollte sie sagen? Sein Benehmen bestätigte doch nur ihre Annahme, dass er nicht das Gleiche für sie empfand wie sie für ihn. Obwohl sie es sich schon beinahe gedacht hatte, traf Carina dieser Gedanke mehr als sie gedacht hatte. Es fühlte sich wie eine kalte Hand um ihr Herz an, die einfach nicht ihren Griff lockern wollte. „Ich bin so ein Idiot. 18 Jahre lang ging alles gut und jetzt stecke ich in dem Schlamassel. Warum muss ich mich auch ausgerechnet in den beklopptesten Sonderling unter der Sonne verlieben?“ Frustriert stieg sie zum zweiten Mal am heutigen Tage aus der Badewanne, war der Akt von vorhin immerhin nicht spurlos an ihr vorbeigegangen. Während sie sich abtrocknete konnte sie bereits spüren, dass sie wund zwischen den Schenkeln war, denn bei jeder Bewegung brannte es unangenehm in ihrem Schritt. „Du bist selbst schuld. Hättest ja nicht wieder die Beine für ihn breit machen müssen“, flüsterte eine leise Stimme in ihrem Hinterkopf. Carina hätte gerne widersprochen, wusste aber, dass diese nervige, kleine Stimme durchaus Recht hatte. Wie hatte sie auch nur eine Sekunde lang glauben können, dass das hier für den Undertaker etwas anderes war, als ein Spiel? Er war mit hoher Wahrscheinlichkeit schon uralt, war noch dazu ein Deserteur und führte Experimente an Leichen und deren Cinematic Records durch. Der Silberhaarige hatte sicherlich ganz andere Dinge als eine ernsthafte Beziehung im Sinn. „Und ich Trottel hab mich drauf eingelassen.“ Doch die Blondine wusste nicht, wie sie jetzt damit umgehen sollte. Ihr Körper sehnte sich trotz allem nach ihm. Der Abend kam schneller als erwartet. Doch in den wenigen Stunden hatte sich bei Carina eine eiskalte Wut angesammelt. Sie war so zornig wie schon lange nicht mehr, dabei hätte sie am vorherigen Tag vor lauter Wut beinahe einen Jungen vom Balkon in den Tod stürzen lassen. Mittlerweile war sie sogar gar nicht mehr sauer auf sich selbst, nein, ihre Wut richtete sich allein und ausschließlich auf den Totengräber. Nicht einmal der Schokoladenkuchen, der vor ihr auf dem Teller lag und den sie vor einer Stunde aus der Schulküche stibitzt hatte, konnte ihr Gemüt beruhigen. Und es war schon das dritte Stück. Wütend stieß sie ihre kleine Kuchengabel hinein und stopfte sich ein weiteres Stück in den Mund. Normalerweise half Schokolade doch immer… „Da scheint ja jemand Hunger zu haben~“, ertönte es von der Tür aus und der Shinigami trat mit seinem üblich breiten Grinsen in die Küche. Carinas Kiefer verhärtete sich, als sie mit den Zähnen fest auf die Gabel biss. Ihre Laune sank gerade in Richtung Nullpunkt, doch der Bestatter hingegen schien in blendender Stimmung zu sein. Und erneut fragte sich Carina, was er machte, wenn er gerade nicht in der Wohnung war. Mit einer fließenden Bewegung setzte er sich auf den Stuhl, der gegenüber von ihr stand und streckte seine Hand nach ihrem Kuchen aus. Ihre Reaktion erfolgte unmittelbar. „Aua“, machte er beleidigt und rieb sich über die schmerzende Stelle auf seiner Hand, auf die Carinas Gabel geschnellt war. „Besorg dir gefälligst dein eigenes Stück“, knurrte sie und steckte sich den Rest vorsichtshalber direkt komplett in den Mund. Während sie kaute konnte sie sehen, wie sich seine hellen Augenbrauen kurz zusammenzogen. Anscheinend war der feine Herr verwirrt über ihren Gemütszustand. Sonst war er doch immer so neunmalklug, warum dann nicht jetzt auch? „Du hast deine Death Scythe immer noch nicht gefunden, hmm?“, meinte er ruhig und ausnahmsweise einmal nicht belustigt. Dachte er wirklich, dass sie deswegen so mies drauf war? Carina breitete die Arme zu beiden Seiten aus und schaute einmal spielerisch von links nach rechts. „Siehst du sie hier vielleicht irgendwo?“, entgegnete sie bissig, ihre Stimme triefnass vor Sarkasmus. Jetzt erschien doch ein belustigtes Grinsen auf seinen Lippen. „Warum so zickig?“, fragte er, sich wohl bewusst, dass er die 18-Jährige damit vermutlich noch mehr in Rage versetzen würde. Der Stuhl schrabbte leicht über den Boden, als die Schnitterin sich erhob, ihren leeren Teller in die Hand nahm und ihm einen bösen Blick schenkte. „Ich bin nicht zickig“, murrte sie und ging zur Spüle, wo sie das Geschirr so heftig abstellte, dass ein lautes Klirren im Raum widerhallte. Obwohl sie ihn nicht sehen konnte, konnte sie seinen bohrenden Blick in ihrem Rücken spüren. Dem Rücken, indem er vor wenigen Stunden noch seine Zähne versenkt hatte. „Reiß dich zusammen“, ermahnte sie sich gedanklich. Solche Gedanken konnte sie gerade wirklich nicht gebrauchen. Mit schnellen Handgriffen wusch sie den Teller und die Gabel, trocknete das Porzellan ab und verstaute es anschließend wieder an seinem angestammten Platz. In den ganzen 3 Minuten hörte sie hinter sich keinen Mucks und die Blondine hatte auch nicht die geringste Lust nachzusehen, was der Bestatter jetzt schon wieder für einen Unsinn ausheckte. Immer noch fielen ihr nicht die richtigen Worte ein, die sie zu ihm sagen könnte. Mit einem fast lautlosen Seufzen drehte sie sich schließlich zur Tür, um ins Badezimmer zu gehen und sich umzuziehen. Immerhin war es ein recht ereignisreicher Tag gewesen und sie war hundemüde. „Ja, ereignisreich trifft es wohl recht gut…“ Doch als sie sich komplett herumgedreht hatte, erlitt sie beinahe einen mittelschweren Herzinfarkt, denn der Undertaker stand nun genau vor ihr und starrte sie lediglich wortlos an. Zwischen ihre beiden Körper würde nicht mal mehr ein kleines Geodreieck passen. Sie hasste es, wenn er das machte. Ihre Augenbrauen verzogen sich missmutig. Wollte er sie einschüchtern? Oder vielleicht weiter provozieren? Beides würde wunderbar zu ihm passen. Doch nicht mit ihr. „Was ist?“, fragte sie unfreundlicher, als sie ursprünglich gewollt hatte, doch ihre Geduld für den heutigen Tag war längst aufgebraucht. „Ich bin ziemlich stark, das mag stimmen, aber Gedanken lesen kann ich noch nicht, Carina. Wenn du also wütend auf mich bist, dann musst du mir sagen wieso.“ Carina schürzte die Lippen. Ihr Herz wollte ihm sagen, was sie bedrückte, aber ihr Verstand sprach eine gänzlich andere Sprache. Wieso konnte er nicht einfach von selbst darauf kommen, womit er sie verärgert hatte? War ein wenig Einfühlungsvermögen denn zu viel verlangt? Sie schaute ihm ins Gesicht. „Das würdest du sowieso nicht verstehen“, meinte sie mit schwacher Stimme und ging an ihm vorbei. Wie sollte er auch, wenn er tatsächlich nichts für sie empfand? Eigentlich hätte sie sich denken können, dass der Silberhaarige sie nicht so einfach gehen lassen würde. Dennoch kam es für Carina überraschend, als er eine Hand auf ihre Schulter legte und sich sein Körper von hinten dicht an ihren presste. „Stell mich auf die Probe“, ertönte es wertungsfrei hinter ihr und irgendwie – unverständlicherweise und vollkommen plötzlich – brachte diese Aktion seinerseits das Fass bei ihr zum Überlaufen. Sie wusste nicht, ob es an seinem Satz lag oder vielmehr der Tatsache geschuldet war, dass er sich wie bereits einige Stunden zuvor an ihren Rücken drückte. Doch plötzlich waren die Worte, nach denen sie schon den ganzen Nachmittag gesucht hatte, da und platzten auch sogleich aus ihr heraus. „Ich bin nicht deine Hure“, brüllte sie und wandte sich mit einem Ruck wieder zu ihm um, ein wütendes Funkeln in den Augen. Der Undertaker hatte gerade einmal Zeit zu blinzeln, da fuhr sie auch schon fort. „Ich bin keine Frau, die du flachlegen kannst wann und wo es dir beliebt, um dann eine Minute später wieder zu verschwinden. Wenn du so eine möchtest, dann bitte, geh in ein Bordell. Aber ich lasse das nicht mit mir machen.“ Er blinzelte ein zweites Mal, wirkte mehr als nur verblüfft über diesen Gefühlsausbruch. Carina konnte spüren, wie ihre Wangen heiß wurden, unterdrückte die Regung jedoch so gut wie möglich. Sie hatte keinen Grund sich dafür zu schämen, was sie gesagt hatte. Immerhin war es die Wahrheit. Jedenfalls fühlte sie eine gewisse Art von Triumph, denn immer noch hatte der Shinigami keinen Ton herausgebracht. Es war das erste Mal, dass sie es tatsächlich geschafft hatte ihm die Sprache zu verschlagen. Nach einer gefühlten Ewigkeit – in Wirklichkeit handelte es sich allerdings nur um 1 Minute – bekam sie endlich eine Antwort. „Ich wollte dich nicht kränken“, sagte er mit fester Stimme. Carina schnaubte, dachte jedoch kurz über seine Worte nach. Hatte er sie wirklich gekränkt? Die Antwort kam ihr leicht über die Lippen. „Hast du aber“, erwiderte sie trotzig und verschränkte die Arme vor der Brust. Sein Blick wurde weicher. „Dann tut es mir leid“, antwortete er, woraufhin ihn die 18-Jährige irritiert anschaute. Mit einer Entschuldigung hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. Am liebsten würde sie ihn fragen, was er in ihr sah. Ob das Ganze für ihn nur ein Spiel war oder vielleicht doch etwas anderes. Aber sie traute sich nicht. Sie traute sich schlicht und ergreifend nicht. Was, wenn er wirklich nur Sex von ihr wollte? Der Gedanke erschien ihr unerträglich. „Das sollte es auch“, sagte sie, verdrängte all ihre Gedanken und ging nun doch aus der Küche, um sich im Badezimmer umzuziehen. Verdammt noch mal, sie war so ein gottverdammter Feigling. Und es ärgerte sie maßlos. Ronald würde sich jetzt sicherlich über sie lustig machen. Er hatte ihr doch bereits auf der Campania zu verstehen gegeben, dass Shinigami sich niemals von ihren Gefühlen beeinflussen lassen sollten. Vermutlich würde er sie auslachen, hätte er eine Ahnung davon, was momentan in ihrem Inneren vor sich ging. Jetzt wieder wütend auf sich selbst zog sich die Blondine ihren selbstgebastelten Schlafanzug an und stürmte ins Schlafzimmer, wo sie fast mit dem Undertaker kollidierte. Dieser stand nämlich direkt vor der Tür und starrte interessiert geradeaus. Fast so, als würde er etwas beobachten. Carina konnte sich einen dummen Kommentar nicht verkneifen. „Bist du hier festgewachsen oder warum stehst du einfach mitten im Raum herum?“ Das Grinsen auf seinem Gesicht, mit dem er sich nun zu ihr umwandte, war bereits unheilverkündend. Doch als sie das Funkeln in seinen Augen sah wusste Carina, dass ihr das, was gleich folgen sollte, nicht sonderlich gefallen würde. „Ich könnte mich irren“, sagte der Totengräber in einem Tonfall, der klar und deutlich suggerierte, dass er sich nicht irrte und das auch ganz genau wusste, „aber war hier nicht heute Morgen noch Blut auf dem Laken?“ Dieser Satz erfüllte seinen gewünschten Zweck. Carina wurde feuerrot im Gesicht und presste ihre Lippen zu einer weißen Linie zusammen. Dieser elende Mistkerl… Und natürlich musste der Bestatter noch einen draufsetzen. „Ich hätte dich gar nicht für jemanden gehalten, der direkt alle Beweise vernichtet, hehe~“, kicherte er und grinste mittlerweile so breit wie ein Honigkuchenpferd. Carina wurde wenn möglich noch röter. „Ja klar, mach dich ruhig lustig über mich“, sagte sie zornig, stampfte an ihm vorbei und legte sich beschämt auf ihre Seite des Bettes. Sie hörte das Rascheln von Kleidung und schloss daraus, dass der Undertaker sich bis auf seine Unterwäsche auszog. „Jetzt genier dich doch nicht so“, lachte er und gleich darauf senkte sich hinter ihr die Matratze hinab, als der silberhaarige Mann zu ihr ins Bett stieg. Die 18-Jährige schwieg, obwohl ihr ein kindisches „Ich geniere mich nicht“ auf den Lippen lag. Sollte der Blödmann doch von ihr denken was er wollte und sich seine blöden Sprüche dort hin stecken, wo die Sonne nicht- „W-was zum Teufel wird das, wenn es fertig ist?“ Aus heiterem Himmel hatte er von hinten seine beiden Arme um ihren Bauch geschlungen und sie an sich gezogen. „Na ja“, hauchte er gegen ihr Ohr und vergrub seine Nase in ihrem blonden Haar, „nach deiner Ansprache von vorhin dachte ich, du möchtest vielleicht ein wenig kuscheln“, grinste er, musste aber gleich darauf ächzen, als ein Ellbogen ihn hart in die Seite traf. „Ich will nicht kuscheln“, rief Carina empört und mit glühend heißem Gesicht. Sie drehte sich zu ihm um, seinen nackten Oberkörper zum allerersten Mal vollkommen ignorierend. „Du magst dich ja vielleicht für unwiderstehlich halten, aber glaub mir, ich kann mich deinen Reizen entziehen wenn ich will und muss mich dafür nicht einmal groß anstrengen.“ Die letzten acht Wörter waren gelogen, aber das musste der Shinigami ja nicht unbedingt wissen. Die gelbgrünen Augen ihres Gegenübers blitzten in der Dunkelheit auf. „War das etwa eine Herausforderung?“, fragt er schelmisch nach, woraufhin Carina ihm wieder den Rücken zuwandte. „Wenn du das als solche betrachten möchtest, bitte, dann ist es eben eine Herausforderung. Gute Nacht“, entgegnete sie genervt und schloss die Augen, um endlich schlafen zu können. Das plötzliche Schweigen des Undertakers hätte sie eigentlich stutzig machen müssen, doch sie ignorierte diese Tatsache. Was für ein folgenschwerer Fehler das gewesen war, stellte die Seelensammlerin erst am nächsten Tag fest. Dieser begann eigentlich genauso wie der Letzte. Wieder lag sie alleine im Bett, stand anschließend auf und machte sich kurz zurecht, bevor sie weiter nach ihrer Death Scythe suchte. Langsam kam sie sich schon vor wie dieser Typ in dem Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“, der in dieser ewigen Zeitschleife gefangen war und jeden Tag dasselbe erlebte. Wobei, eine Sache würde sich definitiv ändern, so viel stand bereits fest. „Nun ja, eins ist sicher, Sex kann der Gute für’s erste vergessen“, dachte Carina gereizt, war sie doch noch immer sauer auf den Silberhaarigen. Wobei sie es ihm tief, tief in ihrem Inneren noch nicht einmal wirklich verübeln konnte, dass er so von sich überzeugt war. Sicherlich hatte ihm in den vielen Jahren, die er jetzt schon auf dieser Erde wandelte, noch keine Frau widerstehen können. Wie auch? Er hatte alles, was sich eine Frau von einem Mann nur wünschen konnte. Er sah gut aus, war groß und ansehnlich gebaut, intelligent und witzig… „Nur seine Vorliebe für Experimente an Leichen, die ist ziemlich abtörnend. Aber das wird er den Frauen in seiner Vergangenheit wohl kaum auf die Nase gebunden haben.“ Nein, die waren sicherlich mit ganz anderen Dingen beschäftigt gewesen… Ihre Gedanken zogen sich durch den Tag und als sie am frühen Nachmittag die Wohnung wieder betrat, um eine Kleinigkeit zu essen und sich ein wenig frisch zu machen, plagten sie stechende Kopfschmerzen. Kein Wunder, ihr Verstand schien das Wort „Pause“ nicht im entferntesten Sinne zu kennen. Vielleicht sollte sie in einem der Schränke mal nach einem Entspannungsbad suchen, das konnte sie jetzt auf alle Fälle gut gebrauchen. Erschöpft öffnete sie die Badezimmertür und blieb gleich darauf wie bestellt und nicht abgeholt im Türrahmen stehen. Ihr Blick war entsetzt auf die Badewanne gerichtet. Was jetzt nicht unbedingt an der Badewanne selbst lag, sondern vielmehr an der Person, die dort seelenruhig drin saß. Seine silbernen Haare hatten sich mit Wasser vollgesogen und hingen zu mehr als der Hälfte im Wasser. Von seinem Gesicht und seinen Stirnfransen fielen immer wieder kleine Tropfen nach unten in das Schaumbad, das Gott sei Dank an seinem Bauchnabel begann und somit alles Wesentliche bedeckte. Dennoch, so wie er dort in der Wanne saß, übte er beinahe eine gottesähnliche Anziehungskraft auf sie aus. Seine außergewöhnlichen Augen richteten sich auf sie und sie schaute zurück. Nein, das stimmte nicht ganz. Carina glotzte. Sie glotzte und glotzte und bemerkte es bereits nach 10 Sekunden, konnte aber nicht anders als ihn weiter anzustarren. Das altbekannte Grinsen bildete sich recht zügig auf seinen Lippen, war ihr Blick doch nicht zu übersehen bzw. misszuverstehen. Sie konnte ihm also widerstehen, ja? Wem wollte sie das denn einreden? Sich selbst? Er zumindest glaubte ihr kein Wort. Dafür konnte er ihren Gesichtsausdruck viel zu gut deuten. Seine filigranen Hände legten sich um den Rand der Badewanne und in einer einzigen Bewegung erhob er sich aus der flüssigen Wärme, um anschließend lächelnd innezuhalten. Das Wasser floss nun in Strömen an seiner Hüfte hinab, rann ihm über die muskulösen Beine und hinterließ eine im Licht glitzernde Spur auf seiner Haut. Auch die Nässe in seinen Haaren strömte über seinen Rücken, sein Pony hing ihm für einen Moment schwer im Gesicht, sodass der Silberhaarige ihn zur Seite streichen musste, um die junge Frau vor sich wieder ansehen zu können. Carina starrte ihn immer noch an, doch ihr Blick verweilte lediglich eine Sekunde lang auf seinem Gesicht, bevor ihre Pupillen automatisch weiter nach unten wanderten und an einer ganz bestimmten Stelle seines Körpers hängen blieben. Seine Mundwinkel begannen zu schmerzen, so breit waren sie mittlerweile auseinander gezogen. „Gefällt dir was du siehst?“, raunte er, seine Stimme dunkel und verheißend. Sofort legte sich wieder diese possierliche Röte auf Carinas Wangen und ihre Augen schnellten wieder nach oben, als wäre ihr ganz plötzlich eingefallen was sie da gerade tat. Ihr Mund wurde schmal. Mit verengten Augen und die Stirn in Falten gelegt, drehte sie sich halb um und antwortete schnippisch: „Ja, ist ganz passabel“, bevor sie regelrecht aus dem Badezimmer hinausstürmte. Sein Bauch verkrampfte sich, als er einem seiner kleinen Lachanfälle hoffnungslos unterlag. „Das bist du selbst schuld, Carina“, giggelte er in den leeren Raum hinein und griff nach einem Badetuch. Sie hatte ihn herausgefordert. Ob sie das nun gewollt hatte oder nicht. Und er würde ihre Herausforderung annehmen. Kapitel 40: Entzug ------------------ Seine langen, roten Haare bauschten sich hinter ihm auf, während er mit großen und vor allem schnellen Schritten den Gang entlang eilte. Viele Anzugträger flüchteten sich vorsichtshalber in andere Räume, immerhin konnten sie das Klackern seiner Absätze bereits von weitem hören. Und wenn dieses Klackern so schnell auf den Boden trommelte wie ein Maschinengewehr auf dem Kriegsfeld, dann konnte das nichts Gutes bedeuten. Auch William, der – wie immer zu dieser Tageszeit – vorbildlich hinter seinem Schreibtisch saß und mehrere Akten gleichzeitig bearbeitete, blieben diese Warnsignale nicht verborgen. Doch bevor der schwarzhaarige Shinigami sich auch nur von seinem Schreibtischstuhl erheben konnte, wurde die Tür zu seinem Büro – natürlich ohne vorheriges Anklopfen – aufgerissen und Grell platzte herein. „Sutcliff“, begann er in seiner üblichen tadelnden Manier, führte seinen Satz allerdings nicht weiter, als er dem Rotschopf ins Gesicht sah. Er hatte schon viele Gesichtsausdrücke an ihm gesehen, von Verliebtheit, Freude, Lust, Verlegenheit bis hin zu Enttäuschung und Theatralik war alles dabei gewesen. Doch noch nie hatte er Grell so wütend erlebt. „Was soll das, William?“, fauchte er und Angesprochener wusste sofort, wovon sein ehemaliger Klassenkamerad da sprach. „Ich kann verstehen, dass Sie der Tatsache nicht ins Auge schauen wollen, Sutcliff, aber-“, „Von wegen ins Auge sehen“, unterbrach ihn der Seelensammler zornig und haute nun mit beiden Fäusten auf seinen Schreibtisch. „Wie konntest du nur? Wie konntest du einfach so die Suche nach ihr einstellen?“ Williams linke Augenbraue erhob sich unheilvoll in die Höhe und reflexartig drückte er sich seine Brille auf der Nase zurecht. „Ich habe die Suche nicht einfach so eingestellt. Sie ist jetzt bereits seit 22 Tagen spurlos verschwunden. Spurlos, Sutcliff. Ich habe sämtliche Männer meiner Abteilung nach ihr suchen lassen, erfolglos. Was soll ich deiner Meinung nach denn noch unternehmen?“ „Sie finden, verdammt noch mal“, brauste sein Gegenüber auf und knirschte mit seinen Haifischzähnen. William entwich ein tonloses Seufzen. Er war zwar ein Gefühlslegastheniker, aber selbst er konnte die Verzweiflung in den Augen des sonst immer so unbeschwerten Shinigamis sehen. „Grell“, begann er und benutzte seit einer halben Ewigkeit zum ersten Mal wieder den Vornamen des Rothaarigen. „Ich weiß, dass sie dir viel bedeutet hat. Sie war deine Schülerin, du hast sie trainiert und ausgebildet und ihr wart gut miteinander befreundet. Aber…vielleicht solltest du dich mit dem Gedanken auseinandersetzen, dass sie-“ „Sie ist nicht tot“, schrie Grell, grätschte seinem Schwarm nun schon zum zweiten Mal dazwischen. „Ich weigere mich zu akzeptieren, dass Carina tot sein soll. Das glaube ich einfach nicht. Und es ist mir egal, ob ich mir damit ein weiteres Disziplinarverfahren einhandle, ich werde weiter nach ihr suchen. Ich gebe nicht so leicht auf.“ Ohne auf Williams Antwort zu warten, verließ der feminine Mann das Büro genauso schnell, wie er es betreten hatte und eilte durch die Flure zurück. Nein, Carina konnte nicht tot sein. Was würde es diesem silberhaarigen Deserteur denn bringen die Blondine zuerst zu entführen, nur um sie dann einfach umzubringen? Das hätte er auch schon auf der Campania tun können. Nein, Grell war sich ziemlich sicher, dass der ehemalige Seelensammler sie aus einem ganz bestimmten Grund mitgenommen hatte. Vielleicht, um Informationen über irgendwelche internen Angelegenheiten der Londoner Abteilung herauszubekommen? Bei dem Gedanken, dass er dafür möglicherweise Gewalt anwenden würde oder schon angewandt hatte, wurde Grell furchtbar schlecht. Und nicht nur das. Sein Herz zog sich beim bloßen Gedanken daran sie nie wiederzusehen schmerzhaft zusammen. Nie wieder mit ihr zu reden, nie wieder zusammen shoppen zu gehen, nie wieder bei ihr über William zu tratschen und sich über ihn aufzuregen. Nein, das konnte und wollte er nicht akzeptieren. „Außerdem“, ging es ihm durch den Kopf, „hab ich dieser nervigen, kleinen Schwarzhaarigen versprochen Carina zu finden. Und eine sexy Lady wie ich bricht niemals ihre Versprechen.“ Carina hatte geglaubt, dass es nach der Szene im Badezimmer nicht mehr hatte schlimmer werden können. Gott, wie sehr sie sich da doch nur getäuscht hatte. Die Zuschaustellung seines nackten Körpers in der Badewanne war lediglich der Anfang gewesen. Ja, der Anfang allen Übels. Denn scheinbar hatte der Undertaker es sich in den Kopf gesetzt, sie langsam aber sicher in den Wahnsinn zu treiben. Es waren immer wieder provokative Kleinigkeiten, aber er wusste ganz genau was er da tat und das Schlimme war, dass die Seelensammlerin es nicht ignorieren konnte. Noch am Abend desselben Tages hatte der Silberhaarige sich in Minimalgeschwindigkeit vor dem Zubettgehen ausgezogen. Nein, wirklich, eine Schnecke wäre vermutlich schneller gewesen. Knopf für Knopf, Verschluss um Verschluss. Und er hatte Carina währenddessen die ganze Zeit angeschaut, mit diesem dunklen Funkeln in seinen gelbgrünen Augen. Am nächsten Tag hatte er sich nachmittags ‘aus Versehen‘ ein Glas Wasser über das weiße Hemd gekippt. Und jeder wusste, was passierte, wenn weiße und vor allem dünne Kleidung nass wurde. Die Blondine hatte unter dem durchweichten Stoff eine herrliche Aussicht auf seine Brust gehabt, allen voran auf seine Brustwarzen, die sich aufgrund der plötzlichen Kälte zusammengezogen hatten. Und als hätte das noch nicht gereicht, hatte der Bestatter es sich natürlich nicht nehmen lassen das Hemd noch an Ort und Stelle auszuziehen, unter dem Vorwand er müsse sich jetzt ein Neues anziehen. „Schlimmer kann es nicht werden“, hatte sich Carina gedacht und damit schon wieder weit danebengelegen. Denn als sie am heutigen Tage vorsichtshalber extra eine Stunde früher in die Wohnung gekommen war, um eventuellen Plänen des Totengräbers zu entgehen, war dieser bereits schon dort. Und er war nicht einfach nur dort. Er trainierte. Oh nein, nicht dieses 0815 Training, das jeder Depp mal eben locker flockig hinlegte. Er hatte sich – wie sollte es auch anders sein – sein Oberteil ausgezogen und machte Klimmzüge am oberen Türrahmen der Tür, die Flur und Schlafzimmer voneinander trennte. Was bedeutete, dass Carina seine Übungen sehen musste, egal durch welchen Eingang sie die Wohnung betreten hätte. Die Blondine blieb wie vom Schlag getroffen in der Tür stehen. Ihre Augen huschten über seinen nackten Oberkörper, dessen Brustmuskeln sich immer wieder rhythmisch unter der Haut bewegten. Ebenso wie die Muskeln seiner Oberarme, die jedes Mal stark hervortraten, wenn er seinen Körper wieder und wieder in die Höhe wuchtete. Schweiß ließ seine Brust im Licht der Nachmittagssonne glänzen. Verdammt, sie glotzte schon wieder. Carina platzte beinahe der Kragen, aber sie riss sich am Riemen. Dieser arrogante Mistkerl wollte doch nur, dass sie sich aufregte. Und das tat sie, keine Frage. Am liebsten hätte sie ihm einen Faustschlag mitten in diese attraktive Brust verpasst, aber die Shinigami wusste, dass sie ihm unterlegen war. Würde es wirklich zu einem Kampf zwischen ihnen kommen, dann würde sie den Kürzeren ziehen und darauf hatte sie wirklich so gar keine Lust. Immerhin hasste sie es zu verlieren. Keineswegs darauf bedacht leise zu sein, schmiss sie die Wohnungstür hinter sich zu und betrat den Flur nun zur Gänze. Sofort hielt der Undertaker in seinen Bewegungen inne und seine leuchtenden gelbgrünen Augen trafen auf ihre. Carina bedachte ihn lediglich mit einem genervten – und versucht desinteressiertem – Blick, bevor sie ohne ein weiteres Wort in die Küche einbog, um sich etwas Obst zum essen zu holen. Noch während sie ihre Zähne in dem süßen Fruchtfleisch eines Apfels versenkte, konnte sie das leise Kichern des Silberhaarigen im Flur hören. Der Apfel knackte gefährlich in ihrer Hand, ihre Augen verdunkelten sich. Es war genug. „Er will Krieg? Na schön, den kann er haben.“ Denn dieses Spiel konnte man auch zu zweit spielen. „Hmm…wo bleibt sie nur?“, dachte sich der Bestatter und starrte in Gedanken versunken an die Decke des Schlafzimmers. Nach seinem letzten kleinen Streich war Carina aus der Wohnung verschwunden und seitdem nicht wieder aufgetaucht. Es war später Nachmittag geworden, es war Abend geworden und nun war es schon kurz nach 11 Uhr und immer noch hatte die junge Frau kein Lebenszeichen von sich gegeben. War sie etwa mittlerweile so sauer auf ihn, dass sie es nicht mehr ertragen konnte in seiner Nähe zu sein? War er vielleicht zu weit gegangen? Doch plötzlich hörte er das Klicken der Wohnungstür und gleich darauf das sachte Quietschen, als das Holz beim Öffnen über den Boden glitt. Durch seine Kurzsichtigkeit und die Dunkelheit im Flur konnte er nur eine schwarze Silhouette sehen, die einige Schritt ging und dann im Badezimmer verschwand. „Hat sie etwa bis gerade nach ihrer Death Scythe gesucht? Ungewöhnlich.“ Na ja, die Hauptsache war doch, dass sie zurückgekommen war. Er grinste. Vielleicht konnte er sie noch ein bisschen ärgern, immerhin trug er lediglich Unterwäsche und die verdeckte natürlich nur das Nötigste. Gerade hatte er sich einen halbwegs lustigen Plan zurechtgelegt, da ging die Badezimmertür wieder auf und keine zwei Sekunden später betrat Carina das Zimmer. Jeglicher Plan in seinem Kopf verpuffte und sagte laut ’Auf Nimmerwiedersehen’, als er nun derjenige war, der die 18-Jährige anglotzte. Die junge Frau trug ein Nachthemd. Wobei…nein, das konnte man unmöglich mehr als Nachthemd bezeichnen. Es war vielmehr ein verdammtes Negligé. Dünne Spaghettiträger spannten sich über ihre Schultern, am oberen und unteren Saum war das Hemd mit weißer Spitze verziert. Es endete mittig auf ihren Oberschenkeln und war von oben bis unten komplett durchsichtig. Unter dem Gewand trug sie nichts weiter als einen Slip. Was bedeutete, dass der Bestatter alles sehen konnte, wirklich alles. Seine Augen hefteten sich auf ihre Brüste, die sich gegen den hauchdünnen Stoff wölbten. Herrgott, wieso zum Teufel hatte sie so etwas an? Mit einem Mal wurde es in seiner Hose unangenehm eng. Carina lächelte genugtuend. Es hatte sie einiges an Mut gekostet sich diesen Fummel zu besorgen und ihn dann auch wirklich anzuziehen. Doch der Blick des Undertakers entschädigte sie in jeglicher Hinsicht. Er sah sie an, als hätte er noch nie in seinem Leben eine Frau gesehen. Provokant langsam ging sie auf ihre Bettseite zu und hätte schon blind sein müssen, um nicht zu bemerken, wie seine Augen ihrem Körper Schritt für Schritt folgten. „Er ist halt auch nur ein Mann“, ging es ihr durch den Sinn, bevor sie sich auf die Kante setzte. Für einen kurzen Moment hatte er freie Sicht auf ihren Rücken, dann ließ die Blondine sich auf das Laken sinken und verschränkte beide Arme hinter ihrem Kopf. Was unweigerlich dazu führte, dass er weiterhin sehr gut auf ihren Oberkörper starren konnte. „Ich wünsche dir eine Gute Nacht“, ertönte ihre belustigt klingende Stimme und da schaltete sich das Gehirn des Totengräbers wieder ein. Seine phosphoreszierenden Iriden verdunkelten sich, als er verstand. Das hier war ihre Rache für die Spielchen, die er mit ihr getrieben hatte. Sie zahlte es ihm mit gleicher Münze zurück. Und verdammt, es funktionierte. „Möchtest du dich nicht lieber zudecken?“, fragte er versucht ruhig, sich der stetig wachsenden Erregung zwischen seinen Beinen überdeutlich bewusst. „Ach nein, es ist doch so eine warme Nacht. Ich denke, ich schlafe ohne“, antwortete sie und schloss seelenruhig ihre Augen. Der Shinigami musste schwer an sich halten, um sich nicht einfach über sie zu beugen und sich zu holen, worum sein Körper nun beinahe schmerzhaft verlangte. Doch er wusste ganz genau, dass das nicht ging. Er wollte und brauchte ihr Einverständnis. Und das würde er nicht bekommen, da war er sich ziemlich sicher. Genau deswegen hatte sie sich doch so angezogen. Um ihn anzumachen und ihm gleichzeitig vor Augen zu führen, dass sie sich ihm dennoch nicht hingeben würde. Beinahe beleidigt wandte er ihr den Rücken zu, als er sich auf seine linke Seite drehte und sie somit nicht mehr ansehen musste. Das Bild in seinem Kopf wollte dennoch nicht weichen. „Ich werde diese Nacht kein Auge zumachen…“ Und er sollte Recht behalten. Carina war innerhalb weniger Minuten eingeschlafen, das konnte er an ihren gleichmäßigen Atemzügen hören. Großartig und er lag hellwach neben ihr und dachte an Sex, den er nicht haben würde. Trotzdem, er musste zugeben, dass ihre Racheaktion ziemlich gut durchdacht gewesen war. Und das gefiel ihm. Wenn er nicht der Leidtragende in dieser Situation gewesen wäre, hätte er vermutlich gelacht und ihr zu dieser gelungenen Aktion gratuliert. Anscheinend waren sie sich doch ähnlicher, als er zu Anfang gedacht hatte. Mehrere Minuten hing er seinen eigenen Gedanken nach, während das Mondlicht seinen Stand veränderte und das Schlafzimmer nun wieder zum Teil erleuchtete. Sicherlich war es mittlerweile schon weit nach Mitternacht. Plötzlich jedoch nahm der silberhaarige Mann eine Veränderung in Carinas Atemzügen wahr. Sie gingen mit einem Mal eine Spur zu schnell und durch das plötzliche Senken des Bettes konnte er spüren, wie sie sich unruhig hinter ihm bewegte. Überrascht drehte er sich zu ihr zurück. Ihre Gesichtszüge waren leicht verzerrt, ihre Wangen schwach gerötet. Ihre Hände – inzwischen nicht mehr unter ihrem Kopf, sondern neben ihren Seiten – krallten sich in den Bettbezug. Allgemein wirkte ihr ganzer Körper recht verkrampft. Ihren Lippen entfuhr ein Stöhnen und nun war sich der Undertaker sicher, dass sie wieder einen ihrer Albträume hatte. Vorsichtig ergriff er ihre linke Schulter und rüttele sanft daran. Er war nämlich nicht sonderlich scharf darauf, dass sie ihn schon wieder mit einem Faustschlag aus dem Bett beförderte. „Carina, wach auf“, murmelte er leise und im Gegensatz zum letzten Mal wachte die Schnitterin nun beinahe sofort auf. Ihre Pupillen waren ein wenig geweitet und mit einer Mischung aus Verwirrung und Irritation schaute sie ihn an. Anscheinend dauerte es einige Sekunden bis sie wieder vollkommen in der Realität angekommen war, denn plötzlich blinzelte sie mehrere Male und dann…dann wurde sie aus heiterem Himmel feuerrot im Gesicht. Nun selbst irritiert schaute der Bestatter sie erneut aufmerksam an und erst jetzt fielen ihm zwei Dinge ins Auge. Erstens: Ihre Brustwarzen drückten sich hart gegen den weißen Stoff des Negligés. Zweitens: Sie hatte ihre Oberschenkel fest gegeneinander gepresst. Die Erkenntnis traf ihn wie einen Hammerschlag. Carina erschauderte, als sie das Lächeln sah, das sich nun auf seine Lippen legte. Es war wissend, verrucht und auch ein ganz kleines bisschen verrückt. Ihr ganzer Körper stand immer noch unter der Spannung ihres Traumes. Oh Gott, und was für ein Traum das gewesen war. Es hatte sich alles so echt angefühlt und intensiv und…und…Herr im Himmel, sie war noch nie so erregt gewesen wie in diesem Moment. Und oh scheiße, sie konnte ihm ansehen, dass er mittlerweile genau wusste, dass es sich hierbei nicht um einen Albtraum gehandelt hatte. „Na, hat dir der Traum gefallen?“, flüsterte er ihr auch schon in diesem Augenblick entgegen, beugte sich gleichzeitig ein wenig mehr über sie. Carinas Gesicht brannte vor Scham und Erregung. Ihr Gehirn suchte verzweifelt nach einer schlagfertigen Antwort, doch kein Ton verließ ihre Lippen. Er giggelte, sein Gesicht schwebte nun genau über ihrem. Dennoch achtete er genauestens darauf ihren Körper nicht zu berühren. „Na komm schon, Carina. Du musst es nur sagen.“ „I-ich…“, stammelte sie und biss sich auf die Lippe. Wunderbar, jetzt stammelte sie auch noch! „Ja~?“, fragte er und beobachtete interessiert, wie sich die Miene der 18-Jährigen langsam wandelte. „Verflucht“, stieß sie urplötzlich hervor, riss ihre Hände hoch an seine Schultern und zog ihn anschließend in einer schnellen Bewegung an sich, um ihn zu küssen. Der Kuss war hart, beinahe schon ein wenig grob und als sie sich nur eine Sekunde später schon wieder von ihm löste, konnte sie gerade noch keuchend das sagen, worauf der Mann über ihr schon die ganze Zeit wartete. „Schlaf mit mir, Cedric.“ Und er ließ sich nicht lange bitten. Seine linke Hand legte sich fest um ihren Hinterkopf und drückte sie nach oben. Er bedeckte ihre Lippen erneut mit seinen und sie erwiderte den Kuss unmittelbar. Ein Stöhnen entrang sich ihrer Kehle, als er ihr sanft in die Unterlippe biss und sich sein Körper nun endlich gegen ihren presste. Es war, als würde er all ihre Synapsen gleichzeitig überreizen. Seine rechte Hand schob sich derweilen unter den kaum vorhandenen Stoff und drückte ihn nach oben. Obwohl er mehr als nur ungeduldig war, achtete er ganz genau darauf das Kleidungsstück nicht zu zerreißen. Oh nein, wenn es nach ihm ging, würde sie das von nun an jede verdammte Nacht tragen. Carina hob automatisch die Arme und ließ sich kommentarlos von ihm ausziehen. Zum allerersten Mal waren ihr Peinlichkeiten jeglicher Art wirklich scheißegal. Erneut küsste er sie fest auf den Mund, während seine Hände ihre Brüste umschlossen und dieses Mal wirklich alles andere als sanft zudrückten. Ein erschrockener Laut glitt über ihre Lippen in seinen Mund. Es tat ein wenig weh, ja, aber irgendwie heizte sie das nur noch mehr an. Als der Undertaker sich wieder von ihr löste, schwebte sein Mund weiterhin dicht über ihrem und ein dunkles Kichern entfuhr ihm, was bei der 18-Jährigen eine Gänsehaut auslöste. „Hehe, das war ganz schön durchtrieben, was du da abgezogen hast, Carina“, raunte er und kniff ihr genau in dem Moment, als sie zu einer Antwort ansetzen wollte, in die linke Brustwarze. Sie keuchte, erneut mischte sich der pochende Schmerz mit Lust. „Hnn…du hast damit angefangen“, entgegnete sie schließlich doch noch und sah ihm in das scharfgeschnittene Gesicht. „Wir sind also quitt.“ Sein Grinsen brachte ihr Herz für eine Sekunde aus dem Takt. Manchmal wusste sie selbst nicht, ob der Silberhaarige jetzt wusste was für eine Wirkung sein Lächeln auf sie hatte oder nicht. „Von mir aus, das lasse ich gelten“, antwortete er und klemmte seine Finger nun unter die Seiten ihres Slips, um ihn ihr von den Hüften zu ziehen. Gleich darauf wanderten seine warmen Hände über ihre Oberschenkel in Richtung ihres Lustzentrums, doch bevor der Shinigami sie dort berühren konnte, ergriff Carina seine Finger mit ihren und stoppte jegliche weitere Bewegung. Überrascht schaute er hoch in ihr Gesicht. Die Schnitterin schaute ihn vollkommen außer Atem an und schüttelte dann den Kopf. „Kein Vorspiel. Ich will dich jetzt.“ Ihre Worte bewirkten, dass sich seine Erektion energisch gegen den schwarzen Stoff seiner Shorts drückte und ihm ein Zischen entfuhr. „Ganz sicher?“, murmelte er, schüttelte ihre Hände von seinen ab und umfasste mit seiner rechten Hand nun doch ihre Mitte. „Ja, verdammt“, knurrte sie ihm entgegen und drückte ihre Hüfte unbewusst nach oben gegen seine Finger. Und als er spüren konnte, wie nass, wie bereit sie tatsächlich schon für ihn war, übernahm seine Ungeduld endgültig die Kontrolle über seinen Körper. In einer schnellen, fließenden Bewegung hatte er sich sein letztes Kleidungsstück vom Becken heruntergeschoben. Es landete unbemerkt neben dem Bett auf dem Boden, während er ihren Körper mit seinem bedeckte und sich über ihr positionierte. Zum ersten Mal drang er nicht langsam, sondern schnell und mit Nachdruck in sie ein. Synchrones Stöhnen erfüllte den Raum. Kurz verspürte Carina wieder das unangenehme Gefühl der plötzlichen Dehnung, doch dieses Mal war es nicht von langer Dauer. Bereits bei seinem nächsten Stoß entspannte sich ihr Körper von ganz allein und pure Erleichterung breitete sich in ihr aus. Ihre Arme schlangen sich wie von selbst um seine Schultern, ihre Hände legten sich auf seinen Rücken und atemlos drückte sie sich enger an ihn. Die gelbgrünen Augen des Undertakers lagen behutsam auf ihrem Gesicht, suchten nach einem kleinsten Anzeichen von Unwohlsein oder Schmerz. Aber schon nach wenigen Sekunden fühlte er die Unterschiede in ihrer Körperhaltung, ihren Gesichtszügen und vor allem den Geräuschen, die ihren Mund verließen. Sein Grinsen wurde eine Spur breiter. Es gefiel ihm außerordentlich gut, wie die junge Frau sich unter ihm wand, wie sich ihre Nägel erneut in seine Schulterblätter gruben und wie ihre Hüften seinen entgegen kamen. Anscheinend war er nicht der Einzige gewesen, der dringend etwas Zuwendung nötig gehabt hatte. Carina biss sich erneut auf die Unterlippe, als seine Stöße einen schnellen und in erster Linie festen Rhythmus annahmen. Sicherlich würde sie morgen wieder wund sein. Doch momentan war ihr einziger Wunsch, dass endlich diese verfluchte Lust in ihrem Unterleib befriedigt werden sollte. Dass seine langen Fingernägel wie bei ihrem ersten Mal sanft über ihr Steißbein glitten und dort wieder für eine Gänsehaut sorgten, machte die Sache nicht unbedingt besser. Ungeduldig schob sie ihr rechtes Bein über seinen Hintern, um ihn noch tiefer in sich spüren zu können. Ihr linkes Bein hing irgendwo an der Kniekehle seines rechten Oberschenkels. Er stöhnte, ließ sich ein wenig mehr auf ihren Körper sinken und legte seinen Mund über ihre heftig pochende Halsschlagader. „Wenn du mich wahnsinnig machen willst, dann mach nur weiter so“, murmelte er und jetzt konnte Carina nicht anders. Sie grinste. „Noch wahnsinniger?“, keuchte sie und drückte dem Silberhaarigen einen Kuss auf die Stelle zwischen Schlüsselbein und Halsbeuge. Ein erschrockenes Japsen entfuhr ihr, als der Bestatter sie plötzlich zum zweiten Mal in dieser Nacht in eine ihrer empfindlichen Brustwarzen kniff und sich gleichzeitig ein wenig grober in sie schob. „Werd bloß nicht frech~“, grinste er zurück und strich nun sanft über die leicht gerötete Knospe. Carina verkniff sich einen schlagfertigen Kommentar, was aber wohl auch daran lag, dass sein Glied in immer kürzeren Abständen in sie eindrang und ihr ganzer Körper mittlerweile unter Hochspannung stand. Der Druck nahm zu, wurde langsam aber sicher wirklich unangenehm stark. „Hmm, Cedric“, ächzte sie und konnte sogleich fühlen, wie sich sein Mund an ihr Ohr legte. „Lass einfach los, Carina“, wisperte er und die raue, dunkle Tonlage seiner Stimme gab ihr den Rest. Weiße Sterne explodierten vor ihren Augen, als sie die Seelenspiegel fest zusammenpresste und einfach losließ. Ihr ganzer Körper spannte sich an, Wärme drang durch jede einzelne Pore und für mehrere Sekunden existierte die Außenwelt gar nicht mehr. Sie gab sich ganz dem Gefühl in ihrem Inneren hin, ihrem furchtbar schnellen Herzschlag und den rhythmischen Zuckungen zwischen ihren Oberschenkeln. Nur ganz nebenbei bekam sie mit, wie der Undertaker sich über ihr ebenfalls verspannte, noch zweimal tief in sie eindrang und dann ebenfalls in ihr kam. Nun ebenfalls völlig außer Atem stützte er sich mit beiden Armen neben ihrem Kopf ab und schaute in ihr gerötetes, erschöpftes Gesicht. Sanft strich er ihre eine der hellen Haarsträhnen aus der verschwitzten Stirn, woraufhin Carina ihre Augen wieder öffnete. Ein müdes Lächeln lag auf ihren Lippen. „Das war schön“, murmelte sie leise und ihr Gegenüber erwiderte das Lächeln. „Das war es“, entgegnete er und zog sich sanft aus ihr zurück, um sich anschließend auf seinen Rücken sinken zu lassen. Einige Sekunden herrschte Schweigen, dann erklang Carinas Stimme erneut. „Cedric?“, fragte sie, hörte sich jetzt irgendwie merkwürdig kleinlaut an. „Hmm?“, gab er zurück und drehte seinen Kopf leicht nach rechts, um in ihr Gesicht blicken zu können. Die Blondine wich seinem Blick zuerst aus, nur, um dann doch wieder zu ihm zu gucken. Schließlich flüsterte sie sehr leise und mit errötenden Wangen: „Jetzt möchte ich vielleicht ein wenig kuscheln.“ Er blinzelte einmal, bevor er ein kaum hörbares Lachen ausstieß. „Dann komm her“, meinte er und legte einen Arm um ihre Schultern, als die 18-Jährige näher zu ihm rutschte und unsicher ihren Kopf auf seiner Brust ablegte. Mit seiner anderen Hand angelte er nach der Decke und zog sie sich – und somit auch seiner Bettpartnerin – bis zur Hüfte hoch. Carina legte ihre rechte Hand neben ihren Kopf auf seine Brust und schloss zufrieden die Augen. Sachte zog sie seinen Duft ein und spürte die Wärme seines Körpers dicht an ihrem. Es fühlte sich gut an, ihm so nahe zu sein. Und sie war so unglaublich müde. Während sie langsam wieder in den Schlaf glitt konnte sie fühlen, wie er mit seiner rechten Hand immer wieder sanfte Kreise auf ihre nackte Schulter malte. Noch im Halbschlaf wurde ihr Lächeln breiter. Daran könnte sie sich definitiv gewöhnen. Kapitel 41: Entzug *zensiert* ----------------------------- Seine langen, roten Haare bauschten sich hinter ihm auf, während er mit großen und vor allem schnellen Schritten den Gang entlang eilte. Viele Anzugträger flüchteten sich vorsichtshalber in andere Räume, immerhin konnten sie das Klackern seiner Absätze bereits von weitem hören. Und wenn dieses Klackern so schnell auf den Boden trommelte wie ein Maschinengewehr auf dem Kriegsfeld, dann konnte das nichts Gutes bedeuten. Auch William, der – wie immer zu dieser Tageszeit – vorbildlich hinter seinem Schreibtisch saß und mehrere Akten gleichzeitig bearbeitete, blieben diese Warnsignale nicht verborgen. Doch bevor der schwarzhaarige Shinigami sich auch nur von seinem Schreibtischstuhl erheben konnte, wurde die Tür zu seinem Büro – natürlich ohne vorheriges Anklopfen – aufgerissen und Grell platzte herein. „Sutcliff“, begann er in seiner üblichen tadelnden Manier, führte seinen Satz allerdings nicht weiter, als er dem Rotschopf ins Gesicht sah. Er hatte schon viele Gesichtsausdrücke an ihm gesehen, von Verliebtheit, Freude, Lust, Verlegenheit bis hin zu Enttäuschung und Theatralik war alles dabei gewesen. Doch noch nie hatte er Grell so wütend erlebt. „Was soll das, William?“, fauchte er und Angesprochener wusste sofort, wovon sein ehemaliger Klassenkamerad da sprach. „Ich kann verstehen, dass Sie der Tatsache nicht ins Auge schauen wollen, Sutcliff, aber-“, „Von wegen ins Auge sehen“, unterbrach ihn der Seelensammler zornig und haute nun mit beiden Fäusten auf seinen Schreibtisch. „Wie konntest du nur? Wie konntest du einfach so die Suche nach ihr einstellen?“ Williams linke Augenbraue erhob sich unheilvoll in die Höhe und reflexartig drückte er sich seine Brille auf der Nase zurecht. „Ich habe die Suche nicht einfach so eingestellt. Sie ist jetzt bereits seit 22 Tagen spurlos verschwunden. Spurlos, Sutcliff. Ich habe sämtliche Männer meiner Abteilung nach ihr suchen lassen, erfolglos. Was soll ich deiner Meinung nach denn noch unternehmen?“ „Sie finden, verdammt noch mal“, brauste sein Gegenüber auf und knirschte mit seinen Haifischzähnen. William entwich ein tonloses Seufzen. Er war zwar ein Gefühlslegastheniker, aber selbst er konnte die Verzweiflung in den Augen des sonst immer so unbeschwerten Shinigamis sehen. „Grell“, begann er und benutzte seit einer halben Ewigkeit zum ersten Mal wieder den Vornamen des Rothaarigen. „Ich weiß, dass sie dir viel bedeutet hat. Sie war deine Schülerin, du hast sie trainiert und ausgebildet und ihr wart gut miteinander befreundet. Aber…vielleicht solltest du dich mit dem Gedanken auseinandersetzen, dass sie-“ „Sie ist nicht tot“, schrie Grell, grätschte seinem Schwarm nun schon zum zweiten Mal dazwischen. „Ich weigere mich zu akzeptieren, dass Carina tot sein soll. Das glaube ich einfach nicht. Und es ist mir egal, ob ich mir damit ein weiteres Disziplinarverfahren einhandle, ich werde weiter nach ihr suchen. Ich gebe nicht so leicht auf.“ Ohne auf Williams Antwort zu warten, verließ der feminine Mann das Büro genauso schnell, wie er es betreten hatte und eilte durch die Flure zurück. Nein, Carina konnte nicht tot sein. Was würde es diesem silberhaarigen Deserteur denn bringen die Blondine zuerst zu entführen, nur um sie dann einfach umzubringen? Das hätte er auch schon auf der Campania tun können. Nein, Grell war sich ziemlich sicher, dass der ehemalige Seelensammler sie aus einem ganz bestimmten Grund mitgenommen hatte. Vielleicht, um Informationen über irgendwelche internen Angelegenheiten der Londoner Abteilung herauszubekommen? Bei dem Gedanken, dass er dafür möglicherweise Gewalt anwenden würde oder schon angewandt hatte, wurde Grell furchtbar schlecht. Und nicht nur das. Sein Herz zog sich beim bloßen Gedanken daran sie nie wiederzusehen schmerzhaft zusammen. Nie wieder mit ihr zu reden, nie wieder zusammen shoppen zu gehen, nie wieder bei ihr über William zu tratschen und sich über ihn aufzuregen. Nein, das konnte und wollte er nicht akzeptieren. „Außerdem“, ging es ihm durch den Kopf, „hab ich dieser nervigen, kleinen Schwarzhaarigen versprochen Carina zu finden. Und eine sexy Lady wie ich bricht niemals ihre Versprechen.“ Carina hatte geglaubt, dass es nach der Szene im Badezimmer nicht mehr hatte schlimmer werden können. Gott, wie sehr sie sich da doch nur getäuscht hatte. Die Zuschaustellung seines nackten Körpers in der Badewanne war lediglich der Anfang gewesen. Ja, der Anfang allen Übels. Denn scheinbar hatte der Undertaker es sich in den Kopf gesetzt, sie langsam aber sicher in den Wahnsinn zu treiben. Es waren immer wieder provokative Kleinigkeiten, aber er wusste ganz genau was er da tat und das Schlimme war, dass die Seelensammlerin es nicht ignorieren konnte. Noch am Abend desselben Tages hatte der Silberhaarige sich in Minimalgeschwindigkeit vor dem Zubettgehen ausgezogen. Nein, wirklich, eine Schnecke wäre vermutlich schneller gewesen. Knopf für Knopf, Verschluss um Verschluss. Und er hatte Carina währenddessen die ganze Zeit angeschaut, mit diesem dunklen Funkeln in seinen gelbgrünen Augen. Am nächsten Tag hatte er sich nachmittags ‘aus Versehen‘ ein Glas Wasser über das weiße Hemd gekippt. Und jeder wusste, was passierte, wenn weiße und vor allem dünne Kleidung nass wurde. Die Blondine hatte unter dem durchweichten Stoff eine herrliche Aussicht auf seine Brust gehabt, allen voran auf seine Brustwarzen, die sich aufgrund der plötzlichen Kälte zusammengezogen hatten. Und als hätte das noch nicht gereicht, hatte der Bestatter es sich natürlich nicht nehmen lassen das Hemd noch an Ort und Stelle auszuziehen, unter dem Vorwand er müsse sich jetzt ein Neues anziehen. „Schlimmer kann es nicht werden“, hatte sich Carina gedacht und damit schon wieder weit danebengelegen. Denn als sie am heutigen Tage vorsichtshalber extra eine Stunde früher in die Wohnung gekommen war, um eventuellen Plänen des Totengräbers zu entgehen, war dieser bereits schon dort. Und er war nicht einfach nur dort. Er trainierte. Oh nein, nicht dieses 0815 Training, das jeder Depp mal eben locker flockig hinlegte. Er hatte sich – wie sollte es auch anders sein – sein Oberteil ausgezogen und machte Klimmzüge am oberen Türrahmen der Tür, die Flur und Schlafzimmer voneinander trennte. Was bedeutete, dass Carina seine Übungen sehen musste, egal durch welchen Eingang sie die Wohnung betreten hätte. Die Blondine blieb wie vom Schlag getroffen in der Tür stehen. Ihre Augen huschten über seinen nackten Oberkörper, dessen Brustmuskeln sich immer wieder rhythmisch unter der Haut bewegten. Ebenso wie die Muskeln seiner Oberarme, die jedes Mal stark hervortraten, wenn er seinen Körper wieder und wieder in die Höhe wuchtete. Schweiß ließ seine Brust im Licht der Nachmittagssonne glänzen. Verdammt, sie glotzte schon wieder. Carina platzte beinahe der Kragen, aber sie riss sich am Riemen. Dieser arrogante Mistkerl wollte doch nur, dass sie sich aufregte. Und das tat sie, keine Frage. Am liebsten hätte sie ihm einen Faustschlag mitten in diese attraktive Brust verpasst, aber die Shinigami wusste, dass sie ihm unterlegen war. Würde es wirklich zu einem Kampf zwischen ihnen kommen, dann würde sie den Kürzeren ziehen und darauf hatte sie wirklich so gar keine Lust. Immerhin hasste sie es zu verlieren. Keineswegs darauf bedacht leise zu sein, schmiss sie die Wohnungstür hinter sich zu und betrat den Flur nun zur Gänze. Sofort hielt der Undertaker in seinen Bewegungen inne und seine leuchtenden gelbgrünen Augen trafen auf ihre. Carina bedachte ihn lediglich mit einem genervten – und versucht desinteressiertem – Blick, bevor sie ohne ein weiteres Wort in die Küche einbog, um sich etwas Obst zum essen zu holen. Noch während sie ihre Zähne in dem süßen Fruchtfleisch eines Apfels versenkte, konnte sie das leise Kichern des Silberhaarigen im Flur hören. Der Apfel knackte gefährlich in ihrer Hand, ihre Augen verdunkelten sich. Es war genug. „Er will Krieg? Na schön, den kann er haben.“ Denn dieses Spiel konnte man auch zu zweit spielen. „Hmm…wo bleibt sie nur?“, dachte sich der Bestatter und starrte in Gedanken versunken an die Decke des Schlafzimmers. Nach seinem letzten kleinen Streich war Carina aus der Wohnung verschwunden und seitdem nicht wieder aufgetaucht. Es war später Nachmittag geworden, es war Abend geworden und nun war es schon kurz nach 11 Uhr und immer noch hatte die junge Frau kein Lebenszeichen von sich gegeben. War sie etwa mittlerweile so sauer auf ihn, dass sie es nicht mehr ertragen konnte in seiner Nähe zu sein? War er vielleicht zu weit gegangen? Doch plötzlich hörte er das Klicken der Wohnungstür und gleich darauf das sachte Quietschen, als das Holz beim Öffnen über den Boden glitt. Durch seine Kurzsichtigkeit und die Dunkelheit im Flur konnte er nur eine schwarze Silhouette sehen, die einige Schritt ging und dann im Badezimmer verschwand. „Hat sie etwa bis gerade nach ihrer Death Scythe gesucht? Ungewöhnlich.“ Na ja, die Hauptsache war doch, dass sie zurückgekommen war. Er grinste. Vielleicht konnte er sie noch ein bisschen ärgern, immerhin trug er lediglich Unterwäsche und die verdeckte natürlich nur das Nötigste. Gerade hatte er sich einen halbwegs lustigen Plan zurechtgelegt, da ging die Badezimmertür wieder auf und keine zwei Sekunden später betrat Carina das Zimmer. Jeglicher Plan in seinem Kopf verpuffte und sagte laut ’Auf Nimmerwiedersehen’, als er nun derjenige war, der die 18-Jährige anglotzte. Die junge Frau trug ein Nachthemd. Wobei…nein, das konnte man unmöglich mehr als Nachthemd bezeichnen. Es war vielmehr ein verdammtes Negligé. Dünne Spaghettiträger spannten sich über ihre Schultern, am oberen und unteren Saum war das Hemd mit weißer Spitze verziert. Es endete mittig auf ihren Oberschenkeln und war von oben bis unten komplett durchsichtig. Unter dem Gewand trug sie nichts weiter als einen Slip. Was bedeutete, dass der Bestatter alles sehen konnte, wirklich alles. Seine Augen hefteten sich auf ihre Brüste, die sich gegen den hauchdünnen Stoff wölbten. Herrgott, wieso zum Teufel hatte sie so etwas an? Mit einem Mal wurde es in seiner Hose unangenehm eng. Carina lächelte genugtuend. Es hatte sie einiges an Mut gekostet sich diesen Fummel zu besorgen und ihn dann auch wirklich anzuziehen. Doch der Blick des Undertakers entschädigte sie in jeglicher Hinsicht. Er sah sie an, als hätte er noch nie in seinem Leben eine Frau gesehen. Provokant langsam ging sie auf ihre Bettseite zu und hätte schon blind sein müssen, um nicht zu bemerken, wie seine Augen ihrem Körper Schritt für Schritt folgten. „Er ist halt auch nur ein Mann“, ging es ihr durch den Sinn, bevor sie sich auf die Kante setzte. Für einen kurzen Moment hatte er freie Sicht auf ihren Rücken, dann ließ die Blondine sich auf das Laken sinken und verschränkte beide Arme hinter ihrem Kopf. Was unweigerlich dazu führte, dass er weiterhin sehr gut auf ihren Oberkörper starren konnte. „Ich wünsche dir eine Gute Nacht“, ertönte ihre belustigt klingende Stimme und da schaltete sich das Gehirn des Totengräbers wieder ein. Seine phosphoreszierenden Iriden verdunkelten sich, als er verstand. Das hier war ihre Rache für die Spielchen, die er mit ihr getrieben hatte. Sie zahlte es ihm mit gleicher Münze zurück. Und verdammt, es funktionierte. „Möchtest du dich nicht lieber zudecken?“, fragte er versucht ruhig, sich der stetig wachsenden Erregung zwischen seinen Beinen überdeutlich bewusst. „Ach nein, es ist doch so eine warme Nacht. Ich denke, ich schlafe ohne“, antwortete sie und schloss seelenruhig ihre Augen. Der Shinigami musste schwer an sich halten, um sich nicht einfach über sie zu beugen und sich zu holen, worum sein Körper nun beinahe schmerzhaft verlangte. Doch er wusste ganz genau, dass das nicht ging. Er wollte und brauchte ihr Einverständnis. Und das würde er nicht bekommen, da war er sich ziemlich sicher. Genau deswegen hatte sie sich doch so angezogen. Um ihn anzumachen und ihm gleichzeitig vor Augen zu führen, dass sie sich ihm dennoch nicht hingeben würde. Beinahe beleidigt wandte er ihr den Rücken zu, als er sich auf seine linke Seite drehte und sie somit nicht mehr ansehen musste. Das Bild in seinem Kopf wollte dennoch nicht weichen. „Ich werde diese Nacht kein Auge zumachen…“ Und er sollte Recht behalten. Carina war innerhalb weniger Minuten eingeschlafen, das konnte er an ihren gleichmäßigen Atemzügen hören. Großartig und er lag hellwach neben ihr und dachte an Sex, den er nicht haben würde. Trotzdem, er musste zugeben, dass ihre Racheaktion ziemlich gut durchdacht gewesen war. Und das gefiel ihm. Wenn er nicht der Leidtragende in dieser Situation gewesen wäre, hätte er vermutlich gelacht und ihr zu dieser gelungenen Aktion gratuliert. Anscheinend waren sie sich doch ähnlicher, als er zu Anfang gedacht hatte. Mehrere Minuten hing er seinen eigenen Gedanken nach, während das Mondlicht seinen Stand veränderte und das Schlafzimmer nun wieder zum Teil erleuchtete. Sicherlich war es mittlerweile schon weit nach Mitternacht. Plötzlich jedoch nahm der silberhaarige Mann eine Veränderung in Carinas Atemzügen wahr. Sie gingen mit einem Mal eine Spur zu schnell und durch das plötzliche Senken des Bettes konnte er spüren, wie sie sich unruhig hinter ihm bewegte. Überrascht drehte er sich zu ihr zurück. Ihre Gesichtszüge waren leicht verzerrt, ihre Wangen schwach gerötet. Ihre Hände – inzwischen nicht mehr unter ihrem Kopf, sondern neben ihren Seiten – krallten sich in den Bettbezug. Allgemein wirkte ihr ganzer Körper recht verkrampft. Ihren Lippen entfuhr ein Stöhnen und nun war sich der Undertaker sicher, dass sie wieder einen ihrer Albträume hatte. Vorsichtig ergriff er ihre linke Schulter und rüttele sanft daran. Er war nämlich nicht sonderlich scharf darauf, dass sie ihn schon wieder mit einem Faustschlag aus dem Bett beförderte. „Carina, wach auf“, murmelte er leise und im Gegensatz zum letzten Mal wachte die Schnitterin nun beinahe sofort auf. Ihre Pupillen waren ein wenig geweitet und mit einer Mischung aus Verwirrung und Irritation schaute sie ihn an. Anscheinend dauerte es einige Sekunden bis sie wieder vollkommen in der Realität angekommen war, denn plötzlich blinzelte sie mehrere Male und dann…dann wurde sie aus heiterem Himmel feuerrot im Gesicht. Nun selbst irritiert schaute der Bestatter sie erneut aufmerksam an und erst jetzt fielen ihm zwei Dinge ins Auge. Erstens: Ihre Brustwarzen drückten sich hart gegen den weißen Stoff des Negligés. Zweitens: Sie hatte ihre Oberschenkel fest gegeneinander gepresst. Die Erkenntnis traf ihn wie einen Hammerschlag. Carina erschauderte, als sie das Lächeln sah, das sich nun auf seine Lippen legte. Es war wissend, verrucht und auch ein ganz kleines bisschen verrückt. Ihr ganzer Körper stand immer noch unter der Spannung ihres Traumes. Oh Gott, und was für ein Traum das gewesen war. Es hatte sich alles so echt angefühlt und intensiv und…und…Herr im Himmel, sie war noch nie so erregt gewesen wie in diesem Moment. Und oh scheiße, sie konnte ihm ansehen, dass er mittlerweile genau wusste, dass es sich hierbei nicht um einen Albtraum gehandelt hatte. „Na, hat dir der Traum gefallen?“, flüsterte er ihr auch schon in diesem Augenblick entgegen, beugte sich gleichzeitig ein wenig mehr über sie. Carinas Gesicht brannte vor Scham und Erregung. Ihr Gehirn suchte verzweifelt nach einer schlagfertigen Antwort, doch kein Ton verließ ihre Lippen. Er giggelte, sein Gesicht schwebte nun genau über ihrem. Dennoch achtete er genauestens darauf ihren Körper nicht zu berühren. „Na komm schon, Carina. Du musst es nur sagen.“ „I-ich…“, stammelte sie und biss sich auf die Lippe. Wunderbar, jetzt stammelte sie auch noch! „Ja~?“, fragte er und beobachtete interessiert, wie sich die Miene der 18-Jährigen langsam wandelte. „Verflucht“, stieß sie urplötzlich hervor, riss ihre Hände hoch an seine Schultern und zog ihn anschließend in einer schnellen Bewegung an sich, um ihn zu küssen. Der Kuss war hart, beinahe schon ein wenig grob und als sie sich nur eine Sekunde später schon wieder von ihm löste, konnte sie gerade noch keuchend das sagen, worauf der Mann über ihr schon die ganze Zeit wartete. „Schlaf mit mir, Cedric.“ Und er ließ sich nicht lange bitten. [...] Nun ebenfalls völlig außer Atem stützte er sich mit beiden Armen neben ihrem Kopf ab und schaute in ihr gerötetes, erschöpftes Gesicht. Sanft strich er ihre eine der hellen Haarsträhnen aus der verschwitzten Stirn, woraufhin Carina ihre Augen wieder öffnete. Ein müdes Lächeln lag auf ihren Lippen. „Das war schön“, murmelte sie leise und ihr Gegenüber erwiderte das Lächeln. „Das war es“, entgegnete er und zog sich sanft aus ihr zurück, um sich anschließend auf seinen Rücken sinken zu lassen. Einige Sekunden herrschte Schweigen, dann erklang Carinas Stimme erneut. „Cedric?“, fragte sie, hörte sich jetzt irgendwie merkwürdig kleinlaut an. „Hmm?“, gab er zurück und drehte seinen Kopf leicht nach rechts, um in ihr Gesicht blicken zu können. Die Blondine wich seinem Blick zuerst aus, nur, um dann doch wieder zu ihm zu gucken. Schließlich flüsterte sie sehr leise und mit errötenden Wangen: „Jetzt möchte ich vielleicht ein wenig kuscheln.“ Er blinzelte einmal, bevor er ein kaum hörbares Lachen ausstieß. „Dann komm her“, meinte er und legte einen Arm um ihre Schultern, als die 18-Jährige näher zu ihm rutschte und unsicher ihren Kopf auf seiner Brust ablegte. Mit seiner anderen Hand angelte er nach der Decke und zog sie sich – und somit auch seiner Bettpartnerin – bis zur Hüfte hoch. Carina legte ihre rechte Hand neben ihren Kopf auf seine Brust und schloss zufrieden die Augen. Sachte zog sie seinen Duft ein und spürte die Wärme seines Körpers dicht an ihrem. Es fühlte sich gut an, ihm so nahe zu sein. Und sie war so unglaublich müde. Während sie langsam wieder in den Schlaf glitt konnte sie fühlen, wie er mit seiner rechten Hand immer wieder sanfte Kreise auf ihre nackte Schulter malte. Noch im Halbschlaf wurde ihr Lächeln breiter. Daran könnte sie sich definitiv gewöhnen. Kapitel 42: Die Daseinsberechtigung ----------------------------------- Nebenbei möchte ich noch Werbung für eine ganz tolle FF machen, die wirklich super geschrieben ist und wo ihr als richtige Undertaker-Fans dringend mal einen Blick hineinwerfen solltet. Denn ich denke, dass sie euch genauso gut gefallen wird wie mir, verlasst euch da drauf ;) https://ssl.animexx.de/fanfiction/371011/?js_back=1 Er sah so ruhig, fast schon friedlich aus, wenn er schlief. Carina lächelte und strich dem silberhaarigen Shinigami vorsichtig eine seiner langen Strähnen aus dem Gesicht. Als sie vor wenigen Minuten aufgewacht war hatte sie kaum glauben können, dass der Bestatter und sie immer noch in ein und derselben Pose wie wenige Stunden zuvor gelegen hatten. Immerhin war es für sie eine Premiere. Bisher hatte der Undertaker das Bett immer schon lange verlassen gehabt, wenn sie aufgewacht war. Eigentlich hatte Carina beim Aufwachen vorgehabt sich wenigstens Unterwäsche anzuziehen, schließlich war sie unter der dünnen Bettdecke immer noch vollkommen nackt. Stattdessen ertappte sie sich dabei wie sie bereits seit 10 Minuten sein schlafendes Gesicht beobachtete. Ein leises Seufzen glitt über ihre Lippen. Irgendwie war ihr seltsam zumute. Ständig kreisten ihre Gedanken um die Situation, in der sie sich befand. Warum konnte sie nicht einfach ein ganz normales Mädchen sein, das mit ihrem Freund im Bett lag? „Nein, ich muss natürlich eine Shinigami sein, die sich in den wahrscheinlich meistgesuchten Deserteur der eigenen Spezies verliebt hat und nicht weiß, wie sie aus dieser prekären Situation wieder rauskommen soll.“ Erschrocken zuckte die 18-Jährige zusammen, als die Standuhr im Flur ertönte. „Was denn, schon 12 Uhr?“, murmelte sie verwundert, drehte ihr Gesicht aber wieder zu dem Silberhaarigen, als dieser sich leicht neben ihr regte. Ein Grinsen huschte über Carinas Lippen. Scheinbar hatte sie sich da jemanden ins Bett geholt, der für’s Aufwachen ein wenig länger brauchte. „Hey, aufwachen, Herr Möchtegern-Direktor“, sagte sie und kniff dem Bestatter neckend in die Nase. Ein Kichern kroch aus seiner Kehle, noch bevor er die schneeweißen Wimpern geöffnet hatte. „Freches Ding“, grinste er, schlug schließlich doch noch die Augen auf und starrte sie an. Sein Grinsen wurde beinahe sofort breiter. „Hmm, was für ein netter Anblick~.“ Carina runzelte die Stirn und folgte dann seinem Blick, der auf ihre unverhüllten Brüste gerichtet war. Gleich darauf entwich ihr ein Schnauben. „Du bist ein Blödmann“, sagte sie auf Deutsch zu ihm, wenn auch mit einer Spur Belustigung in der Stimme. Sie lächelte, als er sie verwirrt anblinzelte. „Schon blöd, wenn man die Sprache nicht versteht, was?“, meinte sie und nun war es der Undertaker, der sie in die Seite kniff. „Hehe, wie ich dich kenne, war es nichts Nettes. Und dabei dachte ich bisher, dass die vier Sprachen, die ich spreche, ausreichen würden.“ Die Blondine blinzelte. „Du sprichst vier Sprachen? Welche denn noch, außer Englisch?“ „Französisch, Spanisch und Latein.“ Nun fühlte sich Carina dumm, sie sprach immerhin gerade mal Zwei. Und Deutsch war nun wirklich keine Sprache, die man im Ausland sprechen musste. „Streber“, murmelte sie und piekste ihm in den Brustkorb. „Na ja, du hattest auch wesentlich mehr Zeit Sprachen zu lernen als ich, alter Mann“, sagte sie frech und handelte sich dafür einen festen Klaps auf den Po ein. „Vorsicht, junge Lady, diese Nacht hattest du mit diesem alten Mann viel Spaß“, entgegnete er rau und verschränkte die Arme nun hinter seinem Kopf. Carina wurde rot, als sie an die vergangene Nacht dachte. Sie hatte tatsächlich jegliche Hemmungen über Bord geworfen. Aber es hatte sich tatsächlich mehr als nur gut angefühlt. „Du könntest es mir beibringen“, unterbrach ihr Gegenüber ihre Gedanken und die Schnitterin schaute ihn verblüfft an. „Deutsch? Du willst es lernen?“ „Es könnte sich bestimmt einmal als nützlich erweisen“, antwortete er, sein Blick wurde leicht trüb bei diesem Satz. Anscheinend dachte er über etwas nach. „Na ja, ich könnte dir die grundlegenden Sachen sagen. Aber mach dir keine allzu großen Hoffnungen, vom Unterrichten hab ich nicht den blassesten Schimmer. Aber mal was ganz anderes, musst du nicht irgendwas erledigen? So als Direktor?“ „Schon vergessen? Heute ist Samstag~“, giggelte er. „Ach ja…“ Gott, mittlerweile verstrich die Zeit wirklich rasant schnell. Wenn sie so darüber nachdachte, war sie jetzt schon seit über 3 Wochen hier. Und wenn die Shinigami ehrlich zu sich selbst war, dann machte ihr diese Tatsache weitaus weniger aus, als sie zu Anfang gedacht hatte. Gleichzeitig hatte sie ein furchtbar schlechtes Gewissen gegenüber Alice und Grell. Sie kannte die Beiden inzwischen gut genug um zu wissen, dass sie sich sicherlich große Sorgen um sie machten. Zum wiederholten Male dachte sie an die Zwickmühle, in der sie sich befand. „Wenn ich meine Death Scythe gefunden habe…werde ich dann wirklich einfach so gehen können? Oder besser…werde ich überhaupt gehen wollen?“ „Na, was ist jetzt?“, riss der Totengräber sie zum wiederholten Male aus ihren Gedanken und schaute sie erwartungsvoll an. Seufzend begann sie ihm einige Grundkenntnisse der deutschen Grammatik zu erklären. Bereits nach kurzer Zeit runzelte er verwirrt die Stirn. „Ihr habt drei verschiedene Artikel?“ Carina nickte. „Ja, „der“ für männliche Wörter, „die“ für weibliche und „das“ für sächliche Wörter.“ Das Runzeln vertiefte sich. „Und wie stellt man fest welcher Artikel benutzt wird?“ „Nun ja, wir Deutschen wissen meist intuitiv, welchen wir benutzen müssen. Ich fürchte denjenigen, die Deutsch lernen wollen, bleibt nur das Auswendiglernen.“ Der ehemalige Seelensammler seufzte. „Wie umständlich“, murmelte er, woraufhin die 18-Jährige ihn schadenfroh ansah. „Ich sagte doch, Deutsch ist nicht gerade eine leichte Sprache. Aber tröste dich. Professor Winterbottom kann dir sicherlich ein oder zwei Bücher leihen, worin es um meine Sprache geht.“ „Du könntest mir aber schon mal die wichtigsten Sätze beibringen. Was heißt: „Eine Packung Kekse, bitte“?“ Carina prustete, übersetzte ihm jedoch den Satz. Ebenso erklärte sie ihm die Worte Bitte, Danke, Entschuldigung und natürlich wie man nach dem Weg fragte. Seine Aussprache klang zu Anfang so witzig, dass Carina nicht an sich halten konnte. Tränen traten ihr in die Augen, als sie so heftig zu lachen anfing, dass ihr der Bauch wehtat. „Jetzt weiß ich, wie bescheuert ich mich damals auf der Schule am Anfang in Englisch angehört haben muss.“ Ihr Gegenüber wirkte trotz allem nicht sonderlich beleidigt. Ganz im Gegenteil, er kicherte ebenfalls und wirkte relativ gut gelaunt. Was vielleicht auch daran liegen mochte, dass die junge Frau mittlerweile viel öfter lachte als zuvor. Ca. eine dreiviertel Stunde später schlug Carina die Bettdecke zurück und erhob sich, um sich endlich anzuziehen. Sie konnte immerhin nicht den ganzen Tag im Bett verbringen. Obwohl es mit Cedric an ihrer Seite sicherlich nicht langweilig werden würde. Sobald sie die ersten Schritte in Richtung Schlafzimmertür getan hatte, entfuhr ihr ein leises Zischen. Verdammt, sie hatte ja vorhergesehen, dass sie heute wund sein würde, aber das schmerzhafte Pochen zwischen ihren Beinen war dann doch unangenehmer als erwartet. Dem Undertaker, der sich nun ebenfalls aus dem Bett erhoben hatte, blieb ihre Reaktion natürlich nicht verborgen. Für einen kurzen Augenblick konnte man ihm sein schlechtes Gewissen ansehen. „Entschuldige, ich hätte nicht-“ „Schon in Ordnung“, unterbrach ihn Carina, die im Türrahmen stehen geblieben war. Ein Seufzen entwich ihren Lippen. „Ich hab es ja nicht anders gewollt.“ Fast unmittelbar schmückte seine Miene wieder ein Grinsen. Überlegend legte er sich einen seiner langen Fingernägel ans Kinn. „Stimmt, ich meine mich dunkel an die Worte „Kein Vorspiel“ erinnern zu können.“ Erneut wurden ihre Wangen heiß und mit einem leise gemurmelten „Idiot“ ging sie ins Badezimmer, um sich zu waschen. Um Punkt 13 Uhr verließ sie die Wohnung und begab sich auf die andere Seite des Schulgeländes, um weiter die Gegend zu erkunden. Langsam aber sicher verlor sie immer mehr die Lust an dieser Suche. Es lief doch seit 3 Wochen fast jeden Tag gleich ab. Sie stand auf, suchte ihre Death Scythe, fand sie aber nicht. Dieses Hin und Her konnte doch nicht ewig so weitergehen. „Wenn ich doch nur wenigstens den Mut aufbringen könnte um ihm zu sagen, was ich wirklich denke. Was ich für ihm empfinde“, dachte sie betrübt, während sie von Raum zu Raum schlenderte. Diese Angst vor seiner möglichen Ablehnung machte sie bald wahnsinnig. Dabei würde sie es ihm sagen müssen, früher oder später. Sowieso spätestens dann, wenn sie ihr Katana endlich gefunden hatte. Denn dann hatte die Schnitterin eigentlich keinen Grund mehr weiterhin hier zu bleiben. „Wann bitteschön ist mein Leben so kompliziert geworden?“, murmelte sie und erinnert sich an die Zeit zurück, in der ihr Leben nur aus Schule, Büchern und Mangas bestanden hatte. Wo ihre größten Sorgen darin bestanden hatten, dass sie durch eine Klausur durchfiel oder dass einer ihrer Lieblingscharaktere starb. Mit ihren Gedanken weit weg durchkämmte sie das Internat und schaute schließlich auf die Uhr, als ihr Magen erwartungsvoll knurrte. „Mein Gott, schon 15 Uhr. Zeit mir etwas zu essen zu beschaffen.“ Flink machte sie einen kleinen Abstecher in die Küche und stibitzte sich einen Salat samt Beilagen. Zufrieden kauend machte die Blondine sich weiter auf die Suche, verlor aber bereits nach 1 ½ Stunden die Lust. „Toll und wir haben gerade erst halb 5“, seufzte sie, machte sich allerdings trotzdem auf den Weg zurück zur Wohnung. Es nützte schließlich nichts, wenn sie nur halbherzig weitersuchte. Als die 18-Jährige den Durchgang betrat, der zum größten Gebäude des Colleges führte und indem sich auch die Wohnung des Direktors befand, sah sie schon von weitem eine schwarzgekleidete Gestalt in ihre Richtung kommen. Erst auf den letzten Metern erkannte Carina den Mann wieder. Es war der noch relative junge, schwarzhaarige Professor, den sie vor einigen Tagen auf dem Schulhof neben dem Undertaker hatte stehen sehen und mit dem er sich unterhalten hatte. Erneut überfiel sie dieses seltsame Gefühl, als sie in sein emotionsloses Gesicht schaute. Das Gefühl verstärkte sich, je näher er auf sie zukam. Dann war der Augenblick gekommen, in dem sie aneinander vorbeigingen. „Guten Tag“, grüßte er mit genauso emotionsbefreiter Stimme, wie schon sein Gesicht aussah, und schritt aus ihrem Blickfeld hinaus. Carina blieb wie vom Donner gerührt stehen. Ihr ganzer Körper war mit einem Mal erstarrt und erst nach zwei Sekunden wusste sie auch warum. Er hatte sie gegrüßt. Was bedeutete, dass er sie sehen konnte. Aber er dürfte gar nicht dazu in der Lage sein, sie zu sehen. Ein furchtbarer Verdacht keimte auf einmal in ihr auf. Aber war das möglich? Immerhin wirkte er wie ein normaler Mensch… „Es gibt wohl nur einen Weg um herauszufinden, ob ich Recht habe“, schoss es ihr durch den Kopf und im nächsten Moment drehte sie sich zu dem Mann zurück. „Hey“, rief sie und sorgte somit dafür, dass der Professor sich wieder zu ihr umdrehte. Gleich darauf wich er einen Schritt zurück, war jedoch nicht schnell genug. Carinas Tritt fegte ihm den Doktorhut vom Kopf und entblößte die feine, waagerechtverlaufende Narbe auf seiner Stirn. „Dachte ich es mir doch“, sagte sie und schaute den Schwarzhaarigen mit Abscheu im Blick an. „Du bist eine seiner widerlichen Puppen.“ Ein Knurren entwich den Lippen der Leiche und mit einer schnellen Bewegung sprang er auf sie zu. Die Seelensammlerin wich gekonnt aus und versetzte dem Toten anschließend einen Schlag gegen die Brust. Der ehemalige Professor fiel um wie ein Brett und im nächsten Moment war Carina über ihm. „Ich werde deinem jämmerlichen Dasein ein Ende setzen“, sagte sie und dachte wieder daran, was der Undertaker damals auf der Campania gesagt hatte. Diese Leichen wurden von Seelen angezogen, die sie sich jedoch niemals zu eigen machen konnten. Wie ein Verdurstender, der ein Glas Wasser in Händen hielt, es aber niemals trinken konnte. Was musste dieser Zustand nur für eine Qual sein? Ihr Fuß zielte auf seinen Kopf, um ihn mit einer kräftigen Bewegung zu zerquetschen, doch soweit kam sie nicht. Ein harter Schlag traf sie seitlich ins Gesicht und die schiere Wucht beförderte sie vom Körper des Mannes hinunter. Mit Armen und Knien voran stürzte Carina zu Boden, alle Luft entwich ihrer Lunge. Mehrere Sekunden klingelte es unangenehm laut in ihrem Kopf, währenddessen schaffte sie es gerade mal sich wieder halbwegs aufzurichten. Doch sobald sie auch nur wieder einigermaßen klar im Kopf war, drehte sie sich um und erstarrte gleich darauf. Neben der Leiche stand der Undertaker, seine Augen waren jedoch auf sie gerichtet. Und der Blick, mit dem er sie ansah, versetzte Carinas Herz in rasende Panik. Sie hatte schon viele Leute in ihrem Leben wütend gesehen. Ihre Eltern, ihre Lehrer, Bianca, Leute in Filmen oder ihre Fahrlehrerin, aber das war kein Vergleich zu der Wut, die in seinem Gesicht stand. Es war ein dermaßen gegensätzlicher Ausdruck zu seiner sonstigen Miene, dass der Schnitterin das Blut in den Adern gefror. Sie hatte sich schon einmal gefragt, was wohl passierte, wenn sie ihm in seine Pläne hineinpfuschen würde. Anscheinend war sie gerade dabei es herauszufinden. Aber dennoch… „Er hat mich geschlagen“, schoss es ihr durch den Kopf und mit Entsetzen fasste sie sich an die pochend heiße Wange. Unglaube und Enttäuschung stiegen in ihr auf, dicht gefolgt von Fassungslosigkeit und Wut. Er hatte sie verdammt noch mal geschlagen. Am liebsten hätte Carina ihn angeschrien, doch jegliches Wort steckte in ihrer Kehle fest. Erst, als er seine Augen von ihr abwandte und seiner Kreation zurück auf die Beine half, hatte die Shinigami das Gefühl wieder atmen zu können. Anscheinend hatte die wandelnde Leiche sich wieder beruhigt, denn der emotionslose Ausdruck war auf das männliche Gesicht zurückgekehrt. „Geh wieder deiner Arbeit nach“, befahl der Bestatter und die Puppe nickte mechanisch, bevor sie sich in Bewegung setzte und den Durchgang verließ. Carina bekam Bauchschmerzen vor Nervosität, als sie nun mit ihm alleine war und das zu Recht. Denn im nächsten Moment schlang sich seine linke Hand hart um ihren rechten Unterarm und er zerrte sie wortlos hinter sich her in Richtung Wohnung. Die Blondine fand ihre Stimme augenblicklich wieder. „Lass mich los“, zischte sie und wehrte sich gegen seinen Griff, doch dieser war steinhart. Sie stemmte ihre Füße in den Boden und legte ihr ganzes Gewicht hinein, doch auch das brachte nicht den gewünschten Effekt. Ganz im Gegenteil, seine Hand packte wenn möglich noch härter zu und jetzt zogen sich Schmerzen durch ihren Arm. „Du tust mir weh“, schrie sie ihn von hinten an und bekam es nun wirklich mit der Angst zu tun. Was hatte er vor? Mittlerweile hatte der silberhaarige Shinigami die Wohnungstür erreicht. Er stieß sie mit einer Hand auf und warf Carina nach vorne, sodass sie über die Türschwelle stolperte. Dann ließ er endlich ihren Arm los, dessen Haut sich bereits durch die feste Berührung gerötet hatte. „Sag mal, spinnst du?“, fauchte sie und war kurz davor ihm eine Ohrfeige zu verpassen. Doch der Schreck saß ihr immer noch in den Gliedern, daher ließ sie ihre Hände wo sie waren. „Ich dachte ich hätte mich zu Anfang klar ausgedrückt“, sagte der Bestatter mit monotoner Stimme, was fast noch schlimmer war, als wenn er sie angeschrien hätte. „Wir hatten einen Deal. Du kommst mir bei meinem Plan nicht in die Quere, gerade was meine Bizarre Dolls anbelangt. Und meine bisher bestentwickelte Puppe zerstören zu wollen ist nicht gerade etwas, was meiner Meinung nach unter diesen Deal fällt.“ „Wie hast du es überhaupt geschafft, dass sie plötzlich so menschlich sind? Na ja, zumindest menschlicher als die Exemplare auf der Campania“, lenkte Carina vom Thema ab und es funktionierte. Natürlich war der Undertaker viel zu stolz auf sein Experiment, als das er sich darüber ausschweigen konnte. „Auch Leichen können sich weiterentwickeln, solange sie nur Episoden haben.“ „Die hast du bereits beim letzten Mal drangehängt und trotzdem-“ „Dieses Mal“, unterbrach er sie, „ist es die Sehnsucht nach einer Zukunft, die sie antreibt. Wenn Menschen sterben, lassen sie ihre Vergangenheit Revue passieren.“ „Ja, das ist der Cinematic Record.“ Er nickte. „Richtig. Gleichzeitig aber sehnen sie sich nach der Zukunft, die sie eigentlich hätten haben können. Auch wenn sie davon nur Fragmente sehen. Diese Fragmente sind die Episoden.“ Carina erinnert sich mit einem Mal an die Sekunden vor ihrem eigenen Tod. Es stimmte, sie hatte an all die Dinge gedacht, die sie in ihrem Leben noch gerne gemacht hätte. „Aber was, wenn man diese Episoden extrahieren könnte? Was, wenn man Zehntausende davon hätte? Was, wenn diese Fragmente aneinandergereiht länger wären als der Cinematic Record dieses Menschen? Dann wäre das, als hätte man eine Vorschau auf seine Zukunft. Meine gefälschten Erinnerungen von der Campania sind nicht zu vergleichen mit diesen zukünftigen Erinnerungen. Und wenn man diese an den Cinematic Record anhängt, dann erhält man eine Leiche, die einem Menschen unendlich ähnlich ist.“ Carina starrte ihn schweigend an, überwältigt von seiner Erklärung. Es klang alles so logisch, wenn er es sagte. Er seufzte. „Bisher ist die Erfolgsquote allerdings ziemlich gering und hängt stark von der Menge und Qualität der Episoden ab.“ Sein Blick wurde wieder eine Spur schärfer. „Daher konnte ich auch nicht zulassen, dass du ihm etwas zuleide tust. Er ist voller Episoden und mein absolutes Meisterwerk. Also…willst du etwa bestreiten, dass du gegen den Deal verstoßen hast?“ Carina sagte nichts, sie war schlicht und ergreifend sprachlos. Er hatte Recht. Natürlich fiel diese Aktion nicht unter seinen verdammten Deal, aber sollte sie deswegen wirklich ein schlechtes Gewissen haben? Nein, denn sie verabscheute diese verfluchten Dolls. Die Blondine verstand es einfach nicht. Wie konnte ein Mann wie der Undertaker so etwas tun? Er war nett, lustig, wenn man ihn näher kannte total liebenswert und vor allem eins – klug. Außergewöhnlich klug. Man musste sich doch nur einmal seine Erklärungen anhören. Es war alles bis ins kleinste Detail durchdacht und trotzdem war bisher kein Shinigami auf solche Gedanken auch nur im entferntesten Sinne gekommen. Wie konnte also ein intelligentes Wesen wie er nur die Idee gut finden an Leichen solche Experimente durchzuführen? Wenn Carina sich vorstellte, dass nach ihrem Tod jemand so etwas mit ihrem Körper getan hätte, dann wurde ihr ganz flau im Magen. Das konnte kein Mensch wollen. Und sie schätzte den Totengräber als jemanden ein, der solche Dinge nicht einfach grundlos tat. „Ich mag ihn lieben und ich würde vermutlich auch vieles für ihn tun, aber das kann ich ihm nicht einfach so…“ Carina unterbrach mit einem Mal ihren eigenen Gedankengang. Was hatte sie da gerade gedacht? Sie würde vieles für ihn tun? Die Erkenntnis durchbohrte sie wie ein Messer. Konnte…konnte es sein, dass… Ihre Hände begannen ein wenig zu zittern und sie ballte sie zu Fäusten, um es zu verbergen. Ihr Herz pochte schmerzhaft gegen ihre Brust. „Wie ist ihr Name?“, flüsterte sie und der Undertaker starrte sie für einen Moment verwirrt an, herausgerissen aus seinem Missfallen über die Situation. „Wie bitte?“, fragte er und runzelte die Stirn. Ihre Augen kreuzten die seinen und mit lauterer Stimme fragte sie: „Wie ist der Name der Frau, für die du das alles machst?“ Es war für sie plötzlich so klar. So glasklar, dass sie sich fragte, wie sie da nicht früher drauf gekommen war. Warum sollte man versuchen Tote zum Leben zu erwecken? Nicht, weil man sie als Tierwaffen missbrauchen wollte. Nicht, weil man herausfinden wollte, was nach dem vorherbestimmten Ende kam. Nein, weil man jemanden zurückholen wollte. Die verdunkelnden Augen des Undertakers machten ihre Erkenntnis nur noch offensichtlicher. Sie war sich mittlerweile sicher, aber ein großer Teil ihrer selbst hoffte dennoch immer noch, dass er es abstreiten würde. Dass er sie fragen würde, was für einen Schwachsinn sie sich denn da zusammenreimen würde. Dass es keine Frau gab, die er so sehr liebte, dass er für sie jegliche Regeln und jeglichen Anstand über Bord warf. Doch als sich sein Mund das nächste Mal öffnete und er ein einzelnes Wort sprach – einen einzelnen Namen – riss er jegliche ihrer Hoffnungen in die gnadenlose Tiefe, wo sie zusammen mit ihrem Herz auf dem Boden zerschellten und in tausend Stücke zersprangen. „Claudia.“ Kapitel 43: Die Aufklärung -------------------------- Carina hatte nie verstanden, wie Stille laut sein konnte. Für sie waren die beiden Wörter komplett gegensätzlich. Ein Nomen und ein Adjektiv, die nicht zueinander passten. Wie auch, sie stellten das komplette Gegenteil voneinander dar. Doch jetzt, wo der Frauenname von den Lippen des Undertakers geglitten war und sich die eingetretene Stille im Raum breit machte, verstand sie es. Es ließ sich nur schwer in Worte fassen, wie sich dieses Schweigen anfühlte. Es war so…unglaublich erdrückend, dass Carina es nicht beschreiben konnte. Selbst eintausend kreischende Stimmen hätten nicht lauter und unangenehmer sein können, als diese Stille. Gleichzeitig überfiel sie ein heftiger Anfall von beißender Ironie. Ihre Mutter würde in ca. 70-80 Jahren den Namen „Claudia“ bei ihrer Geburt erhalten und bisher hatte Carina der Name immer gefallen. Jetzt machte sich zum ersten Mal eine Mischung aus Wut und Eifersucht in ihr breit, wenn sie an diesen Namen dachte. Wer konnte diese Claudia gewesen sein, dass der Undertaker alles für sie tat, ja, sein ganzes Leben auf ihre Rückkehr ausrichtete? „Und weiter?“, fragte sie und war selbst überrascht, wie fest und gleichgültig ihre Stimme klang. Der Bestatter schaute sie einen Moment lang stumm an und schien dann für sich zu beschließen, dass sie wohl ein Anrecht auf die Geschichte hatte, wie es schlussendlich zu seinen Bizarre Dolls gekommen war. „Claudia und ich haben uns bei der Beerdigung ihres Vaters kennengelernt. Obwohl sie noch recht jung mit ihren 16 Jahren war, hat sie die Organisation der Bestattung übernommen und wir hatten daher vereinzelt Kontakt.“ Würde sich ihr Körper nicht so unglaublich leer anfühlen, hätte Carina wahrscheinlich gelacht. Natürlich, der Bestatter hatte das Mädchen auf einer Beerdigung kennengelernt. Was für ein Klischee. „Von da an hatten wir beruflich ab und an miteinander zu tun.“ Carina interessierte es nicht, was für einem Beruf diese Frau nachgegangen war und selbst wenn, sie war viel zu abgelenkt von dem Lächeln, das die Lippen des Undertakers plötzlich kräuselte. „Sie verstand es wie sonst niemand mich zum Lachen zu bringen. Obwohl wir eigentlich in privater Natur gar nichts miteinander zu tun haben sollten, nahm sie mein Lachen immer als Bezahlung für ein Gespräch mit ihr. Und es war sehr leicht mit ihr ein Gespräch zu führen, selbst wenn es nur um ganz alltägliche Dinge ging. Nie war sie an Geld oder Schmuck oder schönen Kleidern interessiert. Ganz unbedeutende Dinge zählten für sie weitaus mehr. Ein Spaziergang im Wald. Das Pflücken von Blumen. Die Ruhe an einem Sommertag nach getaner Arbeit. Und die Gespräche…mit mir.“ Der letzte Satz klang beinahe so, als könnte er selbst kaum glauben, dass Claudia diese Gespräche wirklich gefallen hatten. Dass sie seine Gesellschaft genossen hatte. Carinas Herz stach bei jedem seiner Worte unangenehm in ihrer Brust. Die zaghafte Wortwahl, sein sanfter Unterton…Allein das sagte ihr schon, wie viel er für dieses Mädchen empfunden haben musste. Nein, wie viel er immer noch empfand. Der Totengräber hatte mittlerweile seinen Blick von Carina abgewandt und schaute aus dem Fenster. Obwohl sich die Schnitterin ziemlich sicher war, dass er nicht wirklich aus dem Fenster schaute. Denn seine Augen wirkten, als würden sie nichts von dem Schulhof wirklich wahrnehmen, sondern würden viel eher weit in der Vergangenheit verweilen. Erneut lag ein Lächeln auf seinen Lippen, aber es drückte viel mehr Bitterkeit anstatt Freude aus. „Ich war selbst überrascht, wie schnell wir uns näher kamen. Sie war eine Adelige, dürfte sich nach den Regeln und dem Standard ihresgleichen überhaupt nicht näher mit mir beschäftigen. Doch das tat sie. Es…überraschte mich. Obwohl ich bereits seit einigen Jahrzehnten nicht mehr den Beruf des Seelensammlers ausübte und mich in London in meinem Bestattungsunternehmen zurechtgefunden hatte, war mir noch nie ein Mensch begegnet, der mein Interesse derart geweckt hatte. Es war so leicht, so unglaublich leicht, sich in sie zu verlieben.“ Carina schluckte, fiel ihr doch mit einem Mal auf, dass ihr Mund samt Hals staubtrocken war. Seiner Beschreibung nach hätte sie diese Claudia vermutlich gemocht. Aber sie konnte nicht. Da war nur diese unfassbare Wut auf eine Frau, die bereits tot war und das Herz des Silberhaarigen anscheinend mit in ihr Grab genommen hatte. „Unsere Beziehung verlief heimlich und im Verborgenen, aber dennoch war es schön. Die zwei Jahre, die auf die Beerdigung ihres Vaters hin folgten, kamen mir wie ein Geschenk des Himmels vor. Hehe~, dabei kann ich diese blöden Engel nicht einmal leiden.“ Das Lächeln verschwand nun recht schnell von seinem Gesicht. „Doch je älter Claudia wurde, desto mehr drängte die Gesellschaft sie zu einer Heirat, aus der Nachkommen für ihr Adelshaus hervorgehen würden. Es hat ihr das Herz gebrochen jemanden heiraten zu müssen, den sie nicht liebte. Aber ihr Pflichtbewusstsein gegenüber ihrer Familie und gegenüber der Gesellschaft veranlassten sie dazu schließlich doch in eine Verlobung einzuwilligen.“ Mitleid keimte in Carina auf, als sie sich in die prekäre Lage der jungen Adeligen hineinversetzte. Gleichzeitig hasste sie sich selbst dafür. Sie sollte diese Frau nicht bemitleiden, ganz im Gegenteil. Aber sie war noch nie ein Fan von arrangierten Ehen gewesen und wenn sie sich jetzt vorstellte, dass sie jetzt jemanden heiraten musste, obwohl sie doch eigentlich Cedric liebte, dann wurde ihr ganz flau im Magen. Nach wenigen Sekunden des Schweigens fragte Carina, immer noch mit gefestigter Stimme: „Und…was ist dann passiert?“ Der Shinigami zuckte kurz frustriert mit den Schultern. Seine Stimme klang resigniert. „Sie hat geheiratet, bekam zwei Kinder und tat alles, was von ihr erwartet wurde. Nun ja, außer der Tatsache, dass wir uns weiterhin getroffen haben.“ „Ich hätte nicht gedacht, dass er der Typ für eine Affäre mit einer verheirateten Frau ist“, schoss es ihr durch den Kopf und im nächsten Moment schämte sie sich dafür. Er hatte diese Frau bereits vor ihrer Ehe geliebt und sie hatte diese Liebe erwidert. Natürlich hörte das durch eine arrangierte Hochzeit nicht einfach so auf. Carina wusste ganz genau, dass da die pure Eifersucht aus ihr sprach. „Ich bin eifersüchtig auf eine Tote. Tiefer kann ich wohl auch nicht mehr sinken.“ „Es vergingen einige Jahre. Und schließlich“, ein schweres Seufzen entfuhr seinen Lippen, „schließlich kam der 13. Juli 1866. Der Tag, an dem sie starb.“ Eine beinahe unsichtbare Qual schlich sich in seine Augen, die Carina nicht ansatzweise beschreiben konnte. Innerhalb einer Sekunde begann ihr Gehirn zu rechnen. In zwei Monaten würde sich ihr Tod bereits zum 23. Mal jähren. Vielleicht lag es daran, dass sie noch so jung war, aber für sie klang das nach einer unglaublich langen Zeit. „Sie war erst 36 und es war keine natürliche Todesursache. Ich…ich habe mich um ihren Körper gekümmert.“ Carinas Augen weiteten sich entsetzt. Urplötzlich wurde ihr schlecht. „Und als sie vor mir auf dem Tisch lag, ihre Haut weiß und kalt wie Schnee, da kam mir zum allerersten Mal der Gedanke. Was, wenn ich ihre Seele zurückbringen könnte? Oder eine Seele erschaffen könnte, indem ich sie von einer anderen Person stehle? Immerhin verblieb der Cinematic Record immer noch in ihrem Körper. Alle Erinnerungen waren noch da, wenn ich also ihren Körper erhalten könnte, ihr eine Seele geben könnte, wäre es dann möglich den Tod auszutricksen?“ Und jetzt verstand Carina es. Sie erinnerte sich zurück, an seine Worte auf der Campania. An seine Antwort auf Ciels Feststellung, dass die Dolls die Seelen spürten. „Ja, auch wenn man sich die Seele eines Anderen natürlich nicht aneignen kann…“ Sie erinnerte sich an seinen seltsamen Gesichtsausdruck, seine leicht verengten Augen und diesen Unterton in seiner Stimme, der nichts Gutes erahnen ließ. „Er hat versucht die Seele eines anderen zu nehmen, aber ihr Körper konnte sie sich nicht zu eigen machen. Also bleibt ihm nur noch die Möglichkeit eine eigene Seele zu erschaffen. Und dafür…dafür experimentiert er mit den Bizarre Dolls.“ „Ich habe mir selbst versprochen, dass ich alles tun werde, um sie zurückzuholen. Ich würde die Grundsäulen unserer Welt niederreißen, würde jegliche Vernunft über Bord werfen, wenn ich nur den Tod überwinden und sie wieder zurückholen könnte.“ Ein bitteres Gefühl stieg der Schnitterin die Kehle hoch. Natürlich…wie hatte sie nur so blöd sein können? Der Undertaker hatte ihr niemals Versprechungen gemacht, er hatte nie auch nur so etwas wie Andeutungen in diese Richtung hin gemacht. Und wer konnte es ihm verübeln, dass er Intimitäten mit anderen austauschte? Nicht einmal diese Claudia konnte von ihm erwarten, dass er 23 Jahre - und wer wusste wie lange noch - keuch, enthaltsam und zurückgezogen lebte. Außerdem war sie selbst schuld. Sie hatte sich auf ihn eingelassen. Sie hatte seine Beweggründe nie hinterfragt, sie hatte ihn gewollt und sie hatte ihn bekommen. „Aber zu einem unglaublich hohen Preis…“ Außerdem hatte sie selbst auch nie andeuten lassen, dass sie ihn liebte. Natürlich, der Bestatter war nicht blöd. Sicherlich hatte er mitbekommen, dass sie ihn attraktiv fand und dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte. Ihn begehrte. Aber konnte er daraus wirklich schließen, dass sie tiefere Gefühle für ihn hegte? Hätte er überhaupt mit ihr geschlafen, wenn er gewusst hätte? Vermutlich nicht. „Und ich Idiotin habe tatsächlich darüber nachgedacht ihm meine Gefühle zu gestehen. Das wäre schön peinlich geworden.“ Und was das wirklich Schlimme war: Carina konnte es ihm nicht einmal wirklich übel nehmen. Wenn sie an seiner Stelle wäre…Wenn Cedric in diesem Moment tot umfallen würde, auch sie würde alles versuchen, um ihn zurückzuholen. Und der Totengräber. Er war schon sehr lange auf dieser Welt. Er musste bereits unglaublich viele Personen, die ihm etwas bedeuteten, sterben gesehen haben. Musste schon unzählige Male die Vergänglichkeit seiner Umwelt gespürt haben, während er selbst unfähig dazu war zu sterben. War es da wirklich verwunderlich, dass man irgendwann einen Teil seines Verstandes einbüßte? Dass man innerlich verrückt wurde? „Und deshalb“, fuhr er fort, während sich sein Blick nun wieder verhärtete und auf ihr zum Liegen kam, „kann ich es nicht zulassen, dass du meine Bizarre Dolls angreifst und dich in meine Experimente einmischst. Hast du mich verstanden, Carina?“ Sein letzter Satz hörte sich dermaßen nach einem Befehl an, dass es ihr im ersten Moment den Atem raubte. Ihre Verzweiflung und diese brennende, brennende Eifersucht in ihrem Inneren verwandelten sich so schnell in Wut, dass Carina selbst davon überrascht war. Sie konnte zuerst gar nicht sprechen, so wütend war sie. Unzählige Dinge, die sie ihm unbedingt sagen wollte, schwirrten in ihrem Kopf herum. So sprichst du nicht mit mir. Ich lasse mich von dir nicht herumkommandieren. Warum merkst du nicht, dass ich dich liebe? Warum? WARUM? Doch sie sagte nichts davon. Stattdessen presste sie folgende Worte hervor: „Wenn du mir endlich meine Death Scythe zurückgeben würdest, dann versichere ich dir, dass so etwas nicht wieder passieren wird.“ „Weil ich dann weg sein werde.“ Zwar ließ sie die letzten sechs Wörter unausgesprochen, aber die Bedeutung ihrer Aussage lag ohnehin klar auf der Hand. Das war sowohl ihr, als auch dem Undertaker klar. Der Silberhaarige zog seine Augenbrauen zusammen, er schien immer noch verstimmt zu sein. „Ich habe es dir wiederholt gesagt. Wir spielen hier nach meinen Spielregeln. Und so leicht werde ich es dir nicht machen, Carina.“ „Dann solltest du lieber darauf achten, dass mir nie wieder eines deiner kleinen Experimente in die Arme läuft“, wisperte sie mit bebender Stimme. Ihre Hände hatte sie ganz automatisch zu Fäusten geballt und mittlerweile übte sie so viel Druck auf ihre Finger aus, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Die Botschaft hinter ihren Worten war ebenso eindeutig wie die Letzte. Wenn ihr eine Leiche gegenüberstünde, würde sie sich nicht zurückhalten. Denn ganz gleich was seine Gründe waren, sie hasste diese schrecklichen Puppen. Seine verdammten Spielregeln konnte er sich sonst wohin stecken. Anscheinend war das ja wirklich alles, was ihn an ihr interessierte. Sein verdammtes Spiel… „Keine Sorge, das werde ich.“ Carina konnte hören, dass sie ihn verärgert hatte, aber immerhin griff er sie nicht noch einmal an. Dennoch war die 18-Jährige sich ziemlich sicher, dass er bei einem weiteren Vergehen ihrerseits nicht mehr so zimperlich reagieren würde. Mit wehenden Haaren drehte der Totengräber sich um, seine Schritte hallten den Flur entlang und verklangen erst, als er die Tür geräuschvoll hinter sich schloss. Die jetzt herrschende Stille war ohrenbetäubend. Carinas Körper fühlte sich seltsam taub an, als sie gedankenlos ins Badezimmer ging und sich die verschwitzten Hände am Waschbecken mit kaltem Wasser wusch. Langsam schaute sie auf und besah sich ihr Gesicht im Spiegel. Die Stelle an ihrem rechten Wangenknochen, wo sie der Schlag des Bestatters getroffen hatte, war gerötet und begann nun bereits sich ins Bläuliche zu verfärben. Der Anblick tat der Shinigami mehr weh, als der Schlag an sich. Der Undertaker war niemand, der einfach grundlos zuschlug, das wusste sie. Und wahrscheinlich hatte er sich in diesem Moment einfach von seinen Emotionen überrollen lassen, von seiner Sehnsucht nach dieser Claudia und dem Drang, sie zurückholen zu wollen. Aber all diese Tatsachen rechtfertigten nicht die Tat an sich und das wusste Carina ebenfalls. Und es schien ihm nicht einmal Leid zu tun. Jedenfalls sah eine Entschuldigung in ihren Augen nun wirklich anders aus. „Wie konnte ich nur so blöd sein?“, flüsterte sie sich im Spiegel selbst entgegen und wandte den Blick ab, als Tränen aus ihren Augen zu quollen begannen. Sie hatte sich nicht nur hoffnungslos in einen gesuchten Deserteur verliebt, nein, sie hatte sich in einen Mann verliebt, der ihre Gefühle niemals erwidern würde. In einen Mann, der seit Jahrzehnten versuchte seine tote Geliebte wieder zum Leben zu erwecken. Jetzt – wo sie allein war – gab Carina sich ganz der schrecklich heißen Eifersucht hin, die sie schon seit dem Moment, in dem der Undertaker den verdammten Namen hatte fallen lassen, heimsuchte. Diese Claudia musste eine großartige Frau gewesen sein, wenn der Shinigami so in sie vernarrt war. „Wahrscheinlich war sie außergewöhnlich schön. Und witzig. Und selbstbewusst. Nicht so wie ich.“ Die Tränen kullerten ihr jetzt wie ein Regenschauer über die Wangen, das Salz brannte auf ihrer Haut. Am liebsten würde sie sich in einer Ecke verkriechen, sich ganz klein machen und irgendwie unsichtbar werden. „Aber das schafft diese ganze Sache auch nicht aus der Welt. Sobald ich wieder aus der Ecke hervorkommen würde, wären alle Probleme nach wie vor da. Und wahrscheinlich noch schlimmer als zuvor.“ Doch die einzige Lösung, die ihr für diese ganze Situation einfiel, war, dass sie ihre Death Scythe endlich finden musste und dann von hier verschwand. Wenn sie ihn nicht mehr sehen musste, vielleicht…vielleicht würde der Schmerz in ihrem Inneren dann eines Tages aufhören. Vielleicht konnte sie ihn vergessen. Ein bitteres Lachen unterbrach den Tränenfluss kurzzeitig. „Na klar, als ob irgendeiner so jemanden wie ihn jemals vergessen könnte. Als ob ich ihn jemals vergessen könnte. Wie zur Hölle soll das gehen?“ Die Blondine griff nach einem Handtuch, um sich das Gesicht abzutrocknen. Wenn der Undertaker heute noch wieder kam, dann wollte sie unter gar keinen Umständen, dass er Tränenspuren in ihrem Gesicht sah. Den Großteil ihres Stolzes mochte sie mittlerweile verspielt haben, aber der kleine Rest der ihr noch geblieben war wollte nicht zulassen, dass sie sich noch mehr blamierte. Nachdem ihr Gesicht wieder halbwegs normal aussah, rubbelte Carina außerdem noch über die kleinen tropfenförmigen Flecken auf ihrem dunkelblauen Kleid. Ein schweres Seufzen glitt über ihre Lippen. „Ich bin eine Heulsuse“, stieß sie genervt hervor und hörte im selben Moment ein merkwürdiges Geräusch aus dem Flur. Verwundert drehte sie ihren Kopf zur geschlossenen Badezimmertür und lauschte in die Stille hinein. Das Geräusch erklang erneut, hörte sich dumpf und entfernt nach einem Kratzen an. Doch es verstummte so plötzlich, wie es gekommen war. Carina runzelte die Stirn. „Eine Katze?“, überlegte sie und öffnete geräuschlos die Tür, die zum Flur führte. Ihre Augen huschten von links nach rechts, doch ihr fiel auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches auf. „Bekomme ich jetzt schon Halluzinationen?“, dachte sie und trat nun ganz auf den Flur hinaus. „Nein, ich bin einfach nur kurzsichtig“, murmelte die Schnitterin, als ihr jetzt beim zweiten Blick auffiel, dass die Haustür nur angelehnt und nicht geschlossen war. Die Falte auf ihrer Stirn vertiefte sich. „Seltsam. Gerade eben hat er sie geschlossen. Ist er etwa schon wieder zurück?“ Als ob das Schicksal wollte, dass ihre Gedanken bestätigt wurden, ertönte unmittelbar ein weiteres Geräusch, dieses Mal aus dem Schlafzimmer. Wollte der Silberhaarige etwa nicht, dass sie etwas von seiner Anwesenheit mitbekam? Carina überlegte kurz, ob sie ihm wirklich schon wieder gegenübertreten sollte, zuckte jedoch dann mit den Schultern. „Schlimmer kann es doch sowieso nicht mehr werden“, sagte sie leise zu sich selbst und ging schnurstracks auf das Schlafzimmer zu. Gespielt selbstsicher lehnte sie sich gegen den Türrahmen und fragte: „Na, hast du deinen Wutanfall über-“ Die 18-Jährige unterbrach sich selbst, als sie ihren Gegenüber ansah und feststellen musste, dass es sich dabei gar nicht um den Bestatter handelte. Ihre Augen weiteten sich erschrocken und für einen Moment konnte sie gar nichts anderes tun, als die Gestalt vor sich zu mustern. Die Person trug einen langen schwarzen Umhang, der ihr bis zu den Waden reichte. Der Umhang besaß eine ausschweifende Kapuze, die dafür sorgte, dass das komplette Gesicht ihres Gegenübers verdeckt blieb. Die Hände, die aus den Ärmeln hervorlugten, waren in anthrazitfarbene Handschuhe gehüllt und verdeckten somit auch noch das letzte bisschen Haut, dass Carina hätte sehen können. Tatsächlich konnte sie überhaupt gar nichts sehen, was auf die Identität der Person schließen lassen könnte. Carina konnte nur anhand der Silhouette, der Breite der Schultern und der Größe der Hände annehmen, dass es sich um einen Mann handeln musste. Trotzdem, nicht einmal das konnte sie mit hundertprozentiger Sicherheit sagen. Aufgrund der Kopflage unter der Kapuze konnte die Seelensammlerin sich allerdings ziemlich sicher sein, dass er oder sie sie sehen konnte. „Wer…wer sind Sie?“, brachte sie schließlich hervor, teils verblüfft, teils auf der Hut. Ihr ganzer Körper hatte sich automatisch verspannt, denn jetzt wurde ihr auch klar, was sie gerade eben gehört hatte. Dieser Jemand musste die Wohnungstür mit einem Dietrich oder so etwas in der Art geöffnet haben. Wer bitteschön war so blöd und brach in die Wohnung des Direktors ein? Doch gleich darauf wurde Carina ziemlich deutlich klar, dass es sich bei diesem Einbrecher sicherlich nicht um einen Schüler handelte. Denn genau in diesem Augenblick materialisierte sich in der linken Hand der Gestalt ein langer, glänzender Gegenstand. Carina musste kurz überlegen, doch dann fiel ihr der Name dieser Waffe wieder ein. „Ein Rapier.“ Und sie kannte nur eine Spezies auf diesem Planeten, die solche Waffen scheinbar wie aus dem Nichts erscheinen lassen konnte. Shinigami. Aber was tat ein Shinigami hier? Wie hatte er sie oder den Undertaker gefunden? Und warum gab er sich nicht zu erkennen? Doch all diese Fragen sollten für den Moment unbeantwortet bleiben. Noch während Carina versuchte die derzeitige Situation zu analysieren, hob der verhüllte Shinigami seine Waffe. Und dann stürzte er sich auf sie. Kapitel 44: Das Ende einer Suche... ----------------------------------- Lediglich ihren guten Reflexen verdankte Carina es, dass sie in diesem Moment nicht von einem Rapier aufgespießt wurde. Grell hatte sie in den letzten 3 Jahren ständig unangekündigt angegriffen und irgendwann hatte sie gelernt seinen plötzlichen Attacken auszuweichen. So auch jetzt. Ihr Körper bewegte sich ganz von allein, bevor ihr Kopf überhaupt das ganze Manöver registriert hatte. Mit einem schnellen, seitlichen Salto schaffte sie es neben der Kommode mit dem Spiegel zu landen und somit dem Angriff gänzlich zu entgehen. Dabei entging ihr keinesfalls, wie schnell ihr Gegner sich bewegt hatte. „Verdammt, was soll das?“, rief sie laut und spannte ihren Körper in Erwartung eines neuen Angriffes an. „Was wollen Sie von mir? Geben Sie sich zu erkennen, Shinigami.“ Doch angesprochener Todesgott dachte gar nicht daran, ihren Worten Folge zu leisten. Er streckte seinen Arm aus, sodass die Spitze seiner Klinge genau auf sie zeigte. Carinas Augen weiteten sich, Schrecken und Terror standen ihr regelrecht ins Gesicht geschrieben. Das war eine Death Scythe, die er da auf sie richtete. Wollte er sie etwa umbringen? Ein eiskaltes Gefühl sickerte in ihren Magen hinab und schien sich dort wie ein großer, schwerer Stein festzusetzen. Und sie hatte nicht einmal eine Waffe, um sich verteidigen zu können. Verdammt, dieser Tag war dabei auf dem Treppchen der schlimmsten Tage ihres Lebens zu landen. Fahrig tastete sie hinter sich und fühlte gleich darauf das harte Holz der Kommode unter ihren Fingern, dicht gefolgt von etwas Kühlem. Schnell wurde der Schnitterin klar, dass es sich dabei um eine kleine Nagelschere handelte. Nicht sehr groß, dafür aber äußerst spitz. Ihre Pupillen verließen die Gestalt vor sich keine Sekunde lang und als diese sich wieder in Bewegung setzte, nun noch schneller als zuvor, da reagierte sie. Ihre Finger schlossen sich um das kalte Metall der Schere, was an und für sich schon ein Akt der Verzweiflung war. Doch ihre Reflexe ließen Carina auch dieses Mal nicht im Stich. Ihre blonden Haare bauschten sich auf, als sie unter seinem Hieb wegtauchte und dem Todesgott im nächsten Augenblick die Schere bis zum Anschlag in der rechten Schulter versenkte. Ihrem Angreifer entfuhr unter der Kapuze ein Zischen, doch der Stoff ließ es seltsam verzerrt klingen. Die 18-Jährige rannte los in Richtung Tür. Wenn sie nur einen wenig Platz zwischen sich und die Person bringen konnte, dann- Ein erschrockener Aufschrei entfuhr ihrer Kehle, als sie so hart am Arm gepackt wurde, dass ihr beinahe das Schultergelenk ausgekugelt wurde. Ihr ganzer Körper wurde zurückgeworfen und dann konnte sie nur noch spüren, wie er sie mit dem Rücken voran gegen die Kommode und somit direkt in den Spiegel warf. Glas splitterte, das Möbelstück fiel krachend zu Boden und dieses Mal schrie Carina vor Schmerz. Sie ging neben den Überresten der Kommode in die Knie und versuchte keuchend Luft zu holen. Sie konnte die kleinen Scherbensplitter fühlen, die sich teilweise in ihren Rücken gebohrt hatten und sich bei der kleinsten Bewegung tiefer ins Fleisch schoben. Lediglich das Adrenalin in ihren Adern verhinderte, dass der Schmerz sie vollkommen überwältigte. Mit zittrigen Beinen richtete sie sich schwankend auf. Die Scherben hatten Teile ihrer Strumpfhose zerrissen und Blut sickerte aus mehreren tiefen Schnitten. „W-was wollen Sie?“ fragte sie ein weiteres Mal, ihre Stimme zitterte genauso sehr wie ihr ganzer Körper. Doch erneut erhielt sie keine Antwort. „Ich verstehe das nicht. Will mich dieser Shinigami einfach nur umbringen? Es muss doch einen Grund geben. Einen verdammten Grund, warum er mich angreift.“ Ihr Gegner betrachtete sie weiterhin stumm, ließ ihr alle Zeit komplett aufzustehen. Eine Erkenntnis keimte in ihr auf. „Er spielt nur mit mir.“ Wenn er sie hätte umbringen wollen, hätte er das schon längst tun können. Stattdessen wartete er jedes Mal ab. Wie eine Katze, die zuerst etwas mit ihrer Beute spielen wollte, bevor sie ihr das Licht ausknipste. Der nächste Schlag kam genauso unerwartet wir der Erste, aber dieses Mal fand er sein Ziel. Die Faust des Unbekannten traf sie hart in die Rippen, knapp über der Niere. Carina hatte das Gefühl, dass ihr kurz schwarz vor Augen wurde, dennoch schaffte sie es dieses Mal auf den Beinen zu bleiben. Noch während sie rückwärts taumelte, fing die Schnitterin sich mit den Händen am Türrahmen ab und trat blind nach oben. Ihr Fuß traf den Shinigami in die Brust und ließ auch ihn zurückweichen. Die Blondine keuchte, presste sich ihre linke Hand auf ihre getroffene Seite. Sie pochte schmerzhaft und selbst das Luftholen fiel ihr nun unangenehm schwer. Plötzliche Panik stieg in ihr auf, die Carina nicht kannte. Diese Panik…diese Angst, die sie jetzt verspürte, war viel schlimmer, als jede vorherige. In der Nacht ihres Todes war es anders gewesen. Die Männer waren nicht mehr dazu gekommen ihr wehzutun, dafür hatte sie selbst gesorgt. Und bei ihrem Selbstmord hatte sie nicht wirklich lange Schmerzen gehabt. Dann waren da noch die Prügeleien mir ihren Klassenkameraden, aber da war sie nie wirklich in Lebensgefahr gewesen. Von diesen Kämpfen hatte sie nur Blutergüsse, Prellungen und Schrammen davongetragen. Bisher war sie nie wirklich ernsthaft verletzt worden. Sie hatte nie wirklich ernsthafte körperliche Schmerzen gehabt. Niemals. Bis jetzt. „Und er hat eine Death Scythe. E-er kann mich töten.“ Und die 18-Jährige hatte keinen Zweifel, dass er das durchaus auch tun würde. Die plötzliche Todesangst zuckte wie ein Blitz durch ihren ganzen Körper. Und als ihre Beine sich wie von selbst bewegten und sie aus dem Schlafzimmer trugen, hatte sie ein sehr lebhaftes Déjà-vu von der Nacht, in der sie ebenfalls vor ihren Angreifern geflohen war. Und sie fühlte sich mindestens genauso erbärmlich. Natürlich kam die Seelensammlerin mit ihren Verletzungen nicht besonders weit. Auf der Hälfte des Weges durch den Flur umfasste eine Hand die Rückseite ihres Kleides. Carina drehte sich halb um, wusste nicht einmal genau was sie tun wollte. Ihn schlagen? Ihn treten? Irgendwas sagen oder schreien? Doch sie kam nicht dazu sich für eine der Kategorien in ihren Gedanken zu entscheiden. Als hätte es nicht schon gereicht, dass der Undertaker sie heute ins Gesicht geschlagen hatte, traf sie jetzt die Faust ihres Gegenübers auf die andere, unverletzte Wange. Die Schwerkraft verlor in diesem Moment jegliche Bedeutung, jedenfalls für ihren Körper. Sie flog gegen die Tür des Arbeitszimmers, aber das Holz war ihrem Schwung nicht gewachsen und gab hinter ihrem Rücken nach. Während sich das Glas noch tiefer in die Haut ihres Rückgrats bohrte, zerbrach die Tür hinter ihr und sorgte somit dafür, dass ihr Körper erst stoppte, als sie Wand des Arbeitszimmers erreicht hatte. Geklapper ertönte, als einige Sotoba und auch Bücher zu Boden fielen. Carina blieb wimmend gegen die Wand gelehnt liegen und war sich nun einer weiteren Sache sicher: Wenn seine Death Scythe sie nicht umbrachte, dann würden es diese gottverdammten Schmerzen tun. Röchelnd hustete sie und schmeckte sogleich den metallenen Geschmack von Blut auf ihrer Zunge. Sicherlich hatte sie sich bei diesem Flug einige Knochen gebrochen. „Vielleicht sollte ich einfach liegen bleiben“, schoss es ihr durch den Kopf, doch das konnte sie nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren. Sie wollte nicht sterben. Und vor allem wollte sie nicht kampflos sterben. „Soll noch einmal einer sagen, dass wir Shinigami den Menschen nicht ähnlich sind. Wir haben genauso einen Überlebensinstinkt wie sie einen haben.“ Ächzend und mit größter Anstrengung lehnte die Blondine sich nach vorne, sodass sie nun einen Fuß auf dem Boden absetzte und mit dem anderen Bein kniete. Obwohl sie ihre Brille trug, sah sie seltsam verschwommen. Das Blut lief ihr nun aus den Mundwinkeln und tropfte in einem stetigen Rhythmus auf die Dielen. Die junge Frau fasste sich mit der linken Hand an die Stirn, die heftig pochte. Ihre Finger wurden warm und glitschig, gleich darauf spürte sie, wie ihr nun auch Blut seitlich über das Gesicht lief. Die Platzwunde an ihrer Stirn musste riesig sein. In den Schmerz und die Angst mischte sich Wut. „Du…du verdammtes Arschloch“, zischte sie und richtete ihre Augen auf den Eingang zum Arbeitszimmer. Die Überreste der Tür hingen lose in den Angeln und direkt davor stand der Mistkerl, der ihr das angetan hatte. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, aber irgendwie konnte sie sich beinahe bildlich vorstellen, wie er unter seiner Kapuze aufgrund ihrer Hilflosigkeit lächelte. Sie verlagerte ihr Gewicht auf ihren aufgestellten Fuß, schwankte allerdings wieder gefährlich. „Jetzt schaffe ich es nicht mal mehr aus eigener Kraft aufzustehen“, dachte Carina ärgerlich. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, dass neben ihr an der Wand noch zwei Sotoba hingen. Gedanklich legte sie sich einen Plan zurecht. Wenn sie sich an einer Sotoba hochziehen konnte, dann konnte sie sich möglicherweise mit ihr verteidigen. Zwar würde ihr das auf lange Sicht nichts nützen, da sie gegen den Rapier ihres Gegners keine Chance hatte, aber eine andere Idee hatte sie nicht. Doch wie es nun einmal so oft im Leben war, kam alles ganz anders als geplant. Sobald ihre Fingerspitzen das glatte, kühle Holz der Sotoba berührten, durchfuhr sie etwas Ähnliches wie ein elektrischer Schock. Ihr Atem stockte, die ganze Außenwelt spielte für einen Moment keine Rolle mehr. Vollkommen aus der Fassung gebracht drehte Carina ihren Kopf und starrte die hölzerne Latte ungläubig an. Dieses Gefühl…Diese plötzliche Machtveränderung in ihrem Blut… Wärme knisterte unter ihren Fingern und ganz plötzlich fühlte sie sich wieder vollkommen. Ihre Augen lagen im Schatten, als sie den Kopf wieder nach vorne richtete. „Dieser miese, kleine Drecksack“, flüsterte sie. Die ganze Zeit…die ganze Zeit war es hier gewesen. Wie hatte sie nur so blind sein können? Die Shinigami richtete ihren Blick nach vorne, als sie schnelle Schritte hörte. Anscheinend hatte ihr Gegenüber keine Lust mehr auf sie zu warten. Er rannte auf sie zu, schwang im Laufschritt seine Death Scythe und zielte auf ihren Körper. Erneut packte sie die Wut. „Dieses Mal nicht“, schrie sie, packte die getarnte Sotoba so fest sie konnte und schwang sie mit aller Kraft nach vorne. Noch in der Bewegung wallte rotes Licht um die Waffe auf. Lautes Klirren ertönte, als der Rapier auf eine andere Klinge traf und der Shinigami staunte nicht schlecht, als er auf einmal ein Katana vor sich hatte. Der wellenartige Schliff der Klinge brach das Licht der untergehenden Sonne, das in das Arbeitszimmer fiel. Carina packte den dunkelroten Griff nun mit beiden Händen und drückte ihre Death Scythe mit aller Anstrengung fest nach oben. Ihr Feind wich nach hinten zurück, als sein Degen dem Druck ihrer Klinge unterlag. „Jetzt oder nie“, dachte die Schnitterin und stieß sich vom Boden ab, um auf ihn zuzustürmen. Sie musste seine Überraschung ausnutzen, denn körperlich war sie ihm momentan weit unterlagen, allein schon durch ihre Verletzungen. Funken stoben auf, als ihre Schneide erneut auf seine traf und Carina sich nun endlich in einem gewissen Maße wehren konnte. Sie setzte ihre Attacken präzise, stieß genau zum richtigen Zeitpunkt zu und hoffte auf einen Fehler seinerseits. Triumph wallte in ihr auf, als sie es tatsächlich schaffte ihm eine blutende Wunde am linken Oberarm beizubringen. Die rote Flüssigkeit spritzte durch den Raum und enthüllte einen kleinen Blick auf seinen eher blassen Hauttyp. Aber diese Tatsache allein brachte ihr nichts. Sie musste versuchen ihn zu enttarnen. „Wenn ich es nur irgendwie schaffen könnte, ihm die Kapuze herunterzureißen…“ Aber wem machte sie hier eigentlich was vor? Sie pfiff aus dem letzten Loch, brauchte all ihre Kraftreserven schon auf, um überhaupt auf den Beinen bleiben zu können. Wie sollte sie es da schaffen, ihm so nahe zu kommen? Je länger das Gefecht dauerte, desto schwerer wurden ihr Katana, ihre Arme, ihr ganzer Körper. Ganz abgesehen davon, dass die Angriffe ihres Gegenübers seit seiner Verletzung wesentlich aggressiver geworden waren. Während ihre Death Scythe‘s zum wiederholten Male aufeinander trafen, übersah Carina seine rechte Faust, die sie erbarmungslos gegen die Nase traf. Kleine Sternchen tanzten vor ihren Augen, als sie dieses Mal in eines der Bücherregale geschmettert wurde und erneut zu Boden sank. Bücher lösten sich durch die Wucht von ihrem angestammten Platz und prasselten auf sie hinab. „Das wars“, ging es ihr durch den Kopf, als sie feststellte, dass ihr Körper sich nicht mehr von der Stelle bewegen konnte. Sie hatte ihr Limit bereits lange überschritten und jetzt schrie jeder Knochen, jeder Muskel, jede Sehne laut „Stopp“. „Wenigstens…wenigstens habe ich es versucht“, dachte sie, überrascht darüber wie gleichgültig sich ihre eigenen Gedanken anhörten. Etwas Positives hatte es ja, wenn sie jetzt starb. Dieser Schmerz in ihrem Herzen bezüglich ihrer unerwiderten Zuneigung würde endlich aufhören. Ihr Widersacher stand über ihr und strecke den Arm nach ihr aus, was sie wieder zum Zittern brachte. Carina schloss ihre Augen und rief sich das Bild des Bestatters ins Gedächtnis. Das Bild vom heutigen Morgen, als er ganz friedlich neben ihr geschlafen hatte. Wenn sie jetzt starb, dann sollte er das Letzte sein, an das sie dachte und das sie vor Augen hatte. Ein gequältes Stöhnen entfuhr ihr, als der Todesgott sie am Hals packte und in die Luft riss. Ihre Arme und Beine baumelten schlaff nach unten, sie konnte ihren eigenen Puls gegen den rauen Handschuh ihres Gegners hämmern hören. Dennoch schlug sie nicht die Augen auf. Nicht einmal dann, als zwei harte Schläge sie direkt in den Magen trafen. Ihr fehlte die Kraft zum Schreien, lediglich ein Wimmern verließ noch ihre Lippen. Sie presste ihre Augenlider fester zusammen, als sie spürte wie sich heiße Tränen darunter sammelten. Nein, sie würde ihm nicht die Genugtuung geben vor ihm zu weinen. So viel Stolz war ihr noch geblieben. Der Griff um ihren Hals wurde fester, doch gerade als Carina die restliche Luft in ihren Lungen auszugehen drohte, wurde sie auf einmal aus heiterem Himmel losgelassen. Ihr Körper fiel nach unten und rein aus Reflex landete sie auf ihren Knien. Helle Punkte hüpften vor ihren Augen auf und ab, als sie sie nun doch öffnete und gleich darauf vor Schreck und Ungläubigkeit vollkommen erstarrte. Der verhüllte Shinigami war zurückgewichen und hielt sich eine tiefe Fleischwunde am Unterarm. Sein Blick galt nicht mehr ihr, sondern dem Mann, der vor ihr stand und eine riesige Sense auf ihn gerichtet hielt. Carina hätte nun beinahe doch angefangen zu weinen, so erleichtert war sie ihn zu sehen. Doch dieses Bedürfnis vergaß sie sofort, als sie seinen Gesichtsausdruck sah, der sich in der Klinge seiner Sense spiegelte. Blanke Wut zierte seine Züge. Seltsamerweise sah diese Wut allerdings ganz anders aus als jene, die er ihr gegenüber gezeigt hatte. Hätte er sie vorhin so angestarrt, dann wäre sie vermutlich heulend davongelaufen. Der Zorn verzerrte sein Gesicht ein wenig, die phosphoreszierenden Augen waren gefährlich dunkel. Und er war ruhig. Zu ruhig. Carinas Härchen stellten sich ganz automatisch zu einer Gänsehaut auf. Obwohl nach wie vor nichts von dem unbekannten Shinigami zu sehen war, konnte sie seine plötzliche Unsicherheit wahrnehmen. Ein tiefes Kichern entfuhr dem Silberhaarigen. „Hehe~… Na, was ist? Möchtest du dein Glück nicht auch bei mir versuchen, Ritter der Sense?“ Jedes einzelne Wort strotzte nur so vor unterdrückter Wut. Die klare Herausforderung schien den Fremden nur noch mehr zu verunsichern. Der Totengräber jedoch gab ihm keine Gelegenheit dazu, sich die ganze Sache durch den Kopf gehen zu lassen. Er holte mit seiner Death Scythe aus, das riesige Schneideblatt zielte genau auf das Gesicht unter der Kapuze. Carina zuckte zusammen, als die Sense niederfuhr. Doch anscheinend hatte ihr Gegenspieler sich zum Rückzug entschlossen, denn bereits im nächsten Moment dematerialisierte sich sein Körper und alles, was die scharfe Klinge des Undertakers traf, war Leere. Stille trat ein, lediglich unterbrochen von Carinas rasselnden Atemgeräuschen. Die Anspannung, die nun von ihr abfiel, hinterließ gleichzeitig einen Schock. Wenn Cedric nicht gekommen wäre… Sie bekam kaum mit, wie er seine Sense wieder verschwinden ließ und sich zu ihr umdrehte. Seine Augen huschten über ihre sichtbaren Verletzungen und brennend heißer Zorn stieg erneut in seiner Kehle hoch. Wäre sie ein Mensch, wäre sie vermutlich längst tot. Entweder durch den hohen Blutverlust oder durch eventuelle innere Organschädigungen. Langsam ging er in die Knie und steckte seine langgliedrigen Finger nach der jungen Frau aus, doch Carina zuckte daraufhin so stark zusammen, dass er in seiner Bewegung sofort inne hielt. „Lass mich“, wisperte sie, während ihre geweiteten Augen zu Boden starrten. Ihre Nägel krallten sich in den zerrissenen Saum ihres Kleides. Mit aller Kraft versuchte sie das Zittern ihrer Gliedmaßen zu unterdrücken, doch das Beben ihres Körpers war deutlich sichtbar. Er mochte sie gerettet haben, aber sie wollte nicht, dass er sie anfasste. Nicht nach dem, was heute alles zwischen ihnen geschehen war. „Diese Wunden müssen versorgt werden“, meinte er ruhig. Sie konnte zwar nicht sterben, aber je länger ihre Selbstheilungskräfte daran gehindert wurden zu wirken, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dass Narben bleiben würden. „Das kann ich selbst, dafür brauche ich deine Hilfe nicht“, murmelte Carina und stemmte die Hände gegen die Wand, um aufzustehen. Was – natürlich und verständlicherweise – nicht funktionierte. Ein genervtes Schnauben entfuhr den Lippen des Bestatters. „Du kannst noch nicht einmal alleine aufstehen, geschweige denn gehen, du dummes Ding. Also hör auf das beleidigte Kind zu spielen und lass mich dir helfen.“ Carina verschlug es für einen Moment die Sprache und diese Sekunden nutzte der Undertaker, um seine linke Hand unter ihre Kniekehlen und seine rechte auf ihren Rücken zu schieben. Er hob sie sachte hoch, spürte sogleich Blut an den Fingern, die auf ihrem Kreuz lagen. Die 18-Jährige stöhnte vor Schmerz und krallte ihre Finger unbeabsichtigt in seine Anzugsärmel. Jetzt, wo das ganze Adrenalin nach und nach abgebaut wurde, verstärkten sich die Schmerzen von Sekunde zu Sekunde. Mit zügigen Schritten ging er ins Badezimmer und setzte die Schnitterin auf dem Badewannenrand ab. Gleich darauf begann er verschiedene Schubladen zu durchwühlen und Sachen daraus hervorzuziehen. Verbände, Salben, eine Pinzette, eine kleine Schere, sowie Nadel und Faden. Carinas Kehle wurde trocken, als sie die letzten beiden Gegenstände eingehend musterte. „Jetzt nicht bewegen“, sagte der Undertaker, setzte sich hinter sie und begann mit der Schere das komplette Kleid von hinten aufzutrennen. Die Shinigami war eine Sekunde lang froh, dass er sie bereits nackt gesehen hatte, denn sonst wäre sie jetzt vermutlich vor Scham gestorben. „Ist es schlimm?“, flüsterte sie, denn gedanklich malte sie sich bereits Horrorszenarien aus. Seine Augen zuckten kurz von ihren Wunden nach oben zu ihrem Hinterkopf, was sie natürlich nicht sehen konnte. „Es sieht nicht schön aus, aber das bekomme ich wieder hin“, stellte er neutral fest und griff nun nach der Pinzette. „Ich muss die Glasscherben herausziehen“, klärte er sie auf und ehe Carina auch nur Protest äußern konnte, hatte er bereits den ersten Splitter aus ihrem Fleisch entfernt. Sie keuchte gepeinigt auf, Tränen traten ihr automatisch in die Augen. „Verdammt“, stieß sie hervor und krümmte sich ein wenig vorne über. „Entschuldige“, ertönte es leise hinter ihr, obwohl der Silberhaarige ja eigentlich nichts dafür konnte. Carina biss sich auf die Lippe und zuckte jedes Mal aufs Neue zusammen, wenn die Pinzette zum Einsatz kam. Um sich wenigstens ein bisschen abzulenken, richtete sie ihren Blick nach vorne und schaute in den Badezimmerspiegel. Ihr eigener Anblick erschreckte sie. Hätte sie nicht gewusst, dass es sich hier definitiv um ihr Gesicht handelte, dann hätte sie sich vermutlich nicht wiedererkannt. Auf der linken Seite ihrer Stirn befand sich – wie die Blondine bereits vermutet hatte – eine große Platzwunde, aus der immer noch Blut austrat. Ihre Unterlippe war aufgerissen, doch der Riss war im Gegensatz zur Platzwunde bereits mit getrocknetem Blut überzogen. Kratzer befanden sich im ganzen Gesicht, doch ihr Blick blieb lange an dem gut sichtbaren Bluterguss hängen, der auf ihrer rechten Wange erblüht war. Die eine Verletzung an ihrem Körper, die nicht durch den unbekannten Shinigami verursacht worden war. „Wenigstens fällt dieser blaue Fleck jetzt nicht mehr so auf“, dachte Carina bitter und mit einer gewissen Ironie. Sie hob den Kopf ein wenig und entdeckte weitere blaue Flecke an ihrem Hals. Würgemale. Erneut schloss die 18-Jährige die Augen. Sie fühlte sich so erniedrigt… Mittlerweile hatte der Undertaker die Pinzette weggelegt und betupfte die Wunden, um sie zu säubern. Anschließend griff er nach Nadel und Faden und begann die schlimmsten Wunden zu nähen. Carina biss die Zähne jedes Mal zusammen, wenn die Spitze ihre Haut durchdrang. Kalter Schweiß stand ihr mittlerweile auf der Stirn und brannte in ihrer Wunde. Und sie war so unglaublich erschöpft, dass ihre Augenlider bereits immer schwerer wurden. Als er endlich mit dem Nähen fertig war, verteilte er vorsichtig die Salbe auf ihrem Rücken und verband abschließend das ganze Trauerspiel. Die selbe Prozedur führte er an ihren Armen und Beinen durch, wo sich zwar keine Splitter befanden, aber doch recht tiefe Schnittwunden. Als er sich schlussendlich ihrem Gesicht zuwandte, konnte Carina nicht anders. Sie starrte ihn an, während sich seine Augen auf ihre Platzwunde konzentrierten. Immer noch war sie der festen Überzeugung, dass es kein schöneres Wesen als ihn gab. Seine gelbgrünen Augen, die schneeweißen Wimpern, die kleinen Grübchen in seinen Wangen, wenn er grinste… Ein plötzlicher Schmerz ließ sie erneut zusammenzucken. Seine langen, schwarzen Fingernägel hatten vorsichtig ihren Wangenknochen berührt und über die leuchtend blaue Verfärbung gestrichen. Sie sah für einen kurzen Moment etwas in seinen Augen aufblitzen, konnte aber nicht genau sagen, was es war. „Danke“, murmelte die Schnitterin aus einer plötzlichen Eingebung heraus. „Danke, dass du mir geholfen hast.“ Ein schwaches Lächeln legte sich auf seine Lippen. „Hehe…Dachtest du, ich würde zulassen, dass dich dieser Shinigami einfach so umbringt?“ Carina schwieg. Heute Morgen hätte ihre Antwort ganz klar „Natürlich nicht“ gelautet, doch jetzt war sie sich da nicht mehr so sicher. Dem Undertaker blieb ihre fehlende Reaktion nicht verborgen. Kurz zuckten seine Mundwinkel nach unten, ganz so als ob er Schwierigkeiten hatte sein Lächeln aufrecht zu erhalten. Wortlos betastete er ihre Nase, doch diese schien trotz des abbekommenen Schlages nicht gebrochen zu sein. Weiterhin schweigend beugte er sich zurück und begann die benutzten Utensilien wieder in die richtigen Schubladen einzusortieren. Anscheinend schien er mit seiner Behandlung fertig zu sein. Carina versuchte ihre Beine zu belasten, um aufzustehen, doch der sofort auftretende Schwindel hielt sie davon ab. Stöhnend fasste sie sich an den Kopf, was wiederum dazu führte, dass ihre Seite unangenehm pochte. „ Ist dir schwindelig? Oder fällt dir das Atmen schwer?“, fragte er und drehte sich zu ihr herum. „Beides“, antwortete sie und merkte gleichzeitig, wie sich ihre Wangen röteten. Sicherlich gab sie hier gerade die Mimose des Jahres zum Besten. „Du hast mit ziemlicher Sicherheit ein paar Rippen gebrochen. Und eine Gehirnerschütterung würde ich auch nicht ausschließen. Leider kann ich gegen gebrochene Knochen nichts unternehmen, das wird von selbst heilen müssen. Aber ich denke bei einem Shinigami müsste das spätestens in 48 Stunden verheilt sein.“ Die 18-Jährige hätte am liebsten erneut aufgestöhnt. Ganze zwei Tage? Sie musste diese Schmerzen ganze zwei Tage aushalten? „Großartig“, murmelte sie und schloss müde die Augen. Sie hatte die Schnauze wirklich gestrichen voll für heute… Als sich ihr Körper aus heiterem Himmel in die Höhe bewegte, schlug sie ihre Lider wieder auf und war dieses Mal nicht davon überrascht, dass der Bestatter sie wieder auf seine Arme gehoben hatte. Mittlerweile war sie so erschöpft, dass es ihr nicht einmal mehr peinlich war. Er betrat das Schlafzimmer und betrachtete das heillose Durcheinander. Die zerstörte Kommode, die vielen Glasscherben des Spiegels, die Blutflecken auf dem Boden. „Nun, das erklärt so einiges“, meinte der Totengräber trocken und spielte damit auf ihre Verletzungen an. „Tut mir leid…für das Chaos, meine ich.“ Seine Augenbrauen hoben sich zeitgleich und er stieß zum zweiten Mal an diesem Tag ein Schnauben aus. „Entschuldige dich nicht für Dinge, für die du nichts kannst“, sagte er lediglich und klang nun wieder eine Spur freundlicher. Ein erleichtertes Seufzen fuhr Carina über die Lippen, als er sie auf dem Bett absetzte und sie sich sogleich in die weichen Laken sinken lassen konnte. Jeder Muskel in ihrem Körper wurde schwer wie Blei, die Ohnmacht war greifbar nah. „Ruh dich aus“, ertönte über ihr Cedrics Stimme. Carina wusste nicht, ob sie sich das nur einbildete, aber seine Stimme hörte sich mit einem Mal sanft an. „Ich kümmere mich um den Rest.“ Sie brachte ein letztes Nicken zustande, ehe ihr Kopf in das Kissen zurückfiel und sich ihre Augen endgültig schlossen. Während sich die Dunkelheit innerhalb von Sekunden um ihr Bewusstsein schloss und sie übergangslos in den Schlaf glitt, spürte die Shinigami erneut seine Hand auf ihrer Wange, die über den Bluterguss strich. Verschwommen wehte das leise gemurmelte Wort „Entschuldige“ durch ihren Geist. Und erneut war Carina sich nicht sicher, ob sie sich dies nicht nur eingebildet hatte. Kapitel 45: ...und der Anfang von etwas Neuem --------------------------------------------- Es war das unangenehmste Erwachen, das Carina jemals erlebt hatte. Noch während sie schlaftrunken die Augen aufschlug merkte sie, wie jede Faser ihres Körpers rebellierte. Sie wusste: Nur der Tatsache, dass sie ein Shinigami war, hatte sie es zu verdanken, dass sie nicht von Todesqualen gepeinigt aufwachte. Noch halb im Schlafmodus hob sie den Kopf und zog sich die Decke weg, die über sie ausgebreitet worden war. „Großartig, ich sehe aus wie eine Mumie“, nuschelte sie und starrte die weißen Verbände an, die sowohl Arme, Beine, als auch ihren Oberkörper bedeckten. Wie lange sie wohl geschlafen hatte? Vorsichtig setzte sie sich auf, was ihr auch ohne größere Schmerzen gelang. Lediglich ihr Kopf pochte unangenehm und als sie ihn vorsichtig betastete, spürte sie auch sogleich die kleine Erhebung einer Beule. „Oh man“, murmelte die 18-Jährige und stand mit wackligen Beinen auf. Ihre Blase protestierte und somit ging sie mit schnellen Schritten ins Bad, um sich ein wenig Erleichterung zu verschaffen. Nachdem sie ihren Toilettengang beendet hatte, wusch sie sich die Hände und starrte gleich darauf in den Spiegel. „Oh Gott“, entfuhr es ihr unwillkürlich, als sie die geschwollenen Partien ihres Gesichtes betrachtete. Der Riss in ihrer Lippe war fast vollständig verschwunden und auch die Platzwunde an ihrer Stirn war nur noch ein schmaler, abheilender Strich. Aber ihr Hals und Teile des Kiefers waren von kleinen, blauen Flecken übersät. Die dunkelblaue Stelle an ihrer Wange hatte sich mittlerweile in ein grünliches Gelb verwandelt. Automatisch wanderte Carinas Hand nach oben und tastete die betroffenen Stellen ab, ganz so, als könnte sie selbst nicht glauben wie schlimm ihr eigenes Gesicht aussah. „Dornröschen scheint wieder wach zu sein, hehe~“, ertönte neben ihr eine altbekannte Stimme und als Angesprochene ihren Kopf nach rechts drehte, sah sie den Undertaker in der Badezimmertür stehen. Ein Schnauben entfuhr der Blondine. „Was soll das denn jetzt heißen?“, meinte sie und griff nun nach einer Salbe, um sich die Wunden einzucremen. „Du hast immerhin ganze 35 Stunden geschlafen.“ Carina starrte ihn an. „Ich hab 1 ½ Tage geschlafen?“, fragte sie entsetzt und bekam ein Nicken als Antwort. „Na ja, aber nach der Prügelei kein Wunder“, grinste er und trat näher an sie heran. „Ich hab mich nicht geprügelt. Ich wurde angegriffen und hab mich gewehrt, das ist ein Unterschied“, murmelte sie und versuchte an den Verschluss des Verbandes zu kommen, der genau in der Mitte ihres Rückens lag. Der Bestatter lachte. „Komm, ich helfe dir“, sagte er und begann die weißen Streifen nach und nach zu lösen. „Danke, Mr. Samariter“, antwortete sie und lächelte sofort, als sie sein Lachen hinter sich hörte. Doch das Lächeln wich genau in dem Moment von ihren Lippen, als das letzte Stück Stoff zu Boden fiel und sie ihren Oberkörper mustern konnte. Ihre komplette rechte Seite, sowie die Stelle über ihrem Bauchnabel, leuchteten in einem dunklen Violett. Es sah furchtbar aus. „Dein Rücken sieht gut aus. Kaum noch etwas zu…“, der Silberhaarige brach abrupt ab, als er über ihre Schulter hinweg in den Spiegel schaute und die Blutergüsse sah. Carina presste ihre Lippen zu einer dünnen Linie zusammen, ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Egal, wer ihr Angreifer auch gewesen war… „Dafür wird er büßen“, sagte sie mit klarer und deutlicher Stimme, während sie die Salbe nun auch auf ihrem Bauch verteilte. Niemand demütigte sie und kam dann ohne Konsequenzen davon. „Apropos“, begann der Totengräber und schnappte ihr nun die Tube aus der Hand, „wen hast du so gegen dich aufgebracht, dass dieser Jemand dich sucht, auch noch findet und dann versucht dich umzubringen?“ Carina rollte mit den Augen und verschränkte die Arme vor ihren nackten Brüsten. „Ich hab überhaupt niemanden gegen mich aufgebracht. Höchstens Ronald, weil ich nicht mit ihm ausgehe, aber der ist erstens viel kleiner und zweitens wesentlich schwächer. Und er hat einen Rasenmäher als Death Scythe, das wäre mir also aufgefallen.“ Sie erschauderte, als seine Fingerspitzen die kühle Salbe auf ihrem Rücken verteilten. Automatisch stellten sich ihre Brustwarzen auf und die junge Frau dankte Gott dafür, dass der Bestatter es nicht sehen konnte. „Ganz abgesehen davon glaube ich irgendwie nicht, dass er mich umbringen wollte.“ Der Undertaker hob eine Augenbraue. „Ach ja und wieso nicht?“ „Weil er mehr als nur eine Gelegenheit dazu gehabt hätte, es aber nicht getan hat. Nein, stattdessen hat er sich Zeit gelassen und mich vorgeführt.“ Eiskalte Wut sickerte in ihren Bauch und brannte bei jedem Wort in ihrer Kehle. Doch plötzlich fiel ihr wieder etwas ein, was sie beinahe vergessen hatte. „Und wo wir gerade von vorführen sprechen“, knurrte sie und drehte sich, immer noch mit verschränkten Armen, zu ihm um. Der Silberhaarige schaute sie perplex an und blinzelte, als sie mit einer wütenden Miene ihr Gesicht genau vor seines brachte. „Du bist kein Stück besser. Du hast mich ebenfalls wie den letzten Trottel dastehen lassen. Ich meine…eine Sotoba? Ernsthaft?“ Er konnte gar nicht verhindern, dass sich ein verspieltes Grinsen auf seine Lippen schlich. „Ach komm, das war doch nun wirklich eine Meisterleistung von mir. Nur zu schade, dass ich deinen Gesichtsausdruck nicht sehen konnte, als du es herausge- Aua!“ Beherzt hatte die Schnitterin ihre Hände nach seinen Wangen ausgestreckt und kniff diese nun genervt zusammen. „Du bist unmöglich“, rief sie, während sie seine Wangen nun auseinanderzog und sein schrilles Lachen dadurch komplett verzerrt aus ihm herausbrach. Weiterhin lachend griff er nach ihren Handgelenken und zog ihre Finger von seinem Gesicht weg. „Aehehehe, du hast doch sonst immer so viel Sinn für Humor.“ „Ja, aber nicht, wenn er auf meine Kosten geht“, konterte sie und blickte gleich darauf grimmig drein. „Und meine Augen sind hier oben“, fügte sie noch hinzu, denn sein Blick war reflexartig eine Ebene tiefer gerutscht. „Na na“, meinte der Bestatter und zog sie dichter an seinen Körper heran, sodass er seinen Mund an ihr rechtes Ohr legen konnte. „Ich habe doch ohnehin schon alles gesehen.“ Carina wurde rot im Gesicht. Sie versuchte ihn gleichzeitig böse anzufunkeln, war dabei allerdings nicht ganz überzeugend. Mit einem letzten belustigten Kichern ließ er ihre Hände los. „Du solltest dich noch ein wenig ausruhen, dann heilen die restlichen Wunden schneller. Glaubst du deine Knochen sind wieder ganz?“ „Fühlt sich jedenfalls alles wieder heil an. Aber du hast Recht, ich sollte mich noch ein wenig schonen. Von dem bisschen Gehen und Stehen bin ich schon wieder total müde.“ Der Undertaker beobachtete die Blondine dabei, wie sie sich eines seiner Hemden anzog und zuknöpfte. Trotz ihrer 1,70 m ging ihr der Stoff fast bis zu den Knien. Er würde es niemals zugeben, aber er war froh, dass sie heute nicht mehr so wortkarg und steif zu ihm war, wie vor 1 ½ Tagen. Diese Carina hatte ihm nicht sonderlich gefallen. Obwohl er natürlich selbst auch nicht ganz unschuldig an ihrer schlechten Stimmung gewesen war. Er war niemand, der oft Reue empfand, aber den Schlag…ja, den Schlag bereute er. „Soll ich dich wieder ins Bett bringen oder schaffst du das dieses Mal alleine?“, sagte er schelmisch, um die Situation weiter aufzulockern und erhielt auch beinahe sofort die gewünschte Reaktion. „Nein, danke“, fauchte sie mit hochrotem Gesicht und stürmte so gut es ihr möglich war aus dem Zimmer heraus, sein unerträgliches Kichern immer noch im Rücken. „Hätte ich mir ja denken können, dass er sich jetzt lustig darüber macht“, dachte die 18-Jährige beschämt und betrachtete das Schlafzimmer nun genauer. Die Überreste der Kommode und generell das ganze Chaos war verschwunden, lediglich die verblassten roten Flecken auf dem Boden erinnerten noch an den Vorfall. An den Schrank gelehnt stand ihr Katana, was Carina erleichtert aufseufzen ließ. Wenigstens besaß der Totengräber so viel Anstand und hatte ihre Death Scythe nicht noch einmal versteckt. Schweigend ließ sie sich erneut auf das Bett sinken und schaute ihre Waffe weiterhin aus den Augenwinkeln an. „Ich habe sie zurück. Eigentlich…eigentlich gibt es jetzt keinen Grund noch länger hier zu bleiben.“ Sie war sich dessen deutlich bewusst und dennoch machte sich Unmut in ihr breit. Wenn sie erst einmal von hier verschwunden war…wenn sie erst einmal wieder bei den anderen Shinigamis war…dann wäre es endgültig. Allein der bloße Gedanke versetzte sie in Panik und Carina machte sich keine Illusion darüber, warum das so war. Sie liebte ihn, natürlich schmerzte der Gedanke ihn verlassen zu müssen. Ihn womöglich niemals wiederzusehen. Ihn…loszulassen. Die Blondine konnte im Nachhinein nicht mehr genau sagen, bei welchem Gedanken sie wieder eingeschlafen war, aber als sie erwachte schien orange-rotes Licht durch das Fenster und die Sonne war ein weitentfernter, roter Halbkreis am Horizont. Bald würde es dunkel werden, sie musste also wieder ein paar Stunden mit Schlafen verbracht haben. Aber körperlich und auch geistig schien sie diese Auszeit dringend benötigt zu haben. Die Schmerzen waren deutlich besser, aber immer noch hatte sie das Gefühl, dass sie die ganze Nacht ebenfalls noch durchschlafen konnte, wenn sie es denn gewollt hätte. Kurz lauschte sie in die anhaltende Stille der Wohnung hinein. Anscheinend hatte der Silberhaarige sich wieder seinen Pflichten als Direktor des Weston Colleges gewidmet. „Oder den Leichen“, dachte sie augenverdrehend. Halbwegs sicher auf den Beinen stand sie auf und zog sich das weiße Hemd aus. Gleich darauf rümpfte sie die Nase. Der Geruch von Blut, Schweiß und Salbe haftete an dem Stoff. „Kein Wunder. Nach dem Kampf hab ich fast 2 Tage lang geschlafen. Wird wirklich dringend Zeit für ein Bad.“ Rasch nahm sie sich frische Kleidung aus dem Schrank und ging dann bereits wie vor einigen Stunden ins Bad. Nach kurzem Zögern entschloss sie sich dazu die Badezimmertür abzuschließen. Falls der Bestatter in nächster Zeit zurückkommen sollte, dann konnte er ihr ruhig mal ein wenig Zeit für sich selbst gönnen. Carina stellte das Wasser auf eine Temperatur ein, die ein wenig wärmer als lauwarm war. Immerhin waren einige ihrer Wunden immer noch nicht komplett geschlossen und die Haut war überall gereizt. Heißes Wasser würde nur unnötig schmerzhaft brennen. Nach wenigen Minuten drehte sie die Hähne wieder zu und ließ sich vorsichtig in die Wanne sinken. Ein paar Sekunden brannte es tatsächlich ein wenig, doch dann gewöhnte sich ihr Körper an das Gefühl und entspannte sich. Für mehrere lange Momente erlaubte es sich die 18-Jährige ihre Augen zu schließen und einfach mal an nichts zu denken. Doch wie das nun einmal so mit ihren Gedanken war, hielt dieser Zustand nicht lange an. Schnell kamen ihr wieder die Worte des Undertakers in den Sinn. „Die Frage ist berechtigt. Wen habe ich so verärgert? Warum sollte mich jemand so attackieren? Und warum wimmelt es hier noch nicht von anderen Shinigami? Warum hat mein Angreifer unseren Aufenthaltsort nicht verraten? Ist er oder sie etwa auch ein Deserteur wie Cedric? Aber das ergibt keinen Sinn. Warum hätte er mich denn dann angreifen sollen? Ach, das alles ergibt einfach keinen Sinn.“ Frustriert legte sie ihren Kopf in den Nacken, sodass die blonden Strähnen unter Wasser getaucht wurden. Ihre Augen lagen auf der Decke, doch es war fast so, als würde sie hindurchsehen. Wirre Gedanken wirbelten durch ihr Gehirn. Erinnerungen an die Wochen, die sie bereits hier war. „Also? Haben wir einen Deal?“ „Wenn du einen Kuss möchtest, dann hol ihn dir!“ „Du bist so ein Sturkopf, Carina.“ „Du spielst mit dem Feuer. Pass auf, dass du dir nicht die Finger verbrennst.“ „Um ganz ehrlich zu sein, wollte ich dich unbedingt einmal in so einem Kleid sehen.“ „Tanz mit mir!“ „Vertrau mir, Carina.“ Gequält schloss sie erneut die Augen. All das waren schöne Erinnerungen, aber da gab es auch Dinge, die das genaue Gegenteil von schön waren. Dinge, die noch ganz frisch waren. „Willst du etwa bestreiten, dass du gegen den Deal verstoßen hast?“ „Claudia.“ „Es war so leicht, so unglaublich leicht, sich in sie zu verlieben.“ „Ich habe mir selbst versprochen, dass ich alles tun werde, um sie zurückzuholen.“ „Das ist so unfair“, flüsterte sie. Diese Claudia…diese verdammte Frau machte ihr alles kaputt. Gleichzeitig konnte sie nicht einmal etwas dafür. Sie war tot, verdammt. Tote sollten jemanden nicht zur Weißglut treiben. Aber leider war es so und das machte die ganze Sache nur noch schlimmer. Automatisch fragte sich Carina, wie es gewesen wäre, hätte sie Cedric zuerst kennengelernt. Hätte er sich dann vielleicht in sie verliebt? Hätten sie so vielleicht glücklich werden können? Doch schlussendlich machte es ebenfalls keinen Sinn darüber nachzudenken. Es war nun einmal wie es war. Er liebte diese Claudia und nicht sie. Die 18-Jährige lächelte, doch es erreichte ihre Augen nicht. „Und dennoch ändert das nichts an den schönen Erinnerungen. Es ändert nichts daran, dass ich nicht eine Sekunde bereue. Daran, dass ich ihm meine Unschuld geschenkt habe. Oder daran, dass ich ihn liebe. Ich muss wirklich die größte Idiotin aller Zeiten sein.“ Fahrig griff sie nach der Seife und begann vorsichtig ihre Haut einzuschäumen. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, dann lenkten all diese Gedanken sie doch nur von ihrem eigentlichen Problem ab. Nämlich der Frage, wie es jetzt weitergehen sollte. Sollte sie bleiben? Oder gehen? Ein unerwartetes Ruckeln an der Tür schreckte die Schnitterin aus ihrem inneren Konflikt. „Geht es dir gut?“, ertönte es dumpf von der anderen Seite, sofort erkannte sie seine Stimme. Was nicht verwunderlich war, sie hätte sie überall erkannt. „Ich komme gleich“, antwortete sie, woraufhin sich die Schritte des Bestatters entfernten. Schnell wusch sie sich die Haare und erhob sich aus der Wärme der Badewanne. Während Carina sich abtrocknete, lief ihr Gehirn zum wiederholten Male auf Hochtouren. Und als sie sich einen Slip und ein neues weißes Hemd angezogen hatte, wandelte sich ihr monotoner Gesichtsausdruck. Plötzlich stand Entschlossenheit in ihrem Blick. Carina schloss den letzten Knopf und ließ die Hände sinken. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen. Der Undertaker schaute auf, als die junge Frau das Schlafzimmer betrat. Sie sah schon deutlich besser aus als vor wenigen Stunden, von vorgestern ganz zu schweigen. Die Selbstheilungskräfte der Shinigami waren doch jedes Mal aufs Neue erstaunlich. Zu schade, dass das leider auch bei Dämonen der Fall war. „Du siehst besser aus“, meinte er mit einem milden Lächeln, doch Carina erwiderte es nicht. „Kann sein“, murmelte sie wortkarg und setzte sich auf ihre Bettseite. Ihre Augen huschten zwar kurz über seinen Körper, der nur noch von einer schwarzen Unterhose geziert wurde, aber ansonsten ignorierte sie ihn. Er wusste nicht wieso, aber irgendwie störte den Totengräber dieser Umstand. Und zwar gewaltig. Seitdem er sie geschlagen und ihr die Wahrheit über seine Bizarre Dolls erzählt hatte, schien Carina sich in ihr Innerstes zurückgezogen zu haben. Es war wie eine unsichtbare Barriere, die zwischen ihnen stand. Beinahe so wie eine unüberwindliche Mauer. So angespannt war es nie zwischen ihnen gewesen, nicht einmal auf der Campania. Carinas Blick lag auf ihrer Death Scythe, das nach wie vor am Schrank lehnte. Trotz der bereits eintretenden Dunkelheit hob sich das Rot der Schwertscheide noch deutlich vom Rest des Zimmers ab. Es war seltsam, aber mit ihr in der Nähe fühlte sie sich ein ganzes Stück besser als zuvor. „Carina“, ertönte es plötzlich neben ihr. „Hmm?“, machte sie und wandte den Blick von ihrem Katana ab, um den ehemaligen Seelensammler anzuschauen. Erschrocken zuckte sie zusammen, als er aus heiterem Himmel seine linke Hand an ihre Wange legte und über die sichtbare Verfärbung strich. Es tat nicht mehr weh, aber sie hatte definitiv nicht mit dieser Berührung gerechnet. „Es tut mir leid“, sagte er, woraufhin Carinas Augen eine Spur weiter wurden. Er brauchte überhaupt nicht weiterzusprechen, sie wusste auch so was er meinte. Worauf er anspielte. Plötzlich schlug ihr das Herz bis zum Hals. „…Warum sagst du das?“, flüsterte sie leise. „Weil ich es so meine“, antwortete er ernst und ließ langsam seine Hand sinken. Die 18-Jährige biss sich auf die Lippe. Warum fing er jetzt mit so etwas an? Musste er es ihr denn noch schwerer machen? Und warum verdammt noch mal hatte er ihre Wange losgelassen? Er sollte sie weiter anfassen. Sie sehnte sich nach seinen Berührungen, seiner Wärme, seiner Haut auf ihrer eigenen. „Ich bestreite nicht, dass ich jedes Wort genau so gemeint habe, wie ich es gesagt habe. Aber dass ich dich geschlagen habe, bereue ich. Ich habe überreagiert und das hätte nicht-“ Das abschließende „passieren dürfen“ blieb dem Silberhaarigen mitten im Hals stecken, als die junge Frau sich urplötzlich vorbeugte, ihre Hände an seine Wangen legte und ihren Mund auf seinen presste. Er blinzelte, im ersten Moment mehr als nur irritiert. Gerade eben hatte sie ihn weitestgehend ignoriert und jetzt küsste sie ihn? Hatte er irgendetwas nicht mitbekommen? Nicht, dass er sich beschwerte, ganz im Gegenteil sogar, aber das war ihm dann doch ein Gedankensprung zu viel. „Entschuldigung angenommen“, murmelte sie, als sie sich kurz von seinen Lippen löste und ihn ansah. Ihre gelbgrünen Augen glühten ihm in der aufsteigenden Dunkelheit des Raumes entgegen. Doch bevor er ihr eine Antwort geben konnte, hatte sich die Blondine ein zweites Mal nach vorne gewandt und küsste ihn, nun eindringlicher. Er keuchte, als ihre Zunge neckend über seine Unterlippe strich und nach Einlass verlangte. Ohne überhaupt darüber nachzudenken erwiderte er den Kuss und öffnete seinen Mund. Mittlerweile waren Carinas Hände von seinen Wangen hinabgerutscht und lagen auf seinen nackten Schultern. Vollkommen durch den Kuss abgelenkt, bemerkte der Silberhaarige erst, dass die Schnitterin sich bewegt hatte, als sie bereits halb auf seinem Schoß saß. Wollte sie etwa jetzt mit ihm- Ein abruptes Stöhnen entrang sich seinen Lippen, als die junge Frau völlig unerwartet ihre Hand auf seinen Schritt legte und zudrückte. Natürlich reagierte sein Körper sofort. Instinktiv zuckten seine Hüften nach oben, sodass er die Hüften der Seelensammlerin ergreifen musste, damit sie nicht von seinen Beinen rutschte. Carina zuckte zusammen, als seine Hände mit ihren Blutergüssen in Kontakt kamen, aber der Schmerz ließ sofort nach, als er seinen Griff lockerte. „Vielleicht ist das keine so gute Idee“, wisperte er gegen ihren Mund und atmete gleichzeitig zischend ein, als ihre Hand anfing sein Glied durch die Hose hindurch zu reiben. „Mir geht es gut“, antwortete sie leise und schmiegte ihren Körper, der lediglich von einem weißen Hemd und einem Slip bedeckt wurde, dichter an seinen. „Du bist immer noch verletzt“, stellte er keuchend klar, während sich unter ihren Fingern bereits eine deutlich sichtbare Beule abzeichnete. Carina sah ihn direkt an, die Antwort stand ihr klar und deutlich ins Gesicht geschrieben. „Ich will es“, sagte sie bestimmt, griff bereits im nächsten Moment unter den schwarzen Stoff und umschloss seine Erektion mit ihrer rechten Hand. Er stieß ein tiefes Stöhnen aus, woraufhin sich Carinas Nackenhaare aufstellten. Auf seltsame Art und Weise genoss sie es die Kontrolle über ihn zu haben. Wie er es ihr vor mehreren Tagen gezeigt hatte, glitten ihre Finger mit raschen Bewegungen an seinem Schaft auf und ab. „Verdammt, Carina“, knurrte er rau und stieß unabsichtlich mit seinem Glied nach oben in ihre Handfläche. Sein Blick verdunkelte sich, die phosphoreszierenden Pupillen waren auf seinen eigenen Schoß gerichtet, der bereits vor Verlangen pochte. „Ja?“, fragte sie unschuldig und konnte sich nur mit Mühe ein kleines Grinsen verkneifen. Die Augen des Bestatters verengten sich. Sie verführte ihn hier nach Strich und Faden, dabei war sie vor fast 2 Wochen noch Jungfrau gewesen. Sie lernte schnell dazu, das musste er ihr lassen. Aber wenn sie dachte, dass er hier nur tatenlos rum saß und darauf wartete, dass sie ihm endlich Erlösung schenkte, dann hatte sie sich gewaltig getäuscht. Seine Hände umschlossen ihre Hüften ein wenig fester, jedoch achtete er genau darauf ihr nicht wehzutun. Der Shinigami beugte seinen Kopf wieder zu ihr hinunter und drückte ihr einen harten Kuss auf die Lippen, den sie sofort erwiderte. Carina keuchte leise, denn ganz langsam wurde auch ihr ziemlich heiß in diesem – eigentlich recht kühlen – Zimmer. Sie konnte seine Männlichkeit unter ihren Fingern deutlich pochen und zucken spüren und genauso wie beim ersten Mal gefiel es ihr. Es gefiel ihr, wie er gleichzeitig steif und zu Wachs in ihren Händen wurde. Seine Lippen lenkten sie kurzzeitig ab, doch es war eine willkommene Ablenkung. Die Blondine war sich zu Anfang nicht sicher gewesen, ob er sich nach allem was passiert war überhaupt noch einmal auf sie einlassen würde, aber Gott sei Dank spielte er ihr Spielchen mit. Das war alles, was Carina wollte. Seine Nähe. Seine Wärme. Seine Berührungen. Nur ein allerletztes Mal… Der Todesgott löste den Kuss überrascht, als die 18-Jährige ihn urplötzlich losließ und ihre Hände anstatt dessen ihren Slip umfassten. Mit einer fließenden Bewegung zog sie sich das Kleidungsstück von den Beinen und ließ es neben dem Bett zu Boden fallen. Sein Hals wurde mit einem Mal fürchterlich trocken, ihre plötzliche Eigeninitiative erregte ihn. Zeitgleich fragte er sich, was Carina vorhatte, doch die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Ihre Hände ergriffen abermals seine Schultern und mit einem leichten Ruck brachte sie ihr Becken über seinen Schoß, um sich im darauffolgenden Moment bereits auf seine Erektion sinken zu lassen. Synchrones Stöhnen erfüllte die Luft und die Seelensammlerin biss sich kurz auf die Lippe. Es fühlte sich ein wenig anders an als sonst, vermutlich aufgrund der ungewohnten Stellung, tat aber nicht weh. Ein sachtes Kichern entfuhr ihr, als sie in sein doch recht fassungsloses Gesicht schaute. „Schon vergessen? Ich bin immer für eine Überraschung gut“, hauchte sie ihm lächelnd entgegen und hob die Hüfte an, um sich anschließend erneut auf ihn herabzusenken. „Kleines Biest“, knurrte er und zwickte ihr spielerisch in den Po. Der Anblick, wie sie auf ihm saß und ihn mit sicherer werdenden Bewegungen ritt, machte ihn halb wahnsinnig. Aber da gab es eine Sache, die ihn noch ganz gewaltig störte. Seine Augen lagen auf ihren Brustwarzen, die sich energisch gegen den weißen Stoff des Hemdes drückten. Carina schluckte, als sein fordernder Blick sie traf. „Zieh dich aus“, raunte er dunkel, während sich seine Handflächen um ihren Po legten und er ihr mit seinen Hüften entgegenkam. Keuchend kam sie seinem Befehl nach, der sich als gar nicht so einfach herausstellte. Denn seine rhythmischen Bewegungen und die damit verbundene Hitze zwischen ihren Beinen sorgten dafür, dass ihre Finger zitterten. Bereits nach dem zweiten Knopf ging dem Todesgott die Geduld aus. Er ließ ihre Kehrseite los und riss an dem Kleidungsstück, sodass die restlichen Knöpfe in alle Richtungen davon flogen. Keine Sekunde später landeten die Überreste des Hemdes neben dem Bett. Carina schnappte nach Luft, als er eine ihrer empfindlichen Brustwarzen mit dem Mund umschloss und sanft daran zog. Reflexartig drückte sie ihren Rücken durch, näher an ihn heran. In diesem Augenblick waren ihr sogar die Blutergüsse egal, die sich immer noch wie ein schillerndes Muster über große Teile ihres Körpers erstreckten. Die Lust pulsierte durch ihren Unterleib und unwillkürlich spannte sie sich ein wenig mehr an. Im nächsten Moment – Carina bekam kaum mit wie es passierte – befand sie sich auf dem Rücken liegend auf dem Bett vor. Der Totengräber kniete über ihr, immer noch tief in ihr versunken und beäugte sie wie ein Raubtier seine Beute. Seine silbernen Haare rahmten ihren Körper ein, während er sich zu ihr hinunterbeugte und seinen Mund an ihr Ohr legte. Eine Gänsehaut ergriff Besitz von der 18-Jährigen, noch bevor sie seine Worte vernahm. „Hast du eigentlich eine Vorstellung davon, wie eng du bist?“ Carina konnte deutlich spüren, wie ihre Wangen rot wurden, aber er ließ ihre keine Zeit für tiefergehende Schamgefühle. Seine Hände stemmten sich neben ihren Kopf, als er seine Hüftbewegungen wieder aufnahm. Doch es war anders. Bisher war er beim Sex mit ihr immer vorsichtig gewesen, ganz darauf bedacht ihr nicht wehzutun. Beim letzten Mal war es ihnen beiden um die Erlösung gegangen, weswegen weder er noch sie sich zurückgehalten hatten. Doch dieses Mal waren seine Bewegungen sanft, beinahe zärtlich. Seine Stöße waren langsam, aber tief und das war für Carina in diesem einen Moment erregender als alles andere. Der ganze Akt wurde mit einem Mal so intim, dass Carina gar nicht wollte, dass es aufhörte. Für eine Sekunde dachte sie darüber nach es ihm zu sagen. Die drei kleinen Wörter, die ihr schon die ganze Zeit im Kopf herumschwirrten und gesagt werden wollten. Aber das konnte sie nicht. Er würde sie nicht erwidern, das wusste sie. Vermutlich würde sie damit alles nur noch schlimmer machen. Stattdessen legte sie ihren Kopf in den Nacken und stöhnte wohlig auf, kostete jedes umherwirbelnde Gefühl in ihrem Körper bis zur Gänze aus. Der Undertaker nutzte die Gelegenheit und strich mit seinen Lippen über die Würgemale an ihrem Hals. Ihre Nägel krallten sich unterbewusst in die Seiten seines Brustkorbes, gleichzeitig wurde der Druck in ihrem Schoß immer heftiger, geradezu drängend. „Cedric…bitte“, keuchte sie ihm entgegen und vergrub ihr Gesicht in seiner Halsbeuge. Der intensive Duft nach Zucker und Karamell schlug ihr entgegen. Wenn sie doch nur für immer und ewig in dieser Position verharren könnte… „Bitte…was?“, fragte er, nun genauso unschuldig wie sie es zuvor getan hatte. Seine Augen funkelten belustigt in der Dunkelheit und Carina musste sich schwer zusammenreißen, um ihm keinen Schlag gegen die Schulter zu versetzen. Ihr Gehirn brauchte mehrere Sekunden, um eine halbwegs zusammenhängende Antwort zu produzieren. „Besorg’s mir endlich, ich…ich kann nicht mehr…“ Ihre Stimme versagte kurzzeitig, als sie spürte, wie seine Erektion in ihr noch weiter anschwoll. Über sich konnte sie ihn leise lachen hören. „Tue ich das nicht bereits? Du musst dich schon etwas klarer ausdrücken“, sagte er, sie konnte die blanke Schadenfreude in seinem Tonfall hören. Das war dann wohl die Rache für vorhin, eigentlich hätte sie es sich ja denken können. „Cedric, bitte!“, sagte sie, dieses Mal deutlicher und presste ihre Hüfte fest gegen die seine. Seine Stöße beschleunigten sich, waren aber weiterhin tief und einnehmend. Er löste eine seiner Hände vom Bett und legte sie unter ihr Steißbein, um ihre Körper noch enger aneinanderzudrücken. „Dann komm mit mir, Carina“, flüsterte er und presste seinen Mund in einem harten, festen Kuss auf ihren. Es war so, als ob er mit dieser Berührung das geballte Verlangen in ihr freisetzen würde. Die Schnitterin hatte gerade noch die Zeit ihre Hände in seinen langen, silbernen Haaren zu vergraben, da überrollte sie ihr Orgasmus wie es damals das eiskalte Wasser auf der Campania getan hatte. Jeder verdammte Muskel in ihrem Körper spannte sich erbarmungslos an, sie hatte jegliche Kontrolle über sich selbst verloren. Carina hätte nicht einmal im Nachhinein sagen können, welche Geräusche ihr in diesem Moment entflohen waren. Es war ihr allerdings auch herzlich egal. Das Einzige, was sie noch hören und spüren konnte, war der Mann über ihr. Der Todesgott stöhnte keuchend auf, als ihn ihre plötzliche Enge umfasste. Noch zweimal stieß er sich tief in sie hinein, bevor auch er von seinem eigenen Höhepunkt mitgerissen wurde und sich in ihr ergoss. Kurz spürte Carina die plötzliche Wärme in ihrem Schoß, dann konzentrierte sie sich wieder vollkommen auf ihre eigenen Empfindungen und das Gefühl der vollkommenen Befriedigung, das langsam eintrat. Einige Minuten lang war nur das rasche Atmen im Raum zu vernehmen. Als Carina endlich wieder zu Sinnen kam, befanden sie sich immer noch in genau der gleichen Position wie vor ihrem Orgasmus. Cedric war ebenso außer Atem wie sie. Schweiß glänzte auf seinem Oberkörper und auf seiner Stirn, aber auch in diesem Punkt stand sie ihm in Nichts nach. „Besorg’s mir?“, fragte er plötzlich, ein breiter werdendes Grinsen im Gesicht. „Sehr damenhaft, wirklich.“ Carina wurde scharlachrot. „Halt doch den Mund“, murmelte sie genervt zurück, obwohl sie sich jetzt selbst für den Ausdruck schämte. Herrgott, sollte er halt nicht verlangen, dass sie kurz vor ihrem Höhepunkt mit ihm redete. Lachend erhob er sich und ließ sich neben der Blondine in das Laken sinken. „Erfahre ich jetzt endlich, was dich dazu geritten hat?“ Stille. Carina verdrehte ihre Augen himmelwärts, während der Undertaker in Gelächter über seinen eigenen – dieses Mal unbeabsichtigten – Wortwitz ausbrach. Doch das gab der 18-Jährigen die Gelegenheit sich eine Ausrede einfallen zu lassen. „Brauche ich dafür einen Grund?“ „In diesem Jahrhundert? Ich fürchte ja“, lautete seine belustigte Antwort. „Tja, dann muss ich dich wohl enttäuschen. Ich wollte Sex, sonst nichts. Das müsste doch in deinem Sinne sein, oder etwa nicht?“ Sie zuckte gleichgültig mit den Schultern, doch der letzte Satz kam eine Spur kühler heraus, als sie es ursprünglich beabsichtigt hatte. Er hob eine Augenbraue. „Jetzt sei doch nicht gleich beleidigt. Ich hab’s nicht böse gemeint.“ „Ich weiß“, seufzte sie und grinste nun selbst. „Und da heißt es immer es wären die Frauen, die reden wollen. Anscheinend bist du hier eine Ausnahme.“ „Freches Ding“, murmelte er und griff nach der Bettdecke. Wie beim letzten Mal legte er sie auch über die nackte Frau an seiner Seite, doch nun machte Carina keine Anstalten näher an ihn heranzurücken. Er schaute sie aus seinen Augenwinkeln an. Erschöpfung stand ihr ins Gesicht geschrieben, sie schien mit ihren Gedanken gerade ganz woanders zu sein. Aber genau dieser Wesenszug faszinierte ihn so an ihr. „Gute Nacht“, meinte er lächelnd und riss die Shinigami somit aus ihren Gedanken. Kurz schien Carina zu zögern, doch dann beugte sie sich doch zu ihm hinunter und drückte ihm einen leichten Kuss auf die Wange. „Gute Nacht, Cedric“, wisperte sie und ließ sich zurück in die Kissen sinken. Der Silberhaarige blinzelte ein paar Mal verwirrt, doch dann verschränkte er die Arme hinter dem Kopf und schloss die Augen. Es dauerte gar nicht lange, da konnte Carina seine gleichmäßigen Atemzüge hören. Sie lauschte ihnen mehrere Minuten, um ganz sicher zu gehen, dass er auch wirklich schlief. Denn eins hatte sie mittlerweile herausgefunden. Wenn der Undertaker einmal schlief, dann weckte ihn so schnell nichts wieder auf. Schon öfters war sie nachts ohne große Probleme ins Badezimmer verschwunden und er hatte nicht einmal gezuckt. „Muss anscheinend eine Eigenart der Shinigami sein. Wenn Grell pennt, dann ist er auch mehr tot als lebendig. Mit ihm könnte man sonst was machen und er würde es nicht mitbekommen.“ Vorsichtig erhob sie sich aus dem Bett und schritt auf leisen Sohlen zum Schrank. Nach nur wenigen Handgriffen hielt sie die Kleidung in den Händen, in der sie hierhergekommen war. Die Hose war ein wenig zerknittert, aber wenigstens im Gegensatz zu der Bluse ganz. Immer noch war deren linker Ärmel zerrissen und mit ihrem getrockneten Blut getränkt. Aber momentan hatte sie leider nichts anderes. Mit einem unguten Gefühl im Magen schlüpfte sie in die Sachen hinein. Mit zittrigen Händen knöpfte sie den letzten Knopf zu und griff dann nach ihrem Katana, das nach wie vor am Schrank lehnte. Ihre Schritte waren immer noch lautlos, hörten sich in ihren Ohren jedoch fast schon wie ein lautes Widerhallen an. Und jeder Schritt war schwer. Bleischwer. Am Türrahmen des Schlafzimmers blieb sie schließlich stehen. Ein gequälter Ausdruck huschte über ihr Gesicht und obwohl Carina wusste, dass es alles nur noch schlimmer machen würde, drehte sie sich noch ein letztes Mal zu ihm um. Dieses Bild wollte sie sich einprägen, sich ins Gedächtnis gravieren. Seine langen, silbernen Haare, die sich über das Kissen und das Lacken erstreckten. Seine entspannte Miene, die ihn fast ein wenig unschuldig wirken ließ. Sein schöner Oberkörper, der nicht von der Bettdecke verdeckt wurde. Und schlussendlich das gleichmäßige Heben und Senken seines Brustkorbes, das ihr zeigte, dass er friedlich schlief. Die Schnitterin konnte spüren, wie ihre Augen anfingen zu brennen und wandte den Blick ab. Tief einatmend nahm sie all ihren Mut zusammen und trat über die Schwelle. Keine Sekunde später verließ sie Wohnung und keine Minute später das Weston College. Ihre Schritte wurden immer schneller und schneller, mittlerweile flog sie nur so von Dach zu Dach. Und mit jeder Bewegung, mit der sie sich mehr von ihm entfernte, wurde der Schmerz in ihrer Brust größer und größer, der Kloß in ihrem Hals schwerer und schwerer. Doch Carina blieb nicht stehen. Wenn sie stehen blieb, dann würde sie es sich vielleicht noch einmal anders überlegen und umkehren. Und das machte ihr Angst. Inzwischen war sie in der Londoner Innenstadt angekommen. Schon von weitem konnte sie den Big Ben aufragen sehen. Als sie ihn endlich erreicht hatte, sank sie erschöpft und nach Luft schnappend auf der Straße zusammen. Es war bereits tiefste Nacht, weit und breit war kein Mensch zu sehen. Der Seelensammlerin war nicht kalt, dennoch zitterte sie am ganzen Körper. Warum? Warum tat das schönste Gefühl auf Erden gleichzeitig so verdammt weh? So unglaublich weg, dass sie sich am liebsten das Herz aus der Brust herausreißen würde, um den Schmerz nicht mehr spüren zu müssen? Plötzlich durchbrach ein schnelles Klackern die nächtliche Stille. Carina zuckte zusammen und schaute vom Boden auf. Dieses Geräusch hätte sie unter tausenden wiedererkannt. Und was für eine unglaubliche Ironie es war, dass ausgerechnet er sie fand. Die 18-Jährige machte sich erst gar nicht die Mühe von der Straße aufzustehen, denn bereits 2 Sekunden später tauchte der rote Haarschopf hinter der nächsten Häuserecke auf, schweratmend und vollkommen aus der Fassung gebracht. Vermutlich hatte er gespürt, dass noch ein anderer Shinigami in der Nähe gewesen war. Er schaute sie entsetzt an und Carina wusste, was er sah. Ihre zerrissene und blutgetränkte Bluse. Die vom Rennen zerzausten Haare. Und die Blutergüsse und Würgemale, die sich über Gesicht und Hals erstreckten. „Grell“, flüsterte sie leise und plötzlich war da noch eine Emotion in seinem Gesicht. Erleichterung. Er stürmte vorwärts und packte sie an den Schultern, als müsse er sich davon überzeugen, dass sie keine Halluzination war. Dann riss er sie mit einem Schrei an sich und zerquetsche sie fast in seiner Umarmung. Der rote Reaper sprach so schnell, dass Carina Mühe hatte ihn zu verstehen. Fragen über Fragen quollen ihm über die Lippen. Was passiert war. Wo sie gewesen war. Ob es ihr gut ginge. Was dieser silberhaarige Vollidiot mit ihr gemacht hatte. „Sag doch endlich was“, sagte er schließlich besorgt, als die Blondine keinen Laut von sich gab. Carina schaute ihn an, konnte seine Sorge kaum ertragen. Unter seinen Augen zeichneten sich tiefe Ringe ab, die er vermutlich nicht mal mit seinem Make-up hatte überschminken können. Schuldgefühle wallten in ihr auf. Sie war wirklich die mieseste Schülerin aller Zeiten. Anscheinend konnte er ihr ansehen, dass etwas nicht stimmte. Ungewöhnlich fürsorglich legte er ihr seine, vom schwarzen Stoff eingehüllte, Hand an die unverletzte Wange. Die junge Frau erstarrte, als sie den sanften Unterton in seiner Stimme hörte. „Es wird alles gut, Carina. Ich verspreche es dir.“ Der schwere Kloß in ihrem Hals, der ihr schon die ganze Zeit die Luft abdrückte, platzte und mit ihm alle Dämme, die sie so mühsam verschlossen gehalten hatte. Ihr ganzer Körper bebte, als sie in Tränen ausbrach. Grells Augen weiteten sich, in so einem schlechten Zustand hatte er seine Schülerin noch nie gesehen. Carina vergrub ihren Kopf an seiner Brust und klammerte sich hilfesuchend an ihn, während sie die Worte nicht hervorbringen konnte, die ihr auf der Zunge lagen. Nämlich, dass gar nichts gut werden würde. Nie wieder. Kapitel 46: ...und der Anfang von etwas Neuem *zensiert* -------------------------------------------------------- Es war das unangenehmste Erwachen, das Carina jemals erlebt hatte. Noch während sie schlaftrunken die Augen aufschlug merkte sie, wie jede Faser ihres Körpers rebellierte. Sie wusste: Nur der Tatsache, dass sie ein Shinigami war, hatte sie es zu verdanken, dass sie nicht von Todesqualen gepeinigt aufwachte. Noch halb im Schlafmodus hob sie den Kopf und zog sich die Decke weg, die über sie ausgebreitet worden war. „Großartig, ich sehe aus wie eine Mumie“, nuschelte sie und starrte die weißen Verbände an, die sowohl Arme, Beine, als auch ihren Oberkörper bedeckten. Wie lange sie wohl geschlafen hatte? Vorsichtig setzte sie sich auf, was ihr auch ohne größere Schmerzen gelang. Lediglich ihr Kopf pochte unangenehm und als sie ihn vorsichtig betastete, spürte sie auch sogleich die kleine Erhebung einer Beule. „Oh man“, murmelte die 18-Jährige und stand mit wackligen Beinen auf. Ihre Blase protestierte und somit ging sie mit schnellen Schritten ins Bad, um sich ein wenig Erleichterung zu verschaffen. Nachdem sie ihren Toilettengang beendet hatte, wusch sie sich die Hände und starrte gleich darauf in den Spiegel. „Oh Gott“, entfuhr es ihr unwillkürlich, als sie die geschwollenen Partien ihres Gesichtes betrachtete. Der Riss in ihrer Lippe war fast vollständig verschwunden und auch die Platzwunde an ihrer Stirn war nur noch ein schmaler, abheilender Strich. Aber ihr Hals und Teile des Kiefers waren von kleinen, blauen Flecken übersät. Die dunkelblaue Stelle an ihrer Wange hatte sich mittlerweile in ein grünliches Gelb verwandelt. Automatisch wanderte Carinas Hand nach oben und tastete die betroffenen Stellen ab, ganz so, als könnte sie selbst nicht glauben wie schlimm ihr eigenes Gesicht aussah. „Dornröschen scheint wieder wach zu sein, hehe~“, ertönte neben ihr eine altbekannte Stimme und als Angesprochene ihren Kopf nach rechts drehte, sah sie den Undertaker in der Badezimmertür stehen. Ein Schnauben entfuhr der Blondine. „Was soll das denn jetzt heißen?“, meinte sie und griff nun nach einer Salbe, um sich die Wunden einzucremen. „Du hast immerhin ganze 35 Stunden geschlafen.“ Carina starrte ihn an. „Ich hab 1 ½ Tage geschlafen?“, fragte sie entsetzt und bekam ein Nicken als Antwort. „Na ja, aber nach der Prügelei kein Wunder“, grinste er und trat näher an sie heran. „Ich hab mich nicht geprügelt. Ich wurde angegriffen und hab mich gewehrt, das ist ein Unterschied“, murmelte sie und versuchte an den Verschluss des Verbandes zu kommen, der genau in der Mitte ihres Rückens lag. Der Bestatter lachte. „Komm, ich helfe dir“, sagte er und begann die weißen Streifen nach und nach zu lösen. „Danke, Mr. Samariter“, antwortete sie und lächelte sofort, als sie sein Lachen hinter sich hörte. Doch das Lächeln wich genau in dem Moment von ihren Lippen, als das letzte Stück Stoff zu Boden fiel und sie ihren Oberkörper mustern konnte. Ihre komplette rechte Seite, sowie die Stelle über ihrem Bauchnabel, leuchteten in einem dunklen Violett. Es sah furchtbar aus. „Dein Rücken sieht gut aus. Kaum noch etwas zu…“, der Silberhaarige brach abrupt ab, als er über ihre Schulter hinweg in den Spiegel schaute und die Blutergüsse sah. Carina presste ihre Lippen zu einer dünnen Linie zusammen, ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Egal, wer ihr Angreifer auch gewesen war… „Dafür wird er büßen“, sagte sie mit klarer und deutlicher Stimme, während sie die Salbe nun auch auf ihrem Bauch verteilte. Niemand demütigte sie und kam dann ohne Konsequenzen davon. „Apropos“, begann der Totengräber und schnappte ihr nun die Tube aus der Hand, „wen hast du so gegen dich aufgebracht, dass dieser Jemand dich sucht, auch noch findet und dann versucht dich umzubringen?“ Carina rollte mit den Augen und verschränkte die Arme vor ihren nackten Brüsten. „Ich hab überhaupt niemanden gegen mich aufgebracht. Höchstens Ronald, weil ich nicht mit ihm ausgehe, aber der ist erstens viel kleiner und zweitens wesentlich schwächer. Und er hat einen Rasenmäher als Death Scythe, das wäre mir also aufgefallen.“ Sie erschauderte, als seine Fingerspitzen die kühle Salbe auf ihrem Rücken verteilten. Automatisch stellten sich ihre Brustwarzen auf und die junge Frau dankte Gott dafür, dass der Bestatter es nicht sehen konnte. „Ganz abgesehen davon glaube ich irgendwie nicht, dass er mich umbringen wollte.“ Der Undertaker hob eine Augenbraue. „Ach ja und wieso nicht?“ „Weil er mehr als nur eine Gelegenheit dazu gehabt hätte, es aber nicht getan hat. Nein, stattdessen hat er sich Zeit gelassen und mich vorgeführt.“ Eiskalte Wut sickerte in ihren Bauch und brannte bei jedem Wort in ihrer Kehle. Doch plötzlich fiel ihr wieder etwas ein, was sie beinahe vergessen hatte. „Und wo wir gerade von vorführen sprechen“, knurrte sie und drehte sich, immer noch mit verschränkten Armen, zu ihm um. Der Silberhaarige schaute sie perplex an und blinzelte, als sie mit einer wütenden Miene ihr Gesicht genau vor seines brachte. „Du bist kein Stück besser. Du hast mich ebenfalls wie den letzten Trottel dastehen lassen. Ich meine…eine Sotoba? Ernsthaft?“ Er konnte gar nicht verhindern, dass sich ein verspieltes Grinsen auf seine Lippen schlich. „Ach komm, das war doch nun wirklich eine Meisterleistung von mir. Nur zu schade, dass ich deinen Gesichtsausdruck nicht sehen konnte, als du es herausge- Aua!“ Beherzt hatte die Schnitterin ihre Hände nach seinen Wangen ausgestreckt und kniff diese nun genervt zusammen. „Du bist unmöglich“, rief sie, während sie seine Wangen nun auseinanderzog und sein schrilles Lachen dadurch komplett verzerrt aus ihm herausbrach. Weiterhin lachend griff er nach ihren Handgelenken und zog ihre Finger von seinem Gesicht weg. „Aehehehe, du hast doch sonst immer so viel Sinn für Humor.“ „Ja, aber nicht, wenn er auf meine Kosten geht“, konterte sie und blickte gleich darauf grimmig drein. „Und meine Augen sind hier oben“, fügte sie noch hinzu, denn sein Blick war reflexartig eine Ebene tiefer gerutscht. „Na na“, meinte der Bestatter und zog sie dichter an seinen Körper heran, sodass er seinen Mund an ihr rechtes Ohr legen konnte. „Ich habe doch ohnehin schon alles gesehen.“ Carina wurde rot im Gesicht. Sie versuchte ihn gleichzeitig böse anzufunkeln, war dabei allerdings nicht ganz überzeugend. Mit einem letzten belustigten Kichern ließ er ihre Hände los. „Du solltest dich noch ein wenig ausruhen, dann heilen die restlichen Wunden schneller. Glaubst du deine Knochen sind wieder ganz?“ „Fühlt sich jedenfalls alles wieder heil an. Aber du hast Recht, ich sollte mich noch ein wenig schonen. Von dem bisschen Gehen und Stehen bin ich schon wieder total müde.“ Der Undertaker beobachtete die Blondine dabei, wie sie sich eines seiner Hemden anzog und zuknöpfte. Trotz ihrer 1,70 m ging ihr der Stoff fast bis zu den Knien. Er würde es niemals zugeben, aber er war froh, dass sie heute nicht mehr so wortkarg und steif zu ihm war, wie vor 1 ½ Tagen. Diese Carina hatte ihm nicht sonderlich gefallen. Obwohl er natürlich selbst auch nicht ganz unschuldig an ihrer schlechten Stimmung gewesen war. Er war niemand, der oft Reue empfand, aber den Schlag…ja, den Schlag bereute er. „Soll ich dich wieder ins Bett bringen oder schaffst du das dieses Mal alleine?“, sagte er schelmisch, um die Situation weiter aufzulockern und erhielt auch beinahe sofort die gewünschte Reaktion. „Nein, danke“, fauchte sie mit hochrotem Gesicht und stürmte so gut es ihr möglich war aus dem Zimmer heraus, sein unerträgliches Kichern immer noch im Rücken. „Hätte ich mir ja denken können, dass er sich jetzt lustig darüber macht“, dachte die 18-Jährige beschämt und betrachtete das Schlafzimmer nun genauer. Die Überreste der Kommode und generell das ganze Chaos war verschwunden, lediglich die verblassten roten Flecken auf dem Boden erinnerten noch an den Vorfall. An den Schrank gelehnt stand ihr Katana, was Carina erleichtert aufseufzen ließ. Wenigstens besaß der Totengräber so viel Anstand und hatte ihre Death Scythe nicht noch einmal versteckt. Schweigend ließ sie sich erneut auf das Bett sinken und schaute ihre Waffe weiterhin aus den Augenwinkeln an. „Ich habe sie zurück. Eigentlich…eigentlich gibt es jetzt keinen Grund noch länger hier zu bleiben.“ Sie war sich dessen deutlich bewusst und dennoch machte sich Unmut in ihr breit. Wenn sie erst einmal von hier verschwunden war…wenn sie erst einmal wieder bei den anderen Shinigamis war…dann wäre es endgültig. Allein der bloße Gedanke versetzte sie in Panik und Carina machte sich keine Illusion darüber, warum das so war. Sie liebte ihn, natürlich schmerzte der Gedanke ihn verlassen zu müssen. Ihn womöglich niemals wiederzusehen. Ihn…loszulassen. Die Blondine konnte im Nachhinein nicht mehr genau sagen, bei welchem Gedanken sie wieder eingeschlafen war, aber als sie erwachte schien orange-rotes Licht durch das Fenster und die Sonne war ein weitentfernter, roter Halbkreis am Horizont. Bald würde es dunkel werden, sie musste also wieder ein paar Stunden mit Schlafen verbracht haben. Aber körperlich und auch geistig schien sie diese Auszeit dringend benötigt zu haben. Die Schmerzen waren deutlich besser, aber immer noch hatte sie das Gefühl, dass sie die ganze Nacht ebenfalls noch durchschlafen konnte, wenn sie es denn gewollt hätte. Kurz lauschte sie in die anhaltende Stille der Wohnung hinein. Anscheinend hatte der Silberhaarige sich wieder seinen Pflichten als Direktor des Weston Colleges gewidmet. „Oder den Leichen“, dachte sie augenverdrehend. Halbwegs sicher auf den Beinen stand sie auf und zog sich das weiße Hemd aus. Gleich darauf rümpfte sie die Nase. Der Geruch von Blut, Schweiß und Salbe haftete an dem Stoff. „Kein Wunder. Nach dem Kampf hab ich fast 2 Tage lang geschlafen. Wird wirklich dringend Zeit für ein Bad.“ Rasch nahm sie sich frische Kleidung aus dem Schrank und ging dann bereits wie vor einigen Stunden ins Bad. Nach kurzem Zögern entschloss sie sich dazu die Badezimmertür abzuschließen. Falls der Bestatter in nächster Zeit zurückkommen sollte, dann konnte er ihr ruhig mal ein wenig Zeit für sich selbst gönnen. Carina stellte das Wasser auf eine Temperatur ein, die ein wenig wärmer als lauwarm war. Immerhin waren einige ihrer Wunden immer noch nicht komplett geschlossen und die Haut war überall gereizt. Heißes Wasser würde nur unnötig schmerzhaft brennen. Nach wenigen Minuten drehte sie die Hähne wieder zu und ließ sich vorsichtig in die Wanne sinken. Ein paar Sekunden brannte es tatsächlich ein wenig, doch dann gewöhnte sich ihr Körper an das Gefühl und entspannte sich. Für mehrere lange Momente erlaubte es sich die 18-Jährige ihre Augen zu schließen und einfach mal an nichts zu denken. Doch wie das nun einmal so mit ihren Gedanken war, hielt dieser Zustand nicht lange an. Schnell kamen ihr wieder die Worte des Undertakers in den Sinn. „Die Frage ist berechtigt. Wen habe ich so verärgert? Warum sollte mich jemand so attackieren? Und warum wimmelt es hier noch nicht von anderen Shinigami? Warum hat mein Angreifer unseren Aufenthaltsort nicht verraten? Ist er oder sie etwa auch ein Deserteur wie Cedric? Aber das ergibt keinen Sinn. Warum hätte er mich denn dann angreifen sollen? Ach, das alles ergibt einfach keinen Sinn.“ Frustriert legte sie ihren Kopf in den Nacken, sodass die blonden Strähnen unter Wasser getaucht wurden. Ihre Augen lagen auf der Decke, doch es war fast so, als würde sie hindurchsehen. Wirre Gedanken wirbelten durch ihr Gehirn. Erinnerungen an die Wochen, die sie bereits hier war. „Also? Haben wir einen Deal?“ „Wenn du einen Kuss möchtest, dann hol ihn dir!“ „Du bist so ein Sturkopf, Carina.“ „Du spielst mit dem Feuer. Pass auf, dass du dir nicht die Finger verbrennst.“ „Um ganz ehrlich zu sein, wollte ich dich unbedingt einmal in so einem Kleid sehen.“ „Tanz mit mir!“ „Vertrau mir, Carina.“ Gequält schloss sie erneut die Augen. All das waren schöne Erinnerungen, aber da gab es auch Dinge, die das genaue Gegenteil von schön waren. Dinge, die noch ganz frisch waren. „Willst du etwa bestreiten, dass du gegen den Deal verstoßen hast?“ „Claudia.“ „Es war so leicht, so unglaublich leicht, sich in sie zu verlieben.“ „Ich habe mir selbst versprochen, dass ich alles tun werde, um sie zurückzuholen.“ „Das ist so unfair“, flüsterte sie. Diese Claudia…diese verdammte Frau machte ihr alles kaputt. Gleichzeitig konnte sie nicht einmal etwas dafür. Sie war tot, verdammt. Tote sollten jemanden nicht zur Weißglut treiben. Aber leider war es so und das machte die ganze Sache nur noch schlimmer. Automatisch fragte sich Carina, wie es gewesen wäre, hätte sie Cedric zuerst kennengelernt. Hätte er sich dann vielleicht in sie verliebt? Hätten sie so vielleicht glücklich werden können? Doch schlussendlich machte es ebenfalls keinen Sinn darüber nachzudenken. Es war nun einmal wie es war. Er liebte diese Claudia und nicht sie. Die 18-Jährige lächelte, doch es erreichte ihre Augen nicht. „Und dennoch ändert das nichts an den schönen Erinnerungen. Es ändert nichts daran, dass ich nicht eine Sekunde bereue. Daran, dass ich ihm meine Unschuld geschenkt habe. Oder daran, dass ich ihn liebe. Ich muss wirklich die größte Idiotin aller Zeiten sein.“ Fahrig griff sie nach der Seife und begann vorsichtig ihre Haut einzuschäumen. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, dann lenkten all diese Gedanken sie doch nur von ihrem eigentlichen Problem ab. Nämlich der Frage, wie es jetzt weitergehen sollte. Sollte sie bleiben? Oder gehen? Ein unerwartetes Ruckeln an der Tür schreckte die Schnitterin aus ihrem inneren Konflikt. „Geht es dir gut?“, ertönte es dumpf von der anderen Seite, sofort erkannte sie seine Stimme. Was nicht verwunderlich war, sie hätte sie überall erkannt. „Ich komme gleich“, antwortete sie, woraufhin sich die Schritte des Bestatters entfernten. Schnell wusch sie sich die Haare und erhob sich aus der Wärme der Badewanne. Während Carina sich abtrocknete, lief ihr Gehirn zum wiederholten Male auf Hochtouren. Und als sie sich einen Slip und ein neues weißes Hemd angezogen hatte, wandelte sich ihr monotoner Gesichtsausdruck. Plötzlich stand Entschlossenheit in ihrem Blick. Carina schloss den letzten Knopf und ließ die Hände sinken. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen. Der Undertaker schaute auf, als die junge Frau das Schlafzimmer betrat. Sie sah schon deutlich besser aus als vor wenigen Stunden, von vorgestern ganz zu schweigen. Die Selbstheilungskräfte der Shinigami waren doch jedes Mal aufs Neue erstaunlich. Zu schade, dass das leider auch bei Dämonen der Fall war. „Du siehst besser aus“, meinte er mit einem milden Lächeln, doch Carina erwiderte es nicht. „Kann sein“, murmelte sie wortkarg und setzte sich auf ihre Bettseite. Ihre Augen huschten zwar kurz über seinen Körper, der nur noch von einer schwarzen Unterhose geziert wurde, aber ansonsten ignorierte sie ihn. Er wusste nicht wieso, aber irgendwie störte den Totengräber dieser Umstand. Und zwar gewaltig. Seitdem er sie geschlagen und ihr die Wahrheit über seine Bizarre Dolls erzählt hatte, schien Carina sich in ihr Innerstes zurückgezogen zu haben. Es war wie eine unsichtbare Barriere, die zwischen ihnen stand. Beinahe so wie eine unüberwindliche Mauer. So angespannt war es nie zwischen ihnen gewesen, nicht einmal auf der Campania. Carinas Blick lag auf ihrer Death Scythe, das nach wie vor am Schrank lehnte. Trotz der bereits eintretenden Dunkelheit hob sich das Rot der Schwertscheide noch deutlich vom Rest des Zimmers ab. Es war seltsam, aber mit ihr in der Nähe fühlte sie sich ein ganzes Stück besser als zuvor. „Carina“, ertönte es plötzlich neben ihr. „Hmm?“, machte sie und wandte den Blick von ihrem Katana ab, um den ehemaligen Seelensammler anzuschauen. Erschrocken zuckte sie zusammen, als er aus heiterem Himmel seine linke Hand an ihre Wange legte und über die sichtbare Verfärbung strich. Es tat nicht mehr weh, aber sie hatte definitiv nicht mit dieser Berührung gerechnet. „Es tut mir leid“, sagte er, woraufhin Carinas Augen eine Spur weiter wurden. Er brauchte überhaupt nicht weiterzusprechen, sie wusste auch so was er meinte. Worauf er anspielte. Plötzlich schlug ihr das Herz bis zum Hals. „…Warum sagst du das?“, flüsterte sie leise. „Weil ich es so meine“, antwortete er ernst und ließ langsam seine Hand sinken. Die 18-Jährige biss sich auf die Lippe. Warum fing er jetzt mit so etwas an? Musste er es ihr denn noch schwerer machen? Und warum verdammt noch mal hatte er ihre Wange losgelassen? Er sollte sie weiter anfassen. Sie sehnte sich nach seinen Berührungen, seiner Wärme, seiner Haut auf ihrer eigenen. „Ich bestreite nicht, dass ich jedes Wort genau so gemeint habe, wie ich es gesagt habe. Aber dass ich dich geschlagen habe, bereue ich. Ich habe überreagiert und das hätte nicht-“ Das abschließende „passieren dürfen“ blieb dem Silberhaarigen mitten im Hals stecken, als die junge Frau sich urplötzlich vorbeugte, ihre Hände an seine Wangen legte und ihren Mund auf seinen presste. Er blinzelte, im ersten Moment mehr als nur irritiert. Gerade eben hatte sie ihn weitestgehend ignoriert und jetzt küsste sie ihn? Hatte er irgendetwas nicht mitbekommen? Nicht, dass er sich beschwerte, ganz im Gegenteil sogar, aber das war ihm dann doch ein Gedankensprung zu viel. „Entschuldigung angenommen“, murmelte sie, als sie sich kurz von seinen Lippen löste und ihn ansah. Ihre gelbgrünen Augen glühten ihm in der aufsteigenden Dunkelheit des Raumes entgegen. Doch bevor er ihr eine Antwort geben konnte, hatte sich die Blondine ein zweites Mal nach vorne gewandt und küsste ihn, nun eindringlicher. Er keuchte, als ihre Zunge neckend über seine Unterlippe strich und nach Einlass verlangte. Ohne überhaupt darüber nachzudenken erwiderte er den Kuss und öffnete seinen Mund. Mittlerweile waren Carinas Hände von seinen Wangen hinabgerutscht und lagen auf seinen nackten Schultern. Vollkommen durch den Kuss abgelenkt, bemerkte der Silberhaarige erst, dass die Schnitterin sich bewegt hatte, als sie bereits halb auf seinem Schoß saß. Wollte sie etwa jetzt mit ihm- Ein abruptes Stöhnen entrang sich seinen Lippen, als die junge Frau völlig unerwartet ihre Hand auf seinen Schritt legte und zudrückte. Natürlich reagierte sein Körper sofort. Instinktiv zuckten seine Hüften nach oben, sodass er die Hüften der Seelensammlerin ergreifen musste, damit sie nicht von seinen Beinen rutschte. Carina zuckte zusammen, als seine Hände mit ihren Blutergüssen in Kontakt kamen, aber der Schmerz ließ sofort nach, als er seinen Griff lockerte. „Vielleicht ist das keine so gute Idee“, wisperte er gegen ihren Mund und atmete gleichzeitig zischend ein, als ihre Hand anfing sein Glied durch die Hose hindurch zu reiben. „Mir geht es gut“, antwortete sie leise und schmiegte ihren Körper, der lediglich von einem weißen Hemd und einem Slip bedeckt wurde, dichter an seinen. „Du bist immer noch verletzt“, stellte er keuchend klar, während sich unter ihren Fingern bereits eine deutlich sichtbare Beule abzeichnete. Carina sah ihn direkt an, die Antwort stand ihr klar und deutlich ins Gesicht geschrieben. „Ich will es“, sagte sie bestimmt und griff bereits im nächsten Moment unter den schwarzen Stoff... [...] Als Carina endlich wieder zu Sinnen kam, befanden sie sich immer noch in genau der gleichen Position wie vor ihrem Orgasmus. Cedric war ebenso außer Atem wie sie. Schweiß glänzte auf seinem Oberkörper und auf seiner Stirn, aber auch in diesem Punkt stand sie ihm in Nichts nach. „Besorg’s mir?“, fragte er plötzlich, ein breiter werdendes Grinsen im Gesicht. „Sehr damenhaft, wirklich.“ Carina wurde scharlachrot. „Halt doch den Mund“, murmelte sie genervt zurück, obwohl sie sich jetzt selbst für den Ausdruck schämte. Herrgott, sollte er halt nicht verlangen, dass sie kurz vor ihrem Höhepunkt mit ihm redete. Lachend erhob er sich und ließ sich neben der Blondine in das Laken sinken. „Erfahre ich jetzt endlich, was dich dazu geritten hat?“ Stille. Carina verdrehte ihre Augen himmelwärts, während der Undertaker in Gelächter über seinen eigenen – dieses Mal unbeabsichtigten – Wortwitz ausbrach. Doch das gab der 18-Jährigen die Gelegenheit sich eine Ausrede einfallen zu lassen. „Brauche ich dafür einen Grund?“ „In diesem Jahrhundert? Ich fürchte ja“, lautete seine belustigte Antwort. „Tja, dann muss ich dich wohl enttäuschen. Ich wollte Sex, sonst nichts. Das müsste doch in deinem Sinne sein, oder etwa nicht?“ Sie zuckte gleichgültig mit den Schultern, doch der letzte Satz kam eine Spur kühler heraus, als sie es ursprünglich beabsichtigt hatte. Er hob eine Augenbraue. „Jetzt sei doch nicht gleich beleidigt. Ich hab’s nicht böse gemeint.“ „Ich weiß“, seufzte sie und grinste nun selbst. „Und da heißt es immer es wären die Frauen, die reden wollen. Anscheinend bist du hier eine Ausnahme.“ „Freches Ding“, murmelte er und griff nach der Bettdecke. Wie beim letzten Mal legte er sie auch über die nackte Frau an seiner Seite, doch nun machte Carina keine Anstalten näher an ihn heranzurücken. Er schaute sie aus seinen Augenwinkeln an. Erschöpfung stand ihr ins Gesicht geschrieben, sie schien mit ihren Gedanken gerade ganz woanders zu sein. Aber genau dieser Wesenszug faszinierte ihn so an ihr. „Gute Nacht“, meinte er lächelnd und riss die Shinigami somit aus ihren Gedanken. Kurz schien Carina zu zögern, doch dann beugte sie sich doch zu ihm hinunter und drückte ihm einen leichten Kuss auf die Wange. „Gute Nacht, Cedric“, wisperte sie und ließ sich zurück in die Kissen sinken. Der Silberhaarige blinzelte ein paar Mal verwirrt, doch dann verschränkte er die Arme hinter dem Kopf und schloss die Augen. Es dauerte gar nicht lange, da konnte Carina seine gleichmäßigen Atemzüge hören. Sie lauschte ihnen mehrere Minuten, um ganz sicher zu gehen, dass er auch wirklich schlief. Denn eins hatte sie mittlerweile herausgefunden. Wenn der Undertaker einmal schlief, dann weckte ihn so schnell nichts wieder auf. Schon öfters war sie nachts ohne große Probleme ins Badezimmer verschwunden und er hatte nicht einmal gezuckt. „Muss anscheinend eine Eigenart der Shinigami sein. Wenn Grell pennt, dann ist er auch mehr tot als lebendig. Mit ihm könnte man sonst was machen und er würde es nicht mitbekommen.“ Vorsichtig erhob sie sich aus dem Bett und schritt auf leisen Sohlen zum Schrank. Nach nur wenigen Handgriffen hielt sie die Kleidung in den Händen, in der sie hierhergekommen war. Die Hose war ein wenig zerknittert, aber wenigstens im Gegensatz zu der Bluse ganz. Immer noch war deren linker Ärmel zerrissen und mit ihrem getrockneten Blut getränkt. Aber momentan hatte sie leider nichts anderes. Mit einem unguten Gefühl im Magen schlüpfte sie in die Sachen hinein. Mit zittrigen Händen knöpfte sie den letzten Knopf zu und griff dann nach ihrem Katana, das nach wie vor am Schrank lehnte. Ihre Schritte waren immer noch lautlos, hörten sich in ihren Ohren jedoch fast schon wie ein lautes Widerhallen an. Und jeder Schritt war schwer. Bleischwer. Am Türrahmen des Schlafzimmers blieb sie schließlich stehen. Ein gequälter Ausdruck huschte über ihr Gesicht und obwohl Carina wusste, dass es alles nur noch schlimmer machen würde, drehte sie sich noch ein letztes Mal zu ihm um. Dieses Bild wollte sie sich einprägen, sich ins Gedächtnis gravieren. Seine langen, silbernen Haare, die sich über das Kissen und das Lacken erstreckten. Seine entspannte Miene, die ihn fast ein wenig unschuldig wirken ließ. Sein schöner Oberkörper, der nicht von der Bettdecke verdeckt wurde. Und schlussendlich das gleichmäßige Heben und Senken seines Brustkorbes, das ihr zeigte, dass er friedlich schlief. Die Schnitterin konnte spüren, wie ihre Augen anfingen zu brennen und wandte den Blick ab. Tief einatmend nahm sie all ihren Mut zusammen und trat über die Schwelle. Keine Sekunde später verließ sie Wohnung und keine Minute später das Weston College. Ihre Schritte wurden immer schneller und schneller, mittlerweile flog sie nur so von Dach zu Dach. Und mit jeder Bewegung, mit der sie sich mehr von ihm entfernte, wurde der Schmerz in ihrer Brust größer und größer, der Kloß in ihrem Hals schwerer und schwerer. Doch Carina blieb nicht stehen. Wenn sie stehen blieb, dann würde sie es sich vielleicht noch einmal anders überlegen und umkehren. Und das machte ihr Angst. Inzwischen war sie in der Londoner Innenstadt angekommen. Schon von weitem konnte sie den Big Ben aufragen sehen. Als sie ihn endlich erreicht hatte, sank sie erschöpft und nach Luft schnappend auf der Straße zusammen. Es war bereits tiefste Nacht, weit und breit war kein Mensch zu sehen. Der Seelensammlerin war nicht kalt, dennoch zitterte sie am ganzen Körper. Warum? Warum tat das schönste Gefühl auf Erden gleichzeitig so verdammt weh? So unglaublich weg, dass sie sich am liebsten das Herz aus der Brust herausreißen würde, um den Schmerz nicht mehr spüren zu müssen? Plötzlich durchbrach ein schnelles Klackern die nächtliche Stille. Carina zuckte zusammen und schaute vom Boden auf. Dieses Geräusch hätte sie unter tausenden wiedererkannt. Und was für eine unglaubliche Ironie es war, dass ausgerechnet er sie fand. Die 18-Jährige machte sich erst gar nicht die Mühe von der Straße aufzustehen, denn bereits 2 Sekunden später tauchte der rote Haarschopf hinter der nächsten Häuserecke auf, schweratmend und vollkommen aus der Fassung gebracht. Vermutlich hatte er gespürt, dass noch ein anderer Shinigami in der Nähe gewesen war. Er schaute sie entsetzt an und Carina wusste, was er sah. Ihre zerrissene und blutgetränkte Bluse. Die vom Rennen zerzausten Haare. Und die Blutergüsse und Würgemale, die sich über Gesicht und Hals erstreckten. „Grell“, flüsterte sie leise und plötzlich war da noch eine Emotion in seinem Gesicht. Erleichterung. Er stürmte vorwärts und packte sie an den Schultern, als müsse er sich davon überzeugen, dass sie keine Halluzination war. Dann riss er sie mit einem Schrei an sich und zerquetsche sie fast in seiner Umarmung. Der rote Reaper sprach so schnell, dass Carina Mühe hatte ihn zu verstehen. Fragen über Fragen quollen ihm über die Lippen. Was passiert war. Wo sie gewesen war. Ob es ihr gut ginge. Was dieser silberhaarige Vollidiot mit ihr gemacht hatte. „Sag doch endlich was“, sagte er schließlich besorgt, als die Blondine keinen Laut von sich gab. Carina schaute ihn an, konnte seine Sorge kaum ertragen. Unter seinen Augen zeichneten sich tiefe Ringe ab, die er vermutlich nicht mal mit seinem Make-up hatte überschminken können. Schuldgefühle wallten in ihr auf. Sie war wirklich die mieseste Schülerin aller Zeiten. Anscheinend konnte er ihr ansehen, dass etwas nicht stimmte. Ungewöhnlich fürsorglich legte er ihr seine, vom schwarzen Stoff eingehüllte, Hand an die unverletzte Wange. Die junge Frau erstarrte, als sie den sanften Unterton in seiner Stimme hörte. „Es wird alles gut, Carina. Ich verspreche es dir.“ Der schwere Kloß in ihrem Hals, der ihr schon die ganze Zeit die Luft abdrückte, platzte und mit ihm alle Dämme, die sie so mühsam verschlossen gehalten hatte. Ihr ganzer Körper bebte, als sie in Tränen ausbrach. Grells Augen weiteten sich, in so einem schlechten Zustand hatte er seine Schülerin noch nie gesehen. Carina vergrub ihren Kopf an seiner Brust und klammerte sich hilfesuchend an ihn, während sie die Worte nicht hervorbringen konnte, die ihr auf der Zunge lagen. Nämlich, dass gar nichts gut werden würde. Nie wieder. Kapitel 47: Das Lügengerüst --------------------------- Grell war mit seinen Nerven am Ende. Nein, noch schlimmer, er war vollkommen fertig mit der Welt. Eigentlich war er der festen Überzeugung gewesen, dass sich sein Nervenkarussell wieder beruhigen würde, sobald er Carina gefunden hatte. Doch da hatte er sich in mehr als nur einer Hinsicht getäuscht. Zuerst einmal war da die Tatsache, dass schlussendlich nicht er sie, sondern sie ihn gefunden hatte. Bei seiner Nachtschicht hatte er plötzlich gespürt, dass ein anderer Shinigami ganz in der Nähe war und das hatte ihn sofort stutzig gemacht. Er wusste immerhin durch den Dienstplan ganz genau, dass er diese Nacht allein in London unterwegs sein würde und wenn er sich bei einem sicher sein konnte, dann war es der Dienstplan. Immerhin wurde er von William erstellt und der Aufsichtsbeamte machte keine Fehler. Jedenfalls nicht im Büro. Also war er losgestürmt, immerhin hätte es sich ja auch um diesen gutaussehenden, silberhaarigen Deserteur handeln können. Dem Rothaarigen war fast das Herz stehen geblieben, als er anstatt dessen seine Schülerin auf der Straße hockend vorgefunden hatte. Und wie sie aussah. Als wäre sie unter eine fahrende Kutsche geraten. Was hatte dieser Mistkerl ihr nur angetan? Nur zu gerne hätte er Antworten auf all seine Fragen erhalten, doch momentan gab es Wichtigeres. Carina stand anscheinend gerade kurz vor einem Nervenzusammenbrach und brachte kein Wort über die Lippen, während sie von Schluchzern geschüttelt in seinen Armen lag. Zuerst musste er ihr helfen, seine Fragen konnten auch noch ein wenig länger warten. Seine Arme legten sich fest um ihren zitternden Körper. „Ich werde dich nach Hause bringen, Carina“, flüsterte er, war sich dabei nicht einmal sicher, ob sie ihn in ihrem Zustand überhaupt hören konnte. Im nächsten Moment befanden sie sich bereits in der Welt der Shinigami und Grell rannte los. Carina sagte kein Wort. Nicht, während er sie ins Institut trug. Nicht, während sie in der Krankenstation ankamen und Grell die gesamte Ärzteschaft zusammenstauchte, damit sie schnellstmöglich behandelt wurde. Nicht einmal dann, als eine freundliche Krankenschwester ihr die Bluse auszog und Grell daraufhin einen Tobsuchtsanfall bekam, als er ihre übrigen Verletzungen sah. Ihr Kopf war plötzlich leer, kein Gedanke konnte sich festigen. Es war, als hätte jemand die Fäden durchgeschnitten, die ihren Geist mit ihrem Körper verbanden. Sie fühlte sich einfach nur unglaublich hohl. Erst, als eine brünette Ärztin ihr sanft eine Hand auf die Schulter legte, schaute sie auf. Die Shinigami sah aus, als würden ihr die folgenden Worte besonders schwer fallen. „Ich muss Sie das leider fragen, aber…gibt es noch andere Verletzungen, die wir uns vielleicht ansehen müssen?“ Während Carina nicht verstand, was die Frau ihr damit sagen wollte, wurde Grell bleich wie ein Bettlaken. „Ich…ich verstehe nicht“, murmelte die 18-Jährige und musste gleich darauf schlucken, als sie ihre eigene Stimme vernahm. Sie klang zerbrechlich und schwach, beinahe wie aus Glas. Die Ärztin räusperte sich und wirkte mit einem Mal ein wenig verlegen. „Hat…hat er Sie angefasst?“, fragte sie vorsichtig und Carina versteifte sich, als sie verstand. „Nein, er hat mich nicht vergewaltigt“, flüsterte sie und hörte Grell gleich darauf einen tonnenschweren, erleichterten Seufzer ausstoßen. Und es stimmte ja auch. Er hatte nie etwas getan, was sie nicht selbst auch gewollt hätte. Jedenfalls nicht in sexueller Hinsicht… Erschrocken schlug die Blondine die Augen auf, als vor der Tür plötzlich Gepolter zu hören war. Wann zur Hölle war sie bitteschön eingeschlafen? Noch ein wenig verwirrt schaute sie sich um. Weit und breit war niemand zu sehen, momentan schien sie die einzige Patientin auf der Krankenstation zu sein. Alles im Raum war in weißer Farbe gehalten und über allem lag dieser sterile Krankenhausgeruch, den sie noch nie hatte ausstehen können. Selbst die Bettwäsche fühlte sich schwer und steif an. Ihr Blick glitt erneut zur Tür, als zum zweiten Mal etwas dahinter ertönte. „Auf keinen Fall“, hörte sie Grell wütend fauchen. „Du wirst da jetzt nicht reingehen, William. Sie braucht Ruhe. Hast du eigentlich eine Ahnung, was sie durchgemacht hat?“ „Genau darum geht es mir ja, Sutcliff. Ich muss meinen Vorgesetzten einen ausführlichen Bericht erstatten und dafür brauche ich wohl oder übel ihre Aussage. Also gehen Sie jemand anderem auf die Nerven und lassen mich durch!“ „Das kannst du vergessen“, lautete die gezischte Antwort ihres Mentors, was Carina ein gerührtes Schmunzeln auf die Lippen trieb. Grell musste sie wirklich gern haben, wenn er sich für sie mit William anlegte. Bevor der Rothaarige allerdings Ärger mit seinem Schwarm bekommen konnte, griff sie dann doch lieber ein. „Grell“, krächzte sie, immer noch war ihre Stimme nicht die Alte. „Es ist in Ordnung. Lass ihn bitte herein.“ Kurz herrschte Stille auf dem Flur und Carina konnte die Szene schon bildlich vor sich sehen. Wie Grell zerknirscht die Zähne aneinander rieb und William ihm einen triumphierenden Blick zuwarf. Dann öffnete sich die Tür und die beiden Shinigami traten nacheinander ein. „Bist du dir auch wirklich sicher, Carina?“, fragte der Langhaarige vorsichtig, während der Aufsichtsbeamte ein Klemmbrett aufklappte und seinen Kugelschreiber klicken ließ. Carina nickte. Sie hatte sich ihre Antworten bereits im Vorfeld zurechtgelegt und wusste daher ganz genau, was sie antworten würde. Sie musste nicht einmal spielen, dass sie komplett durch den Wind war. Denn momentan war sie wirklich mit ihren Nerven total am Ende. „Also“, begann der Schwarzhaarige und rückte sich in altbekannter Manier seine Brille zurecht, „erzählen Sie mir alles, was seit dem Versinken der Campania passiert ist. Und versuchen Sie bitte nichts auszulassen. Jedes noch so kleine Detail könnte für die Ergreifung Ihres Entführers wichtig sein.“ Carina atmete zittrig aus. Hoffentlich würde er ihr ihre Lügen abkaufen, denn sonst hatte sie ein verdammt großes Problem. Niemals würde sie Cedric verraten, das konnte sie nicht. Es war nie eine Option gewesen. Grell, der ihren angespannten Gesichtsausdruck missverstand, zeterte sofort wieder los. „Siehst du denn nicht, wie fertig sie das alles macht, William? Lass uns die Befragung bitte auf später verschieben.“ „Nein“, antwortete Carina und atmete erneut tief ein. „Ich will das hinter mich bringen.“ Und dann begann sie mit ihren Ausführungen. Sie wusste, dass es immer glaubwürdiger war, so nahe wie möglich an der Wahrheit dran zu bleiben und genau das versuchte sie auch. „Du weißt sicherlich noch, wie ich versucht habe nach deiner Hand zu greifen, oder?“ Grell nickte. „Jedenfalls kam ich wieder zu mir, als das Schiff schon längst unter Wasser war. Ich habe versucht so schnell wie möglich die Oberfläche zu erreichen, aber plötzlich hat dieser…dieser Deserteur mich am Knöchel gepackt. Ich hab mich gewehrt, aber er war viel stärker als ich. Dann hab ich das Bewusstsein verloren.“ Vor sich konnte sie Williams schnelles Schreiben auf dem Papier hören, doch davon konnte Carina sich jetzt nicht ablenken lassen. „Keine Ahnung wie lange ich bewusstlos war, aber als ich wieder zu mir kam, war ich definitiv nicht mehr in der Nähe der Campania, geschweige denn auf dem Nordatlantik.“ „Können Sie ihre Umgebung näher beschreiben?“, fragte William sachlich und ohne von seinem Klemmbrett aufzusehen. Die 18-Jährige machte eine Kunstpause und ließ sich ein paar Sekunden Zeit. Sollte der Schwarzhaarige ruhig glauben, dass sie über seine Frage ernsthaft nachdachte. „Es war dunkel und kalt, aber jedes Wort hat nachgehallt. Fast so, als wäre ich in einer Fabrik oder Lagerhalle. Die Wände in dem kleinen Raum, in dem ich mich befand, waren auch ziemlich kahl und trostlos.“ William nickte, notierte sich die Informationen und forderte sie stumm auf fortzufahren. „Ich konnte mich nicht einmal frei bewegen, weil dieser Mistkerl meine Hände mit Eisenketten an einen Haken, der in der Wand eingelassen war, gefesselt hatte. Um ehrlich zu sein“, sagte sie und gab sich alle Mühe bei ihren nächsten Worten beschämt auszusehen, „habe ich Panik bekommen. Meine Death Scythe war weit und breit nicht zu sehen und mir ist relativ schnell klar geworden, dass dieser Typ mich entführt haben musste. Ich…ich habe versucht mich von den Fesseln zu befreien, aber da war nichts zu machen. Mein Körper war zusätzlich auch noch von dem ganzen Spektakel auf der Campania geschwächt. Und dann kam er zu mir ins Zimmer. Mit seinem überheblich großen Grinsen und diesen stechenden, phosphoreszierenden Augen…“ „Das kann ich mir nur allzu gut vorstellen“, fuhr Grell dazwischen und seufzte theatralisch. „Auch wenn der Kerl ein Verräter sein mag, sein Aussehen ist wahrlich nicht zu verachten.“ William verdrehte genervt die Augen, während Carina dem Rothaarigen gedanklich zustimmen musste. „Nun ja, jedenfalls schien er ziemlich stolz auf seine umherwandelnden Leichen zu sein. Er hat mich ausgefragt, wollte eine ganze Menge wissen. Informationen über den Dispatch. Aber ich hab sie ihm natürlich nicht gegeben“, fügte sie schnell hinzu, als Williams linkes Auge gefährlich anfing zu zucken. „Immerhin wusste ich nicht, was er noch mit mir vorhatte und ich dachte diese Informationen wären das Einzige, was ihn davon abhalten würde mich umzubringen. Natürlich war er aufgrund meiner Verschwiegenheit nicht sonderlich begeistert, aber dennoch wollte sein Grinsen nicht eine Sekunde abbrechen. Er war sich ziemlich sicher, dass ich mit der Zeit schon mit der Sprache rausrücken würde und solange ich das nicht täte, könnte er mich immerhin als Trumpfkarte behalten.“ „Trumpfkarte?“, fragte Grell irritiert und Carina nickte. „Ja. Falls ihr ihn gefunden hättet, hätte er versucht euch mit mir zu erpressen.“ Grell schluckte, als ihm bewusst wurde, dass dieser Plan in seinem Fall bestens funktioniert hätte. „Nun, in diesem einen Punkt hat er sich gewaltig geirrt. Bis zum Schluss habe ich nicht ein Wort über unsere internen Angelegenheit verloren.“ Ihr Ton klang nun grimmig und William seufzte erleichtert auf. „War ja klar, dass er sich darum am meisten Sorgen macht“, dachte die Schnitterin und schaffte es nur mit Mühe und Not nicht die Augen nach oben zu rollen. „Und was ist dann passiert?“, fragte William, nun sogar in einem etwas freundlicheren Ton, und Carina fuhr fort. „Nicht viel, um ganz ehrlich zu sein. Ich habe relativ schnell jegliches Zeitgefühl verloren. In dem Raum gab es keine Fenster, ich wusste also nie welche Tages- oder Nachtzeit gerade war. Schon seltsam, dass irgendwann einfach alles an einem vorbeizieht, als wäre man selbst gar nicht mehr anwesend. Es war ein einziger Albtraum.“ Carina wandte den Blick zur Bettdecke und biss sich auf die Innenseite ihrer Wange. Einerseits war sie erleichtert, dass die Beiden ihr anscheinend glaubten und andererseits hatte sie gleichzeitig ein unglaublich schlechtes Gewissen, dass sie Grell solche Lügen auftischen und den Undertaker so schlecht darstellen musste. „Jedes Mal, wenn er mir etwas zu Essen brachte, fragte er mich das Gleiche und ich gab ihm keine Antwort. Das ging einige Zeit lang so und dann kamen ganz plötzlich andere Leute, die mich versorgten.“ Sie holte tief Luft. „Zuerst habe ich mir dabei nichts gedacht, doch dann ist mir die feine Narbe auf der Stirn eines Mannes aufgefallen.“ Grells Atem stockte und er starrte sie entsetzt an. „Du…d-du meinst doch nicht etwa…“ Carina nickte. „Doch, genau das meine ich. Das waren seine widerlichen Puppen oder wie er sie nennt, seine Bizarre Dolls. Und sie konnten plötzlich sprechen, Grell. Sie haben sich viel menschlicher verhalten, als die Exemplare auf der Campania. Mit anderen Worten: Sie haben sich weiterentwickelt.“ Das Schweigen, das jetzt herrschte, war angespannt und unglaublich laut. William, der die umherwandelnden Leichen zwar nie selbst zu Gesicht bekommen hatte, dafür aber von Grell und Ronald hinreichend darüber aufgeklärt worden war, wirkte beunruhigt und zornig zugleich. „Eine Schande für unseren Dispatch. Wie kann ein einzelner Shinigami nur solch einen immensen Schaden anrichten? Ich sehe es bereits vor mir, die anderen Länder werden sich das Maul über unsere Unfähigkeit zerreißen.“ Er rückte sich seine Brille störrig zurecht, während der Kugelschreiber in seiner Hand gefährlich wackelte. „Gut, die Sache mit diesen Puppen ist schlimm“, begann Grell und schaute seine Schülerin neugierig an, „aber Carina, kannst du mir mal sagen, wie du da bitteschön rausgekommen bist? Diese Sahneschnitte wird wohl kaum zugelassen haben, dass du einfach so aus seinem Versteck herausspazierst bist, oder?“ Für einen Moment lagen Carina die Worte „Um ehrlich zu sein doch“ auf der Zunge, doch sie schüttelte lediglich den Kopf. „Ich weiß nicht mehr genau, ob es gestern oder heute war, aber die letzte Doll, die mich aufsuchte, trug meine Death Scythe bei sich. Ich schätze der Undertaker wollte mich damit einschüchtern, immerhin hätte ich dadurch getötet werden können. Es war leichtsinnig, aber ich hab die Gelegenheit beim Schopfe gepackt. Während die Leiche sich gebückt hat, um das Tablett vor mir abzustellen, hab ich ihr die Beine weggetreten. Der schwarzhaarige Mann ist gestürzt und hat mein Katana dabei fallen lassen. Sie mögen sich zwar weiterentwickelt haben, aber so schnell wie ein Shinigami sind diese Dinger dann doch nicht. Bis er wieder auf den Beinen war, hatte ich meine Klinge bereits gezogen und die Fesseln durchtrennt. Das war wohl wirklich das erste Mal, dass ich mich über den Slogan „Eine Death Scythe durchschneidet alles“ richtig gefreut habe.“ Ein humorloses Lachen entfuhr ihr. „Der Rest war relativ einfach. Ich hab dem Typen den Kopf abgetrennt und wie auf der Campania hat das bestens funktioniert. Ich bin aus dem Raum gestürmt und durch das erste Fenster, das ich gefunden habe, herausgestürzt. Und dann hast du mich gefunden, Grell.“ „Können Sie das Gebäude von außen beschreiben? Oder noch besser, die Position?“ „Leider nicht. Es ist mir ein bisschen peinlich, aber in dem Moment hab ich einfach nicht darüber nachgedacht. Mein einziger Gedanke war, dass ich so schnell wie möglich weg von diesem Ort musste, damit er mich nicht doch noch in seine Finger bekommt. Ich bin gerannt und gerannt und hab mich nicht einmal umgedreht. Aber zwei Dinge kann ich sagen. Es war auf jeden Fall in nördlicher Richtung von London, die Entfernung würde ich sagen beträgt ca. 30-40 Kilometer. Tut mir leid, aber genauer kann ich es wirklich nicht sagen.“ „In deiner Situation wäre wohl jeder in Panik geraten und hätte nicht noch solche Überlegungen angestellt“, sagte Grell und warf William einen mahnenden Blick zu. Carina ging es schon schlecht genug, da musste der schwarzhaarige Aufsichtsbeamte sie nicht noch wegen solcher Kleinigkeiten zusammenstauchen. William nickte, wenn auch ein wenig enttäuscht. Sein Stift kratzte noch kurz über das Papier, dann erhob er sich. „Vielen Dank, dass Sie sich so schnell für eine Aussage zur Verfügung gestellt haben.“ Carina nickte und hatte plötzlich Tränen in den Augen, als die folgenden Worte wieder der Wahrheit entsprachen. „Schon gut, ich…ich will das alles einfach nur vergessen.“ Ihre Stimme brach und Grell, der mittlerweile wesentlich besser im Trösten geworden war als vor 3 Jahren, legte ihr sanft und beruhigend eine Hand auf den Rücken. William, dem die ganze Situation ein wenig unangenehm zu sein schien, rückte sich zum dritten Mal mithilfe des Klemmbrettes seine Brille zurecht und erwiderte dann mit monotoner Stimme: „Nehmen Sie sich die Zeit, die Sie brauchen und melden sich dann wieder bei mir zurück, wenn Sie ihren Dienst wieder aufnehmen möchten. Ich werde solange für eine Vertretung sorgen.“ „Danke“, murmelte Carina, beinahe schon ein wenig überrascht über das nette Angebot und sah ihrem Vorgesetzten dabei zu, wie er eiligen Schrittes den Krankenflügel verließ. Ihr taten zwar die Shinigami leid, die nun in der vollkommen falschen Richtung nach dem Bestatter suchen mussten, aber darauf konnte sie momentan einfach keine Rücksicht nehmen. Er hatte seinen Teil des Deals erfüllt und sie ihren. Grell zog schweigend einen Stuhl an das Bett heran und setzte sich. Plötzlich schien er ungewöhnlich ernst zu sein. „Da gibt es doch noch etwas, was du nicht erzählt hast, Carina“, meinte er und die Blondine erstarrte. „Was meinst du?“, erwiderte sie eine Spur zu hastig und biss sich gleich darauf auf die Lippe. Verflucht, hatte er etwas gemerkt? „Diese Verletzungen wirst du dir wohl kaum selbst zugefügt haben, oder?“, schnaubte Grell humorlos, was die Shinigami innerlich aufatmen ließ. „Ich habe die ganzen Blutergüsse und Schrammen gesehen. War es dieser Mistkerl? Hat er dich verprügelt, weil du ihm keine Informationen geben wolltest?“ Es wäre für Carina ein Leichtes gewesen an dieser Stelle einfach mit „Ja“ zu antworten, doch das konnte sie nicht. Es käme ihr wie ein Verbrechen vor, wenn sie Cedric beschuldigte ihr diese Wunden beigebracht zu haben, wo er genau diese doch so fürsorglich versorgt hatte. Sie senkte den Kopf und starrte auf ihre Hände, die sich nach wie vor in die Bettdecke krallten. Ihr schlechtes Gewissen gegenüber Grell wog mittlerweile bereits so schwer, sie konnte ihn kaum noch ansehen. Er hatte sich riesige Sorgen gemacht, hatte sie bis zum Schluss gesucht und was bekam er als Dank? Einen Haufen Lügen. „Ich möchte nicht darüber sprechen. Bitte versteh das, Grell“, meinte sie, ihre Stimme eine Mischung aus verborgenen Emotionen. Der Rothaarige nickte seufzend und entschloss vorerst nicht genauer nachzuhaken. Vielleicht würde die junge Frau irgendwann, wenn sie den ersten Schock einigermaßen verdaut hatte, von selbst zu ihm kommen. „Hast du vielleicht Hunger? Ich könnte dir was zu Essen holen.“ Carina lächelte. „Ja, das wäre super. Vielen Dank, Grell“, antwortete sie und legte in das Danke so viel Gefühl wie sie konnte, damit ihr Mentor wusste, dass sie ihm nicht nur für das Essen dankte. Anscheinend hatte der feminine Reaper verstanden, denn er schenkte ihr gleich darauf grinsend ein Zwickern und ging zum Ausgang. Er streckte seine Hand bereits nach der Türklinke aus, da passierte es. Ohne jegliche Vorwarnung schwang die Tür mit ordentlicher Kraft auf, was unweigerlich dazu führte, dass Grell die hölzerne Konstruktion heftig ins Gesicht gedonnert bekam und gleich darauf zwischen ihr und der Wand eingeklemmt wurde. Carina klappte vor Entsetzen der Mund auf. Nicht nur, weil Grell nun mit blutender Nase und plattgedrücktem Gesicht langsam an der Wand hinabrutschte, sondern auch aufgrund der schwarzhaarigen Frau, die schweratmend im Türrahmen stand. „Alice“, stammelte sie und konnte gar nicht so schnell reagieren, da stand ihre beste Freundin bereits vor ihr und riss sie – genauso wie Grell einige Stunden zuvor – in ihre Arme. „Du dumme Kuh! H-hast du eigentlich eine Ahnung, was für Sorgen ich mir gemacht habe? I-ich dachte wirklich, d-dass du tot bist.“ Die Schuld in ihrem Magen wurde schwerer, als sie die Tränen sah, die die Wangen der Schwarzhaarigen hinunter rannen. Vorsichtig erwiderte sie die Umarmung und strich ihrer Freundin sanft über den Rücken. „Es tut mir leid, Alice. Es tut mir so leid. Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen um mich machen musst.“ „Ach was“, schluchzte die 20-Jährige und wischte sich schnell über die Wangen. „Du kannst ja nichts dafür. Wenn ich diesen Typen jemals in die Finger bekomme, der dir das angetan hat, dann gnade ihm Gott.“ Carina entfuhr abrupt ein Prusten, gleichzeitig betete sie für Cedric, dass er Alice niemals begegnen würde. Denn eins stand fest, die lebhafte Schwarzhaarige konnte im wütenden Zustand bedrohlicher sein als so mancher Dämon. „Dir gnade lieber auch gleich Gott“, ertönte ein wütendes Fauchen, woraufhin sich die beiden Frauen synchron umdrehten. Grell stand mittlerweile wieder und hielt sich mit zorniger Miene seine blutende Nase. „Ach, du bist auch hier? Hab dich gar nicht gesehen“, erwiderte Alice spöttisch, was Carina seufzen ließ. Hier hatte sich wirklich gar nichts verändert. „Aber genau das könnte es sein, was mir helfen wird ihn zu vergessen“, dachte sie und lachte, als sie Grells nächsten Satz hörte. „Wie kannst du es nur wagen das Gesicht einer Jungfrau zu verletzen?“ Seine langen Fingernägel tippten ungeduldig auf der Balustrade des Balkons herum, während seine gelbgrünen Augen Johann Agares beobachteten, der mit ein paar Schülern über den Unterricht sprach. Ausnahmsweise jedoch verspürte er beim Anblick seines Meisterwerks, der bisherigen Krönung seiner Schöpfung, keinen Stolz. Momentan befanden sich seine Gedanken ganz woanders, wobei mit „momentan“ die Zeitspanne von 2 Tagen gemeint war. Denn so lange war es inzwischen her, dass Carina sang- und klanglos verschwunden war. Ihm war direkt am nächsten Morgen – als er alleine im Bett aufgewacht war – klar gewesen, dass sie nicht wiederkommen würde. Aus dem ganz einfachen Grund, dass ihre Death Scythe nicht mehr am Schrank stand und ihre Dienstkleidung verschwunden war. Erst in diesem Moment hatte der Bestatter begriffen, was ihr seltsames Verhalten am Abend zuvor bedeutet hatte. Er wusste nicht, was ihn mehr ärgerte. Die Tatsache, dass er ihr kleines Spielchen nicht durchschaut hatte oder der Fakt, dass sie wie bereits vor 3 Jahren einfach ohne ein Wort zu sagen gegangen war. Am allermeisten überraschte ihn aber wohl die Tatsache, dass er sich überhaupt ärgerte. Er mochte dieses Gefühl nicht sonderlich. Es vertrieb jegliches Lachen von seinem Gesicht und sorgte dafür, dass sich seine sonst so gute Laune im Keller befand. Ein Seufzen kroch aus seiner Kehle und kopfschüttelnd machte der Silberhaarige sich auf den Weg zu der Wohnung des Direktors, in der noch einige Dokumente seiner Aufmerksamkeit bedürften. Die Stille, die nun dort herrschte, passte ihm nicht so recht in den Kram und als er sich an den Schreibtisch setzte, fiel sein Blick automatisch auf die leichten Risse im Holz, die Carina und er bei ihrem kleinen Tête-à-Tête hinterlassen hatten. Erneut nahmen seine Gedanken überhand. „Warum ist sie wieder auf diese Art und Weise verschwunden? Hatte sie Angst ich würde sie nicht gehen lassen? Oder steckt etwas anderes dahinter? Habe…habe ich vielleicht etwas falsch gemacht?“ Zugegeben, er war vielleicht nicht der beste Gastgeber gewesen, aber eigentlich hatte er sich doch recht freundliche verhalten. Und für seinen Hieb hatte er sich immerhin entschuldigt und es mehr als nur ernst gemeint. Warum also kam er sich trotzdem wie der letzte Idiot vor? „Es wird sicherlich nicht das letzte Mal gewesen sein, dass ich ihr über den Weg laufe“, dachte er sich. Immerhin war sie ein Shinigami, früher oder später würden sie sich sicherlich noch einmal begegnen. Und wenn es dann soweit war, dann schuldete sie ihm ein paar Antworten. Und die würde er auch bekommen, so viel stand fest. Kapitel 48: Ablenkung --------------------- Carinas Blick wirkte leer, als sie an die Zimmerdecke ihrer kleinen Wohnung starrte. Die letzten beiden Wochen waren hart gewesen, beinahe unerträglich. Nachts hatte sie wirre Träume, die sie nie lange schlafen ließen. Die Palette war hier relativ breit gefächert. Teilweise waren es Träume von Cedric, von seiner Nähe und seinen Berührungen und dann gab es wiederum Nächte, wo sie wieder von ihrem unbekannten Angreifer attackiert und gedemütigt wurde. Die Träume waren so realistisch, dass sie entweder schweißgebadet aufwachte oder verwirrt, weil Cedric doch nicht bei ihr war. Meistens führten jedoch beide Szenarien dazu, dass sie in Tränen ausbrach und die ganze restliche Nacht kein Auge mehr zu bekam. Was dann natürlich unweigerlich zur Folge hatte, dass sie diesen Schlaf tagsüber nachholte. Und wenn sie nicht gerade schlief oder sich die Augen ausheulte, dann starrte sie an die Zimmerdecke oder die Zimmerwand und dachte darüber nach, wie beschissen ihr Leben zurzeit war. Sie war schon immer der Typ Frau gewesen, der gut in Selbstmitleid versinken konnte und genau das konnte sie jetzt richtig ausleben. Es war einfach alles schief gelaufen, was nur schief laufen konnte. Und jetzt konnte sie sich nicht mal schnulzige Liebessongs aus dem 21. Jahrhundert anhören, um den Schmerz herauszusingen oder herauszuschreien. Die Schnitterin wusste, dass sie Alice und Grell mit ihrem Verhalten in den Wahnsinn trieb, aber sie konnte sich noch nicht dazu aufraffen wieder so weiterzumachen wie bisher. Schon mehrere Male waren die Beiden hier aufgetaucht und hatten versucht sie zu einem Spaziergang oder einem Shoppingtrip zu überreden. Grell hatte sogar mit einem Würgen vorgeschlagen, dass sie ja zu dritt gehen könnten und obwohl Carina wusste, was ihn das für eine Überwindung gekostet haben musste, hatte sie alle Angebote ihrer Freunde abgelehnt. Auch Ronald, der mit einem – für ihn – untypisch ernsten Gesichtsausdruck vor ihrer Tür gestanden und ihr ein paar Blumen in die Hand gedrückt hatte, hatte sie mit einer kurzen Entschuldigung abgewimmelt. Sie hatte einfach auf nichts und niemanden Lust und das ging jetzt schon ganze 16 Tage so. Dabei war die Suche nach ihrer Death Scythe ebenfalls nicht allzu spannend gewesen. Ach, was redete sie denn da? Es war stinkend langweilig gewesen, sonst nichts. „Aber irgendwie war das egal. Weil…weil er da war.“ Erneut stiegen ihr ungewollt die Tränen in die Augen. Sie hatte wirklich geglaubt, dass sie ihn vergessen konnte. Dass sie über ihn hinwegkommen konnte. Was für ein riesengroßer Irrtum… Gleichzeitig mit der Trauer machte sich Wut in ihrem Inneren breit. Wut auf sich selbst, weil sie sich in die falsche Person verliebt hatte. Wut auf Cedric, weil er überhaupt so verdammt liebenswert war. Und Wut auf die ganze Welt, weil sie aus irgendeinem Grund in dieser Zeit gelandet war und jetzt mit den Folgen klar kommen musste. Womit hatte sie eine solche Ungerechtigkeit nur verdient? Eine plötzliche Idee ploppte in ihrem Kopf auf. In ihrer Ausbildung war sie oft deprimiert und wütend gewesen. Meistens jedoch hatte ihr ein ausgiebiges Training dabei geholfen wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzukommen und ein wenig Dampf abzulassen. Vielleicht könnte es das ja wieder? Träge erhob sie sich aus dem weichen Bett und stöhnte. Ihr Kreislauf war wie es schien vollkommen im Keller von der ganzen Liegerei. Vorsichtig ging die Seelensammlerin zum Kühlschrank, der dank ihres Mentors bis oben hin mit Essen und Getränken gefüllt war. Nach einem kurzen Blick nahm sich Carina einen Salat und Wasser heraus. Immerhin war das seit gestern das Erste, was sie zu sich nahm, da wollte sie ihren Magen nicht direkt schon überstrapazieren. Darauf bedacht langsam zu essen piekste sie mehrere Salatblätter einzeln auf die Gabel und ließ die kleinen, saftigen Tomaten auf dem Teller herumrollen. Das kühle Wasser tat ihrem trockenen Hals gut und nachdem sie einigermaßen gesättigt war, zog sie sich eine frische Hose samt kurzer Bluse an, um anschließend ihre Wohnung zu verlassen. In ihrem Wohngebiet gab es mehrere Räume, die für das persönliche Training genutzt werden konnten und wie es der Zufall nun einmal so wollte, befand sich direkt einen Block von ihr entfernt ein kleines Gebäude mit eben diesen Räumlichkeiten. Zu ihrem Glück fand sie sogar relativ schnell einen Abschnitt, wo sich momentan niemand aufhielt. Ein paar Mal hatte sie in der Vergangenheit ausprobiert sich mit anderen einen Trainingsraum zu teilen, aber das war jedes Mal in einer Katastrophe geendet. Entweder, weil sich die Männer über ihre Anwesenheit lustig gemacht hatten oder weil sie ihnen daraufhin eine reingehauen hatte. Denn wenn sie eines von Grell gelernt hatte, dann sich nichts von anderen gefallen zu lassen. Relativ schnell fand sie eine Beschäftigung, die ihr mehr als alles andere dabei half sich auszutoben. Der Sandsack flog nach vorne und wieder zurück, als sie mit bandagierten Händen begann darauf einzuschlagen. Jeder Schlag, jeder Tritt ließ ein wenig der angestauten Aggressionen verpuffen. Schnell begannen ihre Muskeln vor Anstrengung zu schreien und ihr Körper schwitzte, doch es fühlte sich gut an. So gut wie schon lange nicht mehr. „Abgesehen davon muss ich stärker werden. Damit so eine Sache wie neulich nicht noch einmal passiert.“ Vorerst schien sie hier zwar sicher vor ihrem unbekannten Angreifer zu sein, aber er würde sicherlich nicht so einfach aufgeben. Immerhin würde es genug Momente geben, wo sie alleine war. Sei es in ihrer Wohnung oder wenn sie einen Auftrag in London erledigte. Auch wenn sie nicht wirklich glaubte, dass jemand so dreist war und sie hier in der Shinigamiwelt überfiel, bereitete ihr allein schon der Gedanke ein gewisses Unbehagen. „Nein, ich muss mich zusammenreißen. Ich will mich nie wieder so demütigen lassen.“ Unwillkürlich wurden ihre Faustschläge fester und als sie das nächste Mal mit voller Kraft zuschlug, riss das Seil, das den Sandsack mit der Decke verband. Der Behälter fiel und klatschte schwer auf dem Boden auf. Carinas Atem ging nun wesentlich schneller, erschöpft wischte sie sich den Schweiß von der Stirn, der bereits in ihre Augen tropfte und dort unangenehm brannte. „Na, da hat aber jemand dringend etwas Ablenkung gebraucht“, ertönte es hinter ihr, woraufhin die Blondine ihren Kopf umwandte. Grell lehnte grinsend neben der Tür und hatte seine Arme verspielt in die Hüften gestemmt. „Ich musste einfach mal raus“, keuchte sie als Antwort und machte sich gleichzeitig daran den Sandsack wieder in seine ursprüngliche Position zu bringen. „Das sag ich dir schon seit zwei Wochen, aber auf mich hört ja keiner“, seufzte er, zuckte einmal mit den Schultern und zog sich dann den roten Mantel aus, um ihn an einen der Haken neben der Tür zu hängen. Carina hob eine Augenbraue. „Was wird das, wenn es fertig ist?“ „Na, ich werde mit dir trainieren. Ganz wie in alten Zeiten.“ Sie lachte. „Ganz wie in alten Zeiten? Diese alten Zeiten, Grell, sind noch kein Jahr her. Das Ende meiner Ausbildung war vor 8 Monaten.“ Der Schnitter schnaubte und fuhr sich mit seinen Fingern einmal durch die lange, rote Mähne. „Das weiß ich doch. Aber bedenke mal, was in der Zwischenzeit alles passiert ist. Mein Disziplinarverfahren. Die Sache mit der Campania. Deine Entführung. Ich schätze mir kommt das einfach wie eine halbe Ewigkeit vor.“ „Frag mich mal“, murmelte sie, zuckte jedoch dann grinsend mit den Schultern. „Na, dann lass uns mal anfangen.“ Grell grinste. „Liebend gern.“ Das Training tat ihr richtig gut. Die nächsten Tage verbrachte sie jede Menge Zeit in dem kleinen Raum und Grell leistete ihr Gesellschaft, sobald er mit seiner Schicht fertig war. Auch Alice schaute einige Male vorbei, beteiligte sich allerdings nicht. „So eine schweißtreibende Sache ist nichts für eine Lady wie mich“, sagte sie und warf Grell dabei einen höhnischen Blick zu, den dieser auch sofort registrierte. „Was soll das denn bitte heißen?“, zeterte er sogleich los, was Carina zum ersten Mal seit ihrer Rückkehr so richtig zum Lachen brachte. Alice grinste und Grell verschränkte beleidigt die Arme, freute sich aber, dass es mit seinem Schützling bergauf ging. Dennoch sah er auf einmal recht angespannt aus. „Ich wollte dich auch noch etwas fragen“, sagte er an Carina gewandt, woraufhin diese ihn verwundert musterte. Sein Ton indizierte bereits, dass ihm die ganze Angelegenheit mehr als nur unangenehm war. „Will fragte mich, wann er wieder mit der rechnen kann. Ich hab ihm gesagt, dass ich dich frage, aber wenn du jetzt sagst, dass du noch nicht wieder arbeiten kannst, dann renne ich sofort zu ihm rüber und-“ „Ich werde morgen wieder zum Dienst antreten. Das kannst du William gerne mitteilen“, unterbrach Carina ihren Mentor, bevor der sich noch um Kopf und Kragen redete. Alice und Grell hatten mit einem Mal denselben dümmlichen Gesichtsausdruck. „Aber Carina, bist du dir da ganz sicher?“, fragte die Schwarzhaarige und wirkte nicht so ganz überzeugt von der Entscheidung. „Ja, wieso denn nicht? Alle Blutergüsse und Schrammen sind verheilt, mir geht es super.“ „Ja, körperlich“, warf Grell ein, während er sie missmutig anschaute. „Jeder Shinigami weiß, dass es auch Wunden gibt, die man nicht sehen kann.“ Außerdem hatte er immer noch das dumme Gefühl, dass seine Schülerin William und ihm nicht die ganze Wahrheit erzählt hatte, aber diesen Gedanken behielt er vorerst noch für sich. Alice nickte. „Ich kann kaum fassen, dass diese Worte aus meinem Mund kommen, aber Grell hat Recht, Carina. Vielleicht solltest du dir doch noch etwas mehr Zeit nehmen, um das alles richtig zu verdauen.“ Carina seufzte und wandte sich an den Rothaarigen. „Das ist mir bewusst, Grell. Und ja, mir geht es immer noch nicht sonderlich gut.“ „Und das wird sich in Bezug auf dieses Thema auch niemals ändern“, fügte sie gedanklich hinzu. „Aber ich kann mich nicht ewig in meiner Wohnung und in diesem Trainingsraum verstecken. Wir haben jetzt immerhin schon Juni. Möglicherweise hilft mir die Arbeit ja, mich ein wenig abzulenken und wieder in den Alltag reinzukommen. Es wird schon gut gehen. Und wenn nicht, dann melde ich mich sofort krank, in Ordnung?“ Immer noch sahen die beiden Shinigami nicht sonderlich überzeugt aus, stimmten Carina aber schließlich zu. Schlussendlich war es immerhin ihre Entscheidung und wenn sie sich dazu bereit fühlte, dann war das ja auch schon mal ein Schritt in die richtige Richtung. Die Blondine lächelte ein wenig gezwungen, sie selbst setzte ebenfalls all ihre Hoffnung darauf, dass es ihr durch die Ablenkung wieder besser gehen würde. Diese Leere in ihrem Inneren musste endlich aufhören, sonst würde sie noch den Verstand verlieren. Am nächsten Morgen klopfte sie auf die Minute genau an Williams Bürotür. Beinahe die ganze Nacht hatte sie über ihre Entscheidung nachgedacht. Schlussendlich war sie dabei geblieben. Es musste doch weiter gehen, oder? Sie war ein Shinigami. Sie war dazu verdammt die Seelen der Verstorbenen einzusammeln als Strafe dafür, dass sie Selbstmord begangen hatte. Dazu gehörten auch alle anderen seelischen Qualen. Die Qualen unmittelbar nach ihrem Selbstmord. Und jetzt die Qualen, die sie sich selbst zuzuschreiben hatte. Das alles war eine einzige große Strafe. Am Anfang hatte sie nicht verstehen können, warum der silberhaarige Bestatter den Dispatch verlassen hatte, doch mittlerweile bekam sie eine genauere Vorstellung davon. Der Gedanke, bis in alle Ewigkeit diesem Beruf nachzugehen, tagtäglich dieselben Prozeduren zu durchlaufen…Dieser Gedanke war schrecklich. Jedes Mal, wenn sie an die Zukunft dachte, legte sich eine eisig kalte Hand um ihr Herz und drückte erbarmungslos alle Luft aus ihren Lungen. Kein Wunder, dass der Undertaker irgendwann genug gehabt hatte. Würde sie das wirklich durchstehen können? Seufzend war sie vor ihren Spiegel getreten und hatte sich intensiv darin betrachtet. Irgendetwas war anders als vorher, obwohl Carina einige Zeit lang brauchte, um sich dessen Gewahr zu werden. Ihre Augen. Selbst, als ihr all diese schrecklichen Dinge in den letzten Jahren widerfahren waren, war da in ihren Augen – egal, ob blau oder gelbgrün – immer ein Funken gewesen. Ein Stück ihrer Unschuld, ihrer Kindheit, ihrer Menschlichkeit. Jetzt schien es, aber wäre der Rest dieses kläglichen Funkens vollständig verschwunden. Als wäre sie langsam zu einer vollkommen anderen Person geworden, ohne es überhaupt selber zu bemerken. „Das ist jetzt mein Leben. Ich sollte mir keine Gedanken über etwas machen, was ich momentan ohnehin nicht ändern kann“, hatte sie gedacht und sich von ihrem traurigen Spiegelbild abgewandt. „Außerdem…wenn es mir wenigstens vorerst, und sei es auch nur für einen kleinen Moment, dabei hilft ihn aus meinem Kopf zu bekommen, dann mache ich es ohne wenn und aber.“ Im Gegensatz zu Grell wartete sie das „Herein“ ab und öffnete erst dann die Tür. „Ich melde mich zurück zum Dienst, Mr. Spears.“ William sah tatsächlich überrascht aus. „Sutcliff sagte mir zwar, dass Sie zurückkommen wollten, aber ich war dennoch skeptisch.“ „Was soll ich noch in meiner Wohnung rumsitzen, das ändert eh nichts“, antwortete Carina und zuckte kurz mit den Schultern. „Eine sehr zufriedenstellende Einstellung“, bemerkte der Aufsichtsbeamte und rückte sich die Brille zurecht. „Und wieder einmal kann ich es kaum fassen, dass Sie seine Schülerin waren.“ Er zog die oberste Schublade seines Schreibtisches auf und hielt ihr im nächsten Moment bereits ein kleines Buch entgegen. „Ihre Todesliste. Brandneu und aktualisiert.“ „Vielen Dank, Sir“, erwiderte die 18-Jährige und nahm das Utensil entgegen. Es überraschte sie nicht sonderlich, dass sie eine neue Liste bekam. Ihre Alte lag immerhin am Grund des Nordatlantiks. „Ich erwarte Ihren Bericht heute Abend“, sagte William, steif wie eh und je und Carina nickte. Mit durchgedrückten Schultern und schnellen Schritten verließ sie das Büro und machte sich auf den Weg, um ihre erste Seele einzusammeln. Ein Stockwerk tiefer kam ihr jedoch Ronald entgegen. Er grinste und nickte ihr munter zu. „Hey, ich hab gehört, du fängst wieder mit dem aktiven Dienst an.“ „Ja, ich hab gerade meine Liste bei William geholt“, entgegnete Carina und blieb stehen. „Hör mal, Ronald“, begann sie zögerlich und nach kurzem Hadern. „Ich wollte mich noch entschuldigen, dass ich dich neulich so schnell abgewiesen habe. Mir ging es da wirklich nicht sonderlich gut. Ach und die Blumen waren sehr schön. Danke dafür.“ Der junge Mann lächelte und strich sich auf seine leicht arrogante Art und Weise eine seiner blonden Haarsträhnen hinters Ohr. „Kein Problem, ich hab es nicht persönlich genommen. Kann mir vorstellen, dass das alles andere als leicht für dich war. Aber wenn du dich unbedingt bei mir entschuldigen willst, wie wäre es dann mit einem-“ „Nein, kein Date“, entgegnete Carina trocken und der Shinigami zog eine beleidigte Schnute. „Aber wieso denn nicht?“ Sie seufzte und ging an ihm vorbei. „Du hast dich wirklich nicht ein Stück verändert, Ronald“, rief sie ihm noch zu und grinste dabei sogar leicht, was ihn dazu brachte mit den Schultern zu zucken und ihr ebenfalls zuzugrinsen. „Ein Versuch war es wert.“ „Viel Spaß“, rief Alice ihr zu, als sie im Erdgeschoss angekommen war. Die Schwarzhaarige saß hinter der Rezeption und zeigte mit dem Daumen nach oben. Carina grinste kurz und erwiderte die Geste. „Es kann ja nur noch besser werden“, antwortete sie und steuerte mit neuem Mut den Ausgang des Instituts an. Hätte Carina gewusst, was sich in den nächsten Monaten noch alles zutragen würde, hätte sie diesen Satz sicherlich nicht so leichtfertig gesagt… „Trotzdem verstehe ich nicht, wieso du so etwas überhaupt tust. Was soll das bringen, Leichen wiederzubeleben?“, schrie Ciel ihm entgegen, woraufhin der Undertaker grinsend einen Finger in die Höhe hob. Die Reaktion des Aristokraten auf seine neuesten Erkenntnisse über die Bizarre Dolls ähnelte in gewisser Weise der von Carina. „Ich bin nur neugierig, wie es nach dem vorbestimmten Ende weitergeht, das ist alles.“ Das war zwar nur die halbe Wahrheit, aber das musste der kleine Earl ja nicht wissen. Natürlich hatte der ehemalige Seelensammler gewusst, dass der Wachhund der Königin und sein Butler ihn finden würden, aber er hätte nicht gedacht, dass es so amüsant werden würde. Den Jungen unter Gleichaltrigen und in einer Schuluniform zu sehen, das war doch ein recht possierlicher Anblick gewesen. Tausend mal besser, als er erwartet hätte. „Nach dem…Ende?“, brachte der 13-Järhige stockend hervor, während hinter ihm sein Butler ebenso überrascht aussah. „Habt ihr etwa noch die darüber nachgedacht, was sich nach dem Abspann für interessante Entwicklungen ergeben könnten?“ Sebastian legte sich selbstbewusst lächelnd eine Hand ans Kinn, während seine Augen rot aufglühten. „Nein, darin unterscheiden wir uns. Gerade weil der Tod so absolut und hoffnungslos endgültig ist, ist er so schön.“ „Pff“, dachte der Bestatter. So eine Aussage konnte auch wirklich nur von einem Dämon kommen. Nun ja, jetzt schien der Zeitpunkt gekommen zu sein, um sich vom Weston College zu verabschieden. Es war eine gute Zeit gewesen und er hatte hier einiges erlebt, gute wie schlechte Dinge. Aber wie es in seinem Leben nun einmal so war, war nichts von wirklich langer Dauer. „Tja, das war alles, was ich Euch für eure diesmalige Gegenleistung sagen kann. Und da ich keine Lust habe, dass gewisse lästige Individuen von alldem Wind bekommen, sollte ich wohl langsam gehen“, sagte er, drehte sich halb um und grinste in sich hinein. Sicherlich würde der Earl nicht zulassen, dass er einfach so verschwand. Das war ihm mit hundertprozentiger Sicherheit schon beim letzten Mal sauer aufgestoßen. Und er sollte Recht behalten. „Diesmal kommst du mir nicht so davon. Schnapp ihn dir, Sebastian.“ „Sehr wohl“, antwortete der Butler und sprintete los. Allerdings kam er nicht sehr weit. Bevor er den Totengräber überhaupt erreichen konnte, stellte sich ihm der schwarzhaarige Professor in den Weg und fing seine Fäuste mit seinen Händen ab. „Wusste ich es doch“, murmelte Sebastian und starrte den Mann vor sich wenig begeistert an. „Ihr seid also ebenfalls tot, Mr. Agares. Deshalb hatte ich damals so ein ungutes Gefühl.“ „Dieser Mann steckt voller Episoden und ist mein absolutes Meisterwerk. Zumindest bisher.“ Er schnippte mit den Fingern, woraufhin weitere Leichen aus dem Boden herausstießen und sich auf die Anwesenden stürzten. „Raus aus dem Garten. Schnell!“, schrie Edward Midford. Das musste er den Schülern nicht zweimal sagen. Ciel riss die Tür auf und schon liefen alle zum Ausgang. Lediglich ein Junge saß mit zitternden Beinen und angsterfüllter Miene am Boden, der beißende Geruch von Urin erfüllte die Luft. „M-meine Beine“, stammelte er, denn diese schlotterten so heftig, dass er sich von alleine nicht aufrichten konnten. Eine Leiche kam ihm gefährlich nahe, doch bevor diese ihre Zähne in ihm vergraben konnte, griff Ciel plötzlich ein. „Komm schon!“ Er packte den Jungen am Arm und zerrte ihn aus dem Garten heraus, weg von den Dolls. Mehr als nur überrascht öffnete der Undertaker seinen Mund. „Er ist zwar auch ein Phantomhive, aber ganz anders als sein Vater…Interessant…“ Vielleicht hatte die Interaktion mit anderen Kindern ja doch etwas gebracht. Sebastian, der mittlerweile komplett von Mr. Agares im Klammergriff gehalten wurde, klinkte sich wieder in das Gespräch ein. „Ihr seid ziemlich gelassen. Glaubt Ihr etwa, so etwas könnte mich aufhalten? Dann unterschätzt Ihr mich aber.“ Der Zylinder, der auf dem Kopf des Silberhaarigen saß, verdeckte kurzzeitig seine Augen. Er grinste breit. „Ich unterschätze dich keineswegs. Nur…“, begann er und ließ seine Augen mit aller Deutlichkeit zu Ciel wandern, „…ist mein Ziel nicht das, was du denkst.“ An Sebastians erschrockener – beinahe schon schockierter – Miene konnte der Undertaker sehen, dass der Butler es innerhalb von einer Sekunde begriffen hatte. Wenn er Mr. Agares überwältigen würde und anschließend auf ihn losgehen würde, dann hätte der Shinigami mehr als nur genug Zeit, sich den Earl zu schnappen. Dafür war der Butler nicht schnell genug. Also gab es für ihn nur eine einzige andere Lösung, wenn er den Schutz seines Vertragspartners gewährleisten wollte. Es war zwar schade um sein Meisterwerk, aber Opfer mussten nun einmal gebracht werden. Die Kreatur der Hölle reagierte wie geplant. Er packte die Bizarre Doll mit beiden Händen und stieß sie mit dem Kopf voran rückwärts auf den Boden. Gleich darauf stürzte er los, allerdings nicht in die Richtung des angeblichen Direktors, sondern zu Ciel. Der Bestatter kam ihm auf halben Weg entgegen, allerdings mit so einem Abstand, dass er ihn nicht erwischen konnte. „Ich hatte auch nichts anderes von dir erwartet, Butler“, sagte er lächelnd, während ihm Angesprochener einen vernichtenden Blick zuwarf. „Sebastian?“, rief Ciel verwirrt, als sein Diener vor ihm landete und sich beschützend hinstellte. Leichtfüßig landete der Undertaker auf der Mauer, die den Garten vom Rest des Schulgeländes trennte. „Sei so gut und beschütze den Earl auch weiterhin so treu und gewissenhaft. Hi hi…Bis bald~“, grinste er und verschwand daraufhin mit einer gekonnten Teleportation, um wenige Sekunden später in der Nähe der Themse wieder aufzutauchen. Der Halbmond spiegelte sich im Wasser des Flusses und während der Mann am Rand entlangging, ließ er seine Gedanken schweifen. Automatisch wollten seine Hände nach den Medaillons greifen, die um seine Taille hingen, doch er griff ins Leere. „Ach ja…“, fiel es ihm wieder ein. Seit der Campania hatte er seine Medaillons ja gar nicht mehr. „Aber ich brauche mir keine Sorgen zu machen. Der Earl hat sie ja. So ein wichtiges Beweisstück wird er sicherlich sehr pfleglich behandeln, hehe.“ Er ging gedanklich seine nächsten Schritte durch, einer davon war die Reise nach Deutschland. In den letzten Tagen hatte er sich intensiver mit der Sprache beschäftigt und bereits einiges dazugelernt. Im gleichen Atemzug musste er wie von selbst an Carina denken, wie sie nackt neben ihm gelegen und grinsend versucht hatte ihm Deutsch beizubringen. Der Silberhaarige empfand Schwermut und noch etwas anderes, wenn er an diese Szene zurückdachte, konnte es aber nicht genau benennen. Nach wie vor ärgerte er sich über ihr plötzliches und vor allem stilles Verschwinden. Es hatte ihn selbst erstaunt, wie oft er in den letzten Wochen an die junge, blonde Frau gedacht hatte. Doch das würde jetzt sicherlich ein Ende finden. In der nächsten Zeit würde er mehr als genug mit den Reisevorbereitungen zu tun haben. Da gab es also andere Dinge, um die er sich Gedanken machen musste. Und je schneller er einen Weg fand, um seine Bizarre Dolls zu perfektionieren, umso schneller konnte er Claudia zurückholen. Und das war immerhin das Einzige, was er wollte… Kapitel 49: Talk with the devil ------------------------------- „Möchtest du einen neuen Rekord aufstellen?“ Carina runzelte die Stirn und steckte sich währenddessen eine weitere Gabel Spaghetti in den Mund. „Bitte?“, fragte sie nach und schaute Grell an, der auf seiner roten Bettwäsche saß und die langen Nudeln ebenfalls genüsslich aß. „Stell dich nicht dumm. Du weißt ganz genau, was ich meine, Carina.“ Seine gelbgrünen Augen funkelten sie hinter den Brillengläsern wütend an. „William hat dich bei mir in den höchsten Tönen gelobt und, ich zitiere: „Nehmen Sie sich besser einmal ein Beispiel an ihrer Schülerin Sutcliff.“ Als ich ihn daraufhin gefragt habe, was zur Hölle er damit meint, hat er mir deine Liste gezeigt.“ „Ach, hat er das?“, entgegnete die Schnitterin nervös und kaute nun ein wenig langsamer. Irgendwie fühlte sie sich ein wenig ertappt, immerhin hatte sie sowohl Grell als auch Alice versprochen, es am Anfang ein wenig langsamer angehen zu lassen. „Ja, hat er. 1120. 1120 Seelen, Carina! In 5 Wochen. Das sind im Durchschnitt 32 Seelen pro Tag. Hattest du eigentlich in der Zeit neben diesen ganzen Überstunden auch nur einen freien Tag oder hast du dir selbst das nicht gegönnt?“ Carinas Schweigen war an dieser Stelle wohl Antwort genug. „Das muss aufhören, Carina“, seufzte der Rothaarige und stellte den Teller auf den kleinen Tisch neben seinem Bett. „Ernsthaft, ich hab sowieso schon die ganze Zeit das Gefühl, dass du mir was verschweigst und dieser Arbeitswahn bestätigt doch nur, dass irgendetwas nicht stimmt. Kann es vielleicht sein, dass du William und mir nicht die ganze Wahrheit über deine Entführung gesagt hast?“ „Das bildest du dir ein“, antwortete Carina mit einer Stimme, die sich genau so steif anhörte, wie ihr ganzer Körper es war. Grell verschränkte die Arme. „Ich kann möglicherweise verstehen, dass du William angelogen hast, aber mich? Ich dachte wirklich du wüsstest, dass du mit mir über alles reden kannst. Immerhin bist du sowas wie meine kleine Schwester.“ Das schlechte Gewissen der jungen Frau meldete sich kreischend zurück und überrollte sie unmittelbar darauf wie ein entgleister Güterzug. „Das weiß ich doch, Grell. Wirklich! Das…also…das ist es doch…auch nicht…“, stotterte sie vor sich hin, doch jetzt war es zu spät. Der rothaarige Reaper war eingeschnappt und wenn er etwas gut konnte, dann war es das. „Ich werde jetzt baden gehen“, erwiderte er schnippisch und stand auf, grazil wie eh und je. „Wenn ich wieder komme, wirst du mir entweder erzählen was wirklich los ist oder du bist weg. Deine nächste Schicht fängt ja ohnehin bald an.“ „Aber Grell…“, begann die Blondine, jetzt schon beinahe ein wenig verzweifelt und schaute ihrem besten Freund bittend hinterher. Doch dieser ließ sich nicht erweichen. „Kein Aber. Und tauche hier nicht wieder auf, ehe du nicht dazu bereit bist mir die Wahrheit zu sagen“, fauchte er und knallte anschließend die Badezimmertür lautstark hinter sich zu. „Großartig gemacht, Carina. Das hast du ja ganz toll hinbekommen“, murmelte die 18-Jährige sich selbst zu und vergrub seufzend eine Hand in ihren Haaren. Innerlich haderte sie. Konnte sie Grell wirklich die Wahrheit sagen? Wie würde er reagieren? Würde er sie verstehen? Oder würde er sie viel mehr hassen? Immerhin hatte sie ihn angelogen und ihn grundlos wochenlang in Sorge um sie ausharren lassen. „Ich könnte es ihm nicht mal verübeln, wenn er danach nichts mehr mit mir zu tun haben will“, dachte sie deprimiert und stand langsam auf, während im Badezimmer der Wasserhahn auf volle Lautstärke aufgedreht wurde. Erst einmal musste sie ihre Schicht hinter sich bringen und vielleicht fiel ihr ja währenddessen eine Lösung ein. Möglicherweise konnte sie Grell etwas anderes erzählen. „Aber dann müsste ich ihn wieder anlügen. Und das könnte ich nicht mal mir selbst verzeihen“, murmelte sie und verließ die Wohnung ihres Mentors mit leisen Schritten. Die letzten 5 Wochen waren, wie Grell es bereits erwähnt hatte, ziemlich anstrengend für Carina gewesen. Dabei hatte sie sich diese Anstrengung selbst aufgebürdet. Jede Überstunde war immerhin eine Stunde, in der sie nicht von ihren Gefühlen und Erinnerungen an die gemeinsame Zeit mit dem Bestatter gequält wurde. Eine Stunde, in der sie sich nur auf das Einsammeln von Seelen konzentrieren musste und nicht darauf ihre Tränen zurückzuhalten. Eine Stunde, in der sie nicht kurz davor war alles über den Haufen zu werfen und einfach zu verschwinden. Ohne wirkliche Motivation schlug sie ihre Liste auf und überflog die Einträge. Diese Nacht musste sie nur drei Seelen einsammeln, es würde also eine kurze Nachtschicht werden. Ihr Körper materialisierte sich innerhalb weniger Sekunden in London und gleich darauf schnappte sie erschrocken nach Luft, als der kalte Regenschauer auf ihre Haut traf. Sofort zog sie ihren schwarzen Mantel enger um sich. Wie so oft regnete es in der englischen Hauptstadt wie aus Kübeln, die Themse schien schon wieder an der Grenze zur Überschwemmung zu stehen. „Gott sei Dank bin ich heute schnell fertig“, seufzte sie und machte sich auf den Weg zu dem ersten Betroffenen, einem Mann Mitte 30, der mit gebrochenem Genick am Ende einer langen Wendeltreppe lag. Die zweite Seele sammelte sie 20 Minuten später ein, die Dritte weitere 20 Minuten später. Beide waren Kinder, einer an Tuberkulose erkrankt, die Zweite an einem grippalen Infekt. Mittlerweile fiel es Carina leichter die Seelen von Kindern einzusammeln, doch natürlich hinterließ es nach wie vor einen bitteren Beigeschmack. „Solch eine Verschwendung. Gäbe es doch nur schon die medizinische Entwicklung des 21. Jahrhunderts. Das könnte hier so viele Leben retten…“ Sie setzte den letzten Stempel in ihre Liste und schlug das Buch zu. Der Regen hatte kaum nachgelassen und jetzt war auch noch ein unangenehm eisiger Wind hinzugekommen, der durch die Straßen Londons heulte. Es verwunderte die Schnitterin beinahe ein wenig, dass nicht noch ein paar Obdachlose auf ihrer Liste standen, aber über wenige Tote würde sie sich garantiert niemals beschweren. Gedanklich war sie schon halb dabei wieder in die Shinigamiwelt zurückzukehren, als ihr etwas auffiel. Das Haus, auf dessen Dach sie sich gerade befand, war genau gegenüber von dem Blumenladen, den sie damals immer aufgesucht hatte. Der Blumenladen, wo sie ihre allererste Seele eingesammelt hatte. Der Blumenladen, der sich ganz in der Nähe des Bestattungsinstitutes befand… Carina biss sich auf die Lippe. Irgendetwas reizte sie an der Vorstellung den Ort aufzusuchen, an dem sie Cedric kennengelernt und ihre ersten Tage in diesem Jahrhundert verbracht hatte. Dort, wo alles angefangen hatte. „Na ja…eigentlich kann es ja nicht schaden“, dachte die junge Frau. Sie lag gut in der Zeit, es würde mit ziemlicher Sicherheit niemandem auffallen. Abgesehen davon sang William momentan sowieso Loblieder auf sie, da würde eine kleine Verspätung sicherlich keinen Ärger geben. Mit einem gekonnten Sprung landete sie auf der Straße und ging gleich darauf durch die engen Gassen in Richtung Bestattungsunternehmen. Sie kam sogar an dem schmalen Durchgang vorbei, in der sie damals ihr Leben beendet hatte, riskierte jedoch keinen zweiten Blick hinein. Seit ihrem Selbstmord war sie bereits einige Male dort gewesen, aber nichts erinnerte mehr an die Qualen, die sie dort hatte ausstehen müssen. Keiner, der durch diese Gasse ging, würde wissen, dass dort schreckliche Dinge passiert waren. Es dauerte keine 5 Minuten, da stand die Seelensammlerin tatsächlich vor dem ehemaligen Geschäft des Undertakers. Es sah von außen immer noch genauso aus wie zuvor, nichts hatte sich verändert. Immer noch hing das riesige Schild mit dem Namen des Instituts über der Tür, immer noch wirkte die Gegend kalt und trostlos. Das kleine, weiße Schild, das unmittelbar hinter dem Glas der Eingangstür baumelte, zeigte an, dass der Laden geschlossen war. „Und das sicherlich schon seit einer ganzen Weile“, vermutete Carina stumm und drückte die Türklinke hinunter. Wie sie erwartet hatte, war sie verschlossen. Ein leichtes Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Noch ein Vorteil ein Shinigami zu sein bestand darin, dass man keinen Schlüssel benötigte, um eine Tür zu öffnen. Jedenfalls nicht an Orten, an denen man schon einmal war. Sie konzentrierte sich auf den Eingangsbereich im Laden und keine Sekunde später stand sie auf der anderen Seite der Tür. Ihre Augen betrachteten die Umgebung. Obwohl es stockfinster war, hatte sie keine Probleme damit alles zu erkennen. „Sieht wirklich noch alles genauso aus wie damals. Die Särge, der Tresen, das Skelett…“ Mit dem einzigen Unterschied, dass alles von einer dicken Staubschicht überzogen war und noch mehr Spinnen ihr Dasein in den Ecken zu fristen schienen, als zuvor. Zielstrebig ging Carina die Treppe nach oben. Auch hier konnte man deutlich erkennen, dass das Haus seit einiger Zeit unbewohnt war. Die Tür zum Schlafzimmer knarzte leise, als sie sie öffnete. Hier hatte sie ihre letzten Tage als Mensch verbracht. In diesem Bett hatte sie geschlafen, ihre Albträume gehabt und darüber nachgegrübelt, wieso zum Teufel sie in dieses Jahrhundert gekommen war. Vorsichtig wischte die Blondine den Staub von der Bettdecke, um sich anschließend draufzusetzen. Eine angenehme Stille herrschte an diesem Ort, das war ihr auch damals schon aufgefallen. Wenn es hier nicht so dreckig und dunkel wäre, dann konnte man es hier glatt als friedlich bezeichnen. Plötzlich fiel ihr etwas siedend heiß ein. Hatte sie nicht damals… Ihre Hand griff unter das Bett und unter noch mehr Staub kam eine rechteckige Schachtel zum Vorschein. „Ich fasse es nicht. Sie ist tatsächlich noch hier“, flüsterte Carina und öffnete den Deckel. Da war sie. Ihre Kleidung, mit der sie damals hierhergekommen war. Ihre dunkelblaue Jeans, der bordeauxrote Kapuzenpullover und ihre schwarzen Sneaker. Immer noch ordentlich zusammengelegt und unberührt. Eine Welle der Melancholie ergriff sie. „Der könnte mir jetzt sogar mittlerweile zu klein sein“, grinste sie und hielt sich den Pullover vor den Oberkörper. Die Ärmel waren deutlich zu kurz und auch ihr Oberkörper schien ein wenig länger zu sein als damals. Die 2 Jahre ihrer Ausbildung hatten definitiv Spuren an ihrem Körper hinterlassen. Nach kurzem Zögern legte sie die Sachen wieder zurück in die Schachtel und verstaute sie erneut unter dem Bett. Sicherlich konnte sie zu einem anderen Zeitpunkt noch einmal hierhin kommen und sie dann mitnehmen. Immerhin waren diese Dinge das Einzige, was ihr noch aus ihrer eigenen Zeit geblieben war. Seufzend verließ sie das Schlafzimmer und kehrte ins Untergeschoss zurück. Ihr Blick huschte noch einmal durch den Raum, mehr instinktiv als gewollt, und urplötzlich fiel der Shinigami etwas ins Auge. Etwas Goldenes blitzte in ihrem Augenwinkel auf. Carina drehte sich um und sah einen funkelnden Gegenstand auf dem Tresen liegen. „Was zum…“, dachte sie und näherte sich dem Verkaufstisch vorsichtig. Und dann erkannte sie die lange Kette mit den Medaillons, die bis vor kurzem noch den langen Mantel des Undertakers geziert hatten. Fasziniert von dem Anblick nahm sie das Schmuckstück in die Hand und betrachtete die goldenen Anhänger. Was es wohl damit auf sich hatte? „Aber warum ist sie hier? Hatte Ciel sie nicht aufgefangen?“ Doch diese Frage sollte Carina schneller beantwortet bekommen, als ihr lieb war. Aus heiterem Himmel schwang hinter ihr laut die Ladentür auf, was die 18-Jährige erschrocken zusammenzucken ließ. Zu ihrem größten Entsetzen kam Ciel Phantomhive höchstpersönlich in das Bestattungsunternehmen marschiert, dicht gefolgt von seinem treuen Butler. „Was zur Hölle…“, sagten sie und Ciel gleichzeitig und perfekt synchron, während sie sich gegenseitig entgeistert ansahen. „Was machst du denn hier?“, fragten sie, erneut vollkommen unisono, was Sebastian ein wenig schmunzeln ließ. Carina schnaubte. „Wen habt ihr denn erwartet?“, fragte sie, obwohl sie sich die Antwort eigentlich schon denken konnte. „Den Undertaker natürlich“, antwortete der Earl in einer Mischung aus Wut und Enttäuschung. „Ich hatte die glorreiche Idee, dass wir ihn mit dieser Kette vielleicht anlocken könnten. Sebastian hat extra dafür gesorgt, dass wir direkt bemerken, wenn jemand den Laden betritt.“ Die Schnitterin hob eine Augenbraue. „Tja, euer ‘glorreicher‘ Plan scheint ja aber bisher nicht sonderlich gut funktioniert zu haben“, entgegnete sie spöttisch, was dem 13-Jährigen so überhaupt nicht zu gefallen schien. „Und was habt Ihr hier zu suchen, wenn ich fragen darf?“, meinte der Butler mit samtener Stimme, doch seine Augen glühten währenddessen gefährlich und rötlich auf. „Um ehrlich zu sein gar nichts. Ich wollte nur noch einmal herkommen. Der alten Zeiten willen“, antwortete sie und endlich schien dem Dämon ein Licht aufzugehen. „Nun weiß ich, wo ich Euch schon einmal gesehen habe. Ihr wart vor einigen Jahren schon mal in diesem Laden. Das Mädchen, das ein Glas fallen ließ.“ Auch Ciel schien sich nun zu erinnern. „Steckst du mit dem Undertaker unter einer Decke?“, rief er aus und schlug einen Befehlston an, der eigentlich so ganz und gar nicht zu einem Kind seines Alters passte. „Antworte mir!“ „Nein, das tue ich nicht“, sagte Carina kühl und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wie Euch vielleicht aufgefallen ist, haben wir Shinigami vom Londoner Dispatch selbst ein großes Interesse daran, dass dieser Deserteur verhaftet und seiner gerechten Strafe zugeführt wird. Ganz abgesehen davon wusste ich damals noch gar nicht, dass er ein Shinigami ist. Ich wurde ebenso von ihm getäuscht wir Ihr.“ Und das war noch nicht einmal gelogen. Sebastian sah so aus als ob er ganz genau wüsste, dass noch mehr dahinterstecken musste, fragte aber nicht nach. „Wie dem auch sei“, fuhr Ciel fort und verengte sein freiliegendes Auge. „Ich will wissen, wie weit eure Ermittlungen in diesem Fall sind. Wann habt ihr ihn zuletzt gesehen?“ Carina rollte mit den Augen. „Ich weiß zwar nicht, wieso ich ausgerechnet Euch das sage, aber das letzte Mal war auf der Campania. Wir sind also beide auf dem gleichen Stand.“ Der Dämon lächelte eine Spur zu selbstzufrieden. „Da muss ich Euch leider enttäuschen, werte Shinigami. Mein junger Herr und ich haben den Undertaker zuletzt am Weston College angetroffen. Das war vor 3 Wochen.“ „Was?“, keuchte sie entsetzt und meinte es auch so. Die Beiden hatten Cedric tatsächlich aufspüren können? „Bedauerlicherweise konnte er allerdings entkommen“, knirschte Ciel mit den Zähnen und warf seinem Butler kurz einen wütenden Blick zu, den dieser allerdings nur schweigend hinnahm. „Das wundert mich nicht. Schon auf der Campania warst du ihm nicht gewachsen, Frackträger.“ „Sie etwa?“, erwiderte Sebastian kalt, woraufhin die beiden Rassenvertreter sich gegenseitig nieder starrten. Jetzt war es an Ciel die Augen zu verdrehen. Er wusste zwar, dass Shinigami und Dämonen natürliche Feinde waren, aber warum mussten sie sich immer streiten wie kleine Kinder? „Jedenfalls glaube ich nicht, dass der Undertaker noch einmal hierhin zurückkehren wird. So dumm ist er nicht“, sagte Carina gespielt gleichgültig. „Aber danke für die Information mit dem College, ich werde das gleich meinem Vorgesetzten berichten.“ „Wir werden ihn zuerst erwischen, da könnt ihr euch sicher sein“, antwortete Ciel arrogant wie eh und je, während er sie mit einer solchen Selbstsicherheit ansah, wie nur ein Adeliger es konnte. „Mit einer einfachen Kette?“, zweifelte Carina, woraufhin der Junge schnaubte. „Ihr Shinigami habt anscheinend nicht wirklich viel Allgemeinwissen, oder? Das ist nicht einfach nur eine Kette, das sind sogenannte „Memorial lockets“. Sie werden hergestellt, um sich an einen geliebten Menschen zu erinnern und ihm zu gedenken. Oftmals wird in diesen Medaillons etwas vom Verstorbenen aufbewahrt. Ein Teil der Asche, getrocknete Blumen von der Beerdigung, eine Haarlocke oder ein kleines Stück Stoff. Diese Medaillons werden ihm also kaum egal sein. Doch leider scheint er nicht mal für sie zurückkommen zu wollen.“ Carina starrte ihn sprachlos an. Das hatte sie tatsächlich nicht gewusst. Wie auch, sie hatte Cedric nie danach gefragt. „Personen, die ihm wichtig waren…“ Sie war sich ziemlich sicher, wenn sie sich die Anhänger genauer ansehen würde, würde sicherlich auch auf einem von ihnen Claudia eingraviert sein. „Wenn Ihr sie nicht mehr braucht Earl, dann überlasst sie doch mir. Möglicherweise können wir Shinigami damit etwas anfangen. Außerdem wollt ihr doch wohl kaum dieses kleine Suchduell gewinnen, ohne zumindest vorher für Gleichstand gesorgt zu haben, oder?“ Ciel entging der herausfordernde Ton in ihrer Stimme keineswegs. Einen Moment lang schien er über die ganze Sache nachzudenken, dann zuckte er mit den Schultern. „Ich glaube zwar nach wie vor nicht, dass ihr Schnitter zu irgendetwas taugt, aber meinetwegen. Wir haben ohnehin schon alles herausgefunden, was es darüber herauszufinden gibt.“ „Deine Arroganz wird dich eines Tages noch den Kopf kosten“, dachte Carina, behielt die Warnung allerdings für sich. Der Junge würde so oder so nicht auf sie hören. „Sebastian, wir gehen“, befahl der 13-Jährige. „Sehr wohl, junger Herr. Gewährt Ihr mir noch einen kurzen Moment?“ Ciel wirkte verblüfft und musterte seinen Butler ganz genau. Doch dann tat er es mit einem knappen Nicken ab. Sobald er ihn fragte, musste der Teufel ihm ohnehin die Wahrheit sagen, dazu war er immerhin vertraglich verpflichtet. „Ich warte in der Kutsche“, erwiderte er und verließ zielgerichtet das Geschäft. Carina hatte sich bei den Worten des Schwarzhaarigen automatisch angespannt. Was wollte er noch von ihr? Das konnte nichts Gutes bedeuten, da war sie sich sicher. „Ihr wart damals ein Mensch. Vor 3 Jahren, wenn ich mich recht entsinne.“ „…Und wenn ich einer war?“, fragte sie, nun auf der Hut. „Unter uns Dämonen vermutet man schon lange, dass Todesgötter einst Menschen waren. Aber mich würde sehr interessieren, wie dieser Vorgang vonstattengeht. Ihr wollt es mir nicht zufällig verraten?“ „Zufällig nicht, nein“, entgegnete die Blondine mit zuckersüßer Stimme. Das konnte sich der Dämon abschminken, sie würde ihm sicherlich nicht bei so einer Frage antworten. Ganz zu schweigen davon, dass William sie einen Kopf kürzer machen würde. Dieses Geheimnis der Shinigami konnte in den falschen Händen immensen Schaden anrichten. Sebastian lächelte, schien erstaunlicherweise nicht einmal über ihre Antwort verärgert zu sein. Ihr Misstrauen wuchs. „Das dachte ich mir bereits. Dennoch habt Ihr mir ohne es zu wissen trotzdem eine recht interessante Erkenntnis geliefert. Ich darf Euch ganz herzlich gratulieren.“ Seine Stimme klang unglaublich freundlich, aber die Seelensammlerin wusste, dass sich dahinter viel mehr Häme verbarg. „Wozu?“, fragte Carina irritiert, die überhaupt keine Ahnung davon hatte, was ihr Gegenüber meinte. Dieser hob eine Augenbraue. „Ihr wisst es also tatsächlich nicht?“ „Wovon zur Hölle sprichst du?“, fragte sie, nun eine Spur schärfer. Er legte sich eine seiner weiß behandschuhten Finger ans Kinn. „Noch etwas, was die Shinigami von den Dämonen unterscheidet.“ Seine Augen schauten klar und berechnend in ihre und bevor sie reagieren konnte, stand der Butler mit einem Mal direkt vor ihr. Die Schnitterin musste sich schwer zusammenreißen, um nicht nach hinten auszuweichen oder ihm reflexartig eine reinzuhauen. Er beugte sich ein wenig zu ihr hinab, dennoch musste sie zu ihm hinaufschauen. Natürlich, wie immer hielt er sich für etwas Besseres. Doch seine geflüsterten Worte ließen sie jeglichen Gedanken daran vergessen. „Ihr könnt die zweite Seele in Euch also wirklich nicht spüren?“ Das Wort „Anspannung“ konnte nicht mehr das ausdrücken, was ihr Körper in diesem Moment tat. Carina erstarrte einfach zu Stein, mehrere Atemzüge lang fühlte sie sich nicht mehr so recht mit ihrem eigenen Körper verbunden. Was…Was hatte der Dämon da gerade gesagt? Das Lächeln des Butlers wurde breiter, man konnte ihm deutlich ansehen, dass er sich über ihren Gesichtsausdruck amüsierte. Sich an ihrem Entsetzen, ihrer Fassungslosigkeit ergötzte. Er…er konnte doch nicht ernsthaft das meinen, wovon sie dachte, dass er es meinte…oder? „Glaubt es mir ruhig“, meinte er, ihre Gedanken erahnend. „Wir Dämonen können Seelen sehen. Auch, wenn sie sich noch in ihren Körpern befinden. Auch, wenn sie noch ungeboren sind.“ Carina war nicht mehr dazu fähig ihre Stimme zu benutzen. Sie starrte ihn weiterhin an, wie das Lamm den Schlächter. Sebastian beugte sich wieder nach hinten und deutete eine leichte Verbeugung an. „Meine besten Wünsche, Mylady“, sagte er, spöttisch und freundlich zugleich, während er mit wehendem Frack zu seinem Herrn und Meister zurückkehrte. Die junge Frau blieb indessen stehen, wie lange konnte sie nicht mit Sicherheit sagen. Aber als ihr Körper sich wieder rührte, sank sie mit zitternden Knien auf die Theke. Hatte der Dämon sich einen Spaß mit ihr erlaubt? Natürlich musste er das. „Ich bin eine Shinigami. Todesgötter sind gar nicht dazu in der Lage sch-“ Sie konnte das Wort nicht einmal denken, so entsetzt war sie. Wie in Trance stürmte die Schnitterin aus dem Bestattungsunternehmen und löste sich gleich darauf auf, um im nächsten Augenblick vor den weißen Mauern des Instituts zu stehen. Mit versucht normalem Tempo ging sie hinein, um ihren Bericht abzugeben und registrierte dankbar, dass Alice nicht mehr an ihrem Platz saß. Scheinbar war ihre Schicht bereits vorbei und das war ein Glücksfall. Die Schwarzhaarige hätte sofort bemerkt, dass irgendetwas nicht stimmte. Carinas Hände zitterten leicht, als sie den Bericht in Williams Postkörbchen legte und das Gebäude gleich darauf wieder verließ. Unterdessen wurde ihr Gehirn von ihren Gedanken malträtiert. Das passierte gerade nicht. Nein, das konnte einfach nicht passieren. Es hatte keinerlei Anzeichen gegeben, sie hätte es doch bemerkt, sie hätte ganz sicherlich etwas gespürt, sie konnte nicht…nein, sie konnte doch nicht… Am Rande eines Nervenzusammenbruchs stürzte sie los und keine 3 Minuten später hämmerte sie bereits gegen eine Tür. Kurz war ein Poltern und Rumpeln zu vernehmen, dann ein lautes Fluchen. Grell riss eben genannte Tür auf, sein Körper in einem weinroten Nachthemd, die Schlafmaske noch halb und schief in den Haaren. „Wer zum Donnerwetter stört mich um diese…Carina?“ Er starrte seine Schülerin halb zornig, halb verblüfft an. Die Blondine drängelte sich ohne zu fragen an ihm vorbei. „Hab ich dir nicht gesagt, dass du erst wieder kommen sollst, wenn du mir die…Carina?“, fragte er ein zweites Mal, als er ihr Gesicht sah. Sie war bleich wie eine Tote und wirkte nur halb bei sich. Ihr ganzer Körper bebte. „Was ist passiert?“, schoss es ernst aus ihm hervor, während er die Seelensammlerin bestimmt an den Schultern packte. So fertig hatte sie nicht einmal ausgesehen, als er sie nach ihrer Entführung auf der Straße aufgelesen hatte. Angespannt beobachtete er, wie die 18-Jährige ihren Mund öffnete und wieder schloss, ohne auch nur ein einziges Wort gesagt zu haben. Er schüttelte sie leicht, was anscheinend ein wenig half. Carina öffnete erneut den Mund. „Ich…ich muss dich etwas fragen“, krächzte sie, ihre Stimme schwach und verängstigt. „Was denn? Nun sag schon“, drängte Grell, dem langsam wirklich flau im Magen wurde. Zittrig atmete die junge Frau aus, schaute ihren besten Freund mit geweiteten Augen an. Noch nie hatte sie vor etwas solch eine Furcht verspürt, wie vor der Antwort auf ihre kommende Frage. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr. „Ist…ist es überhaupt möglich? Ich meine…können…können Shinigami Kinder zeugen?“ Kapitel 50: Das Geheimnis, das keins war ---------------------------------------- Ihre Atemzüge hallten hektisch und abgehackt durch den Raum. Immer noch schaute sie den rothaarigen Schnitter besorgt und verängstigt an, dieser starrte zurück. Die Verwirrung aufgrund ihrer Frage stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Schließlich öffnete er nach einer gefühlten Ewigkeit den Mund und läutete damit den Anfang vom Ende ein. „Natürlich können wir.“ Er sagte es mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass es Carina den Boden unter den Füßen wegzog. „…Was?“, hauchte sie gerade noch, ehe sie rückwärts gegen Grells Kleiderschrank taumelte und langsam daran zu Boden rutschte. „Um Himmels Willen, Carina“, der Rothaarige kniete sich sogleich vor sie. „Was, verdammt noch mal, ist nur mit dir los? Erst die ganzen Verletzungen, über die du nicht sprechen willst, dann dein Arbeitswahn, dicht gefolgt von deiner fehlenden Bereitschaft mir die Wahrheit zu sagen und jetzt DAS. Rede endlich mit mir.“ Carina verstand ihn und sie wollte ihm antworten, wirklich! Doch seine Worte ließen sie immer noch panisch nach Luft schnappen. In Grells starrer Miene erschien Besorgnis. „Soll ich einen Arzt holen?“ Carinas Reaktion erfolgte unmittelbar. „Keinen Arzt“, erwiderte sie scharf. Das hätte ihr gerade noch gefehlt. Sie schloss die Augen und holte mehrere Male tief Luft. „Was…was soll das heißen? Natürlich können wir Kinder bekommen?“ Sie konnte ganz genau sehen, wie sich seine Augenbrauen langsam zusammenzogen. „Es überrascht mich ehrlich gesagt, dass du es nicht weißt. Es ist kein Geheimnis, dass wir dazu in der Lage sind, Carina.“ Er legte nachdenklich eine Hand ans Kinn. „Na ja, möglicherweise hast du es nicht mitbekommen, weil du Seelensammlerin geworden bist. In der Regel werden die Frauen alle in ihrem jeweiligen Kurs informiert. Vielleicht hat man dich einfach nur vergessen, immerhin bist du die Erste, die-“ „Vergessen? VERGESSEN?“ Ihre Stimme wurde einige Töne höher, dabei war es ihr vollkommen egal wie hysterisch sie nun klang. „Wie kann man denn so eine wichtige Information einfach vergessen? Und überhaupt, was soll der Mist eigentlich? Ich dachte die ganze Zeit, dass das ein Ding der Unmöglichkeit ist. Wir sind Shinigami. Todesgötter. Wir nehmen das Leben, wir geben es nicht! Das macht doch überhaupt keinen Sinn.“ Ihr Mentor verschränkte die Arme. „Wir waren einmal Menschen, Carina. Im Gegensatz zu den Dämonen ist unser Körper nach wie vor menschlich. Nur unsere Seele wurde modifiziert. Was glaubst du denn, warum wir immer noch essen und trinken müssen? Oder warum wir Schlaf brauchen?“ Es klang logisch, doch alles in Carina sträubte sich dagegen es einfach so hinzunehmen. „Und warum habe ich dann noch nie Kinder hier gesehen? Du kannst mir ja wohl nicht erzählen, dass in den letzten Jahren oder Jahrzehnten keine Kinder geboren wurden und sei es auch nur aus Versehen.“ Grell schwieg und mit einem Mal wurde der 18-Jährigen richtig flau im Magen. „Grell“, begann sie langsam und wurde, wenn möglich, noch bleicher. Grauenvolle Szenarien spielten sich plötzlich in ihrem Kopf ab. „Was passiert mit diesen Kindern?“ Er seufzte. „Eigentlich wird dieses Thema hier ziemlich totgeschwiegen, aber wenn du mir versprichst, dass du mir anschließend endlich erklärst, warum du das alles wissen willst, dann erzähle ich es dir.“ Carina nickte und der Rothaarige begann mit seinen Ausführungen. „Also, zuerst einmal solltest du wissen, dass wir hier grundsätzlich nur von den Kindern der weiblichen Shinigami sprechen. Die Interaktion mit Menschen ist uns immerhin verboten, daher werden auch grundsätzlich nur die Frauen darüber aufgeklärt. Ziemlich dämlich wenn du mich fragst, aber der Grund dafür ist, dass die Oberen diese kleine Tatsache gerne für sich behalten würden. Abgesehen davon, dass es schon einige männliche Shinigami gab, die gegen diese Regel verstoßen haben.“ Carina wurde nervös. „Was wird denn mit diesen Kindern gemacht? Werden sie ihren menschlichen Müttern weggenommen?“ Grell wirkte ein wenig empört. „Für was hältst du uns, Barbaren? Natürlich nicht. Wir machen gar nichts mit diesen Kindern.“ Die Blondine blinzelte verwirrt, sodass der Schnitter direkt fortfuhr. „Du musst wissen, diese Kinder sind ganz normale Menschen. Es fällt den Menschen nicht auf, dass ein Elternteil übernatürlich ist. Daher wird in solchen Fällen lediglich der betroffene Shinigami bestraft. Und das nicht gerade sanft, so viel steht fest.“ „Diese Kinder haben keine Shinigami-Merkmale?“, fragte Carina ungläubig und Grell schüttelte den Kopf. „Wie bereits gesagt, wir sind körperlich gesehen immer noch Menschen. Unsere Seelen veränderten sich, weil wir Selbstmord begangen haben. Das wirkt sich nicht auf unsere Kinder aus. Allerdings gibt es schon einige Besonderheiten, die unseren Wissenschaftlern in dem Zusammenhang aufgefallen sind.“ „Die da wären?“ „Nun, zum einen können diese Kinder Shinigami sehen. Zum anderen spürt man es in ihrer Aura. Sie strahlen eine minimal andere Energie ab als die Menschen. Uns fällt es in der Regel auf, wenn wir darauf achten. Dämonen können es zwar auch fühlen, wissen aber nicht woher es kommt. Es ist daher schon öfters vorgekommen, dass sie sich für die Seele eines dieser Kinder interessiert haben. Meistens endet es in einem ziemlichen Chaos. Wir hatten mal einen Fall, in dem der Shinigami davon Wind bekam, dass seine Tochter dabei war sich auf einen Dämon einzulassen und das Ganze endete in einem ziemlichen Blutbad.“ Er streckte angewidert die Zunge heraus. „Menschen spüren hingegen keinen Unterschied, daher ist es auch vollkommen ungefährlich sie einfach bei ihnen zu lassen. Sie wachsen ganz normal auf und sterben auch irgendwann. Also kein Grund für uns tätig zu werden. Wir sorgen lediglich dafür, dass der Shinigami keinen Kontakt aufnimmt.“ Carinas Gedanken verselbstständigten sich. Natürlich hatten die weiblichen Shinigami dieses Problem mit den Menschen nicht. Außer ihr war niemand jemals im Außendienst tätig gewesen, wie hätten sie da auf Menschen treffen sollen? „Und…und was passiert, wenn zwei Shinigami ein Kind…“ Ihre Stimme versagte und Grells Miene verfinsterte sich ein Stück weit. „Eigentlich nehmen die Frauen hier - wenn sie einen Partner haben - Tabletten, die Schwangerschaften verhindern. Falls es jedoch trotzdem passiert…Nun ja, in diesem Fall werden die Kinder in die Menschenwelt gebracht. Meistens in Waisen- oder Krankenhäuser.“ Ihr Herz begann sich schmerzhaft zusammenzuziehen. Ein Kältegefühl, wie sie es noch nie erlebt hatte, überfiel das pochende Organ und ihren Magen gleich mit. „Und das ist nicht barbarisch?“, flüsterte sie und erntete ein Seufzen. „Glaubst du denn, ich finde das gut? Natürlich nicht. Aber so lauten nun einmal die Regeln. Wir sind Shinigami, um unsere Schuld abzutragen. Um Sühne für unseren Selbstmord zu leisten. Wir haben keinen Anspruch darauf eine Familie zu haben.“ „Oder glücklich zu sein“, dachte Carina und ballte ihre Hände zu Fäusten. Es stimmte also doch. Sebastian hatte nicht gelogen. Sie…Sie war also wirklich… „Aber…aber es gab doch überhaupt keine Anzeichen“, stammelte sie, Tränen bildeten sich langsam in ihren Augen. Grells Wut kehrte sogleich zurück. „So und jetzt sagst du mir endlich, wieso du das alles wissen wolltest“, keifte er und verschränkte ungeduldig die Arme. „Was ist los mit dir?“ Ihre Kehle wurde trocken. „Ich…ich habe bei meiner Schicht Sebastian getroffen.“ Jetzt wirkte der Rotschopf noch beleidigter. „Argh, warum passiert sowas mir nicht? Ich möchte Sebas-chan auch wiedersehen“, quengelte er. Dass er kein Taschentuch auspackte und mit seinen Zähnen daran herumzog, kam einem Wunder gleich. Doch Carina achtete ausnahmsweise einmal nicht auf ihn, denn sie hatte gerade wahrlich ihre eigenen Probleme. Die Tränen kamen ins Rollen und tropften zu Boden, während sie endlich irgendwo in ihrem Inneren den Mut dazu fand die Worte auszusprechen. „Er…er sagte ich sei schwanger.“ Grells Weinerlichkeitsanfall verstummte auf der Stelle. Generell stellte sein Körper anscheinend jegliche Bewegungsfähigkeit ein. Er sah mit einem Mal so aus, wie Carina sich fühlte. Und seltsamerweise machte sie das nun noch panischer. „Aber es gab keinerlei Anzeichen“, heulte sie und begann sogleich die ganzen Dinge aufzuzählen, an der man eine mögliche Schwangerschaft erkennen konnte. Jedenfalls die, von denen sie wusste. „Mir war nicht schlecht, ich habe mich nicht einmal übergeben, hatte keine seltsamen Essensgelüste oder Stimmungsschwankungen-“ „Deine Periode?“, warf Grell seltsam trocken dazwischen. „Meine“, begann sie und stockte dann urplötzlich. Sie starrte an die gegenüberliegende Wand, während sich der eiskalte Klumpen in ihrem Magen verhärtete. Jetzt, wo sie darüber nachdachte…sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal ihre Periode gehabt hatte. Aber auf jeden Fall nicht mehr, seitdem sie wieder hier war. „Wie konnte ich das nur nicht merken?“, dachte sie verzweifelt und gab sich gleich darauf selbst die Antwort. Sie hatte die letzten Wochen nur damit verbracht sich in Selbstmitleid zu suhlen und an Cedric zu denken. Doch die Welt hatte sich vor ihren Augen weitergedreht und sie hatte es einfach nicht gemerkt. „Scheiße“, entfuhr es ihr entkräftet. Ihr Kopf sank herab und die Schnitterin vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. „Also hast du doch gelogen“, begann Grell kritisch, gleichzeitig jedoch auch mit ruhiger Stimme. „Er hat dich doch vergewaltigt.“ Carina atmete tief ein und wieder aus, bevor sie schließlich wieder aufsah. „Nein, das hat er nicht“, antwortete sie, was Grell jetzt wieder vollkommen aus dem Konzept brachte. Sie schluckte. „Ich habe freiwillig mit ihm geschlafen.“ Zum zweiten Mal in dieser Nacht verschlug es dem Rothaarigen schlichtweg die Sprache. Doch er fand sie relativ schnell wieder. „Du hast bitte WAS getan???“ Und dann erzählte sie ihm alles. Angefangen von ihrem Erwachen am Weston College, über ihren Deal und die damit verbundene Suche nach ihrer Death Scythe, bis hin zu ihrer Beziehung zu dem Bestatter und dem unschöneren Ende. Sie berichtete über den Kampf gegen den unbekannten Shinigami, die Wahrheit über die Bizarre Dolls und die wahren Absichten des Undertakers. Grell schwieg währenddessen und ließ sie ausreden, schnappte nur einmal kurz nach Luft als sie ihm erzählte, dass es nicht bei einem One-Night-Stand zwischen Cedric und ihr geblieben war. Als sie schließlich am Ende angekommen war und verstummte, stand Grell auf. Nervös schaute sie zu ihm hoch. Vermutlich war das das Ende ihrer Freundschaft. Wie bereits gesagt, sie konnte es ihm nicht einmal übel nehmen. Sie hatte sich wirklich alles andere als vorbildlich verhalten. In einer fließenden Bewegung stemmte der Schnitter seine Hände in die Hüften und dann schrie er sie an. „Und warum hast du mir das alles nicht sofort erzählt? Ich hätte dir doch beistehen können!“ Carina blinzelte. Das war wahrlich nicht die Antwort, die sie erwartet hatte. „I-ich hab mich geschämt“, stammelte sie und schaute nun wieder zu Boden. „Weswegen denn genau? Etwa, weil du deine Unschuld noch vor der Ehe achtlos weggeworfen hast? Weil du mit dem wahrscheinlich meist gesuchten Deserteur in unserer Geschichte geschlafen hast? Oder weil du mich wochenlang belogen hast?“ Seine Stimme war hart und unnachgiebig. Das hier war kein Streit, sondern eine Standpauke vom allerfeinsten. Carina errötete. „Alles davon“, flüsterte sie kleinlaut und spürte, wie ihre Augen erneut zu brennen anfingen. „Das solltest du auch. Ich war krank vor Sorge um dich, konnte nachts nicht richtig schlafen, weil ich nicht wusste ob du nun tot bist oder nicht. Und was hast du stattdessen getan? Dich schön mit diesem attraktiven Silberhaarigen vergnügt.“ Carina wurde unter seinem Blick immer kleiner, traute sich nicht mal ein Wort zu sagen. Der Gedanke, dass Grell wahrscheinlich genau dasselbe getan hätte, wenn es hier um Sebastian oder William gegangen wäre, blieb unausgesprochen. „Es tut mir leid“, flüsterte sie und meinte es auch so. Gleichzeitig jedoch fühlte sie sich irgendwie erleichtert, dass es jetzt endlich raus war und sie sich vor Grell nicht mehr verstellen musste. Dennoch, die Scham und Schuldgefühle blieben. „Ich wollte es dir die ganze Zeit sagen, aber ich…ich hatte zu viel Angst. Ich dachte du würdest dann nichts mehr mit mir zu tun haben wollen.“ Seine gelbgrünen Augen wurden eine Spur sanfter und jetzt hockte er sich vor sie, um mit ihr auf einer Augenhöhe zu sein. Einen Moment lang schien er über etwas nachzudenken, dann fragte er: „Liebst du ihn?“ Carina biss sich auf die Unterlippe. „Ja“, wisperte sie, ihre Augen schwammen zum wiederholten Male in Tränen. Ein schweres Seufzen entfuhr ihm. „Ich hatte es befürchtet“, gab er zurück und ließ sich nun neben ihr nieder, ebenfalls an den Kleiderschrank gelehnt. Stille senkte sich über sie herab, während beide Todesgötter ihren eigenen Gedanken nachhingen. „Weißt du, was das Blöde ist?“, sagte Grell schließlich, woraufhin seine selbsternannte Schwester ihm ihr Gesicht zuwandte. „Was?“, fragte sie erschöpft. Ihr Kopf war so voll, er fühlte sich an wie kurz vor einer Explosion. Der Rothaarige seufzte erneut. „Ich kann dir nicht mal richtig böse sein.“ Carinas Augen weiteten sich ungläubig. Sie starrte ihren besten Freund an, als hätte sie ihn noch nie zuvor gesehen. Dieser grinste schief. „Ich bin wohl der Allerletzte, der jemandem die Liebe nicht gönnen würde.“ Gleich darauf blinzelte er verwirrt. „Warum heulst du denn jetzt schon wieder?“ „Weil ich dich nicht verdient habe“, meinte sie hicksend und wischte sich über die rotgeränderten Augen. Der Schnitter konnte nicht anders, er musste einfach lachen. „Da hast du wohl Recht“, antwortete er und zog ihren Kopf an seine Brust heran. Auch wenn Grell oft alles andere als einfühlsam war, er konnte seine Schülerin verstehen. Jeder machte einmal Fehler und außerdem war sie noch so jung, was er aufgrund ihrer erwachsenen Ausstrahlung manchmal einfach vergaß. Carina hatte bereits genug Probleme, da würde er jetzt sicherlich nicht noch nachtreten. „Was willst du jetzt machen?“, fragte er 5 Minuten später, als die Gemüter wieder abgekühlt waren. Er saß jetzt auf seinem Bett, Carina an dem kleinen Esszimmertisch. „Wenn ich das nur wüsste“, seufzte die 18-Jährige und nippte an dem Glas Wasser, das vor ihr stand. Es war seltsam. Obwohl sie nun wusste, dass sie – Gott stehe ihr bei – schwanger war, konnte sie es immer noch nicht richtig erfassen, nicht begreifen. Carina konnte es sich einfach absolut nicht vorstellen, dass in ihrem Bauch eine zweite Seele, ein neues Leben heranwuchs. Wie zur Hölle sollte sie damit nur umgehen? „Du kannst ja nicht sehr weit sein“, begann der Schnitter vorsichtig. „In der 8. Woche“, antwortete sie ohne darüber nachzudenken. Seit 5 Wochen ging sie wieder zur Arbeit, vorher hatte sie etwas länger als 2 Wochen Trübsal geblasen und davor hatte sie 2 Tage auf der Krankenstation verbracht. Und über den Zeugungszeitpunkt musste sie auch nicht lange nachdenken. „Es muss der Sex vor meinem Weggang gewesen sein. Andernfalls hätte ich das Kind sicherlich bei dem Kampf gegen diesen Shinigami verloren.“ Sie schloss genervt die Augen. Der Sex, den sie persönlich herbeigeführt hatte. Konnte es eine größere Ironie geben? Grell zögerte einen kurzen Moment, dann sagte er langsam: „Du könntest es immer noch entfernen lassen. Wir könnten in der Menschenwelt in ein Krankenhaus gehen und niemand hier müsste je davon erfahren.“ Diese Antwort traf Carina wie ein Schlag ins Gesicht. Darüber hatte sie bisher nicht eine Sekunde lang nachgedacht. Aber als sie es tat, spürte sie unmittelbar einen schmerzhaften Stich in ihrer Brust. „Das kann ich nicht“, sagte sie ohne wirklich darüber nachzudenken. „Dieses Kind ist das Einzige, was mir noch von ihm geblieben ist. Ich kann es doch nicht auch noch verlieren. Ich will dieses Kind austragen und…und großziehen“, meinte sie ehrlich, wenn auch weiterhin zaghaft und gleichzeitig keimte eine Erkenntnis in ihr auf. Sie würde niemals zulassen, dass die Shinigami ihr ihr Kind wegnahmen und in die Menschenwelt brachten. Aber dann hatte sie nur eine Möglichkeit… „Du wirst gehen müssen“, las Grell ihre Gedanken und raufte sich die Haare. Das war so ziemlich das Letzte, was er eigentlich wollte. Aber wenn seine Schülerin das Kind bekommen wollte, dann würde er sie darin unterstützen. Dennoch, er musste ihr auch die Konsequenzen klar machen. Angst schnitt in ihre Eingeweide wie ein Messer. Sie müsste die Shinigami verlassen. Ein Leben auf der Flucht führen. Ständig in der Angst leben, dass sie entdeckt werden könnte. Ein Leben, wie Cedric es bereits lange Zeit führte. „Bist du dir da wirklich sicher, Carina? Selbst, wenn du es schaffen solltest unentdeckt zu bleiben und dieses Kind großzuziehen…Irgendwann ist es erwachsen, führt sein eigenes Leben und stirbt. Und was machst du dann? Du kannst nie wieder hierher zurück.“ Carina nickte. „Ja, ich weiß. Aber das ist immer noch besser, als mich mein ganzes Leben lang zu fragen, was hätte sein können. Was passiert wäre, wenn ich das Kind bekommen hätte. Oder?“ „Wie auch immer du dich entscheidest, ich werde dir helfen. Versprochen.“ „Wie?“, flüsterte sie und wirkte auf einmal entmutigt. „Ich werde gehen müssen. Vielleicht werde ich dich nie wiedersehen. Oder Alice? Oh Gott, sie wird mich umbringen, wenn sie die Wahrheit erfährt. Und ja Grell, ich werde ihr die Wahrheit erzählen. Noch einmal lasse ich sie nicht total unwissend hier“, sagte sie, denn Grells Gesichtsausdruck hatte Bände gesprochen, was er von dieser Idee hielt. Nämlich gar nichts. Carinas Hände verkrampften sich und als sie aufblickte, rollte eine einzelne Träne über ihre linke Wange. „Ihr seid meine besten Freunde, nein, meine Familie. Ich…ich will euch nicht verlieren. Ich will nicht allein sein. Ich brauche doch jemanden, mit dem ich über meine Sorgen und Ängste sprechen kann. Jemanden, mit dem ich lachen und scherzen kann. Das alles alleine durchzustehen…dafür bin ich nicht stark genug.“ „Rede so weiter und ich heule gleich auch noch“, jammerte er und griff nach ihren Händen. „Wir werden schon einen Weg finden, versprochen. Wenn du erst in der 8. Woche bist, haben wir noch ein wenig Zeit. Ich meine mich erinnern zu können, dass Schwangerschaften erst so ab dem dritten oder vierten Monat auffallen. Also setzen wir uns in den nächsten Tagen zusammen und überlegen, wie wir die Sache angehen.“ „Und wenn man uns erwischt?“, fragte Carina verunsichert. „Ich will nicht, dass du meinetwegen in Schwierigkeiten gerätst.“ „Glaub mir, das schaffe ich auch ganz gut ohne dich“, er zwinkerte. „Ich lasse meine kleine Schwester doch nicht im Stich, soweit kommt es noch!“ Die Blondine lächelte gerührt. „Was würde ich nur ohne dich machen?“, flüsterte sie und eine Spur Erleichterung keimte in ihr auf. Grell schaute plötzlich auf die kleine Uhr, die auf seinem Nachttisch stand. „Hör mal, es ist schon spät. Geh in deine Wohnung, schlaf dich aus und denk noch mal über alles in Ruhe nach, in Ordnung? Solche Entscheidungen trifft man nicht über Nacht. Vielleicht siehst du das morgen schon alles ganz anders. Vielleicht…überlegst du es dir noch mal anders.“ Carina schluckte. Grell hatte Recht, es war eine schwierige Entscheidung. Ihr Herz wusste zwar ihren Entschluss, aber ihr Verstand wehrte sich noch mit jeder Faser gegen die Vorstellung alles hinzuwerfen, wofür sie so hart gearbeitet hatte. Wieder von vorne anzufangen. Dabei spürte sie bereits jetzt, dass sie anfing dieses kleine Lebewesen in ihrem Körper zu lieben. Wie konnte das nur so schnell gehen? „Ich habe bis 2 Uhr Schicht, aber danach können wir gerne zu der kleinen Nervensäge gehen und sie in die ganze Sache einweihen. Wenn du das dann immer noch willst.“ „Das klingt nach einem Plan“, antwortete die Schnitterin und erhob sich mit wackligen Beinen. Grell öffnete die Tür und klopfte ihr noch ein letztes Mal aufmunternd auf die Schulter. „Bis später“, sagte er. In seinen Augen konnte sie deutlich sehen, dass er mit jeder ihrer Entscheidungen einverstanden sein würde und das machte ihr wenigstens ein bisschen Zuversicht. „Danke Grell. Für alles“, flüsterte sie und lief los zu ihrer Wohnung. Sicherlich würde sie diese Nacht keinen Schlaf mehr finden. Und sie sollte Recht behalten. Obwohl das kleine Schlafzimmer komplett verdunkelt war, hatte die junge Frau keine Schwierigkeiten etwas zu sehen. Sie lag auf ihrem Bett, die Arme und Beine weit von sich gestreckt und starrte hinauf zur Decke. Lediglich kleine Lichtstrahlen, die durch die Rollladen hindurch schienen sagten ihr, dass es draußen bereits hell war. Vermutlich hätte sie bereits vor einer halben Ewigkeit aufstehen müssen. Aber um ehrlich zu sein war es ihr egal. Sie hatte gerade deutlich größere Probleme. Was sollte sie machen? Wie zur Hölle sollte sie sich bloß entscheiden? Hieß es nicht „Man hatte immer eine Wahl“? Ja… Sie hatte eine Wahl. Eine Wahl mit zwei Optionen. „Und gleichzeitig hab ich doch keine“, flüsterte sie in die Stille des Raumes hinein. Wählte sie die eine Option, dann würde sie nach den Regeln spielen. Sie würde das tun, was alle von ihr erwarteten. Aber es würde sie nicht glücklich machen. Es würde ihr vielmehr das Herz brechen. Konnte sie dieses Kind wirklich abtreiben? Es wäre die leichteste Lösung, alle ihre Probleme würden sich mit einem Schlag in Luft auflösen. Aber wie sie bereits zu Grell gesagt hatte, sie wollte dieses Kind. Mit jeder Faser ihres Körpers und ihrer Seele. Nie hatte sie etwas so sehr gewollt. Möglicherweise war dieses Kind das Einzige, was sie jemals daran erinnern würde, dass nicht alles schlecht war, wenn sie an Cedric dachte. Dass ihre gemeinsame Zeit zu etwas gut gewesen war. Dass er zumindest eine Sache erschaffen hatte, die wundervoll war. Nicht so widernatürlich wie seine Bizarre Dolls. Und wählte sie die andere Option…nun ja…sie wäre vermutlich glücklich. Sogar verdammt glücklich. Aber gleichzeitig wäre es ein Spiel mit dem Feuer. Diese Entscheidung könnte ihr sehr schnell das Genick brechen. Und hatte sie sie erst einmal getroffen, dann würde es kein Zurück mehr geben. Es würde nie wieder die Möglichkeit geben hierhin zurückzukehren. Sie könnte alles verlieren, was ihr wichtig war. Grell, Alice, ein beständiges Leben…Aber war das wirklich das, was sie wollte? Beständigkeit? Nach wie vor konnte sie die ganze Tragweite der letzten Stunden noch nicht erfassen. Seit sie in dieser Zeit gelandet war, fuhr ihr Leben nur noch Achterbahn. Nichts blieb dauerhaft so wie es war, ständig änderten sich ihre Lebensumstände. Jetzt, wo sie gerade gedacht hatte sich wieder in ihrem Job eingefunden zu haben, passierte es schon wieder. „Aber wäre das wirklich so schlecht? Hätte ich es denn wirklich geschafft hier die nächsten Jahrzehnte und Jahrhunderte zu verbringen? Tagein und tagaus monoton meine Arbeit zu verrichten?“ Wenn Carina ganz ehrlich zu sich selbst war, dann lautete die Antwort darauf Nein. Sicherlich, einige Zeit lang hätte sie bestimmt so tun können, als ob alles in Ordnung wäre. Aber schlussendlich war es den Shinigami nun einmal nicht wirklich gestattet glücklich zu sein. Und das war doch verdammt noch mal genau das, was sie seit 3 Jahren wollte. Einfach nur glücklich sein… Verzweifelt vergrub sie das Gesicht in den Händen, ihre zerzausten blonden Haare ignorierend. Schon seit Stunden lag sie hier und überlegte hin und her. Aber egal, wie sehr sie sich auch den Kopf zerbrach, sie kam einfach zu keinem Ergebnis. Die Frage blieb. Wie zur Hölle sollte sie sich bloß entscheiden? Sollte sie dieses Kind bekommen? Oder nicht? „Wie konnte ich nur in diesen Schlamassel hineingeraten?“, murmelte sie. Automatisch kamen ihr die Erinnerungen der letzten Jahre in den Sinn. Ganz deutlich, als wäre es erst gestern passiert, sah sie es vor sich. Jedes kleine Detail, jedes gesprochene Wort und jede Begegnung. „Ach ja…genau…“ Für mehre lange Minuten ließ sie sich in den Strudel sinken, der aus ihren Erinnerungen bestand. Was sie in diesen 3 Jahren alles erlebt hatte… Alles hatte damit angefangen, dass Bianca ihr die ersten Black Butler Bände ausgeliehen hatte. Damals hatte sich alles noch um Mangas, Animes und gute Schulnoten gedreht. Es war teilweise kaum zu glauben, wie sehr sie sich seitdem verändert hatte. Wie von selbst glitt ihre rechte Hand auf ihren Unterleib; an die Stelle, an der sich ihr Kind befand. Cedrics Kind. Ihr gemeinsames Baby…Bei dem Wort „Baby“ wurde ihr plötzlich schwindelig. Ihr Herz schien aus heiterem Himmel auf die doppelte Größe anzuschwellen und irgendwelche komischen Saltos zu machen, während es trotzdem in einem schnellen Rhythmus weiter pochte. Was machte sie sich hier eigentlich vor? Warum lag sie bereits seit Stunden in ihrem Bett und ließ ihre Gedanken unablässig Kreise ziehen? Sie hatte ihre Entscheidung doch schon längst getroffen. Und in ihrem tiefsten Inneren hatte sie es auch die ganze Zeit gewusst. Egal, wie klischeehaft es sich auch anhören mochte, das hier war ein Entschluss, den man mit dem Herz traf. Nicht mit dem Verstand. Und ihr Herz schrie Ja. Carina nahm nun auch noch ihre andere Hand hinzu und ließ sie auf ihrem Unterleib ruhen. Sanft strich sie mit ihren Fingern über ihren noch flachen Bauch und obwohl sie wusste, dass es irgendwie dämlich war, beugte sie sich ein bisschen weiter hinab. Obwohl sie wusste, dass das Baby – ihr Baby – sie noch nicht hören konnte, flüsterte sie: „Ich werde dich beschützen. Komme, was da wolle!“ Kapitel 51: Pläne schmieden --------------------------- Pünktlich um 2 Uhr nachmittags stand Grell vor ihrer Wohnungstür. Sie konnte in seinen Augen ablesen, dass er darauf brannte ihre Entscheidung zu hören. „Und?“, fragte er auch sogleich. „Hast du es dir noch einmal anders überlegt?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, Grell. Ich werde dieses Kind nicht aufgeben. Jedenfalls nicht kampflos.“ „Dickköpfig wie am ersten Tag“, grinste er und wirkte plötzlich euphorisch. „Mensch, ich werde Onkel.“ Carina konnte nicht anders, sie lachte. „Ernsthaft? Haben wir nicht gerade größere Sorgen?“ Der Rothaarige winkte ab. „Glaub mir, ich habe schon genug Mist in meinem Leben als Shinigami gebaut. Manchmal muss man dazwischen einfach das Positive sehen. Denk doch mal nach. Du wirst Mama.“ „…Mama“, sprach Carina ihm nach und runzelte die Stirn. Das war irgendwie das letzte Wort, was sie momentan mit sich selbst in Verbindung gebracht hätte. „Mach dir keine Sorgen“, sagte Grell, als er ihren Gesichtsausdruck richtig deutete. „Wie heißt es doch so schön? Man wächst mit seinen Aufgaben.“ Carina schmunzelte. Das stimmte tatsächlich. Der rothaarige Schnitter schien schon ein wenig weiter zu denken als sie, denn er stellte sogleich eine Frage, über die sie selbst noch gar nicht nachgedacht hatte. „Und wie willst du mit dem werdenden Vater verfahren? Es ihm sagen?“ Sie zögerte. „Ich weiß doch noch nicht einmal wo er sich gerade aufhält. Außerdem…er liebt eine andere Frau. Wenn er es tatsächlich schafft sie zurückzuholen, wird er sich wohl kaum für ein Kind interessieren, das nicht von ihr ist.“ Bitterkeit unterstrich jedes einzelne ihrer Worte. Grell wirkte nicht sonderlich überzeugt. „Dennoch bin ich der Meinung, dass du diese Entscheidung ihm überlassen solltest. Und denk an dein Kind. Hat es nicht ein Anrecht darauf?“ Grell hatte irgendwie nicht ganz Unrecht, befand Carina. Sie selbst war immer ein totales Papakind gewesen. Würde sie es sich selbst nicht irgendwann einmal übel nehmen, dass sie es Cedric nicht zumindest gesagt hatte? Dass sie ihm nicht zumindest die Chance eingeräumt hatte für sein Kind da zu sein? Im schlimmsten Fall würde vielleicht ihr eigenes Kind es ihr eines Tages vorwerfen. Aber…würde er denn da sein? In dieser Hinsicht konnte sie tatsächlich nicht einschätzen, wie seine Reaktion ausfallen würde. „Aber Moment mal“, kam es ihr plötzlich in den Sinn und sie zog fragend eine Augenbraue hoch. „War das nicht eigentlich ziemlich leichtsinnig von ihm? Mit mir zu schlafen meine ich?“ Grell zuckte mit den Schultern. „Wie bereits gesagt, die meisten männlichen Shinigami wissen überhaupt nicht, dass die Frauen hier dazu in der Lage sind Kinder zu bekommen. Und nur einmal angenommen er hätte es gewusst. Schätzungsweise 80 % der weiblichen Todesgötter haben sich direkt zu Anfang sterilisieren lassen, um zu verhindern, dass sie genau in solch eine Situation kommen könnten. Die restlichen 20 % haben entweder überhaupt keinen Partner, was hier ja auch der Regelfall ist, oder sie nehmen vor jeder“, er räusperte sich kurz, „vor jeder sexuellen Annäherung eine von diesen Tabletten. Aber Carina, ich bin mir ziemlich sicher, dass er es nicht wusste. Es sei denn er hatte in der Vergangenheit mal eine Shinigami zur Partnerin.“ „Nicht, dass ich wüsste. Ich weiß nur von dieser Claudia“, antwortete sie düster und biss sich auf die Unterlippe. Auch sie war fest davon überzeugt, dass Cedric nicht die geringste Ahnung hatte. Denn dann hätte er entweder verhütet, sie gefragt ob sie noch Kinder bekommen konnte oder ob sie zumindest diese Tabletten bei sich trug. Nichts davon hatte er getan. Beim bloßen Gedanken an sein geschocktes Gesicht, wenn sie ihm die Botschaft überbrachte, wurde Carina furchtbar schlecht. „Ich…ich weiß noch nicht, ob ich es ihm sagen möchte“, murmelte sie leise. Grell bemerkte sofort die aufwallende Anspannung im Raum und wedelte beruhigend mit der Hand. „Du hast ja noch genug Zeit, um darüber nachzudenken, also bleib ruhig. Aufregung ist jetzt schließlich das Letzte, was du gebrauchen kannst. Jetzt sollten wir erstmal mit der kleinen Nervensäge sprechen, oder?“ „Nenn sie nicht immer so. Aber ja, lass uns gehen. Ich will es so schnell wie möglich hinter mich bringen.“ Grell hatte zwar gut auf die ganze Wahrheit reagiert, aber würde Alice wirklich dasselbe tun? Es dauerte nicht lange, bis die beiden Schnitter vor der Wohnungstür der schwarzhaarigen Rezeptionistin standen. Alice wohnte nur ein paar Blocks vom Institut entfernt, in einer kleinen gemütlichen Wohnung, die sich im dritten Stock eines übersichtlich großen Blockhauses befand. Carina klopfte an die elfenbeinfarbene Tür und kurz darauf ertönten bereits Schritte auf der anderen Seite. Alice öffnete die Tür und blinzelte ihnen gleich darauf verwirrt entgegen. „Äh, waren wir verabredet?“, fragte sie verwundert über ihren plötzlichen Besuch und schaute abwechseln Carina und Grell an. „Nein, keine Sorge. Können wir vielleicht reinkommen, Alice? Es gibt da etwas, über das ich mit dir sprechen muss.“ Angesprochene blinzelte ihre beste Freundin kurz an, dann nickte sie. „Sicher, kommt rein. Und du benimmst dich“, sagte sie an Grell gewandt, der daraufhin spöttisch schnaubte und mit einem übertriebenen Hüftschwung eintrat. Carina setzte sich auf die kleine Eckcouch, die in einem warmen Creme Ton gehalten war und Grell machte es sich auf einem weißen Sessel bequem, der direkt neben der Couch stand. „Kann ich euch was zu trinken anbieten? Tee, Kaffee, Wasser?“ Carina schüttelte den Kopf. Ihr war ohnehin schon flau im Magen, da wollte sie lieber nichts zu sich nehmen, was diese Situation noch verschlimmern könnte. Auch Grell schüttelte den Kopf. Die schwarzhaarige Shinigami zuckte mit den Schultern und setzte sich anschließend auf die Ecke der Couch, sodass sie ihrer Freundin schräg gegenüber saß. „Also? Was wolltet ihr mit mir besprechen?“, fragte sie erwartungsvoll. Es kam immerhin nicht alle Tage vor, dass Carina und ihr Mentor unangekündigt und mit solch angespannten Mienen vor ihrer Tür standen. Die 18-Jährige holte einmal tief Luft und begann dann zu erzählen. Sie erzählte Alice, genauso wie sie es zuvor mit Grell gemacht hatte, die ganze Wahrheit. Was während ihrer Entführung wirklich geschehen war. Ebenso wie Grell hörte Alice ihr bis zum Schluss schweigend zu. Und sie sah mindestens genauso entsetzt aus. „Ist das jetzt wirklich dein Ernst? Ich mache mir wochenlang Sorgen, male mir die schlimmsten Horrorszenarien aus, und was machst du? Treibst es mit einem Deserteur.“ Grell warf Carina einen Das-hast-du-dir-selbst-zuzuschreiben-Blick zu, während die Blondine schuldbewusst zu Boden starrte. „Es tut mir wirklich leid, Alice. Ich wusste einfach nicht, wie ich die Wahrheit sagen sollte. Ich weiß selbst, wie rücksichtslos das von mir war. Entschuldige bitte.“ Ihre Stimme wurde zum Ende hin immer leiser und verstummte schließlich. „Das ist ja wohl auch das Mindeste. Was hast du dir dabei nur gedacht? Nein warte, sag nichts. Du hast einfach überhaupt nicht nachgedacht, so verschossen wie du in diesen Typen bist.“ Carina lief purpurrot an, während Grell grinste. Die Kleine konnte ja doch ganz schön witzig sein. „Ist das so offensichtlich?“, brachte die Schnitterin schließlich hervor, woraufhin Alice die Augen verdrehte. „Offensichtlich ist noch untertrieben. Es steht ja quasi fettgedruckt auf deiner Stirn. Allein schon die Art und Weise wie du über ihn sprichst, sagt einem doch schon alles.“ Sie verschränkte die Arme und schien sich einen Moment lang sammeln zu müssen. „Aber eine Sache verstehe ich dann doch nicht. Wieso hast du dich jetzt plötzlich dazu entschlossen, es uns doch mitzuteilen?“ „…“ Carina schluckte einmal lautstark, doch dann brachte sie die Worte doch noch hervor. „…weil ich schwanger bin.“ Alice erstarrte in ihrer Haltung, gleichzeitig wurden ihre Augen groß wie Untertassen. „Du bist WAS?“, fragte sie bestürzt und bekam nun auch noch die Geschehnisse des vorherigen Tages berichtet. „Aber Carina, wie konntest du denn nicht verhüten? Da ist es doch kein Wunder, dass es irgendwann soweit kommen musste.“ „Ich wusste es nicht. Niemand hat mir verdammt noch mal gesagt, dass Shinigami überhaupt Kinder bekommen können.“ Alice hob eine Augenbraue. „Wie das denn? Das war so ziemlich eins der ersten Dinge, dir mir und meinen Klassenkameraden in der Ausbildung mitgeteilt wurden.“ „Deine Klassenkameraden waren aber auch allesamt weiblich“, murrte Carina und jetzt schien der Rezeptionistin ein Licht aufzugehen. „Oh“, meinte sie trocken. Die Schwangere warf die Hände in die Luft. „Ja, OH! Und nur, weil irgend so ein Vollidiot versäumt hat, dass da zum ersten Mal auch eine Frau im Seelensammlerkurs sitzt, sitze ich jetzt auch und zwar im größten Schlamassel aller Zeiten.“ „Aber Carina“, fuhr Alice zweifelnd fort, „du bist jetzt schon ganze 3 Jahre hier. Da kann es doch nicht sein, dass du nie etwas davon mitbekommen hast.“ „Ach ja und von wem bitteschön?“, mischte sich Grell nun ein und schlug seine Beine elegant übereinander. „Die einzigen Shinigami, mit denen Carina regelmäßig spricht, sind du, ich und William. Und warum hätte einer von uns sie einfach so darauf hinweisen sollen? Du weißt doch sicherlich, dass dieses Thema so gut es geht totgeschwiegen wird. Die Oberen sehen es nämlich gar nicht gerne, wenn sich so etwas herumspricht. Manche Shinigami könnten auf die Idee kommen abzuhauen, um irgendwo im Verborgenen eine Familie aufzubauen.“ „Ja, schon“, gab Alice widerwillig zu. „Wobei ich es ja viel schlauer fände, wenn man alle aufklärt, nicht nur die Frauen. Es gibt hier sicherlich mehr als genug Männer, die keinerlei Interesse daran haben Vater zu werden. Ich meine, sieh dir Ronald an. Bei dem kann man wirklich nur hoffen, dass alle Frauen ihre Tabletten regelmäßig nehmen oder sterilisiert sind.“ „Wie wahr“, antworteten Grell und Carina synchron. Letztere schien dadurch jedoch keine bessere Laune zu bekommen. „Ich hab mich direkt sterilisieren lassen und das aus gutem Grund“, fuhr Alice fort. „Ich könnte es nicht ertragen erst 9 Monate ein Baby auszutragen und es dann…dann zu verlieren.“ Sie geriet ins Stocken und plötzlich spiegelten sich Trauer und Schmerz in ihren Augen wieder. Carina und Grell warfen sich einen irritierten Blick zu, wagten es aber nicht die Schwarzhaarige auf ihren plötzlichen Stimmungsumschwung anzusprechen. Alice atmete einmal tief durch, dann sagte sie: „Du wirst gehen, nicht wahr?“ Ein bitteres Lächeln legte sich auf Carinas Lippen. „Du kennst mich wirklich gut“, flüsterte sie und strich sich zittrig über die Stirn. „Du hast es gerade selbst gesagt, Alice. Auch für mich kommt es nicht in Frage, dass ich mein Kind einfach so hergebe. Zuerst war ich geschockt und verängstigt, aber…aber sobald ich richtig darüber nachgedacht habe, wurde es mir klar.“ Ihre Hand rutschte automatisch zu ihrem Bauch. „Ich liebe dieses Baby. Das habe ich von der ersten Sekunde an, auch, wenn ich es nicht sofort begriffen habe. Ich will und werde es nicht aufgeben. Unter gar keinen Umständen. Und wenn das bedeutet, dass ich gehen muss…tja, dann werde ich gehen.“ Ein schwerer Seufzer entfuhr ihrer besten Freundin. „Es hätte mich auch sehr gewundert, wenn du dich anders entschieden hättest.“ Sie sah Grell und Carina abwechselnd an. „Also, wie lautet der Plan?“ Carina blinzelte. „Bitte?“, fragte sie ungläubig nach, sicherlich hatte sie sich verhört. Alice hob erneut eine Augenbraue. „Wie lautet der Plan und wie kann ich helfen? Also ernsthaft Carina, dachtest du wirklich ich würde dich aufhalten wollen? Du bist meine beste Freundin. Ich will, dass du glücklich bist. Und wenn dieses Baby dich glücklich macht, dann werde ich dich so gut es geht unterstützen.“ Carina spürte, wie ihre Augen wieder anfingen unangenehm zu brennen. „Danke, Alice“, wisperte sie leise und konnte einfach nicht anders, als im nächsten Moment ihre Arme um die andere junge Frau zu werfen und sie in eine feste Umarmung zu ziehen. „Gott, das ihr jungen Dinger aber auch immer so emotional sein müsst“, kam es von Grell und Carina hörte Alice in ihrem Rücken schnauben. „Du heulst doch auch.“ „Tue ich gar nicht!“ „Und warum drückst du dir sonst dieses schreckliche rote Taschentuch auf die Augen? „Ich hab was ins Auge gekriegt.“ „Ja klar…“ Die 18-Jährige konnte einfach nicht anders, sie begann lauthals loszulachen. Die Streitereien zwischen ihren beiden besten Freunden waren doch immer wieder aufs Neue ein Schauspiel. „Ich hab euch beide echt nicht verdient“, sagte sie mit einem breiten Lächeln und pure Erleichterung erfasste sie. Wenn Alice und Grell sie bei ihrem Entschluss unterstützten, dann konnte vielleicht doch noch alles gut werden. Möglicherweise würde es doch funktionieren. „Also, ich frage noch mal. Wie sieht der Plan aus?“ „Nun ja, wenn Carina richtig gerechnet hat, dann ist sie jetzt in der achten Woche.“ „Ich hab richtig gerechnet“, meinte die Blondine beleidigt. „Es kann nur in unserer letzten Nacht passiert sein. Sonst hätte ich das Kind durch die Begegnung mit diesem Mistkerl sicherlich verloren.“ Grell wackelte mit den Augenbrauen. „Aha, bekommen wir jetzt endlich mal ein paar schmutzige Details zu hören?“ Alice schüttelte genervt den Kopf, während Carina feuerrot anlief. „Was denn?“, fragte der Rothaarige verständnislos. „Wir sind doch hier unter uns Mädels, da muss dir doch nichts peinlich sein.“ Alice hob zum nunmehr dritten Mal eine Augenbraue. „Ah ja“, meinte sie, nicht sonderlich überzeugt. Grell funkelte sie böse an und Carina seufzte. Sie kannte ihren selbsternannten Bruder gut genug um zu wissen, dass er jetzt nicht mehr locker lassen würde. Sie räusperte sich einmal und sagte dann mit versucht fester Stimme: „Es war schön und er ist eine Granate im Bett, reicht das als Information?“ Die Schwarzhaarige prustete los, während Grell theatralisch die Arme in die Luft warf. „Das ist so unfair. Warum passieren solche Sachen immer allen, nur nicht mir? Ich will auch.“ Alice lachte nun noch lauter und auch Carina konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Er hatte nun einmal gefragt… „Aber um auf vorher zurückzukommen. Ja, ich bin in der achten Woche.“ „Dann hast du schätzungsweise noch 5-6 Wochen, bis man etwas sehen könnte. Wenn du weite Kleidung trägst, dann möglicherweise länger.“ „Ich fürchte bei deiner Arbeitskleidung kannst du relativ wenig kaschieren“, meinte Grell und Carina nickte. „Ja, und ich will das Ganze auch nicht länger als nötig herauszögern. Je schneller wir uns was überlegen, desto besser.“ „Am besten ist es, wenn du während einer Schicht verschwindest. Ist schon öfters passiert.“ Jetzt starrten beide Frauen den Rothaarigen entsetzt an. „Wie bitte?“, fragte Alice, woraufhin Grell die Schultern zuckte. „Sicher. Viele Seelensammler haben schon während einer Mission das Zeitliche gesegnet. Meistens durch Dämonenangriffe. Oder aber sie verschwinden einfach. Manche werden wieder gefunden und in Gewahrsam genommen, andere hat man nie wieder gesehen. Du wärst also kein Einzelfall. Ganz im Gegenteil, bei dir könnte man sogar davon ausgehen, dass du wieder entführt wurdest.“ „Da hat er gar nicht so Unrecht“, murmelte Alice und legte nachdenklich ihren Daumen und Zeigefinger ans Kinn. „William wird bei dir wohl kaum davon ausgehen, dass du freiwillig verschwunden bist. Du bist mittlerweile wahrscheinlich seine liebste Mitarbeiterin. Aber mal was ganz anderes. Willst du es dem werdenden Vater sagen?“ Carina biss sich auf die Lippe. „Ich weiß nicht…“, sagte sie zögerlich. Allein schon der Gedanke es ihm sagen zu müssen machte sie nervös. „Ich weiß doch gar nicht wo er ist und selbst wenn, als ob er ein Kind mit mir wollen-“ „Lass all diese Umstände mal außer Acht“, unterbrach die Schwarzhaarige sie und ergriff ihre Hand. „Findest du nicht, dass er das Recht hat davon zu erfahren?“ „Genau das habe ich auch gesagt“, triumphierte Grell und vergaß glatt, dass er und seine selbsternannte Erzfeindin ein und derselben Meinung waren. Carina schluckte. „Ja…schon“, meinte sie kleinlaut. „Dann musst du es ihm sagen.“ „Und wenn er das Kind nicht will?“, flüsterte die 18-Jährige leise, allein der Gedanke bereitete ihr Übelkeit. „Dann hast du es wenigstens versucht. So unangenehm das auch werden wird, danach bist du froh, dass du zumindest die Karten offen auf den Tisch gelegt hast. Im Nachhinein kann dir niemand vorwerfen, dass du nicht alles unternommen hast, um deinem Kind einen Vater zu geben.“ Carina nickte langsam. Alice und Grell hatten ja Recht. „Aber das löst immer noch nicht das Problem, dass ich gar nicht mehr weiß wo er jetzt ist.“ „Irgendwie kriegen wir das schon raus. Wir müssen einfach Augen und Ohren offen halten“, sagte Grell. „Ich werde mich mal vorsichtig bei William erkundigen, möglicherweise hat er was mitbekommen. Und deine kleine Freundin hier kann ihre Augen ja mal in der Verwaltung umherschweifen lassen. Keine Sorge, das schaffen wir schon. Die Frage ist nur, wann das sein wird. Je nachdem wie lange es dauert, muss du bereits vorher von hier verschwinden.“ „Und wohin?“, fragte die Blondine zweifelnd. Bis auf den Laden des Undertakers kannte sie in London kein einziges Gebäude, das ihr Unterschlupf bitten könnte. Und da sie wohl schlecht in seinem Laden wohnen konnte, hatte sie keine Alternative. Überhaupt war es vermutlich eine schlechte Idee direkt in London zu bleiben. So würden die Shinigami sie sicherlich rasch aufspüren. Zu ihrer größten Verwunderung begann Grell zu grinsen. „Lass das mal meine Sorge sein. Ich hab da schon so eine Idee, muss nur noch schauen, ob das in die Tat umsetzbar ist“, flötete er und warf ihr einen Kussmund zu. „Du hast eine Idee? Na ja, Wunder gibt es immer wieder“, warf Alice beiläufig ein, woraufhin unmittelbar ein erneuter Zickenkrieg entbrannte. Carina dachte währenddessen über all das nach, was in nächster Zukunft auf sie zukommen würde. Es würde bei weitem nicht einfach werden und mit ziemlicher Sicherheit äußerst gefährlich. Trotzdem kam sie nicht umhin einen Lichtblick darin zu sehen. War es denn wirklich so schlecht ihrem tristen Alltag zu entkommen? Sie dachte an ihre Zeit am Weston College. Es war schwierig gewesen und anstrengend, aber irgendwie hatte es auch auf seltsame Art und Weise Spaß gemacht. Jedenfalls waren das Erinnerungen, die sie niemals vergessen würde. Und vielleicht, nur vielleicht, konnte sie nach ihrem Weggang wieder solche Erinnerungen gewinnen. Positive Erinnerungen. Erneut musste sie mit wärmer werdenden Wangen an die Zeugung ihres Babys denken. Mit erschreckender Klarheit konnte die 18-Jährige sich daran erinnern, wie unglaublich intim dieser Moment zwischen Cedric und ihr gewesen war. Irgendwie…irgendwie war sie froh, dass dies der Moment gewesen war, in dem sie beide das Baby gezeugt hatten. „Auch, wenn ich ihm ursprünglich nur ein letztes Mal nahe sein wollte und das Endergebnis jetzt ein völlig anderes ist…es ist doch irgendwie gut, dass es so gekommen ist.“ „Also, ich fasse noch mal zusammen. Erst einmal unternehmen wir nichts und hören uns lediglich um, ob es etwas Neues von deinem Lover gibt“, sagte Alice, woraufhin ihre Freundin die Augen verdrehte. Von wegen Lover… „Wenn wir etwas hören, dann machst du dich auf die Suche nach ihm. Wenn nicht, dann klappt hoffentlich Grells ach so toller Plan und du kannst irgendwo unterkommen, bis wir etwas herausgefunden haben. Stellt sich nur noch die Frage, wie lange du noch warten willst.“ Carina überlegte kurz. „Einen Monat?“, fragte sie dann und zuckte mit den Schultern. „Dann wäre ich in der 12. Woche. Ich bin nicht gerade die Schmalste, also würde man da hundertprozentig noch gar nichts sehen. Ich hätte für mögliche Komplikationen in unserem Plan also noch etwas Zeit.“ „Klingt gut“, meinte Grell, wirkte aber gleichzeitig irgendwie bedrückt. „Das ist so unfair. Da hab ich endlich mal jemanden gefunden, mit dem ich über alles reden konnte und jetzt gehst du weg.“ „Mir geht’s genauso“, seufzte Alice und schaute ebenso deprimiert drein wie der Rothaarige. Carina lächelte gerührt. „Ich wünschte ihr könntet mitkommen“, murmelte sie, denn das war bisher das, was ihr den meisten Kummer bereitete. Von ihren Freunden getrennt zu sein. „Ich komme dich so oft es geht besuchen. Das ist für mich als Schnitter kein Problem, außerdem wundert es hier niemanden mehr, wenn ich mal für ein paar Stunden verschwinde.“ „Nein, wahrlich nicht“, kam es unisono von Carina und Alice. „Was soll denn das jetzt bitteschön wieder heißen?“, fragte er beleidigt. „Dass du dir in der Vergangenheit schon so viel geleistet hast, dass William sich schon gar nicht mehr traut dich zu fragen, wo du jetzt schon wieder vor oder nach deiner Schicht gewesen bist“, antwortete Carina trocken. „…Gut, der Punkt geht an dich.“ Carina schaute Alice an. „Lernt ihr in eurer Ausbildung, wie man sich teleportiert?“ Die junge Frau schüttelte den Kopf, wirkte nun noch geknickter. Carina schaute zu ihrem Freund und Mentor, der ihren bittenden – beinahe flehenden – Gesichtsausdruck sofort bemerkte. Grell stöhnte theatralisch auf. „Ich kann sie sicherlich auch ab und zu mitbringen“, nuschelte er widerwillig, wodurch sich die Mienen der beiden Freundinnen sofort aufhellten. „Schön, dass wir das jetzt geklärt haben. Aber eine Sache möchte ich dann doch noch ansprechen“, meinte Alice und sicherte sich somit wieder die Aufmerksamkeit der beiden Seelensammler. „Von nun an bitte keine Geheimnisse und keine Lügen mehr. Jetzt liegen alle Karten offen auf dem Tisch und ich wäre froh, wenn das auch so bleibt.“ Carina zögerte. Keine Geheimnisse mehr? Innerlich seufzte sie. Es gab keinen Grund, keinen einzigen Grund, ihren beiden Freunden zu misstrauen. Von der ersten Sekunde an waren sie für sie da gewesen und sogar jetzt unterstützten sie sie tatkräftig, brachen gefühlte eintausend Gesetze um ihr zu helfen. Dennoch hatte Carina in den kompletten drei Jahren, die sie Grell und Alice nun schon kannte, nicht einmal darüber nachgedacht ihnen die ganze Wahrheit zu sagen. Aber…warum eigentlich nicht? Sie hatte keine Zweifel. Keinen einzigen Zweifel. Sie vertraute den Beiden. Und vielleicht wurde es Zeit ihnen das auch zu beweisen. Die 18-Jährige räusperte sich und war sogleich diejenige, die nun wieder die Aufmerksamkeit inne hatte. Mit einem ersten Gesichtsausdruck schaute sie Grell und Alice an. „Wenn das so ist, dann gibt es da noch etwas über mich, was ihr wissen solltet…“ Kapitel 52: Neuigkeiten ----------------------- Leises Stöhnen erfüllte das Schlafzimmer, blieb jedoch außerhalb des Raumes ungehört. Seine Lippen pressten sich fest auf die ihren, während seine Nägel sanfte Kreise auf ihren nackten Schultern zogen. Sie keuchte in den Kuss hinein und vergrub ihre Finger in seinem langen, silbernen Haar. Er grinste, biss ihr sachte in die Lippe und strich anschließend entschuldigend mit seiner Zunge über die gerötete Stelle. „Cedric“, murmelte sie, Erregung wallte durch jede Faser ihres Körpers und machte es ihr schwer sich richtig zu konzentrieren. Automatisch öffnete sie die Beine, eine klare Aufforderung an den Mann über ihr. Dieser ließ sich alle Zeit der Welt und ließ seinen Blick lieber noch einmal über den nackten Körper der jungen Frau gleiten. Es gefiel ihm mehr als alles andere, wie bereitwillig sie da unter ihm lag… Carina keuchte ein weiteres Mal, als sie seinen brennenden Blick spürte. Es fühlte sich jedes Mal so an, als würde er sie mit diesen Augen durchbohren. Mittlerweile war die Lust in ihrem Unterleib so unerträglich dringend, dass sie schmerzte. Unruhig grub sie ihre Zehen in das Bettlaken. Das Grinsen des Undertakers wurde noch eine Spur breiter. Ihm kam da plötzlich eine blendende Idee. „Halt still“, flüsterte er ihr entgegen, doch es war mehr als deutlich, dass es sich dabei um keine Bitte handelte. Im nächsten Moment rutschte er ein Stück nach unten und ergriff ihre Beine knapp über den Knien. Die Augen der 18-Jährigen weiteten sich als sie erkannte, was der Silberhaarige im Begriff war zu tun. Doch alles, was sie noch hervorbrachte, war ein langgezogenes Stöhnen, als der Bestatter seinen Kopf zwischen ihren Schenkeln vergrub und seine Zunge- Ein lautes Piepsen rüttelte die Seelensammlerin unsanft aus ihrem Schlaf. Verdattert und schwer atmend schaute sie auf ihren Wecker, der immer wieder laut piepte und von Sekunde zu Sekunde schneller und lauter wurde. Mehr als nur genervt haute sie auf den Knopf am oberen Ende und das störende Geräusch verstummte abrupt. Stöhnend ließ sie sich zurück in ihre Kissen sinken. „Das kann doch einfach nicht wahr sein“, murmelte sie, denn das lustvolle Ziehen in ihrem Unterleib konnte sie kaum ignorieren. Was zum Teufel war nur los mit ihr? Das war jetzt schon das dritte Mal in dieser Woche, dass sie solch einen verfluchten Sextraum gehabt hatte. Das dritte Mal, dass sie verdrossen und mit feuchter Unterwäsche aufwachte. Und daran war nur ihre Schwangerschaft Schuld. Ihre Hormone spielten seitdem komplett verrückt. Gut, die Morgenübelkeit hatte sich immer noch nicht eingestellt, worüber Carina mehr als froh war. Aber diese Träume waren einfach nur peinlich. Sie kam sich schon fast ein wenig notgeil vor. Röte überzog ihre Wangen, als das Pochen zwischen ihren Schenkeln nicht abbrach. Kurz dachte sie darüber nach wie die vorherigen beiden Male einfach der Lust nachzugeben und selbst Hand anzulegen. Doch gerade war sie wahrlich nicht in Stimmung, vielmehr war sie frustriert. Sollte das jetzt etwa die nächsten 6 Monate so weiter gehen? Mit einem leichten Schmollmund hob sie den Kopf und starrte ihren Bauch an. „Du schaffst es ohne ein einziges Wort mich in den Wahnsinn zu treiben. Scheinst nach deinem Vater zu kommen.“ Ihr Bauch antwortete natürlich nicht, dennoch war es für Carina mittlerweile irgendwie normal geworden, dass sie ab und an mit ihrem Ungeborenen sprach. Auf seltsame Art und Weise fühlte sie sich dem Baby so viel näher. Seufzend stand die mittlerweile 19-Jährige vom Bett auf und ging ins Badezimmer. „Es ist schon irgendwie komisch. Eigentlich wäre ich jetzt 19, aber mein Körper verändert sich ja nicht mehr. Bin ich jetzt also 18 oder 19? Ich muss Grell mal darauf ansprechen“, grübelte die Schnitterin, während sie sich auszog und unter die Dusche stellte. Das war auch eine der Erfindungen, die sie vermissen würde. In der jetzigen Zeit gab es noch keine Duschen, was Carina von Anfang an gestört hatte. Bei den Shinigami lebte es sich dann doch um einiges angenehmer. Aber daran würde sie sich wohl oder übel gewöhnen müssen. Mittlerweile war sie in der 11. Woche. In gut einer Woche würde sie diese Welt verlassen und immer noch hatten weder sie, noch Grell und Alice etwas über den Aufenthaltsort von Cedric herausgefunden. Es war zum verrückt werden. „Aber was hab ich denn bitteschön erwartet? Dieser Idiot läuft bereits seit ziemlich langer Zeit vor dem Dispatch davon und das mehr als nur erfolgreich. Wie soll ich ihn also in der kurzen Zeit ausfindig machen? Verflucht…“ Anscheinend musste sie wirklich erstmal von hier weg und ihren beiden Freunden die Suche überlassen. Der Gedanke gefiel ihr allerdings ganz und gar nicht… Eine halbe Stunde später schloss die Blondine ihre Wohnungstür ab und machte sich auf den Weg zum Institut. Sie musste noch zwei Berichte einreichen und würde gleichzeitig Alice abholen, deren Schicht um 22 Uhr endete. Sie und Grell hatten die Nachricht, dass Carina gar nicht aus dieser Zeit, sondern aus dem Jahr 2015 stammte, relativ gefasst aufgenommen. Gut, Grell hatte zwischendurch einen leichten Schreikrampf bekommen und Alice wollte es ihr zuerst partout nicht glauben, aber schließlich blieb den Beiden wohl keine andere Wahl, als die Wahrheit zu akzeptieren. „Okay, jetzt kann ich offiziell verkünden, dass es nichts mehr gibt, was ich nicht glauben würde“, hatte Alice ihr am Ende des Gespräches mitgeteilt. Carina hatte daraufhin nur gegrinst und erwidert: „Sag das mal nicht zu früh, Alice. Die Zukunft hält noch so einige interessante Dinge bereit.“ Und als Grell sich endlich von seinem Anfall erholt hatte, hatte er etwas gesagt, was selbst Carina zu der Zeit noch gar nicht gewusst hatte. „Das erklärt jetzt wenigstens, warum du damals nicht auf der Liste der Neuzugänge gestanden hast.“ Die Blondine hatte geblinzelt. „Was? Ich hab nicht auf der Liste gestanden? Und so etwas Wichtiges hast du keinem gesagt?“ „Ich dachte damals, es wäre ein Fehler der Verwaltung. Und du weißt ja, wie William ist. Der hätte sich doch nur mächtig darüber aufgeregt und ich hätte es ausbaden dürfen.“ Die Tatsache, dass ihr Name nicht auf der Liste gestanden hatte, war logisch. Theoretisch gesehen existierte sie in diesem Zeitalter noch nicht, sie war noch nicht einmal geboren worden. Da konnte es kaum ein Todesdatum im Archiv über sie geben, geschweige denn einen Eintrag. Allerdings erinnerte sie diese Tatsache auch daran, dass der Bestatter zu ihr gesagt hatte, dass ihre Leiche niemals aufgetaucht war, weder in der Öffentlichkeit, noch in der Unterwelt. Waren ihre menschlichen Überreste also tatsächlich ins 21. Jahrhundert zurückgekehrt? Seufzend schüttelte Carina den Kopf. Es machte jetzt ohnehin keinen Sinn mehr sich darüber noch den Kopf zu zerbrechen. Mit entspannten Schritten ging die Schnitterin in Richtung Park, der auf dem direkten Weg lag. Carina fand diese Strecke immer äußerst angenehm. Hier gab es Bäume, Blumen, Sträucher und sogar einen kleinen Brunnen aus weißem Marmor, um den ein paar hölzerne Bänke standen. In ihrer Freizeit setzte sie sich öfters hierhin, um sich eine Pause von all den lästigen Gedanken in ihrem Kopf zu gönnen. Einige der anderen Shinigami schienen das genauso zu sehen, denn es herrschte immer viel Trubel auf diesem Platz. Jetzt war die Grünfläche jedoch leer, die Nacht war bereits hereingebrochen. Eine der wenigen Straßenlaternen im Park flackerte leicht, als Carina daran vorbeiging und erhellte die Straße nur notdürftig. Mit einem Mal kam es der jungen Frau seltsam ruhig vor. Fast schon eine Spur zu ruhig. Kennt ihr das Gefühl, wenn man nachts eine dunkle Straße entlang ging und sich urplötzlich, ohne jeglichen Grund, nicht mehr allein fühlte? Oder sich sogar einbildete Schritte hinter sich zu hören? Genauso fühlte sich Carina jetzt. Ihr Herz pochte plötzlich schneller. Sie fühlte sich aus heiterem Himmel beobachtet. Paranoid wie sie war drehte sie sich leicht um, konnte jedoch weit und breit niemanden entdecken. Die Blondine schluckte, ihr Hals war mittlerweile staubtrocken. Versucht ruhig drehte sie ihren Kopf wieder zurück und ging – nun mit schnelleren Schritten – weiter in Richtung Institut. „Bleib ruhig. Du bist doch keine 15 mehr. Du hast keine Angst vor der Dunkelheit.“ Doch das seltsame Gefühl in ihrem Inneren wollte nicht abbrechen. Es wurde vielmehr schlimmer. Inzwischen joggte Carina mehr, als das sie ging. Als sie dann schließlich 5 lange Minuten später endlich am Eingang des Instituts ankam, war sie vollkommen außer Atem und noch dazu verschwitzt. Die Dusche hätte sie sich sparen können. Normalerweise brauchte sie für diese Strecke doppelt so lang, wenn sie in einem normalen Tempo ging! Schwer atmend starrte sie vom hell erleuchteten Eingang in die Nacht hinein. Immer noch herrschte vollkommene Stille und niemand war zu sehen. „Hab ich mir das nur eingebildet?“, murmelte sie, konnte es aber nicht wirklich glauben. Nein, so etwas bildete sie sich doch nicht ein. Und sie war auch nicht paranoid, obwohl das nach allem, was sie in ihrem Leben schon durchgemacht hatte, nun wahrlich kein Wunder wäre. Ihr kam der Shinigami in den Sinn, der sie vor wenigen Monaten beinahe umgebracht hatte. Konnte es sein, dass er dahinter steckte? Dass er sie beobachtete, jetzt in diesem Moment? Der Gedanke bescherte Carina eine Gänsehaut, Angst kroch in ihre Glieder. Ihr kamen Cedrics Worte in den Sinn. „Wen verdammt? Wen habe ich so verärgert, dass er oder sie mich attackiert und verfolgt?“ „Carina?“ Angesprochene stieß einen spitzen Schrei aus und wirbelte angriffsbereit herum. Alice stolperte erschrocken zurück und hielt abwehrend beide Hände nach oben. „Gott, Alice! Willst du, dass ich einen Herzinfarkt bekomme?“ „Ich könnte das Gleiche sagen“, verteidigte sich die Schwarzhaarige empört. „Was bist du denn plötzlich so schreckhaft? Ist irgendwas passiert?“ Carina zog ihre besten Freundin eilig an der Schulter ins Gebäude und flüsterte schließlich: „Ich glaube, ich werde verfolgt.“ Noch während sie es sagte, kam sie sich wie eines dieser dämlichen Opfer in den Crime Serien vor, die sich ihre Mutter abends immer so gerne angeschaut hatte. Alice hob eine Augenbraue. „Du glaubst?“, fragte sie skeptisch und sah dabei zu, wie die Blondine ihre Berichte in das passende Postkörbchen legte. „Ja. Und ja, ich weiß wie dämlich sich das anhört. Aber dann kam mir der Gedanke…was, wenn das dieser Shinigami war, der mich so zugerichtet hat?“ Die Miene der Rezeptionistin wurde schlagartig ernst. „Du musst aufpassen, Carina“, flüsterte sie leise. „Du kannst nicht mehr so einfach sterben, das mag stimmen. Aber dein Kind kann es.“ „Ich weiß. Deswegen mache ich mir ja solche Sorgen“, erwiderte die Blondine und strich sich kurz einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. Mittlerweile reichten ihr die Haare bis zur Mitte ihres Rückens. „Bald bist du nicht mehr hier. Da wird der- oder diejenige es zumindest nicht mehr ganz so einfach haben, dir hinterher zu schnüffeln.“ „Ich hoffe es.“ Carina seufzte. „Und? Gibt es etwas Neues?“ Diese Frage stellte sie mittlerweile immer, wenn sie ihre beiden Freunde sah. Und jedes Mal hatte sie die gleiche Antwort erhalten. Doch dieses Mal kam es anders. „Ja“, sagte Alice und grinste sogleich, als der Kopf der Schnitterin zu ihr herumflog. „Bitte?“, fragte sie, sicher sich verhört zu haben. „Sie haben ihn entdeckt?“ Die Schwarzhaarige schüttelte den Kopf. „Nein, haben sie nicht. Aber unsere Kollegen aus Deutschland haben berichtet, dass vor einigen Tagen ein paar Leichen einen ziemlichen Aufstand verursacht haben.“ Sie schaute Carina über ihre Brille hinweg an. „Umherwandelnde Leichen, Carina.“ Angesprochene wusste nicht so recht, was sie empfinden sollte. Erleichterung? Wut über die verdammten Dolls? Auf jeden Fall empfand sie keine Freude. Eher Nervosität. „Deutschland also“, murmelte sie und eine Falte bildete sich in ihrer Stirn. „Warum denn ausgerechnet Deutschland?“ Alice musste plötzlich unverschämt breit und verschmitzt lächeln. „Vielleicht will er die Deutschkenntnisse, die du ihm beigebracht hast, ausbauen?“ Carina wurde rot. Super, so etwas passierte also, wenn man seiner besten Freundin Dinge im Vertrauen erzählte… Hatte er es vielleicht damals schon gewusst? Hatte er sie etwa deswegen gefragt, ob sie ihm die Grundkenntnisse beibringen konnte? Irgendwie störte Carina dieser Gedanke. Sie hatte gedacht, er würde sich für die deutsche Sprache interessieren, weil das nun einmal etwas war, was unmittelbar mit ihr verbunden war. „Du scheinst nicht sonderlich begeistert zu sein“, stellte Alice mit einer Spur Besorgnis in der Stimme fest und schnappte sich ihre schwarze Jacke vom Kleiderständer. Die Schnitterin zuckte mit den Schultern. „Ich weiß immer noch nicht, wie ich es ihm sagen soll“, gestand sie beunruhigt und verließ zusammen mit ihrer Freundin das Gebäude. Schon gefühlte tausend Mal hatte sie versucht mögliche Situationen in ihrem Kopf abzuspielen, doch bisher war nichts Vernünftiges dabei herausgekommen. Wie sollte sie ihm solch eine große Sache auch einfach sagen? Lediglich seine Reaktion wurde von Mal zu Mal ausgefallener. Von Fassungslosigkeit über Unverständnis bis hin zur Wut war bisher alles dabei gewesen. Nur Freude nicht. Carina konnte sich einfach nicht vorstellen, dass er sich über ihre Schwangerschaft freuen würde. Er liebte sie nun einmal nicht, hatte ja bis zum Schluss anscheinend nicht mal begriffen, dass sie ihn liebte. „In der Hinsicht ist er genauso dämlich wie jeder andere Mann. Da nützt ihm auch seine jahrhunderte lange Lebenserfahrung nichts. Wenn es um Gefühle geht, ist er genauso schlau wie ein Stück Toast!“ „Das wird schon“, Alice tätschelte ihr die Schulter. „Wenn der Zeitpunkt da ist, wirst du schon die passenden Worte finden.“ „Da bin ich ja mal schwer gespannt“, erwiderte Carina sarkastisch und die beiden Frauen bogen in die Straße ein, in der Alice wohnte. „Grell sagte, er wird später nachkommen. Wollte anscheinend noch versuchen William etwas aus den Rippen zu leiern.“ „Hoffentlich. Deutschland ist groß, ich bräuchte schon genauere Informationen“, antwortete die 19-Jährige und schaute Alice dabei zu, wie sie ihre Wohnungstür aufschloss. Wortlos ließ die Blondine sich kurze Zeit später auf die Couch fallen, während Alice in ihrem Sessel Platz nahm. „Jedenfalls hast du es mit Deutschland doch ganz gut getroffen. Da kannst du immerhin jedes Wort verstehen. Stell dir mal vor, er wäre jetzt in Spanien oder sonst irgendwo.“ „Schon richtig. In anderen Ländern hätte ich mich auf meine Englischkenntnisse verlassen müssen und die ganze Sache hätte sich dadurch bestimmt in die Länge gezogen. So kann ich mich immerhin problemlos umhören. Aber mal ehrlich. Warum denn ausgerechnet Deutschland?“ Alice zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, vielleicht kennt er da irgendwen? Oder er hat da ein Plätzchen, wo er ungestört weiter forschen kann?“ „Hoffentlich nicht Letzteres“, nuschelte Carina und seufzte. Sie würde sicherlich noch früh genug dahinter kommen… „Ach übrigens, ich war heute in der Entwicklungsabteilung, um mir ein paar Unterlagen unterschreiben zu lassen, da hab ich was ziemlich Interessantes entdeckt.“ „Ach ja? Was denn?“, fragte Carina neugierig und setzte sich etwas gerader hin. Es war doch immer wieder erstaunlich wie weit die Entwicklungsabteilung der Shinigami den Menschen voraus war. „Die haben doch jetzt tatsächlich ein tragbares Telefon entwickelt. Damit kann man herumlaufen und ist trotzdem jederzeit erreichbar. Kannst du dir das vorstellen?“ Carina lachte. „Und wie ich das kann“, grinste sie. „In meiner Zeit nennt man so etwas „Mobile Phone“ bzw. in Deutschland heißt es „Handy“. Ziemlich nützlich.“ Alice zog eine Schnute. „Mensch, hätte ich beinahe vergessen. Wie langweilig. Dich kann man ja mit gar nichts überraschen.“ „Zumindest nicht in den nächsten 120 Jahren“, zwinkerte sie. „Wie dem auch sei, ich hatte noch was gut bei einem der Mitarbeiter an diesem Projekt und siehe da, ich dürfte drei Prototypen mitnehmen.“ Sie zog den angesprochenen Gegenstand hervor und Carina konnte nicht anders. Sie begann zu prusten. Das, was Alice ihr da zeigte, hatte relativ wenig mit einem Handy zu tun, wie sie es kannte. Es hatte eher die Form und die Größe eines Walkie-Talkies, war tiefschwarz und hatte so große Tasten, dass gleich zwei Finger darauf Platz finden würden. „Manchmal ist es echt interessant zu sehen, wo alles seinen Anfang nahm“, sagte sie und nahm das Gerät in die Hand. „Aber was willst du damit anstellen, Alice?“ Angesprochene verdrehte die Augen. „Was wohl? Darüber können wir miteinander kommunizieren, wenn du nicht mehr hier bist. Das Dritte ist für Grell, ich will mir ja nicht nachher anhören müssen, dass ich nicht mitgedacht hätte. Wir werden uns zwar ab und zu sehen, aber so können wir viel häufiger in Kontakt treten. Dann weiß ich wenigstens immer, ob es dir gut geht oder nicht.“ Carina lächelte, ihr wurde ganz warm in der Brust. „Was würde ich nur ohne dich machen, Alice?“, seufzte sie und die Schwarzhaarige erwiderte das Lächeln. „Von Grell in den Wahnsinn getrieben werden, was denn sonst?“ Genau in dem Moment klopfte es dreimal leise an der Tür. „Wenn man vom Teufel spricht“, stöhnte Alice und öffnete die Wohnungstür. Der rothaarige Reaper trat sogleich ein und warf Carina ein breites Grinsen entgegen, ohne überhaupt auf Alice einzugehen. „Deinem Gesichtsausdruck entnehme ich, dass du gute Neuigkeiten hast?“, fragte die Schnitterin und ihr Mentor nickte. „Exakt“, trällerte Grell ihr entgegen und setzte sich neben sie. „Ich nehme mal an, dass die Nervensäge dich auf den neuesten Stand gebracht hat?“ „Die Nervensäge haut dir gleich eine rein“, zischte Alice und verschränkte beleidigt die Arme, ehe sie sich erneut in den Sessel sinken ließ. Carina seufzte. Die Beiden würden mit diesem Theater wohl niemals aufhören… „Also? Weißt du, wo die Dolls aufgetaucht sind?“ Grell nickte erneut. „Ja. In Baden-Baden. Sagt dir das etwas?“ „Ja. Dort komme ich zwar nicht her, aber der Ort ist ziemlich bekannt.“ „Ach ja?“, fragte Alice. „Wofür?“ „Der Ort ist als Kur- und Bäderstadt ziemlich hoch angesehen“, antwortete nun Grell und seufzte. „Da würde ich ja gerne mal mit William hin…“ „Träum weiter“, sagte Alice glucksend, was der Rotschopf allerdings ignorierte. „Aber mal was ganz anderes. Warum denn ausgerechnet Deutschland?“ Carina gluckste, während Alice entnervt aufstöhnte. „Herr im Himmel, jetzt fangt ihr auch noch damit an die gleichen Sätze zu verwenden. Ehrlich mal, das macht mir Angst.“ Grell runzelte verwirrt die Stirn, woraufhin Carina ihm erzählte, was sie und Alice bereits besprochen hatten. „Die Leichen haben keinen Schaden angerichtet. Um ehrlich zu sein war es glatter Zufall. Eine Frau hat sich auf der Straße an ihrem Marktstand aus Versehen tief in die Hand geschnitten. Daraufhin hat wohl eine von diesen Bizarre Dolls die Kontrolle verloren und ist auf sie losgegangen. Man kann nur von Glück sprechen, dass zufällig ein deutscher Shinigami in der Nähe war und das Ganze stoppen konnte, bevor es zu viel Aufsehen darum gab.“ „Womöglich wollte er testen wie gut sich seine neuesten Testobjekte unter Menschen machen“, murmelte Carina und seufzte. Für diese Claudia ging er wirklich über Leichen und das im überhaupt wahrsten Sinne des Wortes. Natürlich passte ihr das alles ganz und gar nicht. Sollte der Bestatter wider Erwarten Interesse an seinem Kind haben, dann würde Carina höchstpersönlich dafür sorgen, dass er seine Machenschaften irgendwo weit weit weg durchführte. An einem Ort, wo ihr Baby davon weder etwas hören, noch etwas sehen würde. Niemals würde sie zulassen, dass etwas Gefährliches in die Nähe ihres Kindes kam. Und wenn das bedeutete, dass sie Cedric möglicherweise fernhalten musste, dann würde sie es tun. Dann lag es an ihm eine Entscheidung zu treffen. „Aber was mache ich mir überhaupt Gedanken? Er wird sich sicherlich nicht für unser Baby interessieren. Warum sollte er?“, dachte sie und schüttelte die unangenehmen Gedanken von sich ab. Darüber konnte sie auch immer noch nachdenken, wenn die Situation bevorstand. „Meine nächste Schicht beginnt morgen um 14:00 Uhr. Ich denke…“, sie holte tief Luft. „Ich denke, dass das der beste Zeitpunkt ist.“ Grell und Alice schluckten synchron, nickten dann jedoch. Immer noch fiel es ihnen schwer die Tatsache zu akzeptieren, dass ihre beste Freundin bald nicht mehr da sein würde. Aber die Entscheidung lag nicht bei ihnen. Und sie konnten Carina ansehen, dass sie sich allen Konsequenzen im Klaren war. Für dieses Kind in ihrem Bauch würde sie wahrlich alles tun. Und wenn sie sie in ihrem Entschluss unterstützen konnten, dann würden die beiden Streithähne sogar zusammenarbeiten und ihr helfen, wo sie nur konnten. „Ich hab recherchiert“, sagte Grell. „Täglich um 15:00 Uhr fährt eine Fähre nach Deutschland. Die könntest du nehmen. Die restliche Strecke kannst du mit dem Zug zurücklegen. Ich würde dir eher nicht raten allzu oft zu teleportieren. Du weißt ja, dabei wird Energie freigesetzt, die die Shinigami vor Ort aufspüren können.“ Carina nickte. „Ja, das war auch meine Idee. Und was Geld angeht, werde ich in nächster Zeit erst einmal keine Probleme haben. Sparen konnte ich schon immer gut.“ „Noch ein Vorteil ein Shinigami zu sein“, grinste Alice. „Unsere Währung passt sich immer dem Land an. Sobald du Deutschland erreichst, wird sich das Geld automatisch in die dort gültige Währung verwandeln. Da hat echt mal jemand in der Verwaltung mitgedacht.“ „Schon, aber das Problem wird nicht sein bis nach Baden-Baden zu gelangen. Sondern eher ihn dort aufzuspüren. Das ist nicht gerade eine kleine Stadt.“ „Jetzt hör aber mal“, meinte Grell plötzlich empört. „Du bist meine Schülerin und außerdem ein Shinigami. Du wirst das schon schaffen, da bin ich sicher. Hab mal ein wenig mehr Selbstvertrauen in dich selbst, Carina.“ „Wenn das nur so einfach wäre“, seufzte Angesprochene. Dennoch, die Worte des Rothaarigen machten ihr neuen Mut. Er hatte Recht, irgendwie würde sie ihn schon finden. „Und wie bereits gesagt, wenn etwas ist, dann kontaktier uns“, sagte Alice und wedelte mit dem schwarzen Kommunikationsgerät. „Und ihr könntet euch in der Zwischenzeit umhören, ob jemand von einem Shinigami weiß, der einen Rapier benutzt. Diese Sache bereitet mir nämlich auch Bauchschmerzen.“ Alice legte nachdenklich eine Hand ans Kinn. „Ich könnte mal schauen, ob ich etwas in den alten Registraturlisten finde. Allerdings kann das dauern und die reichen auch nicht ewig zurück. Je nachdem wie lange unser Kandidat schon ein Shinigami ist, gab es damals vielleicht noch gar keine Aufzeichnungen bzw. sie sind nicht mehr lesbar. Ich schaue mal, was sich machen lässt.“ „Und ich frag mal vorsichtig bei den Seelensammlern nach. Vielleicht weiß da einer was.“ Die 19-Jährige atmete erleichtert auf. „Gut. Wenn sich dieses Rätsel löst, dann wäre ich schon um eine ganze Ecke beruhigter.“ Ein Gähnen entwich ihr, sie rieb sich müde über die Augen. In letzter Zeit schien ihr Körper mehr Schlaf nötig zu haben als sonst. Ob das an der Schwangerschaft lag? Grell erhob sich. „Komm, ich bringe dich zu deiner Wohnung. Sicher ist sicher.“ Carina nickte – innerlich ein wenig erleichtert – und verabschiedete sich von Alice, bevor sie zusammen mit dem Schnitter die Wohnung verließ. Auf dem Weg nach Hause blieb alles ruhig, dieses Mal beschlich die Blondine auch kein seltsames Gefühl. Grell, der langsam neben ihr herging, wirkte dennoch angespannt und schien sich erst ein wenig entspannen zu können, als er und sein Schützling heil in Carinas Wohnung standen. „Danke Grell“, sagte sie und ließ sich hundemüde aufs Bett fallen. „Seit ich weiß, dass ich schwanger bin habe ich ständig Angst, dass irgendetwas passieren könnte.“ „Frag mich mal“, stöhnte Grell theatralisch und zwirbelte nebenbei eine seiner roten Haarsträhnen zwischen den Fingern. „Seit ich weiß, dass du schwanger bist hatte ich keine ruhige Minute mehr.“ Carina lachte. Gott, wie hatte sie es nur in ihrem vorherigem Leben nur ohne jemanden wie Grell ausgehalten? Sie plauderten noch eine Zeit lang über dies und das, dann verließ der Rothaarige ihre Wohnung und versprach morgen Mittag noch einmal bei ihr vorbeizuschauen. Die Nacht zog sich in die Länge. Obwohl Carina ziemlich müde war und ihre Augen vor Schwere schon ganz weh taten, schlief sie die erste Stunde lang nicht ein. Zu viele Gedanken schwirrten in ihrem Kopf umher. Da waren Zweifel und Ängste, vor denen sie sich einfach nicht verschließen konnte. Was, wenn etwas schief ging? Was, wenn sie geschnappt werden würde? Und ihre größte Angst: Was, wenn Cedric genauso reagierte, wie sie es schon die ganze Zeit befürchtete? Mit Ablehnung. Oder noch schlimmer. Mit Wut. Sanft streichelte sie ihren Unterleib. „Ich versuche, was ich kann. Versprochen“, murmelte sie und dann fielen ihr endlich die Augen zu. Kapitel 53: Die Abreise ----------------------- Der nächste Morgen kam dann doch schneller, als Carina vermutet hatte. Um 09:00 Uhr stand sie auf, stellte sich unter die Dusche und wusch sich ausgiebig. Anschließend gönnte sie sich zwei Brötchen und eine Tasse Kakao. Nach all den Jahren mochte sie immer noch nicht den herben Geschmack von Kaffee. Es konnten 90 % Milch und nur 10 % Kaffee in der Tasse sein, trotzdem mochte sie das Heißgetränk nicht. Was das anging, passte sie wirklich nicht in das Bild einer Deutschen. Dann ging sie gedanklich noch einmal nach und nach alle Sachen durch, die sie mitnehmen würde. Das Kommunikationsgerät, Wechselkleidung, ihre Death Scythe, die gesamten Ersparnisse der letzten Jahre. Dazu noch einige Erinnerungsfotos, die jeweils Grell und Alice mit ihr zusammen zeigten. Das alles packte sie in eine schwarze, kleine Tasche, die sie holen würde, sobald sie ihre Mission im Institut entgegen genommen hatte. Schlussendlich landete ihr Blick auf den goldenen Medaillons des Undertakers. Natürlich hatte Carina inzwischen mehr als genug Zeit gehabt, um sich die einzelnen Memorial lockets genauer anzusehen. Es waren sieben an der Zahl und auf jedem einzelnen stand ein Name plus das dazugehörige Sterbedatum. Einige von ihnen waren bereits sehr alt. So alt, dass normale Menschen bestimmt davon ausgegangen waren, dass sie Erbstücke waren. Undertaker hätte sie als normaler Mensch unmöglich gekannt haben können. Aber Carina wusste es besser. Das hier waren Namen von Männern und Frauen, die ihm irgendwann in seiner Vergangenheit einmal nahe gestanden hatten, auf die eine oder andere Weise. Und natürlich hing der wichtigste Name genau in der Mitte. Das Medaillon von Claudia P. sah von außen aus genauso aus, wie die anderen Anhänger. Doch Carina konnte die besondere Feinarbeit erkennen, die der Totengräber hier wieder einmal unter Beweis gestellt hatte. Die schwungvolle Eingravierung des Namens und des Sterbedatums. Die Locke rabenschwarzen Haares, die kunstfertig in eine perfekte 8 gelegt worden war. Waagerecht also das Symbol für Unendlichkeit. Und Carina wusste, was in diesem Zusammenhang bedeutete. „Unendliche Liebe. Für immer vereint…“ Wenn Cedric es tatsächlich schaffen würde sie zurückzuholen, dann wären sie das vermutlich tatsächlich. Die Blondine fluchte innerlich. Wäre das hier ein scheiß Liebesfilm, dann wäre es vielleicht romantisch und die Frauen würden tonnenweise vor dem Fernseher anfangen in ihre Taschentücher zu schluchzen, während alle männlichen Personen im Raum genervt mit dem Kopf schüttelten. Aber das war es nicht. Wenn das hier ein Film wäre, würde das Genre Drama viel besser passen. Ein Seufzen glitt über ihre Lippen und sie packte die Kette tief nach unten in die Tasche. Momentan wollte sie sich mit diesen Gedanken wirklich nicht befassen. Zurzeit gab es wichtigere Dinge. „So. Ich glaube das war’s dann“, murmelte sie sich selbst zu und zog den Reißverschluss glatt zu. Kurz bevor die Standuhr in ihrem Schlafzimmer 12:00 Uhr schlug, stand Grell vor ihrer Tür. Er wirkte aufgeregt und mindestens genauso nervös wie sie selbst. Seltsamerweise sorgte seine offensichtliche Panik dafür, dass sie selbst etwas ruhiger wurde. „Lass mich raten. Du hast auch nicht sonderlich gut geschlafen?“, fragte sie ihn, woraufhin er lediglich schnaubte. „Was dachtest du denn? Du stürzt dich in ein gefährliches Abenteuer und ich schlafe durch? Also bitte…“ Jetzt war es an Carina zu schnauben. „Abenteuer würde ich das ja jetzt nicht nennen. Eher ein ziemlich dämliches Wagnis, was mich höchstwahrscheinlich den Kopf kosten wird.“ „Hach, du immer mit deiner negativen Einstellung. So kann es ja nur schief gehen. Denke positiv!“ „Würde ich ja gerne, aber die letzten Jahre haben es nie sonderlich positiv mit mir gemeint, oder etwa nicht?“ Darauf wusste selbst Grell nichts mehr zu erwidern. Carina seufzte. „Nun ja, außer in einer Sache vielleicht.“ Grell runzelte die Stirn. „In welcher?“, fragte er interessiert und nippte an seinem Kaffee, den Carina ihm beim Eintreten vor die Nase gestellt hatte. Sie lächelte. „Ich habe dich und Alice kennengelernt“, antworte sie, was zur Folge hatte, dass der Rothaarige sie anstrahlte wie eine Hundert Watt Birne. Mehrere Momente schwiegen sie, während Grell seinen Kaffee austrank und Carina ihren Gedanken nachhing. Automatisch schaute sie auf die Uhr. „Es wird Zeit. Ich sollte rüber gehen und meine Aufträge abholen“, meinte sie schließlich und dieses Mal war es ein mehr als nur unangenehmes Schweigen, das sich nun über den Raum legte. Grell schluckte, sein Gesicht plötzliche eine Spur blasser. Die drei Shinigami hatten sich dazu entschieden, dass sie sich nacheinander voneinander verabschiedeten. Falls jemand Alice und Grell zusammen mit Carina sah, kurz bevor sie von der Bildfläche verschwand, konnte das ungewollte Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Die 19-Jährige hatte gewusst, dass ihr der Abschied schwer fallen würde, aber mit dem plötzlich stechenden Schmerz in ihrer Brust hatte sie nicht gerechnet. Ohne dass sie es wollte, kullerten aus heiterem Himmel dicke Tränen über ihre Wangen. Grell starrte sie schockiert an, während die Schwangere sich sofort über die Augen wischte. „Entschuldige, das sind die Hormone“, schluchzte sie, als die Tränen nicht versiegen wollten. Doch auch der Rothaarige konnte nun nicht mehr an sich halten. Sein Make-up verlief ein wenig, als er nun ebenfalls mit bebender Unterlippe die salzigen Tropfen nicht mehr zurückhalten konnte. „Jetzt hast du’s geschafft, ich heule“, schniefte er und Carina musste trotz ihrer nassen Wangen anfangen zu lachen. Sie ging die zwei Schritte zu ihm hinüber und schloss ihren besten Freund in die Arme. „Danke, Grell. Danke für alles“, flüsterte sie und drückte ihn fester, als er die Umarmung erwiderte. „Versprich mir, dass du auf dich aufpasst. Dass du auf euch aufpasst. Sonst werde ich keine Nacht mehr ruhig schlafen können.“ „Ich verspreche es“, antwortete sie und hob den Kopf. „Ich werde dich jeden Tag anrufen, in Ordnung? Dann weißt du, wie es um uns steht und musst dir keine Gedanken machen.“ Er nickte und löste die Umarmung, wirkte aber verständlicherweise immer noch besorgt. Carina lächelte verschmitzt. „Keine Sorge, ich werde schon nicht zulassen, dass deinem Patenkind etwas passiert.“ Seine Augen weiteten sich. „W-was?“, stotterte er und schaute sie bestürzt an. „D-du willst, dass ich der Patenonkel werde? I-ich?“ Seine offensichtliche Fassungslosigkeit brachte die Blondine zum Lachen. „Natürlich du“, bejahte sie seine Frage. „Ich könnte mir keinen besseren Patenonkel für mein Baby vorstellen als dich.“ Sie lachte erneut, als sie sein Gesicht sah. „Warum weinst du denn jetzt schon wieder?“ „Weil du blöde Kuh mich mit so etwas total glücklich machst. Weil ich niemals gedacht habe, dass mich irgendjemand zum Patenonkel eines Kindes machen würde. Und weil du gehst. Ich hasse es. Manchmal hasse ich unsere Regeln und Gesetze.“ „Ich weiß“, wisperte Carina. „Ich weiß…“ „Aber lass mich raten“, sagte Grell plötzlich, „wenn ich Patenonkel werde, dann darf ich mich sicher mit der kleinen Nervensäge herumärgern, die Patentante werden wird, richtig?“ Carina grinste unschuldig. „Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen“, lautete ihre Antwort, woraufhin der Rothaarige aufstöhnte. „Ich wusste, irgendeinen Haken musste es an der Sache geben.“ „Jetzt stell dich mal nicht so an. Ich weiß genau, dass du sie mittlerweile gar nicht mehr so schrecklich findest wie zu Anfang.“ „Möglich, aber gar nicht mehr so schrecklich bedeutet noch lange nicht gut.“ Sie seufzte. „Bitte schlagt euch nicht die Köpfe ein, während ich weg bin.“ Grell nickte und schaute auf die Uhr. „Du musst jetzt los.“ „Ja“, murmelte sie schwermütig und öffnete die Wohnungstür. Die beiden Schnitter traten hinaus und sahen sich noch ein letztes Mal an. Carina lächelte. „Wir sehen uns, Grell“, sagte sie, als würden sie sich schon bald nach getaner Arbeit wieder treffen. Er erwiderte ihr Lächeln. „Ja. Bis später, Carina.“ Tief durchatmend drehte die junge Frau sich um und ging in Richtung Institut, wobei sie sich dazu zwingen musste sich nicht nach ihrem besten Freund umzudrehen. Wenn sie auch nur für eine Sekunde zurückblicken würde, dann würde das alles um das Hundertfache schwerer machen, das wusste sie. Also hielt sie ihren Blick stur geradeaus und beschleunigte ihre Schritte, das erneute Brennen in ihren Augenwinkeln ignorierend. Als sie nach nervenaufreibenden Minuten endlich am Institut angekommen war, ging sie zielgerichtet nach vorne zur Rezeption und sah in das – ihr zugeteilte – Postkörbchen. Diese Prozedur lief seit Ende ihrer Ausbildung immer gleich ab. Morgens holte sie sich hier ihre Aufträge ab, am Abend desselben Tages legte sie ihren Bericht in genau das gleiche Fach, nur um am nächsten Tag dann ihre neuen Aufträge daraus entnehmen zu können. Ein ermüdender Vorgang, wenn man es mal genau betrachtete. Die Frau, die zurzeit an der Rezeption saß, schenkte ihr ein freundliches Nicken, das Carina erwiderte. Wenn sie nur wüsste, dass es das allerletzte Mal war, dass Carina dieses Kästchen leerte… Mit betont normal großen Schritten verließ sie den weitläufigen Gebäudekomplex wieder und ging den gleichen Weg zurück, den sie gekommen war. Als sie ihre Wohnungstür mit etwas zittrigen Fingern aufschloss, erwartete sie bereits Alice. Die Schwarzhaarige saß an ihrem Esstisch und hatte lässig die Beine übereinander geschlagen, wobei nur ihr immer wieder wippender linker Fuß verritt, dass sie nervös war. Sie sah auf und stieß erleichtert die angehaltene Luft in ihrer Lunge aus. „Da bist du ja. Und, hat alles soweit geklappt?“ Carina nickte. „Mich hat außer der Rezeptionistin keiner gesehen, es lief wie am Schnürchen. Aber das ist ja auch der Teil des Plans, der noch am einfachsten war. Die schwierigen Teile kommen erst noch.“ „Stimmt auffallend“, meinte Alice und schaute auf ihre blassgoldene Armbanduhr. Ein trauriger Glanz erschien in ihren Augen. „Du musst los, sonst verpasst du noch die Fähre.“ Carina nahm die gepackte schwarze Tasche hoch, hängte sie sich über die rechte Schulter und blieb dann unschlüssig vor ihrer besten Freundin stehen. Dieser Abschied fiel ihr seltsamerweise noch schwerer als der von Grell. Es erinnerte sie daran, dass sie schon mal eine Freundin zurückgelassen hatte und es jetzt wieder tun musste. Nur, dass es dieses Mal aus freien Stücken heraus passierte. „Ich will das hier gar nicht schwerer machen als es ist, aber ich möchte dich noch etwas fragen“, begann sie und die Schwarzhaarige hob eine Augenbraue hoch, als Zeichen dafür, dass sie zuhörte. „Ich habe Grell gerade eben schon gesagt, dass er Patenonkel wird und…also, ich würde mich freuen, wenn du der Gegenpart dazu wärst“, endete sie, seltsamerweise ein wenig peinlich berührt. „Patentante? Ich?“, verblüfft schaute Alice ihre Freundin an. Man konnte ihr ansehen, dass sie damit nicht gerechnet hatte. „Bist du dir auch ganz sicher, Carina? Ich meine…das ist eine verantwortungsvolle Aufgabe.“ Angesprochene lächelte. „Ich bin mir sicher. Wenn mir irgendwann etwas zustoßen sollte und…und Cedric das Kind nicht will“, sie nahm einen tiefen Atemzug, „dann könnte ich mir keine zwei besseren Menschen vorstellen, die sich statt meiner um es kümmern. Ich vertraue euch, voll und ganz.“ Alice grinste. „Du meinst Shinigami“, sagte sie, nickte dann aber gleich im Anschluss. „Es würde mich freuen die Patentante von deinem Baby zu werden.“ Carina strahlte sie an, Erleichterung zeichnete sich in ihrem Gesicht ab. „Aber lass mich raten. Grell hat geheult, oder?“ „Natürlich hat er. Ich aber auch und wenn wir uns jetzt nicht verabschieden, dann fange ich wieder an.“ Die beiden Frauen schlossen die Arme umeinander und ließen sich nicht sofort wieder los. „Danke, Alice. Danke für alles“, wiederholte die 19-Jährige die Worte, die sie zuvor bereits an Grell gerichtet hatte. Alice schob sie ein wenig von sich weg, die Augen verdächtig glitzernd. „Ich hab das alles gern gemacht, Carina. Du bist meine beste Freundin und dafür sollte ich dir danken. Danke, dass du mich aus dieser Langeweile herausgeholt hast. Wahrscheinlich wäre ich schon längst wahnsinnig geworden ohne dich.“ „Kann ich nur zurückgeben“, erwiderte die Schnitterin und drückte die Schultern ihrer Freundin noch einmal fest. „Ich melde mich bei dir, versprochen. Es wird schon alles gut gehen.“ Alice nickte und ging vor zur Wohnungstür. „Bis dann, Carina“, sagte sie so optimistisch wie es ihr möglich war und zwinkerte ihr einmal kurz zu. „Ja. Bis dann, Alice.“ Die schwarzhaarige Shinigami trat über die Schwelle und somit auch aus Carinas Blickfeld hinaus. Mehrere Sekunden lang blieb sie selbst noch in ihrer Wohnung stehen, prägte sich das Bild ein und versuchte innerlich loszulassen. Das hier war das letzte Mal, dass sie an diesem Ort sein würde. An diesem Ort, der seit dem Ende ihrer Ausbildung ihr Zuhause gewesen war. Sie konnte sich noch genau daran erinnern, wie Grell damals zusammen mit ihr die Wand im Schlafzimmer rot angestrichen hatte. Nur, um anschließend über den Eimer mit der restlichen roten Farbe zu stolpern, sodass sie danach noch einen neuen Teppich kaufen gehen mussten. Oder, als Alice und Grell ihr beim Möbelstellen geholfen hatten und die beiden Streithähne sich natürlich darüber gezankt hatten, wo nun welches Möbelstück stand und wo nicht. Auch, wenn das Leben als Shinigami hier nicht das Beste gewesen war, sie würde diese Wohnung doch irgendwie vermissen. Mit einem nervösen Flattern in der Brust ging sie auf die Wohnungstür zu, schloss sie hinter sich und atmete noch einmal tief durch. „Auf geht’s“, murmelte sie und schloss die Augen, um bereits im nächsten Moment auf den Straßen Londons zu stehen. Es war ein warmer Sommertag und die Sonne strahlte unablässig vom Himmel herab, ohne dass auch nur die geringste Wolke sie daran hinderte. Carina blinzelte, musste sich zuerst an das grelle Licht gewöhnen. Sie war relativ nahe am Hafen ausgekommen, konnte von weitem sogar schon ihre Fähre sehen. Einige Leute tummelten sich bereits am Steg und so mischte sich die 19-Jährige unbemerkt unter die Menschentraube. Es dauerte wenige Minuten, dann konnte sie sich problemlos ein Ticket kaufen und sich anschließend unter einem falschen Namen auf die Passagierliste eintragen lassen. „Bitte hier entlang, Miss“, führte sie kurze Zeit später ein Schiffsjunge, vermutlich 15 oder 16 Jahre alt, durch die Flure des ersten Unterdecks. Er hatte ihr ganz gentlemanlike die Tasche abgenommen und führte sie nun zu ihrer kleinen Kabine, die für so eine kurze Überfahrt allerdings vollkommen ausreichte. „Kann sich sonst noch etwas für sie tun, Miss?“, fragte er höflich und schaute Carina freundlich lächelnd in die Augen, die nun wieder marineblau waren. „Nein, das wär’s soweit. Vielen Dank.“ Er nickte kurz und verschwand dann wieder in Richtung Deck. Ein schweres Seufzen entfuhr Carina, als sie aufs Bett sank. Bis jetzt lief alles genau nach Plan und so langsam fiel auch ein großer Teil der ersten Anspannung von ihr ab. Dennoch, so richtig aufatmen würde sie erst, wenn sie endlich wieder in Deutschland war. „Kaum zu fassen. Ich kehre tatsächlich zurück, nach so langer Zeit. Und trotzdem komme ich nicht nach Hause. Nicht wirklich jedenfalls.“ Selbst, wenn sie statt Baden-Baden ihren Heimatort aufsuchen würde, dort würde nichts auf sie warten. Ihr Zuhause in Deutschland lag nach wie vor im 21. Jahrhundert. Die Blondine wusste nicht einmal, wo ihre Vorfahren zur jetzigen Zeit lebten, denn mit ihrem Stammbaum hatte sie sich nie wirklich genauer beschäftigt. Aber es interessierte sie auch nicht. Wenn sie jemanden aus ihrer Familie sehen wollte, dann waren es ihre Eltern. „Dann könnte ich mich bei ihnen entschuldigen. Ihnen sagen, dass ich sie liebe. Wieder mit ihnen sprechen.“ Seit sie schwanger war, dachte sie wieder vermehrt über ihre eigene Familie nach. Sie würde ihrem Kind niemals Großeltern bieten können. Noch eine Tatsache, die sie mehr als alles andere bedauerte. Sicherlich hätten ihre Eltern ihr Baby von vorne bis hinten verhätschelt. Das Schwanken der Fähre riss Carina aus ihren Gedanken. Scheinbar hatten sie sich soeben in Bewegung gesetzt. Neugierung begab sie sich ein weiteres Mal an Deck und tatsächlich, das kleine Passagierschiff verließ nach und nach den Hafen Londons. Sie hoffte, dass diese Schiffsfahrt besser wurde als die Letzte, denn ansonsten wäre das auf jeden Fall ihre letzte Seereise. Mehrere Minuten lang blieb die Seelensammlerin lediglich genau dort stehen, wo sie war und beobachtete, wie die Hauptstadt Englands immer kleiner und kleiner wurde. Irgendwie würde sie auch London vermissen, da war sie sich sicher. Ihre Hand wanderte sanft über ihren Bauch. „Jetzt heißt es nur noch du und ich“, flüsterte sie und versuchte nicht an Alice und Grell zu denken, die in der Shinigami Welt nun mit ziemlicher Sicherheit auf glühenden Kohlen saßen und auf eine Rückmeldung von ihr warteten. Plötzlich ergriff sie tief in ihrer Magengegend eine Welle der Übelkeit. Die Blondine schaffte es gerade noch an die Reling zu stürzen und sich im nächsten Moment keuchend darüber zu lehnen, als sie ihr Frühstück spuckend wieder von sich gab. „Das ist nicht dein Ernst“, ächzte sie und verblieb mit hängendem Kopf über dem Geländer, nicht einmal sicher mit wem sie hier überhaupt genau sprach. 11 Wochen hatte sie nicht ein einziges Mal Morgenübelkeit gehabt und kaum hatte sie ihr sicheres Heim verlassen, da ging es los? Das war doch ein schlechter Witz! Sie stöhnte, als sie das Brennen in ihrer Kehle spürte, das von der Magensäure verursacht wurde. „Wenn das dabei bleibt, dann wird das hier eine sehr unangenehme Überfahrt…“ Schlussendlich wurde es dann doch gar nicht so schlimm. Zwar ergriff sie noch das ein oder andere Mal der Brechreiz – dem sie dann auch immer beinahe sofort nachgeben musste – aber es hielt sich in Grenzen. Die Fahrt verlief ruhig und ohne Komplikationen, sodass die junge Frau bereits nach etwas mehr als 30 Stunden deutschen Boden betreten konnte. Hamburg war bereits jetzt – im Jahre 1889 – mehr als imposant und verströmte den typischen Großstadtflair. Den Hafen konnte man keinesfalls mit dem Londons vergleichen. Dieser hier war mindestens doppelt so groß, Schiffe liefen an allen Ecken und Enden aus oder kamen wieder zurück. Die Luft roch leicht salzig und Carina konnte einige Fischhändler sehen, die sich am Rande niedergelassen hatten und ihre Ware anpriesen. Bedauerlich, dass sie im 21. Jahrhundert nie selbst in Hamburg gewesen war. Sicherlich hatte diese Hansestadt in etwas mehr als 120 Jahren noch einiges mehr zu bieten. Doch sie war nicht hier, um eine Besichtigungstour zu machen, geschweige denn Urlaub. Sie musste sich auf wichtigere Dinge konzentrieren. Zum Beispiel ihren Zug zu bekommen. Keine halbe Stunde später bewunderte sie die Dampflokomotive, die im Hauptbahnhof von Hamburg bereit dazu war loszufahren. „Wow“, flüsterte sie und freute sich nun doch ein wenig auf die Fahrt. Die Züge in der Neuzeit hatten sie nie sonderlich beeindruckt, aber dieser hier sah großartig aus und erinnerte sie total an den Hogwarts Express aus Harry Potter. Auch die kleinen, in sich abgeschlossenen Abteile vermittelten ihr ein Gefühl der Sicherheit. Hier waren nicht wie in 120 Jahren alle Plätze direkt nebeneinander, die Menschen standen nicht dicht aneinander gedrängt und bekamen Platzangst oder unangenehme Gerüche in die Nase. Carina teilte sich ihr Abteil mit einer älteren, klein gedrungenen Frau und einer jungen Mutter mit ihrem 2-jährigen Sohn. Schnell erfuhr sie von der 55-Jährigen, dass diese seit einem Jahr Witwe war und sich nun in Baden-Baden von dem ganzen Stress und dem Verlust ihres Mannes erholen wollte. „Und Liebes? Was führt sie nach Baden-Baden?“ Die Schnitterin zögerte kurz, ehe sie diplomatisch antwortete. „Es geht um eine Familienangelegenheit.“ Streng genommen war das nicht einmal gelogen und Carina war froh, als die ältere Dame nicht genauer nachfragte. Viel interessierter fand sie ohnehin die junge Frau mit ihrem Kind. Der kleine, schwarzhaarige Junge saß auf dem Schoß seiner Mutter und spielte mit einem kleinen Stoffteddy, der an einigen Stellen schon arg mitgenommen aussah. Er japste freudig und schüttelte sein Kuscheltier immer wieder auf und ab, während seine Mutter lächelnd dabei zusah und sanft mit ihren Bein auf und ab wippte. Carina lächelte, ihr gefiel dieses Bild. Wenn alles gut ging, dann konnte sie so etwas vielleicht auch haben. Bereits jetzt stellte sie sich vor wie es wäre, wenn sie ihr Baby endlich im Arm halten konnte. Was es werden würde und wie es aussah. Doch leider musste sie sich diesbezüglich noch einige Zeit lang gedulden. Die Zugfahrt verlief ebenso glatt wie die Überfahrt mit dem Schiff. Zwar quengelte der Junge ab und zu und die ältere Dame konnte manchmal einfach nicht ihren mehr als nur gesprächigen Mund halten, aber alles in allem war Carina erleichtert, dass sie immer noch unentdeckt geblieben war. Mitten in der Nacht schlich sie sich stets auf den Flur vor dem Abteil, um mit Alice und Grell zu sprechen. Die Beiden waren jedes Mal äußerst erleichtert ihre Stimme zu hören und berichteten ihrerseits, was in der Welt der Shinigami vor sich ging. Ihr erneutes Verschwinden hatte für einen ziemlichen Tumult unter den Todesgöttern gesorgt und vor allem William war außer sich gewesen. Alice berichtete ihr, dass Grell seine Rolle hervorragend gespielt hatte und vor allen Anwesenden ebenfalls einen Tobsuchtsanfall mit anschließendem Heulkrampf vom allerfeinsten bekommen hatte. Und wenn Alice das schon zugab, dann war Carina sich sicher, dass niemand die Maskerade durchschaut hatte. Jedenfalls suchten nun alle verfügbaren Kräfte, die nicht mit dem Einsammeln von Seelen beschäftigt waren, nach ihr. Grell sagte ihr allerdings, dass sie sich zurzeit vollkommen auf England konzentrierten und sie sich daher noch überhaupt keine Sorgen machen musste. „Bleib bitte dennoch vorsichtig. Ich würde es nicht ausschließen, dass sie die Suche nach dir in der nächsten Woche oder der darauffolgenden auch auf andere Länder ausweiten. Halte dich also so gut es geht bedeckt.“ Carina nickte, ehe ihr einfiel, dass Grell sie ja überhaupt nicht sehen konnte. „Ja, das mache ich. Morgen kommt der Zug in Baden-Baden an. Sobald ich eine Pension gefunden habe, melde ich mich wieder bei euch.“ „Gut. Sei vorsichtig.“ Die Blondine lächelte, denn ihre beiden Freunde sagten diese Worte immer am Abschluss eines jeden Gespräches. „Du auch. Bis morgen“, gab sie die entsprechende Antwort und legte mit einem leisen Piepsen der Tastatur auf. Lautlos begab sie sich wieder in ihr Abteil, wo ihre Mitreisende bereits friedlich vor sich hin schlummerten. Die Schwangere setzte sich an ihren Platz am Fenster und schaute der Landschaft draußen dabei zu, wie sie rasch vorbeizog. Morgen. Morgen schon würde sie ihr Ziel erreichen und erst dann ging der richtig schwere Part los. Sie konnte nicht leugnen, dass sie gleichzeitig nervös und auf eine seltsame Art und Weise auch aufgeregt war. Wenn alles gut ging, dann würde sie Cedric wiedersehen. Etwas, von dem sie nicht geglaubt hatte, dass es noch einmal passieren würde. Jedenfalls nicht, als sie ihn damals am Weston College zurückgelassen hatte. Noch immer konnte sie das Bild vor ihrem inneren Auge sehen, wie er mit nacktem Oberkörper friedlich schlafend im Bett lag, die Decke bis zur Hüfte hochgezogen und die Haare etwas wirr auf dem Kissen verteilt. Ja, Carina hatte wirklich gedacht, dass dies die letzte Erinnerung an ihn sein würde. Wie sehr sie sich da mal wieder getäuscht hatte. Müde schloss sie ihre Augen und ließ sich von dem sanften Ruckeln des Zuges in den Schlaf wiegen. Die nächsten Tage würden anstrengend werden, da konnte sie sich ruhig noch ein paar Stunden Frieden gönnen… „Liebes. Wachen Sie auf Liebes, der Zug fährt gerade in den Hauptbahnhof ein.“ Carina wurde abrupt aus ihren Träumen herausgerissen, die sie in der gleichen Sekunde wieder vergaß, und richtete sich ruckartig auf. Noch immer leicht verschlafen schaut sie verwirrt zu der alten Dame hinauf, die sie freundlich lächelnd anschaute. „Sie haben aber einen festen Schlaf meine Liebe, dass muss ich Ihnen lassen. Das war jetzt schon mein dritter Versuch Sie aufzuwecken, so langsam machte ich mir schon Sorgen.“ Die Blondine begann nervös zu lachen. „Ja, ich habe einen sehr festen Schlaf. Verzeihen Sie bitte.“ Gott, also hatte sie tatsächlich auch so einen schrecklich tiefen Schlaf wie Grell und der Bestatter. Schien wohl wirklich eine Shinigamisache zu sein. Schnell stand sie auf und versuchte die blonden, etwas zerzausten Haare zu einer halbwegs annehmbaren Frisur zu richten. Die Mutter und ihr kleiner Sohn hatten das Abteil bereits verlassen und auch die Witwe verabschiedete sich nun, wünschte ihr alles Gute und verschwand gleich darauf in den Flur. Carina hingegen blieb noch einige Minuten sitzen, denn sie wollte nicht mitten in das Gedränge hineinlaufen. Ihre Augen richteten sich auf den Bahngleis, der nun voller Menschen war. Mütter mit ihren Kindern, die laut jauchzend ihren Vater begrüßten. Liebespaare, die einander in die Arme fielen und sich küssten, als hätten sie sich Jahrzehnte nicht gesehen. Ein deutscher Schäferhund, der quer durch die Menge rannte und freudig sein Herrschen begrüßte. Wie schön wäre es, wenn auch jemand für sie dort stehen und auf ihre Rückkehr warten würde… Seufzend erhob die Schnitterin sich von ihrem Platz, nahm die schwarze Tasche von der oberen Ablage herunter und begab sich nun auch zu den Ausgangstüren, die ins Freie führten. Es dauerte keine zwei Stunden, da hatte sie bereits eine Pension gefunden und ein recht nett aussehendes Einzelzimmer bezogen. Die Wände waren in einem warmen Beige gestrichen, der Boden mit einem angenehm weichen, dunkelblauen Teppich belegt. Neben einem Bett befanden sich noch ein Schreibtisch samt Stuhl, ein Kleiderschrank und ein in die Wand eingelassener Safe im Zimmer. Pro Etage gab es ein Badezimmer, Essen gab es dreimal täglich im Speisesaal. Da sie die meiste Zeit sowieso außer Haus sein würde, reichte Carina das vollkommen aus. Sie ließ ihre Tasche auf das Bett fallen und erledigte nun Punkt für Punkt ihre innerlich zurechtgelegte Liste. Als erstes räumte sie ihre Sachen in die dafür vorgesehenen Schränke ein. Anschließend wusch sie sich ausgiebig im Bad, um den Dreck der doch recht langen Zugfahrt von sich abzubekommen. Schlussendlich rief sie nacheinander Alice und Grell an und versicherte ihnen, dass es ihr gut ging und sie heil in Baden-Baden angekommen war. Als auch das erledigt war, ließ die 19-Jährige sich kurz aufs Bett fallen und dachte nach. Es war nun kurz nach 12:00 Uhr mittags, sie hatte also noch genug Zeit um die Stadt ein wenig zu erkunden und sich schon mal nach ungewöhnlichen Ereignissen bzw. einem silberhaarigen Mann umzuhören. „Na gut“, meinte sie optimistischer als sie sich eigentlich bei der ganzen Sache fühlte, legte eine Hand auf ihren Bauch und sprang mit Schwung vom Bett auf. „Dann wollen wir mal deinen Papa suchen gehen.“ Kapitel 54: Eine schreckliche Vorahnung... ------------------------------------------ Natürlich kam es genau so, wie Carina befürchtet hatte. Okay, sie hatte gewusst, dass die Suche nach dem Bestatter alles andere als leicht werden würde, aber sie hatte Erfahrung im Suchen, sie würde das schon irgendwie hinkriegen. „Weit gefehlt“, ging es ihr durch den Kopf, während sie in ihrem Hotelzimmer am Schreibtisch saß und sich über eine Karte von Baden-Baden mitsamt der näheren Umgebung beugte. Überall waren rote Kreuzchen verteilt, die die Orte markierten, die sie bereits überprüft hatte. Mittlerweile war die Schnitterin schon 13 Tage hier und immer noch hatte sie keinerlei Fortschritte bei ihren Ermittlungen erzielt. Zuerst hatte sie den Marktplatz aufgesucht, wo sich der Zwischenfall mit der Bizarre Doll zugetragen hatte. Relativ schnell hatte sich dabei herausgestellt, dass die betroffene Frau nicht mehr dort arbeitete und auch nicht für Gespräche zur Verfügung stand. Carina hatte daher die Idee gehabt sich mit den anderen Standbesitzern zu unterhalten, ob sie vielleicht an diesem Tag etwas Ungewöhnliches bemerkt hatten. Diese Idee endete jedoch in einer Totalkatastrophe. Der erste Mann, den sie fragte, bekam einen Schweißausbruch vom allerfeinsten und wischte sich ständig mit seinem Taschentuch das Gesicht ab, während er immer wieder das ganze Blut am Boden erwähnte. Der zweite Mann – ein nett aussehender Verkäufer, der allerlei Sorten Gemüse aus der Region anbot – begann so sehr zu stottern, dass Carina ihn gar nicht verstehen konnte. Und die Dritte im Bunde, eine Frau Mitte 40 mit stämmiger Figur und einer langen, weißen Schürze, kam gerade einmal dazu der Seelensammlerin von den qualvollen Schreien ihrer Kollegin zu erzählen, als sie plötzlich kalkweiß im Gesicht wurde und anschließend in Ohnmacht fiel. An diesem Punkt hatte Carina dann eingesehen, dass diese Strategie wenig Sinn machte. Also hatte sie damit begonnen nach dem Totengräber selbst zu fragen. Doch niemand auf diesem Marktplatz konnte sich an einen Mann mit langen, silbernen Haaren erinnern. Sie hatte die Suche die darauffolgenden Tage hin ausgeweitet, aber es war vergebene Liebesmüh. „Was, wenn er gar nicht so aussieht wie sonst? Was, wenn er sich in eine andere Person verwandelt hat?“, ging es ihr zwischendurch mehr als nur einmal durch den Kopf, was sie aber eigentlich für ziemlich unwahrscheinlich hielt. Cedric hatte sich nie groß darum geschert, was die Menschen um ihn herum von seinem Aussehen hielten und vor den Shinigami hatte er auch niemals nur einen Funken Angst verspürt. Dennoch, die Option war nicht ganz auszuschließen. Aber das war leider ein Risiko, was sie eingehen musste. Als Nächstes war es ihr in den Sinn gekommen alle Bestattungsunternehmen nach und nach abzuklappern. Immerhin hatte der Totengräber ein Faible dafür sich als jemand anders auszugeben und was konnte er besser, als Leute zu bestatten? Sie traute es ihm glatt zu, dass er einen der hiesigen Bestatter in Urlaub geschickt hatte, um für einige Zeit seinen Platz einzunehmen. Doch auch hier war Fehlanzeige angesagt. Kein einziges der Bestattungsunternehmen war auffällig gewesen, nicht einmal die kleinste Spur deutete darauf hin, dass sich ein Shinigami dort aufgehalten hatte oder aufhielt. Ihre Frustration wuchs von Tag zu Tag, doch dann war ihr doch noch eine letzte Idee eingefallen. Carina erinnerte sich daran, dass Ciel damals immer zu dem Undertaker gegangen war, um Informationen von ihm zu erhalten. „Er war sein Informant…Eine seiner Verbindungen zur Unterwelt.“ Was, wenn er einfach dazu zurückgekehrt war? Die Seelensammlerin konzentrierte sich somit auf Gerüchte, die sich die Leute in Baden-Baden erzählten. Sie horchte die Polizei aus, beobachtete Drogendealer bei ihrer Arbeit, verfolgte unbemerkt Schmuggler, Geldfälscher und Diebe. Sogar Mörder und Brandstifter ließ sie nicht aus den Augen. Jedoch schienen hier die meisten Fälle tatsächlich eher uninteressant zu sein und schienen nicht in der Verbindung mit einem übernatürlichen Wesen zu stehen. Nach wie vor blieb der Undertaker wie vom Erdboden verschluckt. „Verflucht“, zischte sie wütend und machte ein weiteres rotes Kreuz auf der Karte. So langsam gingen ihr wirklich die Optionen aus. Hatten sie sich vielleicht getäuscht? War der Shinigami vielleicht gar nicht mehr hier in Deutschland? Aber warum sollte er seine über alles geliebten Puppen hier gelassen haben? Nein, das ergab keinen Sinn. „Was habe ich übersehen? Woran habe ich noch nicht gedacht?“ Nachdenklich tippte sie immer wieder mit der oberen Seite ihres Stiftes auf den Tisch. Auch Grell und Alice schienen keine wirkliche Ahnung zu haben, was sie jetzt noch unternehmen sollte. Die Lage in der Shinigami Welt schien sich nach wie vor nicht verändert zu haben und das war somit das Einzige, um das sich Carina momentan keine Sorgen machen musste. „Und ich hab gedacht die Suche nach meiner Death Scythe wäre schwierig gewesen. Was für ein fataler Irrtum“, dachte sie genervt und erhob sich von dem harten Stuhl, als ihr Magen anfing zu knurren. Seufzend begab sie sich in den Essbereich des Hotels und bestellte sich das heutige Mittagessen, Spätzle mit einer Pilzsauce und Salat. Deutsches Essen war tatsächlich etwas, was ihr mit am meisten in London gefehlt hatte. Zum Nachtisch gab es Schwarzwälder Kirschtorte und für einen Moment konnte Carina ihre ganzen Gedanken bezüglich der Erfolglosigkeit ihrer Suche vergessen, als die Mischung aus Sahne und Schokolade auf ihre Zunge traf. Es gab doch einfach nichts Besseres als Schokolade… „Na? Kann ich Ihnen noch etwas bringen?“, fragte 10 Minuten später die Frau des Hotelbesitzers, als sie die leeren Teller vom Tisch nahm. „Nein, sonst platze ich“, lächelte Carina und nahm einen Schluck von ihrem Wasser. „Aber das Essen war absolut himmlisch.“ „Ich gebe es gerne an unseren Koch weiter. Und wie bereits gesagt, falls Sie einmal außerhalb der Essenszeiten Hunger haben, sagen Sie einfach Bescheid. Immerhin müssen Sie ja auch noch jemand anderen mitversorgen.“ Sie zwinkerte einmal kurz und ging dann mitsamt den Tellern zurück in die Küche. Die 19-Jährige grinste leicht. Keine Frage, es war ein Schock gewesen, als die nette Frau Anfang 30 sie vorgestern gefragt hatte, ob sie bezüglich ihrer Schwangerschaft etwas bräuchte. Carina war die Wölbung ihres Unterleibs zwar schon länger aufgefallen, aber nun begannen auch die Leute um sie herum sie wahrzunehmen, wenn sie nicht ihren Mantel trug. Kein Wunder, mittlerweile befand sie sich in der 16. Woche und ihr Körper begann sich der Schwangerschaft anzupassen. Sogar die ersten Bewegungen ihres Babys hatte sie inzwischen spüren können. Es waren noch keine Tritte oder Boxhiebe, ganz im Gegenteil. Es fühlte sich mehr wie ein leichtes Anstubsen unter der Haut an, als würde jemand von innen Seifenbläschen gegen ihren Bauch pusten und zum Platzen bringen. Carina waren die Tränen in die Augen geschossen, als sie zum ersten Mal kapiert hatte, was dieses seltsame Flattern zu bedeuten hatte. Und Grell war am Telefon natürlich in Tränen ausgebrochen und hatte lautstark verkündet, dass er der beste Patenonkel werden würde, den die Welt je gesehen hatte. In solchen Momenten wünschte sich die junge Frau, sie wäre wieder in ihrer Zeit. Dort gab es bereits Ultraschall. Sie hätte sich beim Frauenarzt Bilder ausdrucken lassen können. Wüsste jetzt sicherlich schon, was für ein Geschlecht ihr Baby hatte. Oder sie hätte im Internet nachlesen können, was ihr Kind schon alles in ihrem Bauch machen konnte, wie weit es bereits entwickelt war. Ob es ihm oder ihr gut ging. In dieser Zeit konnte sie nur darauf hoffen, dass die Schwangerschaft gut verlief und alles in Ordnung war. Allerdings gab es bisher keinerlei Anzeichen, dass etwas nicht in Ordnung war und daher konnte sie ohne Probleme weiterhin Baden-Baden durchkämmen. Doch zuerst musste ihr eine neue Idee einfallen, eine neue mögliche Spur. Noch ein weiteres Mal ließ sie sich alle Dinge durch den Kopf gehen, die sie über Cedric wusste. Die Tatsache, dass er Bestatter war, hatte sie schon abgehakt. Ebenso den Fakt, dass er sich in der Unterwelt auskannte und die Bizarre Dolls hergestellt hatte. Er hatte anscheinend einiges mit der Familie Phantomhive zu tun gehabt und… Mit einem Mal stutzte sie. Ein neuer Gedanke war ihr soeben in den Sinn gekommen. Ja, er hatte scheinbar schon sehr lange die Familie Phantomhive gekannt und dem Wachhund der Königin bei seiner Arbeit geholfen. Möglicherweise hatte er bei diesen Gelegenheiten ja auch andere Aristokraten kennengelernt. Vielleicht jemanden, der von hier kam oder zumindest hier wohnte? „Entschuldigung?“, fragte sie daher die nette Frau von vorhin, als diese just in diesem Augenblick wieder an ihrem Tisch vorbeikam. „Gibt es hier in der Gegend zufällig adlige Familien, die eine Verbindung zu England haben? Wissen Sie etwas darüber?“ Die Frau wirkte verblüfft über diese Frage, schien jedoch angestrengt darüber nachzudenken. „Nun, da würde mir eigentlich nur das jetzige Oberhaupt der Familie von Weizsäcker einfallen. Ob er jetzt noch eine Verbindung zu England hat weiß ich nicht, aber in seiner Jugend hat er dort ein College besucht und auch nach seinem Abschluss noch einige Jahre in London gelebt.“ Carina bekam einen trockenen Mund. „Ein College?“, fragte sie nach und bekam eine dunkle Vorahnung, von welchem College hier die Rede war. „Ja, vielleicht habt Ihr schon einmal davon gehört? Das Weston College hat den besten Ruf in ganz England. Man sagt, dass dort die ganze zukünftige Elite ausgebildet wird.“ „Bingo“, schoss es Carina durch den Kopf. Das konnte alles sein, aber sicherlich kein Zufall. Endlich! Endlich hatte sie seine Verbindung zu Deutschland, zu Baden-Baden gefunden. „Und wo lebt dieser von Weizsäcker?“, fragte sie auch sogleich, denn jetzt wollte sie keine Zeit mehr verlieren. „Er besitzt ein riesiges, schlossähnliches Anwesen am Rande der Stadt. Wenn Sie der Hauptstraße bis ganz zum Ende folgen, müssen Sie anschließend noch ein paar Kilometer durch den angrenzenden Wald gehen. Anschließend kommt eine etwas anstrengende Anhöhe und wenn Sie diese geschafft haben, dann befindet sich am Ende das Anwesen der Familie von Weizsäcker.“ Sie zögerte kurz. „Falls Sie allerdings vorhaben dort hinzugehen, sollte ich Sie lieber vorwarnen. Die Leute stehen der Familie eher mit Vorsicht gegenüber. Es gibt da gewisse Gerüchte…“ Carina hob eine Augenbraue. „Gerüchte? Was für Gerüchte denn?“ „Nun, es wird hier und dort darüber gesprochen, dass Diederich von Weizsäcker viele Verbrechen aufklärt, die die Polizei nicht lösen konnte. Und er soll dabei nicht gerade zimperlich vorgehen.“ Ein sichtbares Zittern durchfuhr sie und automatisch senkte sie die Stimme. „Mein Bruder arbeitet bei der Polizei und erzählte mir von äußerst unschönen Leichenfunden oder Verbrechern, die ganz plötzlich verschwunden sind, sobald der Herr von Weizsäcker sein Interesse an dem Fall beurkundet hatte.“ „Verstehe“, antwortete Carina und das tat sie tatsächlich. Anscheinend handelte es sich bei Diederich von Weizsäcker um die deutsche Version von Ciel Phantomhive. Der Kaiser hielt sich also ebenfalls einen Wachhund… „Vielen Dank für die Auskunft, aber ich habe keinesfalls vor dort hinzugehen. Machen Sie sich keine Sorgen.“ Die Lüge kam ihr mühelos über die Lippen und sie lächelte der Gastwirtin noch einmal freundlich entgegen, bevor sie sich erhob und zurück zu ihrem Zimmer ging. Dort schnappte sie sich allerdings nur ihren Mantel und ihr Katana, bevor sie das Fenster lautlos öffnete und sicher auf dem Boden der darunter verlaufenden Straße landete. Im gleichen Moment machte die Seelensammlerin sich für die Menschen unsichtbar und marschierte in Richtung Stadtrand davon. Es wurde Zeit, dass sie der Familie von Weizsäcker einen unangekündigten Besuch abstattete. „Verdammt noch mal. Sie hat wirklich nicht übertrieben, als sie „anstrengende Anhöhe“ sagte“, stöhnte Carina und versuchte den aufkeimenden Schmerz in ihren Waden zu ignorieren. Schweiß stand auf ihrer Stirn, obwohl hier in Deutschland wahrlich keine Sommertemperaturen herrschten und es immerhin schon Juli war. Mit flinken Fingern knöpfte sie sich den dünnen Mantel auf, damit ein wenig Wind darunter fahren konnte. Warum zum Teufel konnte der Typ nicht einfach mitten in Baden-Baden leben? Nein, das wäre ja viel zu einfach! Anscheinend fanden Adelige es toll abgelegen zu wohnen und amüsierten sich darüber, dass Gäste und Besucher erst einmal einen langen Weg hinter sich bringen mussten, bevor sie sie mit ihrer Anwesenheit beehren konnten. Aber in diesem Fall lag der Grund wirklich auf der Hand. Wenn dieser Diederich wirklich als Wachhund des Kaisers fungierte, dann hatte er sicherlich so einiges, was er besser verbergen musste und da bot es sich logischerweise an, etwas weiter weg vom eigentlichen Treiben zu wohnen. Dennoch, wenn man hier zu Fuß hoch musste und leider Gottes keine Kutsche zur Verfügung hatte, dann war das wirklich eine einzige Unverschämtheit! „So langsam könnte ich aber mal da sein. Im Dunkeln würde ich ungern noch hier draußen rumlaufen“, schnaufte sie gedanklich und bemerkte wieder einmal, wie vorsichtig sie durch ihre Schwangerschaft geworden war. Vor ein paar Monaten wären ihr solche Nebensächlichkeiten wie Tages- und Nachtzeiten noch vollkommen egal gewesen. Tja, als Shinigami wurde man wohl doch relativ schnell übermütig, war sich seines Lebens nicht mehr so sehr bewusst wie einst als Mensch. Doch zu ihrer großen Erleichterung kamen nun tatsächlich die ersten Türme des Anwesens in Sichtweite. Carina ging noch einige Schritte und mit jedem weiteren klappte ihr der Mund ein wenig mehr auf. Schließlich blieb sie stehen und betrachtete etwas fassungslos das riesige Gebilde vor sich. „Von wegen „schlossähnlich“. Das Ding ist ein verdammtes Schloss.“ In der Tat ähnelte das Anwesen mehr einem Schloss als einer Villa. Es hatte viele kleine Türme mitsamt Zinnen, mehrere Balkone und eine ziemlich breite Eingangstür, die fast schon einem Tor ähnelte. Umschlossen wurde das Anwesen von einer groß erbauten Mauer, an dessen südlicher Seite eine lange Treppe nach oben führte. Zurechtgeschnittene Bäume und Büsche um die Mauer herum gaben dem Ganzen den letzten Schliff. Carina wollte es nicht zugeben, aber sie war schon ein wenig beeindruckt. Die von Weizsäckers mussten ja Geld ohne Ende haben. Aber das passte genau ins Bild. Sicherlich verdiente man als Wachhund alles andere als schlecht und die Phantomhives hatten immerhin auch nicht am Hungertuch genagt, ganz im Gegenteil sogar. Die Schnitterin setzte sich wieder in Bewegung, doch irgendetwas war seltsam. Je näher sie dem Grundstück kam, desto sicherer war sie sich, dass ein weiterer Shinigami in der Nähe war. Ihr Herzschlag beschleunigte sich ganz automatisch. Konnte es wirklich sein, dass Cedric hier war? Konnte sie wirklich so viel Glück haben? „Zeit, es herauszufinden“, murmelte sie, atmete innerlich noch einmal tief durch und ging dann mit lautlosen Schritten näher an die Mauer heran, um anschließend mit Leichtigkeit auf sie hinauf zu springen. Ihre Augen glitten ein weiteres Mal über das gesamte Erscheinungsbild des Anwesens. „Am einfachsten wäre es wohl, wenn ich versuche über den Balkon hineinzukommen“, dachte sie und schwang sich noch im gleichen Augenblick mithilfe ihrer Shinigamikräfte nach oben. Der Balkon war nicht sonderlich groß, diente wohl eher nur dazu, um zu rauchen oder ab und zu frische Luft zu schnappen. Schwere Vorhänge vor den Fenstern verdeckten den Großteil des dahinterliegenden Zimmers, doch als Carina näher trat bemerkte sie, dass der Stoff der beiden Hälften nicht richtig zusammengeschoben worden war. Ein schmaler Spalt tat sich in der Mitte auf, war jedoch breit genug um in das Haus hineinschauen zu können. Es schien sich um ein Arbeitszimmer zu handeln. Wie bereits das Anwesen war es prunkvoll eingerichtet. Carina erkannte einen großen Kamin, ein darüberliegendes Ölgemälde, Schränke voller Bücher, einen weich aussehenden Teppich auf dem Boden und einen breiten Schreibtisch, der wenige Meter von den Balkonfenstern entfernt stand. Hinter dem Schreibtisch auf einem gut gepolsterten Bürostuhl saß ein schwarzhaariger Mann, der ihr den Rücken zuwandte. Seine Haare waren dicht an seinen Kopf heran gegelt, ein schwarzer breiter Schnurrbart zierte sein Gesicht und dichte, dunkle Augenbrauen spannten sich unterhalb seiner Stirn. Er war äußerst kräftig gebaut, kleine Fältchen waren hier und da bereits in seinem Gesicht zu sehen. Schätzungsweise war er bestimmt Ende 30, vielleicht auch älter. Seine Pupillen wirkten seltsam klein in seinem breiten Gesicht. Carina konnte sein Profil zwar größtenteils nur von der Seite sehen, jedoch schlich sich sofort eine gehörige Portion Skepsis in ihr Gesicht. „Der sieht ja fast aus wie…Wenn er etwas dünner wäre, dann…“ Sie schüttelte den Kopf. Hatte sich die Autorin des Manga da vielleicht einen kleinen Spaß zulasten der deutschen Geschichte erlaubt? „Tja, ich schätze den Stempel bekommen wir Deutschen nie wieder los, da können wir uns anstrengen wie wir wollen.“ Dennoch, ihr Interesse war geweckt. War das hier vielleicht dieser Diederich von Weizsäcker? Momentan schien er jedenfalls über einigen Briefen zu brüten und verzog immer wieder missmutig das Gesicht, ganz so als ob er sich innerlich fragte, warum er den ganzen Mist überhaupt noch mitmachte. Carina musterte das Zimmer erneut. Er war definitiv allein. Hatte sie sich vielleicht doch geirrt und Cedric war gar nicht- Ein Klopfen an der Tür des Arbeitszimmers unterbrach ihre Gedanken und auch der Kopf des deutschen Aristokraten schoss sofort in die Höhe. „Ja?“, fragte er und die Blondine war überrascht, dass seine Stimme fest und bestimmend klang. Ein älterer Mann, ganz klar der Butler des Hauses, öffnete die Tür und verbeugte sich kurz vor seinem Herrn. „Sir, ihr angekündigter Gast ist nun eingetroffen.“ Ein schweres Seufzen entfuhr dem Schwarzhaarigen. „Und ich hatte die Hoffnung, dass er sich nur einen Scherz erlaubt hat, als er mir dieses Brief schrieb.“ Genervt strich er sich seine glatten Haare noch glatter. „Nun gut, lass ihn herein, Heinrich.“ „Sehr wohl“, antwortete der Butler, verbeugte sich ein weiteres Mal und verschwand wieder aus dem Zimmer. Wenige Sekunden später ertönten Schritte auf dem Gang. Mit wild klopfendem Herzen starrte Carina zur Tür, duckte sich jedoch gleichzeitig ein wenig mehr hinter die Vorhänge, um nicht entdeckt zu werden. Doch jegliches Herzklopfen konnte sie nicht auf den Moment vorbereiten, indem Cedric das Zimmer betrat. Er hatte sich nicht im Geringsten verändert und dennoch fühlte es sich plötzlich so viel intensiver an ihn zu sehen. Den Vater ihres Kindes. Ihre Augen fingen an zu brennen, ihr ganzer Körper wurde von einer einzigen Welle der Zuneigung überschwämmt. Automatisch legte sie sich eine Hand auf den Bauch, spürte sogleich wieder das leichte Flattern unter ihren Fingerspitzen. „Da ist er, dein Papa. Ich hab ihn gefunden. Ich habe ihn tatsächlich gefunden.“ Er trug wieder die Kleidung, die er als Bestatter getragen hatte. Der altbekannte Hut saß auf seinem Kopf und seine silbernen Haare verdeckten erneut seine Augen. Er trat dicht an den Schreibtisch heran, ein leicht spöttisches Lächeln auf den Lippen und fasste sich einmal höflichkeitshalber an den Hut. „Diederich, es ist lange her. Seit seinem Begräbnis, nicht wahr? Liegt das wirklich daran, dass der Earl nicht mehr ist, dass du nicht mehr über den Kanal kommst?“ Carina runzelte die Stirn. Begräbnis? Earl? Sprach der Totengräber möglicherweise von Ciels Vater, der vor einigen Jahren bei dem Brand der Villa Phantomhive ums Leben gekommen war? Es wäre immerhin nur allzu logisch, wenn sich der deutsche und englische Wachhund gekannt hätten. Vielleicht waren sie sogar Freunde gewesen? Schulkameraden? Das Alter könnte stimmen… „Oder“, fuhr der Silberhaarige plötzlich fort, während sein Grinsen nun eine Spur gehässiger wurde. „Bist du nur zu fett zum Reisen geworden? Gniihihihii!!“, brach der Undertaker aus heiterem Himmel vollkommen unkontrolliert in lautes Lachen aus, hielt sich den Bauch und stammelte bereits nach einigen Sekunden etwas von „Ich kann nicht mehr!“ Carina verdrehte hinter dem Vorhang die Augen, konnte sich ein leichtes Schmunzeln jedoch nicht verkneifen. Der Bestatter war nach wie vor einfach unmöglich… Logischerweise war der Deutsche alles andere als begeistert von dieser Begrüßung. „Du bist nur hier, um mir das reinzuwürgen, nicht?“, schnauzte er wütend zurück, woraufhin der Shinigami nur noch lauter lachte. „Ich erkenn dich kaum noch wieder! Gnihi!!“ Er griff nach einem Foto, das in einem runden Rahmen auf dem Kaminsims stand und hielt es Diederich vor die Nase. Vier Jungen waren darauf abgebildet, alle in der Uniform des Weston Colleges. „Menschen…Ein Wimpernschlag und schon seht ihr ganz anders aus. Schau, so sahst du mit deinem Idealgewicht mal aus.“ Carina blinzelte überrascht. Diederich von Weizsäcker war in seiner Jugend durchaus attraktiv gewesen, das konnte sie nicht leugnen. Sicherlich waren ihm die Mädchen massenweise hinterher gelaufen. Allerdings hatte er schon damals mit einem recht streng wirkenden Ausdruck in die Kamera geschaut. Neben ihm saß ein weiterer junger Mann auf einem Stuhl, bei dem es sich unverkennbar um Vincent Phantomhive handeln musste. Ciel war seinem Vater wirklich wie aus dem Gesicht geschnitten. „Sei still!!“, keifte Diederich, während das Wutkreuz auf seiner Stirn immer dicker und bedrohlicher anschwoll. Er wusste, dass das genau die Reaktion war, die sich sein Gegenüber erhoffte, doch er konnte sich nicht beherrschen. Der Aristokrat des Bösen hatte in seiner ganzen Seltsamkeit etwas an sich, was ihn ständig provozierte. Doch natürlich interessierte den Undertaker das nicht die Bohne. Ganz im Gegenteil, er setzte noch einen drauf. „Deinen Sarg solltest du rechtzeitig vor deinem Tod anfertigen lassen. Soll ich gleich mal Maß nehmen?“ „Danke, verzichte“, knurrte Angesprochener zurück und fuhr dabei fast sichtbar aus der Haut. Für einen kurzen Moment kam in Carina der Gedanke auf, dass sie bald auch alles andere sein würde, nur nicht mehr schmal. „Gott stehe ihm bei, wenn er es auch nur einmal wagt mich fett zu nennen.“ Doch ganz plötzlich durchfuhr die 19-Jährige ein seltsames Gefühl. Die Stimmung im Raum schien sich mit einem Mal irgendwie verändert zu haben. Der silberhaarige Totengräber hatte sich wieder dem Bild zugewandt und betrachtete es nun genauer; eindringlicher. „Bestimmt“, begann er und hielt sich das Foto näher vor das Gesicht, um trotz seiner Kurzsichtigkeit jegliche Kontur wahrnehmen zu können, „würde der Earl schmunzeln, wenn er uns so sehen würde.“ Diederich schien von der neuen Atmosphäre noch nichts mitbekommen zu haben, jedenfalls lehnte er sich entspannt in seinem Stuhl zurück und schloss mit einem Seufzer die Augen. „Darüber will ich gar nicht nachdenken. Unser Glück, dass er damals das Zeitli…!“, der Deutsche unterbrach sich abrupt selbst und Carina wusste warum. Er hatte ein Auge geöffnet und genau das gesehen, was auch der Schnitterin nicht entgangen war. Tränen tropften auf das Bild, leise und beinahe ungehört. Das lange, silberne Haar hatte sich geteilt und darunter war eines seiner wunderschönen Augen sichtbar geworden, ob nun gewollt oder ungewollt konnte die junge Frau nicht sagen. Eine feine Tränenspur hatte sich auf seiner Wange gebildet, kleine Tröpfchen fielen von seinem Kinn und seiner Nase. Es war eine Szene, die es einem unmöglich machte den Blick abzuwenden. Doch für Carina war es wie ein Schock. Natürlich, Shinigami konnten weinen wie jeder normale Mensch auch, aber bis zum jetzigen Zeitpunkt hatte sie seltsamerweise nicht einmal in ihren kühnsten Träumen daran gedacht, dass er weinen konnte. Er war doch immer dieser fröhliche, lachende Mann. Und selbst wenn er einmal schlecht drauf gewesen war oder sogar traurig, dann war er dennoch von Tränen weit entfernt gewesen. Nicht einmal, als er mit ihr über Claudia gesprochen hatte, war da der geringste Anflug von Tränen zu sehen gewesen. Was passierte hier gerade? Carina konnte das Leid, den Schmerz in seinen Augen sehen. Es tat ihr beinahe selbst körperlich weh, ihn so zu sehen. Am liebsten hätte sie das Fenster eingeschlagen, die Vorhänge beiseite und ihn in eine Umarmung gezogen. Ihm gesagt, dass er aufhören sollte zu weinen. Ihn getröstet. Doch natürlich konnte sie da jetzt nicht so einfach hineinplatzen. „Armes Ding“, flüsterte der Bestatter plötzlich und strich sanft mit einem seiner langen Fingernägel über das Abbild des einstigen Earl Phantomhives. „Verbrannt bis auf die Knochen… Eine Art von Tod, die nicht…“, er sprach nicht weiter, doch Carina konnte sich den Rest auch so in ihrem Kopf zusammensetzen. Eine Art von Tod, die nicht rückgängig gemacht werden konnte. Vincent Phantomhives Leiche war zu Asche verbrannt, es gab somit keinen Körper, für den der Shinigami eine Seele erschaffen konnte. Nein, der Earl würde unwiderruflich tot bleiben. Aber warum nahm ihn der Tod dieses Adeligen so mit? Warum weinte er sogar um ihn? Sicher, er hatte bestimmt mit ihm zusammengearbeitet, wie auch mit Ciel, aber das allein konnte doch nicht der Grund sein. Carina erinnerte sich plötzlich daran, was sie den Silberhaarigen damals in der Küche des Direktors gefragt hatte. „Was für eine Beziehung hast du zu der Familie Phantomhive?“ „Sag ich nicht~“ Schon damals hatte sie es interessiert, warum die Phantomhives ihn so sehr interessierten und schon damals hatte er so ein Geheimnis daraus gemacht. „Dabei ist doch wohl die einzige Person, für die er sich wirklich interessiert, diese Claudia… Aber… Moment mal!“ Eine dunkle Vorahnung traf sie so unvermittelt wie ein Schlag mit dem Hammer. Die bloße Vorstellung erfüllte sie mit Schrecken. Claudia… Claudia P… Stand dieses P. etwa für… Sie wurde jäh aus ihren Gedanken herausgerissen, als der Undertaker sich im Arbeitszimmer plötzlich zum Gehen wandte. Anscheinend hatte er noch ein paar Worte mit Diederich gewechselt, die Carina entgangen waren. Doch kurz, bevor er endgültig durch die Tür verschwinden konnte, hielt der deutsche Aristokrat ihn noch einmal zurück. „Das war alles? Deswegen bist du extra zu mir gekommen? Um ein paar blöde Sprüche loszulassen, zu heulen und anschließend unverständliches Zeug vor dich hinzumurmeln?“ Angesprochener blieb stehen, gleich darauf konnte man ein leises Kichern vernehmen. Er drehte sich wieder um, eines dieser umwerfenden, zahnlosen Lächeln auf den Lippen. „Nein. Ich bin gekommen, um mich zu verabschieden.“ Diederich runzelte die Stirn. „Verabschieden? Wieso das denn?“ „Weil ich mir sehr sicher bin, dass du schon bald wieder mit dem kleinen Earl in Kontakt kommen wirst. Und glaub mir, hehe~, dann wirst du es verstehen.“ Mit diesen Worten senkte er noch einmal leicht seinen Kopf und verschwand ohne ein weiteres Wort aus dem Arbeitszimmer. „Der wird auch von Jahr zu Jahr seltsamer“, hörte Carina Diederich noch murmeln, doch sie hatte keine Zeit sich eingehender mit ihm zu beschäftigen. Unter allen Umständen wollte sie es vermeiden, dass Cedric sie jetzt zu Gesicht bekam. Nicht, bevor sie nicht etwas ganz Entscheidendes herausgefunden hatte. Doch wenn sie den Weg nahm, den sie gekommen war, würde sie es nicht schaffen. „Dann halt anders“, dachte sie, konzentrierte sich auf ihr Hotelzimmer und dematerialisierte im nächsten Augenblick ihren Körper. Der ehemalige Schnitter blieb mitten in der Empfangshalle der von Weizsäckers stehen, als er die beinahe unmerkliche Veränderung der Energie in der unmittelbaren Umgebung wahrnahm. „Ein Shinigami?“, schoss es ihm verwundert durch den Kopf und sogleich machte sich eine gewisse Besorgnis in seinem Gesicht breit, was allerdings aufgrund seiner Haare niemand sehen konnte. Was hatte ein Shinigami an einem Ort verloren, an dem niemand gestorben war? „Es sei denn natürlich Diederich bekommt wegen seines zu hohen Blutdrucks plötzlich einen Herzinfarkt“, kicherte er in die Stille hinein und ging nun durch das große Eingangstor nach draußen. Er ging ein Stück an der Mauer entlang, bis er den Punkt erreicht hatte, an dem die Energie noch am stärksten zu spüren war. Böses ahnend hob der Bestatter seinen Blick und schaute nun zum Balkon hoch, der zum Arbeitszimmer hinein führte. Seine Augen verengten sich. Diederich und er hatten zwar über keine wichtigen Details gesprochen, aber allein die Tatsache, dass jemand sie belauscht hatte, gefiel dem Undertaker ganz und gar nicht. Vor allem dann nicht, wenn es sich bei diesem Jemand auch noch um einen Shinigami handelte. „Ich sollte dem wohl besser nachgehen. Wie heißt es doch so schön? Vorsicht ist besser als Nachsicht.“ Der Shinigami konnte noch nicht lange weg sein und sich auch nicht weit weg teleportiert haben, dafür waren die Rückstände der Energie zu gering. Der Silberhaarige schaute in Richtung Baden-Baden, deren ganzes Ausmaß von hier oben gut erkennbar war. Ein schmales Grinsen trat auf seine Lippen. Wenn dieser Todesgott wirklich dachte, dass er ihm so leicht entwichen konnte, dann hatte er sich aber gewaltig getäuscht. Wenn man bedachte wie schwer ihr der Vorgang des Auflösens am Anfang gefallen war, dann konnte Carina nun wirklich stolz auf sich sein. Mittlerweile fiel ihr das Ganze so leicht wie das Atmen und daher kam sie auch Punktgenau in ihrem Zimmer aus. Allerdings beruhigte sie die plötzlich wieder gewohnte Umgebung dieses Mal kein bisschen. Nein, immer noch schossen Wellen der Beunruhigung durch ihren Körper, die sie unmöglich ignorieren konnte. „Ich muss es wissen. Bevor ich meine nächste Entscheidung treffe, muss ich es wissen!“ Mit hastigen Schritten lief sie zum Safe, drehte den Griff in die eingestellten Richtungen und holte gleich darauf ihr Kommunikationsgerät hervor. Hoffentlich hatte Grell gerade keine Schicht… Es dauerte einige Minuten, bis das Rauschen auf der anderen Leitung verschwand und eine mehr als nur verschlafene Stimme ertönte. „Carina?“, gähnte der Rothaarige, woraufhin die Schnitterin irritiert die Stirn runzelte. „Jetzt sag bloß du schläfst noch, Grell. Es ist schon Nachmittag.“ „Ich hatte Nachtschicht. Und du weißt doch, ich hole jede Minute Schlaf nach. Warum glaubst du wohl sieht mein Gesicht so tadellos aus?“ Carina seufzte und ging ausnahmsweise einmal nicht auf seinen Kommentar ein. „Hör zu Grell, ich melde mich nicht ohne Grund. Du musst etwas für mich besorgen und es mir dann herbringen. Und zwar schnell.“ Sie konnte Grells verwirrten Gesichtsausdruck beinahe durch den Hörer hindurch sehen. „Ich soll nach Deutschland kommen? Ist das nicht ziemlich riskant?“ „Wenn dich einer entdeckt, dann sag eben du wolltest dich mal nach den Wellness Angeboten hier in Baden-Baden erkundigen. Glaub mir, das nimmt dir jeder ab.“ „Na schönen Dank auch“, echauffierte sich der Reaper. „Was soll ich dir überhaupt ach so Wichtiges bringen, dass du dich vorsätzlich in die Gefahr begibst entdeckt zu werden?“ Carina zögerte einen Moment, dann sagte sie: „Den Stammbaum der Familie Phantomhive.“ Kapitel 55: ...und die folgenschwere Entscheidung ------------------------------------------------- Unruhig tigerte Carina in ihrem Hotelzimmer umher. Seit sie Grell kontaktiert hatte, war nun bereits eine ganze Stunde vergangen. Und mit jeder weiteren Sekunde schwand ihre Geduld dahin. „Was treibt er? Wie lange kann es bitteschön dauern sich fertig zu machen, in die Bibliothek zu gehen und sich dieses verfluchte Stammbuch unbemerkt zu schnappen?“ Wie sie Grell kannte lag das Problem noch nicht mal bei der Beschaffung des Buches, sondern eher beim perfekten Anziehen und Schminken. „Ich muss wissen, ob ich mit meiner Vermutung richtig liege. Ich muss wissen, ob das seine Verbindung zur Familie Phantomhive ist. Denn wenn es stimmt, dann… dann ändert das alles.“ Ein Teil von ihr hoffte, dass sie sich dieses eine Mal irrte. Dass sie Unrecht hatte, denn der bloße Gedanke kam ihr schier unerträglich vor. Doch ein anderer Teil war sich bewusst, dass dieses fehlende Puzzleteil nur allzu gut passen würde. Zumindest würde es so einiges erklären. „Bitte lass es nicht stimmen. Ich will nicht, dass er… dass er mit ihr…“ Ein Klopfen an der Tür riss sie aus ihren dunklen Gedanken. „Carina?“, ertönte von draußen Grells Stimme und keine Sekunde später riss die 19-Jährige die Tür auf. „Na endlich“, sagte sie und schloss den Rothaarigen erleichtert in die Arme. Es tat gut ihn zu sehen. Natürlich hatten sie immer mal wieder über das Kommunikationsgerät gesprochen, aber das war einfach nicht dasselbe. „Du siehst gut aus“, sagte Grell, sobald er sich wieder von ihr gelöst hatte. Seine Augen wanderten scannend über ihren Körper und blieben gleich darauf verzückt auf ihrer kleinen Wölbung liegen. „Mensch, man sieht ja tatsächlich schon was“, quietschte er vergnügt und tänzelte ein wenig auf der Stelle hin und her. „Hab ich doch gesagt“, lachte Carina, kein bisschen verwundert über die Reaktion ihres selbsternannten großen Bruders. „Steht dir gut“, zwinkerte er ihr zu, woraufhin sich die Wangen der Blondine schwach röteten. „Na ja, fragt sich wie lange noch. Bald bin ich einfach nur noch dick.“ Der Reaper schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Du wirst nicht dick, du bist nur schwanger. Das ist ja wohl was vollkommen anderes. Und ich bin mir sehr sicher, der Babybauch wird dir wunderbar stehen.“ „Wir werden sehen“, antwortete sie und wurde nun wieder ernst. „Hast du es bekommen?“ Er nickte und zog einen ziemlich dicken Wälzer aus seiner Tasche hervor. „Ja, hab ich. Es wird auch niemand mitbekommen, wenn ich es heute noch zurückbringe. Aber sag mal, wozu brauchst du es?“ Carina zögerte kurz, dann erzählte sie ihm aber doch von dem Gespräch, das sie in der Villa von Weizsäcker mitangehört hatte. Grell unterbrach sie bereits nach der Hälfte. „Und du hast dich ihm nicht gezeigt? Verdammt Carina, da suchst du ihn die ganze Zeit wie verrückt und dann lässt du die Gelegenheit verstreichen endlich mit ihm zu sprechen?“ „Weil es erstens nicht der richtige Zeitpunkt war und ich zweitens noch etwas nachprüfen muss. Etwas, was mir nur der Stammbaum der Familie Phantomhive beantworten kann.“ Sie nahm das Buch von ihm entgegen und setzte sich aufs Bett. Dennoch, als der Stammbaum nun endlich auf ihrem Schoß lag und nur darauf wartete geöffnet zu werden, zögerte die Schnitterin. Das entging auch Grell nicht. „Was hast du, Carina? Ich dachte, du hast es so eilig?“ „Ja, das stimmt auch. Aber ich…“, sie schluckte einmal gut hörbar, „ich hab Angst vor dem, was dort möglicherweise drin steht“, antwortete sie schließlich kleinlaut. Die Stammbäume, die die Shinigami besaßen, waren nicht unbedingt wie die Stammbäume der Menschen. Sie zeigten den Schnittern immer die Wahrheit, ganz egal ob die Bücher der Menschen nun etwas anderes sagten. Ihre Finger umklammerten den Einband fester, ihre Augen waren verunsichert zu Boden gerichtet. Sie hatte Angst vor dieser Wahrheit… Das Bett sank ein wenig weiter ein, als sich Grell nun neben sie setzte und sanft einen Arm um ihre Schultern legte. „Ganz gleich, was da auch drin stehen mag und wie sich das auf deine Zukunft auswirkt, ich werde dich unterstützen. Und die Nervensäge sicher auch.“ Carina hob den Kopf und lächelte ihn dankbar an. „Danke, Grell“, murmelte sie und richtete ihren Blick wieder auf das Buch, als er ihr aufmunternd zunickte. Sie schlug den Band auf und suchte sogleich im Inhaltsverzeichnis nach den passenden Jahreszahlen. Was hatte Cedric noch einmal gesagt? Claudia war am 13. Juli 1866 im Alter von 36 Jahren gestorben. Das bedeutete sie musste im Jahre 1830 geboren worden sein. Mit wild pochendem Herzen schlug sie das entsprechende Kapitel auf und suchte die Seiten langsam und mit scharfem Blick ab. Und tatsächlich, bereits nach einigen Sekunden stach ihr der Name ins Auge und sprang ihr förmlich ins Gesicht. „Claudia Phantomhive… geboren am 05. April 1830… gestorben am 13. Juli 1866… also doch.“ Jetzt wurde ihr so einiges klarer. Warum Claudia den Job ihres Vaters übernommen hatte und warum sie dadurch wiederum mit dem Bestatter in Kontakt gekommen war. Sie war einer der Wachhunde der Königin gewesen und Undertaker ihr Informant. Die 19-Jährige konnte sicht noch genau an seine Worte erinnern, damals in der Küche des Bestattungsunternehmens. Als sie ihn gefragt hatte warum er die Königin nicht mochte. „Ich habe etwas Wichtiges verloren und sie ist nicht ganz unschuldig daran.“ Auch das machte nun endlich Sinn. Vermutlich war die Phantomhive bei einem ihrer Aufträge als Wachhund der Königin ums Leben gekommen. Oder die Königin hatte sogar selbst ihre Finger im Spiel gehabt. Nach allem, was die Schnitterin in der Welt der Shinigamis über sie gehört hatte, würde es sie nicht großartig wundern… Automatisch wanderte Carinas Blick ein Stückchen weiter nach unten und sogleich erblickte sie den Namen, den sie dort schon erwartet hatte. „Vincent Phantomhive… geboren am 13. Juni 1851… gestorben am 14. Dezember 1885. Er war also tatsächlich ihr Sohn.“ Bisher hatte sie mit jedem ihrer Gedanken ins Schwarze getroffen. Doch ein Gedanke blieb noch, der bestätigt werden musste. Der Gedanke, der ihr die meiste Furcht bereitete. Ihre Augen glitten wieder zu dem Kästchen mit dem Namen Claudia Phantomhive zurück und dann wandte sie ihren Blick ganz langsam nach rechts, wo ein weiteres kleines Kästchen den Namen des Mannes verriet, der der biologische Vater von Vincent Phantomhive war. Ein zittriger Atemzug entfuhr ihr, dann hielt sie ganz automatisch die Luft an, als eine Welle der Gefühle sie überschwemmte. Ihr Gehirn und ihr Herz schienen sich nicht recht entscheiden zu können, welche Emotion am stärksten ausgeprägt war. Schmerz? Kummer? Eifersucht? Oder vielleicht doch das blanke Entsetzen? „Cedric K. Rosewell… geboren am 25. März 1035… gestorben am 28. Januar 1064“, las sie mit tauben Lippen vor und bemerkte nicht einmal, wie ihr langsam das Buch aus den Händen glitt und mit einem dumpfen Knall auf dem Boden aufschlug. Ihre Augen schlossen sich bestürzt, während sie wieder nach Luft schnappte. „Also doch… also doch!“ Wie aus weiter Entfernung hörte sie Grell ihren Namen sagen, doch es kümmerte Carina nicht. Die gerade gewonnene Erkenntnis raubte ihr beinahe den Verstand. Sie hatte es geahnt, genau in dem Augenblick, als sie ihn hatte weinen sehen, aber… aber die Tatsache, dass es stimmte, dass sie verdammt noch mal Recht gehabt hatte, versetzte ihr dennoch einen Schock. „Er war sein Sohn. Vincent Phantomhive war sein Sohn.“ Ohne es zu merken hatte die Blondine es laut ausgesprochen, denn nun verstummte auch Grell und schaute sie mit großen Augen an. Ja, die Bücher der Shinigami sagten immer die Wahrheit. Claudia Phantomhive mochte mit einem anderen Mann verheiratet gewesen sein, aber ihr Erstgeborener war eindeutig der Sohn ihres Geliebten gewesen. „Und er wusste es. Cedric wusste es.“ Natürlich, Grell hatte doch erwähnt, dass von diesen Kindern eine minimal andere Aura ausging. Der Bestatter musste gespürt haben, dass der Junge sein Sohn war. Wahrscheinlich war es für ihn damals ebenfalls ein Schock gewesen. Sicherlich hatte er damals erst herausgefunden, dass er als Shinigami zeugungsfähig war. Aber warum hatte er daraus verdammt noch mal denn nicht den Schluss ziehen können, dass auch weibliche Shinigami dazu in der Lage waren? Mit Sicherheit war er davon ausgegangen, dass es mit einer menschlichen Frau möglich wäre. Dass sie als Mensch Leben schenken konnte. Selbst in Carinas Ohren klang es irgendwo logisch. Aber warum nur hatte er nicht weiter gedacht? Hatte er das Ganze vielleicht einfach schlichtweg verdrängt, um nicht mehr an seinen Sohn denken zu müssen, der im Alter von gerade einmal 34 Jahren gestorben war? Sie könnte es ihm nicht einmal verübeln. Zuerst verlor er die Frau, die er über alles liebte und dann starb nicht einmal 20 Jahre später ihr gemeinsames Kind. Es musste ihm beinahe den Verstand geraubt haben… Dennoch. Hätte er auch nur einen Gedanken daran verschwendet, nur einen… Dann wäre sie jetzt nicht in dieser Situation! In dieser verdammt ausweglosen Situation… Ein leichtes Stupsen an ihrem Bauch riss sie aus ihren finsteren Gedanken, die ihr noch im gleichen Augenblick leid taten. „Entschuldige… Du kannst nichts dafür“, dachte sie und streichelte sanft über die Schwellung. Nein, sie liebte ihr Baby. Mittlerweile wollte sie ihre Schwangerschaft gar nicht mehr ungeschehen machen. Ein verzweifelter Laut entfuhr ihren Lippen, als sie sich rückwärts auf das Bett sinken ließ, den Kopf in ihren Händen vergraben. Erst ganz langsam wurde ihr das ganze Ausmaß dieser Erkenntnis bewusst. Wenn Vincent sein Sohn war, dann war Ciel sein Enkel. Um Gottes Willen… „Ach du Scheiße“, kam es nun von Grell, der mittlerweile das Buch aufgehoben und selbst eingehend studiert hatte. Anscheinend hatte auch er die Situation begriffen. Carina, die nicht mehr die Kraft dazu hatte sich den Stammbaum noch ein weiteres Mal anzusehen, fragte mit brüchiger Stimme: „Ist das zweite Kind von Claudia auch von ihm?“ Es raschelte, als Grell ein paar Seiten weiterblätterte. „Nein“, schüttelte er schließlich den Kopf. „Francis Midford, geborene Phantomhive, ist die Tochter von Claudia Phantomhive und ihrem Ehemann Edward. Sie ist mit Alexis Leon Midford verheiratet und hat mit ihm zwei Kinder, Edward und Elizabeth Midford.“ Carina registrierte zwar was er sagte, doch es bewirkte nichts in ihrem Inneren. Keine Freude, keine Erleichterung. Momentan war da nur wieder diese unglaubliche Leere, die sich am besten mit dem Gefühl beschreiben ließ, das sie verspürt hatte, als sie den Bestatter verlassen hatte und in die Welt der Shinigami zurückgekehrt war. Ja, genauso traurig und hilflos fühlte sie sich jetzt ebenfalls. Und da war auch wieder diese Eifersucht auf Claudia Phantomhive, für die sie sich selbst am liebsten geohrfeigt hätte. Er hatte ein Kind mit ihr gehabt. Sogar das hatte sie ihr vorweggenommen. Carina verabscheute sich selbst für diese Art von Gedanken, aber ihr Herz kam nicht mit den neuesten Informationen parat. Eine Hoffnung, von der sie noch nicht einmal gewusst hatte, dass sie sie hegte, zerbrach irgendwo in ihrem Inneren. Alles hätte sie irgendwie überwinden können, aber nicht das! „Du hast es geahnt, nicht wahr?“, fragte Grell mit ungewöhnlich sanfter Stimme, während er eine Hand auf ihre rechte Schulter legte. „Ja“, flüsterte sie. „Ich habe gesehen, wie er um seinen Sohn geweint hat, Grell. Der Schmerz über seinen Verlust bringt ihn innerlich immer noch fast um, ich konnte es in seinen Augen sehen.“ Der Rothaarige wählte seine nächsten Worte mit Bedacht. „Nun ja, das ist verständlich“, sagte er zögerlich, da er nicht wusste wie die Blondine darauf reagieren würde. Ihre verwandelten blauen Augen wandten sich ihm wieder zu. „Ja, ich weiß. Glaube bitte nicht, dass ich ihn dafür verurteile.“ „Das tue ich nicht“, antwortete Grell und meinte es ehrlich. „Aber das macht deine Situation auch nicht gerade leichter. Willst… willst du es ihm jetzt überhaupt noch sagen?“ Und genau das war der springende Punkt. „Wie könnte ich?“, murmelte sie mit schwacher Stimme. „Jetzt, wo ich weiß, was er durchmachen musste? Wie sehr er unter dem Verlust leidet? Er hat bereits ein Kind verloren und dieses Kind hier“, sie legte sich eine Hand auf den Bauch, „wird ein Mensch sein, also genauso sterblich wie Vincent Phantomhive. Irgendwann, egal wie lange es auch dauern wird, wird auch unser Kind sterben. Wie könnte ich es ihm zumuten, dass er das noch einmal durchmachen muss? Wie könnte ich ihm das antun?“ Sie selbst verdrängte den Gedanken daran ja bereits mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, weil allein schon die Vorstellung unerträglich war. Kinder sollten einfach nicht vor ihren Eltern sterben, das war nicht richtig! „Und außerdem… wer sagt mir denn nicht, dass er nur wegen des Kindes bei mir bleiben würde? Was, wenn er deswegen seine Pläne aufgibt und es mir dann irgendwann zum Vorwurf macht? Das… das könnte ich einfach nicht ertragen. Ich will nicht, dass er mich irgendwann hasst.“ Der kümmerliche Rest ihrer Stimme brach und zwei dicke, runde Tränen kullerten ihr die Wangen hinab. „Och Süße“, klagte Grell, der nun ebenfalls den Tränen nahe war. „Bitte nicht weinen. Ich habe doch schon gesagt, dass ich dir beistehen werde, egal wie du dich entscheidest. Und wenn du es ihm nicht sagen willst, dann ist das auch in Ordnung. Ich werde euch an seiner Stelle beschützen, mach dir keine Sorgen.“ Er nahm sie in die Arme und Carina – froh, dass er da war – vergrub ihren Kopf in seinem Hemd und weinte. Es war befreiend den Tränen endlich freien Lauf zu lassen, fühlte sich fast ein wenig so an, als würden ihre ganzen Ängste und die ganze Trauer mit der salzigen Flüssigkeit aus ihrem Körper geschwemmt und dadurch ein wenig abgemildert werden. Als sie sich 10 Minuten später endlich ein wenig beruhigt hatte, brannten ihr die Augen und die Wangen. Ihr Kopf fühlte sich an, als stünde er kurz vor der Explosion. „Vielleicht solltest du etwas schlafen. Zu viel Aufregung ist gar nicht gut für dich“, schlug Grell beunruhigt vor und schielte versucht unauffällig auf seine Uhr. Carina lächelte. „Na los, geh schon“, sagte sie, woraufhin der Reaper sie überrascht ansah. „Deine nächste Schicht fängt doch bald an, oder etwa nicht? Geh lieber, nachher fragt sich ansonsten noch jemand, warum du zu spät gekommen bist.“ Angesprochener seufzte. „Ich lasse dich aber nur äußerst ungern jetzt allein, nur das du’s weißt.“ Die 19-Jährige ließ sich ein weiteres Mal von ihm umarmen, während sie nickte. „Ja, ich weiß. Mach dir keine Sorgen, ich werde mich ausruhen. Versprochen. Und… könntest du Alice bitte alles erzählen?“ Denn momentan hatte sie wirklich nicht die Kraft all das, was heute passiert war, noch einmal in Worte zu fassen. „Ich kümmere mich darum“, antwortete er und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, obwohl ihm selbst überhaupt nicht danach zumute war. Die Schnitterin nickte ihm noch ein weiteres Mal zu, bevor der Shinigami die Augen schloss und im nächsten Moment verschwunden war. Die plötzliche Stille war mehr als nur unangenehm. Ein schwerer Seufzer entfuhr der werdenden Mutter, als sie sich wieder mit dem Rücken voran auf’s Bett fallen ließ. Ihr Blick galt der Decke, während sie versuchte sich zu entspannen und etwas zu schlafen. Doch bereits nach 20 Minuten gab sie diesen Versuch auf. Ihr gingen einfach viel zu viele Gedanken durch den Kopf und die Aufregung der letzten Stunden schickte immer noch Adrenalin durch ihren Körper. Sie hatte gerade eine Entscheidung getroffen, die ihr ganzes Leben und auch das ihres Kindes beeinflussen würde. Wie sollte sie da jetzt schlafen? Außerdem war ihr kalt und sie fühlte sich wie erschlagen. Aber sie hatte die Wahrheit wissen wollen. Möglicherweise wäre es schlauer gewesen, wenn sie sich zuvor die Frage gestellt hätte, ob sie die Wahrheit überhaupt ertragen konnte. „Vielleicht sollte ich mich ein wenig ablenken“, murmelte sie und dachte an das kleine Café, das sich direkt um die Ecke befand. Dort hatte sie in den letzten Tagen öfters vorbeigeschaut, wenn sie eine Pause von der erfolglosen Suche gebraucht hatte. Der Laden war nicht sonderlich groß, hatte aber richtig schöne Sitznischen, in denen man unbeobachtet seine Zeit totschlagen konnte. Der rothaarige Kellner – ein 15-jähriger Junge namens Tom – war unglaublich offenherzig und freundlich. Und nicht zuletzt machte dieses Café den besten Kakao mit Sahne, den Carina jemals getrunken hatte. Ja, vielleicht würde ihr diese kleine Ablenkung gut tun. Und eine große Menge flüssiger Schokolade sowieso! „Ich sollte dennoch vorsichtig sein. Grells Teleportation hat Energie freigesetzt, wenn auch nur in geringer Menge. Nicht, dass mir ein deutscher Shinigami über den Weg läuft.“ Sie zog sich ihren Mantel über, der eine weit ausgeschnittene Kapuze besaß, die sie sich im Notfall ebenfalls überziehen konnte. Vorsichtshalber steckte sie sich auch die wichtigsten Dinge, die sie bei sich im Zimmer hatte, in ihre Manteltaschen. Falls ein Shinigami in ihrem Hotelzimmer auftauchen sollte, dann würde er zumindest nichts von Bedeutung dort vorfinden. Carina verließ das Hotel dieses Mal durch den Vordereingang. Sie versuchte sich an einem Lächeln gegenüber der Frau des Hotelbesitzers, was allerdings ziemlich schief ausfiel. Nach wenigen Minuten Fußmarsch erreichte sie dann auch schon das gewünschte Ziel. Die Türglocke läutete einmal leise, als sie eintrat und sofort drehte sich ein roter Haarschopf nach ihr um. Toms Gesicht, das mit unzähligen Sommersprossen übersäht war, verzog sich zu einem Lächeln. „Schönen guten Tag, Miss. Dasselbe wie die letzten Tage?“ Carina musste grinsen und dieses Mal war es sogar echt. Mit seiner unbekümmerten, lockeren Art erinnerte er sie ein wenig an Alice. „Ja, das wäre super. Mit extra viel Sahne, bitte.“ Er lachte. „Sie hatten wohl einen anstrengenden Tag, was?“ „Kann man wohl so sagen“, seufzte sie und setzte sich in eine der leeren Sitznischen, die vom Eingang her nicht einsehbar war. Den Mantel behielt sie zur Sicherheit an. Falls sie schnell weg musste… „Außerdem bin ich gerade echt nicht dafür in Stimmung, dass mich jeder anstarrt wie ein Tier im Zoo.“ Eine Schwangerschaft war ja schön und gut, aber musste ihr deswegen denn wirklich jeder hinterher schauen? Wenn sie noch in ihrer Zeit wäre, dann hätte sie es vielleicht nicht gestört. Ganz im Gegenteil, wahrscheinlich hätte die 19-Jährige es sogar genossen. Doch hier im 19. Jahrhundert war es einfach viel zu auffällig. Vor allem dann, wenn man auf der Flucht war. Dann wirkte es eher wie ein großes Signalfeuer. „Jetzt hab ich ganz vergessen Grell zu fragen, was er eigentlich für einen Plan hatte wo ich in Zukunft leben soll. Beziehungsweise, ob es überhaupt klappen könnte, er musste da doch noch irgendwas nachprüfen.“ Nachdenklich massierte sie sich die Stirn, wodurch die Kopfschmerzen etwas abgemildert wurden. Noch so eine Sache, über die sie sich Gedanken machen musste. Die Schnitterin sehnte sich den Tag herbei, an dem sie sich über nichts mehr Sorgen machen musste. Der Tag, an dem sie ein neues Zuhause hatte, ihr Kind auf der Welt war und sie einfach nur die glückliche Mutter von nebenan sein konnte. War das denn wirklich zu viel verlangt? Hasste Gott die Shinigami wirklich so sehr, dass er ihnen nicht das kleinste Quäntchen Glück gönnte? Gab es überhaupt einen Gott? Komischerweise erinnerte sie sich plötzlich an einen ihrer ersten Gedanken, den sie kurz nach ihrem Eintreffen in diesem Jahrhundert gedacht hatte. „Wenn es einen Gott gibt ist er ein verdammtes Arschloch.“ Ja, vermutlich hatte sie damals damit gar nicht so falsch gelegen. Doch zu jenem Zeitpunkt war sie ein Mensch gewesen, somit lag ihre Pechsträhne wohl nicht an ihrem Wesen. „Nein, ich bin einfach nur ein gottverdammter Pechvogel“, dachte die Seelensammlerin sarkastisch, schaute jedoch im nächsten Moment überrascht auf, als eine dampfende Tasse direkt vor ihrer Nase abgestellt wurde. „Mit extra viel Sahne“, grinste der Junge ihr entgegen, woraufhin Carina sich etwas entspannte. „Danke, das hab ich jetzt auch wirklich nötig“, gestand sie und kramte in ihrer Manteltasche nach ein paar Münzen, die sie dem angehenden Kellner in die Hand drückte. „Ist mit Ihnen alles in Ordnung, Miss? Sie sehen ein wenig blass aus.“ „Nein, nein, mir geht es gut. Ich hatte nur ein wenig Stress heute, das ist alles.“ Sie lächelte ihn nun ihrerseits an, woraufhin sich die Miene des Rothaarigen aufhellte und er wieder hinter der Theke verschwand. „Mit diesem sonnigen Gemüt besteht er seine Ausbildung sicherlich mit Bravour und wird übernommen. Wenigstens einer in diesem Raum, bei dem alles glatt läuft.“ Carina nahm die heiße Tasse vorsichtig in die Hand und betrachtete für einen Moment nur die Sahne auf der Oberfläche, die durch die Hitze bereits ein wenig verlaufen war und dem Kakao eine schaumige Note gab. Das Kakaopulver, das noch über die Sahne drübergestreut worden war, gab dem ganzen Bild den letzten Schliff. Erwartungsvoll nahm sie einen langsamen Schluck und genoss gleich darauf das intensive Aroma der flüssigen Schokolade auf ihrer Zunge. „Die erste gute Idee, die ich heute hatte“, dachte sie seufzend und schlürfte die Sahne vorsichtig vom Getränk herunter. 5 selige Minuten später setzte sie die nun leere Tasse auf den Tisch und tupfte sich mit einer dunkelblauen Serviette den Mund ab. Nun war ihr beinahe schon ein bisschen zu heiß in dem Mantel, aber sie würde ohnehin nicht mehr lange bleiben. „Am besten haue ich mich jetzt gleich ein wenig ins Bett und überlege dann morgen zusammen mit Grell und Alice, wie es jetzt weitergeht. Wenn ich schon einmal in Deutschland bin, dann könnte ich ja auch eine kleine Rundreise machen. Wenn nicht jetzt, wann dann?“ Jetzt war sie immerhin noch am Anfang ihrer Schwangerschaft. Im letzten Drittel würde reisen schwierig werden und nach der Geburt hatte sie sicherlich ganz andere Sachen im Kopf. Die Vorstellung, dass sie die ihr bekannten Städte so lange vor ihrer eigenen Zeit besuchen konnte, hatte durchaus einen gewissen Reiz. Das Läuten der Türglocke, als ein weiterer Gast das Café betrat, riss die Shinigami aus ihren Gedanken. Sie schüttelte müde den Kopf. Grell hatte Recht, sie musste sich dringend ausruhen und diese ganzen Gedanken auf einen späteren Zeitpunkt verschieben, bevor sie noch gänzlich verrückt wurde. Außerdem wurde es draußen schon fast dunkel… Langsam erhob sie sich von ihrem Sitzplatz und ließ einmal den Kopf kreisen, um ihren verspannten Nacken etwas zu bewegen. Schritte ertönten hinter ihr im Gang und in der festen Erwartung, dass es Tom war, der sich von ihr verabschieden wollte, drehte Carina sich lächelnd um. Das Lächeln gefror ihr sogleich auf den Lippen. Lange, schwarze Fingernägel hatten sich auf das Polster der Sitzecke gelegt, nur wenige Zentimeter von ihr entfernt. Der dazugehörige Körper befand sich noch außerhalb des Blickfeldes der Nische, konnte sie somit noch nicht einsehen. Auch Carina konnte die Person noch nicht sehen, aber das musste sie auch gar nicht. Diese filigranen Hände würde sie unter Tausenden wiedererkennen. Doch für jegliche Reaktionen ihrerseits war es bereits zu spät. Schon im nächsten Augenblick trat der silberhaarige Bestatter in ihre Sichtweite und sie somit automatisch in seine. Plötzlich war es wie in einem dieser lächerlichen Filme, wo alles in Zeitlupe ablief. Die Schnitterin konnte sehen, wie er ihr langsam sein Gesicht zuwandte und wie sich seine Augen noch in derselben Sekunde entsetzt weiteten. Definitiv hatte er nicht damit gerechnet sie hier anzutreffen, so viel stand fest. Ebenso stand fest, dass sein Gesichtsausdruck ihren perfekt widerspiegelte. Auch ihre Augen waren groß geworden, ihre Hände hatten sich an der Tischkante versteift, ihr ganzer Körper hatte aus heiterem Himmel jegliche Regung eingestellt. Sie öffnete den Mund, doch kein Wort verließ ihre Lippen. Es hatte ihr glatt die Sprache verschlagen. Dann endete die Zeitlupe und somit auch die Zeit, die sie gehabt hätte, um sich irgendetwas Sinnvolles einfallen zu lassen. Irgendetwas, was sie hätte tun oder sagen sollen. Doch ihr Kopf war leer, vollständig leer. Sie sah ihn lediglich an. Beobachtete, wie er den Moment der Überraschung schließlich halbwegs überwand und sich seine phosphoreszierenden Augen anschließend unheilvoll verengten. Verdammt, das war gar nicht gut… Kapitel 56: Gefühlschaos und ein längst überfälliges Geständnis --------------------------------------------------------------- Er konnte die unzähligen Blicke in seinem Rücken spüren, als er durch eine der vielen kleinen Seitenstraßen Baden-Badens ging. Männer und Frauen jeden Alters starrten ihm hinterher, selbst Kinder stellten für kurze Zeit ihr Spielen ein und betrachteten den Mann mit den seltsamen, silbernen Haaren. Der Bestatter konnte sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen. Es war doch immer wieder amüsant, wie sehr sich die Menschen von reinen Äußerlichkeiten beeinflussen ließen und dabei die Schönheit einer Seele vollkommen ignorierten. Dabei war das doch schlussendlich genau das, worauf es ankam. Der Totengräber streckte während des Gehens seine Sinne aus, tastete nach der Energie des fremden Shinigami. Weit weg konnte er nicht mehr sein und das war ein Glücksfall. Denn die Frage, was ein deutscher Shinigami davon hatte ihn zu beobachten und anschließend nicht einmal versuchte ihn festzunehmen, brannte dem ehemaligen Schnitter wirklich auf der Zunge. Er mochte es nicht, wenn ihm jemand ins Handwerk pfuschte. Von daher würde er dieses Risiko auf keinen Fall eingehen. Nein, er war zu weit gekommen, um sich jetzt erwischen zu lassen. Von Sekunde zu Sekunde wurde die Signatur, die er an der Villa der von Weizsäckers gespürt hatte, stärker und als er schlussendlich vor einem kleinen Café stehen blieb, schrillten seine inneren Instinkte wie eine Alarmglocke. „Dann wollen wir doch mal sehen, was wir hier haben“, giggelte er fast lautlos und öffnete ohne jegliche Eile die Tür. Eine kleine Klingel kündigte den bereits Anwesenden sein Erscheinen an, sogleich wandte sich ein junger Bursche mit rotem Haar ihm zu; wahrscheinlich, um ihn zu begrüßen. Doch jegliches Wort blieb unausgesprochen, als er die mysteriöse Gestalt vor sich ausmachte. Die langen silbernen Haare, die schwarze Kleidung und zuletzt das Gesicht, das er nur halb ausmachen konnte, aber von einer deutlich sichtbaren Narbe bedeckt wurde. Es war typisch für die Menschen, dass sie sich unterbewusst vor etwas fürchteten, das sie nicht komplett erfassen konnten. Der junge Kellner besann sich jedoch noch rechtzeitig und grüßte ihn mit nur einer Sekunde Verzögerung, indem er ihm leicht mit dem Kopf zunickte. Der Bestatter warf ihm sein breitestes Grinsen entgegen und ließ anschließend seinen Blick durch den kleinen Laden wandern. Es war nur ein einziger Raum und er war auch nicht sonderlich groß, aber dennoch waren die Sitzplätze so angeordnet, dass sie vom Eingang aus nicht alle einsehbar waren. „Ein guter Ort, wenn man ungestört bleiben möchte. Hehe, oder nicht gefunden werden will.“ Er setzte sich langsam in Bewegung, stets darauf bedacht keine unnötigen hektischen Geräusche zu verursachen. Freude wallte in ihm auf, als er sich vorstellte wie sich in wenigen Sekunden das Gesicht des Shinigami vor Entsetzen verzerren würde, wenn er ihn plötzlich vor sich stehen sah. Sicherlich rechnete derjenige nicht damit, dass der Totengräber ihn so leicht ausfindig machen konnte. Nicht jeder Shinigami war in der Lage dazu sich Energiesignaturen so genau einzuprägen und noch weniger konnten diese dann präzise verfolgen. Seine Augen fanden die Sitznische, in der sich die Energie am stärksten konzentrierte. Ein Rascheln ertönte, als würde sich jemand von seinem Platz erheben. Sein Grinsen wurde breiter. „Zu spät, Kleiner“, dachte er und legte seine rechte Hand um das Polster der Sitzecke. Doch wie ging noch mal das Sprichwort? Erstens kommt es immer anders und zweitens als man denkt. Denn als er einen weiteren Schritt nach vorne trat und seinem Gegenüber nun endlich ins Gesicht sehen konnte, war es keine Freude, die sich in seinem Gesicht abzeichnete. Nein, ganz im Gegenteil. Als er nach vier Monaten das erste Mal wieder in Carinas Gesicht sah, wusste er für einige lange Sekunden nicht, was er genau fühlen sollte. Das erste Gefühl war definitiv Überraschung. Wer konnte es ihm verübeln? Mit jedem – wirklich jedem! – hatte er gerechnet, aber nicht mit Carina. Danach folgte eine Mischung aus Verwirrung – Was zum Teufel machte sie hier? – und seltsamerweise auch Freude. Er freute sich sie zu sehen, was auch dieses komische Kribbeln in seinem Bauch erklären musste. Irgendwie war das sogar das Gefühl, was ihn am meisten verwirrte. Als Letztes kam dann die Wut. Als er sich daran erinnerte, wie sie ihn damals einfach hatte stehen lassen. Wie sie ohne ein Wort sang- und klanglos verschwunden war. Mit verengten Augen konzentrierte er sich nun auf ihren Gesichtsausdruck. Er sah das pure Entsetzen in jedem einzelnen ihrer Züge, nicht zuletzt in ihren marineblauen Augen, die er so mochte. Sie sah aus, als würde sie dem Teufel persönlich gegenüberstehen… Das war nicht wahr! Das war einfach nicht wahr!! So ein verdammtes Pech konnte nicht einmal sie, der gottverdammte Pechvogel, haben. Und doch stand Cedric hier. Hier, genau vor ihr. Gleichwohl war der einzige Gedanke, der Carina durch den Kopf ging: „Gott sei Dank hab ich den Mantel an…“ Sie schluckte einmal gut vernehmlich und ließ sich langsam wieder auf ihren Platz zurücksinken. Ob das nun daran lag, dass sie Abstand zu ihm gewinnen wollte oder weil ihre Beine sich plötzlich dazu entschieden hatten die Form von Wackelpudding anzunehmen, konnte sie nicht genau sagen. Vielleicht war es auch beides. Ihre Augen folgten jeder seiner Bewegungen, als auch er sich auf dem Platz ihr gegenüber niederließ. Verflucht, wie hatte er sie denn nur gefunden? Hatte er… hatte er etwa ihre Energiesignatur zurückverfolgt? Grell hatte sie mehr als nur einmal gewarnt, dass dies möglich war und dennoch war sie das Risiko am heutigen Tag sogar zweimal eingegangen. Einmal durch sich selbst und dann durch Grell, als sich dieser von London nach Baden-Baden teleportiert hatte. „Das war dumm von mir. Und jetzt bekomme ich auch direkt die Quittung…“ Angespanntes, beinahe greifbares Schweigen herrschte zwischen den beiden Todesgöttern. Carina entwickelte aufgrund seines stechenden Blickes plötzlich ein sehr großes Interesse an einer Blumenvase im hinteren Teil des Raumes. Doch anscheinend wurde es dem Bestatter bereits nach wenigen Sekunden zu blöd. Er brach das Schweigen. „Carina.“ Er sagte es ganz schlicht, es war nicht mehr als eine simple Feststellung. Dennoch vibrierte beim Klang seiner Stimme jeder Muskel im Körper der jungen Frau. Eine unglaubliche Sehnsucht ergriff aus heiterem Himmel Besitz von ihr. Sie hatte seine Stimme so vermisst… Die Blondine atmete versucht ruhig aus, schluckte einmal zum Befeuchten ihrer trockenen Kehle und antwortete dann in ein- und demselben Tonfall wie ihr Gegenüber zuvor. „Cedric.“ Ihre verwandelten Augen richteten sich nun auf sein Gesicht, auf einen Punkt oberhalb seiner Augenbrauen. Wenn sie ihm direkt in die Augen schaute, so befürchtete sie zumindest, würde sie ihre kontrollierte Maske verlieren. Und das war etwas, was sie sich momentan auf keinen Fall leisten konnte. „Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns so schnell wiedersehen. Nicht nach der Art und Weise, wie du gegangen bist“, sagte er, was die Schnitterin irritiert die Augenbrauen zusammenziehen ließ. Da war ein Unterton in seiner Stimme, den sie nicht gleich zuordnen konnte. Doch nach wenigen Sekunden dämmerte es ihr. „Er ist wütend? Wieso?“ Normalerweise war er durch fast nichts aus der Ruhe zu bringen. Lediglich, wenn man ihm in seine Pläne hineinpfuschte. Warum war er also über ihr Verschwinden erzürnt? Carina versuchte ihm zu antworten, die richtigen Worte zu finden, aber sein plötzliches Auftauchen hatte sie vollkommen aus dem Konzept gebracht. Ihr Schweigen schien dem Totengräber nicht zu gefallen. Ebenso wenig wie ihr ausweichender Blick, der immer mal wieder zum Fenster huschte, damit sie nicht in sein Gesicht schauen musste. „Sieh mich an, Carina!“ Seine Stimme war gefährlich leise und trotz ihrer soeben erst gefassten Vorsätze folgte die 19-Jährige seinem Befehl umgehend. Ein Zwicken machte sich in ihrer Brust bemerkbar, als sie in seine klaren gelbgrünen Augen sah. Diese Augen, denen sie von der ersten Sekunde an verfallen gewesen war. „Ich verlange eine Erklärung“, stellte er fest, doch sein Befehlston bewirkte bei Carina lediglich, dass sie in eine Art Trotz verfiel. „Du willst wissen, wieso ich ohne ein Wort gegangen bin? Ganz einfach, weil ich nicht glaubte, dass es zwischen uns noch irgendetwas zu klären gab“, antwortete sie eine Spur zu scharf für jemanden, der Gleichgültigkeit vorzuspielen versuchte. Seine rechte Augenbraue zuckte kurz in die Höhe. „So? Und was war dann das kleine Stelldichein zuvor? Ein Abschiedsgruß?“ Carinas Wangen röteten sich schwach. Großartig, er stellte natürlich mal wieder genau die richtigen Fragen. Ein wenig hilflos zuckte sie mit den Schultern. „Sozusagen?“, antwortete sie, obwohl es sich vielmehr nach einer Frage anhörte. Die junge Frau konnte ihm ansehen, dass er ihr kein Wort glaubte und so versuchte sie schnell das Thema zu wechseln. „Sei doch froh, dass ich gegangen bin. Jetzt kannst du in aller Ruhe mit deinen widerlichen Experimenten weitermachen.“ Etwas flackerte kurz in seinen Augen, als sie das Wort „widerlich“ aussprach. Hatte sie ihn etwa damit verletzt? Sofort meldete sich ihr schlechtes Gewissen, doch Carina war fest entschlossen jetzt nicht nachzugeben. „Was denn, es stimmt doch!“ Sie wollte nicht, dass er verletzt war. Aber es war nun einmal die Wahrheit. Außerdem hatte auch er ihr mit der Wahrheit mehr als nur einmal wehgetan. „Ist das der Grund warum du gegangen bist?“, fragte er, woraufhin die Blondine blinzelte. „Wovon sprichst du bitteschön? War es nicht von Anfang an klar, dass ich irgendwann gehen würde? Ich bin lediglich geblieben, um bei deinem kleinen Versteckspielchen mitzumachen. Wirklich, du bist hier der Letzte, der einen Grund hat zornig zu sein, Cedric“, zischte sie und ließ ihre Maske nun endgültig fallen. Jetzt war sie wirklich froh, dass diese Sitznische kaum einsehbar war. Rüberglotzende Leute konnte sie jetzt echt nicht gebrauchen. Der Undertaker stützte seine Ellbogen auf den Tisch und legte sein Kinn auf die verschränkten Finger. Seine Pupillen fixierten die ihren mit einer Intensität, der sie nicht ausweichen konnte. Nicht einmal, wenn sie gewollt hätte. „Und warum bist du so zornig, Carina?“, fragte er und Angesprochene erstarrte. Sie hatte gewusst, dass ihre fehlende Maske ihr das Genick brechen würde. Denn jetzt stellte er ihr Fragen, die sie nicht beantworten konnte. Oder vielmehr nicht beantworten wollte. Der Silberhaarige wartete ein paar Sekunden, bis ihm schlussendlich die Geduld ausging. „Schön, wenn du mir diese Frage nicht beantworten möchtest, wie wäre es denn dann mit dieser: Warum warst du am Anwesen der von Weizsäckers? Oder noch besser, warum hast du mir hinterher spioniert?“ Carina presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. „Ich habe dir nicht hinterher spioniert“, brachte sie hervor, ihre Gedanken rasten. Sie musste sich irgendeine Ausrede einfallen lassen und zwar schnell! „Ach, dann soll ich also glauben, dass es ein Zufall ist, dass wir beide gleichzeitig in Baden-Baden sind? Halte mich bitte nicht für einfältig, Carina.“ „Ich habe nicht behauptet, dass es ein Zufall ist. Ich habe lediglich gesagt, dass ich dir nicht hinterher spioniert habe.“ Sie stockte und schaute erneut hektisch aus dem Fenster, um sich innerlich zu sortieren. Leugnen hatte in dieser Hinsicht keinen Zweck. Nicht einmal der letzte Trottel auf Erden würde glauben, dass dieses Zusammentreffen ein Zufall war. „Ich habe dich gesucht, deswegen bin ich hier.“ „…und wieso?“, kam es nach wenigen Sekunden Stille vom Bestatter, denn diese Antwort hatte er schier nicht erwartet. Die Hände der 19-Jährigen krallten sich von außen in ihre Manteltaschen und dann kam ihr endlich die rettende Idee. Sie schloss die Augen und atmete einmal tief durch. „Konzentrier dich! Wenn du ihn glaubhaft belügen willst, dann musst du jetzt ruhig bleiben.“ Mit diesem Gedanken öffnete sie ihre blauen Augen, hob den Kopf und holte im gleichen Moment die lange Kette mit den Medaillons aus ihrer Tasche. Seine Augen weiteten sich, als er auf das goldene Schmuckstück in ihrer Hand starrte. „Ich wollte dir das zurückgeben.“ Sie streckte ihren Arm aus und hielt ihm die Kette direkt vors Gesicht. „Hier, nimm.“ Langsam ergriff er seinen selbsternannten Schatz und ließ die Medaillons über seine langgliedrigen Finger wandern. „Woher hast du das?“, fragte er leise, riss seinen Blick jedoch nicht von den Anhängern los. Sie zuckte mit den Schultern. „Lange Geschichte. Der Earl gab sie mir, als wir uns zufällig über den Weg liefen. Er wollte dich damit eigentlich anlocken, was allerdings nicht so gut funktioniert hat. Also hat er sie nicht mehr benötigt und sie mir überlassen.“ „Warum hast du sie mir zurückgebracht? Warum hast du sie nicht dem Rat übergeben?“ Erneut zuckte sie träge und auch ein wenig hilflos mit den Schultern. „Weil sie dir gehört und… und ich weiß, dass sie dir ganz schön wichtig ist.“ Wieder warf sie einen Blick aus dem Fenster, hinter dem sich bereits die einbrechende Dunkelheit abzeichnete. „Immerhin ist ja ihr Name dort eingraviert“, flüsterte sie verbittert und bohrte gleichzeitig die Fingernägel in ihre Handinnenflächen. Carina konnte spüren, dass er sie ansah, doch gerade war seine bloße Anwesenheit einfach unerträglich. „Jetzt weißt du wieso ich hier war. Gibt es sonst noch etwas oder kann ich jetzt endlich gehen?“ „Du hast mir immer noch nicht gesagt, warum du beim Anwesen der von Weizsäckers warst.“ „Das war tatsächlich ein Zufall. Ich hatte vermutet, dass du Diederich von Weizsäcker kennst, weil er mal in England gelebt hat. Aber da du mit ihm in ein Gespräch verwickelt warst, wäre es wohl kaum der richtige Zeitpunkt für ein Gespräch mit mir gewesen, oder irre ich mich da?“ Jedes Wort war wahr, deswegen fielen ihr diese Aussagen auch nicht sonderlich schwer. „Nein, wohl nicht“, antwortete er, klang aber für Carinas Verhältnisse immer noch viel zu misstrauisch. Irgendetwas schien ihn zu stören. „Na dann…“, begann sie zögernd und machte Anstalten sich von ihrem Platz zu erheben. „Ich stelle mir gerade eine ganz andere Frage“, sagte der Bestatter plötzlich, was die Seelensammlerin in ihrer Haltung erstarren ließ. „Die da wäre?“, fragte sie mit müder Stimme und hoffte inständig, dass dies die letzte Frage für den heutigen Abend wäre. Möglicherweise würde dieser stechende Schmerz in ihrer Brust ein wenig nachlassen, wenn sie ihn wenigstens nicht mehr direkt vor Augen hatte. Wenn sie schlief und nicht mehr an ihn denken musste. Oder an Claudia und Vincent Phantomhive. „Warum hast du eigentlich die ganze Zeit deinen Mantel an?“ Carina blinzelte und als die Worte ihr Gehirn erreichten, rutschte ihr das Herz mit atomarer Geschwindigkeit in die Hose. Gleich darauf kam es jedoch ebenso schnell wieder nach oben, um dort mit doppelter Kraft gegen ihren Brustkorb zu hämmern. Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. „Mir ist kalt“, brachte sie hervor, doch es war zu schnell, zu unüberlegt und ihre Stimme war definitiv eine Oktave höher als sonst. Die Augen des Undertakers verengten sich. „Du warst schon immer eine schlechte Lügnerin, Carina.“ „Wenn du wüsstest“, dachte sie. „Mal sehen. Du trägst einen Mantel in einem Café, obwohl es hier erstens alles andere als kalt ist und du zweitens gerade erst etwas Warmes getrunken hast. Kann es sein, dass du möglichst schnell verschwinden willst, sollte es denn nötig werden?“ Sie schwieg, erneut hatte der Silberhaarige es schlichtweg geschafft ihr komplett die Sprache zu verschlagen. „Außerdem starrst du ständig aus dem Fenster. Fast schon so, als wärst du auf der Flucht.“ Sein Blick wurde eindringlicher. „Bist du auf der Flucht, Carina?“ Das dürfte doch wohl nicht wahr sein. Obwohl er ihre ausweichenden Blicke aus dem Fenster falsch gedeutet hatte, lag er doch im Ganzen vollkommen richtig. War das noch zu fassen? „Ich… also…“, stammelte sie zusammenhanglos und wusste dabei gar nicht, was sie überhaupt sagen wollte. „Ich war lange genug im Dispatch um zu wissen, dass sie dich wohl kaum einfach nach Deutschland haben gehen lassen“, fuhr er fort und sein Tonfall suggerierte, dass ihm die nachfolgenden Worte überhaupt nicht gefielen. „Sag mir bitte nicht, dass du ohne Erlaubnis hierhergekommen bist.“ Für einen sehr kurzen Moment lagen ihr die schnippischen Worte „Gut, dann sag ich es eben nicht“ auf der Zunge, allerdings war Carina der Auffassung, dass diese Antwort wohl nicht sonderlich gut angekommen wäre. Also schwieg sie, was seine Frage auch so beantwortete. „Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?“, seufzte er freudlos und rieb sich mit seiner linken Hand über die Stirn. Seltsamerweise machte seine Betroffenheit sie wieder wütend. Er liebte diese Claudia, schön! Aber dann sollte er bitte nicht so tun, als würde sie ihm auch irgendetwas bedeuten. „Ist doch nicht dein Problem, oder?“, zischte sie und verschränkte die Arme abwehrend vor der Brust. Sie wusste, dass sie sich kindisch verhielt, aber es war ihr momentan herzlich egal. Hauptsache, er würde sie endlich gehen lassen. „Dass du dir damit ein Disziplinarverfahren eingehandelt hast, ist allerdings dein Problem. Aber mich interessiert es, warum du dir meinetwegen solch einen Ärger einhandelst. Du hast den Shinigami nicht einmal meinen Aufenthaltsort verraten, sonst hätten sie mich ziemlich schnell am Weston College gefunden. Warum nicht?“ „Wir hatten immerhin einen Deal, erinnerst du dich? Ich habe mich nur daran gehalten“, erwiderte sie kühl, doch so leicht gab sich der Totengräber nicht zufrieden. Er spürte, dass da noch mehr dahinter steckte und dieses Mal würde er sich nicht eher abwimmeln lassen, bis er eine ehrliche Antwort von ihr bekommen hatte. „Du stiehlst dich mitten in der Nacht davon, hast mich aber nicht an die Shinigami verraten. Du nimmst ein Disziplinarverfahren auf deine Schultern um mir meine Medaillons zurückzubringen, bist aber aus einem mir unerklärlichen Grund wütend auf mich. Warum?“ Kalter Schweiß stand ihr inzwischen auf der Stirn. Pochende Kopfschmerzen gesellten sich zu ihrem wild schlagenden Herz dazu. Die 19-Jährige hatte mittlerweile das Gefühl, als würde sich eine Schlinge immer enger und enger um ihren Hals zuziehen, mit jedem weiteren Wort, das Cedric sagte. Sie spürte die Wahrheit – die ehrliche Antwort, die er von ihr hören wollte – bereits auf ihrer Zunge, aber sie brachte es einfach nicht über sich. Schon so oft hatte sie es ihm sagen wollen, doch jedes Mal hatte sie im entscheidenden Moment den Schwanz eingezogen und den Mund gehalten. Dabei drängte alles in ihr sie dazu, die Worte endlich auszusprechen. Es endlich hinter sich zu bringen. Anscheinend war die Geduld des Bestatters nun endgültig aufgebraucht, denn seine Stimme wurde lauter und vor allen Dingen schneidender. „Warum, Carina? Sag es mir endlich!“ Es war zu viel. Es war einfach zu viel. Noch während er sprach hatte Carina das Gefühl, dass sich ihre Zunge plötzlich löste und der Knoten in ihrem Hals platzte. Ihr Mund reagierte wesentlich schneller als ihr Gehirn. „Weil ich dich liebe, du Idiot!“, schrie – nicht sagte, schrie – sie ihm entgegen und jegliche Gespräche im Raum verstummten schlagartig. Tom, der gerade zufällig an ihrer Sitznische vorbeigegangen war, blieb wie vom Donner gerührt stehen. Er sprach vielleicht nicht sonderlich gut Englisch, aber diesen Satz hatte sogar er verstanden. Man konnte nicht genau sagen, wer von den Beiden entsetzter aussah. Cedrics Augen waren gigantisch groß geworden, doch in dem Punkt stand Carina ihm in nichts nach. Sein Mund war leicht geöffnet, doch der Shinigami schien das Atmen komplett eingestellt zu haben. Er starrte sie lediglich entgeistert an. Die Blondine blinzelte einmal. Dann ein zweites Mal. Und schließlich wurde ihr bewusst, was sie ihm da gerade an den Kopf geworfen hatte. Um Gottes Willen, was hatte sie getan? Der klägliche Rest Farbe, der in ihr Gesicht zurückgekehrt war, verschwand erneut. Sie hatte es ihm tatsächlich gesagt. Die drei magischen Worte. Etwas von dem sie immer gedacht hatte, dass es sie mit Freude erfüllen würde. Doch das tat es nicht. Ganz im Gegenteil. Es schenkte ihr keinerlei Art der Befreiung, es tat einfach nur noch mehr weh. Zu wissen, dass er ihre Gefühle nicht erwiderte. Ihr Körper handelte fast wie von alleine, als sie aufsprang und seine derzeitige Schockstarre sogleich für sich ausnutzte. Der Bestatter konnte gar nicht so schnell reagieren. Bis er ihre Bewegung registriert hatte, war sie bereits aus seiner Sichtweite verschwunden und keine Sekunde später hörte er die Türklingel, als sie aus dem Café rannte. Schlagartig war er wieder in der Realität angekommen. Sein Kopf flog herum, seine Augen – die bis eben noch vor lauter Überraschung geweitet gewesen waren – verengten sich. Er ignorierte Tom, der ihn vorwurfsvoll anstarrte, erhob sich nun ebenfalls flink von seinem Platz und rannte der jungen Frau hinterher. Noch einmal würde er sie nicht einfach so gehen lassen. Carina hatte inzwischen die Straße auf der das Café lag verlassen und eilte kopflos durch die dunkle Stadt. Die frische Luft tat gut und sorgte dafür, dass sie wieder etwas besser atmen konnte. Doch das Chaos in ihr beseitigte sie nicht. „Was hab ich getan? Was hab ich nur getan? Wieso zum Teufel habe ich es ihm bloß gesagt?“ Schon öfters hatte sie sich über sich selbst geärgert, aber dieser Moment übertraf alle bisherigen. Wie hatte sie nur so dumm sein können? „Carina.“ Es benötigte all ihre Selbstbeherrschung, sie verbat ihrem Körper sich nach seiner Stimme umzudrehen. Der Totengräber würde sie in wenigen Sekunden eingeholt haben, wegzulaufen war eigentlich vollkommen sinnlos. Und doch blieb sie nicht stehen. „Warum kann er mich nicht einfach in Ruhe lassen?“ „Carina!“ Seine Stimme wurde lauter und sorgte dafür, dass sich ein altbekanntes Brennen in ihren Augenwinkeln bemerkbar machte. Nur zu gerne hätte sie es auf ihre Schwangerschaftshormone geschoben, aber das stimmte nicht. Allein er schaffte es, dass sie ihre komplette Maske fallen ließ. Obwohl die 19-Jährige es geahnt hatte, kam es doch unerwartet, als sich von hinten eine Hand um ihren linken Unterarm legte und sie herum wirbelte. Im nächsten Moment wurde ihr Rücken gegen eine Wand gedrückt, jeweils eine Hand lag links und rechts neben ihrem Kopf. Seine Arme schnitten ihr jegliche Fluchtmöglichkeit ab. Der Silberhaarige hatte sie in eine kleine Gasse gezogen, um sie herum herrschte Totenstille. Kein Wunder, um diese Uhrzeit hielt sich niemand mit klarem Verstand in solchen Seitenstraßen auf. Trotz der Tatsache, dass sie ihrer eigenen Stimme nicht vertraute, erwiderte die Schnitterin ein zittriges „Lass mich in Frieden.“ Es klang brüchig und hauchdünn, dennoch war sie froh noch nicht in Tränen ausgebrochen zu sein. Was aber wohl auch daran lag, dass sie stur zu Boden starrte. Ihr Gegenüber gab ein Geräusch von sich, eine Mischung aus einem Schnauben und einem Knurren. „Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich dich nach so einer Ansage einfach so gehen lasse?“ Er konnte sehen, wie sich ihr Kiefer verhärtete. „Vergiss einfach, was ich gesagt habe“, antwortete sie, woraufhin ihm vor Fassungslosigkeit leicht der Mund aufklappte. „Das ist jetzt nicht dein Ernst? Du verkündest mir, dass du mich…dass du…“, er atmete einmal tief durch, weil er es immer noch kaum fassen konnte, „dass du mich liebst und erwartest jetzt, dass ich das einfach so vergesse?“ Carina schwieg und starrte immer noch konzentriert nach unten, während ihre Augen im Schatten lagen. Gereizt schob er seine rechte Hand unter ihr Kinn und zwang sie somit ihm direkt ins Gesicht zu sehen. „Antworte mir, Carina.“ Er schaute in ihre glasigen Augen und wusste sofort, dass sie sich selbst davon abhielt den Tränen freien Lauf zu lassen. Es war wie ein Stich, der ihn direkt in die Brust traf. Er mochte den Anblick nicht. Sie sollte nicht so unglücklich gucken. Nicht wegen ihm. „…Wie lange schon?“, fragte er schließlich. Carina verstand seine Frage auf Anhieb. „Was spielt das für eine Rolle?“, fragte sie schwach, doch er erlaubte ihr keine Ausflüchte mehr. „Wie lange schon, Carina?“ Ein Zittern fuhr durch ihren Körper, ihr Atem bildete eine kleine sichtbare Wolke in der Luft. Die erste Träne quoll über und hinterließ eine feuchte Spur auf ihrer Wange. „Schon die ganze Zeit, du Vollidiot“, flüsterte sie, während die zweite Träne über ihre andere Wange kullerte. Entsetzen zeichnete sich nun ganz offenkundig in seinem Gesicht ab. Er hatte gewusst, dass sie ihn attraktiv fand und auch, dass sie ihn begehrte. Andersrum war es immerhin ganz genauso. Aber er hatte nicht damit gerechnet, dass sie tiefer gehende Gefühle für ihn hegte. Und diese Gefühle waren aufrichtig, das konnte er mit nur einem Blick in ihre Augen sehen. „Wieso ist mir das nicht früher aufgefallen?“ So manche ihrer Handlungen ergaben nun viel mehr Sinn. Er dachte daran, wie zornig sie damals geworden war, als er sie nach dem Sex auf dem Schreibtisch einfach hatte stehen lassen. Mit welchem Blick sie ihn angesehen hatte, als er sie geschlagen hatte und ihre anschließende Distanziertheit. Und ihre verhaltenen Reaktionen, als er über Claudia gesprochen hatte. Ein erneuter Stich fuhr durch seine Brust. Er hatte Carina wirklich alles erzählt. Wie sehr er Claudia liebte, wie sehr ihr Tod ihn getroffen hatte und wie weit er gehen würde, um sie von den Toten zurückzuholen. All das hatte er einer Frau erzählt, die in zu diesem Zeitpunkt bereits… Er fühlte sich wie der letzte Trottel. Zum ersten Mal seit einer langen, langen Zeit wusste er tatsächlich nicht, was er jetzt zu tun hatte. Carina schien die ganze Situation mehr als nur unangenehm zu sein, dennoch wusste sie anscheinend genau, was er tun sollte. „Was soll das Ganze hier noch, Cedric? Wir wissen doch beide ganz genau, dass du Claudia liebst.“ „Und nicht mich“, fügte sie gedanklich hinzu. Obwohl ihr Gesicht von Tränenspuren gezeichnet war, sah sie ihn mit dem gleichen entschlossenen Ausdruck an, den er immer schon bemerkenswert an ihr gefunden hatte. „Warum machst du es uns beiden also nicht leichter und lässt mich endlich gehen? Dann kann ich nach London zurückkehren und wir müssen uns nie wiedersehen.“ Er starrte sie an, unfähig auch nur ein einziges Wort darauf zu erwidern. Sie hatte recht mit allem, was sie gesagt hatte und dennoch… dennoch war da irgendetwas in ihm, das ihn daran hinderte ihren Worten Folge zu leisten und einfach so zu verschwinden. Das gleiche Irgendetwas, das dafür gesorgt hatte, dass er die letzten vier Monate jeden Tag an sie gedacht und sich gefragt hatte, was sie wohl machte und wie es ihr ging. Gefühle deuten und verstehen zu können war immer schon so eine komplizierte Sache für ihn gewesen. Bei anderen Menschen fiel es dem Shinigami teilweise recht leicht, aber wenn es um ihn ging blickte er manchmal einfach selbst nicht durch. Und so war es auch jetzt. Er wusste nicht, was er wollte. Er wusste lediglich, was er nicht wollte. Er wollte nicht, dass sie weinte. Und er wollte nicht, dass sie sich nie wiedersahen. „Warum sagt er denn jetzt nichts mehr?“, fragte sich währenddessen Carina, die immer noch mit dem Rücken zur Wand stand. Dass er sie ausschließlich schweigend anstarrte, machte sie nervös. „Cedric, was-“, begann sie erneut, konnte ihren Satz allerdings nicht mehr beenden. Plötzlich neigte der silberhaarige Bestatter seinen Kopf nach vorne und küsste sie aus heiterem Himmel mitten auf den Mund. Sie keuchte vor lauter Überraschung auf, ihr ganzer Körper versteifte sich aufgrund der unerwarteten Berührung. Sie blinzelte und für einen ganz, ganz kurzen Moment war sie sogar versucht den Kuss zu erwidern. Doch noch im gleichen Augenblick spürte sie wieder einen sanften Stupser an ihrem Bauch, der sie mit sofortiger Wirkung wieder in die Wirklichkeit zurückbrachte. Die 19-Jährige riss ihre Hand so schnell nach oben, dass der Undertaker es nicht kommen sah. Sein Kopf wurde zur Seite weggeschleudert, als Carina ihm mit der flachen Hand eine schallende Ohrfeige verpasste. Und zwar eine, die sich gewaschen hatte. Beinahe sofort rötete sich die getroffene Stelle und auch die Kälte seiner Hand linderte den Schmerz nicht, als er sie sich auf die Wange presste. „Du… du Arschloch!“ Carina war so zornig, sie konnte im ersten Moment kaum sprechen. Die Tränen liefen ihr nun ununterbrochen über das Gesicht, doch dieses Mal waren es Tränen der Wut. „Wieso hast du das getan?“, brüllte sie so laut, dass in ein paar Häusern die Straße runter die Fenster geöffnet wurden. Anscheinend wusste der Bestatter selbst nicht so genau, warum er sie geküsst hatte. Seine Antwort kam jedenfalls recht zögerlich, was bei ihm an und für sich schon ziemlich untypisch war. „Weil ich es so wollte. Ich schätze… ich wollte, dass du aufhörst so unglücklich zu sein.“ „Ja, das ist dir ja hervorragend gelungen“, zischte sie und wischte sich erfolglos über die tränennassen Wangen. Ein Schluchzen entfuhr ihrer Kehle. „Du hast überhaupt nichts kapiert, oder? Ich will nicht nur die zweite Wahl sein. Ich will mich nicht mit einer Frau messen, die nicht einmal mehr am Leben ist. Du hast mehr als nur einmal gezeigt, wie weit du für sie zu gehen bereit bist, Cedric. Ich weiß das alles längst. Und es macht mich kaputt.“ Sie stieß ein bitteres Lachen hervor. „Es macht mich kaputt und das Einzige, was ich dagegen unternehmen kann ist, dass ich mich von dir fern halte. Vielleicht hört es dann irgendwann auf wehzutun. Aber das du versuchst dein schlechtes Gewissen zu beruhigen, indem du mich küsst, ist wirklich das Allerletzte, Cedric.“ „Das hat nichts mit meinem schlechten Gewissen zu tun“, erwiderte der Silberhaarige ernst, während eben genanntes Gewissen aufgrund ihres sichtbaren Schmerzes noch schwerer wurde. Das war nicht der Grund gewesen, warum er sie geküsst hatte. Die Wahrheit war: Er wusste den Grund selbst nicht so genau. Es war mehr ein Instinkt gewesen. Ein innerer Impuls, dem er sich nicht hatte entziehen können. „Es ist mir scheißegal, warum du es getan hast. Ich will, dass du gehst. Mach deine Experimente, hol von mir aus deine Claudia zurück. Aber lass mich endlich in Ruhe. Du hast schon genug Schaden angerichtet, es reicht.“ Ihre Tränen waren nun endlich versiegt, doch es brachte ihr keine Erleichterung. Sie fühlte sich leer, wie eine hohle Puppe. Carina konnte sehen, wie sich seine Miene ein wenig verfinsterte. Sie verstand nicht wieso. Überhaupt war es ihr ein Rätsel, warum er sich plötzlich so für ihre Gefühle interessierte. Damals, als er sie wegen ihrem Angriff auf seine Bizarre Doll geschlagen hatte, war ihre Gefühlswelt für ihn unwichtig gewesen. Warum also allem Anschein nach jetzt nicht mehr? „Warum frage ich mich das überhaupt? Es spielt doch jetzt ohnehin keine Rolle mehr…“ Sie hielt seinem Blick stand und versuchte das Brennen in ihrer Kehle zu ignorieren. Wahrscheinlich würde sie sich nachher, wenn sie wieder im Hotelzimmer war, übergeben. Mehrere lange Sekunden vergingen, schließlich kam wieder Bewegung in den Körper des Silberhaarigen. Er schloss die Augen und senkte leicht den Kopf, fast schon ein wenig reumütig. „Es tut mir leid“, murmelte er, verpasste ihrem vernarbten Herzen dadurch einen weiteren Schnitt. Carina versuchte angestrengt nicht zu blinzeln, als seine Form langsam verblasste und er bereits im nächsten Moment vollkommen verschwunden war. Sie hingegen blieb allein in der Gasse zurück. Allein mit ihrem Schmerz, allein mit ihrem Kummer. Allein mit dem Kind, das niemals einen Vater haben würde. Allein… Kapitel 57: Eine Reise geht zu Ende ----------------------------------- „Du hast WAS getan?“ Carina verdrehte die Augen, was Alice aber durch das Kommunikationsgerät Gott sei Dank nicht sehen konnte. „Alice, das ist jetzt bereits das dritte Mal, dass du mir diese Frage stellst.“ „Ja und sie ist durchaus berechtigt! Verdammt noch mal Carina, glaubst du denn wirklich, er hat dich einfach so ohne Grund geküsst? Der Kerl hat Gefühle für dich, lass dir das von mir gesagt sein.“ Die Blondine seufzte. „Nein, das hat er nicht.“ Sie seufzte ein weiteres Mal. „Und selbst wenn“, fuhr sie fort und konnte nicht verhindern, dass sich ein bitterer Unterton in ihre Stimme schlich. „dann käme ich immer noch nicht an Claudia heran.“ Am anderen Ende der Leitung schnaubte die Schwarzhaarige laut auf. „Vergiss diese Claudia und hab mal ein wenig mehr Selbstvertrauen. Du bist stark, du bist schön und wirst in nicht allzu ferner Zukunft die Mutter seines Kindes sein. Alles genug Gründe, dass er sich für dich entscheiden wird.“ „So einfach ist das aber nicht, Alice. Vor allem der letzte Punkt mag zwar in dieser Zeit eine entscheidende Rolle spielen, aber nicht in der Zukunft. Ganz ehrlich, da ist es gar nicht so selten, dass ein Mann seine schwangere Freundin sitzen lässt. Außerdem kannst du aufgrund eines Kindes nicht eine komplette Beziehung aufbauen, verdammt.“ Sie machte eine kurze Kunstpause, um einmal tief durchzuatmen. „Ich habe meine Entscheidung bereits getroffen. Akzeptiere das bitte, Alice.“ Dieses Mal war es ihre beste Freundin, die seufzte. „Ich weiß, ich weiß. Trotzdem. Ich hätte mir einfach so gerne ein Happy End für euch beide gewünscht…“ Carina lächelte leicht. „Ich auch. Aber manche Dinge sollen anscheinend einfach nicht sein.“ Beide Frauen schwiegen einige Sekunden lang und hingen ihren eigenen Gedanken nach. Schließlich ergriff die Rezeptionistin wieder das Wort. „Und was hast du jetzt vor?“ Carina zuckte mit den Schultern, gleich darauf fiel ihr ein, dass ihre Freundin auch das ja gar nicht sehen konnte. „Keine Ahnung. Ich hatte mir überlegt, ich könnte doch mal nach Köln reisen. Das ist nicht allzu weit von meiner Heimat entfernt und ich war in der Zukunft ziemlich oft dort. Mich würde es wirklich interessieren, wie viel Ähnlichkeit zwischen dem jetzigen Köln und dem von 2015 besteht.“ Sie überlegte kurz. „Tja und dann könnte Grell mal langsam mit seiner Idee bezüglich meines künftigen Unterschlupfs herausrücken.“ „Ich hoffe wirklich, dass er da was in Petto hat. Ich würde dir ja gerne was anbieten, aber ich habe leider absolut keine Idee“, sagte Alice und Carina konnte sich beinahe bildlich vorstellen, wie sie sich genervt am Kopf kratzte. „Keine Sorge“, erwiderte Carina und musste nun ein wenig hinterhältig grinsen. „Im Notfall lasse ich mir von Grell einfach sagen, welcher alleinstehende Hausbesitzer ohne Erben in nächster Zeit das Zeitliche segnet.“ „…Das meinst du nicht ernst“, antwortete Alice nach einer kurzen Pause so entsetzt, das Carina laut losprusten musste. „Du bist so gemein, Carina“, rief Alice über ihr Gelächter hinweg und klang tatsächlich ein wenig beleidigt. „Entschuldige, aber ich musste mir gerade einfach deinen fassungslosen Gesichtsausdruck vorstellen“, gluckste die 19-Jährige weiter und wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel. Am anderen Ende der Leitung hörte sie ein tiefes Schnauben. „Mensch, das war nicht lustig. Grell würde ich so eine Tat glatt zutrauen und da du ja seine Schülerin gewesen bist…“ „Um Gottes Willen, Alice! Ich würde doch nie in einem Haus wohnen wollen, was mir nicht zusteht! Echt mal, traust du mir das wirklich zu?“ Nun war es eindeutig die Blondine, die beleidigt klang. Doch gleich darauf hörte sie ein leises Kichern durch den Hörer. „Natürlich nicht“, lachte Alice und Carina begriff zu spät, dass die Schwarzhaarige nun wiederum sie reingelegt hatte. „Okay, das hatte ich wohl verdient“, gab sie zu und ließ sich rückwärts auf ihr Bett fallen. Es war wirklich entspannend einfach mal wieder mit Alice zu plaudern. Es brachte ein Stück Normalität in ihr Leben zurück, wofür Carina mehr als alles andere dankbar war. „Wann wirst du aufbrechen?“ „Gleich morgen früh. Ich möchte keinen Tag länger als nötig in dieser Stadt bleiben. Sie hat mir ohnehin nichts als Unglück gebracht.“ „Wobei ich das meiste davon selbst verursacht habe“, fügte sie gedanklich hinzu und wäre am liebsten erneut in Tränen ausgebrochen. Doch ihr Körper schien fertig damit zu sein. Anscheinend hatte sie alle Tränen aufgebraucht, die ihre Augen hatten aufbringen können. Alles was blieb war der dumpfe Schmerz in ihrer Brust. „Okay, aber sei bitte vorsichtig. Du bist nach wie vor auf der Flucht vor dem Dispatch.“ „Ich passe schon auf mich auf. Auf uns“, korrigierte sie und unterdrückte ein Gähnen. „Würdest du bitte Grell bei Gelegenheit über alles informieren? Er hat morgen Frühschicht, daher werden wir vor übermorgen sicherlich keine Möglichkeit mehr haben miteinander zu sprechen. Ich kann ja schlecht in der Öffentlichkeit an das Telefon gehen.“ „Gut, ich sag ihm Bescheid. Aber ich kann dir jetzt schon prophezeien, dass ihm das Ganze nicht gefallen wird. Wahrscheinlich werde ich nach seinem Anfall halb taub sein.“ „Ich entschuldige mich schon mal vorab“, lachte Carina und gähnte erneut. „Geh ins Bett und schlaf dich bitte richtig aus, bevor du morgen aufbrichst. Die ganze Aufregung war weder für dich, noch für das Baby gut.“ „Ich weiß. Danke, dass du immer auf mich achtest, Alice. Ich fürchte in diesem Punkt bin ich eine absolute Niete. Gute Nacht und schlaf gut. Ich melde mich sobald ich kann.“ „Das ist doch mein Job als beste Freundin. Schlaf auch gut, wir hören uns.“ Kurz darauf ertönte das leise Piepsen, das das Ende des Gespräches anzeigte, und Stille senkte sich wieder über den Raum. Diese verdammte Stille… „Wenn ich nicht Alice und Grell hätte, mit denen ich öfters reden kann, dann würde mich diese Stille wirklich noch in den Wahnsinn treiben“, murmelte Carina und zog sich die Decke fest um den Körper, ihren Bauch dabei sanft reibend. Obwohl seit ihrem Aufeinandertreffen bereits mehrere Stunden vergangen waren, hatte sie immer noch Cedrics Geruch in der Nase. „Dein Papa ist so ein Vollidiot“, flüsterte sie und streichelte weiterhin über die leichte Wölbung. Sie seufzte, wie so oft in letzter Zeit. „Und deine Mama wie es scheint auch“, fügte sie hinzu und rief sich das Gespräch vom Nachmittag in Erinnerung. „Du warst schon immer eine schlechte Lügnerin, Carina.“ Die 19-Jährige schluckte. Wenn der Bestatter jemals herausfinden würde, wie sehr sie ihn an diesem Tag tatsächlich belogen hatte, dann würde er ihr mit ziemlicher Sicherheit den Hals umdrehen… Am nächsten Morgen verließ sie bereits früh das Hotel, jedoch nicht ohne sich von der freundlichen Frau des Besitzers zu verabschieden. Die ältere Dame wünschte ihr und dem Baby alles Gute und schlug ihr vor, doch nach der Geburt einmal mit ihrem Mann zusammen in das Hotel zurückzukehren. Zu diesem Zeitpunkt verrutschte Carinas Lächeln ganz kurz, dennoch stimmte sie der Frau zu und versprach ihr mit ihrem Ehemann zusammen darüber nachzudenken. „Ich hatte beinahe schon wieder vergessen, dass man als schwangere Frau entweder verheiratet ist oder eine Hure“, schoss es ihr durch den Kopf, während sie in die noch recht kühle Morgenluft hinaustrat und sich auf den Weg in Richtung Bahnhof machte. Vermutlich war es das Beste, wenn sie alle in dem Glauben ließ, dass sie tatsächlich nicht alleinstehend war. Sie konnte sagen, dass ihr Ehemann Soldat und zurzeit nicht in England stationiert war. Oder ein wichtiger Firmenchef auf Geschäftsreise. „Nun ja, irgendetwas in der Art. Ich hab schon genug Probleme, da brauch ich nicht auch noch Leute, die hinter meinem Rücken über mich tuscheln.“ Sie kaufte ihre Fahrkarte direkt am Schalter und stieg keine 15 Minuten später in die Dampflokomotive ein, die auf direktem Wege nach Köln fuhr. Doch im Gegensatz zu ihrer letzten Zugfahrt war sie dieses Mal allein in ihrem Abteil und fand diesen Umstand gar nicht mal so schlecht. Bei ihrem momentanen Gesichtsausdruck hätten sogar Kinder angefangen zu weinen. Und die Schnitterin hatte so überhaupt keine Lust eine freundliche Miene zu ziehen. Darin war sie mittlerweile zwar wirklich gut, aber jeder, der sie auch nur ein bisschen kannte, hätte sofort bemerkt, dass das Lächeln ihre Augen nicht erreichte. Dass sie stumpf blieben. Carina bemerkte es ja selbst, wenn sie in den Spiegel schaute. „Ob sich das jemals wieder ändern wird? Ob es jemals leichter wird?“, dachte sie und schloss grübelnd die Augen. Angeblich heilte Zeit alle Wunden, aber dieser Spruch war Carina immer schon suspekt vorgekommen. War es nicht viel mehr so, dass man mit der Zeit einfach lernte besser mit dem Schmerz zu leben? Die Fahrt dauerte einen guten halben Tag und als die junge Frau am späten Nachmittag am Kölner Hauptbahnhof ausstieg, kam sie nicht umhin sofort Vergleiche zwischen der Vergangenheit und Zukunft zu ziehen. Dort, wo nun teilweise noch leere Stellen waren oder Bänke für die Zugreisenden, befanden sich im 21. Jahrhundert Unmengen an Geschäften. Dennoch hatte das riesige Gebäude den gleichen Charme. „Was sich hier noch alles verändern wird. Unglaublich…“ Unzählige Menschen strömten mit ihr zusammen aus dem Bahnhofsgebäude heraus, dessen Ausgang zurzeit jedoch noch nicht dort war, wo Carina ihn in Erinnerung hatte. Er war genau auf der anderen Seite. Ein kleiner Umweg war nötig, um auf die Nordseite zu gelangen und gleich darauf konnte man genau erkennen, wer sich zum ersten Mal in Köln befand und wer nicht. Denn viele der Touristen blieben sofort stehen und bestaunten das Wahrzeichen der Stadt, den Kölner Dom. „Kaum zu glauben, dass er erst vor 9 Jahren fertig gestellt worden ist. Wenn ich mich recht entsinne, war er bis 1884 sogar noch das höchste Gebäude der Welt. Na ja, bis er vom Washington Monument abgelöst wurde.“ Carina fand es auf eine seltsame Art und Weise schön mal wieder ein vertrautes Bild vor Augen zu haben. Sie trat ein wenig näher und legte den Kopf in den Nacken, um bis ganz nach oben schauen zu können. „Kommt einem echt so vor, als würde die Spitze schwanken, so hoch ist das Ding.“ Einige Sekunden lang genoss sie einfach den gewohnten Anblick, doch schlussendlich riss die untergehende Sonne die Shinigami aus ihren Gedanken. In ein, maximal zwei Stunden würde es dunkel sein und sie hatte sich noch keine Bleibe gesucht. „Dann mal los“, murmelte sie sich selbst zu und machte sich auf den Weg in die Innenstadt. Es dauerte gar nicht so lange, wie Carina vermutet hatte. Nicht mal eine Stunde später bezog sie ihr Einzelzimmer, das sich über einer der unzähligen Kneipen in Köln befand. Es war nicht besonders groß, aber die werdende Mutter hatte ohnehin nicht vor ewig in der deutschen Stadt zu verbleiben. Sie wollte einfach für ein paar Tage den ganzen Stress vergessen und sich ausnahmsweise nur auf ihre eigenen Bedürfnisse konzentrieren. Doch für den heutigen Tag war es definitiv genug. Ohne auch nur irgendetwas von ihren Sachen auszupacken, ließ sich die 19-Jährige auf das Bett fallen und schlief innerhalb von wenigen Sekunden ein. Die Nacht verlief ruhig, erst am nächsten Morgen wurde Carina vom regen Treiben in der Kneipe unter ihr geweckt. Ein leichtes Lächeln legte sich auf ihre Lippen. „Schade, dass wir Juli haben und nicht November. Dann wäre hier schon wieder der Karneval los.“ Die fünfte Jahreszeit hatte sie schon von klein auf immer gemocht. Die bunten Kostüme, die Musik, den Umzug in ihrem kleinen Dorf und diese ansteckende Fröhlichkeit. Im Karneval war es völlig egal woher man kam oder welche Vorgeschichte man hatte. Im Feierrausch waren alle Menschen gleich und diese Einstellung hatte sie von Anfang an fasziniert. „Wer weiß, vielleicht kommen wir noch einmal hierher zurück, wenn du auf der Welt bist“, flüsterte sie grinsend und tätschelte ihren Bauch. „Aber besser erst in ein paar Jahren. Mit einem Baby an Karneval in Köln zu sein, stelle ich mir dann doch nicht so prickelnd vor.“ Gähnend machte sie ihr Bett zurecht, wusch sich anschließend in der wirklich kleinen Badewanne und zog sich zügig an. Kurz aktivierte sie das Kommunikationsgerät, jedoch blieb es sowohl bei Alice, als auch bei Grell stumm. „Sind bestimmt beide auf der Arbeit“, seufzte die Blondine und beschloss es am Abend noch einmal zu versuchen. Ausgehfertig stieg sie die Holztreppen hinunter und frühstückte an einem kleinen Tisch, der direkt am Fenster stand. Genüsslich schloss sie die Augen, als sie zum ersten Mal seit 3 Jahren wieder deutsches Brot aß. Es war weich und sogar noch warm. „Gott, jetzt weiß ich wieder, warum wir Deutschen für unser Brot und Bier berühmt sind. Letzteres wird aber leider noch etwas warten müssen.“ Erstaunlich gut gelaunt – jedenfalls für ihre momentanen Verhältnisse – verließ sie die Gaststätte und schaute sich die Innenstadt an. Immer wieder entdeckte sie Gemeinsamkeiten zur Zukunft, aber auch Unterschiede. Wie bereits London konnte auch Köln die Armut der unteren Bevölkerungsschicht nicht verstecken. Überall konnte Carina Obdachlose sehen, die sich in kleinen Gassen herumtrieben oder am Straßenrand saßen und auf ein wenig Geld der vorbeigehenden Passanten hofften. „Es ist traurig, wie weit die Verhältnisse in dieser Zeit auseinandergehen.“ Doch es zeigte ihr einerseits auch, dass sie es gar nicht mal so schlecht getroffen hatte. Sie hatte Geld, ein Dach über dem Kopf und außerdem Freunde, die ihr zur Seite standen. „Dagegen sind meine Probleme eigentlich schwindend gering. Dennoch…“ Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, dann hätte sie lieber Geldprobleme gehabt, anstatt eines gebrochenen Herzens. Carina schüttelte den Kopf. „Hör auf Trübsal zu blasen“, sagte sie und versuchte die negativen Gedanken von sich wegzuschieben. Jetzt würde sie erstmal weiter auf Erkundungstour gehen! Die Tage gingen ineinander über und ehe Carina sich versah, war sie bereits eine ganze Woche in der Metropole. Die meiste Zeit verbrachte sie damit sich die alten Sehenswürdigkeiten anzusehen, darunter auch einige Kirchen und Museen. Allerdings verbrachte sie auch viel Zeit am Rhein. Meistens setzte sie sich mitsamt einer Decke auf eine Wiese und schaute den Schiffen dabei zu, wie sie über den großen Fluss fuhren. Die Ruhe hatte etwas Entspannendes an sich und sorgte dafür, dass ihr Körper endlich einmal abschalten konnte. Mit ziemlicher Sicherheit hätte sie es noch eine ganze Zeit lang dort ausgehalten, doch ein Anruf von Grell brachte sie dazu ihre Meinung zu ändern. „Ich hab dir jetzt endliche eine geeignete Unterkunft besorgt“, verkündete er ihr ganz stolz am Abend des siebten Tages und Carina konnte sich seine vor Glück strotzende Miene beinahe bildlich vorstellen. „Ach ja? Wo? Und wie bist du da dran gekommen?“, fragte sie verwundert nach, während sich gleichzeitig eine tiefe Erleichterung in ihr breit machte. Ihr Kind brauchte ein Zuhause und keine Mutter, die ständig von einem Ort zum anderen wechselte. „Hier in England natürlich. Aber genaueres verrate ich dir noch nicht, das wird eine Überraschung.“ „Och Grell, du weißt genau, dass ich Überraschungen hasse“, stöhnte die 19-Jährige und zog einen leichten Schmollmund. „Ach papperlapapp, Vorfreude ist die schönste Freude. Übe dich also noch ein wenig in Geduld.“ Carina seufzte tief. „Na schön. Und was hält Alice von deiner Idee?“ „Glaub es oder glaub es nicht, aber sie fand sie richtig gut. Und das zu ihrer eigenen Schande, wenn ich zitieren darf.“ Die junge Frau lachte. „Dann kann dein Vorschlag ja wirklich nicht schlecht sein.“ „Das sage ich doch schon die ganze Zeit. Also, wann kannst du hier sein?“ „Hier?“, fragte sie verdutzt nach und der Rothaarige antwortete sogleich. „Na, in London natürlich. Du kommst wieder auf dem gleichen Weg zurück, den du damals genommen hast und dann teleportiere ich uns zu deinem neuen Zuhause.“ Die Schnitterin hob eine Augenbraue. „Hältst du das mit dem Teleportieren wirklich für eine gute Idee? Das letzte Mal bin ich damit wirklich hart auf die Schnauze gefallen.“ „Keine Sorge. Das Ganze wird doch während meiner Schicht passieren. Da wird sich keiner wundern, wenn man Spuren meiner Energie in London wahrnimmt.“ „Auch wieder wahr“, gab Carina zu und überlegte kurz. „Wenn ich morgen aufbreche, dann könnte ich übermorgen bei dir sein. Aber ich muss mir morgen früh dringend noch ein paar neue Kleider, Blusen und Röcke kaufen. Diese hier werden nämlich langsam etwas eng.“ Kurz musste sie über ihre eigenen Worte schmunzeln. Wenn sie vor ein paar Jahren so einen Satz gesagt hätte, dann wäre sie wahrscheinlich zutiefst deprimiert gewesen. Nun machten ihr die paar zusätzlichen Kilos kaum etwas aus. „Fabelhaft! A-also nicht, dass deine Sachen zu eng werden, sondern deine Rückkehr“, korrigierte er schnell und lachte nervös. Er als Lady wusste immerhin, dass man eine Frau besser niemals auf ihr Gewicht ansprach. „Das will ich doch auch hoffen“, erwiderte sie gespielt böse, lachte aber sogleich auf. „Ich freue mich auch, Grell!“ Als Carina das zweite Mal in kurzer Zeit mit der Fähre fuhr, stellte sie relativ schnell eines fest: Sie hasste Schifffahrten! Bereits nach einer Stunde wurde ihr wieder so schlecht, dass sie die restliche Reise entweder über die Reling gebeugt oder liegend auf ihrem Bett verbringen musste. „Da bin ich schon ein Shinigami und werde trotzdem seekrank. Das gibt’s doch nicht“, stöhnte sie und versuchte den Geschmack von Erbrochenem mit einem Becher Tee aus ihrem Mund zu spülen. Von ihrer Schwangerschaft kam es jedenfalls nicht, denn in den letzten Wochen auf festem Boden war es ihr gesundheitlich blendend gegangen. „Das ist das zweite und letzte Mal, dass ich mit einer Fähre fahre. Beim nächsten Mal teleportiere ich mich. Scheiß auf die Konsequenzen.“ Kurz, bevor sie in London von Bord ging, veränderte sie in ihrer Kabine ihr Äußeres. Ihr blondes, langes Haar wurde lockig und tiefbraun, ihre Augen nahmen die Farbe von Vollmilchschokolade an. Sommersprossen ploppten auf ihren Wangen auf, ihrem ganzen Körper verpasste sie einen etwas dunkleren Hautton. Zusammen mit ihrem hellgelben Kleid, in dem ihre Schwangerschaft für jeden gut ersichtlich war, sah sie nun wie eine gänzlich andere Person aus. So lief sie zumindest keine Gefahr von irgendeinem Shinigami erkannt zu werden. „Selbst Grell wird Schwierigkeiten haben mich in diesem Aufzug zu erkennen“, grinste Carina in sich hinein und sie sollte Recht behalten. Von weitem konnte sie den langen, roten Haarschopf unter den unzähligen Leuten am Hafen ausmachen, der sich immer wieder suchend nach ihr umsah. Kurz streifte sein Blick ihr Gesicht, glitt dann jedoch wieder weiter. Jetzt konnte die 19-Jährige sich ein offenes Grinsen nicht mehr verkneifen. Sie schlich von hinten an ihren Mentor heran und piekste ihm leicht in die Hüfte. Ihm entfuhr ein kleiner, erschrockener Aufschrei und sogleich wirbelte er herum. Der Reaper blinzelte verwirrt, doch als sie ihm in alter Manier spielerisch zuzwinkerte, erkannte er sie in diesem Körper. Das bekannte Haifischlächeln zierte nun sein Gesicht. Die Todesgötter umarmten einander fest und noch während Grell sie fast erdrückte, konnte Carina ganz deutlich spüren, wie die Welt um sie herum mit einem Mal verschwamm und andere Konturen annahm. Anscheinend hatte der Rothaarige keine Zeit verlieren wollen und sie direkt zum gewünschten Standpunkt gebracht. Als sich ihre Umgebung wieder vollständig materialisiert hatte, ließ Grell endlich von ihr ab und schaute sie grinsend an. „Also, ich muss schon sagen. Deine Verwandlungskünste hast du echt perfektioniert.“ Sie zwinkerte erneut. „Man lernt schnell dazu, wenn man auf der Flucht ist“, antwortete sie und verwandelte sich gleichzeitig wieder in ihr eigenes Ich zurück. Neugierig glitt der Blick der jungen Frau über ihren Standort. Sie befanden sich auf einer kleinen Lichtung, die an einen Wald angrenzte. Carina klappte unwillkürlich der Mund ein Stück auf. Es sah fast aus wie in einem Märchen, überall um sie herum war es grün. Eine riesige Grasfläche, eingerahmt von den Bäumen des eben genannten Waldes. Ein Hügel, auf dem vereinzelt Blumen wuchsen und an dessen Fuß sich ein recht schmaler Fluss entlang schlängelte. Eine vielleicht anderthalb Meter hohe Mauer, die aus aufeinandergestapelten, losen Steinen bestand und das große Gelände ein wenig eingrenzte. Und inmitten dieser ganzen Idylle, die einem Reiseprospekt hätte entsprungen sein können, stand eine außergewöhnlich breite Blockhütte aus Holz. Vom Stil her glich sie einem Bungalow. Es gab eine kleine Treppe, bestehend aus 2 Stufen, die zur Eingangstür und einer schmalen Veranda führte. Carinas Mund klappte immer mehr auf. „Wow“, brachte sie gerade noch so hervor, ehe Grell ihr triumphierend und mit seiner „Death“ Pose ein breites Lächeln zuwarf. „Na, was hab ich gesagt? Umwerfend, oder?“ Umwerfend traf es bei weitem nicht. Carina hätte eher Worte wie phänomenal, bildschön oder überwältigend gewählt. „Wo sind wir hier?“, stellte sie die Frage, die ihr auf der Zunge lag, denn solch eine friedliche ländliche Gegend hatte sie noch nie gesehen. „In Yorkshire, Nordengland. Das ist doch genau die passende Umgebung für dich und das Baby. Hier wird garantiert keiner nach dir suchen, du hast deine Ruhe und kannst machen, was du willst. Hier wohnt weit und breit niemand, den man stören könnte.“ „Nein, ich meinte wo sind wir hier? Wie bist du an diese Hütte gekommen bzw. wie bist du überhaupt auf die Idee gekommen? Du wirst ja wohl kaum durch halb England gelaufen sein und dir am Ende einfach das schönste Fleckchen Land ausgesucht haben, oder?“ Grells Lächeln wurde weicher. „Nein, das habe ich tatsächlich nicht“, gab er zu, seine Stimme nun wesentlich leiser. Carina hob eine Augenbraue. „Also?“, fragte sie und beobachtete ihren besten Freund dabei, wie er die Blockhütte ins Auge fasste. Sein Blick wurde plötzlich merkwürdig melancholisch, was die Blondine seltsam betroffen machte. So hatte Grell wahrlich noch nie geschaut. Ein langgezogener Seufzer entfuhr seinem Mund, während er sich einen imaginären Staubfleck von der Hose abklopfte, um sie nicht ansehen zu müssen. „Das“, begann er zögerlich und wirkte zum ersten Mal, seit Carina ihn kannte, schwermütig. „Das war mal mein Zuhause.“ Kapitel 58: Die erste Geschichte -------------------------------- Carina blinzelte mehrere Male hintereinander und starrte ihren besten Freund lange an, während sie versuchte seine Worte zu verarbeiten. „Dein was?“, fragte sie vorsichtshalber noch einmal nach, möglicherweise hatte sie sich ja nur verhört? Grell räusperte sich. „Mein Zuhause“, sagte er ein zweites Mal und nun weiteten sich Carinas Augen. „Z-zuhause? Du…du bringst mich in dein Zuhause?“ Ein riesiger Kloß bildete sich beinahe sofort in ihrer Kehle. Die 19-Jährige konnte sich noch ganz genau daran erinnern, wie Grell damals auf ihre Frage nach seinem Selbstmord reagiert hatte. „Diese Frage ist auf Platz 1 der Fragen, die du niemals stellen solltest. Es ist nicht nur anmaßend, sondern auch noch äußerst unverschämt einen Shinigami so etwas zu fragen. Oder würdest du gerne an deinen Tod erinnert werden? Abgesehen davon, dass dich die Antwort auf diese Frage überhaupt nichts angeht. Weder bei mir, noch bei sonst irgendjemandem.“ Dass er ihr nun sein Zuhause zeigte… Dass er sie in den Ort hineinließ, der unmittelbar mit seinem früheren menschlichen Leben verbunden war… Das war der größte Vertrauensbeweis, den Carina sich überhaupt vorstellen konnte. Grell zuckte erschrocken zusammen, als plötzlich Tränen über die Wangen seiner selbsternannten Schwester kullerten. „Was ist denn jetzt los?“, rief er verwirrt und schaute sie beunruhigt an. „Warum weinst du?“ „W-weil ich nicht weiß, was ich sagen soll. Und wegen den bescheuerten Hormonen“, beklagte sie sich und wischte sich einmal mit der Hand quer über das Gesicht. Mit immer noch feuchten Augen schaute sie ihn direkt an. „Das kann ich doch nicht annehmen. Das ist dein Zuhause. Ich… ich will doch nicht in deine Privatsphäre eindringen.“ Passend zu seinen Haaren wurde Grell nun auch noch im Gesicht rot. „Red keinen Stuss“, antwortete er - ganz offensichtlich peinlich berührt - und schob sie in Richtung Tür. „In diesem Haus wohnt seit über 200 Jahren keiner mehr, ich schenke es dir! Oder noch besser: Sieh es als erstes Geschenk für mein Patenkind an.“ „S-seit 200 Jahren?“, stammelte die Blondine verwundert und schaute noch einmal zu der Blockhütte, die alles andere als alt aussah. „Dafür sieht sie aber recht gut aus.“ „Was glaubst du wohl, warum ich dir so lange nichts von diesem Ort erzählt habe? Ich musste das Ding doch erstmal wieder in Schuss bringen. Gott, das Haus war doch bis vor einem Monat kaum bewohnbar.“ Er stöhnte. „Und warum heulst du jetzt?“ Carina haute ihm gegen die Brust. „Frag doch nicht so blöd“, zischte sie und zog ein Taschentuch hervor, um sich erneut das Gesicht abzutrocknen. „So etwas… so etwas hat noch nie jemand für mich gemacht. Ich werde ja wohl noch gerührt sein dürfen, oder?“ Jetzt konnte Grell nicht anders, als laut aufzulachen. „Weißt du, ich glaube ich mag die hormongesteuerte Carina. Die lässt viel mehr Emotionen zu.“ „Ach, halt doch die Klappe“, nuschelte die junge Frau beleidigt und ließ sich nun endlich von dem Shinigami ins Haus ziehen. Sofort vergas sie jedes weitere Wort, was sie noch hatte sagen wollen. Wenn sie schon gedacht hatte, dass die Hütte von draußen gut aussah, dann war das nichts im Vergleich zu der Inneneinrichtung. Sobald man durch die Eingangstür hindurch trat, befand man sich in einem riesigen Wohnzimmer. Es war bereits komplett eingerichtet. Eine gemütliche Couch samt Couchtisch, weich aussehende Sessel mit beigem Polsterbezug und zwei Bücherregale, die bis zur Decke hin reichten, schmückten den hinteren Teil des Zimmers. Im vorderen Abschnitt des Raumes befand sich ein hölzerner Esstisch mit mehreren Stühlen, ein breitgebauter Kamin, gleich daneben eine Truhe mit aufgestapeltem Brennholz und schlussendlich noch einige kleinere Schränke, in denen anscheinend allerhand Krimskrams verstaut war. Auf den ersten Blick konnte Carina erkenne, dass fünf Türen in andere Räumlichkeiten führten. Neugierig bewegte sie sich auf die erste Tür auf der linken Seite zu und öffnete sie, um festzustellen, dass sich dahinter eine voll ausgestattete Küche plus Vorratsraum verbarg. Die zweite Tür auf der linken Seite beherbergte ein Badezimmer und eine große Badewanne, die halbkreisförmig an der Wand entlang verlief. Die Augenbraue der Schwangeren wanderte immer höher. In der Neuzeit mochte dies ja vielleicht normaler Standard sein, aber im 19. Jahrhundert ganz sicherlich nicht. „Deine Eltern scheinen ja nicht gerade arm gewesen zu sein“, meinte sie an Grell gewandt und schlug sich gleich darauf innerlich gegen die Stirn. „Entschuldige, ich hab wieder zuerst gesprochen und dann nachgedacht“, seufzte sie, denn ihr Einfühlungsvermögen hatte mal wieder zu wünschen übrig gelassen. „Mein Gott, jetzt behandele mich doch nicht wie ein rohes Ei. Meine Eltern sind schon seit 206 Jahren tot, ich bin drüber weg“, meckerte der Rotschopf und verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust. Carina zögerte. War es überhaupt möglich jemals über den Verlust seiner Eltern hinwegzukommen? Sie selbst würde es niemals wirklich beurteilen können. Dennoch war sie neugierig auf seine Vergangenheit. Aber sie konnte ihn unmöglich danach fragen. Seit Cedric sie damals nach ihrem Selbstmord gefragt hatte, wusste Carina ganz genau, warum der Reaper ihrer Frage partout aus dem Weg gegangen war. Grell jedenfalls schien ganz genau zu wissen, was in Carinas Kopf vorging. Er seufzte. „Wenn ich dir meine Geschichte erzähle, hörst du dann endlich auf dir so viele Gedanken darüber zu machen und fängst stattdessen mal damit an dich ein wenig mehr auf dich zu konzentrieren? Ehrlich mal, dein Baby wird sonst ein pures Stressbündel.“ Angesprochene biss sich auf die Unterlippe. „Aber damals hast du gesagt-“ „Damals ist damals und heute ist heute“, unterbrach Grell sie schnippisch und setzte sich auf einen der Stühle am Esstisch. Als er weitersprach, wurde seine Stimme sanfter. „Ich hab meine Vergangenheit noch nie jemandem erzählt, aber ich denke wenn ich es schon tue, dann sollte es bei jemandem sein, dem ich bedingungslos vertraue.“ Er fixierte ihren Blick und plötzlich breitete sich ein zahnloses Lächeln auf seinen Lippen aus. „Und du bist so jemand für mich geworden, Carina. Ich würde dir mein Leben anvertrauen. Ich wüsste niemanden, der jemals so für mich da gewesen ist, wie du es immer warst und hoffentlich auch noch sehr lange Zeit sein wirst.“ Vor lauter Rührung wusste Carina im ersten Moment gar nicht, was sie sagen sollte. Sie räusperte sich. „Das Gleiche gilt auch für dich, Grell“, murmelte sie und der Rothaarige grinste ein wenig verlegen. „Aber deine ganze Geschichte kenne ich bereits. Also sind wir quitt, wenn ich dir jetzt diesen Gefallen erwidere.“ Er signalisierte der 19-Jährigen sich neben ihn zu setzen und sobald Carina auf dem Stuhl neben ihm Platz genommen hatte, begann er stockend zu erzählen. „Na ja, mein Leben vor meinem Tod war nicht wirklich spektakulär, falls du das gedacht hast“, sagte er und bereits jetzt konnte Carina spüren, dass es ihren besten Freund einiges an Überwindung kostete über seine Vergangenheit zu sprechen. „Wie du schon bemerkt hast, waren meine Eltern alles andere als arm. Mein Vater war Arzt in einem renommierten Londoner Krankenhaus und die Eltern meiner Mutter waren Unternehmer, sodass sie eine gute Mitgift mit in die Ehe bringen konnte.“ Er seufzte. „Du musst wissen, dass meine Mutter eher von kränklicher Natur war. Sie musste in ihrer Kindheit oft das Bett hüten und war auch einige Male im Krankenhaus, wodurch sie schlussendlich meinen Vater kennengelernt hat. Es dauerte gar nicht mal so lange, da waren die beiden auch schon verheiratet.“ Carina nickte. Selbst in der jetzigen Zeit war es noch üblich, dass Ehen schnell geschlossen wurden. „Meine Eltern wollten unbedingt Kinder und nach nicht mal einem Jahr war meine Mutter dann auch das erste Mal schwanger.“ Ein weiterer tiefer Seufzer folgte, währenddessen runzelte Carina irritiert die Stirn. Grell hatte nie erzählt, dass er Geschwister gehabt hatte. Doch diese Frage sollte sie schneller beantwortet bekommen, als ihr lieb war. „Wie ich schon sagte, ihr Körper war nicht sonderlich stark. Sie hatte drei Fehlgeburten, bevor die vierte Schwangerschaft dann schließlich zum Erfolg führte und ich am 17. April 1632 zur Welt kam.“ „Um Gottes Willen“, wisperte Carina und bei der bloßen Vorstellung wurde ihr schlecht. Sie selbst wollte sich kaum vorstellen wie es war eine Fehlgeburt zu haben, geschweige denn drei! „Ich schätze, das Leben meiner Eltern hätte von da an gut verlaufen können. Sie hatten alles, was man sich nur wünschen konnte. Geld, ein großes Haus in London – was sie dann allerdings an meinem fünften Geburtstag verkauften, um für die Verbesserung der Gesundheit meiner Mutter hierhin zu ziehen – und endlich ein eigenes Kind.“ Ein bitteres Lächeln umspielte seine Lippen. „Aber ich habe alles zunichte gemacht.“ „Was ist passiert?“, flüsterte Carina vorsichtig, die sich einfach nicht vorstellen konnte, wie Grell dieses Glück hatte zunichtemachen können. Er zuckte mit den Schultern. „Ich war von Anfang an anders, als die anderen Jungs in meinem Alter. Sie spielten lieber mit Eisenbahnen, ich mit Puppen. Sie trugen stolz ihre Hosen und schicken kleinen Anzugsjacken, ich habe es gehasst und wollte viel lieber Schmuck und hübsche Kleider tragen. Während die Jungs immer draußen herumgetobt und sich dreckig gemacht haben, habe ich stattdessen zu Hause gesessen und mir meine Haare gekämmt, um sie anschließend mit den Haarbändern meiner Mutter zu dekorieren oder sie zu hübschen Frisuren zurecht zu machen. Ich…ich war nie normal.“ Sein Tonfall wurde nun so gequält, dass es Carina in der Seele wehtat. Sanft legte sie ihre Hand auf die seine. „Du wurdest einfach im falschen Körper geboren, Grell. Das… das heißt doch überhaupt nicht, dass du nicht normal bist. Ganz im Gegenteil, du bist der liebste Mensch, den ich kenne.“ Er lächelte, kurz aufgemuntert von ihren Worten. „Ich wünschte meine Eltern hätten das genauso gesehen“, antwortete er und fuhr sich einmal durch seine langen, roten Haare. „Je älter ich wurde, desto größer wurden die Probleme. Meine Eltern haben während meiner Kindheit immer darauf gehofft, dass ich mich noch ändere; dass das nur eine Phase wäre, aus der ich herauswachsen müsste. Aber als ich mich mit 19 immer noch für Kleider, Schmuck und Bälle interessierte, da fingen die Streitereien an. Ich kann mich noch ganz genau daran erinnern, wie mein Vater mich angeschrien hat. ´Du bist mein einziger Sohn, du hast dafür zu sorgen, dass unsere Familie weiterbesteht und ihren angesehenen Ruf behält. Stattdessen beschmutzt du unsere Ehre, machst dich selbst lächerlich und sorgst auch noch dafür, dass ich vor meinen Kollegen vollkommen lächerlich dastehe. Du bist eine Schande für diese Familie!` So ging das Tag für Tag weiter.“ Carina starrte ihn vollkommen entsetzt an und entwickelte plötzlich eine irrsinnig große Wut auf Grells Vater, den sie nicht einmal kannte. Natürlich wusste sie, dass in dieser Zeit – und vor 238 Jahren erst recht – solche Dinge wie Homosexualität oder gar Transsexualität absolut nicht toleriert wurden. Das allein machte sie schon wütend genug, denn in ihren Augen war es nichts Verwerfliches. Aber sie hatte zumindest angenommen, dass Eltern hinter ihrem Kind stehen würden, egal, was auch kam. Zu wissen, dass Grells Eltern ihn mit dieser Last alleine gelassen hatten, war eine schreckliche Vorstellung. „Da ich mich nie für Frauen interessiert habe, jedenfalls nicht in dieser Weise, habe ich natürlich versucht eine Heirat so lange es geht vor mir herzuschieben. Aber irgendwann ging meinem Vater schließlich die Geduld aus. An meinem 25. Geburtstag verkündete er mir, dass ich die Tochter seines Vorgesetzten zu heiraten hätte. Um, ich zitiere, wenigstens noch ein wenig der Familienehre wieder herzustellen.“ „Aber das hast du nicht getan“, warf Carina leise ein und schaute ihn versucht gefasst an. „Du hast sie nicht geheiratet, oder?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, habe ich nicht. Dazu kam es gar nicht mehr. Die…die bloße Vorstellung eine Frau heiraten zu müssen, war für mich unerträglich. Dass sie all die Kleider und den Schmuck und vielleicht sogar ein Kind austragen dürfte… All das, was ich niemals haben konnte… Ich wollte das nicht mehr.“ Sein Blick wurde leicht trüb und Carina wusste instinktiv, dass er an den Tag zurückdachte, an dem er seinem Leben ein Ende gesetzt hatte. Sie wusste selbst noch ziemlich genau, wie schwer es ihr gefallen war Cedric davon zu erzählen. „Ich habe sie eine Woche vor der Hochzeit kennengelernt, weißt du? Langes blondes Haar, große braune Knopfaugen, eine schmale Figur und gute Oberweite“, bei seinen letzten Worten verdrehte er die Augen. „Sie war wunderschön, perfekt. Jeder Mann hätte mich um so eine Frau beneidet. Aber ich wollte sie nicht und das hat mir wieder einmal vor Augen geführt, dass ich alles andere als perfekt bin. Ich konnte es nicht ertragen, es hat mich innerlich krank gemacht. Und neben all dem Kummer und der Verletzlichkeit war da diese ungeheure Wut auf meinen Vater, dem ich es nie, aber auch nie recht machen konnte. Ich wusste zwar, dass meine Mutter mich über alles liebte, aber nie hat sie Partei für mich ergriffen. Immer hieß es nur ´Mach deinen Vater nicht wütend` oder ´Er will doch nur das Beste für dich`. Was ich wollte, war ihnen einfach scheißegal.“ Er schluckte und räusperte sich anschließend. „Also hab ich angefangen das Ganze zu planen.“ Carina erschauderte. Er…er hatte seinen Selbstmord tatsächlich geplant??? Seltsamerweise hatte sie damit überhaupt nicht gerechnet. Irgendwie hatte sie gedacht, dass es spontan passiert war, aus einer bestimmen Situation heraus. So wie bei ihr. „Aber die meisten Selbstmörder sind ganz und gar nicht so wie ich“, gestand sie sich ein. Die meisten Selbstmörder planten diesen Akt tatsächlich. Und allein dieser Gedanke schickte einen schweren Stein in ihren Magen. Irgendwie stellte sie es sich wie eine gradlinige Straße vor, dir nur in eine Richtung führte. Nämlich geradewegs in den Tod hinein. Als würde man auf ein Schafott zugehen… Carina wurde aus ihren finsteren Gedanken herausgerissen, als nun Grell derjenige war, der ihre Hand drückte. „Mach nicht so ein trauriges Gesicht“, sagte er mit einem Lächeln und zuckte einmal kurz mit den Schultern. „Es war überhaupt nicht schlimm, ehrlich! Schau mal“, erwiderte er und zeigte auf die mittlere der drei Türen auf der rechten Seite. „Das war das Arbeitszimmer meines Vaters. Er hatte dort immer einige Medikamente und Utensilien verstaut, sollte es einen Notfall in der Nähe geben und er es mit dem Patienten nicht mehr rechtzeitig ins Krankenhaus schaffen.“ Er seufzte. „Es war beinahe schon zu leicht. Am Abend vor der Hochzeit, als meine Eltern schon schliefen, habe ich mich in das Arbeitszimmer geschlichen und eines seiner Skalpelle genommen. Er hat sie nie verschlossen, ich musste mir noch nicht mal einen Schlüssel besorgen.“ Seine Augen wanderten zurück zu der Badezimmertür. „Dann hab ich mir ein Bad einlaufen lassen, die Tür abgeschlossen und mich umgezogen. Ich hatte mir einige Tage zuvor ein Ballkleid besorgt, angeblich als Geschenk für meine Verlobte. Es hatte alles, was ich schon immer mal tragen wollte. Schleifen, Rüschen, Verzierungen von oben bis unten und vor allem war es rot. Hach, ich habe die Farbe Rot einfach schon immer geliebt.“ Schwärmerisch schlang er seine Arme um seinen roten Mantel und Carina konnte nicht anders, als die Augen zu verdrehen. Wie konnte er in so einer Situation nur mit seinem Divenmodus anfangen? „Grell“, brachte sie ihn mit ernstem Ton wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Er sah sie an und sie schaute mit einem traurigen Ausdruck in den Augen zurück. „Du hast dir die Pulsadern aufgeschnitten, hab ich recht?“ Der Rothaarige nickte langsam und erst jetzt, als sie es aussprach, wich ihm jegliche Farbe aus dem Gesicht. Vorsichtig schob er sich die schwarzen Handschuhe von den Fingern und die Ärmel seines Hemdes ein wenig nach oben. Die zwei Narben an seinen Handgelenken waren kaum zu erkennen, so präzise und schmal waren sie. Hätte Carina nicht extra darauf geachtet, wären sie ihr gar nicht aufgefallen. „Faszinierend, was so ein dünnes Skalpell und zwei kleine Schnitte anrichten können“, murmelte Grell und bedeckte seine Hände wieder. „Es hat länger gedauert, als ich zu Anfang dachte. Sobald ich in der Badewanne gelegen habe und die beiden Schnitte gesetzt hatte, brauchte es erst einmal ein paar Minuten, bis sich der Blutverlust überhaupt bemerkbar machte. Mir wurde ein wenig schwindelig, aber es war eigentlich eher angenehm. Doch dann kam trotz des warmen Wassers-“ „Die Kälte“, unterbrach Carina ihn flüsternd und er stimmte ihr stumm zu. Oh ja, daran konnte sie sich auch noch sehr gut erinnern. Diese grässliche Eiseskälte… „Das Badewasser hat sich sehr schnell blutrot gefärbt und sah genauso ästhetisch aus, wie ich es mir vorstellt hatte. Allerdings konnte ich es nicht lange genießen, weil ich immer müder und müder wurde. Viele glauben ja, dass man den Tod kommen spürt, aber es war nicht schwerer als Einschlafen. Ich hab einfach irgendwann die Augen zugemacht und bin…“, er suchte kurz nach dem richtigen Wort, „weggeglitten.“ „Sterben ist nicht schwer“, sagte Carina und strich seufzend über ihren gewölbten Bauch, „Überleben, das ist das wirklich schwierige.“ Grell nickte. „Das stimmt wohl oder übel. Wer weiß wie ich mich entschieden hätte, hätte ich damals gewusst, was mich nach meinem Selbstmord erwartet.“ Für einige lange Sekunden schwiegen beide Todesgötter und ließen die vorangegangenen Worte Revue passieren. Dann fragte Carina: „Weißt du, was aus deinen Eltern geworden ist?“ Grell nickte erneut. Er antwortete nun seltsam nüchtern, fast so, als würde ihn das Ganze nicht sonderlich berühren. „Sie haben mich am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe gefunden, jedenfalls hat mir das der Shinigami berichtet, der mich zum Dispatch gebracht hat. Mein Vater brach die Badezimmertür auf, nachdem er 10 Minuten erfolglos versucht hat mich zum Aufschließen zu überreden. Nun, du kannst dir vorstellen, dass der Anblick für sie nicht sonderlich schön war. Meine Mutter ist sofort völlig apathisch zusammengebrochen, selbst mein Vater schien komplett fassungslos zu sein. Nachdem er meiner Mutter ein starkes Beruhigungsmittel verabreicht und sie zurück ins Bett gebracht hatte, hat er meinen Körper aus der Badewanne gehoben. Und dann…“ Er schluckte, bemüht darum Ruhe zu bewahren. „Dann hat er angefangen die Umstände meines Todes zu vertuschen.“ „Was?“, entfloh es Carina entsetzt, ihre Augen weiteten sich ungläubig. „Was… aber… warum?“ „Warum wohl? Wie immer ging es ihm nur um seinen guten Ruf, nicht um mich. Wie wäre das denn bei der Außenwelt angekommen? Der Sohn des angesehenen Arztes bringt sich um und dieser konnte das nicht einmal verhindern? Nein, solche Gerüchte wollte er auf jeden Fall verhindern. Also hat er den Bestatter bestochen und überall herum erzählt, dass ich auf der Treppe unglücklich gefallen bin und mir das Genick gebrochen habe.“ Der Rotschopf lachte trocken auf. „Weißt du, ich war bei meiner eigenen Beerdigung dabei. Habe die vielen Beileidsbekundungen gehört, habe gesehen wie meine Mutter weinend über meinem Grab gelegen hat, meine Verlobte – die mich kaum kannte – in ein Taschentuch geschluchzt hat und wie mein Vater allen immer wieder von dem schrecklichen Unglück berichtete und wie grausam das Schicksal doch zu ihm wäre, das es ihm seinen einzigen Sohn genommen hat. Was für eine Farce…“ Er atmete einmal tief ein. „Tja, nach einem halben Jahr hat bereits niemand mehr über den Vorfall gesprochen. Meine Mutter war die Einzige, die sich von meinem Ableben nie erholt hat. Ihre Krankheit wurde von Tag zu Tag schlimmer und egal, was mein Vater auch versuchte, er konnte sie nicht mehr retten. Sie starb nicht einmal 2 Jahre nach mir.“ Geschockt starrte die Schnitterin ihren besten Freund an. „Das ist schrecklich“, flüsterte sie. „Ja, das war es“, gab Grell zu. „Aber es liegt schon so lange in der Vergangenheit. Ich habe gelernt damit umzugehen. Meine Ausbildung und die Arbeit haben mir dabei geholfen. Die Zeit verging schnell und als ich nach ungefähr 40 Jahren hörte, dass mein Vater im Alter von 63 Jahren verstorben war, da machte es mir gar nichts aus. Wirklich nicht“, fügte er hinzu, als er Carinas ungläubige Miene sah. „Es tat mir nicht leid um ihn. Wenn ich jemanden außer mir für meinen Selbstmord hätte verantwortlich machen müssen, dann wäre es mein Vater gewesen. Du glaubst gar nicht, wie gerne ich mich auf meiner Beerdigung sichtbar gemacht und allen Anwesenden die Wahrheit ins Gesicht geworfen hätte. Er soll froh sein, dass ich ihn nicht heimgesucht habe.“ Er schnaubte einmal laut und schien seine eigene Geschichte nun wieder in den Tiefen seines Gedächtnisses wegzuschließen. Was wahrscheinlich auch besser so war, befand Carina. Sie selbst versuchte ja auch immer nicht an ihren eigenen Selbstmord und ihre daraus resultierenden Taten zu denken. „Auf jeden Fall hat sich nach dem Tod meines Vaters niemand mehr um dieses Haus bemüht. Es ist nach und nach verfallen und na ja, als die Nervensäge, du und ich auf einmal vor der Aufgabe standen eine mögliche Bleibe für dich und das Baby zu suchen, da kam mir gleich dieser Ort in den Sinn. Es hat zwar etwas gedauert, aber jetzt ist es doch wirklich wieder gemütlich hier, oder?“, zwinkerte er und sein altbekanntes Grinsen erschien wieder auf seinen Lippen. „Und wer weiß, vielleicht werde ich in einigen Jahren nicht mehr mit einem flauen Gefühl im Bauch dieses Haus betreten, weil du und das Kind dann dafür gesorgt habt, dass es einige positive Erinnerungen an diesen Ort gibt.“ Carina lächelte und schon wieder spürte sie ein leichtes Brennen in ihren Augenwinkeln. „Danke, Grell“, sagte sie und umarmte ihn. „Danke für alles, was du für uns getan hast.“ Er schlang nun ebenfalls die Arme um sie. „Keine Ursache, ich mache das doch alles aus purem Eigennutz. Seit du da bist, ist mein Leben um einiges spannender geworden.“ Als sie sich voneinander lösten, musste der Shinigami kurz auflachen. „Wenn ich daran zurückdenke, wie genervt ich am Anfang davon war auf einmal eine Schülerin zu haben und wie sehr ich diese Verantwortung nicht haben wollte… Eigentlich ist es das Beste, was mir passieren konnte.“ „Ich fand dich am Anfang auch nicht gerade nett“, grinste sie zurück. „Ich hab mich kaum getraut dich um Hilfe zu bitten, so eingeschüchtert war ich. Und jetzt sieh mal an, was aus mir geworden ist. Eine schwangere Shinigami auf der Flucht.“ Sie mussten beide losprusten und es tat unendlich gut, einfach mal ohne jegliche Hintergedanken lachen zu können. Es war tatsächlich unglaublich, wie schnell doch die Zeit verging. Manchmal konnte die junge Frau kaum glauben, was seit ihrer Ankunft in dieser Welt alles passiert war. Wie sehr sich alles verändert hatte, wie sehr sie sich verändert hatte. Ab und zu dachte die Blondine immer noch an ihr 16-jähriges Ich, das über die Türschwelle des Undertakers gestolpert war und sich plötzlich in einer Welt befand, die sie zu ihren Zeiten als Mensch nie hatte erfassen können. Das 16-jährige Ich, das sich gegen Kleider gewehrt und bei dem Anblick einer Leiche beinahe ohnmächtig geworden war. All diese Eigenschaften steckten nach wie vor noch in ihr, worum die Shinigami mehr als nur froh war. Aber sie merkte selbst, dass sich ihre Sichtweise in Bezug auf manche Dinge verändert hatte; dass sie reifer geworden war. Und darüber war die 19-Jährige mindestens genauso froh. „Also“, riss Grell sie aus ihren Gedanken, „da wir diesen etwas unangenehmen Teil nun auch hinter uns gebracht haben: Soll ich dir den Rest deines neuen Hauses zeigen?“ Carina lächelte breit und nickte. Hier würde ein erneuter Lebensabschnitt für sie beginnen und sie war neugierig darauf, wie sehr die Zukunft und die kommenden Ereignisse sie weiter beeinflussen würden. Aber eins war sicher, solange Alice und Grell für sie da waren, konnte es nur gut werden. „Liebend gern.“ Kapitel 59: Ungeahnte Entdeckungen ---------------------------------- Es stellte sich heraus, dass es sich bei den beiden übrig gebliebenen Räumen um ein Schlaf- und ein Kinderzimmer handelte. Gut, das Kinderzimmer sah nicht mehr wie ein Kinderzimmer aus, immerhin war Grell zur Zeit seines Todes schon 25 Jahre alt gewesen. Aber die Idee es wieder in ein Kinderzimmer zu verwandeln, gefiel dem Rothaarigen ausgesprochen gut. Bevor er zu seiner nächsten Schicht aufbrach, versprach er Carina alles für eine schöne Renovierung zu besorgen. „Und dann streichen wir als allererstes die Wände Rosa“, schwärmte er, woraufhin Carina die Stirn runzelte. „Wir wissen doch überhaupt nicht, ob es ein Mädchen wird.“ Grell wackelte belehrend mit seinem Zeigefinger hin und her. „Es wird ein Mädchen, das habe ich einfach im Gefühl.“ „Von wegen“, ertönte Alice‘ Stimme. Die Schwarzhaarige hatte sich kurz nach Grells Geschichte bei ihnen gemeldet und hörte nun schon seit geraumer Zeit mithilfe des Kommunikationsgerätes die Besichtigung der beiden mit. „Das wird auf jeden Fall ein Junge“, schwor sie und Carina konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als sich Grells Gesichtsausdruck daraufhin schlagartig verfinsterte. „Pah“, machte er und riss seiner selbsternannten kleinen Schwester den Prototyp eines Telefons aus der Hand. „Du hast doch überhaupt keine Ahnung, kleine Nervensäge. Es wird ein süßes, kleines Mädchen. Hörst du? Eins mit vielen hübschen Kleidern und kleinen Zöpfchen und-“ „Vergiss es Rotschopf, es wird ein Junge. Für so etwas habe ich zu Lebzeiten einen sechsten Sinn entwickelt.“ Carina runzelte kurz die Stirn, fragte aber nicht weiter nach. Denn die Stimmen der beiden Paten wurden immer lauter, als sie sich über das Gerät hinweg anschrien. „Mädchen.“ „Junge.“ „Mädchen!“ „Junge!“ „CARINA?“, sagten sie dann beide – vollkommen unisono – und zumindest Grell starrte sie auffordernd an. Die Blondine zuckte mit den Schultern. „Mir ist es ehrlich gesagt ziemlich egal was es wird, Hauptsache es ist gesund.“ So unkreativ Carina diese Aussage auch immer gefunden hatte, so wahr war sie dann schlussendlich doch. In ihrem Kopf hatte sich zwar schon ein kleiner Wunsch manifestiert, aber dieser hatte erstens nichts mit dem Geschlecht zu tun und zweitens würde sie ihn niemals Grell oder Alice anvertrauen. Sie wusste ja selbst nicht, woraus dieser Wunsch resultierte. Dieser Wunsch, dass ihr Baby mehr von Cedric als von ihr erbte. Zum Beispiel seine weichen silbernen Haare. Oder sein wunderschönes Lächeln. Andererseits aber hoffte sie, dass ihr Kind ihm nicht allzu ähnlich war. Das würde es ihr auf Dauer nur schwerer machen, über ihn hinwegzukommen. Aber die Vorstellung von einer Miniaturausgabe Cedrics war doch einfach nur purer Zucker… Ihre beiden Freunde führten ihren Streit noch so lange weiter, bis Grell aufgrund der fortgeschrittenen Zeit wieder zum Dispatch zurückkehren musste. Am darauffolgenden Tag würde er aufgrund seiner Schichten nicht dazu kommen sie zu besuchen, aber übermorgen würde er auf jeden Fall wieder kommen. Als er das Haus verlassen hatte, sprachen die beiden Frauen noch einige Zeit miteinander. Alice wollte ebenfalls unbedingt vorbeikommen, allerdings überschnitten sich Grells Schichten mit den ihren, sodass ihr Besuch wahrscheinlich noch warten musste. „Mach dir keine Sorgen, Alice. Ich hab hier alles, was ich brauche. Lass dir so viel Zeit wie du brauchst, es soll ja immerhin kein Verdacht aufkommen, wo du dich nach Feierabend aufhältst.“ In diesem Punkt stimmte die Schwarzhaarige mit ihr überein. Sie waren so weit gekommen. Jetzt aufzufliegen war das Letzte, was passieren sollte. „Na gut, na gut. Ich hätte dich halt nur gerne sofort gesehen. Schwangere Frauen haben immer so etwas Faszinierendes an sich.“ Carina lachte. „Glaub mir, die Zeit wird schneller vergehen, als du denkst.“ Und damit sollte sie Recht behalten. Durch Grells gelegentliche Besuche, das Einleben im neuen Haus und die zu erledigenden Besorgungen bezüglich Lebensmittel, Umstandskleidung und sonstigen Dingen, die man in einem Haus nun einmal brauchte, verging die Zeit wie im Fluge. Ehe Carina sich versah, wohnte sie bereits 6 Wochen in der kleinen, gemütlichen Hütte. Mittlerweile befand sie sich in der 23. Schwangerschaftswoche und konnte ihrem Bauch jetzt richtig beim Wachsen zusehen. Er hatte sich zu einer schönen, runden Kugel geformt und auch die Bewegungen des Babys konnte sie immer deutlicher spüren. Vor wenigen Tagen war sie sogar einmal mitten in der Nacht vor Schmerz aus dem Schlaf hochgeschreckt. Zuerst hatte die Blondine nicht richtig zuordnen können was passiert war, doch dann entdeckte sie die kleine Beule in ihrem Bauch, die Hinterlassenschaft eines besonders harten Trittes. Als sie dies am nächsten Morgen Grell erzählte, brach dieser in Gelächter aus. „Tja, da scheinst du einen sehr lebendigen Mitbewohner zu haben“, grinste er, was Carina allerdings nicht halb so lustig fand. „Schön, dass du dich darüber amüsierst, aber das hat echt wehgetan. Wenigstens nachts könnte es mich ja mal schlafen lassen.“ Doch eigentlich freute sie sich ja auch über die Bewegungen. So wusste sie immerhin, dass es ihrem Baby gut ging und es auf sich aufmerksam machte. Auch ihr ehemaliger Mentor war vollkommen aus dem Häuschen. Heimlich hatte er sich aus der Wissenschaftsabteilung eine Kamera besorgt und schoss nun ganz fleißig – und nahezu bei jeder Gelegenheit – Fotos für das spätere Babyalbum. „Wie groß soll das Album denn werden, 500 Seiten?“, hatte Carina an einem Tag augenverdrehend nachgefragt, genervt von der ganzen Knipserei. Doch Grell wollte davon nichts hören. Später würde sie ihm einmal dankbar für die ganzen Erinnerungsfotos sein und Carina musste zu ihrer eigenen Schande gestehen, dass er mit dieser These wahrscheinlich sogar Recht behalten würde. In der siebten Woche seit ihrem Einzug war es dann endlich soweit, dass Grell es schaffte Alice mitzubringen. Die Rezeptionist kreischte freudig auf, als sie ins Haus gestürmt kam und umarmte sogleich ihre beste Freundin, die im ersten Moment perplex und im zweiten Moment schon wieder den Tränen nahe war. „Du siehst großartig aus. Die Schwangerschaft steht dir richtig gut“, strahlte Alice und beschaute sich die 19-Jährige von oben bis unten. Carina wurde rot. „Jetzt übertreib mal nicht“, nuschelte sie und setzte sich zusammen mit der Schwarzhaarigen auf die Couch. „Tue ich nicht“, antwortete die junge Frau und ließ sich in das weiche Polster sinken. „Ich hab doch gesagt, schwangere Frauen haben irgendwie was Faszinierendes.“ „Nun ja“, erwiderte Carina trocken, „der ziehende Rücken, die schmerzenden Brüste und die geschwollenen Füße sind jetzt nicht so faszinierend. Ganz zu schweigen von der drückenden Blase, das macht mich noch wahnsinnig. Selbst, wenn das Baby nachts mal schläft, kann ich trotzdem nicht durchschlafen, weil ich alle 2 Stunden auf die Toilette rennen muss.“ „Das ist normal“, meinte Alice und lächelte. „Wie siehts denn mit deinem Bauch aus? Spannt ganz schön, oder?“ Ein wenig misstrauisch schaute Carina ihre Freundin an. Woher wusste sie denn bitteschön so gut über Schwangerschaften Bescheid? „Anfangs ja, aber seit ein paar Monaten benutze ich so ein Pflegeöl. Gott sei Dank also keinerlei Schwangerschaftsstreifen.“ Minderwertigkeitskomplexe hatte sie auch so schon genug… Ein Scheppern an der Tür erklang, als Grell wiederkam, die Arme voller Farbtöpfe. Sogleich schaute Alice ihn misstrauisch an. „Ich hoffe für dich, dass du jetzt kein Rosa gekauft hast.“ Grell verdrehte die Augen. „Nein, hab ich nicht, du Spielverderberin. Carina wollte eine geschlechtsneutrale Farbe, also bekommt sie sie auch.“ Alice nahm ihm einen Eimer ab und schaute auf die Aufschrift. „Na ja gut, Hellgrün finde ich in Ordnung.“ Der Rothaarige schnaubte beleidigt und ging in besagtes Kinderzimmer. Carina konnte nicht anders, sie musste grinsen. „Ich glaube, er ist immer noch nicht darüber hinweg, dass die Wände nicht Rosa werden“, lachte sie und wollte gerade ebenfalls ins Kinderzimmer gehen, als Alice sie aufhielt. „Nix da, du ruhst dich schön aus. Wir machen das schon.“ Carina sah sie zweifelnd an. „Ohne sich dabei gegenseitig die Köpfe einzuschlagen?“ Alice schien einen Moment zu überlegen. „Wir bekommen das schon hin, es sind ja nur ein paar Stunden“, antwortete sie, wirkte von ihrer eigenen Aussage allerdings selbst nicht sonderlich überzeugt. Natürlich kam es, wie es nun einmal kommen musste. Bereits nach wenigen Minuten, die Carina dazu genutzt hatte, um sich mit einem Buch auf die Couch zu legen, ging das Gezeter im Kinderzimmer los. „Meine Güte, die beiden können sich aber wirklich über jeden Mist streiten“, dachte die junge Frau schmunzelnd, als Grell Alice gerade vorwarf, sie würde den Farbroller falsch halten. „Dabei sollten sie lieber froh sein, dass es in der Shinigamiwelt überhaupt schon Farbroller gibt. Die wurden doch erst Mitte des 20. Jahrhunderts erfunden, zumindest bei den Menschen.“ Mehrere Minuten lang widmete sie sich weiterhin dem Buch in ihren Händen, einer Erstausgabe des Romans Sturmhöhe, doch das Gezeter der beiden Shinigami störte ihre Konzentration. Seufzend erhob sie sich, ging in die Küche und versuchte sich auf ihre eigene Art und Weise ein wenig nützlich zu machen. Eine halbe Stunde später verbreitete sich der Duft von Essen im ganzen Haus und lockte natürlich als allererstes Grell an. Der Rothaarige steckte den Kopf durch die offenstehende Küchentür, ein paar grüne Farbsprenkel zierten seine Wangen. „Hmm, was riecht denn hier so gut?“, fragte er und wackelte spielerisch mit den Augenbrauen, was Carina lachen ließ. „Ich wusste, dass ich dich damit anlocken kann. Na komm und deck den Esstisch, es gibt Pfannenkuchen.“ Der Reaper war ganz aus dem Häuschen. „Ui, gibt es auch Schoko-“ Carina unterbrach ihn in seiner Frage, indem sie ihm kommentarlos die gewünschte Schokoladensoße hinhielt. „Du hast es dir tatsächlich gemerkt.“ Er schnappte ihr die Soße aus den Händen und seufzte verzückt, als ihn der herbe Duft der Herrenschokolade erreichte. „Wie könnte ich, wir haben es ja oft genug in meiner Ausbildung gegessen.“ Grell grinste. „Und du? Bleibst du bei deiner Zimt und Zucker Variante oder hat die Schwangerschaft daran was geändert?“ „Was hast du denn gedacht?“, zwinkerte sie und hielt ihm zwei kleine Döschen entgegen, die er ebenfalls auf den Esstisch stellte. Gleichzeitig nahm sie eine Schüssel mit Erdbeeren und ein Schälchen Sahne, das neben die restlichen Lebensmittel gestellt wurde. „Oh wow, Erdbeeren“, strahlte Alice, als sie hinzu kam und sich mit an den Tisch setzte. „Sei froh, das waren die Letzten. Wir haben jetzt immerhin schon Anfang September.“ „Dann Guten Appetit“, frohlockte die Schwarzhaarige und verteilte sofort großzügig Sahne auf ihrem Pfannenkuchen, während Grell die Schokolade langsam und genüsslich auf seinen eigenen laufen ließ. Carina hingegen bestreute ihren mit Zimt und Zucker und genoss den prickelnden Geschmack auf der Zunge. Gott, das war auch noch so eine Sache in der Schwangerschaft. Sie hatte einfach ständig Hunger! Einige Minuten lang widmeten sich die Drei schweigend ihrem Essen, doch dann beendete Carina die Stille. „Hör mal Alice“, begann sie und schluckte eine weitere Gabel ihres Gerichts herunter. „Kannst du stricken?“ Alice hob eine Augenbraue. „Klar. Das gehört zur Grundausbildung eines jeden Mädchens, oder etwa nicht?“ „In meiner Zeit definitiv nicht mehr, das kann ich dir versichern. Könntest du es mir beibringen?“ „Sicher.“ Auf Alice‘ Gesicht erschien ein Schmunzeln. „Möchtest du etwa süße, kleine Babysachen machen?“ „Du hast es erfasst. Der Hauptgrund ist allerdings, dass ich die Babykleidung meiner Zeit der jetzigen vorziehe.“ Die Rezeptionistin runzelte irritiert die Stirn. „Wieso? Was gibt es denn da im 21. Jahrhundert?“ „Es nennt sich Strampelanzug oder auch Strampler. Das sind kleine, einteilige Anzüge mit Füßen, das tragen in meiner Zeit alle Babys. Nicht, dass ich die langen Hemdchen aus diesem Jahrhundert schrecklich finde, aber Strampler sind dann doch nützlicher.“ „Ich kann mir das zwar nicht richtig vorstellen, aber es ist deine Entscheidung. Ich zeige dir gleich die Grundlagen, wenn du möchtest.“ Sie warf Grell ein böses Grinsen zu. „Wir brauchen nur blauen Stoff.“ „Rosa“, zischte er leise zurück. Tatsächlich war es so, dass Carina in handwerklichen Sachen schon immer eine komplette Niete gewesen war. Der Kunstunterricht war für sie die reinste Qual gewesen, ebenso wie jegliche kreative Arbeit außerhalb der Schule. Und mit dem Stricken verhielt es sich ähnlich schlimm. Zu Anfang blickte sie überhaupt nicht durch, obwohl Alice wirklich fabelhaft stricken konnte. Im Nuh hatte sie ihr einen Schal gestrickt, wofür Carina vermutlich Wochen gebraucht hätte. „Alles eine Frage der Übung und Geduld. Das wird schon noch“, meinte Alice aufmunternd und zeigte es ihrer besten Freundin noch ein weiteres Mal. Und erstaunlicherweise behielt sie sogar Recht. Nach 2 Tagen hatte Carina den Dreh endlich raus und hatte sich zumindest schon einmal eingeprägt, wie sie mit den Nadeln umzugehen hatte. Bis sie allerdings einen kompletten Strampler gestrickt hatte, konnte es noch etwas dauern. Aber sie hatte ja immerhin noch an die 17 Wochen Zeit… Das Kinderzimmer war inzwischen fast fertig. Das helle Grün gab dem Raum eine beruhigende Wirkung und auch die ersten Möbelstücke hatten schon ihren Platz gefunden. Ein bequemer Schaukelstuhl, ein Kleiderschrank, gleich daneben ein Wickeltisch und schlussendlich natürlich eine Wiege aus hellem Holz, die mittig im Zimmer stand. „Jetzt steht der Ankunft des neuen Erdenbewohners nichts mehr im Wege“, hatte Grell stolz verkündet und sich schon einen Termin fürs Babyshopping in den Kalender gesetzt. Und auch, wenn Carina es nicht zugab, sie selbst war genauso erleichtert über diese Tatsache. Ihr Baby sollte ein gutes Leben führen, an einem schönen Ort, den es später einmal als sein Zuhause bezeichnen konnte. Und obwohl Carina geglaubt hatte, dass sich all ihre Probleme vorerst in Luft aufgelöst hatten, gab es dann zwei Wochen später doch eine Begegnung, die einen Schatten über die Glückseligkeit der letzten beiden Monate warf. Es war ein nebliger Septembermorgen, als die 19-Jährige sich dazu entschloss noch einmal die Innenstadt Londons zu besuchen, um einige Besorgungen zu machen. Vorrangig ging es natürlich um Sachen für das Baby, wie Wickeltücher, Söckchen, Bettwäsche oder tatsächlich ein Paar dieser hässlichen Hemdchen, die die Babys in diesem Jahrhundert trugen. Carina hatte zwar ihren ersten Strampler fast fertig und die weiteren würden sicherlich schneller von der Hand gehen, aber notfalls wollte sie dann doch was in Petto haben. „Unglaublich, was ein Baby so alles braucht“, schnaufte die Schnitterin, als sie endlich alles in ihrem runden Weidenkorb verstaut hatte und sich nun auf den Weg zu ihrer letzten Station machte, dem Blumenladen. Alice hatte nämlich kurz vor ihrer Abreise bemerkt, dass es überhaupt keine Blumen im Haus gab. „Ich hätte ja draußen vorm Haus Blumen gepflückt, aber wir haben September, Alice.“ „Dann kauf halt welche im Blumenladen, hier ist überhaupt keine schöne Dekoration. Blumen machen direkt alles viel freundlicher.“ Also hatte Carina die Augen verdreht, ein paar unverständliche Worte vor sich hingemurmelt und schlussendlich dem Drängen ihrer Freundin nachgegeben. Bedauerlicherweise gab es den Blumenladen, den Carina damals vor ihrem Selbstmord immer aufgesucht hatte, nicht mehr. Nach George’s Tod war der Blumenladen von der Funtom Corporation gekauft und in einen Spielzeugwarengeschäft umgewandelt worden. „Eins muss man der kleinen Nervensäge ja lassen, Geschäftssinn hat er“, dachte sie, als sie an dem Laden vorbeiging, der vor Kundschaft beinahe aus allen Nähten platzte. Aber nun war sie gezwungen über den Friedhof auf die andere Seite zu gehen, da sich erst dort der nächste Blumenladen befand. Und genau diesen Gang hätte sie eigentlich am liebsten übersprungen. Es war nicht so, dass sie Angst vor Friedhöfen hatte oder das Betreten eben dieser als unangenehm empfand. Spätestens, als sie ein Shinigami geworden war, hatte sie gelernt mit diesen Orten neutral umzugehen. Doch hier lagen – und das sozusagen im wahrsten Sinne des Wortes – Erinnerungen begraben. Erinnerungen an eine Zeit, in der sie noch nicht gewusst hatte, dass Cedric ein Shinigami war. Beziehungsweise hatte sie ja noch nicht einmal gewusst, dass er überhaupt Cedric hieß. Nein, sie war nur eine verängstigte 16-Jährige gewesen, die unbedingt wieder in ihre eigene Zeit zurückreise wollte und versucht hatte nicht vollkommen wahnsinnig zu werden. Die Arbeit auf dem Friedhof hatte maßgeblich dazu beigetragen, aber irgendwie erinnerte sie hier alles an den Vater ihres ungeborenen Kindes. Seufzend und mit versucht schnellen Schritten eilte sie über den leicht feuchten Boden, doch durch ihre fortgeschrittene Schwangerschaft war sie einerseits recht langsam und andererseits sehr viel schneller aus der Puste als üblich. Bereits nach wenigen Minuten verlangsamte sie ihre Schritte und brachte den Weg dann doch in normaler Geschwindigkeit hinter sich. Ihre Augen glitten über die Gräber und über die Todesdaten. An einige Namen konnte sie sich sogar noch erinnern, denn zu Anfang war ihr jeder Name auf ihrer Todesliste tagelang durch den Kopf gewandert. Mittlerweile hatte sie den Teil des Totenackers erreicht, der den Adligen und gutverdienenden Geschäftsmännern vorbehalten war. Hier befanden sich zwar ebenfalls einfache Grabsteine, aber vorrangig waren Mausoleen errichtet worden, die selbst im Tod noch den Reichtum ihrer Bewohner vorzeigen sollten. „Ob wohl auch die Phantomhives…?“, kam Carina auf einmal der Gedanke und sie schaute sich unbewusst nach einem Bauwerk um, das noch teurer, noch glanzvoller war, als der ganze Rest. Und sie musste nicht lange suchen. Nahe dem westlichen Ausgang befand sich ein Mausoleum aus weißem Marmor, das die Dächer der übrigen Grabstätten weit überthronte. Auf einer länglichen, tiefschwarzen Steinplatte schimmerte ihr der Name der Familie Phantomhive in matten, silbernen Druckbuchstaben entgegen. Mit einem Mal war ihr Hals furchtbar trocken. Neugierde packte sie und ohne wirklich widerstehen zu können, ging sie zügig auf die breite Tür zu, die mit einer schweren Eisenkette verschlossen war. Und wieder einmal stellte Carina fest, dass es doch Vorteile hatte ein Todesgott zu sein. Mit einem starken Ruck riss sie die Kettenglieder auseinander und ließ sie mit einem lauten Scheppern zu Boden fallen. Kurz lauschte sie in die Stille des Friedhofes hinein, doch er war nach wie vor menschenleer. So leise wie möglich schob sie die Tür auf und schaute, nun doch einen Moment zögernd, in die dahinter liegende Dunkelheit. Sollte sie wirklich…? „Was soll’s? Meine Seele ist ohnehin verdammt, da wird eine Grabschändung auch nicht mehr allzu viel ausmachen.“ Sie betrat das Mausoleum, das von innen größer war, als es von außen tatsächlich aussah. Mehrere kleine Kammern befanden sich in den Wänden, neben jeder war ein kleines Schildchen mit Name, Geburts- und Sterbedatum angebracht worden. „Das erleichtert mir wenigstens die Suche“, murmelte Carina und ging langsam und auf stillen Sohlen an den Kammern entlang, während sie ihre Tarnung ganz nebenbei auflöste. Die Stille hier machte sie tatsächlich ein wenig nervös. Sie war ganz anders, als die Stille auf dem Friedhof. Hier war der Tod seltsamerweise viel greifbarer. Bereits jetzt bereute sie es diesen Ort überhaupt betreten zu haben. „Wollen wir hoffen, dass Ciel nicht auch hier eine dämonische Alarmanlage installiert hat.“ Wie sie es vermutet hatte, dauerte die Suche nicht lange an. Schon nach 3 Minuten hatte sie die Kammer von Claudia Phantomhive gefunden. Die restlichen Daten auf dem Schild musste sie nicht einmal mehr lesen, sie hatten sich dank dem Stammbaum unwiderruflich in ihr Gedächtnis gebrannt. Die 19-Jährige musste sich ein wenig bücken, um die offene Kammer zu betreten, in der einzig und allein ein länglicher Sarg lag. „Beste Qualität“, stellte sie stumm fest und ließ ihre Finger sachte über das helle Holz gleiten. Vom Undertaker war auch nichts anderes zu erwarten gewesen. Seine Arbeit war bereits bei völlig Fremden mehr als bemerkenswert, aber bei seiner Geliebten hatte er sich ganz besondere Mühe gegeben, das konnte Carina sehen. „Ein Wunder, dass nie jemand die Verbindung zwischen den Beiden bemerkt hat.“ Unwillkürlich beschleunigte sich ihr Herzschlag, als sie die Finger nun um die Seite des Sarges legte und die Kante umschloss. Nur ein minimaler Kraftaufwand ihrerseits und der Deckel würde ohne weiteres aufspringen. „Wenn ich mit meiner Vermutung richtig liege, dann müsste er leer sein. Um Claudia zurückzuholen, muss Cedric ihren Körper irgendwo aufbewahren und konserviert halten. Wer weiß, vielleicht hat er ein falsches Skelett hier reingelegt? Zuzutrauen wäre es ihm ja…“ Ein letztes Mal schluckte sie geräuschvoll, um sich die Kehle ein wenig zu befeuchten, dann hob sie den Sargdeckel an und ließ ihn zur Seite hin aufklappen. Was die Shinigami dahinter erblickte, entsprach ganz und gar nicht ihren Erwartungen. Sie hatte sich geirrt. Im Sarg befand sich kein falsches Skelett. Und er war auch nicht leer. Mit geweiteten Augen und einer guten Portion Entsetzen starrte Carina die Stufen an, die unter dem Sarg in eine noch undurchdringlichere Dunkelheit führten, als sie bereits im Vordereingang des Mausoleums herrschte. Eine Treppe? Eine verfluchte Treppe?! „Ich glaub’s nicht“, stöhnte die junge Frau leise und starrte immer noch regungslos nach unten. Das trug so was von offensichtlich die Unterschrift des Silberhaarigen, sie konnte es kaum fassen. Ja, so dreist konnte wahrlich nur Cedric allein sein. Und das Schlimmste war, dass sie befürchtete genau zu wissen, was er dort unten versteckte. „Meine Neugierde wird mich noch eines Tages umbringen“, wisperte sie seufzend und war tatsächlich von sich selbst überrascht, als sie in den Sarg hineinstieg und die Treppe in Angriff nahm. Je weiter die Schnitterin herunterging, desto kühler und staubiger wurde es und als sie endlich nach 20 Stufen das Ende erreicht hatte, befand sie sich erneut vor einer Tür. Diese hier war allerdings einfach gehalten, ohne viel Prunk oder aufwendige Verarbeitung. Auf dem Knauf befand sich eine dünne Staubschicht. Sichtbar genug um zu erkennen, dass hier schon etwas länger keiner mehr gewesen war, aber zu dünn, um von Jahren der Nichtkenntnis zu sprechen. Sicherlich hatte der Undertaker dieses Versteck noch einmal aufgesucht, bevor er nach Deutschland gegangen war. „Na, dann mal los“, sprach sie sich selbst Mut zu, ergriff den Türknauf und öffnete den Eingang zur Gruft. Dieses Mal hatte die Blondine sich nicht geirrt. Das Erste, was sie wahrnahm, war ein leicht grünlicher Schimmer, der von einer hohen, geraden Säule ausging. Sie stand im hinteren Teil des Raumes und nahm den Großteil der Fläche ein. Einzig ein verwitterter Schreibtisch und ein etwas schief stehender Stuhl befanden sich zusätzlich noch in der Kammer. Und in der Säule schwamm – man konnte es wirklich nicht anders ausdrücken – schwamm ein Körper. Der Körper einer Frau. Obwohl Carina es geahnt hatte, musste sie doch einige tiefe Atemzüge nehmen, um sich zu beruhigen. Selbst ihr Kind schien ihre innerliche Anspannung deutlich zu spüren, denn sogleich ereilte sie ein leichter Tritt seitlich des Bauchnabels. „Aua“, japste sie und strich sanft über die getroffene Stelle. „Schon gut, schon gut. Ich bleib ja ruhig.“ Trotzdem wanderte ihr Blick erneut zu der Frau im Glasbehälter. Sie war nackt, ihre Finger auf Höhe des Abdomens ineinander verschränkt. Fast wie bei einem Gebet. Ihre elfenbeinfarbene Haut konnte Carina sogar durch die grünliche Flüssigkeit ziemlich genau erkennen. Generell konnte sie alles von diesem Körper ziemlich genau erkennen. Ihre schlanken, langen Bein, die schmalen – beinahe schon ein wenig zu dünnen – Hüften, zwei wohlgeformte Brüste und einen sehnigen Hals, der natürlich auch zu einem recht hübschen Gesicht führte. Langes, dunkles Haar umspielte ihre Wangen und erinnerte die werdende Mutter ein wenig an die Haarfarbe des jetzigen Wachhundes der Königin. Eine gerade Nase, volle Lippen und mit dichten Wimpern besetzte Augen gaben dem Bild den letzten Schliff. Carina konnte es nicht leugnen, Claudia Phantomhive war eine durch und durch attraktive Frau. Ihre 36 Jahre sah man ihr definitiv nicht an, genauso wenig wie die Tatsache, dass sie bereits seit 23 Jahren tot war. Die Schnitterin wusste nicht, wie der Undertaker es angestellt hatte; ob er lediglich Formaldehyd verwendet oder sogar ihre Cinematic Records so bearbeitet hatte, dass ihr Körper nicht mehr verwesen konnte. Carina konnte einzig und allein feststellen, dass er ganze Arbeit geleistet hatte. Sollte er tatsächlich eine Methode finden ihr eine Seele zu geben, dann würde kein Mensch jemals darauf kommen, dass diese Frau einmal tot gewesen war. Das wirklich Seltsame an der ganzen Sache war jedoch, dass Carina neben der brennenden Eifersucht – die natürlich wieder in ihrem kleinen, dummen Herzen aufgeflackert war – beinahe gar nichts spürte. Keine Wut, keinen Hass, rein gar nichts. Keinerlei negative Gefühle der Frau gegenüber, der sie es quasi verdankte, dass Cedric sich nicht ein Stück für sie interessierte. „Sie kann ja auch eigentlich gar nichts dafür“, dachte sich die junge Frau. Jetzt, wo sie die Leiche der Phantomhive hier so vor sich rumdümpeln sah, verspürte Carina sogar fast ein wenig Mitleid mit ihr. Konnte ihr Geist, ihre Seele wirklich jemals Frieden finden, solange ihr Körper auf der irdischen Welt verblieb? „Wenn sie wüsste, wie sehr Cedric unter ihrem Verlust leidet, dann würde sie wahrscheinlich tatsächlich keinen Frieden finden. Aber sie weiß es nicht und wird es auch nie wissen. Denn ihre Seele ist weitergegangen und wird auch niemals zurückkehren.“ Wäre sie eine andere Person, hätte sie einen anderen Charakter, dann könnte sie es jetzt beenden. Sie könnte das Glas der Säule zerbrechen, die Leiche aus ihrem Gefängnis befreien und Claudia Phantomhive endlich der Erde übergeben, sodass sie selbst wieder zur Erde wurde. Es könnte so einfach sein. Aber sie war nun einmal nicht so. Cedric und sie würden zwar niemals zusammen sein, aber sie waren dann doch relativ unkritisch auseinandergegangen, ohne größere Kollateralschäden. Wenn sie ihm jetzt seine Hoffnung nahm, seine Hoffnung auf ein erneutes Leben mit der Mutter seines Sohnes, dann würde er sie auf ewig hassen. Und das war das Allerletzte, was Carina wollte. „Er muss es irgendwann von selbst einsehen. Ich kann ihm dabei nicht helfen. Das ist eine Sache, die er ganz alleine begreifen muss.“ Seufzend wandte die junge Frau den Blick ab und machte sich daran die Treppenstufen wieder hochzusteigen. Sie hatte bereits schon viel zu viel Zeit an die Vergangenheit verschwendet. Ihre Hand wanderte ganz automatisch zu ihrem Babybauch. Jetzt wurde es Zeit an die Zukunft zu denken. „Verflucht!“ Die aggressive Stimme hallte durch die Wohnung und noch im gleichen Moment wischte der Silberhaarige mit einer einzigen Handbewegung seine gesamten Unterlagen vom Tisch. Lose Blätter, kleine Notizzettel und Stifte fielen klappernd zu Boden, doch das interessierte den Bestatter herzlich wenig. Wut und Enttäuschung kämpften in seinem Inneren um die Vorherrschaft. Warum? Warum fand er keine Lösung? Er hatte nun schon so viele Dinge ausprobiert, doch egal was er auch versuchte, es lief immer auf das Gleiche hinaus. Seine Experimente waren nach wie vor gefühllose, menschenverschliegende Puppe ohne Sinn und Verstand. Natürlich, es gab Exemplare, die tatsächlich überaus gut gelungen waren, aber selbst diese kamen nicht annähernd an das heran, was er sich erhofft hatte. Was er seit 23 Jahren erreichen wollte. „Claudia…“ Wie oft war er schon kurz davor gewesen aufzugeben? Und wie oft hatte er sich dann doch wieder berappelt und einfach weitergemacht? Nur, um jedes Mal auf’s Neue enttäuscht zu werden. Immer größer wurden die Zweifel, immer drängender die Frage, ob es überhaupt möglich war. Konnte man eine Seele selbst erschaffen? Konnte man jemanden wahrhaftig von den Toten zurückholen? In seinen Augen wurden die Möglichkeiten von Tag zu Tag weniger, die Wahrscheinlichkeit geringer. Doch obwohl er das alles bereits selbst realisiert hatte, schob er diese Gedanken in die hinterste Schublade seines Unterbewusstseins. Was blieb ihm denn noch, wenn er Claudia nicht retten konnte? Vincent war unwiderruflich tot, Ciel hatte einen Pakt mit diesem verdammten Teufel geschlossen und stand somit ebenfalls mit einem Bein im Grab. Was blieb denn dann noch übrig? Ohne es zu wollen schob sich automatisch ein Bild von einer blonden, jungen Frau vor sein inneres Auge. Und ihre Stimme hallte in seinem Kopf nach. „Weil ich dich liebe, du Idiot!“ Der Shinigami raufte sich die Haare. Hatte Carina eigentlich eine Ahnung, was sie mit diesen Worten angerichtet hatte? Ständig, wirklich ständig musste er daran denken. An ihr letztes Treffen, ihr Liebesgeständnis, die Tränen auf ihren Wangen und diesen einen, letzten Kuss… Es lenkte ihn nicht nur extrem von seiner Arbeit ab, es machte ihn auch noch wahnsinnig! Gleichzeitig hatte der Totengräber ein schlechtes Gewissen. Eigentlich suchte er verzweifelt nach einer Lösung, um Claudia wieder zurückzuholen, dachte dann aber gleichzeitig die ganze Zeit an eine andere Frau? Was zur Hölle war nur los mit ihm? Seufzend begab er sich in die Hocke, um die Unterlagen vom Boden aufzulesen. Wenn er wirklich ehrlich zu sich selbst war, dann dachte er mittlerweile schon öfter über Carina nach als über Claudia. Und das verwirrte ihn. Die Verbindung zwischen Claudia und ihm war vom ersten Moment an dermaßen eng gewesen, dass er sofort gewusst hatte was er fühlte. Bei Carina hingegen hatte es sich schleichend entwickelt, nach und nach. Dennoch tat das der Intensität seiner Gefühle ihr gegenüber keinen Abbruch und- Mit einem Mal hielt er in seiner Bewegung inne. Wie erstarrt blieb er hockend am Boden sitzen. Was hatte er da gerade gedacht? G-Gefühle??? „Unmöglich“, wisperte er. Nein, das konnte nicht sein. Nein, er hatte sich damals geschworen diesen Fehler kein zweites Mal zu begehen. Er konnte sich nicht in sie… Nein, das war unmöglich! „Ich kann mich nicht in sie verliebt haben“, schoss es ihm durch den Kopf. Während der ganzen Zeit, die sie beide miteinander verbracht hatten, hatte er doch immer an der Weiterführung seines Plans gearbeitet. Trotz ihrer Anwesenheit hatte er seine Experimente weitergeführt, ohne Rücksicht auf Verluste. Außerdem war sie eine Shinigami. Sie arbeitete für den Dispatch, seinen selbsterklärten Feind. Das konnte niemals gut gehen. Überhaupt war der bloße Gedanke lächerlich! Er kannte sie doch kaum. Claudia und er hatten zwei Jahrzehnte miteinander verbracht, Carina und er nur ein paar Wochen. Wie konnte man sich in jemanden verlieben, den man kaum kannte? „Nicht, dass ich sie nicht mag“, dachte er, denn er mochte sie wirklich! Er mochte ihre lockere Art und ihren scharfen Verstand. Er mochte es, wenn sie ihm Widerworte gab und ihn herausforderte. Er mochte ihre Lippen, ihr Lachen und ihren friedlichen Gesichtsausdruck, wenn sie schlafend neben ihm gelegen hatte. Er mochte ihren Körper, der sich so perfekt an seinen geschmiegt hatte, ihren Duft und er liebte ihre marineblauen Augen, die blauer waren als der tiefste Ozean… „Verflucht“, flüsterte er, doch dieses Mal war der aggressive Unterton aus seiner Stimme verschwunden. Vielmehr klang er nun entsetzt. Eine Erkenntnis blühte in ihm heran, für die er alles andere als bereit war. Zusätzlich besaß sein Herz doch tatsächlich noch die Frechheit plötzlich schneller zu schlagen. Nein, das alles war ausgemachter Blödsinn. Er war frustriert aufgrund seiner fehlgeschlagenen Experimente und bildete sich nun Dinge ein, die nicht stimmten. Würde er Carina lieben, dann hätte er das doch schon längst bemerkt. Die kleine Stimme in seinem Hinterkopf, die ihm immer wieder dieses verdammte „Weil ich dich liebe, du Idiot!“ entgegenschleuderte, ignorierte er gekonnt. Der ehemalige Schnitter erhob sich und legte die Unterlagen wieder auf dem Tisch ab. Es war eine dumme Idee von ihm gewesen nach Frankreich zu reisen. Hier war er bisher kein Stück weitergekommen. „Möglicherweise täte mir ein Ortswechsel gut“, murmelte er und fasste gleich darauf einen Entschluss. Ja, vielleicht wurde es endlich Zeit nach London zurückzukehren. Kapitel 60: Die zweite Geschichte --------------------------------- „Du hast das Richtige getan, Carina“, sagte Alice und legte ihrer besten Freundin eine Hand auf die Schulter. Seit ihrer Begegnung mit Claudia Phantomhive waren drei Wochen vergangen und erst jetzt hatte sich für die Schwarzhaarige wieder die Gelegenheit ergeben in die Menschenwelt zu kommen. „Ich weiß“, seufzte die Schnitterin und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. „Grell hat mir erstaunlicherweise genau das Gleiche gesagt. Und ich weiß, dass es das Richtige war, ich fühl mich nur trotzdem“, sie suchte nach dem korrekten Wort, „niedergeschlagen“, seufzte sie schließlich. Alice runzelte irritiert die Stirn. „Wieso das denn?“, fragte sie. „Du hast sie nicht gesehen, Alice. Man kann über die Phantomhives ja sagen, was man will. Aber so wirklich hässlich ist da anscheinend keiner. Und erst recht nicht Claudia Phantomhive.“ „Tze und wenn schon. Das hat ihr am Ende auch bemerkenswert wenig gebracht, oder etwa nicht?“, erwiderte die Rezeptionistin augenverdrehend. „Außerdem hätte dein Auserwählter wohl kaum mehrere Male mit dir das Bett geteilt, wenn er dich hässlich finden würde, oder?“ „Er ist nicht mein Auserwählter“, murmelte Carina peinlich berührt zurück, fühlte sich durch die Worte ihrer Freundin aber doch ein wenig bestärkt. Sie hatte in den letzten beiden Wochen wahrlich genug Zeit gehabt, um über ihr Eindringen in das Familiengrab der Phantomhives nachzudenken. Und obwohl sie wusste, dass ihre Entscheidung richtig gewesen war, dass sie – wie Alice es bereits gesagt hatte – das Richtige getan hatte, wurde die ganze Angelegenheit doch von einem recht bitteren Beigeschmack begleitet. Es machte sie selbst nervös, dass sie um den Ort der Leiche wusste. Und, dass dieser Ort nur wenige Stunden von ihrem eigenen Aufenthaltsort entfernt war. Cedric würde früher oder später wieder nach London zurückkehren. Entweder, weil er endlich einen Weg gefunden hatte seine Geliebte zurückzuholen oder, weil er nach dem Rechten schauen wollte. „Ich mache mir unnötig Sorgen“, redete Carina sich ein. Er wusste ja schließlich nicht, dass sie dort gewesen war. Generell glaubte er doch, dass sie nach ihrem Aufenthalt in Deutschland wieder zum Dispatch zurückgekehrt war. Er würde sie hier niemals finden. Dennoch, der bittere Geschmack blieb… „Sag mal, was hat Grell denn eigentlich wortwörtlich gesagt?“, wollte Alice nun wissen und versuchte, mehr oder weniger offensichtlich, vom derzeitigen Thema abzulenken. „Im ersten Moment meinte er scherzhaft, dass er an meiner Stelle seine Kettensäge rausgeholt und die Säule in zwei saubere Hälften gesägt hätte.“ Carina verdrehte die Augen, musste aber dabei grinsen. „Dann meinte er das Gleiche wie du. Dass ich richtig gehandelt habe, weil mir diese Tat keinerlei Erleichterung gebracht hätte.“ „Siehst du? Selbst er ist der Meinung und das will schon was heißen. Aus seinem Mund können ja doch ganz intelligente Sachen raus kommen.“ Carina lachte. „Ihr beiden hört auch nie auf gemein zueinander zu sein, was?“ „Wo wäre denn da der Spaß?“, zwinkerte Alice und streckte sich einmal ausgiebig auf der Couch. Carina schaute währenddessen aus dem Fenster. Sie hatten jetzt Ende September und bereits seit einer Woche regnete es fast ununterbrochen. Das miese Wetter, der ständige Nebel und der Regen machten die Blondine fast ein wenig depressiv. Wie gerne hätte sie einfach nur mal einen kleinen Spaziergang draußen unternommen oder sich ein wenig unten an den See gesetzt, um die Landschaft und Ruhe zu genießen. Nein, stattdessen hockte sie hier drinnen wie auf heißen Kohlen und versuchte sich anderweitig die Zeit zu vertreiben. Nicht einmal die Wäsche konnte sie draußen aufhängen. Noch dazu kam ihre körperliche Verfassung. Ihr Bauch war mittlerweile so dick, dass er gelegentlich wirklich im Weg war und Carina unfreiwillig immer mal wieder irgendwo aneckte. Einfach aus dem Grund, dass sie das ganze Ausmaß der Wölbung nicht mehr überblicken konnte. Vor allem in der Nacht war das ein großes Hindernis. Der Harndrang war ein wenig schlimmer geworden, aber das konnte die Schnitterin irgendwie noch ertragen. Was hier hingegen richtig auf die Nerven ging war die Tatsache, dass sie ewig brauchte, um eine entspannte Position zum Schlafen zu finden. Auf dem Rücken konnte sie nicht lange liegen, weil ihr eben dieser wehtat. Auf dem Bauch konnte sie – logischerweise – überhaupt nicht mehr schlafen. Blieb also nur die seitliche Lage, in der die werdende Mutter allerdings auch alle paar Minuten ihre Position änderte. Beine ausgestreckt oder gewinkelt, ein Bein ausgestreckt und das andere gewinkelt, vielleicht doch die andere Seite… „Was bin ich froh, wenn das Kind da ist“, dachte sie, aber das brachte sie unweigerlich zum nächsten Punkt auf ihrer Liste der Dinge, die ihr durch den Kopf gingen. Je näher der Geburtstermin rückte, umso nervöser wurde Carina. Eigentlich hatte sie sich immer gedacht, dass wenn sie mal ein Kind bekommen sollte, dieses natürlich auch in einem Krankenhaus geboren werden würde. Diesen Zahn hatten Alice und Grell ihr jedoch relativ schnell gezogen. „Mal ganz abgesehen davon, dass die Ärzte misstrauisch werden würden, wenn deine möglichen Wunden so ungewöhnlich schnell abheilen“, hatte Grell gesagt und dabei einen belehrenden Gesichtsausdruck aufgesetzt. „Du weißt doch genau, dass Shinigami ständig Einsätze im Krankenhaus haben. Jetzt stell dir doch nur einmal vor, dass dich dort zufällig jemand sieht, während du dein Kind zur Welt bringst. Dann ist der Dispatch schneller im Kreissaal, als du überhaupt pressen kannst.“ Natürlich stimmte es, was er sagte. Und Carina sah das auch ein. Sie war zu weit gekommen, um jetzt aufzufliegen. Dennoch, ihr machte diese ganze Vorstellung einfach Angst. Die Schmerzen, die Ungewissheit, ob es ihrem Baby auch während der Geburt gut ging… Verflucht, in der Neuzeit war das einfach alles viel sicherer und besser geregelt! „Du denkst wieder über die Geburt nach, oder?“, fragte Alice in diesem Moment und Carina konnte einfach nicht anders, als sie verwundert anzustarren. „Was denn, bist du jetzt unter die Gedankenleser gegangen?“, scherzte sie, woraufhin die Schwarzhaarige spielerisch zwinkerte. „Nein, aber du bekommst immer so eine steile Falte auf der Stirn, wenn du dich um etwas sorgst. Und da du momentan außer der Geburt keine größeren Sorgen haben musst, habe ich einfach mal ins Blaue geraten.“ Carina seufzte ein weiteres Mal. „Nun“, begann sie langsam und kratzte sich kurz am Kopf. „Du liegst richtig.“ Ein zittriger Atemzug verließ ihre Lippen. Als sie ihre nächsten Worte sprach, sah sie ihre beste Freundin nicht an. „Was, wenn ich alleine bin, wenn die Wehen einsetzen?“ „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich dich in den letzten Wochen noch alleine lassen würde?“ Carina wandte ihr wieder den Blick zu, ihre Augenbrauen zogen sich verwirrt zusammen. „Alice, wie willst du das machen? Urlaub beantragen? Das geht ja wohl schlecht.“ „Nein, das wahrlich nicht. Aber es gibt einen anderen Weg.“ Sie lehnte sich in der Couch zurück. „Hast du schon einmal mitbekommen, wie ein Shinigami einen Nervenzusammenbruch hatte?“ Die Schnitterin zuckte mit den Schultern. „Ein oder zwei Mal. Wieso?“ „Das ist nichts Unübliches in unserer Gesellschaft. Auch, wenn die Meisten ihre Vergangenheit irgendwann hinter sich lassen können, holt es doch immer wieder welche ein. Für die Oberen ist es besonders wichtig, dass in ihren Reihen Ordnung herrscht und dass jeder Todesgott so funktioniert, wie er nun einmal funktionieren soll. Daher wurde schon vor Jahrhunderten das Gesetz erlassen, dass jeder Todesgott, dessen Sinne einmal „aussetzen“, einen ganzen Monat Zeit bekommt. Zeit bekommt, um sich wieder auf das Wesentliche zu besinnen.“ Carina schnaubte. „Ja, das klingt ganz nach den Oberen.“ Missbilligung lag in ihrer Stimme und machte deutlich, was sie von ihren ehemaligen Vorgesetzten hielt. „Und in diesem Monat können die Shinigami dann wirklich machen, was sie wollen?“ „Nun, sie dürfen natürlich nicht gegen das Regelwerk verstoßen, soviel ist klar. Aber ja, ansonsten können sie machen, tun und lassen wie es ihnen beliebt.“ Sie verzog den Mund. „Na ja, leider verbringt der größte Teil dieser Dummköpfe diese freie Zeit damit, sich in ihren Zimmern einzuschließen und sich in die Stille zu flüchten in der Hoffnung, dass es ihnen nach einem Monat wieder gut genug geht, um vielleicht erneut 100 Jahre lang zu dienen. Nur, um dann das ganze Spielchen von vorne zu beginnen. Es ist ein verdammter Teufelskreis.“ „Das ist wohl wahr“, murmelte Carina und beäugte die Rezeptionistin. „Kann ich also davon ausgehen, dass du dein schauspielerisches Talent in mehreren Wochen unter Beweis stellen wirst?“ Alice grinste. „Ja, das kannst du. Und von da an werde ich Tag und Nacht auf dich aufpassen.“ Unendliche Erleichterung breitete sich in der jungen Frau aus. „Gut“, atmete sie auf, gleichzeitig brannte ihr jedoch noch eine Frage auf der Zunge. Doch sie zögerte. „Alice“, begann sie vorsichtig, „ich möchte dir nicht zu nahe treten, das möchte ich wirklich nicht! Aber…“, sie zögerte erneut und sah ihre Freundin entschuldigend an. Das hier war eigentlich ein Verstoß gegen die Regel, die sie sich selbst auferlegt hatte. Nie wieder nach der Vergangenheit eines Shinigami fragen. „Aber“, setzte sie noch einmal an, „hast du Erfahrungen mit Geburten?“ Alice wirkte nicht so, als würde sie die Frage großartig verärgern. Oder gar überraschen. Sie stieß die Luft in ihren Lungen langsam aus. „Ich habe mich schon gefragt, wann du mir endlich diese Frage stellen würdest.“ „Es tut mir leid, ich-“ „Entschuldige dich nicht. Es ist in Ordnung, es geht hier immerhin um dein Kind.“ Sie lächelte. „Ja, ich kenne mich mit Geburten aus. Sowohl als Zuschauer, als auch persönlich.“ Carinas Hals wurde trocken. Sie hatte so etwas in der Art zwar bereits vermutet, aber die Bestätigung zu bekommen war dann doch etwas anderes. „Du…du hattest ein Kind?“, flüsterte sie. „Ja, das hatte ich.“ Alice’ Augen nahmen einen trüben Ausdruck an, ein schweres Lächeln lag ihr auf den Lippen. „Ein Junge. Jamie.“ Carina traute sich kaum etwas zu sagen. Doch das musste sie auch nicht. Scheinbar war ihrer Freundin daran gelegen ihr die ganze Vergangenheit ihrerseits offen zu legen. „Du musst wissen, ich hatte drei ältere Schwestern und alle von ihnen haben mehr als drei Kinder geboren. Ich war bei jeder Geburt dabei und bin mittlerweile mit fast allen möglichen Komplikationen betraut. Und du bist eine Shinigami, du kannst nicht sterben.“ „Es ist nicht mich, um die ich mich sorge“, sagte die Schwangere. „Ich weiß. Aber jedes der Kinder meiner Schwestern hat überlebt. Und das war wirklich ein Glücksfall für mich, weißt du. Mein Vater war der Chef einer der führenden Londoner Banken. Er gehörte zwar nicht zum Hochadel, hatte aber einen einflussreichen Familiennamen und brauchte daher natürlich Erben, um seine Familie weiterzuführen. Leider“, seufzte sie und musste kurz grinsen, „leider war er nur mit vier Töchtern gesegnet, aber mit keinem Sohn, der seinen Familiennamen weiterführen konnte. Aber im Gegenzug zu anderen Männern fand er sich damit ab.“ Eine einzelne, silbrig glänzende Träne rollte über ihre rechte Wange. „Er hat uns alle vier so sehr geliebt“, wisperte sie und Carina legte ihrer Freundin sanft eine Hand auf den Handrücken. „Ich hatte mehr Glück als die meisten Mädchen in meinem Alter. Dadurch, dass meine drei älteren Schwestern alle einflussreiche oder adelige Männer heirateten, war es mir erlaubt den Mann zu heiraten, den ich liebte. Wer kann das in der heutigen Zeit schon von sich behaupten?“ Carina lächelte. „Wer war er?“, fragte sie leise. „Sein Name war John Gray. Wir lernten uns zufällig kennen, als ich meinen Vater in der Bank besuchte, um ihm ein Lunchpaket meiner Mutter vorbeizubringen. Er hatte dort gerade erst als Auszubildender angefangen, aber er war bereits so vielversprechend. Mein Vater sprach oft von ihm zu Hause, lobte ihn in den höchsten Tönen. So oft, dass ich schon fast ein wenig eifersüchtig auf diesen ominösen Fremden wurde. Aber als ich ihn dann das erste Mal zu Gesicht bekam…“ Sie errötete schwach und lachte. „Er war der bestaussehendste Mann, den ich je getroffen habe. Mit seinen schwarzen Locken, seinen grünen Augen und diesen kleinen Grübchen. Ich war auf der Stelle in ihn verliebt und er wohl auch in mich, wie er mir nach unserer Hochzeit berichtete. Ich war so glücklich, dass ich ihn heiraten dürfte. Obwohl er weder einen nennenswerten Titel hatte, noch eine wohlhabende Familie dürfte ich ihn heiraten. Da war ich gerade 15 Jahre alt geworden.“ Carina zuckte kurz zusammen, besann sich jedoch dann eines Besseren. Hier in dieser Zeit war es vollkommen normal in diesem Alter bereits verheiratet zu werden. Dennoch, die Vorstellung war ihr einfach fremd. Mit 15 war man in ihren Augen doch immerhin selbst noch ein Kind… „Und weißt du, was John auf der Hochzeit dann noch erklärt hat? Er würde seinen Namen ablegen und den meinen annehmen, damit der Name meines Vaters fortbestehen würde. Als mein Vater das hörte, brach er in Tränen aus. Was mir verdeutlichte, dass er sehr wohl darunter gelitten haben musste keinen Sohn gezeugt zu haben. Ab diesem Zeitpunkt war alles, wirklich alles so perfekt.“ „Aber nicht für immer, oder?“, fragte Carina, denn so musste es einfach sein. Alice hatte sich schließlich nicht das Leben genommen, weil alles so perfekt gewesen war. „Nein, nicht für immer.“ Die Schwarzhaarige schwieg, ihr Gesicht war merklich blass geworden. „Hat er dich geschlagen?“, murmelte die Schnitterin, doch ihr Gegenüber schüttelte den Kopf. „Nein, hat er nicht. Mein Selbstmord hatte rein gar nichts mit meiner Familie zu tun. Nur mit einer Verkettung unglücklicher Umstände und mit dem Verlust der Menschen, die ich liebte.“ Sie seufzte erneut und fuhr dann fort. „Etwa ein Jahr, nachdem wir geheiratet hatten, wurde ich schwanger. Etwas, das ich schon so lange wollte. Etwas, um das ich meine Schwestern immer beneidet hatte.“ Sie schaute ihre Freundin aufmunternd an. „Die Geburt war hart, ja, aber es lohnt sich. Und glaub mir, du hast schon Schlimmeres durchgemacht als das.“ Carina erwiderte ihren Blick. „Wie war er?“, fragte sie sanft und stellte gleichzeitig fest, dass sie sich Alice sehr gut als Mutter vorstellen konnte. Viel besser, als sich selbst. „Jamie? Er war vom ersten Tag an so ein liebes Baby. Er hat kaum geschrien und war auch sonst relativ pflegeleicht. Etwas, um das mich dann andererseits mal meine Schwestern beneideten.“ Sie lachte. „Er hatte die schwarzen Locken seines Vaters und meine braunen Augen. Nun ja, als sie noch braun waren jedenfalls“, sagte sie und deutete auf die nun gelbgrünen Seelenspiegel hinter ihren Brillengläsern. „Ich hatte also alles, was ich immer wollte. Einen Mann, ein Kind, ein gutes Leben…Aber es hielt nicht lange. Nur 3 Jahre.“ Sie knetete unruhig ihre Hände. „Wir hatten gerade erst Jamies dritten Geburtstag gefeiert. Ungefähr eine Woche später passierte es dann. Ich hatte bereits das Abendessen gemacht, Jamie lag schon in seinem Bettchen und ich wartete darauf, dass John von der Arbeit nach Hause kam. Ein klein wenig verwundert war ich schon, normalerweise kam er immer pünktlich zum Essen. Doch nicht an diesem Tag. Ich wartete und wartete und als ich dann nach 2 Stunden schon kurz davor war zur Bank zu gehen und selbst nach ihm zu schauen, da läutete es an der Haustür. Ich…i-ich machte sie auf und davor standen z-zwei Polizisten.“ Ihre Stimme geriet leicht ins Stocken, ihre Augen wurden glasig. Der Blondine sackte das Herz mehrere Zentimeter nach unten, als sie ihre Freundin so sah. Sie konnte sich bereits ziemlich genau vorstellen, was passiert sein musste. „Sie haben mir gesagt, dass es einen Überfall auf die Bank meines Vaters gegeben hätte. Einer der beiden Straftäter hat wohl währenddessen die Nerven verloren und angefangen wie wild mit seiner Pistole in der Filiale rumzuschießen. Mein Vater wurde in die Stirn getroffen, er war sofort tot. John hingegen hat versucht die aufkommende Panik zu unterbinden, er wollte mit den Verbrechern verhandeln. Aber als diese das ganze Geld in ihre Taschen gesteckt hatten, wollten sie auf Nummer Sicher gehen, dass auch wirklich keiner der Besucher sie erkannt hatte. Also haben sie alle in der Bank erschossen.“ Sie schluckte trocken, während Carina nach Luft schnappte. „Die Polizisten sprachen mir ihr Beileid aus, aber davon habe ich kaum noch etwas mitbekommen. Da war eine Stille und Leere um mich herum, ein Gefühl der Eiseskälte direkt in meiner Kehle. Ich habe kaum gemerkt, dass die beiden Männer gegangen sind. Habe nur entfernt Jamie in seinem Zimmer wimmern hören. Alles, was ich vor mir sah, war Johns Gesicht und der Gedanke, dass er unmöglich tot sein konnte. Wir hatten doch morgens noch miteinander geredet, uns voneinander verabschiedet, als er zur Arbeit ging. Wie konnte er da jetzt einfach tot sein? Einfach…nicht mehr da sein?“ Nun war Carina diejenige, deren Augen glasig wurden. Sie konnte sich zwar vorstellen wie es war den wichtigsten Mensch im Leben zu verlieren, aber nicht, dass der wichtigste Mensch im Leben tot war. „Jamie war das Einzige, was mich aufrecht hielt. Ohne ihn wäre ich wahnsinnig geworden. Für ihn habe ich durchgehalten, habe mich zusammengerissen. Das Leben musste irgendwie weitergehen. Und das ging es auch, jedenfalls für ein paar Monate. Bevor mich das Schicksal dann erneut einholte.“ Sie schloss die Augen. „Es fing alles mit einem harmlosen Husten und etwas Fieber an. Es war Winter, also eigentlich gar keine so ungewöhnliche Jahreszeit für eine Erkältung. Ich hab ihn dick eingepackt und in der Apotheke Medikamente geholt. Allerdings merkte ich schnell, dass die üblichen Dinge bei Jamie nicht anschlugen. Ganz im Gegenteil, der Husten wurde immer schlimmer und er konnte sich nicht mal mehr zum Spielen aufraffen. Als dann auch noch Erbrechen dazu kam, habe ich direkt unseren Hausarzt rufen lassen.“ Tränen kullerten ihr nun ganz offen über die Wangen. „Ich wusste sofort, dass etwas nicht stimmen konnte, weißt du? Der Arzt hat ihn ganz stillschweigend untersucht, er hat kein einziges Wort währenddessen gesagt und das war an und für sich schon recht ungewöhnlich. Als er dann schließlich fertig war, bat er mich in das Wohnzimmer und wir haben uns zusammen an den Esstisch gesetzt. Und dann… dann hat er mir gesagt, dass mein Sohn Diphtherie hat.“ Carina versteifte sich unwillkürlich. Diese Krankheit war ihr natürlich ein Begriff. In ihrer Zeit gab es dagegen längst eine Impfung. Aber sie hatte Geschichten gehört. Wie viele Kinder diese Krankheit dahin gerafft hatte. Und in ihren Zeiten als Seelensammlerin hatte sie es selbst erlebt. „Er meinte die Krankheit wäre schon sehr weit fortgeschritten und hätte bereits sein kleines Herz befallen. Und es ginge schon nicht mehr darum sein Leben zu retten. Sondern nur noch darum, ihm seine Schmerzen zu nehmen und ihm den Tod zu erleichtern.“ „Oh Alice“, wisperte Carina mit gebrochener Stimme und konnte die Tränen nun auch nicht mehr zurückhalten. Angesprochene wischte sich langsam die Wangen trocken und schniefte kurz in ein Taschentuch. Dann lächelte sie freudlos. „Das einzige Positive, was ich sagen kann, ist, dass er nicht sehr lange leiden musste. Nach nur wenigen Tagen ist er ganz einfach eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Ich saß bei ihm und hab die ganze Zeit seine Hand gehalten. Er sah so friedlich aus…“ „Du musst nicht weitersprechen“, meinte die Blondine bekümmert, den Rest konnte sie sich auch so vorstellen. „Nein, ich möchte es dir sagen“, entgegnete Alice ernst. „Du hast mir auch deine ganze Vergangenheit erzählt. Es ist nur fair, wenn ich dasselbe tue. Aber der Rest ist relativ schnell erzählt.“ Sie rieb sich die Hände, als wäre ihr kalt. „Du kannst dir vorstellen, dass meine Mutter und meine Schwestern alles versucht haben, um mich irgendwie aufzumuntern. Natürlich hat nichts davon funktioniert. Ich hatte innerhalb eines Jahres beinahe alles verloren, was mir lieb und teuer war. Ich war innerlich leer. Nachts konnte ich nicht schlafen und wenn doch, dann träumte ich davon, dass sie alle noch da wären. Mein Vater, John und Jamie. Manchmal wachte ich schweißgebadet auf und bildete mir ein Jamie in seinem Zimmer weinen zu hören. Doch jedes Mal fand ich nur ein leeres Bettchen vor, das mich daran erinnerte, dass er für immer fort war. Immer wieder sah ich seinen kleinen Sarg vor mir und wie er langsam in diesem Grab verschwand. Es war einfach nur noch unerträglich.“ Die Schwarzhaarige wickelte sich eine ihrer langen Strähnen um den Finger. „Ich wollte bei ihm sein. Das war mein einziger Gedanke, von früh morgens bis spät abends. Also…“, sie holte tief Luft. „Also habe ich mir einen Strick genommen und mich in seinem Zimmer am Deckenbalken erhängt.“ Carina schloss die Augen. Das war eine der Todesarten, die sie sich selbst in ihren kühnsten Träumen einfach nicht vorstellen konnte. Wie viel Überwindung musste es kosten diese ganze Konstruktion aufzubauen, sich dann auf einen Stuhl oder Hocker zu stellen und dann... „Und was soll ich sagen?“, unterbrach Alice ihre Gedankengänge. „Damals glaubte ich daran, dass es einen gnädigen Gott gibt, der mich nach meinem Tod wieder mit meinem Mann und meinem Sohn vereint. Wie dämlich ich doch war!“ „Du warst nicht dämlich, Alice. Du warst verzweifelt. Das sind zwei vollkommen unterschiedliche Dinge. Und ich finde es überhaupt nicht dämlich, wenn man hofft die Menschen, die man liebt, nach dem Tod wiederzusehen. Was ist daran bitteschön verwerflich?“ „Das werden wir wohl nie herausfinden, nicht wahr? Unsere Seelen werden niemals dort landen, wo ihre sind. Durch meinen Selbstmord habe ich mir für immer die Chance genommen sie wiederzusehen.“ Ihre sonst immer so starke Freundin begann zu schluchzen, woraufhin Carina sie fest in ihre Arme schloss. Na ja, so fest wie es mit dem Bauch halt ging. „Ich schätze das werden wir wohl erst herausfinden, wenn es soweit ist“, murmelte sie und streichelte Alice beruhigend über den Rücken. Nach mehreren Minuten der Stille schien die Shinigami sich wieder ein wenig zu fangen, jedenfalls hörte das Schluchzen auf und auch die Tränen versiegten langsam. Carina lächelte leicht. „Ich bin so froh, dass du da bist, Alice. Alleine würde ich das alles kaum durchstehen, geschweige denn die Geburt. Danke.“ Angesprochene lächelte nun auch wieder, obwohl ihre Augen immer noch gerötet waren. „Für dich und mein Patenkind würde ich allen tun, Carina. Wir stehen das schon durch. Gemeinsam.“ Die werdende Mutter nickte, während ihr Lächeln nun breiter wurde. „Ja. Gemeinsam.“ Seltsame Freude ergriff ihn, als sich am Horizont langsam die Umrisse der englischen Hauptstadt abzeichneten. In seinem langen Leben hatte er schon sehr viele Länder bereist und unglaublich viele Kulturen, Menschen und Dinge gesehen. Doch irgendwie zog es ihn früher oder später immer wieder nach London zurück. Diese Stadt hatte einfach etwas Faszinierendes. Der Shinigami trat näher an die Reling heran und genoss für einen Augenblick lediglich den Anblick. Im Endeffekt war er doch noch ein paar Wochen in Frankreich geblieben, um seine dortigen Forschungen abzuschließen und alles wieder so herzurichten, dass auch ja keine Spuren von seiner Anwesenheit zurückblieben. Was nicht sonderlich schwierig gewesen war, denn tatsächlich war er dieses Mal weder von seinesgleichen, noch von Ciel Phantomhive und seinem teuflischem Butler gestört worden. Und auch nicht von- „Nein“, schalt er sich innerlich. Diesem Gedankengang würde er dieses Mal nicht nachgehen. Sobald dieses Schiff im Hafen Londons anlegte, würde er zuallererst in dem Mausoleum der Familie Phantomhive nach dem Rechten sehen und sich dann überlegen, wie es weitergehen sollte. Sich einen neuen Plan zurechtlegen. Und bei diesem Vorgehen wären Gedanken an eine gewisse blonde Frau nun wirklich mehr als nur hinderlich. „Ich kann nur hoffen, dass sie zurzeit nicht im Dienst ist. Das möchte ich uns beiden nun wirklich ersparen.“ Ein Seufzen entfuhr widerwillig seinen Lippen und er strich sich seine silbernen Haare aus der Stirn, um besser in die Ferne sehen zu können, wo sich nun mittlerweile auch die schwache Form des Hafens abzeichnete. Wenn er doch zu diesem Zeitpunkt nur gewusst hätte, dass ihm bezüglich seines Besuches im Mausoleum jemand zuvor gekommen war… Kapitel 61: Eine Rückkehr mit unschönen Entdeckungen ---------------------------------------------------- Es kam ihm wie eine unendlich lange Zeit vor, seitdem er das letzte Mal den Londoner Friedhof betreten hatte. Dennoch war es gerade mal etwas länger als ein halbes Jahr und demnach sah auch noch alles ganz genauso aus, wie er es in Erinnerung hatte. Die Gräber, die Stille, der Geruch nach Erde, Moos und abgebrannten Kerzen… Jeder einzelne seiner Schritte war lautlos, er passte sich seiner Umgebung nahezu perfekt an. Zu seinem Glück fand zurzeit nicht einmal eine Beerdigung statt, er würde also keinerlei Probleme dabei haben sein gewünschtes Ziel zu erreichen. Seine schwarzen Stiefel knirschten nun ganz sachte auf dem Boden, als er über einen mit Kieselsteinen ausgelegten Pfad wanderte. Nun, da der Silberhaarige wieder in London war, konnte er endlich wieder seine alte Kleidung tragen. Keinen Anzug mehr oder etwas sonstiges Unauffälliges, nein. Einfach wieder seinen langen schwarzen Mantel und die darunter liegende Bekleidung, samt seiner Sotobas und dem etwas schief sitzenden Hut. Der Bestatter konnte nun bereits das Mausoleum aus der Ferne erkennen, aber dank seiner Kurzsichtigkeit konnte er den Familiennamen Phantomhive erst richtig lesen, als er unmittelbar vor dem Grab stand. Und noch etwas fiel seinen gelbgrünen Shinigami Augen auf, was sein Herz sogleich ein wenig schneller schlagen ließ. Die schwere Eisenkette, die normalerweise fest an der breiten Eingangstür befestigt war und jegliche Eindringlinge fern halten sollte, lag achtlos auf dem Boden. Leicht beunruhigt ging er vor dem zerstörten Konstrukt in die Knie und besah sich die Kette. Seine Beunruhigung steigerte sich. Wenn dies das Werk von Menschen gewesen war: in Ordnung. Dann wäre er von einfachen Grabräubern ausgegangen, die vielleicht nur nach Schätzen in den Grabkammern gesucht hatten, dabei aber sicherlich nicht so tollkühn gewesen wären und in die einzelnen Särge geschaut hätten. Aber diese Kette… „Das können keine Menschen gewesen sein. Hier wurden keine Werkzeuge verwendet, das Kettenglied wurde einfach mit einer Bewegung auseinandergerissen. Ein normaler Mensch wäre dazu niemals im Stande.“ Der Undertaker schaute hoch zur Tür. Ob etwa Sebastian hier gewesen war? Aber wieso? Er konnte nicht von Claudia wissen, nicht von ihrer gemeinsamen Beziehung. Und wenn er sie doch gefunden hatte?! Zügig richtete der Shinigami sich wieder auf und öffnete die Tür, um gleich darauf zielstrebig die Kammer seiner ehemaligen Geliebten aufzusuchen. Hier sah noch alles genauso aus, wie er es zurückgelassen hatte, aber das ungute Gefühl in seiner Magengegend wollte nicht weichen. Er musste einfach auf Nummer Sicher gehen. Mühelos hob er den Sargdeckel an und stieg gleich darauf eilig die Treppenstufen hinunter. Vor der Tür zu der Gruft, die der Totengräber eigenhändig erbaut hatte, blieb er jedoch erneut stehen. Vorhin hatte sein Herz für einen kurzen Moment schneller geschlagen. Jetzt hingegen setzte es direkt mehrere Schläge hintereinander aus, während sich Eiseskälte in ihm ausbreitete. Nicht jedem wäre aufgefallen, dass hier auf den ersten Blick etwas nicht stimmte. Seine Augen registrierten den altbekannten Staub, der sich natürlich auf dem Knauf der Tür angesammelt hatte. Aber sie registrierten auch die leicht ovalen Abdrücke, wo sich kein Staub befand und wo sich auch noch kein neuer hatte bilden können. „Fingerabdrücke…“ Jemand war hier gewesen und das vor noch nicht allzu langer Zeit. Cedrics Mund verzog sich missbilligend, gleichzeitig trat ein gefährliches Funkeln in seine Augen. Wenn der Butler es gewagt hatte Claudia auch nur anzurühren, dann konnte kein Trick der Welt und auch kein Ciel Phantomhive ihn noch retten! Doch hingegen aller Erwartungen, aller Befürchtungen, die er beim Eintreten gehabt hatte, war in dem kleinen Raum doch alles wie immer. Claudias Körper schien unversehrt zu sein, ebenso wie die Säule an sich. Sein Blick wanderte sehr langsam und abschätzend durch die gesamte Kammer, doch alles war tatsächlich wie zuvor. „Was zum Teufel…“, murmelte er und tippte sich nachdenklich mit seinem langen Zeigefinger gegen das Kinn. Er verstand einfach nicht, was hier vor sich gegangen war. Jemand war hier gewesen, das bewiesen sowohl die auseinandergerissene Kette, als auch die Fingerabdrücke an der Tür. Doch alles war so gelassen worden, wie es war. Hätte Sebastian oder sogar Ciel diesen Ort entdeckt, dann hätten sie die Säule vielleicht nicht sofort zerstört, aber gewiss hätten sie Claudia mit sich genommen. Entweder, um zu erkunden was er plante oder um ihn sogar zu erpressen. Und ein Shinigami hätte gewiss den ganzen Raum zerstört, wenn nicht sogar das ganze Mausoleum… Der Silberhaarige legte vorsichtig seine linke Hand auf die Säule und schaute zu der Frau hoch. Zu Claudia Phantomhive, der Mutter seines Sohnes. Seufzend lehnte er nun ebenfalls seine Stirn gegen das kühle Glas. „Ach Claudia“, wisperte er und schloss seine Augen. Egal, was er bisher auch versucht hatte, all seine Experimente waren fehlgeschlagen. War es denn wirklich so naiv von ihm gewesen zu glauben, dass er den Tod irgendwie austricksen konnte? Es gab doch immer irgendwie einen Ausweg, man musste ihn nur herausfinden. Er konnte doch nicht einfach so aufgeben. Was waren denn schon 23 Jahre Forschung für ihn, einen Todesgott? Er hatte alle Zeit der Welt. Seufzend drehte er sich um, wollte eigentlich gerade ein paar seiner Dokumente auf dem Schreibtisch ablegen und sich überlegen, wie es nun weitergehen sollte. Welchem Ansatz er sich als nächstes widmete. Doch da fiel ihm etwas unweigerlich ins Auge. Das einzige Helle in diesem dunklen Raum. Sachte ging er zum zweiten Mal am heutigen Tage in die Knie und hob das einzelne, lange Haar vom Boden auf. Alles in ihm erstarrte zu Stein. Blond. Weder Ciel noch Sebastian waren blond und ihr Gärtner, Finnian, hatte kurzes Haar. Natürlich gab es da noch Elizabeth Midford, aber diese konnte er kategorisch ausschließen, weil sie ein Mensch war. Nein, es gab hier nur eine einzige Möglichkeit, die in Betracht kam. Und die ihm beinahe schon wieder den Verstand raubte. „Carina…“ Es passte alles zusammen. Carina arbeitete hier in London, für sie wäre es ein leichtes gewesen eins und eins zusammenzuzählen und auch die Kette zu zerbrechen. Außerdem war die junge Frau viel zu neugierig, um sich so eine Gelegenheit einfach entgehen zu lassen. Doch eine Sache verstand er dann doch nicht. „Warum hat sie ihr nichts getan? Warum hat sie nichts unternommen?“ Es wäre ein leichtes für sie gewesen die Frau auszulöschen, für die er all diese „widerlichen“ Experimente durchführte, die sie so sehr hasste. Und außerdem… Hatte sie nicht gesagt, dass sie schon irgendwie über ihn hinwegkommen würde? Dass es irgendwann aufhören würde wehzutun? Warum zur Hölle war sie dann hierher gekommen? „Weil ich dich liebe, du Idiot!“ Zum ersten Mal seit einer langen, langen Zeit verdrehte der ehemalige Schnitter genervt seine Augen. Würden ihn diese Worte denn bis in alle Ewigkeit verfolgen? „Dieses Weib mit ihrem verfluchten Dickschädel“, murmelte er. Wenn er sich vorstellte, dass Carina genau hier gestanden und sich Claudia angesehen hatte… Hoffentlich hatte sie nicht schon wieder geweint. Im gleichen Moment, als er diesem Gedankengang nachhing, fiel ihm überrascht auf, dass er gar nicht wirklich zornig auf die Blondine war. Natürlich gefiel es ihm ganz und gar nicht, dass sie einfach hier eingedrungen war und ganz sicher würde er ihr das auch deutlich machen, falls sie sich noch einmal wiedersahen. Aber wütend? Nein, das war er nicht. Warum eigentlich nicht? Jeden anderen hätte er wahrscheinlich einen Kopf kürzer gemacht, aber bei Carina hatte er seltsamerweise das Gefühl, dass sie irgendwie sogar ein Recht dazu hatte sich in seine Angelegenheiten einzumischen. Die Erkenntnis, die in einem Gefängnis tief in seinem Unterbewusstsein schlummerte, drückte sich gegen die Gitterstäbe und versuchte verzweifelt in die Freiheit zu gelangen, doch wieder einmal ließ der Undertaker dies nicht zu. Stattdessen kam ihm ein ganz anderer Gedanke, der ebenso schwer in seinem Magen lag. „Ich kann nicht zulassen, dass sie es sich vielleicht anders überlegt und hierher zurückkommt. Ich werde mit ihr sprechen müssen.“ Er schluckte. Sie zu finden würde nicht schwer sein, immerhin arbeitete sie hier in London. Früher oder später würde er sicherlich auf sie treffen, wenn er sich auf die Lauer legte. Ihm graute es vielmehr vor dem Inhalt des Gespräches und die daraus resultierenden Folgen, die diese Begegnung auf seine Gefühlsebene haben könnten. Aber er hatte keine Wahl. „Zuerst suche ich mir einen neuen Unterschlupf, plane die nächsten Schritte und dann unterhalte ich mich mit Carina. Mal sehen, was sie zu sagen hat.“ Und wenn er ganz ehrlich zu sich selbst war, dann war auch der Bestatter viel zu neugierig, um sich diese Gelegenheit entgehen zu lassen. „Nein, ein wenig weiter nach links. Das andere Links. Ja, genau so“, wies Alice den rothaarigen Shinigami an, der auf einem Stuhl balancierte und nun genervt den Kopf in ihre Richtung drehte. „Kannst du dich vielleicht langsam mal entscheiden? So schwer ist das ja wohl nicht“, blaffte er sie an und justierte den Stern noch einmal neu. „So?“ Alice hob ihren Daumen. „Ja, perfekt. Jetzt ist er gerade.“ „Endlich“, stöhnte Grell und stieg von dem Stuhl herunter, um das Gebilde vor sich zu betrachten. Erstaunt hob er eine Augenbraue. „Sieht tatsächlich gar nicht mal so schlecht aus.“ „Hab ich doch gesagt. Vor allem die Mischung aus roten und goldenen Kugeln sieht klasse aus. Und die Kerzen erst. Hast du auch darauf geachtet, dass sie nicht runterfallen können?“ „Natürlich habe ich das. Oder glaubst du etwa ich will, dass die Hütte abbrennt?“ Eine aufgehende Tür unterbrach das Gespräch der Beiden. Carina lachte auf, als sie den Weihnachtsbaum sah. „Mensch, ihr seid ja schon fertig. Das ging aber schnell.“ „Wir wollten dich damit überraschen“, zwinkerte Grell und stellte den Stuhl wieder zurück an den Esstisch. „Na, die Überraschung ist euch gelungen. Er sieht wirklich toll aus. Und so groß. In mein Elternhaus hat immer nur ein kleiner Baum gepasst, die Decken waren einfach nicht hoch genug.“ Die Blondine schloss die Tür hinter sich und stellte einen Korb mit Wäsche auf den Esstisch. Alice verzog missbilligend den Mund. „Du sollst doch nichts Schweres mehr heben. Du bist jetzt schon am Ende des siebten Monats, du sollst dich schonen. Und was noch dazu kommt“, sagte sie und ging auf ihre Freundin zu, um ihre Hände zu ergreifen. „Das Wasser ist zur jetzigen Jahreszeit einfach viel zu kalt. Nachher erkältest du dich noch.“ „Jetzt mach da mal kein Drama draus, Alice. Mir geht’s gut und außerdem war mir langweilig. Ich kann doch nicht den ganzen Tag nur hier rumsitzen und nichts tun. Mal ganz abgesehen davon, dass die Wäsche ja wohl von irgendjemandem gewaschen werden muss.“ Die Schwarzhaarige öffnete protestierend den Mund, doch Grell hinderte sie daran. „Vergiss es, Nervensäge. Wenn Carina so drauf ist, dann kannst du mit ihr diskutieren, bis du schwarz wirst. Das bringt nichts. Glaub mir, ich hab das während ihrer Ausbildung oft genug mitgemacht.“ Carina schenkte ihrem besten Freund und Mentor ein freches Grinsen. „Tja, ist aber am Ende immer alles gut gegangen, oder etwa nicht?“ Der Reaper schnaubte. „Schon, aber du hast mich manchmal echt an den Rand meiner nervlichen Belastungsgrenze gebracht.“ „Dann warte erstmal ab, bis das Kind da ist. Da werden deine Nerven sicherlich noch viel schlimmer belastet“, lachte die ehemalige Schnitterin und machte sich daran die Wäsche zum Trocknen aufzuhängen. Mittlerweile hatte die 19-Jährige das Gefühl, dass die Zeit im Fluge verging. Ehe sie sich versah, war es bereits Mitte Dezember geworden und der erste Schnee war gefallen. Nächste Woche stand Weihnachten vor der Tür und bereits eine Woche später stand schon der Jahreswechsel bevor. In ihrem jetzigen Zustand hatte sie wahrlich alle Zeit der Welt gehabt, um sich Gedanken um passende Weihnachtsgeschenke für Grell und Alice zu machen und da ihre Strickkünste sich im letzten Monat ziemlich verbessert hatten, war ihr sogleich die Idee gekommen den Beiden etwas ganz Persönliches und Individuelles zu schenken. Für Grell hatte sie einen weichen, langen und – vor allen Dingen – roten Schal gestrickt und sie war schon ganz gespannt auf seine Reaktion, wenn er das kleine Päckchen unter dem Weihnachtsbaum auspacken würde. Für Alice hatte sie eine dunkelgrüne Wollmütze gewählt, die gut mit ihren schwarzen Haaren harmonieren würde und außerdem perfekt zu ihrer Brille passte. Sie hoffte wirklich, dass ihrer besten Freundin das Werk gefallen würde, denn nach wie vor konnte die Rezeptionistin wesentlich besser stricken als sie. Aber zusätzlich hatte sie sowohl für Grell, als auch für Alice noch etwas anderes anfertigen lassen. Zwei silberne Medaillons, von außen her genau identisch, nur mit dem kleinen Unterschied, dass in der Innenseite des einen Medaillons ein kunstvolles G eingraviert war und in der anderen ein A. Zusammen mit der langen silbernen Kette konnten beide Todesgötter das Schmuckstück ganz unproblematisch um den Hals tragen. Und wenn ihr Kind erst einmal auf der Welt war, dann konnten sie alle zusammen ein Foto machen und ihre beiden besten Freunde konnten sich dieses dann in das Medaillon legen. Darüber würden sich die beiden zukünftigen Paten sicherlich freuen. „Sagt mal“, fing Carina an und drehte sich zu ihren Freunden um. „Seid ihr eigentlich einverstanden, wenn ich zu Weihnachten Gefüllten Truthahn und als Nachtisch Christmas Pudding mache?“ Alice‘ Augen begannen zu leuchten. „Für Gefüllten Truthahn würde ich töten. Gute Idee.“ Grell stimmte ebenfalls zu. „Du wirst ja noch eine richtig gute Köchin“, grinste er. „Na, das muss ich ja wohl auch werden, oder etwa nicht? Mein Kind soll schließlich nicht verhungern.“ „So riesig, wie deine Brüste momentan sind, wird es das ganz bestimmt nicht“, begann Alice verstohlen zu kichern, woraufhin Carina ihr beleidigt auf die Schulter schlug und rot anlief. „Stimmt, die sind echt ziemlich riesig“, gab Grell nun auch noch seinen Senf dazu. „Ihr Klugscheißer, ich finde das überhaupt nicht lustig. Habt ihr eigentlich eine Ahnung, was ich allein durch den Bauch für Rückenschmerzen habe? Die geschwollenen Brüste machen das Ganze bestimmt nicht besser.“ „Keine Sorge, das geht alles wieder vorbei. Und im Nachhinein war es dann doch alles gar nicht so schlimm.“ Alice zwinkerte ihrer Freundin zu und Carina schenkte ihr ein dankbares Lächeln. Jetzt wo sie wusste, dass Alice das selbst schon einmal alles erlebt hatte, war sie viel entspannter. Falls Probleme auftauchen sollten, dann würde die Schwarzhaarige ihr mit Rat und Tat zur Seite stehen. „Was isst man denn in Deutschland so an Weihnachten?“, fragte Grell neugierig nach und Carina musste lächeln, als sie an die Zeit zurückdachte. „Viele essen Kartoffelsalat mit Würstchen, aber das war nie so mein Fall, jedenfalls nicht an Weihnachten. Meine Eltern und ich haben immer Raclette gemacht.“ Alice hob eine Augenbraue. „Ist das nicht Käse?“ „Ja, aber in meiner Zeit ist das auch der Name für ein Gericht. Eine Art kleiner Ofen steht auf dem Tisch und dort kann man dann einerseits den Käse schmelzen, als auch Fleisch, Pilze oder allerlei andere Sachen drauf braten. Und das wird dann alles zusammen mit dem Käse gegessen. Da kann man alles möglich zu machen. Brot, Kartoffeln, Schinken oder auch Salate. Das letzte Jahr, bevor ich in diese Zeit kam, haben wir sogar Hefeteig benutzt. Das war dann fast wie so eine Art kleine Pizza.“ „Mensch, jetzt hab ich Hunger“, seufzte Grell. „Das müssen wir dann in 100 Jahren unbedingt mal ausprobieren“, schlug Alice vor, woraufhin Carina mit den Augen rollte. „Ehrlich mal, wenn ihr 100 Jahre sagt, dann klingt das so nah. Ich kann mir das kaum vorstellen, mein ganzes Leben besteht immerhin gerade mal aus 19 mickrigen Jahren.“ „Glaub mir, daran gewöhnt man sich schnell. Shinigami bekommen mit der Zeit einfach ein anderes Zeitgefühl, so ist das nun einmal. Die letzten 3 Jahre vergingen für dich doch auch wesentlich schneller, als zu deinen Menschenzeiten, oder etwa nicht?“ „Doch, schon. Aber das lag glaube ich mehr daran, dass ich – wenn ich denn mal nicht in der Schule saß – deinem Training ausgeliefert war. Wenn man jeden Tag so viel zu erledigen hat, dann vergeht die Zeit schon mal schneller.“ „Jetzt tue doch bitte nicht so, als wärst du nicht froh über jede einzelne Trainingsstunde gewesen“, stichelte der Rotschopf. „Das hat dich immerhin zur Besten unter deinem Jahrgang gemacht. Ich hab William gefragt, keiner hat seit seinem Ausbildungsende so viele Seelen eingesammelt wie du.“ „Tja, sie haben ja jetzt genug Zeit mich einzuholen“, grinste sie, wurde im nächsten Moment aber wieder ernst. „Allerdings hat mich auch dein Training nicht vor diesem Mistkerl von einem Shinigami beschützt.“ Grell schluckte, als er sich an die Blutergüsse und die halb abgeheilten Schnitte auf ihrem geschundenen Körper erinnerte. „Nun, der Angriff kam plötzlich und du hattest deine Death Scythe nicht bei dir. Und als du sie dann endlich hattest, hatte der Mistkerl dich schon ziemlich verwundet. Kein Wunder also, dass so verloren hast.“ „Das mag alles wahr sein“, stimmte Carina ihm zu. „Dennoch, wären die Umstände anders gewesen, hätte ich trotzdem verloren. Vielleicht nicht so haushoch, aber verloren bleibt verloren. Sobald diese Schwangerschaft beendet ist und ich mich von der Geburt erholt habe, fange ich wieder mit dem Training an. Ich hab lange genug auf der faulen Haut gelegen.“ „Übertreib es bloß nicht. So eine Geburt ist anstrengender, als du vielleicht jetzt denkst“, sagte Alice. „Ja, aber ich bin ein Shinigami. Mein Körper wird sich schnell davon erholen. Also, was meinst du, Grell? Trainingspartner wie in alten Zeiten?“ Der Schnitter grinste vorfreudig und stieß seine Faust gegen ihre, die sie ihm lächelnd hinhielt. „Ganz wie in alten Zeiten.“ Das Weihnachtsfest war das Beste, das Carina seit ihrer Zeitreise gehabt hatte. Das Essen war ihr, ganz zu ihrem eigenen Staunen, gut gelungen und nachdem die drei Todesgötter keinen Bissen mehr runter bekamen, setzten sie sich unter den Weihnachtsbaum und packten die Geschenke aus. Grell und Alice kannten es zwar nur so, dass die Geschenke am Morgen des 25. Dezembers ausgepackt wurden, aber fanden die Idee gut ein bisschen deutsche Tradition mit einfließen zu lassen. Die Reaktionen der beiden Paten fielen tatsächlich fast genauso aus, wie Carina es erwartet hatte. Grell band sich mit einem freudigen Jauchzen direkt den Schal um den Hals, während Alice unter ihrer neuen Mütze die Haare glatt strich. Als die 19-Jährige ihnen dann den Sinn hinter den beiden Medaillons erklärte, brach Grell wie so oft in Freudentränen aus und sogar Alice‘ Augen nahmen unter dem Licht der Weihnachtsbaumkerzen einen feuchten Glanz an. Allerdings waren die Geschenke, die Carina bekam, auch nicht von schlechten Eltern. Von Alice bekam sie fünf selbstgestrickte Strampler, die bei weitem besser aussahen als diejenigen, die sie bisher angefertigt waren. In einen hellbraunen Strampler waren sogar die Worte „Mami’s kleiner Liebling“ eingestickt, was Carina mehr als nur süß fand. „Mensch, wenn ich doch auch nur so stricken könnte wie du“, seufzte sie neidisch und legte sich das Kleidungsstück auf den runden Babybauch, wo dieser problemlos liegen blieb. „Hab Geduld, du bist doch in so kurzer Zeit schon so viel besser geworden. Das Sticken bekommst du auch noch hin.“ Grell hingegen hatte sich überraschenderweise für ein praktisches Geschenk entschieden. „Das sind Zwillingsdolche. Beide komplett identisch und ziemlich leicht am Körper zu tragen, ohne dass man sie sieht.“ „Wow“, murmelte Carina und betrachtete fasziniert die leicht schrägen Klingen und den glitzernden Stahl. „Na ja, für den Fall, dass du deine Death Scythe noch mal verlierst“, neckte sie der Shinigami. „Pah“, antwortete Carina mürrisch und wog die Dolche prüfend in ihren Handflächen. „Ich werde meine Death Scythe bestimmt nicht noch mal verlieren, so dumm bin ich nicht. Aber die sind echt super, liegen richtig leicht in der Hand. Danke, Grell.“ So schön das Weihnachtsfest war, so scheußlich wurde dann schließlich Sylvester. Grell musste kurzfristig eine Doppelschicht einlegen und schaffte es gerade so Alice bei Carina abzuliefern. Als wäre das nicht schon ein Dämpfer für die Stimmung gewesen, regnete es die komplette Nacht in Strömen und die Feuerwerke, die man aus einiger Entfernung nur sehr schlecht sehen konnte, mussten die beiden Frauen sich aus dem Fenster heraus angucken. Hinzu kam, dass Carina – mittlerweile im achten Monat ihrer Schwangerschaft angekommen – kurz nach Mitternacht auf dem Sofa einschlief und erst wieder wach wurde, als Alice von Grell abgeholt wurde und dieser ihr riet doch lieber in ihr richtiges Bett zu gehen. Inzwischen war die Blondine wie zu Beginn ihrer Schwangerschaft wieder häufig müde und nutzte ihre freie Zeit viel mehr zum Ausschlafen. Die Vorstellung, dass es in dieser Zeit normal war mehrere Kinder oder sogar ein halbes Dutzend zu haben, konnte die junge Frau überhaupt nicht nachvollziehen. Wer zum Teufel tat sich diesen Umstand gerne so oft an? Dann fiel ihr allerdings wieder ein, wie wenig Leute sich in diesen Tagen Verhütungsmethoden bedienten, was dann wiederum einiges erklärte. Mitte Januar war es dann endlich soweit. Alice hatte wie versprochen ihr schauspielerisches Talent unter Beweis gestellt und zog vorübergehend in die Hütte ein. Jegliche Versuche Carinas sie dazu zu überreden im Bett zu schlafen und nicht auf der Couch, waren allerdings erfolglos. „Ich lasse eine Hochschwangere doch nicht auf der Couch schlafen, so weit kommt es noch! Mach dir keinen Kopf Carina, die Couch reicht mir vollkommen.“ „Na schön, wie du meinst“, lautete Carinas Antwort. Insgeheim war sie jedoch erleichtert, denn mittlerweile taten ihr wirklich alle Knochen im Leib weh. Die Anwesenheit ihrer besten Freundin gab ihr spürbar ein sicheres Gefühl, denn unterbewusst war sie schon seit Anfang des neuen Jahres ein reines Nervenbündel. Immerhin waren es nur noch 4 Wochen bis zum Geburtstermin und wie oft kam es vor, dass Kinder zu früh auf die Welt kamen? Jetzt hatte sie Alice an ihrer Seite, die schon bei den vielen Geburten ihrer älteren Schwestern geholfen hatte und das nahm ihr definitiv eine gewaltige Portion Druck von den Schultern. „Und außerdem hab ich bei den Kindern meiner Schwestern jedes Mal ins Schwarze getroffen. Du kannst dir also sicher sein, dass dein Baby ein Junge wird.“ Carina stöhnte. „Lass das bloß Grell nicht hören, sonst entbrennt hier wieder eine ellenlange Diskussion. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten ihr habt eine Wette über das Geschlecht abgeschlossen.“ Die errötenden Wangen der Rezeptionist sagten Carina bereits alles, was sie wissen musste. „Nicht euer Ernst, oder?“, fragte sie trocken und stieß einen langen Seufzer hervor. „Und, was war der Einsatz? Einer von euch beiden muss für eine bestimmte Zeit die Befehle des anderen ausführen? Oder noch schlimmer: der Verlieren muss die Kleidungsstücke tragen, die der andere für ihn Shoppen geht?“ „Weder noch“, meinte Alice und räusperte sich. „Der Gewinner darf die Wohnung des Verlierers neu einrichten.“ Für einen kurzen Moment herrschte Schweigen, dann brach Carina in Gelächter aus. „Du weißt aber schon, dass du dir damit ein One Way Ticket zu einer komplett rot gestrichenen Wohnung gekauft hast, oder?“ „Nur, wenn ich verliere. Und das werde ich nicht, keine Sorge.“ Sie grinste. „Bedenke du lieber, dass du Grells schlechte Laune ertragen muss, wenn seine Wohnung dann demnächst nicht mehr eine rote Wand besitzt.“ Carina konnte nicht anders, als ihr Grinsen zu erwidern, während beide Frauen in weiteres Gelächter ausbrauchen, als sie sich Grells geschockten Gesichtsausdruck vorstellten. Ja, jetzt konnte die Geburt definitiv kommen! Genervt ließ sich der silberhaarige Shinigami auf eine Bank im St James's Park sinken und betrachtete ratlos den Vollmond, der bereits im Zenit stand. Ratlos wanderten seine Augen über die Fläche des kreisrunden Himmelskörpers. Seitdem er sich in London einen neuen Unterschlupf gesucht hatte und seine Vorbereitungen abgeschlossen waren, war bereits über ein Monat verstrichen. In diesem Monat hatte er jede Nacht seine Sinne ausgestreckt und sich mit äußerster Vorsicht den arbeitenden Shinigami genähert, die fleißig die Seelen der Verstorbenen einsammelten. Der Bestatter hatte vermutet, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis er auf Carina stoßen würde. Anscheinend hatte er sich da mächtig getäuscht. „Das kann doch nicht wahr sein. Zu meiner Zeit hatte ich jeden Tag mindestens eine Schicht und da ich hier oft die gleichen Shinigami sehe, scheint sich das auch bis heute nicht geändert zu haben. Urlaub gibt es keinen. Warum zur Hölle erwische ich sie nicht?“ Kurz war ihm der Gedanke gekommen, dass sie möglicherweise aufgrund eines Nervenzusammenbruchs außer Gefecht gesetzt war und deshalb vorübergehend nicht im Dienst war. Es ließ sich immerhin nicht leugnen, dass sie am Ende ihres letzten Treffens mit den Nerven ziemlich fertig gewesen war. Aber so recht passte das auch nicht zusammen. Zum einen war dieses Treffen in Deutschland schon mehrere Monate her, zum anderen hielt er Carina nicht für jemanden, der so schnell einen Nervenzusammenbruch bekam. Hoffte er jedenfalls, denn ansonsten würde ihn sein schlechtes Gewissen vermutlich doch noch zu Boden drücken… Frustriert drehte er den Kopf, als seine übernatürlichen Sinne einen weiteren Shinigami in der unmittelbaren Umgebung ausmachten. „Nun schön, einer noch“, dachte er und erhob sich in einer fließenden Bewegung von dem hölzernen Konstrukt. Der Totengräber musste den Park nicht einmal verlassen. Nach nur wenigen Sekunden erreichte er den Ort, an dem sich einer seiner Artgenossen aufhielt und stellte sich unbemerkt hinter einen der unzähligen Bäume. Sofort erkannte er den schwarz-blonden Haarschopf und das, obwohl er ihn nur von hinten sah. „Der schon wieder. Wie war sein Name noch gleich? Knox?“ Der Jüngling stand gerade vor einem Mann Mitte 40, der regungslos am Boden lag. Wären seine blauen Lippen nicht gewesen, hätte jeder vorbeigehende Passant denken können er würde lediglich schlafen. „Vermutlich ein Obdachloser“, schoss es ihm ganz automatisch durch den Kopf. Das war bei weitem keine Seltenheit und die Januare in England waren meistens genauso eisig, wie der vorangegangene Monat Dezember. Er konnte gar nicht mehr genau sagen, wie viele Erfrorene schon auf seinem Tisch gelegen und darauf gewartet hatten wieder schön gemacht zu werden. Der Shinigami in Carinas Alter seufzte gelangweilt und setzte seinen Stempel in das kleine Notizbuch, dessen Anblick dem Undertaker nach all der Zeit immer noch nicht behagte. Natürlich, die Liste war recht nützlich gewesen, aber eigentlich war es ihm persönlich immer wie eine Bürde vorgekommen. „Puh, endlich fertig“, atmete der Schnitter erleichtert auf und steckte das Buch in seine Jackentasche, während sich ein zufriedenes Grinsen auf seine Lippen stahl. „Dachte schon ich komme zu spät zu meinem Date mit Olivia.“ Der Silberhaarige schnaubte innerlich. Scheinbar hatte sich der Junge seit der Campania kein Stück verändert. Er konnte sich noch ziemlich gut daran erinnern, wie der Shinigami immer wieder versucht hatte ein Date bei Carina herauszuschlagen. „Tja Grünschnabel, Pech gehabt. Carina bekommst du nicht!“ Noch während er sich beinahe sofort fragte, was dieser Gedanke denn nun schon wieder in seinem Kopf verloren hatte, nahm er aus heiterem Himmel eine weitere Präsenz wahr und keine 5 Sekunden später trat ein schwarzhaariger Mann neben den Jungen, nach dem Anzug zu urteilen ebenfalls ein Shinigami. „Hey Ronald, altes Haus. Lange nicht gesehen“, sagte er mit einer kratzigen Stimme, die sich ganz nach einem Kettenraucher anhörte. Wie zum Beweis zog er auch sogleich eine Packung aus seinem Jackett hervor und zündete sich genüsslich eine Zigarette an. Ronald wirkte ebenfalls erfreut. „Adam, was ne Überraschung. Wusste gar nicht, dass du jetzt in diesem Teil Londons unterwegs bist. Ich glaube das letzte Mal, dass ich dich gesehen habe, war kurz nach der praktischen Abschlussprüfung.“ „Ja, stimmt. Hatte gerade meine Death Scythe abgeholt“, grinste Adam und tätschelte eine gezackte Heckenschere, die an seinem Gürtel hing. „Das waren noch Zeiten“, seufzte Ronald und lehnte sich gegen seinen Rasenmäher. „Keine Überstunden, keine Doppelschichten und vor allem kein William, der einem wegen den Berichten im Nacken hängt.“ „Wie wahr, wie wahr. Hab gehört, dass unsere Abteilung momentan unterbesetzt ist und wir deswegen so viele Schichten schieben müssen. Scheint so, als würde es momentan weniger neue Rekruten geben.“ „Für die Menschheit eigentlich ein Grund zur Freude, aber sicherlich nicht für uns. Und dann auch noch die Sache mit Carinas Verschwinden…“ Cedric horchte auf. Was hatte der Junge da gerade gesagt? Der schwarzhaarige Shinigami stieß einen Schwall Rauch aus. „Ja, davon hab ich gehört. Gibt es diesbezüglich schon irgendwelche neuen Erkenntnisse?“ Ronald schüttelte den Kopf. „Nicht die geringste Spur. Sie hat sich einfach in Luft aufgelöst. William hatte beinahe einen Tobsuchtsanfall. Ehrlich, ich dachte sein Kopf würde jeden Moment explodieren, als er uns über ihr Verschwinden aufgeklärt hat.“ Adam zuckte mit den Schultern. „Ich kann von mir nicht behaupten, dass ich in unserer Ausbildung viel mit ihr anfangen konnte, aber eins können weder du noch ich leugnen. Sie war verdammt gut in dem, was sie tat.“ „In der Tat“, antwortete Ronald und wirkte tatsächlich ein wenig bedrückt. „Allerdings scheint ihr dies am Ende auch nichts genützt zu haben. Seien wir ehrlich: die Chancen, dass sie noch am Leben ist, stehen denkbar schlecht. Immerhin ist sie nun schon seit Juni verschwunden und seitdem gab es kein einziges Lebenszeichen von ihr. Entweder hatte ihr ein Teufel seine Finger im Spiel oder sogar dieser Deserteur von der Campania. Wer weiß, möglicherweise hat er sie doch noch aus dem Weg geräumt.“ Hinter seinem Baum war der Silberhaarige zur Salzsäule erstarrt. Seit Juni? Wie zur Hölle konnte das sein? Er hatte Carina im Juli in Deutschland angetroffen und da hatte sie ihm zwar erzählt, dass sie ohne Erlaubnis des Dispatchs unterwegs war, aber natürlich war er davon ausgegangen, dass sie zurückkehren würde. Doch jetzt, wo er so darüber nachdachte, hatte die Blondine nie etwas dergleichen gesagt. Ganz im Gegenteil, viel eher hatte sie zu dem Thema geschwiegen. Beziehungsweise… „Bist du auf der Flucht, Carina?“ „Ich… also…“ „Verflucht, Carina“, murmelte er lautlos und ballte seine Hände so fest zusammen, das sich die Haut an seinen Knöcheln weiß verfärbte. Sie hatte nie vorgehabt zum Dispatch zurückzukehren. Die beiden Todesgötter waren längst vergessen, als er lautlos aus dem Park verschwand und beunruhigt zu seinem neuen Unterschlupf, einer verlassenen Halle im Industriegebiet, lief. Wie sollte er sie jetzt noch finden? Jetzt, wo er wusste, dass sie es ihm gleich getan hatte. Dass sie desertiert war. Er verstand es einfach nicht, was hatte sie sich nur dabei gedacht? Welchen Grund hatte sie gehabt? Wusste sie überhaupt worauf sie sich da eingelassen hatte? Er persönlich mochte ja mit diesem Leben zurechtkommen, aber Carina war jung und trotz ihrer Stärke als Schnitterin unerfahren. Würde sie wirklich die Einsamkeit aushalten? Wie lange konnte sie sich vor dem Dispatch verstecken? Der Bestatter wollte sich gar nicht ausmalen, was mit Carina passieren würde, wenn die Shinigami sie doch noch entdecken würden. Und wenn sie verstehen würden, dass die 19-Jährige versucht hatte sie hinters Licht zu führen. „Ich muss mir etwas überlegen. Ich muss sie finden.“ Cedric wusste noch nicht genau wie und er wusste noch nicht genau wo er anfangen sollte zu suchen, aber eins stand fest. Er würde sie finden. Und dann war sie ihm einige Erklärungen schuldig. Kapitel 62: Willkommen ---------------------- „Bist du dir auch ganz sicher, Carina?“ „Ja doch, Grell. Jetzt tue mal bitte nicht so, als ob du diesbezüglich eine Wahl hättest. Wenn William unbedingt will, dass du mit auf diese Konferenz kommst, dann wird dir schlichtweg nichts anderes übrig bleiben.“ „Da hat sie Recht“, ließ Alice im Hintergrund vernehmen und Grell raufte sich die Haare. „Ja, das ist mir schon klar, aber ich will nicht“, jammerte er. „Diese dämliche Zusammenkunft ist auch noch in Frankreich. Wenn ihr mich fragt, dann hat der dortige Dispatch ohnehin einen an der Klatsche. Bestellen uns dorthin und das nur, weil sie angeblich deinen Lover vor wenigen Wochen gesichtet haben. Als ob wir was für unsere Deserteure könnten. Glauben die vielleicht, wir haben nicht schon genug eigene Probleme?“ Carinas genervtes „Er ist nicht mein Lover“ wurde gekonnt ignoriert. „Und außerdem: Was ist, wenn ich weg bin und das Kind kommt?“, schlug Grell die Hände über dem Kopf zusammen, entsetzt bei dem bloßen Gedanken. Carina seufzte. „Jetzt beruhige dich mal, Grell. Bis zur Geburt sind es noch 4 Wochen und diese Konferenz beginnt bereits übermorgen. Hat William dir nicht gesagt, dass sie allerhöchstens zwei Wochen dauert?“ „Ja und wenn schon. Kinder können auch schon früher zur Welt kommen. Und du hattest immerhin schon Wehen.“ „Senkwehen“, warf Alice ein. „Das ist was anderes.“ „Und wenn schon, es hätten auch echte Geburtswehen sein können. Ehrlich, mir ist fast das Herz stehen geblieben“, sagte Grell, als er sich daran erinnerte, wie Carina in der Küche plötzlich ein Glas hatte fallen lassen und sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an den Bauch gefasst hatte. „Mir auch“, gestand Carina. Einen Moment lang hatte sie echte Panik bekommen. Natürlich war das Baby schon fertig entwickelt und es wäre nicht allzu schlimm gewesen, wenn es an dem Tag gekommen wäre, aber die Blondine verdrängte die Gedanken an die Geburt zurzeit noch. Es waren nicht einmal die Schmerzen, die ihr solche Angst machten. Vielmehr war es die schiere Vorstellung einen kleinen Menschen aus sich herauszupressen, ein neues Leben in diese Welt zu bringen. Und die ganze Verantwortung, die damit einherging. „Hör zu, Grell. Du musst mitgehen, alles andere würde nur unnötigen Verdacht erregen. Alice und ich werden schon allein zurechtkommen. Mach dir keine Sorgen. In den letzten Tagen war es hier drin“, sie tätschelte sanft ihre riesige Kugel, „relativ ruhig, die Geburt wird bestimmt noch ein wenig auf sich warten lassen. Und wenn nicht, dann schaffe ich das. Vielleicht ist es sogar besser, wenn du das nicht mitbekommst. Gebärende Frauen können ganz schön gruselig werden, habe ich mir jedenfalls sagen lassen“, endete sie und zwinkerte Alice kurz zu, die ihr lang und breit von den Geburten ihrer Schwestern erzählt hatte. Grell zog eine Schnute. „Wenn ich wiederkomme und das Baby ist bereits da, dann bin ich beleidigt, nur dass ihr es wisst!“ Die beiden Frauen lachten. „War ja klar“, sagte Alice, woraufhin Carina gleich im Anschluss ein „Welch große Überraschung“ hinterher schob. „Aber“, begann der Rothaarige sofort wieder energisch und deutete mit seinem rechten Zeigefinger direkt auf die Blondine, „der Name wird nicht verkündet, bevor ich wieder zurück bin.“ Carina grinste. Schon seit Wochen lagen Grell und Alice ihr damit in den Ohren. Zuerst hatten die beiden Paten ihr ständig Namensvorschläge unterbreitet. Als Carina ihnen dann allerdings verkündet hatte, dass sie sich bereits für zwei Namen entschieden hatte, hatte das natürlich schlagartig aufgehört. Seitdem war nicht ein Tag vergangen, an dem der Rotschopf und die Schwarzhaarige sie nicht ungeduldig gelöchert hatten, aber in diesem Punkt blieb Carina hart. Sie würden sich bis zur Geburt gedulden müssen. „In Ordnung“, antwortete sie daher, woraufhin Alice stöhnte. „Toll. Wehe, das Baby kommt wesentlich früher, ich will doch keine Woche ein namenloses Patenkind haben.“ „Ach, hier bist du.“ Alice trat in das Kinderzimmer und beäugte ihre Freundin, die mit einer Decke über dem Bauch im Schaukelstuhl saß und leicht vor und zurück wippte. „Ich wusste gar nicht, wie entspannend so ein Stuhl sein kann“, seufzte die 19-Jährige und gähnte. „Glaub ich dir sofort“, sagte Alice und trat ein paar Schritte näher. „Man ist wirklich um jeden Moment der Ruhe froh, oder?“ „Vor allem für die Momente, wo man mal nicht auf die Toilette rennen muss“, die Schnitterin seufzte erneut. Seit das Baby sich langsam in die richtige Position für die Geburt begab, drückte es ihr noch stärker auf die Blase als zuvor und das war neben den Rückenschmerzen einfach das Allerschlimmste. Das war wirklich etwas, worauf sie sich nach der Geburt freuen würde. Endlich wieder ein Leben, ohne den halben Tag im Badezimmer oder im Bett zu verbringen. „Du siehst bedrückt aus“, bemerkte die Rezeptionist, eine ruhige Feststellung. „Doch nicht wegen Grell, oder? Er kommt doch schon in einer Woche wieder. Außerdem…genießt du denn nicht auch diese wundervolle Stille?“ Carina konnte nicht anders, sie musste einfach lachen. „Natürlich ist Stille zur Abwechslung ganz schön, aber um ehrlich zu sein finde ich es schön, wenn Grell um mich herum ist. Auf Dauer fände ich diese Ruhe nämlich unerträglich. Seine Lebhaftigkeit ist doch einfach ansteckend, findest du nicht?“ „Na ja, das kann man manchmal so oder so sehen“, murmelte die Schwarzhaarige und rollte leicht mit den Augen. „Wenn es nicht Grell ist, was ist es dann?“ Die gelbgrünen Augen der Shinigami richteten sich gen Boden, während ihre Wangen einen leichten Rotstich annahmen. „Ich weiß, es ist dämlich, aber…ich kann mich nicht entscheiden, ob ich die Geburt herbeisehne oder mich davor fürchten soll. Irgendwie ist es eine Mischung aus beidem.“ „Ach Carina.“ Alice‘ Gesichtsausdruck wurde ganz weich, liebevoll. Sie kniete sich auf die Höhe der werdenden Mutter und legte ihr bestärkend eine Hand aufs Knie. „Das ist doch ganz normal. Nenn mir eine Frau, die keine Angst vor der Geburt hat. Und wenn es tatsächlich eine gibt, die das behauptet, dann hat sie entweder überhaupt keine Ahnung oder sie lügt.“ Die Deutsche lächelte schwach. „Ich hab nur ständig die Befürchtung, dass etwas schief gehen könnte. Nicht um mich mache ich mir Sorgen, mir kann ja nichts passieren. Aber dem Baby…“ „Es wird alles gut gehen“, sprach Alice mit einer solchen Zuversicht, das Carina überrascht aufsah. Die Schwarzhaarige drückte aufmunternd ihr Knie. „Glaub mir, es bringt nichts sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Abgesehen davon bist du die stärkste Frau, die ich kenne. Bei jeder anderen Frau würde ich mir vielleicht Sorgen machen, aber nicht bei dir. Mal ganz abgesehen davon“, sie grinste kurz und legte ihre andere Hand nun sanft auf den Schwangerschaftsbauch ihrer besten Freundin, „das hier ist das Kind der ersten weiblichen Seelensammlerin und des meist gesuchten Deserteurs unserer Geschichte. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es sich durchzusetzen weiß.“ „Falls es meinen Dickkopf und Cedrics Beharrlichkeit geerbt hat, dann ganz bestimmt“, lachte die Blondine und fühlte sich jetzt wieder etwas entspannter. „Danke, Alice. Ehrlich, ohne dich würde ich durchdrehen.“ „Dafür sind beste Freundinnen doch da“, zwinkerte die Schwarzhaarige ihr zu und erhob sich wieder. „So, ich mach uns dann mal was zu Essen. Worauf hast du Lust?“ „Hmm“, überlegte die Schwangere kurz. „Wie wäre es mit Spaghetti Bolognese?“ „Kein Problem“, erwiderte die junge Frau voller Tatendrang und verließ bereits im nächsten Augenblick das Kinderzimmer, um sich in die Küche zu stürzen. Carinas Lächeln wurde abermals eine Spur schmaler. Sie hatte weder Grell noch Alice etwas davon gesagt, aber in letzter Zeit dachte sie wieder vermehrt an Cedric. Es passierte ganz automatisch, ohne, dass sie etwas dagegen machen konnte. Jedes Mal, wenn sie an ihr Kind dachte, stellte sie sich automatisch vor, wie es mit dem Silberhaarigen hätte sein können. Was sie zusammen hätten haben können. Eine gemeinsame Zukunft, eine Familie. Wenn er ihre Gefühle doch nur erwidert hätte… Die brennende Eifersucht, die Carina am Anfang verspürt hatte, hatte sich mittlerweile in eine tiefer gehende Traurigkeit umgewandelt. Sie konnte damit umgehen, dessen war sie sich bewusst, aber diese Gefühle würde sie ihr Leben lang im Herzen tragen, fast wie ein Brandmal. In dem Teil ihres Herzens, der allein dem Bestatter gehörte… Die nächsten Tage zogen sich schleppend dahin. Nach Carinas Meinung gab es im Leben einfach nichts Schlimmeres als Langeweile. Sie kannte Leute, die sich über zu viel Arbeit beschwerten. Durchaus nachvollziehbar. Aber überhaupt keine Arbeit zu haben, das war deutlich schlimmer. „Man wacht bereits mit dem Gedanken auf, dass wieder ein ganzer Tag vor einem liegt, der irgendwie rumgehen muss. Fragt sich nur wie“, dachte sie genervt. Gestrickt hatte die 19-Jährige mittlerweile wahrlich genug und alles andere – waschen, kochen und putzen – nahm Alice ihr bereitwillig und ohne jegliche Chance auf Diskussion ab. Das einzig Gute, was ihr blieb, war das Lesen von ihren heißgeliebten Büchern, aber das war auch keine Tätigkeit, der sie den ganzen Tag lang nachgehen konnte. Allein schon nicht mit diesen schlechten Augen. Der einzige Lichtblick war, dass Grell übermorgen endlich von der Konferenz zurückkehren würde. Dann würde es zumindest wieder etwas voller im Haus werden und möglicherweise hatte der Reaper ja auch einige interessante Sachen zu berichten. Wobei sie es dem Rothaarigen auch durchaus zutraute, dass er vor Langeweile und Desinteresse mitten in den Besprechungen eingepennt war. „Ich sehe es schon vor mir. Aber sicherlich wird William ihn mit seiner Death Scythe wieder ganz schnell aus dem Reich der Träume zurückholen.“ Allein schon der bloße Gedanke ließ sie grinsen. Ja, nur noch zwei Tage… Allerdings stellte sich noch in der gleichen Nacht heraus, dass das Baby wohl nicht so lange warten wollte. Mitten in der Nacht wurde Carina urplötzlich aus ihrem festen Schlaf gerissen. Blinzelnd und noch im Halbschlaf versuchte sie zu ergründen, was sie gerade geweckt hatte. Um sie herum war alles ruhig, ein Geräusch schien es wohl nicht gewesen zu– Die junge Frau zog scharf die Luft ein, als ein heftiges Stechen ihren Unterleib durchfuhr. Es fühlte sich ein wenig so an wie der leichte Schmerz während ihrer Periode, wenn die Gebärmutter sich ab und zu verkrampfte. Allerdings war dies hier kein leichter Schmerz, sondern eher eine zehnfache Steigerung. Keuchend fasste sie sich an den Bauch. Steinhart. „Oh nein“, murmelte sie, entspannte sich allerdings wieder ein wenig, als die Schmerzen genauso schnell nachließen, wie sie gekommen waren. Vielleicht nur eine besonders starke Senkwehe? So genau kannte sie sich damit immerhin auch nicht aus. Beunruhigt blieb sie im Bett liegen, unfähig einen weiteren klaren Gedanken zu fassen. 5 Minuten vergingen. Dann 10 Minuten. Als schließlich 20 Minuten vergangen waren und Carina gerade wieder versuchen wollte einzuschlafen, kam der Schmerz schlagartig zurück. Erneut verhärtete sich ihr ganzer Bauch, während die Krämpfe sich nun auch wellenartig in ihrem unteren Rücken ausbreiteten. Ihr Mund wurde ganz trocken, während ihr vor Panik im ersten Moment die Luft wegblieb. „Tief durchatmen“, schoss es ihr durch den Kopf, während sie sich vorsichtig ein wenig aufrichtete. Nach zwei langen und tiefen Atemzügen, die ungefähr eine Minute gedauert hatten, ließen die Schmerzen wieder nach. „Alice“, rief sie mit zittriger Stimme, jedoch anscheinend laut genug. Es dauerte keine fünf Sekunden, da stand die Schwarzhaarige in ihrer Zimmertür, eine Petroleumlampe in der rechten Hand. „Ich glaube, ich habe Wehen“, stammelte die Blondine, bevor ihre Freundin auch nur den Mund aufmachen konnte. „Bist du dir sicher? Kein falscher Alarm?“ „Woher soll ich das wissen?“, zischte Carina. Das hier war immerhin ihre erste Geburt. „Ganz ruhig. Das lässt sich leicht herausfinden. Kommen die Schmerzen in regelmäßigen Abständen oder willkürlich? Werden sie stärker oder schwächer?“ „Keine Ahnung“, antwortete Carina kleinlaut. „Die Erste, die ich gespürt habe, hatte ich im Halbschlaf, die Zweite kam erst nach 20 Minuten.“ „Dann warten wir eben auf die Nächste“, erwiderte Alice, stellte die Petroleumlampe auf das Nachttischchen und setzte sich zu der Schnitterin aufs Bett. Gemeinsam warteten sie, während ein angespanntes Schweigen die ganze Zeit in der Luft hing. Dann – pünktlich nach 20 Minuten – kamen die Schmerzen erneut. „Autsch“, keuchte die 19-Jährige reflexartig und nahm kaum wahr, wie Alice über ihren Bauch tastete. „Hmm, dein Bauch ist auf jeden Fall verhärtet. Waren die Schmerzen ein wenig stärker als beim letzten Mal?“ Carina nickte. „Ich glaube schon.“ „Tja, dann hast du definitiv richtige Geburtswehen.“ Das Herz sackte der Schwangeren automatisch in die Hose. Jetzt war tatsächlich der Moment gekommen, vor dem sie sich die ganze Zeit gefürchtet hatte. „Grell wird stinksauer sein“, versuchte sie sich selbst ein wenig von der Situation abzulenken. „Och, sei mal nicht allzu vorschnell. Vielleicht schafft er es noch.“ Carina hob eine Augenbraue. „Ähm, er kommt doch erst übermorgen.“ Alice hob nun ebenfalls eine Augenbraue. „Du weißt aber schon, dass die Geburt des ersten Kindes ziemlich lange dauern kann, oder?“ „…wie lange?“, fragte die 19-Jährige, obwohl sie sich sicher war die Antwort nicht wissen zu wollen. „Nun“, begann Alice vorsichtig und lächelte zaghaft, „bei mir hat es um die 10 Stunden gedauert. Bei meiner Schwester ganze 2 Tage.“ Carina stöhnte. Das dürfte doch wohl nicht wahr sein! „Das ist nicht dein Ernst.“ „Doch, natürlich. Deine Wehen haben noch einen Abstand von ungefähr 20 Minuten und dauern auch ca. 90 Sekunden lang an. Wenn die Geburt unmittelbar bevorsteht, dann kommen die Wehen alle 3 bis 4 Minuten und sie verkürzen sich auf unter eine Minute.“ „Na großartig“, jammerte die Shinigami. Diese dämlichen Schmerzen, die mit der Zeit noch an Intensität gewinnen würden, kamen zum Schluss alle 3 bis 4 Minuten? „Jetzt wünschte ich, es gäbe hier so etwas wie einen Geburtsvorbereitungskurs.“ Alice runzelte die Stirn. „Geburtsvorbereitungskurs?“ „Nicht so wichtig. Kann ich irgendwas tun, um das Ganze hier zu beschleunigen?“ „Na ja, eine aufrechte Position soll helfen. Oder noch besser, du spazierst vorsichtig ein wenig durch die Hütte. Aber bitte nicht ohne mich, nachher klappst du noch zusammen, das hätte uns gerade noch gefehlt. Oh und auf jeden Fall viel trinken und ab und zu eine Kleinigkeit essen, das hilft den Kraftreserven.“ „Mir ist der Appetit um ehrlich zu sein vergangen“, murmelte Carina und setzte sich sogleich etwas mehr im Bett auf. Eine seltsame Mischung aus Angst und Aufregung legte sich über ihren Geist. Wenn alles gut ging, würde sie ihr Baby bald in den Armen halten. Allein der Gedanke trieb ihr schon beinahe die Tränen in die Augen. Aber jetzt musste sie wohl erst einmal durch diese Schmerzen durch… „Weißt du, was das Schlimmste an der ganzen Situation ist? Der Gedanke, dass das hier noch länger als 10 Stunden dauern kann“, stöhnte Carina sechs Stunden später und stützte sich mit ihrer rechten Hand an der Küchenzeile und mit der linken Hand an Alice‘ Schulter ab. Gegenwärtig war es 05:00 Uhr morgens und viel hatte sich noch nicht getan. Die Wehen kamen jetzt lediglich alle 16 Minuten, dauerten aber immer noch länger als eine Minute. Mit Mühe und Not hatte die junge Frau es geschafft ein kleines Stück Schwarzbrot zu essen und ein paar Schlucke Wasser zu sich zu nehmen. „Na ja, bei manchen Frauen dauert es eben länger“, sagte Alice und warf ihrer Freundin einen mitleidigen Blick zu. Oh ja, auch ihr hatten die Wehen damals schwer zugesetzt. Aber Carina stand noch am Anfang, sie konnte ja sogar noch gehen. Es würde noch wesentlich schlimmer werden, aber die Schwarzhaarige würde sich hüten ihr das zu sagen. Das Einzige, was sie momentan tun konnte, war Carina so gut es ging beizustehen und das würde sie auch bis zum Schluss tun. Sie selbst war damals immerhin auch mehr als nur froh gewesen, als ihre Schwestern bei der Geburt ihres Sohnes dabei gewesen und sie unterstützt hatten. „Komm, lass uns noch einmal bis zum Badezimmer laufen.“ „Richtig, genau so. Tief ein- und langsam ausatmen.“ Als die Wehe durchgestanden war, sank Carina erschöpft ins Bett zurück und machte einen ziemlich kläglichen Eindruck. Ihre blonden Haarsträhnen hingen ihr verschwitzt in der Stirn, ihre Haut war von der Anstrengung gerötet und die Hälfte ihrer eigentlich langen Fingernägel hatte sie sich vor Nervosität bereits abgekaut. „Ich bin so müde“, murmelte Carina und Alice schaute ins Wohnzimmer hinüber zu der Standuhr. 18:00 Uhr. „Kein Wunder, du hast jetzt schon seit knapp 19 Stunden Wehen. Zu der Zeit war mein Sohn schon längst geboren.“ „Toll, das hilft mir auch nicht weiter“, stöhnte sie und ließ sich von der anderen Shinigami die Stirn mit einem feuchten Tuch abtupfen. Mittlerweile hatte sich ihre Erholungszeit auf 8 Minuten verkürzt und vor ungefähr einer Stunde war auch endlich ihre Fruchtblase geplatzt, was den Vorgang Gott sei Dank beschleunigte. Dennoch, ihr selbst ging das alles viel zu langsam. „Ich kann nicht mehr“, keuchte sie kraftlos und versuchte sich in eine angenehme Position zu legen. Es funktionierte nicht. „Es wird nicht mehr lange dauern, Carina. Du hast es bald geschafft, da bin ich sicher. Und dann kannst du dein Kind in den Armen halten und schlafen und all die Dinge wieder machen, nach denen du dich während der ganzen Langeweile gesehnt hast.“ Bei dem Wort „gesehnt“ stiegen der 19-Jährigen aus heiterem Himmel Tränen in die Augen. „Ich wünschte, er wäre jetzt hier“, wisperte sie. Alice brauchte einen Moment um zu begreifen, dass sie nicht von Grell sprach. „Ich wünschte Cedric wäre jetzt hier“, flüsterte Carina nun. Ihre Lippen bebten bei jedem einzelnen Wort, dicke Tränen kullerten ihr über beide Wangen. Die Blondine war inzwischen einfach viel zu aufgezehrt, als das sie ihre Gefühle noch länger hinter einer ruhigen Fassade verstecken konnte. Sie wollte ihn hier, an ihrer Seite. Sie wollte, dass er ihre Hand nahm und sagte, dass alles gut werden würde. Sie wollte, dass er ihr gemeinsames Kind in den Armen hielt und die Nabelschnur durchschnitt und möglicherweise ein paar Tränen dabei vergoss. Sie wollte ihn. Die Schnitterin wusste, dass diese Gedanken dumm waren, aber was sollte sie machen? So war es nun einmal. Alice schluckte trocken. „Ich weiß“, sagte sie mit seltsam schwacher Stimme und drückte die Hand ihrer besten Freundin. Natürlich konnte sie es verstehen. Sie selbst war unglaublich froh gewesen, als John bei der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes dabei gewesen war. Ihre Schwestern waren am Anfang strikt dagegen gewesen, es würde sich nicht gehören. Aber schlussendlich hatte sich ihr Mann durchgesetzt und war an ihr Bett geeilt, die bösen Blick der drei anderen Frauen ignorierend. Alice hatte ihn nie mehr geliebt, als in diesem Moment. Und sie konnte erahnen, dass es Carina gefühlstechnisch genauso ging. „Aber“, setzte Carina hinterher und drückte nun ihrerseits die Hand der Schwarzhaarigen zurück, „ich bin froh, dass du hier bist, Alice. Wirklich! Ich bin dir so dankbar. Und das, obwohl ich gerade so unerträglich bin.“ Trotz der Tränen, die immer noch über ihr ganzes Gesicht liefen, lächelte die Schwangere und meinte jedes einzelne Wort komplett ernst. Alice grinste gerührt. „Unerträglich? Du hättest mal meine Schwester Marie sehen sollen, die war wirklich unerträglich. Am Ende hat sie doch tatsächlich Sachen quer durchs Zimmer geworfen. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass ihr Sohn ein Einzelkind blieb.“ Carina lachte, musste mittendrin aber abbrechen, weil sich eine erneute Wehe ankündigte. Alice schaute verwundert auf die Uhr. „Das waren jetzt nur noch 5 Minuten. Warte kurz, ich hol schon mal warmes Wasser und Handtücher. Lange wird es jetzt nicht mehr dauern. Kannst du dich alleine unten rum freimachen? Ach warte, ich helfe dir.“ Mit geschickten Handgriffen zog sie ihr das Nachthemd hoch und entledigte sie gleich darauf des Slips. Zu Carinas eigener Verwunderung war es ihr nicht einmal peinlich, dass Alice sie nun unten herum komplett nackt sah. „Ich bin jetzt gleich wieder da. Falls du plötzlich den Drang spürst zu pressen, dann kämpf nicht dagegen an. Die meisten Frauen instinktiv wie und vor allem wann sie pressen müssen.“ „Ist gut“, murmelte Carina keuchend und bereitete sich gedanklich bereits auf die nächste Wehe vor. Alice hatte mit dem, was sie zu Anfang gesagt hatte, jedenfalls Recht gehabt. Die Schübe dauerten wirklich nur noch jeweils eine halbe Minute, aber dafür waren sie auch deutlich schmerzhafter. „Ehrlich mal, dagegen waren die Wunden von meinem Kampf gegen diesen Shinigami kleine Kratzer. Das würde ich jetzt definitiv vorziehen.“ „Hey du“, murmelte sie und rieb sich den Bauch. „Ich will dich ja nicht hetzen oder so, aber es wäre echt schön, wenn du jetzt langsam mal kommen würdest.“ Die Antwort kam postwendend in Form einer besonders starken Wehe, die Carina den Kopf in den Nacken legen ließ. „Scheint, als wenn Alice auch hier Recht gehabt hat. Der Apfel fällt nicht besonders weit vom Stamm.“ Keine 5 Minuten später kehrte Alice wieder zurück, in der Hand eine Schüssel mit dampfendem Wasser und auf dem Arm ein paar weiche Handtücher. „So, bis das Baby da ist, wird das Wasser auf eine gute Temperatur runtergekühlt sein. Wie sieht es aus?“ „Die Wehen kommen jetzt etwa alle 5 Minuten“, keuchte Carina, die gerade in einer erneuen Schmerzwelle steckte und ihre Zehen fest und unbewusst in das Bettlaken krallte. Die Zeit verging erneut, für Carina allerdings nur sehr mühselig. Nach gut einer halben Stunde verspürte sie dann endlich den lang ersehnten Drang zu pressen. Und Drang traf es wirklich gut, denn er war so stark, so unbändig, dass sie sich ihm unmöglich entziehen konnte. Sie hatte sich früher immer gefragt wieso die meisten Frauen dies als so schwierig empfanden, aber jetzt wusste sie es besser. Nach den 20 Stunden, die sie nun beinahe in den Wehen lag, war ihr Körper einfach völlig ausgelaugt. Kein Wunder, dass sie mit der eigentlichen Geburt nun ihre letzten Kraftreserven aufbrauchen würde. „Okay, bei der nächsten Wehe beginnst du gegen den Schmerz zu pressen, in Ordnung?“ Carina, die froh war nun endlich aktiv etwas tun zu können, nickte. Hoffentlich würde sie jetzt alles richtig machen, denn eigentlich hatte sie überhaupt keine Ahnung, wie genau dieses Pressen von sich ging. Was, wenn sie etwas falsch machte und es ihrem Baby schaden würde? Doch all ihre Sorgen waren unbegründet. Als die besagte Wehe kam, schien ihr Körper mit einem Mal ganz genau zu wissen, was er zu hatte. Automatisch lehnte sie sich in den Schmerz hinein, drückte mit all ihrer verbliebenen Kraft dagegen. Ein angestrengtes Keuchen verließ ihre Lippen, als sich der Schmerz verlagerte. Er war nun nicht länger in ihrem Rücken und im Unterleib, sondern konzentrierte sich allein zwischen ihren Beinen. Es war auch kein Ziehen mehr, sondern eher ein sehr schmerzhafter Druck. Ein Dehnungsschmerz, der sich gleichzeitig so anfühlte, als würde er sie zerreißen, aber eigentlich erträglicher war, als diese verdammten Wehen der letzten 20 Stunden. Es war seltsamerweise eine unglaubliche Erleichterung endlich mitarbeiten zu können. Ein neues Leben in diese Welt bringen zu können. „Sehr gut, du machst das klasse, Carina“, meinte Alice, als Angesprochene sich nach Ende der Wehe völlig fertig zurück in das Kissen fallen ließ. Derweilen kniete die Schwarzhaarige genau vor ihren senkrecht aufgestellten Beinen, ein Handtuch bereits in den Händen. „Mach genau so weiter. Und bloß das Atmen nicht vergessen. Es ist leichter, wenn du während des Schiebens ausatmest.“ „Das sagst du so leicht“, ächzte die 19-Jährige und versuchte irgendwie sich von dem Schmerz zu erholen, wo sie jedoch ganz genau wusste, dass dieser in weniger als 4 Minuten erneut kommen würde. Beim zweiten Pressen wurde der Druck beinahe unerträglich, die Blondine keuchte verzweifelt auf. Mittlerweile war sie schweißgebadet. So gerne wollte sie sich gegen diese Schmerzen wehren – ihr Gehirn schrie quasi danach – konnte es aber einfach nicht. „Das war das Köpfchen“, sagte Alice, woraufhin die Blondine erstaunt aufsah. Ihr…ihr Baby war tatsächlich schon fast da? Gegen ihren Willen stiegen Carina sofort Tränen in die Augen. „Du hast es fast geschafft. Jetzt nicht nachlassen“, murmelte ihre Freundin und hielt den Blick zwischen ihre Beine gerichtet. Carina nickte und war froh, als bei der dritten Presswehe der Druck deutlich nachließ. „Noch einmal, Carina“, forderte Alice, auf ihrem Gesicht lag bereits ein vorfreudiges Lächeln und sie senkte das Handtuch etwas tiefer zwischen die gespreizten Schenkel. Die letzte Wehe war wieder schmerzhaft, aber das war der Schnitterin nun wirklich piepegal. Sie wollte endlich ihr Baby sehen! Und dann ließ der Schmerz auf wundersame Weise ganz plötzlich um ein Vielfaches nach. Für einen Moment kam Carina aus heiterem Himmel alles viel intensiver vor. Sie hörte ihre eigenen abgehackten Atemzüge, spürte jeden einzelnen Schweißtropfen auf ihrer Stirn und sah Alice an, deren Lächeln nun langsam breiter wurde. Dann packte sie eine seltsame Furcht. Sie hörte gar kein Schreien. Sollten Babys nicht sofort nach der Geburt schreien? Eine Sekunde, die Carina aber wie eine halbe Ewigkeit vorkam, verging. Und dann hörte sie tatsächlich etwas. Zuerst hörte es sich eher an wie ein Quaken, wie ein Laut den jemand machte, wenn er sich unter Wasser befunden und versucht hatte etwas von sich zu geben. Doch dann wandelte sich dieser seltsame Laut abrupt um und dieses Mal war es definitiv ein Schrei. Der Schrei eines Neugeborenen. Und Carina begriff. Das war ihr Baby! Langsam, ganz langsam blinzelte sie und hob den Blick. Alice’ Augen glitzerten inzwischen ebenfalls verdächtig und ein schiefes Grinsen lag auf ihren Lippen. In ihren Händen befand sich ein – mit weißem Stoff ummanteltes – Bündel, das sie zu sich gedreht hatte. „Tja“, meinte sie langsam und lachte erstickt auf, während zwei Tränen nun doch über ihre Wangen kullerten. „Scheint ganz so, als würde ich mich in naher Zukunft an rote Wände in meiner Wohnung gewöhnen müssen.“ Und mit diesen Worten drehte sie das Bündel in die Richtung der frisch gebackenen Mutter und Carina konnte zum allerersten Mal ihr Kind sehen. Im Nachhinein hätte sie nicht mehr beschreiben können, was sie in diesem Moment alles fühlte. Es war, als wäre plötzlich die Lautstärke im Zimmer heruntergedreht worden. Alles, was sie in diesem Moment wahrnahm, war das kleine schreiende Baby, das ein wenig protestierend mit den kleinen Ärmchen und Beinchen zappelte. Blut und Käseschmiere bedeckten die helle Haut, die an einigen Stellen noch ziemlich verschrumpelt war, und die bläuliche Nabelschnur verband die junge Frau und ihr Kind weiterhin miteinander. Carina brauchte einige sehr lange Sekunden, um den Sinn hinter Alice’ Worten auszumachen. Die Wette… „E-ein Mädchen?“, stammelte sie und als ihre beste Freundin nickte, brachen bei der Blondine alle Dämme. Tränen quollen ungehindert aus ihren Augen, während sie den Blick einfach nicht von ihrer Tochter abwenden konnte. Cedrics und ihrer Tochter… Die Rezeptionist holte eine kleine Schere hervor. „Du erlaubst?“, fragte sie und als die 19-Jährige nickte, durchtrennte sie vorsichtig die Nabelschnur, um den Säugling kurz abzutrocknen und anschließend vorsichtig auf die Brust seiner Mutter zu legen. Carinas Arme umfingen das kleine Wesen sofort behutsam, damit es nicht von ihrer Brust rutschen konnte. Noch immer liefen ihr die Tränen über das ganze Gesicht. Sie konnte sich nicht daran erinnern jemals eine solche Art von Glück empfunden zu haben. „Hallo, kleine Maus“, flüsterte sie mit bebender Stimme und drückte ihrer Tochter einen zittrigen, aber sehr sanften Kuss auf die Stirn. Es stimmte tatsächlich, was alle sagten. Sobald das Baby erst einmal auf der Welt war, waren jegliche Schmerzen einfach komplett unwichtig. Das Neugeborene hatte sich unterdessen wieder beruhigt und lag nun ganz still auf ihrem Dekolleté, immer noch zugedeckt mit dem nun etwas blutverschmierten Handtuch. „Herzlichen Glückwunsch, Carina“, strahlte Alice und drückte jetzt ihrerseits ihrer besten Freundin einen Kuss auf die tränennasse Wange. „Danke“, nuschelte die Schnitterin, ihre ganze Aufmerksamkeit immer noch bei dem Bündel auf ihrer Brust. Das kleine Mädchen hatte bereits einige helle Haare auf dem Kopf, ob blond oder doch eher silbrig konnte Carina noch nicht ganz genau sagen. Doch es brauchte nur einen Blick und die junge Mutter konnte sehen, dass sie eindeutig die schneeweißen Wimpern ihres Vaters geerbt hatte. Die Augen waren momentan noch geschlossen, aber bei Säuglingen konnte sich die Augenfarbe ohnehin noch verändern, das wusste sie. Aber das war ihr einfach alles gleichgültig. Das hier war ohne jeden Zweifel das wunderschönste und perfekteste Baby auf der ganzen Welt! Ein plötzliches Ziehen in ihrem Unterleib unterbrach ihre Gedanken abrupt. Sie verzog das Gesicht, was auch Alice nicht verborgen blieb. „Keine Sorge, das sind nur die Nachwehen. Die Plazenta muss noch aus deinem Körper raus. Das ist ganz normal.“ „Ach ja, stimmt“, murmelte Carina, die diese Tatsache schon wieder komplett vergessen hatte. „Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich die Kleine mal kurz untersuche? Nur den Puls, die Atmung und ob auch alles so ist, wie es sein soll.“ „Natürlich“, antwortete die 19-Jährige, verspürte aber trotzdem kurz ein Gefühl der Leere, als Alice ihr Patenkind geübt wieder an sich nahm und zu dem kleinen Tisch ging, wo bereits ein paar Utensilien aufgebaut waren. Während Carina gute 10 Minuten damit beschäftigt war die Nachgeburt aus ihrem Körper auszuscheiden, schaute die Schwarzhaarige sich das Baby ganz genau an. Sie zählte Finger und Zehen, kontrollierte die eben genannten Körperfunktionen, wusch den gröbsten Schmutz vorsichtig ab und ermittelte zum Schluss noch die Größe und das Gewicht. „3200 Gramm und 52 Zentimeter, das sieht super aus. Alles andere scheint auch zu stimmen. Kerngesund, deine Tochter“, lächelte sie und zog dem neuen Erdenbewohner einen der Strampler an, die sie Carina zu Weihnachten gestrickt hatte. Beige und Weiß gestreift, mit kleinen Herzchen auf der Brust. „Gott sei Dank“, atmete die Blondine erleichtert auf und nahm sehnsüchtig wieder ihre Tochter entgegen, die inzwischen tief schlief. Die ganze Prozedur ihrer Patentante schien sie nicht im Mindesten gestört zu haben. „Die Nachgeburt ist auch draußen und scheint vollständig zu sein.“ „Ist ja widerlich“, rümpfte Carina die Nase, als sie die Plazenta in genaueren Augenschein nahm. Alice lachte. „Das dachte ich anfangs auch. Mittlerweile hab ich das so oft gesehen, da macht es mir schon nichts mehr aus. Auf jeden Fall müssen wir die gesamte Bettwäsche austauschen. Glaubst du, du kannst heute schon wieder aufstehen? Nur für ca. 10 Minuten vielleicht?“ „Hey, ich bin immer noch eine Shinigami. Gib mir eine Stunde und mein Körper wird das Schlimmste wieder geheilt haben.“ „Ja, ich will trotzdem nicht, dass du dich überanstrengst. Du hast 20 Stunden in den Wehen gelegen. Ein bisschen Schlaf würde dir ganz gut tun. Nimm dir ein Beispiel an deiner Tochter, die ist wegen der ganzen Strapazen auch direkt eingeschlafen.“ „Ist ja schon gut“, gab Carina sich geschlagen. „Sobald das Bett abgezogen ist, werde ich schlafen. Versprochen.“ Eine gute Stunde später schaffte die Shinigami es tatsächlich sich aufzurichten und sogar aufzustehen, wenn auch mit wackeligen Beinen und schmerzenden Gliedern. Das Kind in ihrem Armen regte sich leicht nach der Verlagerung und schlug wenige Sekunden später endlich die Augen auf. Carinas Lächeln war glücklich und betrübt zugleich. Marineblau, wie ihre eigenen menschlichen Augen es gewesen waren. „Ich hoffe, es bleibt bei dieser Augenfarbe. Das würde mir gefallen“, seufzte sie ganz leise, sodass Alice – die momentan das Bett abzog – sie nicht hören konnte. Außerdem hatte Cedric ihre Augen immer besonders gemocht… „So, fertig“, ließ die Rezeptionist verlauten und schaute in dem Moment auf, als das Neugeborene auf Carinas Armen anfing leise Protestlaute auszustoßen. „Sie hat bestimmt Hunger. Komm, probieren wir mal aus wie gut das Stillen funktioniert.“ Carina setzte sich wieder vorsichtig auf das frische Bettlaken und ließ sich von Alice zeigen, wie sie ihr Baby während des Stillens halten musste. „Autsch“, stieß sie überrascht hervor, als ihre Tochter sofort und instinktiv anfing an ihrer rechten Brustwarze zu saugen. „Das tut ja weh.“ „Ja, das ist am Anfang ganz normal. Deine Brustwarzen sind noch extrem empfindlich und müssen sich erstmal an das Saugen gewöhnen. Aber glaub mir, da sich bei deinen Selbstheilungskräften nichts auf Dauer entzünden kann, wird es auch dabei bleiben. An den Rest gewöhnst du dich wirklich schnell.“ Carina konnte einfach nicht anders, als fasziniert lächelnd ihr Baby zu betrachten, während es noch einige lange Minuten an ihrer Brust trank. Sanft streichelte sie die kleinen Finger und es dauerte gar nicht lange, da schlief das kleine Mädchen wieder tief und fest. „Komm, ich bring sie in ihr Bettchen. Schlaf ein bisschen, okay? Und mach dir keine Sorgen, ich lasse sie nicht aus den Augen.“ „Okay“, gähnte Carina und ließ sich von ihrer Freundin die Bettdecke überziehen. Alice hatte noch nicht einmal den Raum verlassen, da fielen ihr bereits die Augen zu und wohltuende Dunkelheit senkte sich über ihre Sicht. Geweckt wurde sie 4 Stunden später, als Alice wieder in ihr Zimmer kam und ihre Tochter anscheinend erneut gefüttert werden wollte. Die ehemalige Seelensammlerin fühlte sich nun schon deutlich besser, schlief allerdings nach der zweiten Stillrunde direkt wieder ein. Das nächste Mal erwachte sie erst, als die ersten Sonnenstrahlen des frühen Morgens durch das Fenster auf ihr Gesicht schienen. Mit einem leisen Gähnen setzte sie sich auf und stellte erstaunt fest, dass jegliche Schmerzen verschwunden waren. Natürlich fühlte sie sich nach wie vor erschöpft und schlapp, aber menschlichen Frauen ging es einen Tag nach der Geburt sicherlich deutlich schlechter. Die junge Shinigami betrat zuerst das Badezimmer, um sich zu waschen. Und das hatte sie, wie sie nach einem kurzen Blick in den Spiegel feststellte, auch bitter nötig. Ihre Haare waren verschwitzt und unordentlich, ihr Geruch bei weitem nicht der Beste und immer noch klebte Blut zwischen ihren Beinen. Nach einem ausführlichen Bad, das die Carina allerdings so kurz wie nur möglich hielt, ging sie in das Wohnzimmer und war für einen kurzen Moment überrascht ihre Freundin nirgendwo anzutreffen. Doch ein Blick ins Kinderzimmer genügte und Carina musste sich schwer zusammenreißen, um nicht laut loszuprusten. Alice saß im Schaukelstuhl und schlief den Schlaf der Gerechten. Ihre sonst immer so ordentlichen langen Haare sahen ein wenig zerzaust aus und ihr Kopf hing etwas lose zur Seite. „Ein Bild für die Götter“, dachte die Schnitterin und griff sogleich zum Fotoapparat, um ein Beweisfoto zu schießen. „Hey, Augenblick mal, was ist das denn für ein Bild?“ Auf dem Tisch lag eine Aufnahme, von der Carina gar nicht bemerkt hatte, dass Alice sie gemacht hatte. Es zeigte die Situation von gestern Abend, als ihr Baby gerade erst geboren worden war und zum ersten Mal auf Carinas Brust gelegen hatte. Ein Moment in ihrem Leben, den sie wahrlich niemals vergessen würde. Anscheinend war sie gestern so durch den Wind gewesen, dass sie kaum noch etwas mitbekommen hatte. Auf Zehenspitzen schlich sie zu der kleinen Wiege und sofort ging ihr bei dem Anblick ihres Babys – ihres eigenen Babys, sie konnte es selbst immer noch kaum fassen – das ganze Herz auf. In der Wiege wirkte sie noch viel kleiner, viel zerbrechlicher. Wie ein unvorstellbar wertvoller Schatz aus Glas, der mit allergrößter Vorsicht behandelt werden musste. Behutsam hob sie das Mädchen auf ihre Arme und wiegte sie sanft hin und her, während sie wieder ins Wohnzimmer ging und sich auf die Couch sinken ließ. Alice hatte sich ihren Schlaf nämlich wirklich redlich verdient. Langsam strich sie mit ihren Zeigefinger über die kleine Wange. „Hey“, murmelte sie leise und hauchte gleich darauf einen erneuten Kuss auf die Stirn ihres Babys. „Du weißt gar nicht, wie lange ich darauf gewartet habe dich endlich in den Armen halten zu können. Willkommen auf dieser Welt, mein kleiner Schatz.“ Es dauerte gar nicht lange, da wachte ihr Sprössling auch schon wieder auf und schien sich intuitiv näher an ihre Brust zu drücken. Carina war nicht wirklich darüber überrascht. Alice hatte ihr erzählt, dass Säuglinge in den ersten Wochen bestimmt zehn bis zwölfmal am Tag gestillt werden wollten und dazwischen jede Menge Zeit mit Schlafen verbrachten. Während sie die Kleine mit einer Hand an sich gedrückt hielt, knöpfte sie mit den Fingern ihrer anderen gekonnt die Bluse auf, die sie sich vorhin angezogen hatte. Das Saugen tat immer noch weh, aber dieses Mal konnte Carina sich auf den Schmerz einstellen. Hingerissen betrachtete sie das trinkende Kind und kam nicht umhin erneut festzustellen, dass sie das süßeste Wesen unter der Sonne in den Armen hielt. „Wenn dein Papa dich doch nur sehen könnte“, seufzte sie, wurde aber bereits im nächsten Moment durch einen lauten Ruf von draußen abgelenkt. „Huhuuuu, ich bin wieder da, Mädels. Schlaft ihr etwa noch?“ Ehe Carina in irgendeiner Art und Weise reagieren konnte, wurde bereits die Tür aufgerissen und Grell stolperte hinein – zu ihrem persönlichen Glück relativ leise. Der Rothaarige wollte gerade den Mund öffnen, als seine gelbgrünen Augen an seiner selbsternannten Schwester hingen blieben und im nächsten Moment groß wurden wie Untertassen. Carina musste sich ein Lachen verkneifen, als sie den schockierten Ausdruck auf seinem Gesicht sah. Neben den riesigen Augen klappte sein Mund immer wieder tonlos auf und zu, während sein Gehirn anscheinend versuchte das Bild zu verarbeiten, das sich ihm bot. Nach 2 Minuten ergriff die Schnitterin dann doch das Wort. „Willst du da Wurzeln schlagen oder möchtest du dir dein Patenkind vielleicht mal genauer ansehen?“ Das löste die Starre des Reapers abrupt. „Ich habe es verpasst“, jammerte er sogleich los und brach natürlich – wie sollte es auch anders sein – in Tränen aus. Wenigstens tat er dies in Zimmerlautstärke. „Sei froh, das war wirklich keine schöne Angelegenheit“, lachte Carina und freute sich darüber, dass ihr bester Freund nun endlich hier war. „Ich hab 20 Stunden in den Wehen gelegen und war wirklich mehr als nur erleichtert, als das gestern Abend endlich ein Ende fand.“ „Ich wäre trotzdem gerne dabei gewesen“, murrte er und kam ganz langsam näher, fast schon ein wenig unsicher. „Komm, setz dich neben mich.“ Grell folgte ihrer Anweisung und schaute dann ehrfürchtig über ihre Schulter auf das weiterhin trinkende Baby. Ein schmachtendes Seufzen kam über seine Lippen. „Ich wusste ja, dass aus deinen Genen und denen dieses Idioten nur was Gutes rauskommen kann, aber das hier“, er räusperte sich kurz, da seine Stimme plötzlich ein wenig brüchig wurde, „das habt ihr wirklich super hinbekommen.“ Carina strahlte ihn an. „Dankeschön, Grell.“ „Junge oder Mädchen?“, fragte dieser plötzlich und als Angesprochene lächelnd „Ein kleines Mädchen“ antwortete, grinste der Todesgott breit. „Wusste ich es doch“, triumphierte er und zog ein Taschentuch aus seiner Hosentaschen hervor, um sich die Tränen abzutrocknen. „Ja ja“, kam es aus dem Kinderzimmer und Alice trat heraus, die Haare wieder halbwegs glatt gestrichen. „Über die Renovierung der Wohnung können wir uns ja später noch unterhalten.“ „Worauf du dich verlassen kannst“, feixte der Rothaarige. „So“, meinte Alice und setzte sich an Carinas andere Seite. „Jetzt, wo er wieder hier ist, kannst du uns doch endlich den Namen verraten. Ich platze nämlich schon vor Neugier.“ „Oh ja, ich auch“, freute sich Grell und beide Paten starrten Carina erwartungsvoll an. „Ach ja, da war ja was“, grinste sie, war sich aber natürlich die ganze Zeit über bewusst gewesen, dass ihre Freunde auf diese Information brannten. „Um ehrlich zu sein wusste ich schon ziemlich früh, welchen Namen ich auswählen würde“, begann sie leise und schaute wieder auf ihre Tochter hinab. Schon während ihrer Schwangerschaft hatte sie immer wieder daran denken müssen, wie sie die Gräber von kleinen Kindern und Babys hatte verschönern müssen und welche Blumen sie damals immer gewählt hatte, weil sie für das Sinnbild standen, dass Kinder verkörperten. Reinheit, Unschuld und Jungfräulichkeit… Die weißen Lilien, die – wie sie inzwischen genauer wusste - für die Reinheit der Liebe, die Unschuld, aber auch für den Tod standen. „Lily“, murmelte sie und lächelte. „Ihr Name ist Lily.“ Kapitel 63: Sich überschlagende Ereignisse ------------------------------------------ „Nein!“ „Grell…“ „Nein, auf gar keinen Fall.“ „Jetzt reg dich doch nicht so auf“, meinte Carina genervt und verdrehte die Augen, während Alice mit einem breiten Grinsen im Gesicht hinter ihr stand. Sie schien diesen Streit sehr amüsant zu finden. „Wie soll ich mich bei solch einem Thema nicht aufregen, bitteschön? Das ist eine absolute Fehlentscheidung, Carina.“ Angesprochene seufzte tief. „Es sind doch nur Haare.“ „Nur Haare?“ Der Rotschopf schaute seinen Schützling fassungslos an. „Das hast du jetzt gerade nicht ernsthaft gesagt.“ „Mein Gott, wenn es mir nicht gefallen sollte, dann kann ich sie doch wieder wachsen lassen. Und jetzt lass Alice in Ruhe machen, die Haare kommen ab. Ende der Diskussion.“ „Du hörst dich schon an wie eine richtige Mutter. Mensch, was freue ich mich, wenn Lily in die Pubertät kommt“, lachte Alice, während Grell beleidigt die Arme vor der Brust verschränkte. „Deine schönen, langen Haare“, klagte er noch einmal und sah mit einem fast leidenden Gesichtsausdruck dabei zu, wie Alice die Schere hob und ein paar Sekunden später bereits die ersten blonden Strähnen zu Boden fielen. „Also, ich finde es sieht großartig aus. Steht dir gut, Carina“, meinte die Schwarzhaarige 15 Minuten später, als die Haare ihrer besten Freundin nur noch ein klein wenig kürzer als schulterlang waren. „Hmpf“, kam es von Grell. „Ich finde es auch nicht schlecht“, antwortete Carina und betrachtete die kürzeren Haare interessiert im Spiegel. „Vor allem viel pflegeleichter. Irgendwie ging mir die Länge schon ne halbe Ewigkeit auf die Nerven. Vor allem jetzt beim Stillen sind sie nur im Weg.“ Sie schaute zu Grell, der immer noch beleidigt woanders hinschaute. „Ach komm, Grell“, meinte sie versöhnlich. „Sieht es denn wirklich so schlimm aus?“ Der Reaper spinkste ganz kurz zu ihr hinüber, nur, um dann direkt wieder wegzusehen. Carina grinste. Wenn sie mit Grell fertig wurde, dann musste sie sich um ihren zukünftigen Umgang mit ihrer Tochter nun wirklich keine Sorgen machen. „Ja, mag sein, dass es gut aussieht“, gab er schließlich zu. „Aber lange Haare sehen immer noch besser aus.“ „Ich fürchte von der Überzeugung wirst du ihn niemals abbringen können“, grinste die Rezeptionistin und kehrte die Überbleibsel von Carinas Haaren mit einem kleinen Besen auf. Seit Lilys Geburt am 01. Februar war eine Woche vergangen und Carina hatte sich gut auf die neue Situation umstellen können. Mittlerweile wusste sie ziemlich genau was der Grund war, wenn das kleine Mädchen begann zu quengeln oder zu schreien. Wenn sie beispielsweise Hunger hatte, reichte es schon aus ihr einen Finger an die Lippen zu halten. Entweder begann sie dann sofort gierig daran zu saugen, was ein sehr sicheres Anzeichen für eine erneute Stillrunde war. Oder sie machte gar nichts. Dann war sie in den meisten Fällen müde oder musste gewickelt werden. Inzwischen sah Carina dies eher locker, aber am Anfang war sie manchmal ziemlich schnell in Panik geraten, wenn sie nicht sofort erkannt hatte, was der Säugling denn nun genau von ihr wollte. Ein Glück, dass Alice ihr mit Rat und Tat zur Seite gestanden und ihr einige nützliche Tipps gegeben hatte. Sicherlich würde es wieder um einiges schwerer werden, wenn die junge Frau in einer Woche zum Dispatch zurückkehren musste und sie sich dann nur alle paar Tage sehen konnten, wenn sich die Schichten von ihr und Grell nicht überschnitten. Aber auch das würden sie irgendwie hinbekommen, so wie sie bisher alles irgendwie hinbekommen hatten. Der Schlüssel klickte leise, als er im Schloss einrastete. Bereits im nächsten Moment verschwand er in den Untiefen des schwarzen Mantels des Silberhaarigen, der seine Augen noch einmal über die baufällige Lagerhalle schweifen ließ. In der letzten Woche hatte er sich vorrangig damit beschäftigt dafür zu sorgen, dass er das Gebäude unbeaufsichtigt zurücklassen konnte. Überall waren verstärkte Schlösser angebracht worden. Die Fenster waren nicht länger kaputt, sondern mit besonders dickem Glas ausgestattet worden. Kein menschliches Wesen würde so schnell diese Halle betreten können. Shinigami und Dämonen würden sicherlich einen Weg finden, aber darum würde der Bestatter sich Sorgen machen, wenn es soweit war. Zur Sicherheit befanden sich immerhin seine ganzen Forschungsunterlagen an einem anderen Ort, hier würde man lediglich wenige Exemplare seiner Bizarre Dolls finden, die er im Notfall sicherlich leicht ersetzen konnte. Menschen starben immerhin tagtäglich. Der Grund für seine übereilte Abreise lag einzig und allein darin, dass er bisher neben seinen Forschungen versucht hatte Carina zu finden – bedauerlicherweise erfolglos. Eigentlich war der Todesgott davon ausgegangen, dass es leicht werden würde die junge Frau zu finden und gleichzeitig noch seiner Arbeit nachzugehen. Gut, damals war er auch davon ausgegangen, dass die Blondine zwar untergetaucht war, sich aber dennoch weiterhin in London aufhielt. Wie es schien, hatte der Silberhaarige sich – was das anging – schwer getäuscht! Er hatte seine alten Kontakte aus der Londoner Unterwelt mobilisiert, stets darauf achtend, dass Ciel Phantomhive keinen Wind von der ganzen Angelegenheit bekam. Fehlanzeige. Er hatte selbst einige Orte innerhalb der Großstadt besucht, von denen er wusste, dass dort so schnell niemand nach einer vermissten Person suchen würde. Fehlanzeige. Schlussendlich war er sogar wieder dazu übergegangen einigen Männern seiner eigenen Spezies nachzuspionieren, in der Hoffnung, dass vielleicht doch irgendjemand etwas Neues zu berichten hatte. Fehlanzeige. Wenn er es nicht besser wüsste, dann konnte man glatt auf den Gedanken kommen, dass die Schnitterin nie existiert hatte. „Ich war mir so sicher, dass sie hier bleiben würde.“ Und wenn sie schlussendlich vielleicht in Deutschland geblieben war? Immerhin war dies ihr Geburtsland, sie konnte die Sprache sprechen und nicht zuletzt würde der Dispatch dort nicht vorrangig nach ihr suchen… Aber wenn das der Fall war, wie sollte er sie dann jemals finden? Deutschland war groß und er kannte sich dort nicht halb so gut aus wie in England. Und dann war ihm letzte Nacht mitten im Halbschlaf plötzlich eine neue Idee in den Sinn gekommen. Wenn es eine Person gab, die über Carinas Aufenthaltsort Bescheid wusste, dann konnte es nur dieser aufgedrehte Rotschopf sein. Was hatte Carina damals noch mal zu ihm gesagt? „Halt Grell da raus“ „Ihr steht euch nahe“ „Ja, er ist wie ein Bruder für mich. Also mach dich nicht lustig über ihn.“ Er war also derjenige, der den meisten Bezug zu der 19-Jährigen hatte. Derjenige, dem sie ihr Vertrauen während ihrer Zeit im Dispatch geschenkt hatte. Mit ziemlicher Sicherheit hatte sie ihn in ihre Pläne eingeweiht. Außerdem wusste der Undertaker um die Geschichte zwischen dem Shinigami und Madame Red. Es wäre also bei weitem nicht das erste Mal, dass der Rothaarige gegen einige Regeln verstoßen würde. „Jetzt muss ich ihn nur noch finden“, dachte der Totengräber und ein berechnendes Funkeln trat in seine Augen. Er hatte auf der Campania gegen Grell gekämpft, hatte sich somit ein ungefähres Bild von seinen Fähigkeiten machen können. Er war bei weitem nicht schwach, also war er als Seelensammler mit hoher Wahrscheinlichkeit recht aktiv unterwegs. „Ich muss mich nur noch einmal auf die Lauer legen und speziell das Rotkäppchen suchen. Und dann werde ich ihn schon dazu bringen mir zu verraten wo Carina ist, ob er das nun will oder nicht.“ Carina summte eine leise Melodie und strich ihrer Tochter sanft über den Rücken, während das Baby an ihrer linken Schulter lag und versuchte die überschüssige Luft im Bauch durch ein Bäuerchen loszuwerden. Als sie die Kleine anschließend wieder nach vorne auf ihre Arme nahm, schaute sie mit ihren Augen – die nach wie vor blau waren – neugierig durch die Gegend. Wobei „Gegend“ mit Sicherheit nicht das passendste Wort war. Alice hatte ihr erklärt, dass Babys im ersten Lebensmonat nicht weiter als 30 Zentimeter schauen konnten, alles andere wirkte für die Säuglinge noch sehr unscharf. „Tja, da haben wir zumindest jetzt noch die schlechten Augen gemeinsam“, murmelte Carina und gluckste, als Lilys Augen in ihre Richtung wanderten. Es war doch immer wieder erstaunlich, wie sehr sie auf ihre Stimme reagierte. „Und, bereit für dein Training?“, fragte Grell, der gerade aus dem Badezimmer hinaustrat. „Ja, jetzt gleich. Ich will nur noch warten, bis sie wieder eingeschlafen ist.“ „Ich kann mich nicht entscheiden, ob sie süßer ist, wenn sie schläft oder wenn sie wach ist“, seufzte Grell und strich seinem Patenkind mit seinem Zeigefinger vorsichtig über die kleine Wange. „Hey, meine Tochter ist immer süß, klar?“, grinste Carina zwinkernd und konnte bereits dabei zu sehen, wie die Augenlider des Babys schwerer und schwerer wurden, bis sie schließlich ganz zufielen. Vollkommen lautlos schlich Carina ins Kinderzimmer und legte das schlafende Kind in die Wiege. „Passt du auf Lily auf, während wir trainieren gehen?“, fragte sie gleich darauf Alice, die mit einem Becher Tee und einem Buch auf dem Sofa lag. „Klar, kein Problem“, antwortete die Schwarzhaarige, woraufhin Grell und Carina hinaus auf die breite Wiese gingen, die direkt vor der Hütte lag. Direkt am zweiten Tag nach Lilys Geburt hatte Carina wieder mit ihrem Training begonnen. Und es fühlte sich einfach großartig an. Die Anstrengung, ihre Death Scythe wieder in den Händen zu halten, das Aufeinanderprallen von Grells Kettensäge und ihrer scharfen Klinge… Sie hatte gar nicht gewusst, wie sehr sie das Kämpfen während der Schwangerschaft vermisst hatte. Außerdem machten sich ihre Anstrengungen endlich bemerkbar. Ihr hartes Training, das sie in den Wochen vor Erkennen ihrer Schwangerschaft durchgeführt hatte, und das Training, das sie nun mit Grell durchzog, zahlten sich spürbar aus. „Nicht schlecht, Carina“, meinte Grell erstaunt, als sie erneut einen besonders harten Hieb seinerseits abgewehrt hatte. „Tja, ich bin eben lernfähig“, rief sie ihm zu und ging nun selbst zum Angriff über. „Ist mir schon klar“, erwiderte der Rothaarige und wich ihrer Klinge nur um Haaresbreite aus. „Aber wenn man bedenkt, dass du gerade einmal 3 ½ Jahre ein Shinigami bist, dann ist deine Verbesserung wirklich bemerkenswert. Ich habe wesentlich länger gebraucht, um auf dein jetziges Level zu kommen.“ Erneut prallten ihre Waffen gegeneinander. „Dann solltest du dich besser anstrengen“, Carina grinste, „sonst hab ich dich bald noch eingeholt.“ „Tze, träum weiter“, spottete der Reaper und legte mehr Kraft in seinen rechten Arm, sodass die 19-Jährige einige Schritte zurückweichen musste und dabei zwei tiefe Furchen im Gras entstanden. „Dir merkt man deinen Abschluss als Jahrgangsbester aber auch noch an“, stichelte sie und legte einen Rückwärtssalto hin, um Grells langes, linkes Bein nicht ins Gesicht zu bekommen. „Darauf kannst du wetten, ich hab mich doch nicht umsonst so angestrengt. Hach, ich erinnere mich bis heute an Williams herrlichen Gesichtsausdruck bei der Verkündung der Noten. Diese steile Falte auf seiner Stirn macht mich immer noch schwach.“ „Wohl wahr“, entgegnete Carina und Grell schrie erschrocken auf, als sie ihn mit der stumpfen Seite des Katanas am Unterarm traf. „Hey, das hat wehgetan“, beklagte sich der Rothaarige auch sofort und rieb über die getroffene Stelle. „Wenn das ein blauer Fleck wird, dann hast du ein Problem, Carina“, keifte er, woraufhin die Blondine grinste. „Dann hör auf von William zu schwärmen und konzentrier dich auf den Kampf.“ Die beiden Schnitter trainierten noch einige Stunden weiter und legten nur dann Pausen ein, wenn Lily wach wurde und gestillt werden wollte. „Ihr seid ja wohl komplett irre“, gab Alice kopfschüttelnd von sich, als sie dann schließlich bei Einbruch der Dunkelheit vollkommen verschwitzt, verdreckt und erschöpft ins Haus zurückkamen. „Du hast ja überhaupt keine Ahnung“, warf Grell ihr entgegen und schulterte grinsend seine Kettensäge. „So ein ausdauerndes Training kann richtig befreiend sein.“ „Hier muss ich Grell Recht geben. Ich hab mich schon lange nicht mehr so entspannt gefühlt.“ Vor allem, da diese unerträglichen Rückenschmerzen nun endlich weg waren. Alice schüttelte erneut den Kopf. „Keine Ahnung, was an „sich gegenseitig verkloppen“ so toll sein soll. Ich werde es wohl nie verstehen. Aber ihr beide braucht definitiv ein Bad. Wir wollen doch nicht, dass uns der Dispatch wegen eures schlechten Geruchs findet, oder?“ Am nächsten Morgen saßen die drei Todesgötter entspannt am gedeckten Frühstückstisch und sprachen über den Verlauf des Tages. Grell hielt sein Patenkind fröhlich grinsend auf dem Arm, das gerade wieder im Begriff war einzuschlafen. „Oh man, ich wünschte ich müsste heute nicht arbeiten“, jammerte er und schob sich eine Gabel Spiegelei in den Mund. „Ach komm, es sind doch nur ein paar Stunden. Wollen wir danach wieder trainieren?“ „Ja, sehr gerne. Aber vorher muss ich dringend noch ein paar Berichte bei William einreichen. Ich konnte mir vorgestern lang und breit anhören, dass ich schon eine Woche im Rückstand bin.“ Er rollte mit den Augen. „Eine Woche ist doch gar nichts. Ich kenne manche Leute, die einen Monat lang keinen einzigen Bericht schreiben.“ „Dann kannst du dir ja vorstellen, was denen blüht“, antwortete Alice und schmierte sich Marmelade auf ihr Weißbrot. „Ist doch nicht schlimm“, entgegnete Carina. „Dann kommst du halt etwas später. Ich wollte ohnehin nachher noch Wäsche machen und sie aufhängen. Dann hab ich danach noch genug Zeit, um einkaufen zu gehen. So lange kann ich dich doch mit Lily allein lassen, oder Alice?“ „Klar, kein Problem. Wenn du sie vorher nochmal stillst, schläft sie sowieso sofort wieder ein und so lange bist du ja ohnehin nicht weg.“ „Alles klar. Dann sehen wir uns später, Grell?“ „In Ordnung“, zwinkerte er, übergab Carina wieder ihre Tochter und verschwand wenige Minuten später aus der Tür, um seine Schicht anzutreten. „Ich kann auch gerne die Wäsche machen, das ist kein Problem“, meinte Alice und nippte an ihrem Kaffee, den sie immer schwarz trank. „Nein, auf gar keinen Fall. Du hast in den letzten Wochen so viel für uns getan, Alice, jetzt bin ich dran. Außerdem kochst du doch schon und hilfst mir mit Lily, das reicht vollkommen. Ich muss ja sowieso bald auch ohne dich zurechtkommen.“ „Na gut“, meinte die Schwarzhaarige schulterzuckend und gähnte. „Dann hau ich mich jetzt noch ein wenig auf’s Ohr, bevor du nachher in die Stadt gehst. Ich hab diese Nacht kaum geschlafen.“ „Tut mir echt leid“, seufzte Carina, der es selbst schließlich nicht anders ergangen war. „Ach, dafür musst du dich doch nicht entschuldigen. Das ist vollkommen normal, wenn man ein kleines Baby im Haus hat. Und es ist auch bei jedem Kind unterschiedlich, wann sich das Ganze einpendelt. Jamie zum Beispiel hat mit 5 Monaten durchgeschlafen, einer meiner Neffen erst mit 2 Jahren und meine jüngste Nichte hat schon nach 6 Wochen die komplette Nacht Ruhe gegeben.“ „Also, im Sinne meiner Augenringe hoffe ich, dass es bei ihr keine 2 Jahre dauert“, stöhnte Carina und stand auf, um den Tisch abzudecken. Anschließend nahm sie ein ausgiebiges Bad, trocknete sich in aller Ruhe ab und entschied sich am Ende für ein schlichtes dunkelblaues Kleid, das ihre Augen gut zur Geltung brachte. Mittlerweile machte es ihr überhaupt keine Schwierigkeiten mehr ihre Shinigami Augen auf lange Sicht mit ihren ehemaligen menschlichen Augen zu verschleiern. Außerdem mochte sie ihre marineblauen Augen nun noch mehr, da ihre Tochter diese anscheinend wirklich von ihr geerbt zu haben schien. Und auch die Haarfarbe hatte sich nun eindeutig als silbrig herausgestellt. Ihre anfängliche Befürchtung, dass ihr Kind nach Cedric kommen würde, hatte sich also tatsächlich bewahrheitet. Allerdings stellte Carina fest, dass es ihr weitaus weniger ausmachte, als sie angenommen hatte. Es gab einfach nichts, was ihre Liebe zu dem kleinen Wesen schmälern konnte. So eine Tatsache konnte man wohl wirklich erst begreifen, wenn man selbst Mutter war. Tja, hätte sie das doch nur vorher gewusst, dann hätte sie sich viele Sorgen erspart… Als sie ins Kinderzimmer ging, lag der Säugling bereits wach in seiner Wiege und die blauen Augen wanderten suchend hin und her. „Du hast bestimmt wieder Hunger, hmm?“, redete Carina drauf los und hob das Baby geübt hoch. „Gut, aber zuerst ziehen wir dir mal was Neues an, okay?“ Lily gähnte müde, zeigte aber ansonsten keinerlei Reaktion. Vorsichtig zog die 19-Jährige ihr den Strampler zuerst an den Ärmchen und Beinchen aus, um ihn schlussendlich sanft über den kleinen Kopf zu ziehen. Das Mädchen quengelte währenddessen ein wenig, wollte sie doch viel lieber schlafen oder zumindest gefüttert werden. „Ja, ich beeil mich ja schon“, grinste die junge Mutter und wechselte kurzerhand die Windel. Auch wieder so eine Sache, an die sie nicht gedacht hatte. In ihrer Zeit gab es Wegwerfwindeln wie zum Beispiel Pampers – eine Erfindung, die viel zu wenig Anerkennung bekam, wie sie mittlerweile bemerkt hatte. Hier im 19. Jahrhundert mussten Tücher aus weichem Stoff als Windeln herhalten, die man nicht eben einfach so mal wegwarf und dann ein Neues nahm. Nein, diese hier mussten jedes Mal ausgekocht und wiederverwendet werden. Eine überaus lästige Sache. Nach kurzer Überlegung entschied sich Carina für einen einfachen hellblauen Strampler, den sie selbst gestrickt hatte. „So, kleine Maus, das war’s schon“, sagte sie und stupste ihrer Tochter mit der Nase gegen die Wange, sodass diese ihre Augen auf ihr Gesicht richtete und unkoordiniert die kleinen Händchen auf und zu machte. Die Schnitterin setzte sich mit ihr auf dem Arm in den Schaukelstuhl und begann leise eine Ballade aus ihrer eigenen Zeit zu summen, während sie ihr Kind an die Brust legte. Sie stützte behutsam das Köpfchen, das das Neugeborene noch nicht von allein heben konnte, und hielt die ganze Zeit Augenkontakt. Am liebsten würde sie die Kleine keine Sekunde aus den Augen lassen, aber zu einer Übermutter wollte sie nun auch nicht mutieren. 20 Minuten später, als ihr Baby wieder friedlich schlief, nahm sie sich den Wäschekorb von der Anrichte und verließ leise die Hütte, um Alice nicht zu wecken. Würde Lily in den 10 Minuten, wo sie nun weg war, wach werden, dann würde die Schwarzhaarige sie auf jeden Fall hören, immerhin schlief sie direkt im Zimmer nebenan. Carina ging vorsichtig den schmalen Trampelpfad hinab, der nur wenige Meter später am Fluss endete. Dort kniete sie sich auf den Boden und begann nach und nach die einzelnen Kleidungsstücke mithilfe eines zweiten Korbes und Seife zu waschen. Was sehnte sie die Erfindung der Waschmaschine doch herbei… „Na ja, wobei das hier ja auch irgendwie seinen Charme hat. So ist man zumindest an der frischen Luft, kann die Stille des Waldes genießen und hat was zu tun.“ Man konnte über Grells Eltern ja sagen was man wollte – und das wirklich in jeglicher Hinsicht – aber sie hatten sich zum Leben wirklich das perfekte Plätzchen ausgesucht. Die ehemalige Seelensammlerin konnte vor ihrem geistigen Auge sehen, wie Lily in ein paar Jahren auf der Wiese spielte. Schwimmen lernte. Auf Bäume kletterte. Letzteres natürlich nur unter ihrer Aufsicht. Das Lächeln auf ihrem Gesicht wurde breiter. Ja, das war eine schöne Vorstellung. Grinsend wrang sie eine ihrer weißen Blusen aus und wollte diese gerade in den Korb zurücklegen, als sich von hinten urplötzlich ein Arm um ihren Hals schlang. Carina konnte gar nicht so schnell registrieren was passierte, da kam bereits wie aus dem Nichts eine Hand, die sich ebenfalls von hinten über ihren Mund legte. Eine Hand in einem anthrazitfarbenen Handschuh. Ein erstickter Laut entfuhr ihrer Kehle, eiskalte Angst schoss durch jede Zelle ihres Körpers. Reflexartig packte sie seinen Arm mit ihren eigenen Händen, doch der Shinigami hinter ihr hatte erstens einen wesentlich besseren Stand als sie und war ihr zweitens – zumindest rein körperlich – weit überlegen. Keuchend spürte sie, wie er langsam begann seinen Griff um ihren Hals zu festigen. Was hatte er vor? Was wollte er von ihr? Und was würde er tun, wenn er mit ihr fertig war? Blanke Panik breitete sich in ihr aus, als sie an die Hütte dachte, die nur wenige Meter von ihr entfernt war. Die Hütte, in der sich Alice und Lily befanden. Beide schlafend, beide vollkommen schutzlos… Carina zuckte zusammen, als ihr Gegner sich mit einem Mal vorbeugte und seinen Mund an ihr rechtes Ohr drückte. Heißer Atem streifte ihre Ohrmuschel und gleichzeitig auch ihre Wange, was beinahe sofort einen Würgereiz in ihrer Kehle auslöste. „Hab ich dich endlich“, hauchte er und nun erstarrte die Shinigami wirklich komplett. Sie…sie kannte diese Stimme. Irgendwo hatte sie diese Stimme, die eindeutig einem Mann gehörte, schon einmal gehört. Da war sie sich absolut sicher. Aber wo nur? „Dieses Mal entkommst du mir nicht. Nein, heute funkt mir keiner dazwischen, auch dieser Bestatter nicht.“ „Verflucht, wer nur? Wer ist das? Wo habe ich diese Stimme schon einmal gehört?“ Ihr Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Es war dieses seltsame Gefühl, wenn einem ein Name bereits auf der Zunge lag, man aber einfach nicht auf die Lösung kam. Zum Greifen nahe, aber dennoch zu weit weg. Der Druck auf ihrem Hals und somit auch auf ihrem Nacken wurde langsam stärker. Mit Schrecken stellte Carina fest, dass sich seine Hand auf ihrem Mund in die entgegengesetzte Richtung seines Armes bewegte. Sie krallte ihre Nägel in den schwarzen Stoff, der seinen Arm bedeckte, zerrte und zog daran wie eine Wahnsinnige, doch es war zu spät. Sie hörte das Knacken, noch bevor sie den abrupten Schmerz spürte. Das Letzte, was sie wahrnahm, war das plötzliche Herumschnappen ihres Kopfes in einem mehr als nur unnatürlichen Winkel. Dann wurde ihr Bewusstsein von einer alles umfassenden Schwärze verschlungen, die Carina noch im gleichen Augenblick daran zweifeln ließ, ob sie jemals wieder erwachen würde. „Hey. Hey, Nervensäge! Wach auf.“ Alice öffnete stöhnend die Augen und war im ersten Moment recht orientierungslos. Dann sah sie auf und schaute direkt in Grells gelbgrüne Augen. „Grell? Du bist schon wieder zurück?“ Hatte sie etwa so lange geschlafen? Warum hatte Carina sie denn nicht geweckt? „Wie spät ist es denn?“ „Fast 14:00 Uhr. Ich konnte mich doch etwas früher losreißen. Hab mich extra beeilt, damit wir früher mit dem Training weitermachen können. Weißt du, wo Carina ist?“ Verwundert stand Alice vom Sofa auf. „Wie? Ist sie denn nicht hier?“ „Nein“, antwortete der Rothaarige und verschränkte die Arme vor der Brust. Gleichzeitig erklang ein leises Quengeln aus dem Kinderzimmer. Scheinbar hatte Grells Auftauchen nicht nur sie geweckt. „Seltsam“, murmelte Alice. „Sie wollte die Wäsche machen und dann einkaufen gehen. Hast du am Fluss nachgesehen?“ „Da war ich schon. Da lag zwar der Wäschekorb, aber von Carina weit und breit keine Spur. Ob sie einkaufen gegangen ist?“ Ein ungutes Gefühl machte sich auf einmal in Alice breit und nach Grells Gesichtsausdruck zu schließen, war sie da nicht die Einzige. „Carina würde doch niemals einkaufen gehen, ohne mich vorher zu wecken. Geschweige denn ohne den Wäschekorb wieder reinzubringen. Irgendetwas stimmt hier nicht.“ Grell wurde auf einmal fürchterlich blass. „Warte hier“, meinte er – schärfer als beabsichtigt – und stürmte wieder aus der Hütte hinaus zum Fluss. Alice ging währenddessen beunruhigt ins Kinderzimmer und hob ihr Patenkind hoch, das sich nach kurzem Hin- und Herwiegen auch Gott sei Dank wieder einigermaßen beruhigte. 1 Minute später stand Grell wieder in seinem ehemaligen Zuhause, nun noch bleicher als zuvor. „Jemand war hier.“ „Wie bitte?“, fragte Alice irritiert nach, während Grell sich fahrig durch die langen Haare fuhr. „Am Fluss waren zwei Energiesignaturen. Die Eine stammt unübersehbar von Carina, die kenne ich immerhin. Aber da war jemand bei ihr. Ein Shinigami.“ Nun wich auch aus Alice’ Gesicht jegliche Farbe. „Vielleicht…vielleicht war es ja ihr–“ „Daran habe ich auch schon gedacht. Aber selbst wenn es dieser Idiot von einem Bestatter war, dann wäre Carina jetzt noch hier. Sie würde ihre Tochter niemals einfach so alleine lassen.“ Einen sehr langgezogenen Moment lang herrschte resolutes Schweigen. „Es gäbe da noch eine andere Möglichkeit“, durchbrach Grell schließlich die Stille und musste gleich darauf schlucken, weil sein Mund staubtrocken war. „Dieser Mistkerl, der sie schon einmal überfallen hat“, führte Alice seine Gedanken weiter und strich Lily sanft durch die kurzen, silbernen Haare – mehr, um sich selbst abzulenken. Grell nickte. „Es gab allerdings keine Kampfspuren. Entweder bilden wir uns hier also nur was ein und Carina ist wirklich nur einkaufen oder“, er stockte und schluckte erneut. „Oder er war so schnell, dass Carina überhaupt keine Zeit hatte sich zu wehren“, beendete er seinen Satz und konnte quasi in Zeitlupe sehen, wie sich die Augen der Schwarzhaarigen langsam mit Tränen füllten. „Ganz ruhig“, entgegnete er und meinte damit nicht nur Alice, sondern auch sich selbst. Denn wenn er ganz ehrlich war, dann stieg ihm selbst die Panik bereits bis in die Kehle. „Ich suche sie. Wenn sie in London ist, dann werde ich sie innerhalb der nächsten Stunde finden, versprochen.“ Er wirbelte herum, überlegte es sich im letzten Moment aber noch einmal anders und drehte sich wieder zu der Rezeptionistin zurück. „Pass du so lange gut auf Lily auf“, meinte er und tätschelte kurz unbeholfen ihre Schulter. Alice nickte und zog ein wenig schniefend die Nase hoch. „Sei vorsichtig“, antwortete sie. Grell nickte und hatte bereits eine Sekunde später das Haus verlassen. Keine 10 Sekunden später flog er bereits über die Dächer Londons und nahm alle Orte in Augenschein, von denen er wusste, dass Carina ab und zu dort hinging. Jegliche Marktstände, kleine Läden, sogar ein paar Blumenhändler und den Friedhof ging er durch, doch die 19-Jährige blieb verschwunden. Selbst ihre Energie konnte er nicht wahrnehmen. Mit zittrigen Händen und dem übergroßen Bedürfnis, sich die Nägel nacheinander komplett abzuknabbern, hielt er schlussendlich auf dem Dach einer Bäckerei inne. „Scheiße“, flüsterte er und atmete versucht ruhig aus, obwohl alles an seinem Körper nach reinem Stress schrie. Was sollte er denn jetzt machen? Was, wenn Carina tatsächlich von diesem mysteriösen Shinigami entführt worden war? Was, wenn sie schon längst… Er schüttelte den Kopf. Nein, daran dürfte er erst überhaupt nicht denken. Natürlich war sein Schützling noch am Leben. Carina war viel zu stur, um einfach so zu sterben. Er musste jetzt einfach nur seinen Kopf zusammenhalten und sich einen Plan zurechtlegen. Es musste doch irgendeine Möglichkeiten geben die Blondine aufzuspüren. Irgendeine verdammte– „Na, wen haben wir denn da?“ Grell erstarrte. Langsam, ganz langsam drehte er den Kopf in die Richtung der gerade erklungenen Stimme. Nein, das konnte jetzt wirklich nicht wahr sein! Seine Augen weiteten sich hinter den Brillengläsern entsetzt, als er seinen Gegenüber sofort wiedererkannte. Gut, bei den silbernen Haaren, den Narben und dem Outfit war das auch nicht sonderlich schwer. Der Mund klappte dem Reaper ein Stück auf, als er tief Luft holte. Seit wann war der Todesgott wieder in London? Carina konnte davon nichts gewusst haben, sonst hätte sie ihm das mit Sicherheit gesagt. Und wieso musste er gerade jetzt auftauchen? Hatte Grell nicht gerade wirklich genug Probleme? „Grell, richtig?“, fragte der Undertaker und auf seinen Lippen breitete sich ein Grinsen aus. „Gut, dass ich dich endlich gefunden habe. Wir sollten uns dringend mal unterhalten, findest du nicht auch?“ Kapitel 64: Vater ----------------- Grell starrte den silberhaarigen Todesgott nach wie vor entsetzt an. Sie sollten sich mal unterhalten? „Worüber?“, schoss es ihm durch den Kopf, während er vorsichtshalber und rein instinktiv seine Hand über die Stelle legte, wo seine Death Scythe lag. Bereit jederzeit gezogen zu werden. Der Undertaker, dem diese Bewegung natürlich nicht entging, hob abwehrend die Hände. „Das wird nicht nötig sein“, meinte er ruhig, das Grinsen auf seinen Lippen verrutschte nicht eine Sekunde lang. „Jedenfalls nicht, wenn du mir meine Fragen beantwortest.“ Grell spürte deutlich, wie sich eine pochende Ader auf seiner Stirn bildete. „Ach?“, blaffte er. Der Typ hatte vielleicht Nerven. „Und was für Fragen sollen das bitteschön sein?“ Die Augen des Shinigami blitzten. „Die Wichtigste zuerst. Wo ist Carina?“ Na, das war ja jetzt ganz toll. Grell musste sich schwer zusammenreißen, um nicht ein derbes „Ach du Scheiße“ auszustoßen. So etwas gehörte sich immerhin nicht für eine Lady wie ihn. „Bleib ruhig“, sprach er sich selbst in Gedanken Mut zu. „Was soll die dämliche Frage? Sie ist da, wo sie hingehört. Im Dispatch. Weit weg von einem Verräter wie dir. Und das du nach allem, was du ihr angetan hast, überhaupt noch nach ihr fragst, ist wirklich das Allerletzte.“ Sein letzter Satz war nicht einmal gelogen, wofür er sich mental selbst auf die Schulter klopfte. Eine silberne Augenbraue des Bestatters wanderte in die Höhe. „Lass mich meinen Satz korrigieren“, meinte er und dem Rothaarigen lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, als er den dunklen Unterton des Mannes hörte. „Waffen werden nicht nötig sein, wenn du mir meine Fragen wahrheitsgemäß beantwortest.“ Grell zuckte zusammen. Nein, das war unmöglich. Wie zum Teufel noch mal hatte der Totengräber herausgefunden, dass sich Carina nicht mehr im Dispatch aufhielt? „Zufällig“, begann sein Gegenüber, als hätte er genau gewusst, was Grell gerade dachte, „habe ich gehört, dass Carina zurzeit vermisst wird. Und da dachte ich mir: Wenn einer weiß, wo sie sich aufhält, dann wird das ja wohl ihr treuer Freund und Mentor sein, hab ich Recht? Ersparen wir uns also lästige Lügereien und kommen gleich zum Punkt. Wo ist sie?“ „So viel zu ruhig bleiben. Was mach ich denn jetzt?“, dachte Grell panisch und verfluchte sich tausendfach dafür, dass er nach London gegangen war. Natürlich, er konnte gegen den Vater seines Patenkindes kämpfen und würde dabei sicherlich keine allzu schlechte Figur machen. Aber erstens wusste er nicht, ob er diesen Kampf überhaupt gewinnen konnte, zweitens würden sie damit möglicherweise nur weitere Shinigami auf den Plan rufen und drittens hatte Grell für so etwas nun wirklich gerade gar keine Zeit. Er musste Carina finden! Eine Idee ploppte in seinem Kopf auf. Eine Idee, bei der er sich auf die Unterlippe beißen musste, weil sie ihn in eine deutliche Zwangslage brachte. Einerseits hatte die ganze Sache eine Menge Vorteile. Andererseits aber einen entscheidenden Nachteil. Carina würde ihn dafür umbringen! „Ich höre, Rotschopf“, kam es von Cedric, dem langsam die Geduld ausging. Es juckte ihn bereits in den Fingern seine Sense zu zücken und Grell zu zeigen, wer hier das Sagen hatte. Ein unglaublich lautes Seufzen entkam den Lippen des Reapers. Er richtete seine Augen gen Himmel, als würde er jemanden stumm um Vergebung bitten. Dann sah er wieder in die gelbgrünen Augen seines Gegenübers und Cedric war beinahe verwundert über den ernsten Gesichtsausdruck, der sich auf den sonst so lockeren Zügen abzeichnete. „Bis heute Morgen wusste ich noch, wo sich Carina aufhielt. Nämlich in meinem Elternhaus in Yorkshire. Jetzt ist sie seit etwa 3-4 Stunden verschwunden und ich habe die unangenehme Befürchtung, dass dieser Shinigami dahintersteckt, der sie schon einmal überfallen hat.“ Grell brauchte gar nicht näher auf den Shinigami einzugehen. Er konnte in den Augen des Bestatters ganz deutlich sehen, dass er ganz genau wusste, wen er meinte. Ein eiskaltes Gefühl sickerte durch den Körper des Silberhaarigen, während sich sein Herz verkrampfte. Er hatte noch sehr gut vor Augen wie Carina ausgesehen hatte, nachdem der fremde Shinigami mit ihr fertig gewesen war. Er konnte sich immer noch daran erinnern, wie er sie am Hals gepackt und gewürgt hatte. Und er konnte sich immer noch daran erinnern, wie sich die Blutergüsse flächendeckend über ihren Oberkörper gezogen hatten. Und dieser Todesgott sollte Carina nun in seine Finger bekommen haben? Ein Gefühl, das er lange nicht mehr verspürt hatte, kroch seine Kehle hinauf und er erkannte es auf Anhieb. Angst. Allerdings blieb dieses Gefühl nicht lange allein. Unmittelbar darauf folgte die Wut. Wut auf diesen Mistkerl, der die 19-Jährige anscheinend entführt hatte, wenn man den Worten des rothaarigen Seelensammlers trauen konnte. Allerdings sah er in dessen Gesicht keine Anzeichen einer Lüge. Nur Resignation und Besorgnis. „Carina würde niemals einfach so verschwinden, ohne ein Wort zu sagen. Irgendetwas muss also passiert sein“, murmelte Grell leise und rieb sich den rechten Arm, als wäre ihm die ganze Situation mehr als nur unangenehm. Die Wut nahm zu. Wenn der Typ sie verletzt hatte, dann würde er ihn mit seinen bloßen Händen in Stücke reißen! „Schön und gut“, sagte er mit mühsam kontrollierter Stimme. „Carina werden wir schon irgendwie finden, da werde ich mich persönlich drum kümmern. Was mich aber viel mehr interessiert – und so kämen wir zu meiner zweiten Frage – ist, warum sie überhaupt in deinem Elternhaus gewohnt hat. Warum hat sie den Dispatch verlassen?“ Grell wurde blass und rieb sich nun noch fester über den Arm. Er sah aus, als wäre er liebend gern überall, nur nicht hier. „Weil…“, begann er, brach aber sogleich wieder ab. Er zögerte. „Verdammt noch mal, reiß dich zusammen“, zischte er sich selbst in Gedanken zu. „Mir bleibt keine Wahl und wenn er mir dadurch hilft Carina zu finden… Außerdem kann er ruhig mal merken, was er für einen riesen Bockmist gebaut hat.“ „Weil“, sagte er ein zweites Mal und suchte den Blick des Totengräbers, „weil sie schwanger war. Von dir.“ Stille. Es brauchte anscheinend einige Sekunden, bis die Nachricht das Gehirn des Undertakers erreicht hatte. Als es endlich soweit war, blinzelte er einmal. Dann ein zweites Mal. Seine Miene wechselte von Verständnislosigkeit zu reichlich verdutzt, bis hin zur völligen Ungläubigkeit. Das wäre alles recht komisch gewesen, befand Grell, wenn die Lage nicht so ernst gewesen wäre. Dann – als der Schnitter schon nicht mehr damit gerechnet hatte – kam eine Reaktion. Jedoch nicht die, die Grell erwartet hatte. Er lachte. Grell blinzelte. Der silberhaarige Vollidiot wagte es doch tatsächlich zu lachen. Und nicht eine 08/15 Lache, nein. Er lachte aus vollem Halse, schien sich überhaupt nicht mehr beruhigen zu können. Er krümmte sich sogar leicht vorne über. Der Rothaarige, der bisher ja für seine Verhältnisse noch relativ ruhig geblieben war, spürte Zorn in sich hochkochen. „Was gibt es denn da zu lachen?“, keifte er und war kurz davor auf den Silberhaarigen loszugehen und ihm eine reinzuhauen. Der Mistkerl hatte seiner kleinen Schwester das Herz gebrochen, das allein war eigentlich schon Grund genug. Aber das er sich nun auch noch über diese ernstzunehmende Situation amüsierte, ging wirklich einen Schritt zu weit. Mittlerweile war das Lachen auf ein leises Kichern abgeklungen. „Hey, ich rede mit dir“, schrie Grell und sorgte damit dafür, dass der Bestatter ihn wieder ansah. Sein Gesichtsausdruck wirkte zwar amüsiert, seine Augen blieben aber weiterhin seltsam kalt. „Ahehehe. Guter Witz“, meinte er und eine von Grells Augenbrauen wanderte langsam in die Höhe. „Wie bitte?“, fragte er und bekam auch sogleich die Antwort, die er insgeheim befürchtet hatte. „Seit wann bitte können Shinigami Kinder bekommen?“ Der Rotschopf musste auf den Kopf gefallen sein, dachte Cedric, wenn er ihm so einen Mist erzählte und anscheinend auch noch glaubte, dass er darauf hereinfallen würde. Doch mit der folgenden Reaktion des Reapers hatte der Undertaker nun wirklich nicht gerechnet. „Schon immer, du Vollidiot“, fauchte er. „Mal ehrlich, du und Carina habt euch auch echt gesucht und gefunden. In der Hinsicht wart ihr wirklich beide gleich dämlich.“ Cedric blinzelte, dann wurde seine Miene kühl. „Vorsicht, Rotkäppchen“, warnte er ihn, sein Geduldsfaden spannte sich bereits merklich. Doch das schien dem Schnitter vollkommen egal zu sein. „Ich hab lange genug den Mund gehalten. Es wird Zeit, dass du endlich Verantwortung für deine Taten übernimmst und dass Carina endlich den Mund aufmacht. So kann es doch nicht ewig weitergehen. Also, noch einmal zum Mitschreiben: Shinigami können Kinder bekommen, das war schon immer so! Und du solltest das eigentlich ziemlich genau wissen oder was war da mit Vincent Phantomhive?“ Der Undertaker erstarrte. „Woher weißt du davon?“, hauchte er. Kein Wesen, außer Claudia und ihm, hatte je davon gewusst. Nicht einmal Vincent selbst. „Carina hat dein Gespräch mit diesem deutschen Aristokraten belauscht, aber das weißt du bereits. Jedenfalls kam sie dann auf den Gedanken, dass es zwischen dir und Claudia Phantomhive mehr Verbindungen gegeben hat, als nur eure heimliche Beziehung. Also hat sie mich gebeten ihr den Stammbaum der Familie Phantomhive zu besorgen und dort war dein Name nun wirklich nicht zu übersehen.“ Der Silberhaarige konnte es kaum glauben, aber zum ersten Mal seit einer sehr, sehr langen Zeit fühlte er sich wirklich komplett überrumpelt. Carina hatte es also gewusst. Während des kompletten Gespräches, das sie in diesem kleinen Café geführt hatten, hatte sie die ganze Wahrheit gewusst. Und sie nicht mit einem Wort erwähnt. Aber gerade beschäftigte ihn eine andere Frage wesentlich dringender. „Das kann man nicht vergleichen. Claudia war ein Mensch, Carina ist ein Shinigami. Ich habe noch nie von einer weiblichen Shinigami gehört, die schwanger geworden ist.“ „Lass mich raten“, warf Grell spöttisch dazwischen und fühlte sich dem Silberhaarigen zum ersten Mal in jeglicher Hinsicht überlegen. „In deiner Zeit beim Dispatch warst du einer von diesen eigenbrötlerischen Typen, die sich nie um andere geschert haben, sondern immer nur brav ihre Aufträge erledigt haben, um sich ja nicht mit zwischenmenschlicher Kommunikation beschäftigen zu müssen.“ Cedric blinzelte erneut. Damit hatte der Rothaarige, ohne es zu wissen, den Nagel auf den Kopf getroffen. Und zwar ziemlich gut. Na und? Dann hatte er sich halt nie für die anderen Shinigami interessiert. Dann hatte er halt lieber seine Liste abgearbeitet und hatte sich anschließend in seine Wohnung zurückgezogen. War das etwa ein Verbrechen? „Und wenn?“, forderte er den anderen Todesgott auf weiterzusprechen. „Dann wundert es mich nicht, dass du um das offene Geheimnis der Shinigami Kinder nicht weißt. Wie ich schon zu Carina sagte: Dieses Thema wird so gut es geht totgeschwiegen. Die Oberen sehen es überhaupt nicht gerne, wenn sich so etwas herumspricht. Und das wird zu deiner Zeit nicht anders gewesen sein. Und falls du dich jetzt fragst, was mit den Kindern gemacht wird, die unter den Shinigami entstehen: Sie werden in die Menschenwelt gebracht. Da können sie dann in aller Ruhe aufwachsen, altern und irgendwann auch sterben. Das sollte dir ja bei deinem Sohn ebenfalls aufgefallen sein.“ Das stimmte allerdings. Vincent war ein ganz normaler Mensch gewesen. Nur mit dem winzigen Unterschied, dass sich seine Aura immer ein wenig von denen der anderen Menschen unterschieden hatte. Das hatte ihm ja erst klar gemacht, dass der zukünftige Earl sein Sohn war und nicht der von Claudias Ehemann. Mal ganz abgesehen davon, dass er seine menschlichen Augen geerbt hatte und schon als kleiner Junge dazu in der Lage gewesen war ihn auch in seiner unsichtbaren Form zu sehen. Aber… Aber wenn Carinas Mentor tatsächlich die Wahrheit sagte, wenn es tatsächlich möglich war, dass auch weibliche Shinigami fruchtbar waren und Kinder empfangen konnten, dann… Sein Herz sprang einmal auf und ab, um anschließend heftig und mit doppelter Geschwindigkeit gegen seinen Brustkorb weiter zu schlagen. Er fühlte sich plötzlich nicht mehr so richtig mit seinem eigenen Körper verbunden. Das hier konnte doch gerade nicht wirklich passieren! Carina konnte doch nicht wirklich… Grell konnte sehen, wie das letzte bisschen Farbe aus dem ohnehin schon recht blassen Gesicht wich. Aber sein Mitleid hielt sich in Grenzen. „Ach, merkst du vielleicht gerade, dass das hier kein Witz ist? Wird auch langsam mal Zeit, du Schwachmat.“ Der Bestatter konnte ihm nicht antworten. Er war viel zu entsetzt über die Erkenntnis, die ihn gerade traf. Und zwar mit Anlauf und einem heftigen Tritt ins Gesicht. Jedenfalls fühlte es sich so an. Eine Erinnerung schob sich vor sein geistiges Auge. „Warum hast du eigentlich die ganze Zeit deinen Mantel an?“ „Mir ist kalt.“ „Du warst schon immer eine schlechte Lügnerin, Carina.“ Anschließend hatte er festgestellt, dass sie den Mantel wohl trug, um schnellstmöglich verschwinden zu können, falls weitere Shinigami auftauchen sollten. Und sie hatte ihm nicht widersprochen. Jetzt wurde ihm klar, dass sie den Mantel nur getragen hatte, um ihren Bauch zu verdecken, der zu diesem Zeitpunkt sicherlich schon etwas von der Schwangerschaft verraten hätte. Sie hatte ihm eiskalt ins Gesicht gelogen! Die Wut und Enttäuschung, die er darüber empfand, wurden allerdings weiterhin von seinem Entsetzen vollkommen überschattet. „Schwanger. Sie war schwanger. Mit meinem Kind, sie war…“ Urplötzlich schoss sein Kopf wieder zu Grell herum, der überrascht zurückzuckte. „War?“, keuchte er und seine Stimme klang so rau, dass er sich räuspern musste. Grell hob eine Augenbraue und signalisierte seinem Gegenüber, dass er schon in ganzen Sätzen mit ihm sprechen musste. „Du sagtest… sie war schwanger.“ „Ja“, nickte Grell und verschränkte die Arme vor der Brust. „Sie hat eure Tochter vor genau einer Woche zur Welt gebracht.“ Eure Tochter! Der Undertaker merkte, wie ihm schwindelig wurde. Er… er hatte eine Tochter? Neben dem Entsetzen trat aus heiterem Himmel noch ein anderes Gefühl auf den Plan. Zuneigung. Eine pure Welle der Zuneigung schwappte durch ihn hindurch. Wenngleich es ihn auch schmerzhaft an Vincent erinnerte, konnte er einfach nicht anders, als… ja, als auf seltsame Art und Weise so etwas wie ein aufgeregtes Flattern in seiner Magengrube zu spüren. „Verstehst du jetzt, warum Carina den Dispatch verlassen musste? Ab dem Zeitpunkt, wo sie von ihrer Schwangerschaft wusste, hat sie den Gedanken, dass man ihr das Kind wegnimmt, nicht ertragen. Obwohl du ihr so wehgetan hast, hat sie nicht eine Sekunde lang darüber nachgedacht euer Baby nicht zu bekommen. Weil sie dich liebt! Egal, welchen Mist du gebaut hast oder noch bauen wirst; egal, wie sehr sie darunter gelitten hat, dass du immer noch versuchst diese Claudia Phantomhive wiederzubeleben.“ Grell holte tief Luft. „Ich war dabei. Ich habe gesehen, wie es ihr das Herz zerrissen hat. Aber trotzdem hat sie nicht einen Augenblick lang an ihrer Entscheidung gezweifelt. Sie liebt die Kleine. Abgöttisch. Und nicht nur, weil es ihr Kind ist. Sondern auch, weil es deines ist. Und du… Tze, du hast sie überhaupt nicht verdient“, beendete er schnaubend seine Rede. „Nein“, murmelte Cedric. „Nein, habe ich nicht.“ Wenn er sich nach ihrem Liebesgeständnis wie der letzte Trottel gefühlt hatte, dann war das nichts im Vergleich dazu, wie er sich jetzt fühlte. Dabei hatte er keine Ahnung, was er nun alles fühlte. Eigentlich… eigentlich wusste er überhaupt nichts mehr. Grells Blick wurde ein wenig weicher, als er den silberhaarigen Todesgott da so verloren auf dem Dach stehen sah. Natürlich, er war ein absoluter Vollidiot und hatte Carina furchtbar verletzt. Aber der Rothaarige konnte auch verstehen, dass die derzeitige Situation für den Todesgott alles andere als leicht sein musste. Und vor allem die neuen Erkenntnisse. „So. Noch irgendwelche Fragen? Falls nicht, dann würde ich jetzt gerne nach Yorkshire zurückgehen, um mir zu überlegen wie ich Carina wiederfinde.“ Er trat zwei Schritte vor und streckte seine Hand aus, sodass der Bestatter sie hätte ergreifen können. Cedric hob eine Augenbraue. Hatte er etwas verpasst? So voll, wie sein Kopf momentan war, würde es ihn zumindest nicht wundern… „Was ist jetzt? Kommst du mit oder nicht?“, knurrte Grell. Immerhin hatte dieser Deserteur zu Anfang doch noch gesagt, dass er Carina finden würde. Hatte er es sich inzwischen etwa anders überlegt? „Eins sag ich dir gleich. Wenn du mir jetzt nicht hilfst Carina zu suchen, dann bist du bei mir für immer unten durch, kapiert? Ist mir scheißegal, ob Carina dich liebt oder dass du der Vater meines Patenkindes bist. Ich kann es überhaupt nicht ausstehen, wenn ein Mann die Frau im Stich lässt, die er liebt. Und ja“, sagte er die letzten beiden Worte lauter, da sich die Augen des Undertakers entgeistert geweitet hatten. „ich bin mir ziemlich sicher, dass du sie liebst. Auch, wenn du Dummkopf das anscheinend selbst noch nicht begriffen hast.“ Immerhin hatte er gerade eben die Reaktion des Totengräbers beobachtet, als er von der Entführung der Schnitterin erfahren hatte. Da war Angst in seinem Blick gewesen. Und die wäre sicherlich nicht dort gewesen, wenn Carina ihm egal wäre. Cedric starrte Grell ausdruckslos an. Der Todesgott war seltsam, sogar nach seinem eigenen Maßstab. Aber was hieß das schon? Sie hatten beide das gleiche Ziel. Sie wollten beide Carina zurückholen. Ohne auf die Worte des Rotschopfs einzugehen, auf die er momentan ohnehin keine Antwort parat hatte, ergriff er dessen ausgestreckten Unterarm. „Gehen wir!“ Grell grinste sein Haifischlächeln. „Deine ersten richtigen Worte, Undy.“ Der Silberhaarige hatte keine Zeit sich über den Spitznamen zu beschweren, denn bereits im nächsten Moment verschwamm die Umgebung und nahm keine fünf Sekunden später eine neue Gestalt an. Seine phosphoreszierenden Augen wanderten kurz über die Waldlichtung, um sich einen generellen Überblick zu verschaffen. Nicht, dass das Ganze hier doch ein Hinterhalt war. Das erschien ihm persönlich zumindest logischer, als das Carina wirklich…von ihm… Grell deutete mit seinem rechten Daumen über die Schulter hinweg zu einer Hütte. „Hier hat Carina die letzten Monate über gewohnt. Ach, und übrigens auch entbunden.“ „Schlaues Versteck“, dachte sich der Bestatter und ließ seinen Blick abermals schweifen. Hier schien in unmittelbarer Umgebung niemand zu wohnen und die dichten Bäume sorgten für ein geschütztes Sichtfeld. Perfekt für jemanden, der nicht gefunden werden wollte. „Soll ich dir die Stelle zeigen, wo Carina verschwunden ist?“ Der Todesgott wollte gerade nicken, da sprang die Eingangstür der Hütte so plötzlich auf, dass sein Kopf nach oben schnellte und er automatisch in Angriffspose ging. Eine schwarzhaarige Frau, schätzungsweise Anfang 20, rannte hinaus. Ihre gelbgrünen Augen verrieten sie jedoch sofort. Diese fokussierten gerade den Seelensammler und schienen ihn noch nicht wahrgenommen zu haben. „Und? Hast du sie gefunden?“ Grell schüttelte den Kopf und seufzte. „Nein, aber dafür wurde ich gefunden.“ Er nickte mit dem Kopf in seine Richtung und nun schien die Frau ihn ebenfalls zu bemerken. Ihre Augen weiteten sich hinter der Brille entsetzt. Alice brauchte nicht groß zu fragen, wer da genau vor ihr stand. Die silbernen Haare sagten ihr alles, was sie wissen musste. Mein Gott, Lily war ihrem Vater tatsächlich wie aus dem Gesicht geschnitten. Und Carina hatte definitiv nicht untertrieben, als sie von seinem attraktiven Äußeren gesprochen hatte. Aber wenn er hier war, dann… „Sag… sag mir nicht, dass du-“ „Doch“, unterbrach Grell sie und seufzte erneut, als könnte er es selbst nicht fassen. „Ich habe ihm alles gesagt.“ Alice schluckte. „Dafür wird Carina dich umbringen.“ „Das weiß ich selbst“, fauchte er genervt. „Kann sie auch gerne machen, solange wir sie lebend finden.“ Alice wurde blass. „Ja, du hast Recht. Entschuldige“, flüsterte sie und holte zittrig Luft. „Meine Nerven liegen gerade einfach blank. Keine 2 Minuten, nachdem du weg warst, ist die Kleine aufgewacht und hat angefangen zu schreien. Zwar hat sie Gott sei Dank die Säuglingsmilch getrunken, die ich ihr gegeben habe, aber das hat nur ganz kurz geholfen. Ich hab alles versucht um sie zu beruhigen, aber das hat nicht funktioniert. Sie… sie will zu Carina.“ Als wäre das ein Signal gewesen, ertönte sogleich aus der Hütte hinter ihnen ein lautes Quengeln. Während Alice und Grell nur traurig seufzten, erstarrte der Undertaker zu Stein. Er hatte zwar Grells Worte über die Wahrheit vernommen, aber bisher hatte er es nicht wirklich wahrhaben wollen. Dieses Geräusch, dieser Laut… das machte es für ihn real. Sein schwarzer Mantel bauschte sich ein wenig auf und im nächsten Moment war er bereits an Alice und Grell vorbei. Auf dem Weg zur Hütte. „Hey“, zischte Alice scharf und wandte sich um, um den fremden Mann daran zu hindern auch nur einen Schritt weiterzugehen. Doch sie kam selbst nicht weit. Eine Hand in einem schwarzen Handschuh packte ihren Unterarm und hielt sie zurück. „Was zum-“, brachte sie hervor und drehte den Kopf ungläubig wieder zu Grell zurück, der nun langsam seinen eigenen schüttelte. „Lass ihn“, meinte er ernst und sah dem Mann hinterher, der nun endgültig durch die Tür verschwand. Dem Mann, dem Carina ihr Herz zu Füßen gelegt hatte. „Es muss sein.“ Der Bestatter betrat die Hütte und sah sich sogleich das geschmackvoll eingerichtete Wohnzimmer an. Er konnte sich ziemlich gut vorstellen, wie Carina hier gelebt hatte. Wie sie auf der Couch gesessen hatte, mit einem Buch in der Hand und einer Decke über den Beinen. Oder wie sie an dem Esstisch gefrühstückt und draußen Spaziergänge unternommen hatte. Ja, das hier passte zu ihr. Ein erneutes Wimmern drang an seine Ohren und automatisch richtete sich sein Blick in Richtung eines Zimmers auf der rechten Seite. Das Herz wummerte ihm ganz komisch in der Brust, während sein Hals zum wiederholten Male am heutigen Tage ganz trocken wurde. Jeder seiner Schritte war lautlos, als er sich dem Kinderzimmer – so vermutete er zumindest – näherte und leise die Tür öffnete. Als erstes sprangen ihm die grünen Wände ins Auge, dicht gefolgt allerdings von einer Wiege, die mittig im Zimmer stand. Noch nie in seinem ganzen Leben – und er lebte immerhin schon ziemlich lange – hatte es ihn solch eine Überwindung gekostet einen Raum gänzlich zu betreten. Dieses Zögern kannte er von sich selbst eigentlich nicht. Er nahm einen weiteren tiefen Atemzug und dann machte er die letzten zwei Schritte in das Zimmer hinein, um schließlich genau vor der Wiege stehen zu bleiben, aus der die quengelnden Laute hervordrangen. Gleich darauf war ihm, als würde die Welt einfach stehen bleiben. Als hätte irgendeine höhere Macht beschlossen die Zeit anzuhalten. Es gab nur noch ihn. Ihn und das Baby. Das Neugeborene hatte die Hände zu Fäustchen geballt, die Wangen waren vom Schreien schwach gerötet, die Augen zugekniffen. Die Füßchen, die in etwas steckten was irgendwie ein Kleidungsstück allein zu schein schien, strampelten leicht hin und her. Silberne Haare kräuselten sich auf dem kleinen Köpfchen, die Wimpern waren schneeweiß. Es gab überhaupt keinen Zweifel. Das hier war sein Kind. Er bemerkte die Tränen erst, als sie ihm bereits vom Kinn hinab auf das weiche Polster der Wiege tropften. Verwundert fuhr er sich an die Wange. Tatsächlich, er weinte. Der Todesgott konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, wann er zuletzt aus einem anderen Grund als Vincent oder Claudia geweint hatte. Das musste Jahrzehnte, wenn nicht sogar schon ein ganzes Jahrhundert her sein. Doch es machte ihm nicht einmal etwas aus, denn dieses Mal waren es keine Tränen der Trauer. Seine Tochter – Heilige Maria Mutter Gottes – schien mittlerweile bemerkt zu haben, dass sich da jemand halb über sie gebeugt hatte. Das Weinen wurde leiser und jetzt öffneten sich auch endlich ihre Augen. Cedric schnappte nach Luft. Das Mädchen mochte vielleicht die Haare und auch ihre Gesichtszüge von ihm geerbt haben, aber die Augen waren definitiv die ihrer Mutter. Dieses strahlende Dunkelblau würde er überall wiedererkennen. „Schon seltsam. Bei Vincent war es genau andersherum.“ „Was ist? Willst du sie nicht auf den Arm nehmen?“ Alice stand mit verschränkten Armen im Türrahmen, einen forschenden Ausdruck im Gesicht. Sie konnte die Tränenspuren auf seinen Wangen sehen, was sie zugegebenermaßen ein wenig besänftigte. Der Silberhaarige sah sie mit einem Blick an, den sie nicht so recht deuten konnte. „Wir wurden uns, glaube ich, noch nicht vorgestellt. Ich bin Alice, Carinas beste Freundin. Und wenn du ihr nochmal wehtun solltest, dann bekommen wir beide eine Menge Ärger miteinander, klar?“ Ein wenig irritiert nickte der Totengräber. Das war Carinas beste Freundin? Gut, vom Charakter her konnte er sich das durchaus vorstellen. Die beiden Frauen hatten anscheinend dasselbe große Mundwerk und definitiv das gleiche Selbstbewusstsein. „Schön“, antwortete Alice zufrieden und ging auf die Wiege zu, um ihr Patenkind anschließend geübt hochzunehmen. „Ich nehme mal an, dass du weißt, wie man ein Baby hält?“ Aus seinem überforderten Gesichtsausdruck schloss sie, dass er es anscheinend doch nicht so richtig wusste. Natürlich, er hatte Vincent ein- oder zweimal gehalten, kurz nach seiner Geburt, aber das war immerhin schon lange her und damals hatte er das Baby Claudia auch sofort wieder zurückgegeben. Er war einfach nicht der Typ für den Umgang mit Babys. Doch Alice‘ Blick sagte ihm, dass sie das nicht auf sich sitzen lassen würde. „Hinsetzen“, befahl sie und Grell, der gerade ebenfalls im Türrahmen erschien, beobachtete mit amüsierter Miene, wie der Bestatter den Worten der Schwarzhaarigen tatsächlich sang- und klanglos Folge leistete. Er war sich ziemlich sicher, dass der Todesgott immer noch heillos überfordert war mit den ganzen Informationen des heutigen Tages. Heute Morgen hatte er noch nicht einmal gewusst, dass er überhaupt Vater war und nun wurde er bereits mit Techniken wie er sein Kind halten sollte konfrontiert. Da konnte man schon mal neben sich stehen. Ansonsten, und da war Grell sich ziemlich sicher, würde er ganz bestimmt nicht so mit sich reden lassen. „Nimm sie erstmal mit einem Arm unter dem Nacken und mit dem anderen Arm am Po nach oben. Dann die Finger so weit wie möglich spreizen, damit gibst du ihr die meiste Unterstützung. Ja, genau so. Und jetzt mit der Hand, die den Nacken stützt am Rücken nach unten gleiten, sodass nun dein Unterarm den Kopf stützt. Die andere Hand einfach am Po belassen und die Kleine möglichst nah an deinem Körper halten.“ Als sich Alice sicher war, dass er den Säugling richtig hielt, trat sie einen Schritt zurück und beschaute sich lächelnd das Bild. Wäre Carina doch jetzt nur hier, um das sehen zu können… Cedric fühlte sich alles andere als wohl mit diesem kleinen, zerbrechlichen Geschöpf auf dem Arm. Er war ein Wesen, das den Tod brachte. Er sollte eine so unschuldige Seele nicht berühren. Aber egal wie sehr er es auch versuchte, er konnte die Augen einfach nicht von dem Baby abwenden. Von seiner Tochter. Diese schaute ihn mit ihren blauen Augen neugierig an. Gut, schauen war vielleicht zu viel gesagt, aber sie schien auf jeden Fall zu bemerken, dass da jemand Neues war, der sie bisher noch nicht gehalten hatte. „Aww, ist das nicht einfach herzergreifend?“, seufzte Grell leise, als er sah, wie der Blick des Bestatters vollkommen fasziniert an dem Mädchen klebte. Alice musste ihm ausnahmsweise einmal zustimmen. Der Silberhaarige sah tatsächlich so aus, als hätte sich seine ganze Welt mit einem Mal völlig auf den Kopf gestellt. Cedric hatte Grell nicht zugehört und es interessierte ihn auch nicht, was er zu sagen hatte. Das Baby gähnte gerade, während die blauen Augen anfingen langsam zuzugehen. Anscheinend forderten die ganze Aufregung und das Schreien doch ihren Tribut. „… Wie ist ihr Name?“, fragte er mit einer Stimme, die er von sich selbst überhaupt nicht kannte. Er war so von den Neuigkeiten eingenommen gewesen, dass er bis jetzt vollkommen vergessen hatte danach zu fragen. „Lily“, antwortete Alice sanft und hatte nun für sich selbst beschlossen den Silberhaarigen zu mögen. Jemand, der seine Tochter mit solch einer Hingabe ansah, konnte im Grunde kein schlechter Mensch sein. „Lily“, flüsterte er. Wie die Lilien, die Carina vor nun beinahe 4 Jahren immer auf die Gräber gelegt hatte. Er mochte den Klang des Namens und als Bestatter kannte er natürlich die Bedeutung der Blume. Ja, das passte. Warum? Warum zum Teufel hatte sie es ihm damals in Baden-Baden nicht einfach die Wahrheit gesagt? „Das werde ich wohl erst herausfinden, wenn ich sie gefunden habe“, dachte er und erhob sich vorsichtig vom Stuhl, um seine Tochter wieder zurück in die Wiege zu legen. Für einen Moment fühlten sich seine Arme furchtbar leer an. Seufzend strich er sich eine seiner langen Haarsträhnen aus der Stirn. „Gut“, begann er und schaute die beiden Paten seiner Tochter durchdringend an. „Wie gehen wir vor?“ Das Erste, was Carina spürte als sie langsam wieder zu sich kam, war die beißende Kälte. Ihr Körper musste ihr schon länger ausgesetzt gewesen sein, denn sie war in jeden einzelnen Knochen eingedrungen. Alles tat ihr weh. Die 19-Jährige hob langsam den Kopf an und ließ ihn sogleich stöhnend zurücksinken. Erinnerungen stürmten beinahe sofort auf sie ein. Stimmte ja, der Mistkerl hatte ihr das Genick gebrochen. Die Wirbel hatten sich zwar wieder eingerenkt und das umliegende Gewebe war wieder abgeheilt, aber dennoch schmerzte ihr ganzer Nacken und Hals. Kein Wunder, wenn sie ein Mensch gewesen wäre, dann wäre sie sofort und unwiderruflich tot gewesen. Wahrscheinlich hätte sie es in ihren letzten Sekunden nicht einmal richtig realisieren können. Nach ihren Rückenschmerzen zu urteilen, lag sie auf einem harten Untergrund. Carina horchte mehrere Minuten lang auf die Geräusche um sich. Nichts außer alles erdrückender Stille. Langsam öffnete sie die Augen und ihre Vermutung bestätigte sich sogleich. Sie war allein und lag tatsächlich auf etwas, was man wohl am ehesten als eine Liege aus massivem Stahl bezeichnen konnte. Oder eine Folterbank… Ihr Blick wanderte durch den Raum, der nur von einer einzigen kleinen Glühbirne an der Decke erhellt wurde. Was wiederum nur bestätigte, dass es sich bei ihrem Entführer um einen Shinigami handeln musste, Glühbirnen waren immerhin noch gar nicht erfunden worden. Der Raum hatte etwas von einem Bunker oder noch eher von einem Gefängnis. Der Boden und die Wände strotzten vor Dreck, Staub und vor irgendwelchen Flecken, von denen Carina gar nicht wissen wollte, worum es sich handelte. Es roch nach Erde und Schimmel, was sofort einen Würgereflex in ihrer Kehle auslöste. Gott, wo zur Hölle war sie hier nur gelandet? Als nächstes bemerkte sie die schweren Ketten, die um ihre Hand- und Fußgelenke lagen und unmittelbar mit der Liege verbunden waren. Bis auf wenige Zentimeter konnte sie ihre Gliedmaßen nicht bewegen, was gegen ihren Willen Panik in ihr hervorrief. Sie zerrte stärker an ihren Armen, sodass die Fesseln unangenehm gegen ihre eiskalte Haut rieben. Nichts. Aus was auch immer für einem Material diese Ketten gemacht worden waren, sie hielten ohne Mühe den Kräften eines Shinigami stand. Verdammt, das war gar nicht gut… „So bin ich diesem Typen schutzlos ausgeliefert. Scheiße, was mach ich denn jetzt?“ Wie lange war sie schon hier? Wie viel Zeit war seit seinem Angriff auf sie vergangen? Und was, wenn er Alice und Lily etwas angetan hatte? „Dann Gnade ihm Gott…“ So gut es mit ihrem schmerzenden Nacken ging, schaute sie an sich herunter. Ihr Kleid schien unversehrt zu sein, jedoch trug sie ihre schwarzen Stiefel nicht mehr. Wie auch, die Fesseln lagen ja auch schwer um ihre Fußgelenke. Sie reckte den Kopf ein wenig weiter und konnte nun ihr Katana sehen, das genau neben einer schweren, halb verrosteten Tür lehnte. Gefühlt meilenweit aus ihrer Reichweite, was sicherlich von ihrem Entführer auch so beabsichtigt worden war. Die Panik, die bisher leise in ihrem Inneren vor sich hin gebrodelt hatte, fing nun an überzukochen. Eigentlich konnte sie nur darauf hoffen, dass der Mistkerl sie nicht umbrachte, bevor Grell einen Weg fand, um sie zu retten. Aber wie sollte er das bitteschön bewerkstelligen? Konnte er Energiesignaturen auch auf große Entfernungen aufspüren? Der Shinigami würde sie ja vermutlich nicht direkt im Nachbarort versteckt halten… Ein schrilles Quietschen ließ sie auf der Liege zusammenfahren. Ihre Pupillen richteten sich auf die Tür. Scheinbar ließ sich dieses Konstrukt von außen wie eine Luke öffnen. Unwillkürlich beschleunigte sich ihr Herzschlag. Gleich; gleich würde sie endlich wissen, wer sie damals so zugerichtet hatte, wer sie entführt hatte und was zum Teufel nochmal er von ihr wollte. Und wo sie diese Stimme schon einmal gehört hatte. Die Tür glitt mit einem lauten Knirschen zur Seite. Carina öffnete bereits den Mund, um ihrem persönlich erklärten Todfeind eine derbe Beleidigung um die Ohren zu hauen, als die Person einen Schritt in den Raum hineintrat und somit im schwachen Licht der Glühbirne stand. Jegliches Wort blieb ihr im Halse stecken. Der Shinigami trug nach wie vor den langen, schwarzen Mantel und auch die anthrazitfarbene Handschuhe. Aber der Mantel war nicht mehr geschlossen, sodass sie die darunter liegende einfache schwarze Anzugshose und das weiße Hemd samt marineblauer Krawatte sehen konnte. Doch all das war nicht wichtig. Denn nicht nur der Mantel war nun offen. Auch die Kapuze hatte der Todesgott abgelegt, sodass Carina ihm genau ins Gesicht sehen konnte. Und was sie da sah, ließ sie augenblicklich an ihrem Verstand zweifeln. Das… das konnte doch gar nicht sein. Das konnte nicht die Antwort auf die Frage sein, die sie sich bereits die ganze Zeit stellte. Sie brauchte ganze zwei Anläufe, um seinen Namen endlich auszusprechen und als sie es dann endlich schaffte, war es nur ein komplett entgeistertes Stammeln. „Mr.… Mr. Crow?“ Ihr ehemaliger Lehrer verzog die Lippen zu einem derart erbarmungslosen Lächeln, das es Carina den Atem raubte. „Hallo Carina.“ Kapitel 65: Die Bombe platzt ---------------------------- Carina starrte den Mann vor sich entsetzt an. Und sie war sprachlos. In jeder Hinsicht sprachlos. Ihr Lehrer! Ihr Lehrer hatte sie verprügelt, sie gedemütigt und sie schlussendlich sogar entführt! Ihr monotoner, unterkühlter Lehrer, mit dem sie nie so richtig warm geworden war. Er war es die ganze Zeit über gewesen. Aber… aber warum?“ Der Todesgott trat zwei Schritte näher und stand nun ganz genau vor ihr, sodass Carina gezwungen war zu ihm aufzublicken. Sicherlich hatte er genau dies beabsichtigt, denn allein schon durch den jetzigen Größenunterschied fühlte sich die Schnitterin klein und hilflos. Was sie momentan auch war, keine Frage. Ein weiteres Mal zerrte sie an ihren Fesseln, doch diese gaben kein Stück nach. „Bemüh dich nicht“, meinte Mr. Crow und lächelte erneut. Carina wäre sein abwertender Ausdruck, den er während ihrer Ausbildung immer getragen hatte, lieber gewesen. Denn dieses Lächeln war einfach nur falsch und grausam. Die Ruhe vor dem Sturm. Bevor die Blondine jedoch irgendetwas erwidern konnte, hob der Mann Anfang 30 die Hand, holte aus und verpasste ihr eine schallende Ohrfeige mitten ins Gesicht. Ihr Kopf neigte sich durch den Druck zur Seite und gleich darauf fühlte es sich so an, als hätte ihre Wange Feuer gefangen. Carina blinzelte, schien einen ganzen Moment zu brauchen, um das eben Passierte zu realisieren. Erst, als sie Blut im Mund schmeckte, traf sie die volle Erkenntnis, dass er sie gerade geschlagen hatte. Konfus drehte sie ihren Kopf wieder zu ihm zurück und bemerkte, dass sein schmales Lächeln nun eine Spur breiter geworden war. Fast so, als würde ihm das Ganze hier Spaß machen. „Das war dafür, dass du einfach so verschwunden bist. Und das schon zum zweiten Mal.“ Carinas Augen funkelten ihm zornig entgegen, doch sie wagte es nicht auch nur ein Wort zu entgegnen. „Ah, dieser Blick. Den habe ich schon einmal gesehen. Damals, als du gegen Knox gewonnen hast. An Selbstbewusstsein scheint es dir inzwischen wahrlich nicht mehr zu mangeln.“ „Was wollen Sie von mir?“, fragte die 19-Jährige kühl und war froh, dass ihre Stimme nichts über die Angst verriet, die nach wie vor in ihrem Inneren herrschte. Sie konnte es sich nicht erlauben jetzt Schwäche zu zeigen. Kurz huschte eine Regung über sein Gesicht. Überraschung? „Es wundert mich ehrlich gesagt, dass du es noch nicht weißt. Hast du denn wirklich überhaupt keine Vermutung?“ „Ich wurde noch nie verprügelt, anschließend fast umgebracht und dann auch noch entführt. Also nein, ich habe keine Ahnung“, erwiderte sie trocken, jetzt nur noch mühsam beherrscht. Hatte er sie das gerade wirklich gefragt? „Und Sie scheinen ja eher der Typ dafür zu sein, erst einmal auf einen einzuschlagen und dann Fragen zu stellen. Wobei… nicht einmal das haben Sie getan.“ „Nun“, begann er langsam und lächelte immer noch, was Carina inzwischen am allermeisten störte, „ich war mir ziemlich sicher, dass du nicht einfach so mit mir mitkommen würdest, also habe ich ein wenig nachgeholfen. Bis mir dann dieser seltsame Freund von dir einen Strich durch die Rechnung gemacht hat.“ Erleichterung flutete Carinas Gedanken. Er wusste nichts von ihrer Beziehung zu Cedric. Das hieß, dass er auch nicht von Lily wissen konnte. Gott sei Dank… „Ich weiß nicht, warum du den Dispatch verraten und dich abgesetzt hast, und es ist mir auch egal. Dennoch, es war gar nicht so einfach dich wiederzufinden. Ich hatte mir zwar deine Energiesignatur eingeprägt, aber solche Spuren zurückzuverfolgen ist ein Vorgang, den kaum ein Shinigami beherrscht. Und selbst, wenn man wie ich dazu in der Lage ist, dann benötigt es Zeit und Mühe. Zeit, die ich mir hätte sparen können, wenn du einfach im Dispatch geblieben wärst. Und glaube mir: Zeit ist etwas, was ich mir wirklich nicht mehr nehmen will.“ „Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Was wollen Sie von mir?“ Carina zuckte zusammen, als er sich näher zu ihr herunterbeugte, sodass sie ihm genau in die phosphoreszierenden Augen schauen konnte. Sein Atem, der stark nach Minze roch, schlug ihr entgegen. „Dummes Mädchen“, flüsterte er und beobachtete ganz genau ihre Reaktion auf die nachfolgenden Worte. „Hast du wirklich geglaubt, du wärst die Einzige, die jemals eine Zeitreise vollzogen hat?“ Carinas ganzer Körper gefror zu Eis. Meinte er etwa… War er etwa auch… Nein, das konnte nicht wahr sein. Sie schluckte, befeuchtete sich somit die trockene Kehle und versuchte mit aller Macht ihre Fassung zu bewahren. „Zeitreise? Ich hab keine Ahnung, wovon Sie sprechen.“ Die zweite Ohrfeige schmerzte weitaus mehr als die erste, kam aber genauso unerwartet. Carina keuchte gegen ihren Willen auf und konnte sich bereits vorstellen, wie sich ihr Wange zuerst nur röten würde, um anschließend blau anzulaufen. Dieses Mal brauchte sie ihren Kopf nicht zurückzudrehen, denn ihr ehemaliger Lehrer packte sie unsanft am Kinn und zwang ihr Gesicht wieder in seine Richtung. Seine Miene hatte sich merklich verfinstert. „Ich mag es überhaupt nicht, wenn man mich anlügt. Vor allem in Angelegenheiten, die nun wirklich mehr als offensichtlich sind. Glaub mir, du tätest in Zukunft besser daran mir die Wahrheit zu sagen.“ Die Schnitterin zuckte zusammen, als er ihr über die bereits geschwollene Wange strich. „Ich möchte deinem hübschen Gesicht nur ungern weiteren Schaden zufügen.“ Brennend heiße Wut kochte in Carina hoch und sie musste sich schwer zusammenreißen, um dem Schwarzhaarigen nicht mitten ins Gesicht zu spucken. Denn eins stand fest, dann würde mehr folgen, als nur eine weitere Ohrfeige. „Wie?“, brachte sie hervor und ließ alle Vorsicht fahren. „Wie haben Sie es herausgefunden?“ Er ließ ihr Kinn los und begann nun langsam ihre Liege zu umkreisen. „Nun, zu sagen es wäre einfach gewesen, wäre eine glatte Lüge. Der erste Verdacht kam mir auf, als du in meiner Klasse aufgetaucht bist. Vom ersten Blick an habe ich gesehen, dass du irgendetwas an dir hattest, was dich von anderen Mädchen unterschied. Niemals zuvor hatte auch nur eine Frau einen Gedanken daran verschwendet ein Seelensammler zu werden. Und du hattest noch dazu diesen entschlossenen Blick und dieses große Mundwerk. Ich gebe zu, du hast dir viel Mühe gegeben deine Sprache dieser Zeit anzupassen, aber ab und zu gab es dann doch ein paar Situationen, die mich stutzig machten.“ Carina presste die Lippen zusammen. „Das wird ja wohl nicht alles gewesen sein.“ „Nein, das war es tatsächlich nicht. Anhand dieser Auffälligkeiten hätte ich niemals etwas unternommen. Aber alle Zeitreisenden haben etwas gemeinsam. Sie stehen nicht auf der Liste.“ Der junge Frau stockte der Atem. Ja, sie erinnerte sich daran. Grell hatte so etwas erwähnt, als sie ihm und Alice die Wahrheit über ihre Herkunft gebeichtet hatte. „Das erklärt jetzt wenigstens, warum du damals nicht auf der Liste der Neuzugänge gestanden hast.“ „Es war nicht schwer mir die Liste mit den Neuzugängen aus der Registratur zu besorgen und siehe da: Dein Name stand nicht drauf.“ Er schlenderte dicht an ihrem Rücken vorbei, was ihr automatisch eine Gänsehaut im Nacken bescherte. „Aber selbst das war noch kein endgültiger Beweis. Es kam schon einige Male vor, dass der Verwaltung ein Fehler unterlaufen ist und die entsprechende Seele nicht auf der Liste stand. Also musste ich mich rückversichern. Wenn dein Name auch in den Geburtsbüchern nicht auftauchen würde, dann hätte ich den endgültigen Beweis. Also hab ich mithilfe deines Namens und deines ungefähren Alters die Bücher mitsamt den dazugehörigen Sterbedaten überprüft.“ Carina starrte ihn an, erneut vollkommen sprachlos. Er hatte all diese Bücher nach ihr durchsucht? Kein Wunder, dass er erst vor wenigen Monaten angefangen hatte nach ihr zu suchen, diese Arbeit musste Jahre gedauert haben. „Aber wozu dieser ganze Aufwand? Warum wollten Sie unbedingt sicher gehen, dass ich aus einer anderen Zeit komme? Und was meinten Sie eben damit, dass ich nicht die Einzige bin, die schon einmal eine Zeitreise gemacht hat?“ „Ich stelle hier die Fragen“, gab er von sich und stand nun wieder genau vor ihr. „Aber um deine Neugierde zu befriedigen: Ich habe ebenfalls eine Zeitreise hinter mir.“ Die Augen der Schnitterin weiteten sich. Damit hätte sie niemals im Leben gerechnet. Wenn sie mit ihrem Verhalten scheinbar ab und zu aus dem Raster gefallen war, dann hatte Mr. Crow das seine perfektioniert. Nicht eine Sekunde hatte sie daran gezweifelt, dass es sich bei ihm um einen ganz normalen Shinigami handelte. Nun, scheinbar hatte sie sich geirrt. „Und? Aus welchem Jahr hat es dich hierhin verschlagen? Und sei lieber gleich ehrlich. Ich merke es ziemlich schnell, wenn mich jemand anlügt, dafür habe ich einen sechsten Sinn.“ Die 19-Jährige seufzte schwer. Mal ganz abgesehen davon, dass Cedric ihr damals genau die gleiche Frage gestellt hatte… Was würde ihr lügen an diesem Punkt überhaupt noch bringen? „2015“, antwortete sie niedergeschlagen und sah stumm dabei zu, wie sich die Mundwinkel ihres Gegenübers leicht hoben. „Soso“, murmelte er, zog einen Notizblock hervor und notierte sich die Daten. „Von 2015 in das Jahr 1886. 129 Jahre. Tze, damit liegst du gerade mal im Mittelfeld.“ Carina verstand mittlerweile überhaupt nichts mehr. „Was soll das jetzt bitteschön heißen?“ Der Schwarzhaarige schnalzte mit der Zunge. „Ich habe schon viele Zeitreisende getroffen und hierhergebracht.“ Carina wurde übel. Sie wollte gar nicht wissen, was mit ihren Vorgängern geschehen war. „Aber die Meisten haben nur eine Reise von 50-150 Jahren gemacht, nicht mehr. Wie gesagt, mit 129 Jahren liegst du im Durchschnitt. Ich hingegen“, er atmete einmal tief ein, als würde ihn der Zorn über diese Ungerechtigkeit immer noch an den Rande einer Explosion befördern, „ich hingegen komme aus dem Jahr 2089.“ Die junge Frau schnappte nach Luft. Er kam aus einer Zeit, die 74 Jahre nach ihrer eigenen folgte? Erneut packte er ihr Kinn und drückte so fest zu, dass ihr der Kiefer schmerzte. „Und weißt du, in welches Jahr ich geschickt wurde, Carina?“ Angesprochene gab keinen Ton von sich und den Kopf schütteln konnte sie schließlich nicht. In seiner Wut wirkte der Mann vor ihr unberechenbar. „In das entzückende Jahr 1584. 505 Jahre! Ein halbes Jahrtausend in der Zeit zurückversetzt. Jemand wie du kann sich überhaupt keine Vorstellungen davon machen, wie das für mich war.“ Sie schluckte. Nein, das konnte sie tatsächlich nicht. „Nun, da du ebenfalls im 21. Jahrhundert gelebt hast, kannst du vielleicht etwas besser nachvollziehen, welch große Schritte die Menschheit in der Zukunft noch machen wird. Und glaube mir, vom Jahre 2015 bis 2089 werden noch sehr viele, sehr nützliche Erfindungen kreiert. Erfindungen, die die ganze Welt verändert haben. Sie verbessert haben.“ Er atmete schwer. „Ich hatte ein gutes Leben, ein praktisches Leben! Ich liebte die Technik meines Zeitalters, habe damit sogar mein Geld verdient. Alles, was für mich zählte, war der Fortschritt. Und von einem auf den anderen Augenblick wurde mir all das genommen. Weißt du eigentlich, was es im Jahre 1584 gibt? Nichts! Absolut gar nichts! Ich bin fast wahnsinnig geworden vor Angst. Mir war nichts geblieben. Ich lebte auf der Straße, denn Geld hatte ich schließlich keines mehr. Jedenfalls nichts, was man in dieser Zeit hätte verwenden können. Und geholfen hat mir auch niemand. Die Menschen waren schon immer selbstsüchtig, aber in dieser Zeit hatte diese Eigenschaft wirklich ihren Höhepunkt erreicht. Jeder war sich selbst der Nächste.“ Carina wurde ein wenig blasser um die Nase. Ja, auch das konnte sie sich ziemlich gut vorstellen. Wenn der Undertaker sie damals nicht aufgenommen hätte… Wer wusste schon, wie es mit ihr geendet hätte? „Wahrscheinlich hätten diese Mistkerle mich gleich in der ersten Nacht aufgespürt, vergewaltigt und anschließend umgebracht“, schoss es ihr durch den Kopf. Ja, sie selbst hatte wirklich Glück gehabt. Umso naher ging es ihr, dass vielen dieses Glück nicht vergönnt gewesen war. „Ich schätze mal, dass ich dir die Gründe, warum ich mich schlussendlich umgebracht habe, nicht erläutern muss.“ Er sah die unausgesprochene Frage in ihren Gedanken. Sofort war dieses bösartige Grinsen wieder da. „Ich habe mich von einer ziemlich hohen Klippe gestürzt. Wusstest du eigentlich, dass sich Wasser ab einer bestimmten Höhe und Geschwindigkeit wie Beton anfühlt, wenn man aufprallt?“ Er nahm eine ihrer blonden Spitzen zwischen Daumen und Zeigefinger, was sofort dafür sorgte, dass sie sich versteifte. Er sollte ihr nicht so nahe kommen, verdammt noch mal! „Und du, Carina? Was ist dein kleines, schmutziges Geheimnis?“ „Das geht Sie gar nichts an“, zischte Carina und wunderte sich gleich darauf, dass sein Grinsen nicht um einen Millimeter verrutschte. Er zuckte lediglich mit den Schultern. „Ich werde es sowieso bald erfahren“, meinte er. Die 19-Jährige war mittlerweile so verwirrt, dass sie nicht mehr wusste, welche Frage sie denn nun zuerst stellen sollte. „Ich verstehe immer noch nicht, was Sie jetzt von mir wollen. Gut, wir kommen beide aus einem anderen Jahrhundert. Na und?“ „Na und?“ Schlagartig schien seine Laune wieder am Tiefpunkt angelangt zu sein. „Du dummes Mädchen, genau darum geht es doch! Glaubst du vielleicht ich habe Lust noch weitere 200 Jahre zu warten, bis ich endlich wieder in meiner Zeit angekommen bin? Ganz bestimmt nicht! Was denkst du denn, was ich die letzten 300 Jahre gemacht habe? Nur den Lehrer gespielt? Oh nein!“ Er lachte dunkel und erneut erzitterte ein Teil von Carina, ganz tief in ihr drin. Auch Cedric hatte bereits so gelacht und auch bei ihm hatte es ihr nicht gefallen. Aber niemals hatte sie bei ihm dieses Unbehagen gespürt. Nie war ihr jemand so wahnsinnig vorgekommen wie Mr. Crow! Verrückt ja, aber nicht wahnsinnig. „Zuerst habe ich meine Ausbildung als Seelensammler abgeschlossen, genauso wie du. Ein paar Jahrzehnte habe ich so verbracht, habe mich langsam hochgearbeitet und wurde sogar schließlich gefragt, ob ich nicht die neuen Kurse unterrichten wollen würde. Es war die perfekte Tarnung. Als Seelensammler im aktiven Dienst steht man ständig unter Beobachtung. Als Lehrer konnte ich mir hingegen alle Zeit der Welt nehmen, um meinen eigenen Plänen nachzugehen. Und so“, sagte er und ließ endlich ihre Haarsträhne los, „hab ich meine eigene kleine Abteilung gegründet. Die Ordnungsabteilung.“ Jetzt wurden Carinas Augen wirklich groß wie Untertassen. Die Ordnungsabteilung? Sie konnte sich noch ganz genau daran erinnern, wie sie damals in der theoretischen Prüfung gesessen hatte und die Frage nach den einzelnen Arbeitsgebieten gekommen war. Wie sie auf die Ordnungsabteilung nur ganz kurz eingegangen war, da über diesen Sektor so gut wie gar nichts bekannt war. „Es war so leicht. Die Oberen und die zwei Dutzend Mitarbeiter, die ich unter mir habe, denken bis heute, dass diese Abteilung die Hauptaufgabe hat jegliche Unklarheiten zu beseitigen, die im Zusammenhang mit Selbstmorden auftreten. Eine ehrenvolle Tätigkeit, wie wahr. Dabei wissen sie allerdings nicht, dass der eigentliche Zweck ein ganz anderer ist, nämlich mir dabei zu helfen weitere Zeitreisende unter den Shinigami ausfindig zu machen. Du hast ja keine Ahnung, wie viele sich kurz danach umgebracht haben, nachdem sie in der Vergangenheit gelandet sind.“ „Aber wozu das alles? Wie wollen Sie mithilfe der anderen Zeitreisenden wieder in die Zukunft zurückkommen? Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn.“ Er stieß einen Ton der Missbilligung hervor. „Ich hatte dich für schlauer als die Anderen gehalten, Carina. Aber du stellst genau die gleichen, dämlichen Fragen. Denk doch mal scharf nach.“ „Oh, Entschuldigung, dass mir das im Angesicht meiner derzeitigen Lage ein wenig schwer fällt“, antwortete sie sarkastisch und machte sich gedanklich bereits auf die nächste Ohrfeige gefasst. Diese blieb allerdings aus. „Wie schön, dass sich mal jemand traut mir Widerworte zu geben. Eine willkommene Abwechslung zu deinen Vorgängern. Sie haben sich zwar auch gewehrt, aber das war nicht halb so amüsant.“ „Sadist. Der Typ ist ein eiskalter Sadist“, dachte Carina und erschauderte unwillkürlich bei dem Wort Vorgänger. Je mehr er redete, desto weniger wollte sie wissen, was er mit ihr vorhatte. Natürlich konnte sie nachvollziehen, dass er in seine ursprüngliche Zeit zurückwollte. Das hatte sie ganz am Anfang ja auch gewollt! Aber doch nicht um jeden Preis, nicht mit diesen Methoden. Carina wusste gar nicht mehr genau wann, aber irgendwann hatte sie sich einfach damit abgefunden nicht mehr zurückzukehren. Mr. Crow scheinbar bis heute nicht. Dabei waren seit seiner Zeitreise doch schon 300 Jahre ins Land gezogen. „Stell dir doch einfach mal vor, du gehst in ein Labyrinth, um dort irgendetwas zu suchen und willst anschließend wieder zurückfinden“, sagte er plötzlich und riss sie somit aus ihren Gedanken. „Wie stellst du das am besten an?“ „Spiel mit. Spiel sein krankes Spiel einfach mit, das verschafft dir Zeit.“ Zeit, in der Grell sie suchen konnte. Sie zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Mir den Weg merken, den ich gekommen bin?“ „Ganz genau“, flüsterte er und lächelte. „Und das hier ist das gleiche Prinzip.“ Carina hob eine Augenbraue. „Bitte?“ „Wenn ich herausfinde, wer dafür verantwortlich ist, dass ich in die Vergangenheit geschickt wurde, dann kann derjenige mich auch wieder zurückschicken.“ „Schön und gut“, merkte sie an und musste sich selbst eingestehen, dass dieser Plan gar nicht mal so schlecht zu sein schien, „aber was hat das mit mir zu tun? Ich habe bis heute keine Ahnung, wer mich hierhin geschickt hat und vor allem warum.“ „Ja, das haben wir alle gemeinsam“, entgegnete er. „Das ist das große Problem an der Sache. Aber nur, weil wir selbst es nicht wissen, heißt das ja nicht, dass unser Unterbewusstsein es nicht weiß.“ Und endlich, endlich machte es bei Carina Klick. „Mein Cinematic Record“, murmelte sie und hätte sich am liebsten die Hand gegen die Stirn geschlagen, wenn sie es denn gekonnt hätte. Natürlich, warum war sie da nicht von selbst drauf gekommen? Jetzt war sie schon seit 3 Jahren ein Shinigami und dieser Gedanke war ihr nicht einmal in den Sinn gekommen. In den Cinematic Records der Menschen sah man so oft Dinge, die den Betreffenden selbst gar nicht bewusst gewesen waren. Wenn sie zum Beispiel von hinten ermordet worden waren, kannten sie den Täter nicht, aber dieser war in den Aufzeichnungen trotzdem klar und deutlich zu sehen. „Aber wozu dann dieser ganze Aufwand? Sie wollen doch nur meinen Cinematic Record sehen, oder etwa nicht?“ Er hätte sie doch einfach nur fragen müssen. Wenn er ihr seine Situation und seinen Wunsch zurückzukehren erklärt hätte, dann hätte sie ganz sicherlich zugestimmt ihm ihren Cinematic Record zu zeigen. Es musste irgendeinen Haken an der Sache geben… „Die Records eines Menschen zu lesen ist einfach. Mit denen eines Shinigami sieht es schon ganz anders aus. Hast du deinen Mentor denn nie gefragt, was mit dem Cinematic Record passiert, nachdem man sich umgebracht hat?“ „Nein, habe ich nicht“, sagte sie und es hatte sie ehrlich gesagt auch noch nie interessiert. „Die Aufzeichnungen wandeln sich. Sie werden so schnell, dass selbst ein geübter Seelensammler sie nicht mehr lesen kann. Und sie bekommen eine andere Farbe.“ Er deutete auf seine Augen. „Diese Farbe hier.“ „Und?“, fragte Carina, gegen ihren Willen nun doch interessiert. „Vergleiche es mit einer Art Schutzschicht. Die Cinematic Records von Menschen lassen sich leicht lesen, weil die Seele ungeschützt ist. Die Seele eines Shinigami hingegen ist wesentlich robuster und hat einen instinktiven Abwehrmechanismus. Es ist schon schwierig die Aufzeichnungen überhaupt aus dem Körper hervorzurufen, geschweige denn sie zu lesen.“ „Stimmt“, dachte Carina, als ihr auffiel, dass damals – als der Undertaker Grell und Ronald mit seiner Death Scythe getroffen hatte – keine Records zu sehen gewesen waren. „Herrje“, begann sie und versuchte dabei betont lässig zu klingen, obwohl ihr innerlich das Wasser bereits bis zum Hals stand „muss ich etwa noch mal sterben, damit Sie meine Records sehen können?“ „Nein“, schüttelte der Todesgott den Kopf. „Ganz so dramatisch ist es nicht. Aber…“, fuhr er fort und lächelte nun wieder, vorfreudig auf das, was kommen würde, „um diesen Abwehrmechanismus außer Kraft zu setzen, muss man den Geist desjenigen brechen, dessen Erinnerungen man haben will.“ Carina erstarrte. Den Geist brechen? Das nannte er nicht so dramatisch? Sie war schon immer der Meinung gewesen, dass es schlimmere Dinge als den Tod gab und in ihren Augen fiel „den Geist brechen“ definitiv mit in diese Kategorie. Ihr Lehrer verfolgte interessiert ihre Mimik. Eigentlich ließ sich die junge Frau kaum etwas anmerken, aber wenn man genauer hinsah konnte man sehen, dass sich ihr Kiefer durch das Zusammenbeißen der Zähne verhärtet hatte. „Weißt du, ich hatte schon viele hier sitzen und bei allen kam ich irgendwann ans Ziel. Bei dem einen früher, bei dem anderen später. Aber schlussendlich haben sie alle irgendwann aufgegeben. Leider“, er seufzte ein weiteres Mal, „waren bisher keine Bilder dabei, die ich wirklich verwenden konnte. In 80 % der Fälle werden die Aufzeichnungen nämlich komplett unscharf, wenn der Geist zu sehr gebrochen wurde. Na ja und die restlichen 20 % sind versehentlich gestorben, weil ich irgendwann einfach die Beherrschung verloren habe. Zu dumm.“ „Sie sind doch krank“, erwiderte Carina angewidert und rüttelte noch einmal an ihren Fesseln, die aber weiterhin standhaft blieben. „Das liegt wohl ganz im Auge des Betrachters. Aber mach dir keine Sorgen. Ich hatte viel Zeit, um meine Technik zu perfektionieren. Dieses Mal wird nichts schief gehen. Und wer weiß. Wenn du mir gute Bilder lieferst, dann lasse ich dich schlussendlich vielleicht am Leben.“ Das konnte er seiner Großmutter erzählen, dachte Carina. Für wie blöd hielt er sie eigentlich? Wenn er von ihr bekommen hatte, was er wollte, würde er sie ohne zu Zögern umbringen, so viel stand fest. Die Gefahr, dass sie irgendjemanden von seinen Plänen erzählen würde, war viel zu groß. „Ich bin ja sehr neugierig, wie lange du durchhältst. Es ist doch jedes Mal aufs Neue eine Herausforderung“, murmelte er und grinste. „Aber vorher doch noch eine Frage, die mich schon die ganze Zeit brennend interessiert. Welche Verbindung hast du zur Familie Phantomhive?“ Carina blinzelte. Wie kam er denn jetzt bitteschön darauf? Und überhaupt, woher wusste er eigentlich von der Familie Phantomhive? Hatte er vielleicht mitbekommen, dass diese in den Campania Fall verwickelte gewesen war? „Keine“, antwortete sie verwirrt und fügte, da sie keine Lust hatte schon wieder geschlagen zu werden, schnell hinzu: „Ich kenne Earl Ciel Phantomhive von der Campania, aber das ist auch schon alles.“ Das war nicht einmal groß gelogen. Sie hatte ihn nur noch zwei weitere Male in ihrem Leben getroffen und beide Male war es in Cedrics Bestattungsinstitut gewesen. Beides keine sonderlich erfreulichen Begegnungen. Fassungslos hob sie den Kopf, als Mr. Crow auf einmal begann aus voller Kehle zu lachen. Aber es war kein schönes Lachen. Es war nicht geprägt von Belustigung, sondern von purer Schadenfreude. Ein Lachen, bei dem Carina eiskalt wurde. „Ich hatte also Recht. Du weißt es tatsächlich nicht.“ Die 19-Jährige fühlte sich auf unangenehme Art und Weise an den Moment erinnert, als Sebastian ihr gesagt hatte, dass sie schwanger war. „Was weiß ich nicht?“, wisperte sie, wollte die Antwort aber eigentlich gar nicht hören. „Ziemlich zu Anfang meiner Suche nach deinen Daten in den Geburtsbüchern dachte ich mir, dass es vielleicht nützlich sein könnte eine DNA Probe von dir zu haben. Wie du sicherlich weißt, ist in den Geburtsbüchern der jeweilige DNA Schlüssel genauestens verzeichnet. Hätte ich also deinen Namen gefunden, hätte ich mithilfe der Probe hundertprozentig sicher gehen können, dass sich um dich handelt.“ Er zuckte mit den Schultern. „Es war nicht weiter schwer im praktischen Unterricht an einer Haar- und Blutprobe von dir zu kommen.“ Sie knirschte mit den Zähnen. Er hatte das hier über all die Jahre vorbereitet und ihr war nicht einmal der kleinste Verdacht gekommen, nicht einmal das kleinste bisschen hatte sie mitbekommen. „Schlussendlich brauchte ich deine DNA eigentlich nicht, da sich meine Theorie bewahrheitet hat. Aber bei der ganzen Sucherei ist mir dann doch etwas Interessantes ins Auge gefallen.“ Er rückte sich die Brille auf der Nase kurz zurecht und erinnerte die Schnitterin damit automatisch an William. „Es gab da ein paar Datensätze, die deinem Schlüssel ein wenig ähnlich waren und es gab ein paar Datensätze, die dem deinen verdammt ähnlich waren, sogar nahezu identisch. Also habe ich ein wenig nachgeforscht und herausgefunden, dass es für diese Übereinstimmung nur eine Erklärung geben kann.“ „Nein“, flüsterte Carina verstört, die in Gedanken schon ganz genau wusste, worauf der Schwarzhaarige hinaus wollte. Ihr Magen drehte sich so heftig um, dass sie Angst hatte sich jeden Moment übergeben zu müssen. „Nein, nein, nein, bitte nicht…“ „Earl Ciel Phantomhive mag zwar nicht in gerader Linie mit dir verwandt sein“, führte er weiter aus und ging nun langsam zur Tür zurück, um seine Hand nach etwas auszustrecken, was anscheinend im Raum dahinter lag, „aber sie hier schon.“ Und zu Carinas größtem Entsetzen zog er eine regungslose – auf den ersten Blick aber scheinbar noch lebende – Person hinter der Tür hervor. Eine Person, die Carina nicht unbekannt war. Sein Grinsen wurde angesichts ihres erschütterten Gesichtsausdrucks nur noch breiter. „Darf ich vorstellen? Lady Elizabeth Ethel Cordelia Midford. Deine Vorfahrin.“ Kapitel 66: Folter ------------------ Deine Vorfahrin. Ein Traum. Das musste ein Traum sein. Denn all das konnte gerade nicht wirklich passieren! Das alles war einfach schier unmöglich! Deine Vorfahrin. Elizabeth Midford, die Verlobte von Ciel Phantomhive, konnte einfach nicht ihre… ja, was? Urururgroßmutter sein? Gut, von der zeitlichen Perspektive konnte es hinkommen, aber… Nein, sie und ihre Eltern kamen immerhin aus Deutschland. Und ihre Großeltern ebenfalls. Allerdings… wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst war, hatte sie nie in Erfahrung gebracht, ob sie nicht auch noch andere Wurzeln hatte. Ihre Urgroßeltern waren zum Zeitpunkt ihrer Geburt schon lange tot gewesen und sie hatte auch nie nach ihnen gefragt. Oder sich ihren Stammbaum angesehen. „Was, wenn es stimmt? Was, wenn es kein Zufall ist, dass meine Mutter Claudia heißt?“ Wenn die Eltern ihrer Mutter in den Stammbaum geschaut und ihnen der Name einer ihrer Ahninnen gut gefallen hatte, was dann? Ihr erster klarer Gedanke war: „Was, wenn ich mit Cedric verwandt bin?“ Doch dann fielen ihr schlagartig wieder Grells Worte ein. „Ist das zweite Kind von Claudia auch von ihm?“ „Nein. Francis Midford, geborene Phantomhive, ist die Tochter von Claudia Phantomhive und ihrem Ehemann Edward. Sie ist mit Alexis Leon Midford verheiratet und hat mit ihm zwei Kinder, Edward und Elizabeth Midford.“ Ein riesiger Stein fiel ihr vom Herzen. Außerdem hatte Mr. Crow gesagt, dass sie nicht in gerader Linie mit Ciel verwandt war. Bedeutete das etwa, dass Elizabeth keine Kinder mit ihm bekommen würde? Dass sie jemand anderen heiraten würde? „An ihrer Liebe wird es wohl kaum gelegen haben. Jeder, der Augen im Kopf hatte, merkt doch, dass sie Ciel mit Leib und Seele verfallen ist. Möglicherweise, weil Sebastian seine Seele genommen hat?“ Doch all diese Fragen waren gerade komplett unnötig, sie konnten eh nicht beantwortet werden. Allerdings wurde Carina bei ihrem zweiten klaren Gedanken erneut furchtbar schlecht. „Wenn Elizabeth meine Vorfahrin ist, dann ist sie es auch. Claudia Phantomhive.“ Streng genommen floss in ihren Adern also das Blut der Familie Phantomhive, wenn auch nicht vom Namen her. Allein bei dem bloßen Gedanken sträubten sich ihr alle Nackenhaare vor Abscheu. Sie wollte das nicht! Von Anfang an hatte sie keine Sympathie für diese Familie aufbringen können und das hatte sich in all den Jahren, die sie nun schon hier war, auch nicht geändert. „Wenn Cedric das jemals erfahren sollte…“ Ablehnung sammelte sich in ihrer Brust. Das dürfte niemals passieren. Wahrscheinlich würde er sich noch dazu verpflichtet fühlen sich um sie zu kümmern, weil sie die Nachfahrin seiner großen Liebe war. Wenn er sie nicht liebte, schön! Das war an und für sich schon schlimm genug. Aber dann sollte er auch komplett aus ihrem Leben verschwinden. Alles andere würde sie einfach nicht ertragen. „Ich habe mir die Freiheit genommen die Kleine mitzunehmen, um mit einer finalen Blutprobe das Ganze zu bestätigen. Und tatsächlich, es lässt sich nicht leugnen. Wer weiß, wofür das noch gut ist?“, begann Mr. Crow und ging an ihr vorbei, um die bewusstlose Adelige an die Wand zu lehnen und mit Hand- und Fußfesseln einzukleiden. „Deinen Untergang“, dachte Carina, als ihr klar wurde, dass der Todesgott hinter ihr keine Ahnung hatte, dass der Butler der Phantomhives ein Dämon war. Dass er keine Ahnung hatte, was er mit dieser Aktion entfesselt hatte. Wenn sie Glück hatte, dann würden Ciel und Sebastian sie noch vor Grell finden. Ihr war es ziemlich gleichgültig, wer dieses Mistkerl schlussendlich umbrachte, Hauptsache, es tat endlich jemand! „So“, sagte er hinter ihr und Carina zuckte zusammen, als etwas Kaltes langsam an ihrer Wange entlangfuhr und eine Gänsehaut auf ihrem ganzen Gesicht hinterließ. Die Spitze seiner Death Scythe. Die Schnitterin konnte ihn nicht sehen, aber sie hörte das Grinsen aus seiner Stimme heraus, als er weitersprach. „Wollen wir anfangen?“ Und dann war es nicht länger nur eine Gänsehaut, die ihre Haut hinablief. „Also, was machen wir jetzt?“, fragte Grell und setzte sich mit übereinander geschlagenen Beinen an den Wohnzimmertisch. Alice tat es ihm gleich, während der Bestatter in der Mitte des Raumes stehen blieb. Immer noch schwirrten ihm abertausende Gedanken durch den Kopf, doch dafür war später noch Zeit. Jetzt musste er sich darauf konzentrieren die Mutter seiner Tochter zu finden. „Gibt es außer der Energiesignatur noch andere Hinweise, die der Entführer zurückgelassen hat?“ „Nein, leider nicht“, seufzte Grell. „Ich habe bereits versucht die Spur wieder aufzunehmen, aber dieser Mistkerl hat sich scheinbar noch an Ort und Stelle teleportiert. Du gehörst nicht zufällig zu den Shinigami, die auch solche Fährten verfolgen können?“ „Doch“, erwiderte Cedric. „Aber das ist nicht mein Spezialgebiet. Als ich damals Carina in Baden-Baden gefunden habe, war ihre Spur gerade erst entstanden. Diese hier ist bereits ein paar Stunden alt. Hätten wir einen Experten dabei, dann würde es vielleicht funktionieren, aber so ist es schwierig bis geradezu unmöglich seine Energiesignatur wiederzufinden.“ „Verfluchte Scheiße“, murmelte Grell und raufte sich unbewusst die Haare. „Fangen wir doch erst einmal mit dem an, was wir über den Täter wissen“, begann Alice und zählte die nachfolgenden Punkte an einer Hand ab. „Er ist ein Shinigami. Er besitzt als Death Scythe ein Rapier. Er ist oder war mal ein Seelensammler. Sonst noch etwas?“ „Aus irgendwelchen Gründen hat er damals Carina nicht an den Dispatch verraten, als er sie im Western College gefunden hatte“, sagte der Silberhaarige und schritt nachdenklich durch das Wohnzimmer. „Was bedeutet, dass er seine eigenen Ziele verfolgt.“ „Heißt, wir können den Dispatch von unserer Suchliste streichen“, bemerkte Grell und verdrehte die Augen. „Großartig, bleibt ja nur noch der ganze, restliche Planet übrig.“ „Ich glaube nicht, dass er sich bereits allzu weit entfernt hat“, erwiderte Cedric, dessen Augen gerade an einen Fotoalbum hängen geblieben waren, das zugeklappt auf einem kleinen Tischchen neben der Couch lag. „Es wäre selbst für einen Shinigami zu auffällig, mit einer bewusstlosen Person zu lange herumzulaufen. Außerdem wurde Carina doch gesucht, oder? Wenn ihn jemand zufällig mit einer vermissten Schnitterin sähe, würde das mit ziemlicher Sicherheit für Aufruhr sorgen und das kann sich jemand nicht leisten, der gegen den Dispatch handelt.“ „Na, du musst es ja wissen“, nuschelte Grell und schaute zu Alice, als sich diese wieder einmischte. „Gut, aber dann könnte es theoretisch immer noch jeder Ort in ganz England sein. Wie sollen wir sie jemals finden? Wie sollen wir sie jemals rechtzeitig finden?“ Mittlerweile hatte der ehemalige Schnitter das Buch aufgeklappt und konnte sich nur schwer ein erneutes Luftschnappen verkneifen. Direkt auf der ersten Seite befand sich ein Foto von Carina, die grinsend in die Kamera schaute. Sie hatte sich demjenigen, der das Bild gemacht hatte, nur halb zugewandt und doch konnte man eindeutig erkennen, dass sie schwanger war. Das musste aufgenommen worden sein, kurz nachdem sie in diese Hütte gekommen war. Emotionen fluteten seine Sinne und es wurde nicht besser, als er weiterblätterte. Die Fotos auf den nächsten Seiten zeigten die 19-Jährige in verschiedenen Alltagssituationen. Mit einem Korb Wäsche in der Hand, mit Alice in der Küche, auf der Couch mit einem Buch und einer Decke über den Beinen… Und von Bild zu Bild wurde ihr Bauch immer runder und runder. Auf den letzten Aufnahmen war sie bereits hochschwanger und schien gerade damit beschäftigt gewesen zu sein diese seltsamen Klamotten für das Baby zu stricken oder die letzten Änderungen am Kinderzimmer vorzunehmen. Und oft lag ihre Hand dabei auf der runden Kugel, eine beinahe schon schützende Geste. Erneut traf ihn der Gedanke, dass er nun mit Carina ein Kind hatte, wie ein Schlag ins Gesicht. Mit dieser jungen Frau, die Hals über Kopf in sein Leben getreten war, und die er jetzt einfach nicht mehr aus dem Kopf bekam. Das letzte Foto zeigte Carina liegend auf einem Bett. Das Neugeborene lag blutverschmiert auf ihrer Brust und die Blondine hatte schützend ihre Arme um es gelegt. Ihr Gesicht war gerötet, die Haare nass und verschwitzt, Tränen liefen ihr über die Wangen. Aber trotzdem war da ein Strahlen in ihrem Gesicht, das heller war als die Sonne. Das Lächeln auf ihrem Gesicht war so voller Glückseligkeit, Cedric konnte sich nicht daran erinnern, sie jemals so lächeln gesehen zu haben. Nicht einmal in den Zeiten, als sie bei ihm im Weston College gewesen war. Alice und Grell hatten ihn stillschweigend beobachtet und beschlossen ihm die Zeit zu geben, die er brauchte. Auch für einen Todesgott war das hier eine ganze Menge an Dingen, die es zu verarbeiten galt. Und insgeheim freute sich Grell, dass seine Idee mit dem Fotoalbum bereits jetzt zu einem gewissen Erfolg führte. Dennoch, Carina würde das nach ihrer Rückkehr sicherlich anders sehen… Plötzliche Schritte rissen die drei Shinigami abrupt aus ihren Gedanken. Bevor auch nur einer von ihnen die Möglichkeit hatte sich zu rühren, krachte die hölzerne Tür bereits mit einem donnernden Geräusch auf. Grell und Alice sprangen erschrocken auf, während der Bestatter herumgewirbelt war. Im ersten Moment traute er seinen Augen kaum. „Nicht auch das noch“, schoss es ihm durch den Kopf. Heute ging aber auch einfach alles schief. Man konnte nicht wirklich sagen, wer von den anwesenden Personen die heftigste Reaktion zeigte. Grell mit seinem aufgeklappten Mund? Alice mit ihren aufgerissenen Augen? Undertaker, der sich ungläubig die Haare aus dem Gesicht strich? Oder Ciel und Sebastian, die im Türrahmen standen und alle Todesgötter im Raum anstarrten, als verstünden sie die Welt nicht mehr? Erstaunlicherweise fasste sich Ciel als Erster wieder und trat einen Schritt vor, direkt in die Hütte hinein. „Undertaker“, rief er, blanker Zorn verzerrte seine aristokratischen Züge. „Wo ist Lizzy?“ „Wie bitte?“, antwortete Angesprochener verwirrt und vergaß ganz seine spielerische Tonlage und das langgezogene „Earl~“, das er sonst immer parat hatte. Sebastian trat schützend neben seinen Herrn und lächelte dieses tückische Lächeln, das Cedric nicht ausstehen konnte. „Lady Elizabeth wurde heute Morgen während eines Spaziergangs vor den Augen ihrer Zofe entführt. Ich konnte die Spur bis hierhin zurückverfolgen. Und was finden wir? Eine Hütte, voll mit Shinigami.“ Die Augen des Bestatters weiteten sich leicht. Elizabeth Midford war ebenfalls entführt worden? „Wir haben nichts mit der Entführung der Kleinen zu tun, Sebas-chan“, mischte sich Grell nun ein und wirkte zum ersten Mal halbwegs normal in der Gegenwart des Dämons. Wahrscheinlich, weil er gerade einfach andere Probleme und Sorgen hatte. „Ach?“, erwiderte dieser trocken und schaute Grell kalt an. „Ich habe mich ausführlich mit der Zofe unterhalten und sie konnte mir den Täter ziemlich genau beschreiben. Schwarze, kurze Haare und auffällige grüne Augen, die irgendwie komisch aussahen. Wie hatte sie es noch einmal ausgedrückt? Ach ja. Unmenschlich.“ Grell blinzelte baff. Er traute sich kaum die nächste Frage zu stellen. „Hatte dieser Jemand zufällig einen langen, schwarzen Mantel an und trug anthrazitfarbene Handschuhe?“ „Ihr wisst also doch, wer es war“, rief Ciel aus und sah in diesem Moment trotz seiner geringen Körpergröße bedrohlich aus. Grell und Alice stöhnten synchron auf, während der Undertaker nur stumm das Fotoalbum zuklappte. „Das darf doch wohl nicht wahr sein“, stöhnte Grell ein weiteres Mal. „Erst Carina und jetzt diese Kleine von der Campania? Entweder hat der Typ ein Faible für Blondinen oder da steckt etwas anderes dahinter. Zufall ist das garantiert nicht.“ „Wovon sprecht ihr?“, fragten Sebastian und Ciel gleichzeitig, während Letzterer noch schnell hinzufügte: „Und was machst du hier überhaupt, Undertaker? Ich dachte die Shinigami würden dich jagen und nicht mit dir zusammenarbeiten.“ „Das ist eine lange Geschichte, Earl“, grinste der Silberhaarige, obwohl ihm danach gar nicht zumute war. „Was Rotkäppchen zu sagen versucht hat, ist, dass heute Morgen außer Eurer Verlobten noch jemand entführt wurde. Die blonde Shinigami von der Campania, Ihr erinnert Euch vielleicht.“ Ciel sah seinen Butler an. „Das Mädchen, das wir auch im Bestattungsinstitut angetroffen haben? Diejenige, der ich die Medaillons gegeben habe?“ Sebastian nickte und sein Blick huschte automatisch zu der Hüfte des Undertakers, an der sich mittlerweile wieder die goldene Kette samt den Anhängern befand. „Die anscheinend den Weg zurück zu ihrem Besitzer gefunden haben“, sagte er misstrauisch und versuchte scheinbar sich selbst einen Reim auf die Sache zu machen. Der Totengräber hatte nicht das geringste Interesse ihm dabei zu helfen. Viel mehr war er gerade darüber verwundert, dass Carina noch einmal in seinem Bestattungsinstitut gewesen war. Sie hatte ihm zwar gesagt, dass sie zufällig auf Ciel Phantomhive getroffen war und er ihr die Medaillons gegeben hatte, aber den Ort hatte sie dabei mit keinem Wort erwähnt. „Wie so vieles andere auch nicht…“ Plötzlich grinste der Butler und zeigte dabei seine spitzen Eckzähne. „Sie müsste das Kind mittlerweile ausgetragen haben, nicht?“ Er wandte sich an Grell. „Und? Wie macht sich die Shinigamibrut?“ „Pass auf, was du sagst“, zischte Alice und sah aus, als würde sie jeden Moment auf den Dämon losgehen. Sebastians Blick wanderte durch den Raum und blieb an der geschlossenen Tür zum Kinderzimmer hängen. Mit Erschrecken fiel Grell ein, dass er als Dämon eine Seele – und mochte sie noch so klein sein – spüren konnte. Der Frackträger trat einen Schritt vor in Richtung der Tür. Grell öffnete den Mund, doch Cedric war schneller. Innerhalb eines Wimpernschlages stand er vor der Tür, seine Augen gefährlich verengt, die Hand unter seinem Umhang am Griff seiner Sense. Sebastian blieb sofort stehen und Ciel überlief eine Gänsehaut. So ernst hatte er den Undertaker noch nie gesehen. Der Teufel hingegen schien nun eins und eins zusammenzählen zu können. „Ach?“, begann er und lächelte spöttisch. „Ist es etwa deins?“ „Geh noch einen Schritt weiter und ich fange da an, wo ich auf der Campania aufgehört habe, Butler“, antwortete der Silberhaarige kühl. „Also ja“, sagte Sebastian und war kurz davor es darauf ankommen zu lassen. „Sebastian“, meinte Ciel scharf und mit einem unmissverständlichen Befehlston. Sofort zog sich der Butler wieder an die Seite seines Herren zurück. „Mich interessiert es nicht, was ihr verfluchten Shinigami hier treibt. Ich will nur wissen, wo Lizzy ist.“ „Und wir wollen nur Carina finden“, blaffte Grell den Jungen an. „Scheint also, als hätten wir das gleiche Ziel“, gab der Bestatter zu bedenken und für einen Moment herrschte ein unangenehmes Schweigen. Ciel dachte nach. Nach 2 Minuten Stille sagte er schließlich: „Nur so lange, und ich wiederhole, nur so lange bis wir die Beiden wiedergefunden haben, werde ich mit euch zusammenarbeiten. Und keine Sekunde länger.“ „Wunderbar“, erwiderte Cedric und klatschte in die Hände, während Sebastian im Gegenzug alles andere als begeistert aussah. „Und jetzt zu etwas, was ich schon die ganze Zeit fragen wollte.“ Er wandte sich an besagten Butler. „Was meintest du gerade eben damit, als du sagtest du konntest die Spur bis hierhin zurückverfolgen?“ Jeder Atemzug, der ihren Körper verließ, schmerzte wie die Hölle. Ihr Entführer hatte den Raum vor über einer Stunde verlassen – wahrscheinlich, um sich das Blut vom Hemd zu waschen oder auch, um sich direkt umzuziehen – und dennoch war ihr ganzer Körper derart verkrampft, als würde er sich immer noch im Raum befinden. Carina hatte befürchtet, dass er als allererstes versuchen würde sie physisch zu brechen. Und sie hatte Recht behalten. Der Shinigami hatte sie geschlagen, sie mit seiner Death Scythe geschnitten, ihr Knochen im Körper gebrochen, von denen sie noch nicht einmal wusste, wie leicht sie brechen konnten. Auf ihren Armen und Beinen konnte man überall schmale, blutende Schnitte sehen, die dunkelblauen Ärmel des Kleides hatten sich an besagten Stellen wegen ihres Blutes noch dunkler gefärbt. Ihre Lippe und auch die Haut an ihrem Wangenknochen waren aufgeplatzt, als er ihr ohne Rücksicht auf Verluste ins Gesicht geschlagen hatte. Sicherlich bildete sich bereits ein Veilchen unter ihrem rechten Auge. Anschließend hatte er sie an den Haaren gepackt, bis sich ihre Kopfhaut angefühlt hatte, als würde sie in Flammen stehen. Und dennoch… Trotz der Tränen, die ihr vor Schmerz in den Augen standen. Trotz ihrer rasselnden Atemzüge. Trotz ihres blutigen Körpers, der vor Angst leicht zitterte. Trotz alldem wusste Carina, dass er durch solche Aktionen niemals ihren Geist, geschweige denn ihren Willen brechen würde. Dafür hatte sie in den letzten 3 Jahren einfach schon zu viele körperliche Schmerzen durchgestanden. Und er wusste das auch. Ihre Hand- und Fußgelenke waren von ihren Versuchen sich davon zu befreien komplett wund gescheuert und brannten bei der kleinsten Bewegung. Aber sie konnte doch nicht einfach hier liegen bleiben und darauf warten, dass er wiederkam. Sie musste doch irgendetwas unternehmen. „Wenn ich doch wenigstens an meine Death Scythe herankäme“, dachte sie und starrte sehnsüchtig zu ihrem Katana hinüber, das nach wie vor außerhalb ihrer Reichweite stand. Plötzlich jedoch erweckte ein Geräusch hinter ihr ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Sie drehte ihren Kopf nach links und konnte sehen, wie sich das junge Mädchen langsam regte und das Bewusstsein wiedererlangte. Ihre jadegrünen Augen öffneten sich flatternd und stöhnend hielt sie sich den Kopf. Wut regte sich in Carina. Elizabeth war doch gerade einmal 15 Jahre alt, noch ein Kind. Wie konnte dieser Mistkerl es wagen sie einfach so zu entführen und ihr dabei auch noch wehzutun? Die Kleine war doch komplett unschuldig. Die Midford schien sich mittlerweile wieder daran erinnert zu haben was passiert war, denn ihre Augen weiteten sich panisch und aus reinem Reflex zerrte sie an den schweren Ketten. „Das bringt nichts“, sagte Carina und sah dabei zu, wie der Kopf der Adeligen erschrocken hochfuhr und sie ansah, wie sie da so schräg vor ihr auf einer Liege lag, ebenfalls gefesselt. Anscheinend erkannte sie sie wieder. „Du… du bist doch diese Frau von der Campania“, murmelte sie und drängte sich tiefer in die Zimmerecke. „Schlau erkannt, Verlobte des Wachhundes der Königin“, bedachte sie sie mit dem Spitznamen, den sie ihr auf der Campania gegeben hatte. „Und um deine unausgesprochene Frage zu beantworten: Nein, ich habe nichts mit deiner Entführung zu tun. Ich stecke in der gleichen Klemme wie du.“ Erst jetzt bemerkte Elizabeth die blutigen Wunden auf dem Körper der Frau. Sie zog scharf die Luft ein. „Wer hat Ihnen das angetan?“, flüsterte sie schockiert und voller Angst, dass ihr das Gleiche blühen könnte. „Jemand, der uns vermutlich umbringen wird, wenn wir nicht schleunigst einen Weg hier rausfinden. Und lass bitte das alberne Gesieze. Mein Name ist Carina.“ „Wo sind wir hier? Und vor allem warum sind wir hier?“ Die 19-Jährige zuckte mit den Schultern. „Ersteres weiß ich leider selbst nicht und die zweite Frage kann ich dir nicht beantworten. Das sollte dein Verlobter übernehmen.“ Dann musste sie selbst sich zumindest keine große Ausrede einfallen lassen. „Ciel“, fiel es der Fechtkünstlerin mit einem Mal ein und das Herz sprang ihr beinahe aus der Brust. „Er macht sich bestimmt bereits furchtbare Sorgen.“ „Gewiss. Und ich bin mir sicher, er wird uns früher oder später finden“, entgegnete Carina hoffnungsvoll, wobei es ihr natürlich noch lieber wäre, wenn dies Grell noch vorher gelang. Elizabeth wusste nicht genau wieso, aber irgendwie vertraute sie den Worten dieser Fremden. „Er wird kommen. Ganz bestimmt“, murmelte sie leise. Ihr Ciel würde sie niemals im Stich lassen. Beide Frauen zuckten am ganzen Körper zusammen, als im nächsten Moment die massive Tür aufschwang und ihr gemeinsamer Entführer wieder den Raum betrat. Ganz wie Carina es vermutet hatte, hatte er sich tatsächlich ein frisches Hemd angezogen und trug ausnahmsweise einmal keine Handschuhe. Sein Blick fiel sofort auf die Jüngere, die ängstlich in ihrer Ecke kauerte und ihn anstierte. „So, so. Ihr seid also endlich aufgewacht und beehrt uns mit Eurer Anwesenheit. Willkommen, Lady Midford. Leider kann ich Euch derzeit nichts Luxuriöseres anbieten, ich hoffe Ihr könnt mir dies verzeihen. Ich werde mich näher mit Euch befassen, sobald Carina mir das gegeben hat, was ich will.“ „Sie werden meinen Geist nicht brechen. Verprügeln Sie mich ruhig weiter, aber das wird Ihnen schlussendlich gar nichts bringen.“ „Stimmt“, antwortete er monoton. „Du gehörst scheinbar in die Kategorie, in der körperliche Schmerzen nicht zum Ziel führen. Eine kleine Kategorie, zugegeben, aber trotzdem vorhanden. Ich werde andere Saiten aufziehen müssen.“ Das war genau das, was Carina insgeheim befürchtet hatte. Was würde sich dieser kranke Bastard noch für Foltermethoden einfallen lassen, um an sein Ziel zu gelangen? Die Antwort sollte sie schneller bekommen, als ihr lieb war. Wie schon beim ersten Mal trat er näher an sie heran, was direkt zur Folge hatte, dass sich ihre Organe im Bauch vor Angst verkrampften. Hinter ihr hatte Elizabeth den Atem angehalten. „Kein Wunder“, dachte Carina. Das Mädchen würde wahrscheinlich gleich mit ansehen müssen, wie jemand gefoltert wurde. Was würde es dieses Mal sein? Gift? Feuer? Halluzinogene Drogen? Doch er holte nichts aus seinen Taschen und er griff auch nicht nach seiner Death Scythe. Stattdessen beugte er den Kopf weiter zu ihr herunter, sodass sein Schatten über sie fiel und sie gezwungen war ihn anzusehen. „Glaub mir, Carina“, hauchte er ihr ins Gesicht, „ich bin in den letzten Jahrhunderten wahrlich kreativ geworden, wenn es um das Brechen eines Geistes geht. Und dich bekomme ich auch geknackt, keine Frage.“ Und dann legte er seine Hand auf ihren Oberschenkel. Alles in Carina versteifte sich. Sie erstarrte vollkommen, ihre Organe krampften sich nicht länger zusammen, sondern schienen einfach gar nicht mehr vorhanden zu sein. Nur noch ihr Herz konnte sie spüren, weil es ihr überdeutlich bis in den Hals hinein schlug. Ihr wurde speiübel. Ihre Augen wanderten von seinem Gesicht langsam zu seiner Hand, die sich zwar noch um keinen Millimeter bewegt hatte, aber auf ihrer bloßen Haut brannte wie Feuer. Nein, das würde er nicht tun. So ein widerliches, abscheuliches Arschloch konnte nicht einmal er sein! Ein Schrei entfuhr ihr, als er fester zupackte und ihren Körper weiter nach unten zog, sodass ihre Knie jetzt leicht gebeugt waren. Gleichzeitig rutschte seine Hand ein ganzes Stück weiter nach oben, lag nun halb unter dem Saum ihres Kleides. Alle Farbe wich aus Carinas Gesicht. Automatisch kamen die Bilder wieder, die Erinnerungen an ihre Albträume, die sie so lange verfolgt hatten. Erneut war sie in dieser engen Gasse und die Männer drückten sie zu Boden, vergossen ihr Blut, weideten sich an ihren Schreien… „Nicht“, keuchte sie und gegen ihren Willen begann sie am ganzen Körper zu zittern. Das dürfte nicht passieren! Um diese Tat abzuwenden, hatte sie sich umgebracht, sich das Leben genommen. Das alles dürfte nicht umsonst gewesen sein! Erneut stemmte sie sich mit ihrer ganzen unsterblichen Kraft gegen die Fesseln. Ihr war es egal, wenn sie sich dabei die Arme brach, sie musste sich irgendwie gegen ihn zur Wehr setzen. Aber nach wie vor gaben die Ketten nicht nach. Blanke Panik breitete sich in ihr aus und sie konnte nur schwer ein Wimmern unterdrücken, als er provokant langsam den Saum ihres Kleides ergriff und den Stoff über ihre Oberschenkel hochschob. „Nein“, schrie Elizabeth, die mittlerweile ebenfalls begriffen hatte, was der fremde Mann vorhatte. „Lassen Sie sie in Ruhe.“ „Ich wusste doch, dass ich mit dieser Methode weiter komme“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Du bist zwar eigentlich nicht mein Typ, aber na ja, Opfer müssen gebracht werden.“ Carina schlug sich beinahe den Hinterkopf an ihrer Liege auf, als ihr Peiniger ihr im nächsten Moment zwischen die Beine griff. Seine Hand, seine Finger drängten sich gegen ihren Slip und nun schrie sie tatsächlich. Tränen schossen ihr unwillkürlich in die Augen und sie war ganz kurz davor nach Cedric zu rufen. Einzuknicken und den Mann über ihr anzuflehen sie nicht anzufassen. „Sei still“, zischte der Schwarzhaarige genervt und presste seine Lippen grob auf ihren Mund, während seine Hand fester zupackte. Sofort spürte die 19-Jährige den aufkommenden Brechreiz in ihrer Kehle. Doch neben der Angst und der Panik war da urplötzlich noch ein anderes Gefühl. Nämlich Wut. Dieses vermaledeite Arschloch wagte es doch tatsächlich sie zu küssen. Niemandem außer Cedric würde sie jemals erlauben das zu tun! Er wollte ihren Willen bezwingen? „Nein, das schaffst du nicht. Das lasse ich nicht zu“, dachte sie schäumend vor Wut und blinzelte gegen die Tränen an. „Ich gebe dir nicht das, was du willst, und wenn es das Letzte ist, was ich tue.“ Zornig fokussierte sie sich auf seinen Mund und biss mit aller Kraft, die sie noch zur Verfügung hatte, zu. Noch in derselben Sekunde schmeckte sie den metallischen Geschmack von Blut in ihrem Mund und mit einem schmerzhaften Aufschrei wich er von ihr zurück. Seine Unterlippe war aufgerissen und das Blut lief ihm bereits im nächsten Moment über das Kinn. Carina wusste, dass sie dafür büßen würde. Dennoch… Die Ohrfeige, die er ihr daraufhin verpasste, ließ ihren Kopf gegen die Liege krachen. Bunte Sternchen flackerten vor ihren geschlossenen Lidern und sie stöhnte benommen auf. Durch den dichten Nebel aus Schmerz bekam sie kaum mit, wie er einen Schlüssel hervorzog, ihre Ketten löste und sie an ihrem linken Oberarm von der Liege riss. Es dauerte keine drei Sekunden, da lag sie ebenfalls in der hinteren Ecke des Raumes an der Wand und wurde mit den gleichen Fesseln wie Elizabeth angekettet. „Was denn?“, ging es ihr benebelt durch den Kopf, „will er mich lieber hier auf dem Boden vögeln?“ Sie wagte es nicht die Frage laut zu stellen. In der anderen Ecke des Raumes konnte sie ihre Vorfahrin leise schluchzen hören, was ihr ein weiteres Mal ins Gedächtnis rief, dass die Person gegenüber von ihr zwar stark war, aber immer noch ein Kind. Carina schlug ihre Augen auf, diese funkelten ihrem Feind mutig entgegen. Wenn Elizabeth Midford, ein kleines Mädchen von 15 Jahren, es mit unzähligen der Bizarre Dolls aufnehmen konnte, dann sollte sie doch auch in der Lage sein ihre Angst hinten anzustellen. Er sollte verdammt noch mal die Entschlossenheit in ihrem Gesicht sehen. Sie konnte nicht sagen, ob es ihren Geist vollkommen brechen würde, wenn er sie vergewaltigte. Die Möglichkeit bestand. Aber das musste sie ihm nicht auf die Nase binden. Manchmal war der einzige Ausweg eben ein kleiner Bluff… „Miststück“, knurrte er und wischte sich das Blut vom Kinn. Er betrachtete ihr Gesicht und zu seinem eigenen Erstaunen sah er dort weder Furcht, noch Tränen. Nein, dieser Blick forderte ihn beinahe dazu heraus mit seiner Folter weiterzumachen, sie zu nehmen und anschließend festzustellen, dass es umsonst gewesen war. Der Shinigami musste ehrlich zugeben, dass sie es erneut geschafft hatte ihn zu überraschen. Damals, als sie gegen Ronald gewonnen hatte und jetzt schon wieder. Ein missbilligender Laut entfuhr seinen Lippen, es klang fast wie ein abfälliges Schnauben. Er wollte nicht noch länger warten, er wollte zurück in seine Zeit! Wenn er seine ehemalige Schülerin erst einmal gebrochen hatte und ihren Cinematic Record kopiert hatte, um diesen anschließend wie einen guten, alten Film zu entwickeln, dann würde es nicht mehr lange dauern, bis er endlich die Antwort auf all seine Fragen in den Händen hielt. „Gut“, meinte er und in Carinas Ohren hörte es sich wie eine Drohung an. „Dann werde ich halt etwas anderes versuchen.“ Ihr ehemaliger Lehrer beugte sich tiefer zu ihr herunter. „Du wirst dir noch wünschen mich niemals so gereizt zu haben, Carina.“ Unendliche Erleichterung durchflutete sie, als er sich umdrehte und die Tür hinter sich mit einem lauten Krachen zufallen ließ. Erst jetzt bemerkte sie, dass ihr ganzer Körper bebte. Nur sehr langsam realisierte die Schnitterin, was ihr soeben beinahe passiert wäre. Und dann kamen sie endlich, die Tränen. Ein heiseres Schluchzen entfuhr ihrer Kehle und mit letzter Kraft zog sie ihren geschundenen Körper zu einer sitzenden Position an der Wand hoch, um anschließend ihre zitternden Arme um ihre Knie zu legen. „Keine Angst. Es wird alles gut“, flüsterte sie in Elizabeths Richtung und versuchte sich für die Kleine zusammenzureißen. Die grünen Augen des Mädchens weiteten sich, als sie das aufmunternde Lächeln auf den Lippen der Frau sah. Trotz ihrer Tränen und den blutigen Wunden sah sie in diesem Moment unglaublich schön aus. Und sie war stark, das spürte sie. Die Midford schluckte einmal und nickte dann. „Ciel… bitte hilf uns.“ „Wie bitte?“, erwiderte Grell verblüfft und starrte Sebastian mit großen Augen an. „Ihr Dämonen könnt die Spur eines übernatürlichen Wesens so lange und weit zurückverfolgen? Wieso weiß ich davon nichts?“ Der Teufel in Menschengestalt seufzte. „Weil dies eine Fähigkeit ist, die nur den höheren Dämonen vorbehalten ist.“ Er grinste arrogant. „Mir zum Beispiel.“ Der Undertaker verdrehte die Augen und selbst Ciel verzog verächtlich die Mundwinkel. Sein Butler war manchmal einfach viel zu sehr von sich selbst eingenommen. „Allerdings funktioniert das bei uns anders, als bei euch Todesgöttern. Ihr könnt lediglich die Energiesignatur zurückverfolgen. Wir Dämonen hingegen nutzen die Spur, die die Seele eines Wesens hinterlassen hat. Das klappt bei übernatürlichen Wesen wesentlich besser, da die Seelen einen stärkeren Eindruck hinterlassen. Daher konnte ich besser der Spur des Shinigami folgen, als der von Lady Elizabeth. Aber auch hier gibt es nun einmal Grenzen. Bei einer Teleportation verliert sich diese Spur nach ein paar Stunden.“ Er seufzte erneut. „Wenn ich früher hier gewesen wäre, hätte ich die Seele vielleicht noch ausfindig machen können, aber so ist es unmöglich noch sagen zu können, wo der Shinigami sich derzeit aufhält.“ „Wenn William das wüsste, würde er durchdrehen“, ging es Grell durch den Kopf, während die Schwarzhaarige neben ihm die Hände zu Fäusten ballte. Je länger Carina verschwunden war, desto mehr Sorgen machte sie sich um ihre beste Freundin. Was, wenn ihr wirklich bereits etwas Schlimmes passiert war? Etwas, das nicht wieder gut zu machen war? Daran wollte sie überhaupt nicht denken! „Verflucht“, murmelte Alice und erhob sich vom Stuhl. Sie war vor Aufregung ganz blass. „Ich gehe mal kurz an die frische Luft. Und schau noch mal unten am See vorbei, vielleicht haben wir ja etwas übersehen.“ Kommentarlos ließen die anderen Personen im Raum sie ziehen. „Gut, und was jetzt?“, fragte Grell und dachte angestrengt nach. „Können Sie nicht nachschauen, ob Lizzys Name auf ihrer komischen Liste steht?“, fragte Ciel zögerlich, schien es eigentlich gar nicht so genau wissen zu wollen. „Gute Idee“, entgegnete der Rothaarige und zog das kleine Buch hervor. Doch nach wenigen Minuten musste er die Frage des Earls verneinen. „Nein, sie steht nicht auf der Liste. Weder für heute, noch für die nächsten zwei Wochen.“ Der Junge atmete erleichtert auf und zum wiederholten Male fiel dem Bestatter auf, dass er doch ganz anders war als sein Vater. Vincent hätte seine Gefühle niemals so offen gezeigt. Er wäre niemals so kopflos an eine Sache herangegangen. Was ihm am Ende aber auch nicht viel gebracht hatte. Ciel mochte vielleicht ein naiver Junge sein, aber immerhin kämpfte er für das, was ihm wichtig war. Sebastian legte nachdenklich eine Hand ans Kinn. „Wenn wir in den Dispatch gehen würden und ihm dort über den Weg laufen, würde ich seine Seele sofort wiedererkennen.“ „Das ist viel zu riskant“, entgegnete der Totengräber. „Wir würden nicht allzu weit kommen, ohne dass sie uns entdecken. Und dann werden wir wesentlich größere Probleme haben, als nur unsere Zielperson ausfindig zu machen.“ „Sehe ich genauso“, seufzte Grell. Keine Frage, für Carina würde er sich vor dem kompletten Dispatch und sogar vor William als Lügner outen, aber eigentlich hatte er überhaupt keine Lust ein Leben auf der Flucht zu führen. Nicht, wenn es sich vermeiden ließ. Der Butler wollte gerade erneut den Mund öffnen, als von draußen ein lauter Schrei ertönte. Grell gefror das Blut in den Adern. Verflucht, die Nervensäge… Sofort waren sie alle auf den Beinen, Sebastian und Cedric erreichten gleichzeitig die Tür und rissen sie mit so viel Schwung auf, das sie fast aus ihren Angeln flog. Grell und Ciel waren ihnen dicht auf den Fersen und als sie ebenfalls im Freien standen, schnappte der Rothaarige entsetzt nach Luft. Keine 10 Meter von ihnen entfernt stand Alice, mit dem Gesicht ihnen zugewandt, und hatte einen Arm fest um ihren Hals geschlungen. Dieser Arm gehörte einem Mann, der die typische Kleidung der Shinigami trug. Seine Augen hatten die übliche Farbe, seine Haare waren kohlrabenschwarz. Seine Lippe schien vor nicht allzu langer Zeit aufgeplatzt zu sein, denn trotz der Heilkräfte eines Shinigami konnte man immer noch eine Wunde sehen. Cedric erkannte ihn sofort an seiner Statur, aber auch alle anderen Anwesenden konnten sich denken, wer da vor ihnen stand. So war es für niemanden eine große Überraschung, als Sebastian sagte: „Das ist er, junger Herr. Das ist die Seele, die ich verfolgt habe.“ „Wo ist meine Verlobte?“, zischte Ciel so zornig, dass er die Worte kaum über die Lippen brachte. Der fremde Todesgott lächelte. „Ah, Earl Phantomhive, was für eine Überraschung. Macht Euch keine Sorgen, Eure Verlobte ist wohlauf. Um ehrlich zu sein“, fuhr er fort und zeigte sich gegenüber den zornigen Gesichter seiner Gegenspieler unbeeindruckt, „ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich gleich von so vielen Leuten empfangen werden würde. Dabei wollte ich doch nur die Kleine hier.“ Sein Blick fiel auf Alice, die vehement versuchte sich gegen seinen festen Griff zu wehren. „Ich hatte schon so eine Vermutung, dass Carina nicht alleine hier war. Na ja und du bist schließlich momentan außer Dienst, da lag es doch nahe, dass du dich hier aufhältst. Aber mit deiner Anwesenheit hätte ich tatsächlich nicht gerechnet, Grell Sutcliff.“ Grell knirschte mit den Zähnen. „Crow“, stieß er wutentbrannt hervor und Cedric horchte auf. „Du kennst ihn?“ Der Rothaarige nickte. „Er ist Lehrer auf der Akademie, Carina war seine Schülerin.“ Ungläubig starrte Ciel den Schwarzhaarigen an. So ein Sadist sollte Lehrer sein? Grell wandte sich wieder an den Schwarzhaarigen. „Wo ist sie?“ „Dort, wo sie hingehört“, grinste Mr. Crow. „In meiner Obhut.“ Der Undertaker verengte die Augen. „Ich wiederhole seine Frage noch einmal“, sagte er so ruhig, das Ciel eine Gänsehaut bekam. „Wo ist sie?“ Ihre Blicke trafen sich. „Ich wüsste nur zu gerne, was du mit Carina zu schaffen hast“, flüsterte der Lehrer. „Das habe ich mich schon damals gefragt, als ich sie am Weston College aufgespürt hatte.“ Er grinste träge. „Hast du sie gefickt, Deserteur?“ Innerhalb einer Millisekunde hielt der Silberhaarige seine Sense in den Händen, bereit seinen Gegenüber in kleine Stückchen zu hacken. „Ah ah ah, das würde ich an deiner Stelle lieber lassen“, entgegnete der Todesgott und verstärkte seinen Griff um den Hals der Rezeptionist, sodass diese würgend nach Luft schnappte. „Elendes Schwein“, zischte Grell hasserfüllt. „Ich schwöre dir, wenn du Carina auch nur ein Haar gekrümmt hast-“ „Keine Sorge, ihre Haare sind alle noch dran“, meinte er, nun einen diabolischen Unterton in der Stimme. „Nur mit dem Rest ihres Körpers sieht es eher weniger gut aus.“ Alice und Grell schnappten hörbar nach Luft, während Cedric von einer Wut gepackt wurde, die er kaum kontrollieren konnte. „Aber keine Sorge, sie lebt noch. Und kann sich sogar wehren.“ Er deutete auf seine Unterlippe und lächelte erneut. „Ich wusste, dass sie Biss hat, aber das war eigentlich nur metaphorisch gemeint.“ Sebastian, Ciel und Grell wichen instinktiv alle einen Schritt vor dem Bestatter zurück, als sie die negative Aura wahrnahmen, die plötzlich von seinem Körper ausging. Cedric hatte sofort gewusst, worauf der Schwarzhaarige mit seiner Bemerkung anspielte. Wenn das an seiner Lippe tatsächlich eine Bisswunde war, dann hatte er… „Es wird mir ein unglaubliches Vergnügen sein, dich Stück für Stück auseinanderzunehmen“, wisperte er und lächelte dabei so raubtierhaft, dass sogar der selbstsichere Entführer plötzlich gar nicht mehr so selbstsicher aussah. „Tze“, sagte er und versuchte den kurzen Moment seiner Unsicherheit zu überspielen. „Dafür müsstest du mich erst einmal finden.“ Er festigte den Griff um Alice und bevor auch nur irgendjemand der Anwesenden reagieren konnte, dematerialisierte sich sein Körper mitsamt der Schwarzhaarigen. „Nein“, rief Ciel entsetzt und starrte fassungslos auf die Stelle, wo gerade eben noch der Mistkerl gestanden hatte, der seine Verlobte entführt hatte. Wütend drehte er sich zu seinem Butler um und brüllte los. „Warum hast du nichts unternommen, Sebastian? Antworte!“ „Keine Sorge, Earl“, antwortete der Undertaker stattdessen und zog damit alle Blicke auf sich. Er jedoch erwiderte nur Sebastians Blick. „Ich nehme an, dass diese Spur frisch genug ist, um ihr folgen zu können?“, fragte er kühl, woraufhin der Dämon ihm lächelnd seine spitzen Zähne präsentierte. „Ja, allerdings.“ „Mir ist so kalt“, flüsterte Elizabeth erschöpft. Ihr ganzer Körper schmerzte. Zuerst hatte dieser Wahnsinnige sie bewusstlos geschlagen und sie anscheinend nicht gerade sanft transportiert, und dann hatte er ihr diese schweren Ketten angelegt, wie bei einem Hund. Noch dazu kam, dass sie die ganze Zeit auf diesem kalten Boden sitzen musste. Das Kleid, das sie trug, war zwar pompös und hübsch anzusehen, hielt aber auf Dauer nicht warm. „Aber wer bin ich eigentlich, dass ich mich beschwere? Carina hat es viel schlimmer erwischt.“ Ihr Blick huschte in die andere Ecke des Raumes und mit Entsetzen stellte sie fest, dass sich die Augen der Blondine beinahe vollständig geschlossen hatten. „Hey, nicht einschlafen“, rief sie erschrocken und sofort klappten die leuchtend gelbgrünen Augen wieder auf. Carina lächelte müde. „Keine Angst, ich werde nicht sterben. Jedenfalls nicht an so etwas. Das kann ich dir versichern.“ Der letzte Satz klang seltsam bitter, aber vielleicht hatte Elizabeth sich das auch nur eingebildet, sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie die Frau vor sich bewunderte. „Ciel wird uns retten, ganz bestimmt“, sagte sie und Carina konnte nicht anders, sie lachte. „Dich vielleicht. Mit mir kam er auf der Campania nicht so gut zurecht, wie dir vielleicht aufgefallen ist.“ „Dann werde ich ihm sagen, dass er dich retten soll. Auf keinen Fall lasse ich dich bei diesem Grobian“, antwortete sie bestimmt und ein Funkeln trat in ihre Augen, das Carina auch schon auf der Campania gesehen hatte. Als sie sich nach und nach um die bizarren Puppen des Undertakers gekümmert hatte. Ein kleines Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Sie hasste zwar die Tatsache, dass sich das Blut der Phantomhives in ihren Adern befand, aber solch eine mutige Vorfahrin zu haben war doch eigentlich gar nicht so übel… Die beiden Frauen wussten nicht, wie lange sie noch dort saßen, bis sich die schwere Tür das nächste Mal öffnete. Eine Stunde? Zwei? Noch länger? Mit diesem künstlichen Licht war es schwer das genau einschätzen zu können. Doch all das zählte in dem Moment nicht mehr, als Mr. Crow die Tür öffnete und vor sich eine Gestalt herzerrte. Carinas Augen weiteten sich vor Schock. „Alice“, rief sie, zum ersten Mal in ihrem Leben entsetzt darüber die Schwarzhaarige zu sehen. Ihre beste Freundin sah ein wenig mitgenommen und verängstigt aus, aber rein körperlich schien es ihr gut zu gehen. „Carina. Gott sei Dank“, wisperte sie und tiefe Erleichterung erfüllte ihre Stimme. Carina verstand es nicht. Es war allein ihre Schuld, dass sich die 20-Jährige jetzt in dieser gefährlichen Situation befand. Und trotzdem schien Alice gerade einfach nur froh zu sein sie zu sehen. Carina konnte diese Freude nicht teilen. Ein eiskaltes Gefühl hatte ihr Herz ergriffen und ihre Augen huschten zu ihrem Peiniger, der dicht hinter ihrer Freundin stand und sie überlegen anlächelte. „Ich hatte dir gesagt, dass du es bereuen würdest mich so gereizt zu haben, Carina“, sagte er und zog im nächsten Moment seine Death Scythe. Elizabeth schrie erschrocken auf, als er seinen Griff um die – für sie fremde – Frau auf die Haare verlagerte und ihr stattdessen die dünne Klinge an den Hals hielt. Carina war zu erstarrt, um auch nur einen Ton von sich zu geben. Wenn er sie auf diese Art brechen wollte, dann funktionierte es. Seine Augen blitzten freudig auf, als er die nackte Angst in ihren Augen sah. „Halt sie da raus“, hauchte sie, fand ihre Stimme irgendwie wieder. „Ich bin diejenige, die du willst. Sie hat damit nichts zu tun.“ „Oh doch, das hat sie. In dem Moment, in dem du sie in alles eingeweiht hast, hast du sie in diese Sache mit reingezogen“, erwiderte er kalt. „Hör nicht auf ihn, Carina“, sagte Alice, wobei sie darauf achtete ihren Kehlkopf nicht allzu sehr zu bewegen. „Du hast an nichts von dem hier Schuld. Er allein ist der Verantwortliche. Er war es die ganze Zeit.“ „Ruhe“, schnauzte der Schwarzhaarige und drückte die Klinge ein wenig näher an ihre Kehle, sodass nun ein dünnes Rinnsal Blut über ihren Hals nach unten lief. „Nein“, schrie die 19-Jährige, während sie nun richtig anfing zu zittern. So stark, dass die Ketten um ihre Gelenke anfingen zu klirren. „Lass sie in Ruhe.“ „Bettel darum“, zischte er ihr entgegen und jeder im Raum konnte hören, was für ein abartiges Vergnügen ihm all das bereitete. Carina zögerte nicht eine Sekunde. Sie warf sich von ihrer sitzenden Position nach vorne auf ihre Knie, die Hände schlotternd auf dem Boden abgestützt. „Bitte“, flehte sie leise und Alice sah entsetzt dabei zu, wie ihre beste Freundin jeglichen Stolz über Bord warf. Ihretwegen. Den Stolz, den sie an ihr immer so bewundert hatte. „Ich flehe dich an, lass sie gehen. Ich tue alles, ich schwöre es. Ich lasse mich von dir brechen, mach mit mir, was du willst. Schlag mich, vergewaltige mich, ist mir egal. Aber bitte lass sie gehen. Sie ist unschuldig. Bitte. Bitte…“ Ihre Stimme wurde zum Ende hin immer leiser, bis es nur noch ein klägliches Wimmern war, das in dem winzigen Raum widerhallte. Elizabeth hatte wieder leise zu weinen begonnen und sich die Hände vor die Augen geschlagen, ansonsten war nichts zu hören. Carina behielt seine Augen die ganze Zeit über im Blick, doch in den phosphoreszierenden Seelenspiegeln gab es nicht die kleinste Regung, nicht das geringste Anzeichen woraus sie schließen konnte, was er dachte. „Bitte“, flüsterte sie ein weiteres Mal, doch noch im gleichen Moment erkannte sie, dass es ihn vollkommen kalt ließ. Dass er ihr Flehen nicht erhören würde. „Carina“, erklang plötzlich Alice’ Stimme und sofort wandte die Schnitterin ihr den Blick zu, erstarrte noch mehr vor Angst. Eine einzelne Träne lief ihrer Freundin über die Wange. Aber das, was Carina wirklich solche Angst machte, war, dass sie lächelte. Ein kleines, sanftes Lächeln. Ein Abschiedslächeln. Es war nicht so, dass Alice keine Angst hatte. Die hatte sie. Aber jetzt, wo sie Carina so vor sich sah, auf den Knien, um das Leben von ihr flehend, da befand sie, dass es genug war. Dass es gut war. Sie erinnerte sich an die letzten Jahre. Die aufgeweckte junge Frau hatte wieder Freude in ihr Leben gebracht. Sie hatte sie daran erinnert, wie es war eine beste Freundin zu haben. Einen Menschen, für den es sich zu leben lohnte. Die Schwarzhaarige erinnerte sich an die letzten Wochen. Nie hatte sie in ihrem Dasein als Shinigami mehr Spaß gehabt. Sie dachte an Lily und sogar an Grell. An ihre gemeinsamen Tage in dieser Hütte. An all die schönen Stunden. Und sie dachte an ihre Familie. An John und Jamie. Wie hatte Carina damals bei ihrem Gespräch noch gesagt, als sie geweint hatte, dass sie die Beiden nie wiedersehen würde? „Ich schätze das werden wir wohl erst herausfinden, wenn es soweit ist.“ Ihr Lächeln wurde ein ganz kleines bisschen breiter. Vielleicht war dieser Zeitpunkt nun gekommen. Sie sah Carina direkt in die Augen, versuchte all ihre Gefühle in die nächsten Worte zu legen. Ihre letzten Worte. „Danke. Für alles. Ich liebe dich, Carina.“ Angesprochene begann zu weinen. „Alice… Bitte nicht. Sag es nicht…“ Die Schwarzhaarige tat einen tiefen Atemzug. Und dann sagte sie das, wovor Carina sich am meisten fürchtete. „Lebewohl.“ Es passierte so schnell, dass Carina nicht einmal dazu fähig war zu schreien. Dennoch geschah es gleichzeitig wie in einer Art Zeitlupe. Blut, Unmengen von Blut spritzten vor ihr auf den Boden. Dicke, rote Tropfen flogen ihr auf die Wangen. Sie nahm gar nichts anderes mehr wahr. Nicht, wie Elizabeth in ihrer Ecke die Hände fester auf das Gesicht presste. Nicht, wie Mr. Crow genugtuend lachte. Nicht, wie der Körper ihrer besten Freundin mit einem dumpfen Geräusch zu Boden fiel. Alles, was sie noch sah, war ihr Gesicht. Ihre Haare, die immer noch in dem festen Griff ihres Entführers hingen. Was Carina da sah, raubte ihr beinahe den Verstand. Kommentarlos zog Mr. Crow seinen Unterarm zurück und holte aus. Erneut ertönte ein dumpfer Aufprall und dann rollte Alice’ abgetrennter Kopf über den Boden, blieb kaum eine Armlänge entfernt von ihr liegen. Der Schock des grauenhaften Anblicks fiel von Carina ab, ganz plötzlich, als wäre er nie da gewesen. Und dann fühlte sie, wie ein Schalter in ihrem Gehirn umgelegt wurde. Als sie realisierte, was er getan hatte. Dass Alice – die gute, die liebe Alice – tot war. Endgültig und für immer. Carina krümmte sich keuchend vorne über und erbrach sich auf dem Boden. Erst dann kam der Schrei, und er war so laut, dass er die Luft zerriss. Sie schrie und brüllte und schrie immer weiter, bis sie das Gefühl hatte ihre Lungen würden bersten. Das konnte nicht sein! Das war nicht wahr! Das passierte nicht… Zitternd robbte sie, so weit die Fesseln es zuließen, vorwärts, bis sie den Kopf ihrer Freundin erreichte und ihn ergriff, ihn vorsichtig berührte und ihn dann schreiend an ihre Brust drückte. Carina war nicht mehr dazu fähig zu denken. Alles, was sie konnte, war schreien. Ihre Finger fuhren durch das weiche, schwarze Haar, immer und immer wieder. Als könnte sie Alice dadurch zurückbekommen, als könnte sie sie wieder zusammensetzen. Warum nur Alice? Warum, warum nicht sie selbst? Sie spürte, wie ihr Herz brach. Wie einfach alles egal wurde. Das hier war allein ihre Schuld… Der Todesgott lächelte, als er sehen konnte wie das Licht in den Augen der Schnitterin erlosch. Diesen Ausdruck hatte er schon so oft gesehen und er wusste ganz genau, was er bedeutete. Vorfreudig zückte er erneut seine Sense und ging auf die Blondine zu. Jetzt würde er sich endlich holen, was er schon so lange begehrte. Und niemand würde ihn aufhalten. Jetzt nicht mehr. Kapitel 67: Folter *zensiert* ----------------------------- Deine Vorfahrin. Ein Traum. Das musste ein Traum sein. Denn all das konnte gerade nicht wirklich passieren! Das alles war einfach schier unmöglich! Deine Vorfahrin. Elizabeth Midford, die Verlobte von Ciel Phantomhive, konnte einfach nicht ihre… ja, was? Urururgroßmutter sein? Gut, von der zeitlichen Perspektive konnte es hinkommen, aber… Nein, sie und ihre Eltern kamen immerhin aus Deutschland. Und ihre Großeltern ebenfalls. Allerdings… wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst war, hatte sie nie in Erfahrung gebracht, ob sie nicht auch noch andere Wurzeln hatte. Ihre Urgroßeltern waren zum Zeitpunkt ihrer Geburt schon lange tot gewesen und sie hatte auch nie nach ihnen gefragt. Oder sich ihren Stammbaum angesehen. „Was, wenn es stimmt? Was, wenn es kein Zufall ist, dass meine Mutter Claudia heißt?“ Wenn die Eltern ihrer Mutter in den Stammbaum geschaut und ihnen der Name einer ihrer Ahninnen gut gefallen hatte, was dann? Ihr erster klarer Gedanke war: „Was, wenn ich mit Cedric verwandt bin?“ Doch dann fielen ihr schlagartig wieder Grells Worte ein. „Ist das zweite Kind von Claudia auch von ihm?“ „Nein. Francis Midford, geborene Phantomhive, ist die Tochter von Claudia Phantomhive und ihrem Ehemann Edward. Sie ist mit Alexis Leon Midford verheiratet und hat mit ihm zwei Kinder, Edward und Elizabeth Midford.“ Ein riesiger Stein fiel ihr vom Herzen. Außerdem hatte Mr. Crow gesagt, dass sie nicht in gerader Linie mit Ciel verwandt war. Bedeutete das etwa, dass Elizabeth keine Kinder mit ihm bekommen würde? Dass sie jemand anderen heiraten würde? „An ihrer Liebe wird es wohl kaum gelegen haben. Jeder, der Augen im Kopf hatte, merkt doch, dass sie Ciel mit Leib und Seele verfallen ist. Möglicherweise, weil Sebastian seine Seele genommen hat?“ Doch all diese Fragen waren gerade komplett unnötig, sie konnten eh nicht beantwortet werden. Allerdings wurde Carina bei ihrem zweiten klaren Gedanken erneut furchtbar schlecht. „Wenn Elizabeth meine Vorfahrin ist, dann ist sie es auch. Claudia Phantomhive.“ Streng genommen floss in ihren Adern also das Blut der Familie Phantomhive, wenn auch nicht vom Namen her. Allein bei dem bloßen Gedanken sträubten sich ihr alle Nackenhaare vor Abscheu. Sie wollte das nicht! Von Anfang an hatte sie keine Sympathie für diese Familie aufbringen können und das hatte sich in all den Jahren, die sie nun schon hier war, auch nicht geändert. „Wenn Cedric das jemals erfahren sollte…“ Ablehnung sammelte sich in ihrer Brust. Das dürfte niemals passieren. Wahrscheinlich würde er sich noch dazu verpflichtet fühlen sich um sie zu kümmern, weil sie die Nachfahrin seiner großen Liebe war. Wenn er sie nicht liebte, schön! Das war an und für sich schon schlimm genug. Aber dann sollte er auch komplett aus ihrem Leben verschwinden. Alles andere würde sie einfach nicht ertragen. „Ich habe mir die Freiheit genommen die Kleine mitzunehmen, um mit einer finalen Blutprobe das Ganze zu bestätigen. Und tatsächlich, es lässt sich nicht leugnen. Wer weiß, wofür das noch gut ist?“, begann Mr. Crow und ging an ihr vorbei, um die bewusstlose Adelige an die Wand zu lehnen und mit Hand- und Fußfesseln einzukleiden. „Deinen Untergang“, dachte Carina, als ihr klar wurde, dass der Todesgott hinter ihr keine Ahnung hatte, dass der Butler der Phantomhives ein Dämon war. Dass er keine Ahnung hatte, was er mit dieser Aktion entfesselt hatte. Wenn sie Glück hatte, dann würden Ciel und Sebastian sie noch vor Grell finden. Ihr war es ziemlich gleichgültig, wer dieses Mistkerl schlussendlich umbrachte, Hauptsache, es tat endlich jemand! „So“, sagte er hinter ihr und Carina zuckte zusammen, als etwas Kaltes langsam an ihrer Wange entlangfuhr und eine Gänsehaut auf ihrem ganzen Gesicht hinterließ. Die Spitze seiner Death Scythe. Die Schnitterin konnte ihn nicht sehen, aber sie hörte das Grinsen aus seiner Stimme heraus, als er weitersprach. „Wollen wir anfangen?“ Und dann war es nicht länger nur eine Gänsehaut, die ihre Haut hinablief. „Also, was machen wir jetzt?“, fragte Grell und setzte sich mit übereinander geschlagenen Beinen an den Wohnzimmertisch. Alice tat es ihm gleich, während der Bestatter in der Mitte des Raumes stehen blieb. Immer noch schwirrten ihm abertausende Gedanken durch den Kopf, doch dafür war später noch Zeit. Jetzt musste er sich darauf konzentrieren die Mutter seiner Tochter zu finden. „Gibt es außer der Energiesignatur noch andere Hinweise, die der Entführer zurückgelassen hat?“ „Nein, leider nicht“, seufzte Grell. „Ich habe bereits versucht die Spur wieder aufzunehmen, aber dieser Mistkerl hat sich scheinbar noch an Ort und Stelle teleportiert. Du gehörst nicht zufällig zu den Shinigami, die auch solche Fährten verfolgen können?“ „Doch“, erwiderte Cedric. „Aber das ist nicht mein Spezialgebiet. Als ich damals Carina in Baden-Baden gefunden habe, war ihre Spur gerade erst entstanden. Diese hier ist bereits ein paar Stunden alt. Hätten wir einen Experten dabei, dann würde es vielleicht funktionieren, aber so ist es schwierig bis geradezu unmöglich seine Energiesignatur wiederzufinden.“ „Verfluchte Scheiße“, murmelte Grell und raufte sich unbewusst die Haare. „Fangen wir doch erst einmal mit dem an, was wir über den Täter wissen“, begann Alice und zählte die nachfolgenden Punkte an einer Hand ab. „Er ist ein Shinigami. Er besitzt als Death Scythe ein Rapier. Er ist oder war mal ein Seelensammler. Sonst noch etwas?“ „Aus irgendwelchen Gründen hat er damals Carina nicht an den Dispatch verraten, als er sie im Western College gefunden hatte“, sagte der Silberhaarige und schritt nachdenklich durch das Wohnzimmer. „Was bedeutet, dass er seine eigenen Ziele verfolgt.“ „Heißt, wir können den Dispatch von unserer Suchliste streichen“, bemerkte Grell und verdrehte die Augen. „Großartig, bleibt ja nur noch der ganze, restliche Planet übrig.“ „Ich glaube nicht, dass er sich bereits allzu weit entfernt hat“, erwiderte Cedric, dessen Augen gerade an einen Fotoalbum hängen geblieben waren, das zugeklappt auf einem kleinen Tischchen neben der Couch lag. „Es wäre selbst für einen Shinigami zu auffällig, mit einer bewusstlosen Person zu lange herumzulaufen. Außerdem wurde Carina doch gesucht, oder? Wenn ihn jemand zufällig mit einer vermissten Schnitterin sähe, würde das mit ziemlicher Sicherheit für Aufruhr sorgen und das kann sich jemand nicht leisten, der gegen den Dispatch handelt.“ „Na, du musst es ja wissen“, nuschelte Grell und schaute zu Alice, als sich diese wieder einmischte. „Gut, aber dann könnte es theoretisch immer noch jeder Ort in ganz England sein. Wie sollen wir sie jemals finden? Wie sollen wir sie jemals rechtzeitig finden?“ Mittlerweile hatte der ehemalige Schnitter das Buch aufgeklappt und konnte sich nur schwer ein erneutes Luftschnappen verkneifen. Direkt auf der ersten Seite befand sich ein Foto von Carina, die grinsend in die Kamera schaute. Sie hatte sich demjenigen, der das Bild gemacht hatte, nur halb zugewandt und doch konnte man eindeutig erkennen, dass sie schwanger war. Das musste aufgenommen worden sein, kurz nachdem sie in diese Hütte gekommen war. Emotionen fluteten seine Sinne und es wurde nicht besser, als er weiterblätterte. Die Fotos auf den nächsten Seiten zeigten die 19-Jährige in verschiedenen Alltagssituationen. Mit einem Korb Wäsche in der Hand, mit Alice in der Küche, auf der Couch mit einem Buch und einer Decke über den Beinen… Und von Bild zu Bild wurde ihr Bauch immer runder und runder. Auf den letzten Aufnahmen war sie bereits hochschwanger und schien gerade damit beschäftigt gewesen zu sein diese seltsamen Klamotten für das Baby zu stricken oder die letzten Änderungen am Kinderzimmer vorzunehmen. Und oft lag ihre Hand dabei auf der runden Kugel, eine beinahe schon schützende Geste. Erneut traf ihn der Gedanke, dass er nun mit Carina ein Kind hatte, wie ein Schlag ins Gesicht. Mit dieser jungen Frau, die Hals über Kopf in sein Leben getreten war, und die er jetzt einfach nicht mehr aus dem Kopf bekam. Das letzte Foto zeigte Carina liegend auf einem Bett. Das Neugeborene lag blutverschmiert auf ihrer Brust und die Blondine hatte schützend ihre Arme um es gelegt. Ihr Gesicht war gerötet, die Haare nass und verschwitzt, Tränen liefen ihr über die Wangen. Aber trotzdem war da ein Strahlen in ihrem Gesicht, das heller war als die Sonne. Das Lächeln auf ihrem Gesicht war so voller Glückseligkeit, Cedric konnte sich nicht daran erinnern, sie jemals so lächeln gesehen zu haben. Nicht einmal in den Zeiten, als sie bei ihm im Weston College gewesen war. Alice und Grell hatten ihn stillschweigend beobachtet und beschlossen ihm die Zeit zu geben, die er brauchte. Auch für einen Todesgott war das hier eine ganze Menge an Dingen, die es zu verarbeiten galt. Und insgeheim freute sich Grell, dass seine Idee mit dem Fotoalbum bereits jetzt zu einem gewissen Erfolg führte. Dennoch, Carina würde das nach ihrer Rückkehr sicherlich anders sehen… Plötzliche Schritte rissen die drei Shinigami abrupt aus ihren Gedanken. Bevor auch nur einer von ihnen die Möglichkeit hatte sich zu rühren, krachte die hölzerne Tür bereits mit einem donnernden Geräusch auf. Grell und Alice sprangen erschrocken auf, während der Bestatter herumgewirbelt war. Im ersten Moment traute er seinen Augen kaum. „Nicht auch das noch“, schoss es ihm durch den Kopf. Heute ging aber auch einfach alles schief. Man konnte nicht wirklich sagen, wer von den anwesenden Personen die heftigste Reaktion zeigte. Grell mit seinem aufgeklappten Mund? Alice mit ihren aufgerissenen Augen? Undertaker, der sich ungläubig die Haare aus dem Gesicht strich? Oder Ciel und Sebastian, die im Türrahmen standen und alle Todesgötter im Raum anstarrten, als verstünden sie die Welt nicht mehr? Erstaunlicherweise fasste sich Ciel als Erster wieder und trat einen Schritt vor, direkt in die Hütte hinein. „Undertaker“, rief er, blanker Zorn verzerrte seine aristokratischen Züge. „Wo ist Lizzy?“ „Wie bitte?“, antwortete Angesprochener verwirrt und vergaß ganz seine spielerische Tonlage und das langgezogene „Earl~“, das er sonst immer parat hatte. Sebastian trat schützend neben seinen Herrn und lächelte dieses tückische Lächeln, das Cedric nicht ausstehen konnte. „Lady Elizabeth wurde heute Morgen während eines Spaziergangs vor den Augen ihrer Zofe entführt. Ich konnte die Spur bis hierhin zurückverfolgen. Und was finden wir? Eine Hütte, voll mit Shinigami.“ Die Augen des Bestatters weiteten sich leicht. Elizabeth Midford war ebenfalls entführt worden? „Wir haben nichts mit der Entführung der Kleinen zu tun, Sebas-chan“, mischte sich Grell nun ein und wirkte zum ersten Mal halbwegs normal in der Gegenwart des Dämons. Wahrscheinlich, weil er gerade einfach andere Probleme und Sorgen hatte. „Ach?“, erwiderte dieser trocken und schaute Grell kalt an. „Ich habe mich ausführlich mit der Zofe unterhalten und sie konnte mir den Täter ziemlich genau beschreiben. Schwarze, kurze Haare und auffällige grüne Augen, die irgendwie komisch aussahen. Wie hatte sie es noch einmal ausgedrückt? Ach ja. Unmenschlich.“ Grell blinzelte baff. Er traute sich kaum die nächste Frage zu stellen. „Hatte dieser Jemand zufällig einen langen, schwarzen Mantel an und trug anthrazitfarbene Handschuhe?“ „Ihr wisst also doch, wer es war“, rief Ciel aus und sah in diesem Moment trotz seiner geringen Körpergröße bedrohlich aus. Grell und Alice stöhnten synchron auf, während der Undertaker nur stumm das Fotoalbum zuklappte. „Das darf doch wohl nicht wahr sein“, stöhnte Grell ein weiteres Mal. „Erst Carina und jetzt diese Kleine von der Campania? Entweder hat der Typ ein Faible für Blondinen oder da steckt etwas anderes dahinter. Zufall ist das garantiert nicht.“ „Wovon sprecht ihr?“, fragten Sebastian und Ciel gleichzeitig, während Letzterer noch schnell hinzufügte: „Und was machst du hier überhaupt, Undertaker? Ich dachte die Shinigami würden dich jagen und nicht mit dir zusammenarbeiten.“ „Das ist eine lange Geschichte, Earl“, grinste der Silberhaarige, obwohl ihm danach gar nicht zumute war. „Was Rotkäppchen zu sagen versucht hat, ist, dass heute Morgen außer Eurer Verlobten noch jemand entführt wurde. Die blonde Shinigami von der Campania, Ihr erinnert Euch vielleicht.“ Ciel sah seinen Butler an. „Das Mädchen, das wir auch im Bestattungsinstitut angetroffen haben? Diejenige, der ich die Medaillons gegeben habe?“ Sebastian nickte und sein Blick huschte automatisch zu der Hüfte des Undertakers, an der sich mittlerweile wieder die goldene Kette samt den Anhängern befand. „Die anscheinend den Weg zurück zu ihrem Besitzer gefunden haben“, sagte er misstrauisch und versuchte scheinbar sich selbst einen Reim auf die Sache zu machen. Der Totengräber hatte nicht das geringste Interesse ihm dabei zu helfen. Viel mehr war er gerade darüber verwundert, dass Carina noch einmal in seinem Bestattungsinstitut gewesen war. Sie hatte ihm zwar gesagt, dass sie zufällig auf Ciel Phantomhive getroffen war und er ihr die Medaillons gegeben hatte, aber den Ort hatte sie dabei mit keinem Wort erwähnt. „Wie so vieles andere auch nicht…“ Plötzlich grinste der Butler und zeigte dabei seine spitzen Eckzähne. „Sie müsste das Kind mittlerweile ausgetragen haben, nicht?“ Er wandte sich an Grell. „Und? Wie macht sich die Shinigamibrut?“ „Pass auf, was du sagst“, zischte Alice und sah aus, als würde sie jeden Moment auf den Dämon losgehen. Sebastians Blick wanderte durch den Raum und blieb an der geschlossenen Tür zum Kinderzimmer hängen. Mit Erschrecken fiel Grell ein, dass er als Dämon eine Seele – und mochte sie noch so klein sein – spüren konnte. Der Frackträger trat einen Schritt vor in Richtung der Tür. Grell öffnete den Mund, doch Cedric war schneller. Innerhalb eines Wimpernschlages stand er vor der Tür, seine Augen gefährlich verengt, die Hand unter seinem Umhang am Griff seiner Sense. Sebastian blieb sofort stehen und Ciel überlief eine Gänsehaut. So ernst hatte er den Undertaker noch nie gesehen. Der Teufel hingegen schien nun eins und eins zusammenzählen zu können. „Ach?“, begann er und lächelte spöttisch. „Ist es etwa deins?“ „Geh noch einen Schritt weiter und ich fange da an, wo ich auf der Campania aufgehört habe, Butler“, antwortete der Silberhaarige kühl. „Also ja“, sagte Sebastian und war kurz davor es darauf ankommen zu lassen. „Sebastian“, meinte Ciel scharf und mit einem unmissverständlichen Befehlston. Sofort zog sich der Butler wieder an die Seite seines Herren zurück. „Mich interessiert es nicht, was ihr verfluchten Shinigami hier treibt. Ich will nur wissen, wo Lizzy ist.“ „Und wir wollen nur Carina finden“, blaffte Grell den Jungen an. „Scheint also, als hätten wir das gleiche Ziel“, gab der Bestatter zu bedenken und für einen Moment herrschte ein unangenehmes Schweigen. Ciel dachte nach. Nach 2 Minuten Stille sagte er schließlich: „Nur so lange, und ich wiederhole, nur so lange bis wir die Beiden wiedergefunden haben, werde ich mit euch zusammenarbeiten. Und keine Sekunde länger.“ „Wunderbar“, erwiderte Cedric und klatschte in die Hände, während Sebastian im Gegenzug alles andere als begeistert aussah. „Und jetzt zu etwas, was ich schon die ganze Zeit fragen wollte.“ Er wandte sich an besagten Butler. „Was meintest du gerade eben damit, als du sagtest du konntest die Spur bis hierhin zurückverfolgen?“ Jeder Atemzug, der ihren Körper verließ, schmerzte wie die Hölle. Ihr Entführer hatte den Raum vor über einer Stunde verlassen – wahrscheinlich, um sich das Blut vom Hemd zu waschen oder auch, um sich direkt umzuziehen – und dennoch war ihr ganzer Körper derart verkrampft, als würde er sich immer noch im Raum befinden. Carina hatte befürchtet, dass er als allererstes versuchen würde sie physisch zu brechen. Und sie hatte Recht behalten. Der Shinigami hatte sie geschlagen, sie mit seiner Death Scythe geschnitten, ihr Knochen im Körper gebrochen, von denen sie noch nicht einmal wusste, wie leicht sie brechen konnten. Auf ihren Armen und Beinen konnte man überall schmale, blutende Schnitte sehen, die dunkelblauen Ärmel des Kleides hatten sich an besagten Stellen wegen ihres Blutes noch dunkler gefärbt. Ihre Lippe und auch die Haut an ihrem Wangenknochen waren aufgeplatzt, als er ihr ohne Rücksicht auf Verluste ins Gesicht geschlagen hatte. Sicherlich bildete sich bereits ein Veilchen unter ihrem rechten Auge. Anschließend hatte er sie an den Haaren gepackt, bis sich ihre Kopfhaut angefühlt hatte, als würde sie in Flammen stehen. Und dennoch… Trotz der Tränen, die ihr vor Schmerz in den Augen standen. Trotz ihrer rasselnden Atemzüge. Trotz ihres blutigen Körpers, der vor Angst leicht zitterte. Trotz alldem wusste Carina, dass er durch solche Aktionen niemals ihren Geist, geschweige denn ihren Willen brechen würde. Dafür hatte sie in den letzten 3 Jahren einfach schon zu viele körperliche Schmerzen durchgestanden. Und er wusste das auch. Ihre Hand- und Fußgelenke waren von ihren Versuchen sich davon zu befreien komplett wund gescheuert und brannten bei der kleinsten Bewegung. Aber sie konnte doch nicht einfach hier liegen bleiben und darauf warten, dass er wiederkam. Sie musste doch irgendetwas unternehmen. „Wenn ich doch wenigstens an meine Death Scythe herankäme“, dachte sie und starrte sehnsüchtig zu ihrem Katana hinüber, das nach wie vor außerhalb ihrer Reichweite stand. Plötzlich jedoch erweckte ein Geräusch hinter ihr ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Sie drehte ihren Kopf nach links und konnte sehen, wie sich das junge Mädchen langsam regte und das Bewusstsein wiedererlangte. Ihre jadegrünen Augen öffneten sich flatternd und stöhnend hielt sie sich den Kopf. Wut regte sich in Carina. Elizabeth war doch gerade einmal 15 Jahre alt, noch ein Kind. Wie konnte dieser Mistkerl es wagen sie einfach so zu entführen und ihr dabei auch noch wehzutun? Die Kleine war doch komplett unschuldig. Die Midford schien sich mittlerweile wieder daran erinnert zu haben was passiert war, denn ihre Augen weiteten sich panisch und aus reinem Reflex zerrte sie an den schweren Ketten. „Das bringt nichts“, sagte Carina und sah dabei zu, wie der Kopf der Adeligen erschrocken hochfuhr und sie ansah, wie sie da so schräg vor ihr auf einer Liege lag, ebenfalls gefesselt. Anscheinend erkannte sie sie wieder. „Du… du bist doch diese Frau von der Campania“, murmelte sie und drängte sich tiefer in die Zimmerecke. „Schlau erkannt, Verlobte des Wachhundes der Königin“, bedachte sie sie mit dem Spitznamen, den sie ihr auf der Campania gegeben hatte. „Und um deine unausgesprochene Frage zu beantworten: Nein, ich habe nichts mit deiner Entführung zu tun. Ich stecke in der gleichen Klemme wie du.“ Erst jetzt bemerkte Elizabeth die blutigen Wunden auf dem Körper der Frau. Sie zog scharf die Luft ein. „Wer hat Ihnen das angetan?“, flüsterte sie schockiert und voller Angst, dass ihr das Gleiche blühen könnte. „Jemand, der uns vermutlich umbringen wird, wenn wir nicht schleunigst einen Weg hier rausfinden. Und lass bitte das alberne Gesieze. Mein Name ist Carina.“ „Wo sind wir hier? Und vor allem warum sind wir hier?“ Die 19-Jährige zuckte mit den Schultern. „Ersteres weiß ich leider selbst nicht und die zweite Frage kann ich dir nicht beantworten. Das sollte dein Verlobter übernehmen.“ Dann musste sie selbst sich zumindest keine große Ausrede einfallen lassen. „Ciel“, fiel es der Fechtkünstlerin mit einem Mal ein und das Herz sprang ihr beinahe aus der Brust. „Er macht sich bestimmt bereits furchtbare Sorgen.“ „Gewiss. Und ich bin mir sicher, er wird uns früher oder später finden“, entgegnete Carina hoffnungsvoll, wobei es ihr natürlich noch lieber wäre, wenn dies Grell noch vorher gelang. Elizabeth wusste nicht genau wieso, aber irgendwie vertraute sie den Worten dieser Fremden. „Er wird kommen. Ganz bestimmt“, murmelte sie leise. Ihr Ciel würde sie niemals im Stich lassen. Beide Frauen zuckten am ganzen Körper zusammen, als im nächsten Moment die massive Tür aufschwang und ihr gemeinsamer Entführer wieder den Raum betrat. Ganz wie Carina es vermutet hatte, hatte er sich tatsächlich ein frisches Hemd angezogen und trug ausnahmsweise einmal keine Handschuhe. Sein Blick fiel sofort auf die Jüngere, die ängstlich in ihrer Ecke kauerte und ihn anstierte. „So, so. Ihr seid also endlich aufgewacht und beehrt uns mit Eurer Anwesenheit. Willkommen, Lady Midford. Leider kann ich Euch derzeit nichts Luxuriöseres anbieten, ich hoffe Ihr könnt mir dies verzeihen. Ich werde mich näher mit Euch befassen, sobald Carina mir das gegeben hat, was ich will.“ „Sie werden meinen Geist nicht brechen. Verprügeln Sie mich ruhig weiter, aber das wird Ihnen schlussendlich gar nichts bringen.“ „Stimmt“, antwortete er monoton. „Du gehörst scheinbar in die Kategorie, in der körperliche Schmerzen nicht zum Ziel führen. Eine kleine Kategorie, zugegeben, aber trotzdem vorhanden. Ich werde andere Saiten aufziehen müssen.“ Das war genau das, was Carina insgeheim befürchtet hatte. Was würde sich dieser kranke Bastard noch für Foltermethoden einfallen lassen, um an sein Ziel zu gelangen? Die Antwort sollte sie schneller bekommen, als ihr lieb war. Wie schon beim ersten Mal trat er näher an sie heran, was direkt zur Folge hatte, dass sich ihre Organe im Bauch vor Angst verkrampften. Hinter ihr hatte Elizabeth den Atem angehalten. „Kein Wunder“, dachte Carina. Das Mädchen würde wahrscheinlich gleich mit ansehen müssen, wie jemand gefoltert wurde. Was würde es dieses Mal sein? Gift? Feuer? Halluzinogene Drogen? Doch er holte nichts aus seinen Taschen und er griff auch nicht nach seiner Death Scythe. Stattdessen beugte er den Kopf weiter zu ihr herunter, sodass sein Schatten über sie fiel und sie gezwungen war ihn anzusehen. „Glaub mir, Carina“, hauchte er ihr ins Gesicht, „ich bin in den letzten Jahrhunderten wahrlich kreativ geworden, wenn es um das Brechen eines Geistes geht. Und dich bekomme ich auch geknackt, keine Frage.“ Und dann legte er seine Hand auf ihren Oberschenkel. Alles in Carina versteifte sich. Sie erstarrte vollkommen, ihre Organe krampften sich nicht länger zusammen, sondern schienen einfach gar nicht mehr vorhanden zu sein. Nur noch ihr Herz konnte sie spüren, weil es ihr überdeutlich bis in den Hals hinein schlug. Ihr wurde speiübel. Ihre Augen wanderten von seinem Gesicht langsam zu seiner Hand, die sich zwar noch um keinen Millimeter bewegt hatte, aber auf ihrer bloßen Haut brannte wie Feuer. Nein, das würde er nicht tun. So ein widerliches, abscheuliches Arschloch konnte nicht einmal er sein! Ein Schrei entfuhr ihr, als er fester zupackte und ihren Körper weiter nach unten zog, sodass ihre Knie jetzt leicht gebeugt waren. Gleichzeitig rutschte seine Hand ein ganzes Stück weiter nach oben, lag nun halb unter dem Saum ihres Kleides. Alle Farbe wich aus Carinas Gesicht. Automatisch kamen die Bilder wieder, die Erinnerungen an ihre Albträume, die sie so lange verfolgt hatten. Erneut war sie in dieser engen Gasse und die Männer drückten sie zu Boden, vergossen ihr Blut, weideten sich an ihren Schreien… „Nicht“, keuchte sie und gegen ihren Willen begann sie am ganzen Körper zu zittern. Das dürfte nicht passieren! Um diese Tat abzuwenden, hatte sie sich umgebracht, sich das Leben genommen. Das alles dürfte nicht umsonst gewesen sein! Erneut stemmte sie sich mit ihrer ganzen unsterblichen Kraft gegen die Fesseln. Ihr war es egal, wenn sie sich dabei die Arme brach, sie musste sich irgendwie gegen ihn zur Wehr setzen. Aber nach wie vor gaben die Ketten nicht nach. Blanke Panik breitete sich in ihr aus und sie konnte nur schwer ein Wimmern unterdrücken, als er provokant langsam den Saum ihres Kleides ergriff und den Stoff über ihre Oberschenkel hochschob. „Nein“, schrie Elizabeth, die mittlerweile ebenfalls begriffen hatte, was der fremde Mann vorhatte. „Lassen Sie sie in Ruhe.“ „Ich wusste doch, dass ich mit dieser Methode weiter komme“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Du bist zwar eigentlich nicht mein Typ, aber na ja, Opfer müssen gebracht werden.“ Carina schlug sich beinahe den Hinterkopf an ihrer Liege auf, als ihr Peiniger ihr im nächsten Moment zwischen die Beine griff. Seine Hand, seine Finger drängten sich gegen ihren Slip und nun schrie sie tatsächlich. Tränen schossen ihr unwillkürlich in die Augen und sie war ganz kurz davor nach Cedric zu rufen. Einzuknicken und den Mann über ihr anzuflehen sie nicht anzufassen. „Sei still“, zischte der Schwarzhaarige genervt und presste seine Lippen grob auf ihren Mund, während seine Hand fester zupackte. Sofort spürte die 19-Jährige den aufkommenden Brechreiz in ihrer Kehle. Doch neben der Angst und der Panik war da urplötzlich noch ein anderes Gefühl. Nämlich Wut. Dieses vermaledeite Arschloch wagte es doch tatsächlich sie zu küssen. Niemandem außer Cedric würde sie jemals erlauben das zu tun! Er wollte ihren Willen bezwingen? „Nein, das schaffst du nicht. Das lasse ich nicht zu“, dachte sie schäumend vor Wut und blinzelte gegen die Tränen an. „Ich gebe dir nicht das, was du willst, und wenn es das Letzte ist, was ich tue.“ Zornig fokussierte sie sich auf seinen Mund und biss mit aller Kraft, die sie noch zur Verfügung hatte, zu. Noch in derselben Sekunde schmeckte sie den metallischen Geschmack von Blut in ihrem Mund und mit einem schmerzhaften Aufschrei wich er von ihr zurück. Seine Unterlippe war aufgerissen und das Blut lief ihm bereits im nächsten Moment über das Kinn. Carina wusste, dass sie dafür büßen würde. Dennoch… Die Ohrfeige, die er ihr daraufhin verpasste, ließ ihren Kopf gegen die Liege krachen. Bunte Sternchen flackerten vor ihren geschlossenen Lidern und sie stöhnte benommen auf. Durch den dichten Nebel aus Schmerz bekam sie kaum mit, wie er einen Schlüssel hervorzog, ihre Ketten löste und sie an ihrem linken Oberarm von der Liege riss. Es dauerte keine drei Sekunden, da lag sie ebenfalls in der hinteren Ecke des Raumes an der Wand und wurde mit den gleichen Fesseln wie Elizabeth angekettet. „Was denn?“, ging es ihr benebelt durch den Kopf, „will er mich lieber hier auf dem Boden vögeln?“ Sie wagte es nicht die Frage laut zu stellen. In der anderen Ecke des Raumes konnte sie ihre Vorfahrin leise schluchzen hören, was ihr ein weiteres Mal ins Gedächtnis rief, dass die Person gegenüber von ihr zwar stark war, aber immer noch ein Kind. Carina schlug ihre Augen auf, diese funkelten ihrem Feind mutig entgegen. Wenn Elizabeth Midford, ein kleines Mädchen von 15 Jahren, es mit unzähligen der Bizarre Dolls aufnehmen konnte, dann sollte sie doch auch in der Lage sein ihre Angst hinten anzustellen. Er sollte verdammt noch mal die Entschlossenheit in ihrem Gesicht sehen. Sie konnte nicht sagen, ob es ihren Geist vollkommen brechen würde, wenn er sie vergewaltigte. Die Möglichkeit bestand. Aber das musste sie ihm nicht auf die Nase binden. Manchmal war der einzige Ausweg eben ein kleiner Bluff… „Miststück“, knurrte er und wischte sich das Blut vom Kinn. Er betrachtete ihr Gesicht und zu seinem eigenen Erstaunen sah er dort weder Furcht, noch Tränen. Nein, dieser Blick forderte ihn beinahe dazu heraus mit seiner Folter weiterzumachen, sie zu nehmen und anschließend festzustellen, dass es umsonst gewesen war. Der Shinigami musste ehrlich zugeben, dass sie es erneut geschafft hatte ihn zu überraschen. Damals, als sie gegen Ronald gewonnen hatte und jetzt schon wieder. Ein missbilligender Laut entfuhr seinen Lippen, es klang fast wie ein abfälliges Schnauben. Er wollte nicht noch länger warten, er wollte zurück in seine Zeit! Wenn er seine ehemalige Schülerin erst einmal gebrochen hatte und ihren Cinematic Record kopiert hatte, um diesen anschließend wie einen guten, alten Film zu entwickeln, dann würde es nicht mehr lange dauern, bis er endlich die Antwort auf all seine Fragen in den Händen hielt. „Gut“, meinte er und in Carinas Ohren hörte es sich wie eine Drohung an. „Dann werde ich halt etwas anderes versuchen.“ Ihr ehemaliger Lehrer beugte sich tiefer zu ihr herunter. „Du wirst dir noch wünschen mich niemals so gereizt zu haben, Carina.“ Unendliche Erleichterung durchflutete sie, als er sich umdrehte und die Tür hinter sich mit einem lauten Krachen zufallen ließ. Erst jetzt bemerkte sie, dass ihr ganzer Körper bebte. Nur sehr langsam realisierte die Schnitterin, was ihr soeben beinahe passiert wäre. Und dann kamen sie endlich, die Tränen. Ein heiseres Schluchzen entfuhr ihrer Kehle und mit letzter Kraft zog sie ihren geschundenen Körper zu einer sitzenden Position an der Wand hoch, um anschließend ihre zitternden Arme um ihre Knie zu legen. „Keine Angst. Es wird alles gut“, flüsterte sie in Elizabeths Richtung und versuchte sich für die Kleine zusammenzureißen. Die grünen Augen des Mädchens weiteten sich, als sie das aufmunternde Lächeln auf den Lippen der Frau sah. Trotz ihrer Tränen und den blutigen Wunden sah sie in diesem Moment unglaublich schön aus. Und sie war stark, das spürte sie. Die Midford schluckte einmal und nickte dann. „Ciel… bitte hilf uns.“ „Wie bitte?“, erwiderte Grell verblüfft und starrte Sebastian mit großen Augen an. „Ihr Dämonen könnt die Spur eines übernatürlichen Wesens so lange und weit zurückverfolgen? Wieso weiß ich davon nichts?“ Der Teufel in Menschengestalt seufzte. „Weil dies eine Fähigkeit ist, die nur den höheren Dämonen vorbehalten ist.“ Er grinste arrogant. „Mir zum Beispiel.“ Der Undertaker verdrehte die Augen und selbst Ciel verzog verächtlich die Mundwinkel. Sein Butler war manchmal einfach viel zu sehr von sich selbst eingenommen. „Allerdings funktioniert das bei uns anders, als bei euch Todesgöttern. Ihr könnt lediglich die Energiesignatur zurückverfolgen. Wir Dämonen hingegen nutzen die Spur, die die Seele eines Wesens hinterlassen hat. Das klappt bei übernatürlichen Wesen wesentlich besser, da die Seelen einen stärkeren Eindruck hinterlassen. Daher konnte ich besser der Spur des Shinigami folgen, als der von Lady Elizabeth. Aber auch hier gibt es nun einmal Grenzen. Bei einer Teleportation verliert sich diese Spur nach ein paar Stunden.“ Er seufzte erneut. „Wenn ich früher hier gewesen wäre, hätte ich die Seele vielleicht noch ausfindig machen können, aber so ist es unmöglich noch sagen zu können, wo der Shinigami sich derzeit aufhält.“ „Wenn William das wüsste, würde er durchdrehen“, ging es Grell durch den Kopf, während die Schwarzhaarige neben ihm die Hände zu Fäusten ballte. Je länger Carina verschwunden war, desto mehr Sorgen machte sie sich um ihre beste Freundin. Was, wenn ihr wirklich bereits etwas Schlimmes passiert war? Etwas, das nicht wieder gut zu machen war? Daran wollte sie überhaupt nicht denken! „Verflucht“, murmelte Alice und erhob sich vom Stuhl. Sie war vor Aufregung ganz blass. „Ich gehe mal kurz an die frische Luft. Und schau noch mal unten am See vorbei, vielleicht haben wir ja etwas übersehen.“ Kommentarlos ließen die anderen Personen im Raum sie ziehen. „Gut, und was jetzt?“, fragte Grell und dachte angestrengt nach. „Können Sie nicht nachschauen, ob Lizzys Name auf ihrer komischen Liste steht?“, fragte Ciel zögerlich, schien es eigentlich gar nicht so genau wissen zu wollen. „Gute Idee“, entgegnete der Rothaarige und zog das kleine Buch hervor. Doch nach wenigen Minuten musste er die Frage des Earls verneinen. „Nein, sie steht nicht auf der Liste. Weder für heute, noch für die nächsten zwei Wochen.“ Der Junge atmete erleichtert auf und zum wiederholten Male fiel dem Bestatter auf, dass er doch ganz anders war als sein Vater. Vincent hätte seine Gefühle niemals so offen gezeigt. Er wäre niemals so kopflos an eine Sache herangegangen. Was ihm am Ende aber auch nicht viel gebracht hatte. Ciel mochte vielleicht ein naiver Junge sein, aber immerhin kämpfte er für das, was ihm wichtig war. Sebastian legte nachdenklich eine Hand ans Kinn. „Wenn wir in den Dispatch gehen würden und ihm dort über den Weg laufen, würde ich seine Seele sofort wiedererkennen.“ „Das ist viel zu riskant“, entgegnete der Totengräber. „Wir würden nicht allzu weit kommen, ohne dass sie uns entdecken. Und dann werden wir wesentlich größere Probleme haben, als nur unsere Zielperson ausfindig zu machen.“ „Sehe ich genauso“, seufzte Grell. Keine Frage, für Carina würde er sich vor dem kompletten Dispatch und sogar vor William als Lügner outen, aber eigentlich hatte er überhaupt keine Lust ein Leben auf der Flucht zu führen. Nicht, wenn es sich vermeiden ließ. Der Butler wollte gerade erneut den Mund öffnen, als von draußen ein lauter Schrei ertönte. Grell gefror das Blut in den Adern. Verflucht, die Nervensäge… Sofort waren sie alle auf den Beinen, Sebastian und Cedric erreichten gleichzeitig die Tür und rissen sie mit so viel Schwung auf, das sie fast aus ihren Angeln flog. Grell und Ciel waren ihnen dicht auf den Fersen und als sie ebenfalls im Freien standen, schnappte der Rothaarige entsetzt nach Luft. Keine 10 Meter von ihnen entfernt stand Alice, mit dem Gesicht ihnen zugewandt, und hatte einen Arm fest um ihren Hals geschlungen. Dieser Arm gehörte einem Mann, der die typische Kleidung der Shinigami trug. Seine Augen hatten die übliche Farbe, seine Haare waren kohlrabenschwarz. Seine Lippe schien vor nicht allzu langer Zeit aufgeplatzt zu sein, denn trotz der Heilkräfte eines Shinigami konnte man immer noch eine Wunde sehen. Cedric erkannte ihn sofort an seiner Statur, aber auch alle anderen Anwesenden konnten sich denken, wer da vor ihnen stand. So war es für niemanden eine große Überraschung, als Sebastian sagte: „Das ist er, junger Herr. Das ist die Seele, die ich verfolgt habe.“ „Wo ist meine Verlobte?“, zischte Ciel so zornig, dass er die Worte kaum über die Lippen brachte. Der fremde Todesgott lächelte. „Ah, Earl Phantomhive, was für eine Überraschung. Macht Euch keine Sorgen, Eure Verlobte ist wohlauf. Um ehrlich zu sein“, fuhr er fort und zeigte sich gegenüber den zornigen Gesichter seiner Gegenspieler unbeeindruckt, „ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich gleich von so vielen Leuten empfangen werden würde. Dabei wollte ich doch nur die Kleine hier.“ Sein Blick fiel auf Alice, die vehement versuchte sich gegen seinen festen Griff zu wehren. „Ich hatte schon so eine Vermutung, dass Carina nicht alleine hier war. Na ja und du bist schließlich momentan außer Dienst, da lag es doch nahe, dass du dich hier aufhältst. Aber mit deiner Anwesenheit hätte ich tatsächlich nicht gerechnet, Grell Sutcliff.“ Grell knirschte mit den Zähnen. „Crow“, stieß er wutentbrannt hervor und Cedric horchte auf. „Du kennst ihn?“ Der Rothaarige nickte. „Er ist Lehrer auf der Akademie, Carina war seine Schülerin.“ Ungläubig starrte Ciel den Schwarzhaarigen an. So ein Sadist sollte Lehrer sein? Grell wandte sich wieder an den Schwarzhaarigen. „Wo ist sie?“ „Dort, wo sie hingehört“, grinste Mr. Crow. „In meiner Obhut.“ Der Undertaker verengte die Augen. „Ich wiederhole seine Frage noch einmal“, sagte er so ruhig, das Ciel eine Gänsehaut bekam. „Wo ist sie?“ Ihre Blicke trafen sich. „Ich wüsste nur zu gerne, was du mit Carina zu schaffen hast“, flüsterte der Lehrer. „Das habe ich mich schon damals gefragt, als ich sie am Weston College aufgespürt hatte.“ Er grinste träge. „Hast du sie gefickt, Deserteur?“ Innerhalb einer Millisekunde hielt der Silberhaarige seine Sense in den Händen, bereit seinen Gegenüber in kleine Stückchen zu hacken. „Ah ah ah, das würde ich an deiner Stelle lieber lassen“, entgegnete der Todesgott und verstärkte seinen Griff um den Hals der Rezeptionist, sodass diese würgend nach Luft schnappte. „Elendes Schwein“, zischte Grell hasserfüllt. „Ich schwöre dir, wenn du Carina auch nur ein Haar gekrümmt hast-“ „Keine Sorge, ihre Haare sind alle noch dran“, meinte er, nun einen diabolischen Unterton in der Stimme. „Nur mit dem Rest ihres Körpers sieht es eher weniger gut aus.“ Alice und Grell schnappten hörbar nach Luft, während Cedric von einer Wut gepackt wurde, die er kaum kontrollieren konnte. „Aber keine Sorge, sie lebt noch. Und kann sich sogar wehren.“ Er deutete auf seine Unterlippe und lächelte erneut. „Ich wusste, dass sie Biss hat, aber das war eigentlich nur metaphorisch gemeint.“ Sebastian, Ciel und Grell wichen instinktiv alle einen Schritt vor dem Bestatter zurück, als sie die negative Aura wahrnahmen, die plötzlich von seinem Körper ausging. Cedric hatte sofort gewusst, worauf der Schwarzhaarige mit seiner Bemerkung anspielte. Wenn das an seiner Lippe tatsächlich eine Bisswunde war, dann hatte er… „Es wird mir ein unglaubliches Vergnügen sein, dich Stück für Stück auseinanderzunehmen“, wisperte er und lächelte dabei so raubtierhaft, dass sogar der selbstsichere Entführer plötzlich gar nicht mehr so selbstsicher aussah. „Tze“, sagte er und versuchte den kurzen Moment seiner Unsicherheit zu überspielen. „Dafür müsstest du mich erst einmal finden.“ Er festigte den Griff um Alice und bevor auch nur irgendjemand der Anwesenden reagieren konnte, dematerialisierte sich sein Körper mitsamt der Schwarzhaarigen. „Nein“, rief Ciel entsetzt und starrte fassungslos auf die Stelle, wo gerade eben noch der Mistkerl gestanden hatte, der seine Verlobte entführt hatte. Wütend drehte er sich zu seinem Butler um und brüllte los. „Warum hast du nichts unternommen, Sebastian? Antworte!“ „Keine Sorge, Earl“, antwortete der Undertaker stattdessen und zog damit alle Blicke auf sich. Er jedoch erwiderte nur Sebastians Blick. „Ich nehme an, dass diese Spur frisch genug ist, um ihr folgen zu können?“, fragte er kühl, woraufhin der Dämon ihm lächelnd seine spitzen Zähne präsentierte. „Ja, allerdings.“ „Mir ist so kalt“, flüsterte Elizabeth erschöpft. Ihr ganzer Körper schmerzte. Zuerst hatte dieser Wahnsinnige sie bewusstlos geschlagen und sie anscheinend nicht gerade sanft transportiert, und dann hatte er ihr diese schweren Ketten angelegt, wie bei einem Hund. Noch dazu kam, dass sie die ganze Zeit auf diesem kalten Boden sitzen musste. Das Kleid, das sie trug, war zwar pompös und hübsch anzusehen, hielt aber auf Dauer nicht warm. „Aber wer bin ich eigentlich, dass ich mich beschwere? Carina hat es viel schlimmer erwischt.“ Ihr Blick huschte in die andere Ecke des Raumes und mit Entsetzen stellte sie fest, dass sich die Augen der Blondine beinahe vollständig geschlossen hatten. „Hey, nicht einschlafen“, rief sie erschrocken und sofort klappten die leuchtend gelbgrünen Augen wieder auf. Carina lächelte müde. „Keine Angst, ich werde nicht sterben. Jedenfalls nicht an so etwas. Das kann ich dir versichern.“ Der letzte Satz klang seltsam bitter, aber vielleicht hatte Elizabeth sich das auch nur eingebildet, sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie die Frau vor sich bewunderte. „Ciel wird uns retten, ganz bestimmt“, sagte sie und Carina konnte nicht anders, sie lachte. „Dich vielleicht. Mit mir kam er auf der Campania nicht so gut zurecht, wie dir vielleicht aufgefallen ist.“ „Dann werde ich ihm sagen, dass er dich retten soll. Auf keinen Fall lasse ich dich bei diesem Grobian“, antwortete sie bestimmt und ein Funkeln trat in ihre Augen, das Carina auch schon auf der Campania gesehen hatte. Als sie sich nach und nach um die bizarren Puppen des Undertakers gekümmert hatte. Ein kleines Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Sie hasste zwar die Tatsache, dass sich das Blut der Phantomhives in ihren Adern befand, aber solch eine mutige Vorfahrin zu haben war doch eigentlich gar nicht so übel… Die beiden Frauen wussten nicht, wie lange sie noch dort saßen, bis sich die schwere Tür das nächste Mal öffnete. Eine Stunde? Zwei? Noch länger? Mit diesem künstlichen Licht war es schwer das genau einschätzen zu können. Doch all das zählte in dem Moment nicht mehr, als Mr. Crow die Tür öffnete und vor sich eine Gestalt herzerrte. Carinas Augen weiteten sich vor Schock. „Alice“, rief sie, zum ersten Mal in ihrem Leben entsetzt darüber die Schwarzhaarige zu sehen. Ihre beste Freundin sah ein wenig mitgenommen und verängstigt aus, aber rein körperlich schien es ihr gut zu gehen. „Carina. Gott sei Dank“, wisperte sie und tiefe Erleichterung erfüllte ihre Stimme. Carina verstand es nicht. Es war allein ihre Schuld, dass sich die 20-Jährige jetzt in dieser gefährlichen Situation befand. Und trotzdem schien Alice gerade einfach nur froh zu sein sie zu sehen. Carina konnte diese Freude nicht teilen. Ein eiskaltes Gefühl hatte ihr Herz ergriffen und ihre Augen huschten zu ihrem Peiniger, der dicht hinter ihrer Freundin stand und sie überlegen anlächelte. „Ich hatte dir gesagt, dass du es bereuen würdest mich so gereizt zu haben, Carina“, sagte er und zog im nächsten Moment seine Death Scythe. Elizabeth schrie erschrocken auf, als er seinen Griff um die – für sie fremde – Frau auf die Haare verlagerte und ihr stattdessen die dünne Klinge an den Hals hielt. Carina war zu erstarrt, um auch nur einen Ton von sich zu geben. Wenn er sie auf diese Art brechen wollte, dann funktionierte es. Seine Augen blitzten freudig auf, als er die nackte Angst in ihren Augen sah. „Halt sie da raus“, hauchte sie, fand ihre Stimme irgendwie wieder. „Ich bin diejenige, die du willst. Sie hat damit nichts zu tun.“ „Oh doch, das hat sie. In dem Moment, in dem du sie in alles eingeweiht hast, hast du sie in diese Sache mit reingezogen“, erwiderte er kalt. „Hör nicht auf ihn, Carina“, sagte Alice, wobei sie darauf achtete ihren Kehlkopf nicht allzu sehr zu bewegen. „Du hast an nichts von dem hier Schuld. Er allein ist der Verantwortliche. Er war es die ganze Zeit.“ „Ruhe“, schnauzte der Schwarzhaarige und drückte die Klinge ein wenig näher an ihre Kehle, sodass nun ein dünnes Rinnsal Blut über ihren Hals nach unten lief. „Nein“, schrie die 19-Jährige, während sie nun richtig anfing zu zittern. So stark, dass die Ketten um ihre Gelenke anfingen zu klirren. „Lass sie in Ruhe.“ „Bettel darum“, zischte er ihr entgegen und jeder im Raum konnte hören, was für ein abartiges Vergnügen ihm all das bereitete. Carina zögerte nicht eine Sekunde. Sie warf sich von ihrer sitzenden Position nach vorne auf ihre Knie, die Hände schlotternd auf dem Boden abgestützt. „Bitte“, flehte sie leise und Alice sah entsetzt dabei zu, wie ihre beste Freundin jeglichen Stolz über Bord warf. Ihretwegen. Den Stolz, den sie an ihr immer so bewundert hatte. „Ich flehe dich an, lass sie gehen. Ich tue alles, ich schwöre es. Ich lasse mich von dir brechen, mach mit mir, was du willst. Schlag mich, vergewaltige mich, ist mir egal. Aber bitte lass sie gehen. Sie ist unschuldig. Bitte. Bitte…“ Ihre Stimme wurde zum Ende hin immer leiser, bis es nur noch ein klägliches Wimmern war, das in dem winzigen Raum widerhallte. Elizabeth hatte wieder leise zu weinen begonnen und sich die Hände vor die Augen geschlagen, ansonsten war nichts zu hören. Carina behielt seine Augen die ganze Zeit über im Blick, doch in den phosphoreszierenden Seelenspiegeln gab es nicht die kleinste Regung, nicht das geringste Anzeichen woraus sie schließen konnte, was er dachte. „Bitte“, flüsterte sie ein weiteres Mal, doch noch im gleichen Moment erkannte sie, dass es ihn vollkommen kalt ließ. Dass er ihr Flehen nicht erhören würde. „Carina“, erklang plötzlich Alice’ Stimme und sofort wandte die Schnitterin ihr den Blick zu, erstarrte noch mehr vor Angst. Eine einzelne Träne lief ihrer Freundin über die Wange. Aber das, was Carina wirklich solche Angst machte, war, dass sie lächelte. Ein kleines, sanftes Lächeln. Ein Abschiedslächeln. Es war nicht so, dass Alice keine Angst hatte. Die hatte sie. Aber jetzt, wo sie Carina so vor sich sah, auf den Knien, um das Leben von ihr flehend, da befand sie, dass es genug war. Dass es gut war. Sie erinnerte sich an die letzten Jahre. Die aufgeweckte junge Frau hatte wieder Freude in ihr Leben gebracht. Sie hatte sie daran erinnert, wie es war eine beste Freundin zu haben. Einen Menschen, für den es sich zu leben lohnte. Die Schwarzhaarige erinnerte sich an die letzten Wochen. Nie hatte sie in ihrem Dasein als Shinigami mehr Spaß gehabt. Sie dachte an Lily und sogar an Grell. An ihre gemeinsamen Tage in dieser Hütte. An all die schönen Stunden. Und sie dachte an ihre Familie. An John und Jamie. Wie hatte Carina damals bei ihrem Gespräch noch gesagt, als sie geweint hatte, dass sie die Beiden nie wiedersehen würde? „Ich schätze das werden wir wohl erst herausfinden, wenn es soweit ist.“ Ihr Lächeln wurde ein ganz kleines bisschen breiter. Vielleicht war dieser Zeitpunkt nun gekommen. Sie sah Carina direkt in die Augen, versuchte all ihre Gefühle in die nächsten Worte zu legen. Ihre letzten Worte. „Danke. Für alles. Ich liebe dich, Carina.“ Angesprochene begann zu weinen. „Alice… Bitte nicht. Sag es nicht…“ Die Schwarzhaarige tat einen tiefen Atemzug. Und dann sagte sie das, wovor Carina sich am meisten fürchtete. „Lebewohl.“ Es passierte so schnell, dass Carina nicht einmal dazu fähig war zu schreien. Dennoch geschah es gleichzeitig wie in einer Art Zeitlupe. Blut, Unmengen von Blut spritzten vor ihr auf den Boden. Dicke, rote Tropfen flogen ihr auf die Wangen. Sie nahm gar nichts anderes mehr wahr. Nicht, wie Elizabeth in ihrer Ecke die Hände fester auf das Gesicht presste. Nicht, wie Mr. Crow genugtuend lachte. Nicht, wie der Körper ihrer besten Freundin mit einem dumpfen Geräusch zu Boden fiel. Alles, was sie noch sah, war ihr Gesicht. Ihre Haare, die immer noch in dem festen Griff ihres Entführers hingen. Was Carina da sah, raubte ihr beinahe den Verstand. [...] Der Schock des grauenhaften Anblicks fiel von Carina ab, ganz plötzlich, als wäre er nie da gewesen. Und dann fühlte sie, wie ein Schalter in ihrem Gehirn umgelegt wurde. Als sie realisierte, was er getan hatte. Dass Alice – die gute, die liebe Alice – tot war. Endgültig und für immer. Carina krümmte sich keuchend vorne über und erbrach sich auf dem Boden. Erst dann kam der Schrei, und er war so laut, dass er die Luft zerriss. Sie schrie und brüllte und schrie immer weiter, bis sie das Gefühl hatte ihre Lungen würden bersten. Das konnte nicht sein! Das war nicht wahr! Das passierte nicht… [...] Warum nur Alice? Warum, warum nicht sie selbst? Sie spürte, wie ihr Herz brach. Wie einfach alles egal wurde. Das hier war allein ihre Schuld… Der Todesgott lächelte, als er sehen konnte wie das Licht in den Augen der Schnitterin erlosch. Diesen Ausdruck hatte er schon so oft gesehen und er wusste ganz genau, was er bedeutete. Vorfreudig zückte er erneut seine Sense und ging auf die Blondine zu. Jetzt würde er sich endlich holen, was er schon so lange begehrte. Und niemand würde ihn aufhalten. Jetzt nicht mehr. Kapitel 68: Zusammentreffen I ----------------------------- Es war ihr egal. Es war ihr egal, dass er mit seiner Death Scythe tief in ihren Oberarm schnitt. Es war ihr egal, dass gleich darauf gelbgrüne Cinematic Records rasend schnell durch den Raum flogen. Es war ihr egal, dass er sie mit einem sonderbaren kleinen Gerät einscannte und die Kopie anschließend in einer kleinen Filmdose verstaute. Carina war das alles vollkommen egal! Was machte es schon, wenn er bekam was er wollte? Was kümmerte sie es schon, wenn genau in diesem Moment die Welt untergehen würde? Das war sie für sie persönlich doch bereit, als ihr ehemaliger Lehrer ihre beste Freundin enthauptet hatte. Die Schnitterin bemerkte nicht einmal, wie er leise lachend den Raum verließ und die schwere Tür mit einem dumpfen Dröhnen wieder im Schloss einrastete. Immer noch hielt sie Alice’ Kopf fest in ihren Armen, wich jedoch dem Blick dieser starren, leeren Augen aus. Elizabeth hatte inzwischen die Hände von ihrem Gesicht genommen und betrachtete den grauenhaften Anblick vor sich. Obwohl sie für ihr Alter schon relativ viel gesehen hatte und auch nicht zimperlich war, was den Anblick von Blut und abgetrennten Körperteilen betraf, konnte dennoch keiner sie auf dieses schreckliche Bild vorbereiten. Die blonde Frau kniete halb zusammengesunken auf dem blutbespritzten Boden, den abgetrennten Kopf der Schwarzhaarigen dicht an ihren Körper gepresst. Aber nicht nur der Boden war vollkommen in Rot getaucht, auch das ehemals blaue Kleid der Schnitterin war mittlerweile mit riesigen roten Flecken bedeckt. Die seltsamen gelbgrünen Augen der Frau, die Elizabeth sogar in dieser Dunkelheit klar und deutlich sehen konnte, hatten ihren Glanz verloren. „Sie steht unter Schock“, dachte die Midford traurig. Vermutlich bemerkte sie nicht einmal mehr, dass sie immer noch schrie. Doch auch die Schreie wurden nach mehreren Minuten leiser. Nicht etwa, weil Carina damit aufhörte. Es war vielmehr der Tatsache geschuldet, dass ihre Kehle inzwischen so rau und überanstrengt war, dass sie langsam den Geist aufgab. Auch die Tränen versiegten mit der Zeit, sodass die 19-Jährige jetzt nur noch lediglich auf dem Boden saß und ihr Körper automatisch immer wieder vor- und zurückwippte. „Carina“, wisperte Elizabeth zaghaft und erneut kullerten ihr zwei große Tränen über die Wangen. Gott, was hatte dieser Mann nur angerichtet? Carina zeigte keinerlei Reaktion. „Es wird alles gut“, rief Elizabeth nun ein wenig lauter und wiederholte somit die Worte, die die Shinigami ihr vor ein paar Stunden selbst gesagt hatte. „Sie hört mich nicht“, ging es ihr verzweifelt durch den Kopf, als erneut keine sichtbare Reaktion erfolgte. „Ciel wird uns retten. Ganz sicher“, flüsterte sie. Er musste einfach! Die junge Mutter war unterdessen in ihrer ganz eigenen Welt gefangen. Es war, als wäre der kerkerähnliche Raum um sie herum verschwunden und hätte einer alles verschlingenden Dunkelheit Platz gemacht, die sich nun hartnäckig an sie klammerte. Sie zu ersticken drohte. Alles, woran sie fortwährend denken konnte, war Alice. Sie konnte sich mit erschreckender Klarheit an alles erinnern. An die ganze Geschichte, die ganzen Worte, die sie beide miteinander geteilt hatten. An ihre allererste Begegnung beispielsweise. „Du musst die Neue sein, richtig?“ „Ja, mein Name ist Carina. Freut mich.“ „Alice.“ Mit Alice war es von Anfang an so leicht gewesen. Normalerweise brauchte sie bei neuen Bekanntschaften immer ein wenig Zeit, um mit diesen warm zu werden und sich auf sie einzustellen. Nicht so bei der quirligen Schwarzhaarigen. „Du kannst dich zu mir setzen, wenn du magst.“ Die Rezeptionistin hatte sie vom ersten Tag an gemocht und das hatte auf Gegenseitigkeit beruht. Sie war so schnell zu ihrer Freundin geworden, dass Carina es zu Anfang gar nicht richtig realisiert hatte. Die Schwarzhaarige war zu einem festen Bestandteil ihres Lebens geworden. Immer hatte sie ihr von ihrem Arbeitsplatz aus zugewunken, wenn sie mal wieder Schicht gehabt hatte. „Komm bald wieder und pass auf dich auf.“ Das hatte sie zu ihr gesagt, kurz bevor sie und Ronald zu der Campania aufgebrochen waren. Danach hatte die 20-Jährige wochenlang um sie bangen müssen, hatte nicht gewusst, was mit ihrer Freundin passiert war. Carina hatte sich nach ihrer Rückkehr so sehr gefreut Alice wiederzusehen. Die Sorge ihrer besten Freundin hatte ihr dabei geholfen, das ganze Vorrangegangene besser verarbeiten zu können. „Du dumme Kuh! H-hast du eigentlich eine Ahnung, was für Sorgen ich mir gemacht habe? I-ich dachte wirklich, d-dass du tot bist.“ Und selbst, nachdem sie Wochen später der Schwarzhaarigen die ganze Wahrheit gebeichtet und zugegeben hatte sie angelogen zu haben, hatte sie nicht einen Moment lang gezögert und weiterhin fest hinter der Schnitterin gestanden. „Wie lautet der Plan und wie kann ich helfen? Also ernsthaft Carina, dachtest du wirklich ich würde dich aufhalten wollen? Du bist meine beste Freundin. Ich will, dass du glücklich bist. Und wenn dieses Baby dich glücklich macht, dann werde ich dich so gut es geht unterstützen.“ Selbst, als sie den Entschluss gefasst hatte zu gehen… „Es würde mich freuen die Patentante von deinem Baby zu werden.“ Und auch, als sie nach ihrer erneuten Begegnung mit Cedric am Boden zerstört gewesen war, hatte Alice ihr den Rücken gestärkt. „Vergiss diese Claudia und hab mal ein wenig mehr Selbstvertrauen. Du bist stark, du bist schön und wirst in nicht allzu ferner Zukunft die Mutter seines Kindes sein. Alles genug Gründe, dass er sich für dich entscheiden wird.“ Ohne ihre Unterstützung hätte Carina all das nie im Leben überstanden. Und wie oft die Schwarzhaarige ihr in der Schwangerschaft geholfen hatte. Seien es Tipps, das Abnehmen von Arbeit oder einfach nur gutes Zureden. Sie hatte sich stets auf sie verlassen können. „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich dich in den letzten Wochen noch alleine lassen würde?“ Sie hatte sogar einen Nervenzusammenbruch für sie vorgetäuscht, um während des letzten Monats ihrer Schwangerschaft bei ihr bleiben zu können. Hatte sie ermutigt, als die Blondine ihr von ihrer Angst bezüglich der baldigen Geburt erzählt hatte. „Das ist doch ganz normal. Nenn mir eine Frau, die keine Angst vor der Geburt hat.“ Und als es dann endlich soweit gewesen war, war sie an ihrer Seite geblieben. Die ganzen langen, unerträglichen 20 Stunden war Alice nicht von ihrer Seite gewichen. Niemals hätte sie die Geburt ohne sie heil überstanden, das wusste sie! „Es wird nicht mehr lange dauern, Carina. Du hast es bald geschafft, da bin ich sicher.“ „Mach genau so weiter. Und bloß das Atmen nicht vergessen.“ „Du hast es fast geschafft. Jetzt nicht nachlassen.“ „Herzlichen Glückwunsch, Carina.“ Alice hatte sie gerettet. In jeglicher Hinsicht, wie man einen anderen Menschen nur retten konnte. Und jetzt… „Danke. Für alles. Ich liebe dich, Carina.“ „Lebewohl.“ Jetzt war sie tot. Sie war gegangen, für immer, und Carina war dazu verdammt weiter zu leben. Nie wieder würde sie ihre Stimme hören, nie wieder ihr Lachen. Nie wieder konnte sie sich mit Grell über die kleinste Kleinigkeit streiten, nie wieder würde sie an ihrer Seite und für sie da sein. Nie wieder würde sie mit ihr sprechen… Und es war allein ihre Schuld! Hätte sie sich nicht von Mr. Crow gefangen nehmen lassen, wäre das alles nicht passiert! Hätte sie ihre Dolche dabei gehabt, als sie die Wäsche raus gebracht hatte, dann hätte sie sich gegen ihn wehren können! Hätte sie ihn nicht so provoziert und ihn einfach mit ihrem Körper machen lassen, was er wollte, dann könnte Alice noch leben! Und nun hatte ihr Lehrer endlich das bekommen, was er schon so lange wollte. Bei Carinas Glück wären ihre Aufzeichnungen auch noch lesbar und der Todesgott würde nach all den Jahren endlich einen Weg finden in seine eigene Zeit zurückzukehren. Aber vorher würde er in diese Zelle zurückkommen und sie umbringen. Und wenn das passierte… dann wäre Alice’ Tod wahrlich vollkommen sinnlos gewesen. Aber hatte sie den Tod nicht verdient? Vielleicht war das die Strafe dafür, dass sie auf ganzer Linie versagt hatte. Vielleicht wäre es besser, wenn sie nicht mehr da wäre. Wer würde sie denn schon vermissen? Der Einzige, der jetzt noch um sie trauern konnte, war Grell und er wäre ohne sie auch besser dran. Ohne sie würde er sich nicht weiterhin des Verrates am Dispatch schuldig machen. Es wäre vielleicht am Anfang schwer für ihn, aber er war stark! Er würde sich schon wieder fangen. Was machte es also schon, wenn sie starb? „Du dumme Kuh“, hallte es urplötzlich in ihrem Kopf wieder. Diese Stimme… diese Stimme, die sie sich definitiv einbildete, klang erschreckend genau nach Alice. „Denk an Lily. Soll sie etwa ohne ihre Mutter aufwachsen?“ Lily… Ein Bild schob sich vor Carinas inneres Auge. Das Bild ihrer kleinen, süßen Tochter. „Lily“, dachte sie und es war der erste klare Gedanke, den sie seit Stunden fassen konnte. Ihr Baby, ihr Mädchen… Sie dürfte sie nicht allein lassen! Das konnte sie ihr nicht antun, das ging nicht! Ihr Verstand klärte sich ein Stück weit und dort, wo bis zuletzt die Dunkelheit gewesen war, konnte sie nun wieder ihre Umgebung erkennen. Mit leeren Augen schaute sie auf Alice’ Kopf hinab, der immer noch in ihrem Armen ruhte, und auf das ganze Blutspektakel. Unter normalen Umständen hätte sie sich vermutlich ein weiteres Mal übergeben, aber in ihrem Bauch und in ihrer Brust klaffte lediglich ein großes, schwarzes Loch. Träge wanderte ihr Blick nach vorne, zu der blutüberströmten Leiche, die Mr. Crow wie Abfall hatte fallen lassen. Erst jetzt fiel Carina das Medaillon auf, das sie ihrer Freundin zu Weihnachten geschenkt hatte. Anscheinend war es ihr nach ihrem Tod vom Hals gerutscht, denn jetzt lag es auf halbem Weg geöffnet auf dem Boden. Und wie Carina es sich damals vorgestellt hatte, war ein kleines Bild dort aufbewahrt worden. Sie selbst stand mit Lily im Arm vor der Hütte, direkt hinter ihr Alice und Grell. Alle grinsten in die Kamera, die Grell damals auf einen kleinen Tisch gestellt hatte, um anschließend die Selbstauslösung zu aktivieren. Der Rothaarige machte natürlich seine Death-Pose, während Alice eine Hand auf Carinas Schulter abgelegt hatte und mit der anderen fröhlich winkte. Die Tränen, die nun erneut über ihre Wangen strömten, brannten in ihren Schürfwunden. Überraschenderweise war es die plötzliche Wut in ihrem Inneren, die Carina aus ihrer Schockstarre herausholten. Mr. Crow hatte dieses Bild für immer zerstört. Es war das einzige Foto, das in dieser Form jemals existieren würde. Alice würde nie wieder mit ihnen zusammen ein Foto machen können. Lily würde ihre Patentante niemals richtig kennenlernen. Sie würde sich nicht an die kurze, gemeinsame Zeit mit ihr erinnern. Es war ungerecht! Ungerecht, weil Alice so viel für ihre kleine Maus getan hatte. Nein, sie dürfte jetzt hier nicht sterben! Sie musste dafür sorgen, dass ihre Tochter eine Mutter hatte und behütet aufwuchs und irgendwann erfuhr, dass sie eine Patentante gehabt hatte, die sie über alles geliebt hatte. „Und er wird büßen“, dachte sie, während sich eiskalter Hass durch ihre Adern fraß, wie sie es noch nie erlebt hatte. Nicht einmal auf die Männer, die sie in den Selbstmord getrieben hatten, war sie so zornerfüllt gewesen. Wenn sie hier herauskam, würde sie ihn in der Luft zerreißen. Sie würde dafür sorgen, dass er niemals in seine Zeit zurückkehrte und wenn es das Letzte war, was sie tat! Carina wollte ihn tot sehen. Und eins stand fest, dieses Mal würde sie dies im Nachhinein ganz sicher nicht bereuen. Elizabeth zuckte zusammen, als die Blondine gegenüber von ihr sich mit einem Mal bewegte und ganz sanft den Kopf in ihrem Armen zu Boden sinken ließ. „Oh Gott sei Dank“, murmelte sie erleichtert, erstarrte aber sogleich, als sie den Ausdruck in den Augen der 19-Jährigen sah. Dieser hasserfüllte Blick… seltsamerweise erinnerte Carina sie gerade an Ciel. Ihr Verlobter hatte diesen Blick auch schon einige Male gehabt und Elizabeth gefiel das ganz und gar nicht. Keine Frage, sie liebte Ciel, aber diese Seite an ihm machte ihr irgendwie Angst. Wenn er wütend war, dann wirkte er immer so unberechenbar. Und genau dieses Gefühl strömte Carina gerade auch aus und zwar in rauen Mengen. „Wir müssen hier rauskommen“, sagte die Schnitterin in diesem Moment und richtete sich leicht auf, das Blut an ihrem ganzen Körper vollständig ignorierend. „Ich kann nicht darauf warten, dass uns irgendjemand retten kommt. Sobald er die Aufzeichnungen entwickelt hat, wird er kommen und uns beide töten. Wir müssen selbst einen Weg hier raus finden.“ „Aber wie?“, fragte Elizabeth und zog einmal kräftig an ihren Ketten, die natürlich nach wie vor standfest blieben. Carinas Blick glitt in den vorderen Teil des Raumes zu ihrer Death Scythe. „Wenn ich nur mein Katana hätte“, seufzte sie und verfluchte die Welt tausendfach dafür, dass sie den Shinigami nicht die Gabe der Telekinese geschenkt hatte. Die könnte sie nämlich jetzt einmal in ihrem Leben wirklich gut gebrauchen. „Selbst das würde nichts bringen“, seufzte nun auch Elizabeth, woraufhin Carina sie zum ersten Mal seit Stunden wieder ansah. Die Verwirrung stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. „Na ja“, meinte die Midford, „ich habe bereits versucht diese Fesseln mit meinem Degen zu öffnen, aber da ließ sich nichts machen. Sie sind einfach zu robust.“ „Das wäre kein Problem“, entgegnete die Schnitterin ohne nachzudenken, „mein Schwert bekommt alles durchtr-“ Sie hielt mitten im Satz inne, als sie die Worte der Adeligen Revue passieren ließ. „Moment mal. Du hast deinen Degen dabei?“ Elizabeth nickte und zog, wie von Geisterhand, ihre versteckte Waffe aus dem Kleid hervor, wie sie es damals bereits auf der Campania getan hatte. Carina – die sich nur schwer die Frage verkneifen konnte, wie man den Degen unter einem Kleid verstecken konnte – fragte stattdessen: „Mr. Crow hat ihn dir nicht abgenommen?“ Elizabeth schüttelte den Kopf. „Nein, hat er nicht. Ich war zwar einige Zeit bewusstlos, aber er scheint mich auch da nicht durchsucht zu haben.“ „Typisch“, murmelte die 19-Jährige. Das sah diesem Drecksack ähnlich. Einfach so eine Frau zu unterschätzen. Er hatte es damals in ihrem Unterricht getan und tat es jetzt erneut. Dabei müsste er es doch auch seiner eigenen Zeit eigentlich besser wissen. Ein weiteres Mal fiel ihr Blick auf ihre Death Scythe. „Wirf ihn mir mal rüber. Ich habe da so eine Idee.“ Elizabeth zögerte kurz. „Du… du willst dir aber nichts antun, oder?“ Carina seufzte. „Eine Waffe dieser Art kann mich nicht umbringen, kleines Mädchen“, dachte sie, sagte aber laut: „Natürlich nicht. Ich habe noch eine offene Rechnung, die ich begleichen muss.“ „In Ordnung“, gab die 15-Jährige schließlich nach und warf ihre einzige Waffe mit einer ziemlichen präzisen Bewegung auf die anderen Seite des Raumes, wo Carina sie gekonnt auffing. „Du bist wahrhaftig die Verlobte des Wachhundes der Königin“, sagte die junge Frau und wollte lächeln, was ihr allerdings reichlich misslang. Der Hass und diese unglaubliche Wut waren momentan das Einzige, was sie aufrecht hielten. Wer wusste schon, was sie tun würde, sobald sie dieser Situation entflohen war? „Konzentrier dich“, ermahnte sie sich selbst. „Du hast nur diese eine Chance. Nutze sie!“ Sie atmete einmal tief durch, ein und wieder aus, bevor sie den Griff um den Degen festigte und mit verengten Augen zu zielen begann. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Nach wie vor schmerzte ihr ganzer Körper. Die Schnittwunden begannen zwar teilweise schon zu verheilen, aber die Knochenbrüche machten ihr zu schaffen. Aber das war ihr egal. Sobald sie Mr. Crow gegenüberstand, wäre all das vergessen, das wusste sie. Wenn sie eines stark machte, dann war es Rage. In diesem Zustand war sie fast zu allem fähig, das hatte sie bereits damals bemerkt, als sie die drei Mistkerle umgebracht hatte und auch, als sie auf der Campania gegen die Bizarre Dolls gekämpft hatte. Womöglich tatsächlich etwas, was sie mit ihren Vorfahren der Familie Phantomhive gemein hatte? „Finde dein Ziel“, flüsterte sie und warf den Degen mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte. Die dünne Klinge zischte durch Luft, beschrieb einen leichten Bogen und schlug dann tatsächlich mit derart viel Druck gegen ihre Death Scythe, das diese ihren Halt an der Wand verlor und halb durch den Raum schlitterte, um anschließend knapp hinter der Liege zum Stehen zu kommen. „Verflucht“, knurrte sie verärgert. Das würde verdammt eng werden. Soweit es ihre Ketten zuließen, kroch sie nach vorne. Sie machte ihre Arme so lang sie konnte, ihre Fesseln rieben dabei unangenehm über ihre ohnehin schon aufgescheuerten Handgelenke. Doch schließlich schaffte sie es mit einiger Anstrengung den Griff ihres Katana mit den Fingerspitzen zu berühren, sodass sie es mit einigen Anläufen näher zu sich ziehen konnte. „Gott sei Dank“, stöhnte sie erleichtert auf und zog die blitzende Klinge aus ihrer Schwertscheide. Mr. Crow würde es bitter bereuen, dass er so dumm gewesen war und ihre Death Scythe nicht vor ihr versteckt hatte, dafür würde sie schon sorgen. Fassungslos sah Elizabeth ihrer Zellengenossin dabei zu, wie sie mit diesem seltsamen Schwert die Ketten zerteilte, als wären sie aus heißer Butter gemacht. „Wie machst du das?“, hauchte sie fasziniert, während Carina endlich aufstehen konnte und sich die schmerzenden Gliedmaßen rieb. „Das sollte dir besser dein Verlobter verraten“, antwortete sie und löste nun auch die Fesseln der Adeligen. „Steh auf. Es wird Zeit, dass wir von hier verschwinden und die Sache selbst in die Hand nehmen.“ „Und du bist dir auch sicher, dass wir hier richtig sind, Sebas-chan?“, fragte Grell zweifelnd, während die Gruppe – bestehend aus zwei Todesgöttern, einem Teufel und einem kleinen Jungen – durch einen dichtbewachsenen Wald rannte. „Natürlich“, erwiderte der Butler kühl. Ciel, der von seinem Diener getragen wurde, gab ebenfalls seinen Kommentar dazu ab. „Sebastians Spürsinn ist ungeschlagen, das kann ich euch versichern. Scheinbar habt ihr Shinigami ja nicht allzu viel Ahnung davon.“ „Wir sind dazu berufen Seelen einzusammeln und nicht dazu, sie aufzuspüren und zu verschlingen“, fauchte Grell. Dieser ungezogene Bengel nahm den Mund wirklich viel zu voll. So langsam konnte er nachvollziehen, warum Carina ihn nicht leiden konnte… Cedric sagte nichts, sondern konzentrierte sich viel mehr auf seine Umgebung und die Bäume, die um sie herum immer dichter zu werden schienen. Außerdem gefiel ihm der Gedanke weiterhin nicht, dass sie seine Tochter bei der Zofe von Elizabeth Midford gelassen hatten, die Sebastian in Windeseile zu der kleinen Hütte gebracht hatte. Die junge Brünette schien zwar vertrauensvoll zu sein und sich auch gut mit Kindern auszukennen – ganz im Gegensatz zu ihm selbst – aber trotzdem hatte er seine Bedenken gehabt. Wodurch er zum ersten Mal mit Grell ein und derselben Meinung gewesen war. Erst, als Ciel vollkommen entnervt bei seiner Ehre und seinem Status als Earl Phantomhive geschworen hatte, dass dem Baby nichts passieren würde, hatten die beiden Todesgötter sich besänftigen lassen. Seine Tochter… „Da vorne“, bemerkte Sebastian und lenkte somit die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf eine kleine Ausbuchtung am Beginn eines höher werdenden Hügels. Mit zwei Handgriffen schob er Äste und grünes Moos beiseite, sodass schließlich eine Art Luke zum Vorschein kam. Grells Finger berührten den massiven Stahl. „Sieht aus wie der Eingang zu einem unterirdischen Bunker. Vielleicht noch aus früheren Kriegszeiten?“ Ciel schüttelte sogleich den Kopf. „Das kann nicht sein. Ich kenne alle unterirdischen Bunker in ganz England.“ Grells warf ihm einen ungläubigen Blick zu, woraufhin der Junge leicht rosa anlief. „Was denn, ich bin der Wachhund der Königin!“, verteidigte er sich sogleich. Sebastians behandschuhte Finger legten sich nachdenklich an sein Kinn. „Wenn ihr darüber nicht Bescheid wisst, junger Herr, dann heißt das lediglich eines. Nämlich, dass dieser Bunker nicht von Menschenhand errichtet wurde.“ „Scheint, als wären wir hier tatsächlich richtig“, entgegnete Cedric und bevor der Dämon ihm zuvor kommen konnte, hatte er bereits seine Sense gezückt und stieß sein Schneideblatt mitten durch die Luke hindurch. Ein unschönes Ächzen und Quietschen ertönte, als er seine Death Scythe wieder zurückzog und die gesamte Konstruktion aus ihrer Halterung herausriss. „Nun, so geht’s natürlich schneller“, meinte Grell trocken und Ciel sah gegen seinen Willen beeindruckt aus. Sebastian verengte lediglich seine roten Augen. Immerhin hatte er am eigenen Leib erfahren, zu was diese Sense alles fähig war. Die phosphoreszierenden Augen des Silberhaarigen blitzten in der aufkommenden Dunkelheit der baldigen Nacht auf. „Gehen wir.“ Grell nickte entschlossen und zog seine Todessense nun ebenfalls. „Holen wir Carina da raus und machen dieses Schwein fertig.“ „Sebastian. Elizabeths Sicherheit hat die oberste Priorität, verstanden? Ich befehle dir sie da heil rauszuholen.“ Der Butler verneigte sich lächelnd. „Jawohl, junger Herr.“ Cedric konnte sich ein kleines, schmales Lächeln nicht verkneifen. Zwei wütende Todesgötter und einen Teufel, der alles tun würde, um den Befehl seines Meisters auszuführen? Dieser Crow hatte ja nicht die geringste Ahnung, worauf er sich da eingelassen hatte… „Wie sollen wir hier nur jemals rauskommen?“, stöhnte Elizabeth genervt auf, was Carinas Laune sogar kurz aufhellte. Das war ja jetzt ausnahmsweise mal gar nicht so ladylike… Als sie die Tür geöffnet hatte, hatten die beiden Frauen sich in einem engen Flur wiedergefunden, der mehrere Abzweigungen hatte. Auf gut Glück waren sie losmarschiert, aber mittlerweile taten sich immer mehr Kreuzungen auf, neue Gänge kamen im Minutentakt hinzu. Einige Türen hatte sie bereits ausprobiert, doch dahinter befanden sich meistens nur Abstellkammern, Gefängniszellen und einfache Schlafzimmer. Ein einziges Labor hatte Carina gefunden, das allerdings schon lange nicht mehr benutzt worden war. Das hier schien ein äußerst vertracktes Netzwerk aus verschiedenen Räumen, Tunneln und Fluren zu sein. „Ob er sich das in den letzten Jahrhunderten selbst aufgebaut hat? Zuzutrauen wäre es ihm ja in seinem Fanatismus.“ „Wir finden schon einen Weg, keine Sorge. Noch weiß er nicht, dass wir entkommen sind. Aber das kann sich jeden Moment ändern. Also sollten wir so viel wie möglich über seinen Unterschlupf herausfinden, bevor er uns suchen kommt.“ „Klingt nach einem Plan“, erwiderte Elizabeth. „Allerdings gefällt es mir immer noch nicht, wie das ausgehen wird.“ „Wovon sprichst du?“, erwiderte Carina, während sie gleichzeitig alle Türen zu beiden Seiten des Flures betrachtete. „Du willst ihn töten, nicht wahr?“ Das Mädchen schaute sie mit ernster Miene an und die Schnitterin konnte einfach nicht anders, als ihr die Wahrheit zu sagen. „Ja.“ „Das verstehe ich“, antwortete die Adelige ruhig. „Aber kannst du ihn besiegen? Er scheint stark zu sein. Was, wenn du ihm nicht gewachsen bist?“ „Gute Frage. Die ich aber leider nicht beantworten kann. Bisher hat er sich mir immer nur entgegengestellt, wenn ich nicht damit gerechnet habe oder nicht dazu bereit war. Aber dieses Mal nicht.“ Die unsagbare Wut packte sie erneut. „Diesmal nicht“, flüsterte sie. Die Shinigami schritt mit der kleinen Fechterin weiter den Gang entlang, bis eine bestimmte Tür im Vorbeigehen ihre Aufmerksamkeit erregte. Auch Elizabeth bemerkte es. „Hier war vor kurzem noch jemand. Da ist kein Staub auf der Türklinke.“ „Du hast ein scharfes Auge, Verlobte des Wachhundes der Königin“, entgegnete Carina, denn auch ihr war dieser Umstand durchaus aufgefallen. Außerdem schien diese Tür generell etwas anders zu sein, als die anderen. Der Spalt, der sich normalerweise zwischen einer Tür und dem Boden befand, war hier nicht vorhanden und das musste einen Grund haben. Zielgerichtet erfasste sie die Klinke und drückte sie hinab, woraufhin die Tür sich widerstands- und geräuschlos öffnete. „Noch ein Zeichen dafür, dass hier vor kurzem jemand drin war. Sie quietscht nicht, wie zum Beispiel die Tür im Labor vorhin.“ Carinas Augen weiteten sich, als sie unendliche Dunkelheit sah – oder eben nicht sah – die sich in diesem Raum befand. Ihr Gehirn brauchte nicht lange, um die einzelnen Gedankenstränge miteinander zu verknüpfen. „Hier sind wir richtig“, knurrte sie und trat ohne zu zögern in die Dunkelheit hinein. Elizabeth folgte ihr nur sehr langsam. Ihre menschlichen Augen gewöhnten sich nur nach und nach an die Schwärze. „Was meinst du?“ „Ach ja, das kannst du ja nicht wissen.“ Carina seufzte. Sie war eigentlich nicht so gut in Erklärungen über die Zukunft, aber sie versuchte es trotzdem einmal. „Das klingt jetzt vielleicht ziemlich verrückt in deinen Ohren, aber es gibt Fotos… nein, warte… besser sage ich Bilder, die sich bewegen. Die sozusagen eine Situation wiedergeben-“ „Meinst du diese neue Erfindung, die es vor zwei Jahren gab?“, unterbrach die Adelige sie, woraufhin die 19-Jährige sie fragend ansah. „Dieser Franzose, seine Name war glaube ich Louis Le Prince, entwickelte doch in Leeds, also hier in England, so etwas. Er nannte es Filmkamera mit nur einem Objektiv. Und 1888 drehte er damit diese bewegten Bilder. Das stand ganz groß in der Zeitung.“ Carina hatte absolut keine Ahnung von der Geschichte und der Entwicklung des Films, aber wenn die Kleine ihr schon solch eine Vorlage lieferte, wäre sie dumm das nicht für sich ausnutzen. „Ganz genau, das meine ich. Und es gibt sozusagen eine Weiterentwicklung davon, so eine Art Streifen mit sehr vielen kleinen Bildern. Diese Bilder bewegen sich zwar nicht selbstständig, sind aber in solch kurzen Abständen hintereinander auf diesem Streifen zu sehen, dass es einem fast so vorkommt. Verstehst du?“ „Ich glaube schon. Klingt zwar tatsächlich ein wenig verrückt, aber warum solltest du lügen? Aber was hat das jetzt mit dieser Dunkelheit zu tun?“ „Damit man diese Bilder erkennen kann, müssen mit den Streifen einige Dinge gemacht werden. Ich kenne mich jetzt ehrlich gesagt nicht so gut mit den ganzen Fachdetails aus, aber eines weiß ich. Ganz zum Schluss müssen diese Bilder getrocknet werden. Und das wird gemacht, indem der nasse Film mit Klammern senkrecht in einem möglichst staubfreien und dunklen Raum aufgehängt wird.“ „Ich verstehe. Du willst diese… diese Bilder also holen?“ Carina nickte. Bei der Vorstellung wie rasend ihn das machen würde, breitete sich Genugtuung in ihr aus. Das wäre der erste Schritt zu ihrem Plan. „Eigentlich wäre es schlauer den Film sofort vollständig zu vernichten. Aber… das ist ein Teil meiner Vergangenheit. Vielleicht kann ich mit ihm endlich Antworten auf meine Fragen finden.“ Zielstrebig ging sie auf einen braunen Schrank zu, von dem sie wusste, dass er speziell dafür geeignet war die Filmstreifen schnell trocknen zu lassen. Tief durchatmend öffnete sie die doppelseitige Tür und nahm sogleich die schwarzen, länglichen Streifen in Augenschein. Der gelbgrüne Schein war komplett verblasst und Carina konnte mit einem Blick klar erkennen, dass es sich dabei um ihre eigenen Aufzeichnungen handelte. Was nicht sonderlich schwer, denn eines der kleinen Fenster zeigte sie selbst, als kleines Kind auf einem Fahrrad mit Stützrädern, ihren Vater dicht hinter ihr. Sie ignorierte den schmerzhaften Stich in der Brust, den der Anblick ihres Vaters, den sie so lange nicht gesehen hatte, in ihr auslöste und ergriff vorsichtig das Material. Während sie das Band vorsichtig aufrollte, suchten ihre Augen den Raum weiter ab und schon bald fand sie eines dieser kleinen Filmdöschen. Dort steckte sie den fertig aufgerollten Record hinein und verschloss ihn sorgfältig mit einem kleinen, grauen Deckel. „Ich werde dafür sorgen, dass dieser Mistkerl meine Aufzeichnungen niemals zu Gesicht bekommt“, murmelte sie und verstaute das Döschen seitlich in ihrem BH. Erst würde er sie töten müssen! „Wir sollten uns beeilen so schnell wie möglich von hier wegzukommen. Oder zumindest so weit weg von diesem Raum, wie es nur irgendwie geht“, sagte Elizabeth und sah unruhig zur Tür, als befürchtete sie Mr. Crow würden jeden Moment hindurch treten. Carina nickte zustimmend. „Gehen wir!“ Dummerweise hatte Carina sich gewaltig verrechnet. Natürlich, sie wusste, dass ihre Abwesenheit nicht lange verborgen bleiben würde, aber bereits 10 Minuten nachdem sie den Film eingesammelt hatten, ertönte ein knackendes Geräusch über ihnen, was beide Frauen zusammenzucken ließ. Carinas Kopf fuhr nach oben. Unterhalb der Decke befand sich ein glatter Kreis, der der jungen Frau seltsam bekannt vorkam. „Sieht aus wie eine Art Lautsprecher…“ Und bereits in der nächsten Sekunde sollte sich ihre Vermutung bewahrheiten, denn die laute Stimme ihres persönlichen Erzfeindes hallte laut durch den gesamten Bunker. Und er klang alles andere als erfreut. „Carina!“, grollte sein Knurren durch die Hallen und automatisch erfasste eine Gänsehaut den Körper der Angesprochenen. Scheinbar hatte er bereits bemerkt, dass sein Freifahrtsschein nach Hause nicht mehr dort war, wo er sein sollte. Und so war es auch. „Du hast da etwas, was mir gehört.“ Carina schluckte. Allein schon sein Tonfall war eine Drohung an sich. „Glaube mir, wenn ich dich in die Finger bekomme, dann wirst du dir wünschen niemals geboren worden zu sein.“ „Weiter“, drängte Carina ihre Vorfahrin, packte sie am Arm und gemeinsam rannten sie den Gang weiter entlang. Doch natürlich konnten sie seiner Stimme nicht entkommen. „Dagegen wird dir das, was ich bisher mit dir angestellt habe, wie ein Spaziergang vorkommen. Das verspreche ich dir. Du hinderst mich nicht an meinem Plan. Du nicht!“ „Das werden wir ja sehen“, zischte Carina, obwohl er sie natürlich nicht hören konnte. Aber sie würde auch keine Probleme damit haben ihm das direkt ins Gesicht zu sagen, wenn er schließlich live vor ihr stünde. „Ich werde dich rächen, Alice. Ich verspreche es dir!“ Mittlerweile hatten sie einen größeren Raum erreicht, der sogar noch über ein zweites Stockwerk verfügte. Zu beiden Seiten der oberen Etage gab es jeweils einen weiteren langen Flur. Diese liefen am anderen Ende des Raumes in einer Treppe zusammen, die runter zu ihnen führte. „Wie ihr schon bald bemerken werdet, habe ich ein paar meiner neuen Gehilfen losgeschickt, um euch wieder einzufangen. Dafür darfst du dich bei deinem Bestatter bedanken, der mir sozusagen die Idee dazu geliefert hat. Also macht euch keine Hoffnungen hier jemals lebend wieder rauszukommen.“ „Wovon spricht er da?“, keuchte Elizabeth, die bloße Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben. „Hoffentlich nicht, wovon ich denke, dass er spricht“, antwortete Carina. Es gab nur eine einzige Sache, die Mr. Crow sich von Cedric abgeguckt haben konnte. Eine einzige Sache, die Grell und Ronald damals ausführlich zu Protokoll gegeben hatten. Doch wie es so oft am heutigen Tag der Fall gewesen war, wurde ihre Hoffnung auch dieses Mal gnadenlos zerstört. Sie hörte sie, noch bevor sie sie sah. Obwohl Carina sie bereits so oft gesehen hatte, war es doch wieder ein Schock, die wandelnden Leichen hinter ihnen um die Ecke biegen zu sehen. Die Bizarre Dolls. „Verdammte Scheiße nochmal“, fluchte sie, was ihr einen tadelnden Blick von Elizabeth einbrachte. Aber sie hatten jetzt keine Zeit für Benimmunterricht, das sah selbst das jüngste Mitglied der Familie Midford ein. In einer fließenden Bewegung zog sie ihren Degen und richtete die Spitze nach vorne. Ihr Körper ging automatisch in die Grundstellung über. „Wir haben sie auf der Campania beseitigt, dann schaffen wir das auch noch ein weiteres Mal. Richtig?“ Carina grinste, zog ihre Death Scythe und stellte sich parallel zu ihr auf. „Richtig, Verlobte des Wachhundes der Königin.“ Die 15-Jährige verzog leicht den Mund. „Mein Name ist Elizabeth.“ „Nun gut, Elizabeth“, verstand die Schnitterin die stumme Aufforderung. „Gibst du mir Rückendeckung?“ Angesprochene lächelte leicht. „Nur zu gerne.“ „Mir gefällt das hier ganz und gar nicht“, gab Grell zu, während sie durch die stockdunklen Gänge wanderten. „Das hier scheint ja fast so etwas wie ein Labyrinth zu sein. Wie sollen wir die beiden denn hier nur jemals finden?“ „Na, mit unserem Seelendetektor natürlich“, grinste der Totengräber und handelte sich sogleich einen genervten Blick des Butlers ein. „Was sagen denn die Sinne, Teufel?“ Sebastian schloss kurz die Augen, als würde er um Beherrschung ringen. „Wir sind auf der richtigen Spur“, sagte er nur. Ciel schien von Minute zu Minute nervöser zu werden. „Wenn er Lizzy etwas angetan hat…“, zischte er und ließ den Satz unbeendet. Das brauchte er auch gar nicht, Grell und der Undertaker konnten sich das auch so ganz gut zusammenreimen. „Unterschätzt Eure Verlobte mal besser nicht“, grinste der Rothaarige. „Auf der Campania haben wir schließlich gesehen, dass sie um einiges besser allein zurecht kommt als ihr, nicht wahr?“ Ciel wurde rot im Gesicht und selbst Sebastian musste ein kleines Lächeln hinter seiner Hand verbergen. „Wo er Recht hat“, begann er, wurde aber mit einem einzigen Blick seines Meisters zum Schweigen gebracht. Alle Anwesenden zuckten ein wenig zusammen, als plötzlich eine laute Stimme durch die einzelnen Gänge hallte. „Carina!“ Cedric verengte die Augen, während Ciel sich suchend umschaute. „Ich sehe niemanden. Wo kommt diese Stimme her?“ „Hört sich an wie ein Lautsprecher“, meinte Grell angespannt. Ciel sah ihn nur fragend an. „Ein was?“ Der Reaper verdrehte die Augen. „Nicht so wichtig.“ „Du hast da etwas, was mir gehört“, erklang die Stimme erneut. Grell konnte einfach nicht anders, er grinste. „Scheint, als hat Carina die Sache selbst in die Hand genommen. Dieser Dreckskerl scheint sie aus den Augen verloren zu haben.“ Doch die nächsten Worte des Shinigami wischten das Grinsen restlos von seinen Lippen. „Glaube mir, wenn ich dich in die Finger bekomme, dann wirst du dir wünschen niemals geboren worden zu sein. Dagegen wird dir das, was ich bisher mit dir angestellt habe, wie ein Spaziergang vorkommen. Das verspreche ich dir. Du hinderst mich nicht an meinem Plan. Du nicht!“ Die beiden Todesgötter warfen sich einen Blick zu, der nur eines klar und deutlich zum Ausdruck brachte: Wenn sie diesen Kerl in die Finger bekämen, dann wäre er es, der sich wünschen würde niemals geboren worden zu sein! „Ich würde ja nur zu gerne wissen, von welchem Plan er da spricht“, murmelte Sebastian, während sie sich nun wieder in Bewegung setzten, dieses Mal schneller. Das fragte sich Cedric auch schon seit geraumer Zeit. Was für eine Erklärung mochte es wohl für das alles geben? „Wie ihr schon bald bemerken werdet, habe ich ein paar meiner neuen Gehilfen losgeschickt, um euch wieder einzufangen. Dafür darfst du dich bei deinem Bestatter bedanken, der mir sozusagen die Idee dazu geliefert hat. Also macht euch keine Hoffnungen hier jemals lebend wieder rauszukommen.“ Grell und Sebastian warfen besagtem Bestatter einen bösen Blick zu. Sie konnten sich schon ziemlich genau denken, um welche Idee es sich hier handelte. Cedric hingegen ignorierte die beiden, war er doch ebenfalls alles andere als begeistert. Die Bizarre Dolls waren sein Experiment! „Verflucht, nicht schon wieder“, regte sich Grell auf, als dann tatsächlich Dutzende von den wandelnden Toten in ihrem Sichtfeld erschienen. „Niemand bedroht ungestraft meine Verlobte. Sebastian, töte sie! Endgültig!“ „Jawohl, junger Herr“, wiederholte der Butler gehorsam und stürzte gleichzeitig mit den beiden Shinigami los. Es dauert nicht lange, da hatten die Drei in dem schmalen Gang aufgeräumt. „Das können nicht alle gewesen sein“, gab der Undertaker von sich. „Stimmt, mit denen wäre Carina spielend leicht fertig geworden“, erwiderte Grell. Genau in diesem Moment ertönten von nicht allzu weit weg ebenfalls Kampfgeräusche. „Lizzy“, flüsterte Ciel atemlos und rannte los, dicht gefolgt von Sebastian. „Könnten wir wirklich mal so viel Glück haben?“, murmelte Grell und lief ebenfalls los. „Finden wir es raus“, antwortete der Bestatter, Grell dicht auf den Fersen. Sie sprinteten zwei weitere Gänge entlang, bogen einmal links und dann schließlich wieder rechts ab, immer darauf bedacht, dass die Geräusche lauter wurden. „Da vorne“, rief Grell und deutete auf das Ende des Ganges, wo es heller wurde. Möglicherweise ein größerer Raum? Sebastian und Ciel erreichten den Ausgang als erstes. Vollkommen außer Atem klammerte sich der Earl an dem Geländer des oberen Stockwerks fest und ließ seinen Blick nach unten wandern. Er japste laut nach Luft und genau in diesem Augenblick erreichten auch Cedric und Grell die Brüstung. Mit dem, was sich unter ihnen abspielte, hatte wohl keiner so recht gerechnet. Unzählige der wandelnden Leichen lagen bereits blutüberströmt am Boden, die meisten davon ohne Kopf. Mindestens 20 weitere standen dicht gedrängt im Erdgeschoss und schritten alle in dieselbe Richtung. Lediglich ein kleiner Kreis am anderen Ende des Raumes wurde nicht von den Bizarre Dolls besiedelt. Und in diesem Kreis standen Carina und Elizabeth, Rücken an Rücken, beide Waffen hoch erhoben und kämpften. Und Herrgott, wie sie kämpften. Ihre Klingen wirbelten beinahe schon kunstfertig durch die Luft, durchschnitten alles, was in ihre Reichweite kam. Die Bewegungen der beiden Frauen wirkten routiniert und meisterhaft aufeinander abgestimmt. Als hätten sie es einstudiert, als würden sie schon Jahrzehnte Seite an Seite kämpfen. In diesem Moment sahen sie sich seltsamerweise irgendwie ähnlich. Ciel und Cedric öffneten den Mund, vergaßen jedoch vollkommen ihn wieder zu schließen. Während der Earl sich lediglich auf seine Verlobte konzentrierte, lagen die Augen des Silberhaarigen auf Carina. Ihre Hiebe waren erstaunlich schnell, die Beinarbeit nahezu perfekt. Ihre Haare – die, wie er jetzt erst bemerkte, nur noch schulterlang waren – wirbelten hinter ihrem Kopf umher, während sie gekonnt vor und zurück sprang, jede Bewegung der Leichen mit Argusaugen verfolgte und ihren Körper zum richtigen Zeitpunkt in die korrekten Richtungen neigte. Apropos Körper: Auch dieser hatte sich ganz eindeutig verändert. Ihre Rundungen traten nun deutlicher hervor und selbst aus dieser Entfernung konnte er mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass ihre Brüste größer waren als zuvor. Vermutlich alles Nebenwirkungen der Schwangerschaft. Blut spritzte um sie herum, berührte sie jedoch dank ihren schnellen Bewegungsabläufen nicht. Es hatte fast schon etwas Ästhetisches an sich. Plötzlich wummerte sein Herz ganz komisch in seiner Brust. Der Bestatter konnte es einfach nicht leugnen. Carina wirkte in diesem Zustand gerade einfach absolut umwerfend auf ihn. Und dennoch… da gab es ein paar Dinge, die ihm ganz und gar nicht gefielen. Das ehemalige blaue Kleid, das sie am Leib trug, war an vielen Stellen zerrissen und hatte sich größtenteils mit Blut vollgesogen. Auf ihrem Gesicht, den Armen und Beinen befanden sich verheilende Schnittwunden und Blutergüsse. Doch das waren Dinge, die ein Shinigami ohne Weiteres wegstecken konnte. Viel mehr Sorgen machten ihm ihre Augen. Da war etwas in den Tiefen der gelbgrünen Seelenspiegel; etwas, das vorher noch nicht da gewesen war. Er war sich nicht sicher, konnte es nicht genau benennen. War es Wut? Resignation? Oder doch etwas gänzlich anderes? Es verpasste ihr jedenfalls eine vollkommen andere Aura, sie wirkte plötzlich wesentlich erwachsener. Was auch immer es war: Cedric gefiel es nicht im Geringsten. Endlich schien Ciel seine Sprache wiedergefunden zu haben. „Lizzy“, schrie er nach unten und sogleich wandte Angesprochene ihren Kopf nach oben. Sofort leuchteten ihre jadegrünen Augen vor Freude auf. „Ciel“, rief sie überglücklich zurück. Carina hörte den Ruf ihrer Kampfpartnerin, als sie gerade damit beschäftigt war die Spitze ihrer Death Scythe in einen weiteren Schädel zu rammen und gleichzeitig zwei andere der Puppen abzuwehren. Der Earl schien also endlich auf der Bildfläche erschienen zu sein. Wurde auch langsam Zeit! Eine Art der Erleichterung machte sich in ihr breit. Wenn Sebastian und Ciel hier waren, dann wäre ihre erste Priorität Elizabeth in Sicherheit zu bringen. „Perfekt. Dann kann ich mich endlich um ihn kümmern!“ Doch dann ertönte eine erneute Stimme. Ein Ruf, der sie vollkommen aus dem Konzept brachte. „Carina.“ „Grell?“, dachte sie überrascht, zog ihr Katana ruckartig aus dem Kopf der nun wirklich toten Gestalt zurück und riss ihren eigenen Kopf nun ebenfalls nach oben. Tatsächlich, neben Ciel und Sebastian stand wirklich Grell und sah sie mit unendlicher Erleichterung im Gesicht an. Doch im Gegensatz zu sonst konnte Carina sich ausnahmsweise einmal nicht so sehr freuen ihn zu sehen. Seine Anwesenheit würde ihren Plan um einiges erschweren. Grell würde sie sicherlich nicht einfach so zurück zu ihrem Peiniger marschieren lassen, darüber war sich die 19-Jährige im Klaren. Gerade, als die Schnitterin den Mund öffnen wollte, erregte eine Bewegung unmittelbar neben Grell ihre Aufmerksamkeit. Carinas Augen wanderten weiter nach links und als sich ihr Blick schließlich mit einem anderen gelbgrünen Augenpaar kreuzte, erstarrte alles in ihr zu Eis. Auch ihr Herz fror mitten in ihrer Brust plötzlich ein. Nein, das… das war unmöglich! Er… er konnte nicht hier sein! Ihr Verstand musste ihr einen bösen Streich spielen. Aber genau in diesem Moment trat er einen Schritt nach vorne, dicht an das Geländer heran, und räumte auch noch ihren allerletzten Zweifel aus dem Weg. Sie musste sich der Realität stellen. Er war hier! Cedric war tatsächlich hier! Und Carina hatte ihn noch nie weniger sehen wollen, als in diesem Augenblick… Kapitel 69: Zusammentreffen II ------------------------------ Was machte er hier, wie kam er hierher? waren Fragen, die sich Carina gerade unweigerlich stellen musste. Verflucht nochmal, nein! Nein, er sollte nicht hier sein. Hatte er eigentlich eine Vorstellung davon, was er damit anrichtete? Wie sehr es ihr das Herz zerrissen hatte, damals in Baden-Baden Abschied von ihm zu nehmen? Nein, natürlich wusste er das nicht. Dieser Vollidiot hatte doch keine Ahnung von Gefühlen und erst recht keine von ihren. Aber Moment mal… wenn er hier war… bedeutete das etwa, dass… Grell landete mit einem einzigen Sprung neben ihr, seine Kettensäge erwachte mit einem lauten Brummen zum Leben. Gekonnt zerschnitt er die restlichen Leichen in Einzelteile. Der Rothaarige bedachte Elizabeth mit einem kurzen Zwinkern seines linken Auges und drehte sich anschließend zu Carina um. „Gott sei Dank, es geht dir gut! Ich bin fast umgekommen vor-“ Die restlichen Worte blieben ihm abrupt im Halse stecken, als er den vernichtenden Blick bemerkte, den Carina ihm zuwarf. „Grell“, zischte sie, zornentbrannt, und Angesprochener schluckte. Verdammt, sie hatte es schneller begriffen, als er gedacht hatte… „Sag mir, dass du das nicht getan hast!“ „Carina-“ „Sag mir, dass du das nicht getan hast!“ Grell warf hilfesuchend die Arme in die Luft. „Ich hatte doch keine Wahl“, versuchte er sich zu rechtfertigen. „Du warst spurlos verschwunden, ich hatte Panik und dann sind wir uns in London zufällig über den Weg gelaufen… Hätte ich einfach nichts sagen und ihn wegschicken sollen?“ „Ja“, gab Carina heftig zurück. Sie konnte es einfach nicht fassen. Das ganze Theater, die ganze Heimlichtuerei… alles umsonst! Carina traute sich kaum, sich noch einmal zu Cedric umzudrehen. Er wusste Bescheid! Er wusste alles! „Hör mal, ich verstehe, dass du wütend bist, aber das ist jetzt wohl kaum der richtige Zeitpunkt“, erwiderte Grell. Von weitem ertönten erneute Schritte, die auf eine weitere Ladung der wandelnden Leichen schließen ließen. „Ganz abgesehen davon: Sei doch froh, jetzt musst du es ihm nicht mehr selbst sagen.“ „Ich bin aber nicht froh“, fauchte sie. Die 19-Jährige bemerkte selbst, dass sie gerade bockig reagierte, aber momentan lagen ihre Nerven einfach blank. „Und überhaupt“, schnappte sie plötzlich nach Luft, als ihr noch etwas einfiel, „wenn du jetzt hier bist, wer ist dann bitteschön bei Lily?“ „Keine Sorge, die Zofe von der kleinen Midford kümmert sich um sie. Ihr geht es gut.“ Ein tonnenschwerer Stein, den Carina so gar nicht wahrgenommen hatte, fiel ihr vom Herzen. Ihrer kleinen Maus ging es gut… Grells Blick verfinsterte sich ein wenig. „Dann weißt du also schon über Alice‘ Entführung Bescheid“, stellte er fest und wirkte zornig über die schiere Tatsache. Der Schnitterin zog es bei der bloßen Erwähnung ihrer besten Freundin die Kehle zusammen. „Ja“, antwortete sie schlicht und dankte Gott dafür, dass in genau diesem Moment die neuen Bizarre Dolls in den Raum stürzten. Denn so konnte sie der Antwort, die sie Grell geben musste, noch eine Weile entkommen. Ciel, der seine schluchzende Verlobte erstaunlich sanft in den Armen hielt, funkelte die Untoten zornig an. „Sebastian“, sagte er und es bedürfte keiner weiteren Worte. Der Dämon grinste, verneigte sich kurz mit seinem üblichen Spruch – der Carina kurz die Augen verdrehen ließ – und zog ein paar der silbernen Messer hervor. Scheinbar machte er sich kampfbereit. „Verstehe ich es richtig, dass wir momentan einen Waffenstillstand haben?“, fragte sie und hob ihre Death Scythe ein wenig höher. „Vorerst“, erwiderte Sebastian und lächelte sachte. „Tch“, murrte die Blondine. Wenn es ihr dabei half schneller mit den bizarren Puppen fertig zu werden und sich dem Strippenzieher im Hintergrund zu widmen, dann sollte es eben so sein. „Lasst… lasst mich mitkämpfen. Ich bin noch nicht am Ende“, meinte Elizabeth, wurde jedoch sogleich von Ciel an den Schultern gepackt. „Nein, Lizzy. Du hast bereits genug getan. Überlass ihnen den Rest.“ Er legte ihr eine Hand auf den Kopf und bekam rote Wangen, was ihn schon viel mehr wie ein Kind aussehen ließ. „Du hast dich gut geschlagen. Ich bin… sehr stolz auf dich.“ Elizabeth wurde ebenfalls rot. „Aber…“, zögerte sie und schaute zu Carina zurück, die ihr aber nur zunickte und somit signalisierte, dass sie schon zurechtkommen würde. „In Ordnung, ich halte mich raus. Aber… dafür möchte ich, dass du mich später endlich über all das hier aufklärst. Keine Ausreden oder Ausflüchte mehr. Nur die Wahrheit.“ Ciel schluckte, als er in die jadegrünen Augen seiner Verlobten sah, die ihm entschlossen entgegen blickten. Natürlich hatte die Midford längst begriffen, dass sie es hier nicht mit normalen Menschen zu tun hatte. Der Earl seufzte. Er konnte sich mehr als nur glücklich schätzen, dass seine Lizzy so stark war und nicht vor Furcht davon lief. „Nun gut. Ich werde dir alles erzählen, wenn das hier vorbei ist. Versprochen.“ Die 15-Jährige strahlte ihn an und klammerte sich mehr an seine Seite, was Carina amüsiert beobachtete. In ihrem Inneren war Elizabeth halt nach wie vor ein süßes, kleines Mädchen. Ein Luftzug neben ihr sorgte jedoch dafür, dass sie sich abrupt versteifte. „Carina“, ertönte seine Stimme direkt neben ihr. Angesprochene atmete geräuschlos aus, ballte ihre Hände zu Fäusten und schloss ihre Augen, wandte ihm aber nicht ihr Gesicht zu. Und sie hatte sich schon gefragt, warum er so lange die Füße still gehalten hatte… Cedric konnte es nicht fassen. Carina hatte ihm lediglich einen entsetzten Blick geschenkt, als sie ihn gesehen hatte und jetzt? Jetzt ignorierte sie ihn! Er spürte einen Teil der Wut zurückkehren, die er empfunden hatte, als er von Grell erfahren musste wie viel sie ihm vorenthalten hatte. Wie dreist sie ihm ins Gesicht gelogen hatte. Und jetzt konnte sie ihn scheinbar nicht einmal mehr ansehen. „Carina“, sagte er ein weiteres Mal, nun mit deutlich mehr Nachdruck. „Jetzt nicht“, entgegnete sie kalt und schritt an ihm vorbei, erneut ohne einen einzigen Blick zu riskieren. Ihm entglitten die Gesichtszüge. Grell schluckte. Er konnte sich nicht recht entscheiden, ob er lachen oder sich vor dem Silberhaarigen fürchten sollte. Denn sein Gesichtsausdruck versprach wahrlich ein Donnerwetter. Sebastian legte sich seine behandschuhte Hand ans Kinn und grinste sein falsches, schadenfreudiges Lächeln. „Immer noch so widerspenstig wie eh und je, nicht wahr, Miss Carina?“ Die Schnitterin warf ihm einen genervten Blick zu, widmete sich dann aber lieber zwei Dolls, die sie genau in diesem Augenblick erreichten. Ein Mann Mitte 30 verlor seinen Kopf, während eine junge Frau direkt durch die Stirn aufgespießt wurde. „Grell?“ rief sie, eine Frage in der Stimme. Der Reaper grinste und war eine Sekunde später dicht hinter ihr. „Zur Stelle“, antwortete er und seine selbsternannte kleine Schwester schenkte ihm einen dankbaren Blick. Wenn sie sich immer auf jemanden verlassen konnte, dann war es Grell. Und A– „Nicht“, verbat sie sich selbst den Gedanken und versuchte sich wieder auf ihre Gegner zu konzentrieren. Für sie als Shinigami war es zwar nicht schwer die wandelnden Leichen zu beseitigen, aber die ungeheure Menge machte den Unterschied. Mittlerweile befanden sich bestimmt 50 Exemplare der Dolls in dem riesigen Raum und es schienen stetig mehr zu kommen. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis der Leiter der Ordnungsabteilung herausgefunden hatte wo sie sich aufhielten. „Umso besser für mich.“ Während Sebastian und Grell links von ihr die Leichen nach und nach auseinandernahmen, erfolgte plötzlich rechts von ihr eine einzelne Bewegung. Sofort gingen 4 der Untoten zu Boden, da Ober- und Unterkörper sauber durchtrennt worden waren. Carina brauchte gar nicht genauer hinzusehen. Welche Waffe außer seiner Sense wäre schon zu so etwas in der Lage? „Carina“, wehte seine Stimme nunmehr zum dritten Mal zu ihr herüber. Selbst von ihrer Position aus konnte sie hören, dass er zornig war. „Ich sagte: Nicht jetzt“, zischte sie, duckte sich im nächsten Moment und zerteilte zwei Dolls sauber in der Mitte. Herrgott, merkte er denn nicht, dass das gerade nicht der richtige Zeitpunkt- Eine Hand packte sie grob am Oberarm und riss die 19-Jährige herum, sodass sie nun dazu gezwungen war ihm ins Gesicht zu sehen. Und in seine vor Zorn verengten Augen, die ihr klar und deutlich zeigten, dass sie den Bogen nun weit überspannt hatte. „Oh doch, jetzt“, knurrte er ihr entgegen. Carinas Herz rutschte ein wenig tiefer in ihrer Brust. Das letzte Mal, als er so wütend gewesen war, hatte er sie geschlagen. Grell, der momentan dafür sorgte, dass die beiden nicht angegriffen wurden, schluckte erneut. Gerade konnte er sich irgendwie überhaupt nicht vorstellen, dass die zwei Todesgötter mehrmals das Bett miteinander geteilt hatten, geschweige denn, dass sie sich liebten. Wobei es ihn nicht einmal wunderte, dass der Bestatter momentan so außer sich war. Er wollte Antworten. Antworten, die Carina ihm zum jetzigen Zeitpunkt nicht geben wollte. Die Shinigami versuchte indessen ihre Gefühlswelt zu kontrollieren, die gerade auf sie einstürzte. Sie hatte ihn so sehr vermisst. Am gestrigen Tag hätte sie alles dafür gegeben ihn nur noch einmal zu sehen, noch einmal seine Stimme zu hören und in dieses unglaublich schöne Gesicht zu blicken. Aber jetzt lagen ihre Prioritäten vorerst woanders. Natürlich wusste sie, dass jetzt – wo die Wahrheit raus war – ein Gespräch mit ihm unvermeidlich war. Dennoch, wenn es endlich soweit war, dann wollte sie im Vollbesitz ihrer körperlichen und geistigen Kräfte sein. Sie wollte sich nur auf ihn konzentrieren. Jetzt war alles, woran sie denken konnte, die Rache an Mr. Crow. Ihr Blick verfinsterte sich. „Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig“, sagte sie ihm mitten ins Gesicht, woraufhin nun Grell derjenige war, dem die Gesichtszüge entglitten. Das hatte sie gerade nicht ernsthaft gesagt?! Cedrics Griff um ihren Oberarm wurde fester. Er zog sie so dicht vor sein Gesicht, dass sich ihre Nasenspitzen fast berührten. „Und ob du das bist, Weib“, blaffte er ungehalten. Carinas Augen weiteten sich. Wie hatte er sie gerade genannt? Weib?! Trotz regte sich in ihr, den nur ein Mädchen aus dem 21. Jahrhundert empfinden konnte. Was erlaubte er sich eigentlich? Von niemandem würde sie sich als Weib betiteln lassen, auch nicht von ihm! Entschlossen erwiderte sie seinen Blick, der sie eindringlich davor warnte auch nur ein weiteres falsches Wort zu sagen. Aber sie wäre nicht sie selbst, wenn sie das nicht gekonnt ignoriert hätte. „Fick dich, Cedric!“ Seine Lippen krachten gegen ihre, als sich die Spannung zwischen ihnen schlagartig entlud. Die Hand, mit der er nicht seine Death Scythe festhielt, grub sich beinahe schmerzhaft in ihren Hinterkopf und gab ihr keine Gelegenheit zurückzuweichen, sich irgendwie aus dem groben Kuss zu befreien. Grell klappte der Mund auf, während Ciel und Elizabeth puterrot anliefen und schleunigst den Blick abwandten. Sebastian, der inzwischen den Großteil der Dolls auf seiner Seite beseitigt hatte, verdrehte lediglich verständnislos die Augen. Er wurde aus diesen Todesgöttern einfach nicht schlau. Dafür, dass sie wie er selbst übernatürliche Wesen waren, ließen sie sich viel zu sehr von menschlichen Gefühlen leiten. Das war wohl tatsächlich etwas, was er niemals wirklich verstehen würde. Der Undertaker löste den Kuss ebenso schnell, wie er ihn begonnen hatte. Carina starrte ihn fassungslos an, konnte gerade einmal so viel tun wie blinzeln. Was… was zum Teufel war gerade passiert? Sie leckte sich unbewusst über die Unterlippe und zuckte überrascht zusammen, als er im nächsten Moment seine Stirn gegen ihre lehnte und sie mit einem Blick bedachte, der Carina sofort an Sex denken ließ. Als er seinen Mund schließlich das nächste Mal öffnete, flüsterte er die nachfolgenden Worte so leise, dass nur die junge Frau sie hören konnte. „Dafür… versohle ich dir den Hintern.“ Carinas Wangen verfärbten sich auf der Stelle scharlachrot. Das Lächeln, das er ihr nun schenkte, war nicht nur dunkel und anzüglich, nein. Es war ein Versprechen. Entsetzt stolperte sie einen Schritt rückwärts und als er im gleichen Augenblick das Gesicht von ihr abwandte – um sich wieder seiner eigenen Erfindung zuzuwenden – brach endlich der Bann, in dem sie sich befunden hatte. Schockiert stellte die 19-Jährige fest, dass ihr das Herz bis zum Hals schlug. An seiner Wirkung auf sie hatte sich nicht das Geringste geändert. „Der spinnt ja wohl“, schoss es ihr durch den Kopf. Er konnte sich seine leeren Drohungen sonst wohin stecken. Garantiert würde es nicht zu solch einer Situation kommen. Was sollte der Mist überhaupt? Er glaubte doch nicht ernsthaft, dass sie ihn in diesem Leben noch einmal an sich ranlassen würde? Solange er eine andere Frau liebte? Das konnte er vergessen! „Abgesehen davon… hat Cedric mir mehr als nur einmal deutlich gemacht, dass er nicht an mir interessiert ist. Nicht auf diese Weise.“ Kurz kehrten die Trauer und die Enttäuschung aus jener Nacht zu Carina zurück, in der sie Cedric gestanden hatte, dass sie ihn liebte. Was für ein dummer, dummer Fehler… Grell warf ihr einen fragenden Blick zu. „Was hat er denn zu dir gesagt?“, fragte er ahnungslos, als er sich dicht genug an ihrer Seite befand. „Nicht so wichtig“, erwiderte sie gereizt und machte sich wieder daran den Raum von diesen unnatürlichen Kreaturen zu säubern. Mithilfe von Grell, Sebastian und Cedric dauerte es gar nicht lange, bis erneut Totenstille herrschte, dieses Mal im wahrsten Sinne des Wortes. „Wow“, blinzelte Elizabeth, der immer bewusster wurde, dass es hier nicht mit rechten Dingen zuging. Seltsamerweise blieb sie ruhig, was sie selbst erstaunte. Vielleicht, weil sie wusste, dass Ciel bei ihr war und weil Carina trotz ihrer unmenschlichen Stärke definitiv nicht böse war. Nein, sie empfand Trauer und Schmerz wie jeder andere Mensch auch und sie hatte ihr geholfen zu fliehen, hatte sogar versucht sie aufzumuntern, dabei kannten sie sich kaum. Nein, Carina konnte nicht böse sein. „Wir sollten schleunigst von hier verschwinden, solange keine neuen Gegner auftauchen“, meinte Ciel und ergriff bestimmt die Hand seiner Verlobten. „Komm Lizzy, bringen wir dich hier raus.“ „Aber… Carina will doch…“, murmelte sie und schaute erneut zu der anderen blonden Person im Raum zurück. Sie wollte ihren gemeinsamen Entführer doch töten. Was, wenn ihr dabei etwas passierte? Elizabeth hatte sich doch noch gar nicht so richtig bei ihr bedanken können. Außerdem wollte sie mehr über diese faszinierende Frau erfahren, zu der sie unerklärlicherweise so eine Art Verbindung spürte. „Die kommt schon alleine zurecht. Außerdem werde ich Sebastian hierher zurückschicken, sobald wir beide aus diesem Bunker raus sind“, erwiderte Ciel und meinte jedes einzelne Wort ernst. Dieser Mistkerl hatte seine Verlobte entführt und das würde er ihm sicherlich nicht so einfach durchgehen lassen. Dafür würde er bluten und wenn es nach Ciel ging, dann würde es nicht nur bei etwas Blut bleiben. Nein, der Mann würde mit seinem Leben bezahlen. Elizabeth nickte, sah sie doch eben jenen Blick bei dem Phantomhive, der ihr manchmal etwas Angst machte. „Okay“, flüsterte sie, konnte sich aber ein paar letzte Worte an ihre Retterin nicht verkneifen. „Stirb bloß nicht, Carina“, rief sie ihr zu, woraufhin Angesprochene sich ihr zuwandte. „Ich möchte… ich möchte noch über so vieles mit dir sprechen.“ Verwundert schaute Ciel das Mädchen neben ihm an. Hatte Lizzy sich etwa mit der Shinigami angefreundet? Carina grinste ihrer Vorfahrin kurz zu und zwinkerte. „Keine Angst, so leicht lasse ich mich nicht umbringen. Wir sehen uns später“, rief sie zurück und hoffte gleichzeitig, dass sie diese Worte auch tatsächlich würde einhalten können. Grell schaute den beiden Kindern dabei zu, wie sie zusammen mit Sebastian den Raum in die Richtung verließen, aus der sie gekommen waren. „Wäre es nicht besser, wenn du mit ihnen gehen würdest?“, meinte er dann an Carina gewandt und blickte ernst zu ihr herab. „Ich meine… Crow ist doch hinter dir her und dem Etwas, was du ihm entwendet hast. Wäre es nicht sicherer, wenn du auch erst einmal von hier verschwindest und den Rest uns überlässt? Wir holen Alice und kommen dann nach, versprochen.“ „Auf gar keinen Fall“, erwiderte die 19-Jährige, die erschreckend bleich im Gesicht aussah. Sobald Alice’ Name fiel, musste sie wieder an ihre Leiche denken. An den abgetrennten Kopf, den sie in den Armen gehalten hatte und an den sie sich wie eine Ertrinkende geklammert hatte. Allein ihre Selbstbeherrschung sorgte dafür, dass sie sich nicht ein weiteres Mal übergeben musste. Mit aller Macht klammerte sie sich jetzt an der Wut fest, die in ihrem Inneren brodelte. „Ihr haltet euch da raus, verstanden? Crow gehört mir!“ „Was? Spinnst du?“, fragte Grell fassungslos und packte Carina am Arm, da diese gerade Anstalten gemacht hatte in die Richtung zu gehen, aus der die Bizarre Dolls gekommen waren. „Das ist viel zu gefährlich. Er hat dich jetzt schon zweimal überwältigt, was glaubst du denn was passiert, wenn du jetzt zu ihm gehst?“ „Ich werde mich kein drittes Mal von ihm überraschen lassen“, fauchte sie und riss sich von ihrem Mentor los. Der Rothaarige zuckte erschrocken zurück, als er den eiskalten Hass in den gelbgrünen Augen seiner Schülerin sah. „Nein, dieses Mal bin ich dran“, ergänzte sie mit einem Unterton in der Stimme, der Grell Angst machte. Auch Cedric gefiel diese Entwicklung ganz und gar nicht. Also hatte er es sich vorhin nicht eingebildet, dass Carina sich seltsam benahm. Ihr ganzes Verhalten wirkte vollkommen untypisch für sie, diese Aggressivität war jenseits von Gut und Böse. Irgendetwas musste passiert sein… „Hör zu, ich meine das doch nicht böse“, verteidigte sich Grell und blieb Carina dicht auf den Fersen, da sie nun tatsächlich Gesagtes in die Tat umsetzte und tiefer in den Bunker hineinging. Der Totengräber tat es ihm schweigend gleich. „Nicht nur, dass es für dich gefährlich wird. Alice würde es doch auch viel mehr nützen, wenn wir alle gegen ihn kämpfen, oder etwa nicht?“ Leider sah der Rothaarige von hinten nicht, wie sich das Gesicht der Schnitterin schmerzerfüllt verzerrte. „Wenn wir sie gerettet haben, dann-“ „Es gibt nichts mehr, was wir noch retten könnten, Grell“, schrie sie gequält auf und ballte ihre Hände so fest zusammen, dass ihre Fäuste zitterten. Sofort spürte sie, wie ihre Stimme versagte, „Es ist zu spät, hörst du?“, flüsterte sie daher nur noch, mit leiser und bebender Stimme, dabei wollte sie diese Worte selbst nicht akzeptieren. Geschweige denn sie laut aussprechen. Die beiden Männer hinter waren abrupt stehen geblieben. Die Augen des Bestatters hatten sich um eine Spur geweitet, während Grell ziemlich schnell erschreckend blass geworden war. „W-was meinst du damit?“, stammelte er fragend, obwohl er sich die Antwort eigentlich schon denken konnte. Doch er betete – er hoffte – dass er sich irrte. Carina klang hohl, als sie die nächsten Worte mit größter Anstrengung nun endlich über die Lippen brachte. „Alice ist tot.“ Sie hätte gerne noch mehr gesagt. Dass ihre beste Freundin ermordet worden war, von diesem miesen Psychopathen, und dass sie ihn dafür leiden lassen würde. Aber ihr fehlte schlichtweg die Kraft noch genauer auf das Geschehene einzugehen. Grell würde sich den Rest schon selbst zusammenreimen können. Der Rothaarige schaute die Schnitterin von hinten an, starr vor Entsetzen. „W-was?“, brachte er gerade noch so hervor, ehe er sich reflexartig vor Fassungslosigkeit eine Hand vor den Mund schlug. Die kleine Nervensäge… – nein… Alice – war tot? Dieser Mistkerl hatte sie umgebracht? „Nein, das konnte nicht sein“, versuchte sein Herz seinem Verstand klar zu machen. Sie waren doch so schnell es nur ging hierhergekommen, hatten selbst für ihre Verhältnisse ein überdurchschnittliches Tempo an den Tag gelegt. Was hatte Crow davon, wenn er die Schwarzhaarige direkt nach deren Entführung umbrachte? Was hatte die Entführung dann überhaupt für einen Sinn gehabt? „Bist… bist du dir auch ganz sicher?“, fragte er vorsichtig nach, denn er wollte Carinas Stimmung nicht noch mehr beeinflussen. Zum ersten Mal seit Jahren konnte er nicht genau verstehen, was in der Blondine vor sich ging oder wie sie auf bestimmte Dinge reagieren würde. „Ich war dabei“, erwiderte sie tonlos, setzte eine undurchdringliche Maske auf, die bar jeglicher Emotion war. Cedric wurde unterdessen so einiges klar. Endlich verstand er, wieso Carina sich aufführte wie ein verwundetes Tier. Jetzt machten ihre Worte und ihre Reaktionen endlich Sinn. Ihre letzte Aussage machte ihn erneut unglaublich wütend. Crow hatte ihre Freundin umgebracht, das war an und für sich schon schlimm genug. Aber scheinbar hatte er es vor ihren Augen getan und das war etwas, was er diesem Mistkerl nicht verzeihen konnte. Carina hatte durch ihre Zeitreise vielleicht ihre Familie und ihre Freunde verloren, aber das war etwas gänzlich anderes, als jemanden an den Tod zu verlieren. Der Silberhaarige wusste zwar nicht wie die Freundin der 19-Jährigen schlussendlich gestorben war, aber ein sanfter Tod war es sicherlich nicht gewesen. Carinas Augen sprachen da eine relativ deutliche Sprache. Irgendetwas in ihrem Inneren war für immer zerbrochen worden und würde nie wieder zu ihr zurückkehren. „Und deswegen“, fuhr die Schnitterin fort und setzte sich jetzt wieder in Bewegung, „werde ich ihn nicht davon kommen lassen. Er wird bezahlen und keiner von euch beiden wird mich daran hindern.“ „Und dann?“, mischte sich der Undertaker zum ersten Mal in das Gespräch ein. „Was machst du, sobald du ihn erledigt hast? Glaubst du wirklich, dass du dich nach deiner Racheaktion besser fühlen wirst?“ Carina warf ihm einen kurzen Blick zu. „Lass das mal meine Sorge sein“, entgegnete sie und beschleunigte ihre Schritte. Natürlich wusste sie, dass es ihr danach keineswegs besser gehen würde. Immerhin hatte sie Ciel wegen seiner eigenen Rachegelüste immer scharf kritisiert. Nein, danach würde es ihr zweifelsohne genauso schlecht gehen wie jetzt auch. Aber sie konnte einfach nicht anders. Sie konnte sich nicht von dem Gedanken lösen. Es wäre nicht gerecht, wenn ihn jemand anderes töten würde, geschweige denn ihn entkommen zu lassen. Nein, sie musste diejenige sein, die dem Ganzen ein Ende setzte. An einer erneuten Abbiegung blieb sie stehen, schaute zuerst nach links und dann nach rechts. Verdammt, wie sollte sie ihn in diesem Labyrinth nur finden? Er konnte schließlich überall sein. Und seine Energiesignatur konnte sie auch nicht spüren, aber das wunderte die Blondine nicht einmal. Immerhin hatte er selbst zugegeben, dass er im Aufspüren ein Meister war. Dann traf das sicherlich auch auf das Verbergen zu. „Ich finde immer noch, dass das eine schlechte Idee ist“, sagte Grell hinter ihr mit niedergeschlagener Stimme. Scheinbar hatte ihn Alice‘ Tod tiefer erschüttert, als er es selbst für möglich gehalten hatte. Carina antwortete ihm nicht, schloss lediglich genervt die Augen. „Links!“ Überrascht öffnete sie die Augen wieder und drehte sich zu Grell und Cedric um, die sie jedoch nur schweigend ansahen und auf eine Handlung von ihr warteten. Keiner von beiden schien etwas gesagt zu haben. Aber das hätte Carina auch gewundert. Die Stimme, die sie gerade gehört hatte, hatte sich ganz und gar nicht nach ihren männlichen Begleitern angehört. Nein, diese hier war höher gewesen. Irgendwie… heller. „Geh nach links!“ „Schon wieder“, schoss es ihr durch den Kopf, während sie langsam anfing an ihrem eigenen Verstand zu zweifeln. Jeder normale Mensch wusste, dass es kein besonders gutes Zeichen war, wenn man plötzlich Stimmen hörte. Und scheinbar hatten die Todesgötter hinter ihr nichts gehört. „Ach, was soll’s? Was hab ich schon zu verlieren? Ich weiß ohnehin nicht wo es lang geht, da kann ich auch einfach nach links gehen.“ Sie ließ ihren Gedanken Taten folgen und bog links ab. Sogleich hatte sie wieder ihre beiden Leibwächter dicht hinter sich. „Weißt du überhaupt, wo du lang musst?“, fragte Grell und schulterte seine Death Scythe, die auf Dauer doch etwas unhandlich wurde. „Ja“, log Carina, klang dabei allerdings nicht sonderlich überzeugend. Der Bestatter verdrehte hinter ihr seine Augen. „Du hast auch schon mal besser gelogen“, konnte er sich einen kleinen Seitenhieb nicht verkneifen. Sofort traf er bei der 19-Jährigen einen Nerv, was bei ihrer momentanen Laune auch nicht sonderlich schwer war. Aber die Retourkutsche folgte postwendend. „Ja, allerdings. In dem Café zum Beispiel“, antwortete sie gereizt und spürte sofort seinen finsteren Blick, der sich in ihren Rücken bohrte. „Würdet ihr bitte mit dem Gezanke aufhören? Wir haben gerade wahrlich Wichtigeres zu tun“, bemerkte Grell und rollte mit den Augen. Also ehrlich, da sollte noch mal jemand zu ihm sagen, dass er sich manchmal kindisch verhielt… Carina seufzte, sagte aber tatsächlich kein weiteres Wort mehr. Grell hatte Recht, sie hatten Wichtigeres zu erledigen. Anscheinend sah Cedric dies ebenfalls ein, denn auch von ihm kam kein weiterer Ton mehr. Schweigend durchschritten sie das lange, unterirdische Labyrinth und Carina machte sich mit jeder Abzweigung, die sie passierten, mehr Sorgen. Denn immer wieder konnte sie diese seltsame, unbekannte Stimme hören, die ihr eindeutige Anweisungen gab, wohin sie zu gehen hatte. Noch mehr Sorgen machte es ihr allerdings, dass sie jede einzelne befolgte. Aus irgendeinem aberwitzigen Grund hatte sie das Gefühl, dass diese Stimme die Wahrheit sagte und ihr tatsächlich zu helfen versuchte. Hoffentlich war das keine Fehlentscheidung, die sie im Nachhinein bereuen würde… Nach ungefähr 20 Minuten wurden die Gänge spürbar breiter, die Luft jedoch dünner und es stank immer mehr nach Erde und Moder. Anscheinend waren sie nun tiefer unter der Erde, was Carina ganz und gar nicht gefiel. Obwohl optisch nichts dergleichen passierte, fühlte sie sich allein durch den Gedanken irgendwie eingeengter. Als könnte jeden Moment die Decke auf sie herabstürzen und sie lebendig begraben. Und wenn man ein Shinigami war, bekamen diese Worte noch einmal eine ganz andere Bedeutung. „Mir gefällt das hier von Minute zu Minute weniger“, sprach Grell das aus, was Carina dachte. „Mir auch nicht“, gab sie zu und drückte ihren Rücken ein wenig mehr durch, um sich selbst in ihrem Vorhaben zu bestärken. Der Reaper seufzte. „Wem gefällt es auch bitteschön sich in solch gruseligen Gefilden rumzutreiben, die einen noch am ehesten an ein Grab erinnern?“ „Hehe~“, erklang hinter ihm ein unverkennbares Kichern, was sofort dafür sorgte, dass Carinas Mundwinkel unwillkürlich in die Höhe zuckten. „Ich weiß gar nicht, was ihr habt. Ist doch ganz schnuckelig hier unten“, meinte der Totengräber breit grinsend, woraufhin Grell ihn anstarrte, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank. „Ernsthaft jetzt, was findest du nur an ihm, sein gutes Aussehen mal außer Acht gelassen?“, fragte Grell trocken. Carina verdrehte die Augen. „Ich dachte, wir sollten mit dem Gezanke aufhören“, erwiderte sie kühl, wandte ihre volle Aufmerksamkeit aber mit einem Mal wieder dem Gang vor sich zu. Er verlief noch etwa 30 Meter weiter und endete dann in einem erneuten Abschnitt. Allerdings schien es sich dieses Mal nicht um einen erneuten Durchgang zu handeln, sondern um einen neuen Raum. Carina konnte von ihrer Position nicht erkennen wie groß er war, aber es hätte sie in diesem Moment nicht weniger interessieren können. Denn ca. 10 Meter weiter, mitten in besagtem Raum, stand… Bevor Cedric und Grell reagieren konnten, stürmte die Blondine bereits los und das in einem nicht zu verachtenden Tempo. „Verdammt, Carina“, schrie Grell ihr hinterher und obwohl er sofort losrannte, wurde er bereits nach wenigen Sekunden von dem Silberhaarigen überholt. „Bleib stehen, Carina“, rief er ihr im Befehlston hinterher. „Ich denk nicht dran“, zischte die 19-Jährige laut zurück und beschleunigte ihre Schritte. Sie würde jetzt keinen Rückzieher mehr machen. Nicht, wenn das Objekt ihres ganzen Hasses endlich in greifbarer Nähe war. Die nachfolgenden Dinge passierten alle recht schnell. Carina stürmte in den Raum hinein, der – nur nebenbei bemerkt – riesig war. Die Decke war bestimmt mindestens 10 Meter hoch, dabei gab es kein zweites Stockwerk. Sofort nahm sie ihre eigenen Schritte viel lauter wahr, sie hallten in der Stille des Gewölbes wieder. Hier befand sich nichts – keine Treppen, keine Möbel. Es schien eher eine Art Foyer zu sein, einzig dazu errichtet riesige Versammlungen abzuhalten. Möglicherweise mit der Ordnungsabteilung? Cedric und Grell waren nur wenige Schritte hinter ihr und dennoch kamen sie zu spät. Mr. Crow betätigte einen kleinen Schalter, der sich in seiner Handfläche befand und sogleich schob sich eine Art Barriere zwischen die beiden Todesgötter und Carina. „Was zum…“, stieß Grell geschockt hervor und konnte gerade noch rechtzeitig vor der durchsichtigen Mauer abbremsen. „Was ist das?“, murmelte er und presste seine Hand gegen die seltsame Konstruktion. Sofort spürte er den Widerstand unter seinen Fingern. Es fühlte sich tatsächlich wie eine Wand an. „Verhärtete Luft?“, murmelte Cedric und tastete ebenfalls über die Vorrichtung. Der schwarzhaarige Lehrer schenkte ihm ein kurzes Grinsen. „Nahe dran, Bestatter, aber belassen wir es dabei. Eine meiner Erfindungen aus dem 21. Jahrhundert, die ich Gott sei Dank erneut entwickeln konnte.“ Grells Augen weiteten sich. Cedric kam ihm jedoch mit seinen Worten zuvor. „Du stammst auch aus der Zukunft“, sagte er monoton. Es war eine bloße Feststellung der Situation, ohne jegliche Wertung. Dennoch konnte Carina die Anspannung fühlen, die von ihm ausging. Das Grinsen auf dem Gesicht des Shinigami wurde breiter. „Was denn, Carina, hast du deinen kleinen Freunden etwa nicht davon erzählt?“ Angesprochene verzog keine Miene. Das hier war für sie die Ruhe vor dem Sturm. Sie konnte es sich nicht leisten, sich jetzt bereits von ihm provozieren zu lassen. „Das werde ich nachholen, sobald ich dich getötet habe“, erwiderte sie mit beherrschter Stimme. Ein gefährliches Funkeln trat in seine Augen. Er bedachte sie mit einem herablassenden Blick. „Du? Mich töten? Mach dich nicht lächerlich. Ich wusste zwar, dass ich deinen Geist gebrochen habe, aber ich dachte eigentlich, dass das Gehirn nicht darunterfällt.“ „Unterschätz mich lieber nicht“, flüsterte die 19-Jährige leise und zog langsam ihre Death Scythe aus der Scheide. „Du hast bisher niemals ernsthaft gegen mich gekämpft, sondern immer nur feige aus dem Hintergrund agiert. Dieses Mal läuft das anders, das verspreche ich dir.“ „Du tust immer so mutig“, antwortete der Mann leise und schaute sie zornig an. „Dabei bist du nichts anderes als ein kleines dummes Mädchen, das einfach nicht weiß wann es genug ist.“ Da Carina nicht auf seine Worte reagierte, fuhr er fort. „Gut. Dann beweise es mir!“ Er warf ihr den Schalter zu, dieser blieb haargenau vor ihren Füßen liegen. „Wenn du den Schalter erneut betätigst, dann löst sich die Barriere auf und die beiden können dir zur Hilfe kommen. Aber wenn du wirklich so mutig bist, wie du immer tust, dann gibst du mir den Schalter unbetätigt zurück und wir regeln das allein.“ Er schien sich seiner Sache äußerst sicher zu sein, was Cedric mehr als alles andere beunruhigte. Seit diese Mauer – diese Barriere – zwischen ihm und Carina stand und er nicht zu ihr gelangen konnte, pochte sein Herz doppelt so schnell gegen seine Brust. „Carina“, sagte er ruhig und betete, dass sie für logische Argumente noch zugänglich war. „Das hier ist kein Spiel. Du bist hier eindeutig im Nachteil, lass diesen Unsinn also bitte bleiben. Heb einfach den Schalter auf und deaktivier diese Vorrichtung, damit wir dir helfen können. Wir werden ihn bezahlen lassen, aber nicht so.“ „Er hat Recht“, schaltete Grell sich lautstark ein, auch seine Stimme war nun komplett ernst. Carina warf den beiden einen kurzen Blick zu, bückte sich dann tatsächlich und hob den Schalter auf. Fast hätte Cedric erleichtert aufgeseufzt, doch dieses Gefühl wurde ihm bereits im nächsten Augenblick vollständig genommen. Carina betätigte den Schalter nicht. Sie warf ihn allerdings auch nicht zu ihrem ehemaligen Lehrer zurück. Nein, was sie tat, war noch zehnmal schlimmer. Ohne eine Gefühlsregung zu zeigen, ließ sie das kleine Gerät wieder los. Es segelte, jedenfalls kam es allen Anwesenden so vor, in Zeitlupentempo zurück zu Boden. Carina hob in aller Seelenruhe den Fuß und ein erstickter Laut entfuhr Grells Lippen, als sie den Schalter in der nächsten Sekunde mit einem gezielten Tritt zertrümmerte. Sie wandte ihren Blick wieder Mr. Crow zu, der grinsend zu ihr hinsah. „Damit hast du gerade dein Todesurteil unterschrieben“, sagte er und jetzt musste auch Carina lächeln. Doch dieses Lächeln hatte nichts mit Freundlichkeit zu tun. Es war die blanke Verachtung. Sie hob ihre Death Scythe ein Stückchen höher. „Ich werde Sie töten“, entgegnete sie, das Lächeln wurde breiter. „Und es wird mir ein Vergnügen sein.“ Kapitel 70: Die Erkenntnis -------------------------- „Hast du jetzt komplett den Verstand verloren?“, brüllte Grell und hämmerte – zur Untätigkeit verdammt – gegen die Wand aus Luft. Verflucht nochmal, dachte Carina überhaupt noch nach, bevor sie etwas tat? Dem Bestatter neben ihm erging es ähnlich. Am liebsten hätte er jetzt irgendwas oder irgendwen auseinandergenommen. Wenn Carina aus dieser Situation lebend rauskam, dann würde er persönlich dafür sorgen, dass sie solch dumme und vor allen Dingen hirnrissige Aktionen niemals wieder machte. Seine langen Fingernägel kratzten über die Barriere, versuchten irgendwo ein Schlupfloch zu finden. Doch es handelte sich überall um eine glatte, unsichtbare und unnachgiebige Fläche. Verdammt, das dürfte doch wohl nicht wahr sein… Er sah erst wieder von seinem Tun auf, als Carinas Entführer das Wort ergriff. Er streckte die Hand aus, die Handinnenfläche zeigte nach oben. „Gib mir deine Cinematic Records zurück“, verlangte er und unglaublicher Zorn spiegelte sich auf seinem Gesicht wieder. Cedric runzelte die Stirn. Nach seinem jetzigen Kenntnisstand war es unmöglich die Aufzeichnungen eines Shinigami von dessen Körper zu trennen, geschweige denn diese anzusehen. Hatte dieser Mann aus der Zukunft etwa einen Weg gefunden? Hatte es etwas damit zu tun, was er gerade eben gesagt hatte? Dass er Carinas Geist gebrochen hatte? Zumindest würde so der Tod der kleinen Schwarzhaarigen einen gewissen Sinn ergeben. Carina zeigte sich von der Wut ihres Gegenübers unbeeindruckt, obwohl ihr in Wirklichkeit das Herz heftig gegen die Brust schlug. „Wer sagt denn, dass ich sie noch habe? Vielleicht habe ich sie in dem Moment vernichtet, als ich sie in die Finger bekommen habe“, antwortete sie ruhig. „Und somit den einzigen Weg vernichtet, um zu erfahren wie du in diese Zeit gekommen bist? Ich glaube nicht. Dafür hast du selbst ein zu großes Interesse daran“, erwiderte der Todesgott selbstsicher. Langsam setzte sich bei Cedric ein Denkprozess in Gang. Dieser Crow hatte Carina also entführt, um an ihren Cinematic Record zu kommen und durch diesen zu erfahren, wie sie in die Vergangenheit gereist war. Er selbst kam ebenfalls aus der Zukunft, wusste den Weg aber anscheinend ebenso wenig wie Carina selbst. Wollte… wollte er etwa einen Weg zurück finden? „Er will wieder in seine eigene Zeit zurück“, murmelte Grell in dieser Sekunde leise, als auch er zu diesem Ergebnis kam. Cedric warf ihm einen kurzen, aber dafür überraschten Blick zu. Scheinbar war der Rothaarige gar nicht so dumm, wie er immer gedacht hatte. „Du hast Recht“, gab die 19-Jährige nun zu. „Ich habe meinen Record nicht vernichtet.“ Kaum wahrnehmbar blitzte Erleichterung in seinen Augen auf. Sie grinste. „Ich werde dir aber keineswegs verraten, wo er sich befindet.“ Seine Gesichtszüge glichen nun mehr einer Fratze, so sehr verzogen sie sich vor Wut. „Verdammte Scheiße, muss sie ihn jetzt auch noch provozieren?“, stöhnte Grell und drückte sich an der unsichtbaren Mauer beinahe die Nase platt. „Das konnte sie schon immer gut“, murmelte der Bestatter. Seine phosphoreszierenden Augen waren starr auf die Mutter seines Kindes gerichtet. „Grell“, meinte er plötzlich und Angesprochener schaute ihn erstaunt an. Das war das erste Mal gewesen, dass ihn der Silberhaarige bei seinem Namen genannt hatte. „Kann sie es schaffen? Könnte sie ihm gewachsen sein?“ Seine Stimme war leise, kontrolliert. Doch Grell hörte die Anspannung hinter den Worten. Er wusste, die Nerven des ehemaligen Seelensammlers waren bis zum Zerreißen gespannt. „Ich weiß nicht“, antwortete er ehrlich und besah sich den Mann, der für all das hier verantwortlich war, genauer. „Ich kann die Stärke von Crow nicht genau einschätzen, ich habe ihn nie kämpfen sehen. Aber… eines weiß ich mit Sicherheit. Carina ist stark.“ Seine gelbgrünen Augen funkelten vor Stolz kurz auf. „Sie hat sich in den letzten Jahren in einer unglaublichen Geschwindigkeit weiterentwickelt. Und sie gibt niemals auf, bevor sie nicht alles versucht hat, um ihren Gegner zu schlagen.“ Der Mentor schaute seinen Schützling aufmerksam an. „Sie wird es schaffen. Sie muss einfach!“ Cedric konnte dem Reaper ansehen, dass dieser sein bedingungsloses Vertrauen in die 19-Jährige setzte. Es beruhigte ihn ein wenig, dass Carina jemanden hatte, auf den sie sich so verlassen konnte. Wenn er selbst doch nur die gleiche Zuversicht an den Tag hätte legen können. Dieser Shinigami schien mit allen Wassern gewaschen zu sein. Wer wusste denn schon, wozu er fähig war? Und wie weit er für das Erreichen seiner Ziele gehen würde? Die kleine Schwarzhaarige hatte bereits sterben müssen. Sicherlich hatte er keine Hemmungen Carina die gleiche Ehre zu erweisen. Bei dem bloßen Gedanken zog erneut ein unangenehmer Stich durch seine Brust, eine Mischung aus Sorge und Angst. Er hasste diese Hilfslosigkeit. Er wollte nicht einfach nur tatenlos daneben stehen und zusehen! Carinas Puls beschleunigte sich, als ihr Gegner mit einer schnellen und kontrollierten Bewegung seine Death Scythe zog. Das Rapier war ihr bereits bestens bekannt, die silberne Klinge neigte sich keine Sekunde später in ihre Richtung. Jetzt war es endlich soweit. Endlich war der Moment da, endlich konnte sie ihn büßen lassen für all das, was er ihr angetan hatte. Was er Alice angetan hatte! Die beiden Todesgötter stießen sich zeitgleich vom Boden ab und nur wenige Sekunden später prallten ihre Klingen mit voller Wucht gegeneinander. Carina bemerkte zu ihrer großen Erleichterung, dass sie nicht ihre komplette Kraft aufwenden musste, um dem Druck seiner Waffe standhalten zu können. Möglicherweise lag dies aber auch einfach an der unglaublichen Wut, die ihrem Körper nach wie vor innewohnte und ihr die nötige Kraft gab. „Im niederträchtigen Überwältigen von hinten bist du ganz vorne mit dabei, aber in einem normalen Kampf kannst du dich nicht mal gegen ein – wie war das noch gleich? – kleines, dummes Mädchen durchsetzen? Jämmerlich.“ Ihre Provokation zeigte sofort den erwünschten Effekt. Eine Wutader zeichnete sich nun deutlich auf seiner Stirn ab und der Druck auf ihr Katana verstärkte sich zunehmend. „Na warte“, zischte er und neigte seinen Oberkörper ein winziges Stück mehr nach vorne. Genau die Bewegung, auf die Carina gewartet hatte. Sie selbst ließ mit einem Mal ihre Muskeln locker, sodass sein Rapier ihr Katana zu Boden drückte. Durch das unerwartete Nachgeben ihrerseits und das plötzliche Ungleichgewicht seines Oberkörpers stolperte der Shinigami einen einzigen Schritt nach vorne, doch das reichte Carina schon. Ihr Fuß schnellte mit gestrecktem Bein nach oben und bohrte sich unerbittlich in sein Gesicht. Sie sah den Unglauben in seinen Augen, dann riss es seinen Kopf nach hinten und ihn gleich mit. Zu Carinas größtem Bedauern jedoch schaffte es der Mistkerl auf den Beinen zu bleiben. Wie gerne hätte sie ihn am Boden kauern sehen. Allerdings war der Anblick seiner blutenden Nase auch nicht zu verachten. „Miststück“, knurrte der Lehrer verachtend und wischte sich einmal mit dem Ärmel seines schwarzen Jacketts über die Nase. „Das Miststück stopft dir gleich das Maul“, zischte sie zurück und leitete dieses Mal selbst den Angriff ein. Ihre Death Scythe schnitt durch die Luft, sauste ungebremst auf ihn herab, doch er war genauso flink wie sie. Sein Rapier prallte erneut gegen ihre Waffe und hielt sie somit im letzten Moment davon ab ihm den Schädel in zwei Teile zu spalten. Und dann begannen die beiden Todesgötter richtig zu kämpfen. Jeder von ihnen war meisterhaft im Umgang mit seiner Death Scythe, das wurde allen Anwesenden bereits nach wenigen Sekunden klar. Jeder Schlag war präzise, jedes erneutes Zusammenschlagen der beiden Waffen bis ins kleinste Detail durchdacht. Hätte Grell es nicht besser gewusst, hätte er geglaubt Crow und Carina hätten bereits öfter die Klingen miteinander gekreuzt. „Mir ist zwar damals in deinem Duell mit Knox klar geworden, dass mehr in dir steckt, als ich zu Anfang angenommen habe“, sagte er und Carina konnte gerade so einem weiteren Hieb seinerseits ausweichen, „aber das du in so kurzer Zeit noch solche Fortschritte machst, damit habe selbst ich nicht gerechnet.“ „Und das wird dir jetzt zum Verhängnis“, knurrte Carina zurück und drehte ihre Klinge leicht seitlich, um dem Druck Crows besser standhalten zu können. Ein Grinsen breitete sich auf seinen Lippen aus, das die 19-Jährige ihm am liebsten aus dem Gesicht geschlagen hätte. „Denkst du, ja?“ Dieses Mal kam sein Rapier waagerecht auf sie zu, wodurch Carina spielend leicht darunter wegtauchen konnte. Leider übersah sie dabei seine linke Faust, die ihr bereits eine Sekunde später einen derben Schlag gegen das Kinn versetzte. Sie unterdrückte einen Schmerzenslaut, konnte das schnelle Taumeln nach hinten allerdings nicht verhindern. Sofort fing die rechte Seite ihres Kinns an unangenehm zu pochen. Sein Grinsen wurde breiter. „Vergiss nicht, Carina, ich bin dir trotz allem ein paar Jahrhunderte voraus.“ „Und scheinbar hat die Zeit dich nicht schlauer werden lassen“, gab Angesprochene in einem höhnischen Ton von sich. Seine Mundwinkel verzogen sich in einer fließenden Bewegung nach unten. „Wie bitte?“ Scheinbar mochte er es nicht sonderlich, wenn man seine Intelligenz in Frage stellte. „Na ja“, begann sie und gab sich besondere Mühe, um ihren Tonfall so herablassend wie möglich klingen zu lassen. „Es wäre ein Leichtes für dich gewesen in deine Zeit zurückzukehren. Du hättest einfach nur abwarten und dich mit deinem Schicksal abfinden müssen, dann hättest du es vielleicht zurückgeschafft.“ Sie packte den Griff ihres Katanas fester. „Aber du hast dich mit den Falschen angelegt. Jetzt wirst du es niemals zurück in die Zukunft schaffen. Das werde ich verhindern, du abartiger Mistkerl.“ „Ach ja?“, zischte er zornig und holte zum verbalen Gegenschlag aus. „So, wie du es verhindert hast, dass ich dein kleine Freundin von ihrem Kopf befreit habe?“ Carinas ganzer Körper verkrampfte sich, als ihr die Bilder automatisch wieder in den Kopf schossen. Sie wurde bleich. Grell holte hinter der Barriere japsend Luft und selbst dem Bestatter schienen einen Moment lang die Worte zu fehlen. Der Todesgott hatte die kleine Schwarzhaarige geköpft? „Alice ist tot.“ „Bist… bist du dir auch ganz sicher?“ „Ich war dabei.“ „Oh Gott, nein“, murmelte Grell schwach und schloss entsetzt die Augen. Sie hatte mitangesehen wie… Cedric konnte nicht anders. Unwillkürlich begann er sich das Szenario vorzustellen. Crow musste es mit seiner Death Scythe getan haben, denn das war der einzige Weg als Shinigami einen anderen Shinigami zu töten. Er stellte sich vor seinem geistigen Auge vor, wie das Rapier in den dünnen Hals der 20-Jährigen eingedrungen war, Sehnen und Muskeln durchtrennt und das Fleisch geteilt hatte. Wie die Haut eingerissen war und in einem Schwall das ganze Blut freigab, das sich bis dato im Körper befunden hatte. Und natürlich, wie die Death Scythe schließlich auf der anderen Seite des Halses wieder austrat und ihren Kopf endgültig abtrennte. Wenn man einigen Theorien Glauben schenken sollte, bekam das Opfer die Enthauptung noch mit und sogar das Gehirn lebte noch etwa 13 Sekunden weiter. Etwas, was Cedric an sich zwar recht interessant fand, aber das war nicht der Punkt. „Ich war dabei.“ Er ballte seine Hände zu Fäusten. Carina hatte all das mitangesehen und wahrscheinlich kamen seine Vorstellungen nicht einmal nahe an die Wirklichkeit heran. Dieser Mistkerl hatte ganz genau gewusst, was er ihr damit antat, denn genau deswegen hatte er es ja erst getan. Wenn Carina ihn nicht umbrachte, dann würde er es tun! Crow hatte mit seinen Worten jedenfalls genau das erreicht, was er erreichen wollte. Carina bebte vor Zorn. Er lächelte heimtückisch. Mental war sie ohnehin schon angegriffen und durch seine vorherige Folter würde ihr Körper diesen Kampf sicherlich nicht allzu lange mitmachen, egal wie gut sie auch sein mochte. Außerdem würde diese ungeheure Wut auf ihn die Schnitterin unvorsichtig werden lassen. Und so kam es auch. Ihr nächster Angriff war rasend schnell, aber lange nicht so präzise, wie die vorangegangenen. Die 19-Jährige riss die Augen auf, als ihr Gegner einen beinahe lässigen Schritt zur Seite machte und seine Klinge im nächsten Moment über die Haut ihres linken Oberarmes fuhr. Sofort machte sich ein altbekannter, brennender Schmerz an besagter Stelle bemerkbar, was Carina nur noch wütender machte. Verflucht, sie hatte nicht aufgepasst. Mit einem geübten Rückwärtssalto brachte sie wieder ein wenig Abstand zwischen sich und ihren ehemaligen Lehrer, doch dieser hechtete unmittelbar hinter ihr her, gab ihr keine Zeit sich von der Schnittwunde zu erholen. Erneut tauchte sie unter seiner Waffe hinweg, nahm aus den Augenwinkeln das Blut wahr, das über ihren Arm lief. „Wo ist deine Deckung?“, echote es über ihr und entsetzt bemerkte sie, dass ihr Peiniger sein rechtes Knie auf sie herabsausen ließ – doch zu spät! Alle Luft wurde ihr aus den Lungen gepresst, als das Gelenk sie hart in den Magen traf. Ein ersticktes Keuchen drang über ihre Lippen und hätte sie noch etwas im Magen gehabt, hätte sie sich sicherlich jetzt noch ein weiteres Mal übergeben. Die Wucht der Attacke schleuderte sie nach hinten und reflexartig versuchte die Blondine sich mit ihren Armen selbst am Boden abzufangen, schürfte sich dabei jedoch lediglich beide Handflächen auf. Es brannte wie Feuer, doch Carina war immer noch damit beschäftigt Luft zu holen. Sie hustete, wobei sowohl Blut als auch Speichel auf den verdreckten Boden flogen. Cedrics Hände verkrampften sich an der Wand aus Luft. Nein, nein, nein. Genau das war es gewesen, wovor er sich gefürchtet hatte. Und er konnte gar nichts tun, um ihr zu helfen. Konnte nur abwarten und zusehen, was sich vor seinen Augen abspielte. Die Hilflosigkeit machte ihn wahnsinnig. Nicht schon wieder, er dürfte nicht schon wieder einen Menschen verlieren, den er… Carina atmete gegen den Schmerz an, während sie sich wieder hoch auf die Beine kämpfte und seinen erneuten Hieben auswich. Durch seine bisherige körperliche Unversehrtheit war er ihr gegenüber deutlich im Vorteil, das wusste die Schnitterin. Also musste sie schnellstmöglich dafür sorgen, dass sich diese Tatsache änderte. Aber das Problem daran war, dass er genauso schnell war wie sie und Carina hatte nicht mehr die Kraft dazu diese Auseinandersetzung in die Länge zu ziehen. Nein, sie musste mit Tricks arbeiten, musste ihn irgendwie dazu bringen seine eigene Deckung aufzugeben. Eine gewagte Strategie begann sich langsam in ihrem Kopf zu formen. Allerdings…wenn ihr Plan schief gehen würde, wenn sie scheiterte, dann würde sie das ihren Kopf kosten. Und im Zusammenhang mit Crow meinte sie dies wortwörtlich. „Nein, das hebe ich mir am besten für später auf.“ Der Todesgott lachte schallend auf, als er ihren Gesichtsausdruck bemerkte. „Ich kann förmlich sehen, wie es in deinem Gehirn arbeitet, Carina. Na, fehlt dir etwa die rettende Idee?“ „Zumindest habe ich ein arbeitendes Gehirn. Das scheint bei Ihnen ja wohl eher Mangelware zu sein“, entgegnete sie spöttisch und hob das Kinn ein wenig höher, um sich ihre aufkommende Nervosität nicht anmerken zu lassen. Die eine Sekunde, in der sich seine Miene erneut verfinsterte, nutzte sie, um – ähnlich wie sie es damals bei Cedric getan hatte – über ihn hinwegzuspringen. Ihr Fuß traf seinen Hals, instinktiv begann der Shinigami zu würgen. Ihr Katana bohrte sich gleich darauf in seine Schulter und der blütenweiße Stoff verfärbte sich innerhalb von einem Augenblick blutrot. Ein Schrei entfloh seinem Mund, der Carina ein Grinsen auf das Gesicht trieb. „Na, wie fühlt sich das an? Tut weh, nicht?“, zischte sie und riss ihre Death Scythe ruckartig aus der Wunde zurück, wodurch sich diese nur noch vergrößerte. Mr. Crow taumelte zurück, machte aber nicht den Fehler an die Verletzung zu greifen und somit keine Hand mehr frei zu haben. „Miststück“, keuchte er, nun ein wenig außer Atem. Scheinbar war er derartige Schmerzen wirklich nicht gewohnt. „Das hatten wir heute doch schon einmal“, erwiderte Carina verächtlich und festigte den Griff um ihre eigene Death Scythe. Eine bessere Wunde hätte sie ihm nicht beibringen können. Jetzt konnte einer seiner Arme zumindest nicht mehr mit voller Kraft das Rapier halten. Wenn sie es jetzt noch irgendwie fertig brachte ihn am anderen Arm zu verletzen, dann sahen ihre Chancen mit einem Mal schon wieder ganz anders aus. Sie verlor keine Zeit und stürzte sich erneut auf ihn, der Klingentanz ging auf der Stelle weiter. Während Grell vor Erleichterung am liebsten geweint hätte, starrte Cedric wie gebannt zu den kämpfenden Todesgöttern. Er hatte zwar vermutet, dass Carina sich nach dem missglückten ersten Kampf gegen den damals noch unbekannten Feind weiterentwickelt hatte, aber mit solch einer Verbesserung hatte er nicht gerechnet. Sie war schneller als damals auf der Campania und konnte die Reaktionen ihres Gegners viel besser einschätzen. Vermutlich würde sie sogar noch um einiges besser sein, wenn sie im Besitz ihrer vollen körperlichen Kraft wäre. Es beeindruckte ihn doch immer wieder aufs Neue, wie sehr sie sich in den letzten Jahren verändert hatte. Dennoch, dieser Mr. Crow hatte ebenfalls eine ganze Menge auf dem Kerbholz. Und er hatte Carina eine ganz entscheidende Sache voraus. Erfahrung. „Verdammt, ich schaffe es einfach nicht seine Deckung zu überwinden“, ging es der Schnitterin verzweifelt durch den Kopf, während ihr Katana zum wiederholten Mal gegen sein Rapier schlug. Egal, wie abwechslungsreich sie ihre Bewegungen und Angriffe auch gestaltete, er war immer sofort zur Stelle und wehrte sie ab. Und langsam aber sicher spürte sie, wie ihre Arme müder von dem Gewicht ihrer eigenen Waffe wurden. Wie ihr ganzer Körper nichts anderes wollte als Ruhe und Schlaf. Erneut dachte sie an die Strategie, die sie sich vorhin zurechtgelegt hatte. „Wenn das schief geht, bin ich tot“, dachte sie, aber es nützte alles nichts. Crow war stärker als sie. Aber das bedeutete nichts. Sie musste nicht stärker sein als er, um ihn zu töten. Sie musste einfach den besseren Plan haben. Also setzte sie ihr schrecklich leichtsinniges Vorhaben in die Tat um. Bei seinem nächsten Schwerthieb duckte sie sich, allerdings eine Spur zu langsam. Die dünne Klinge glitt knapp über ihre linke Schulter hinweg und Carina versuchte sich zu wappnen, doch nichts hätte sie auf den brennenden Schmerz vorbereiten können, als die geschärfte Stichwaffe über die Haut ihres Rückens fuhr. Der Stoff des Kleides riss auf, Blut spritzte sogleich aus der Schnittwunde und Carina war froh, dass sie diese nicht sehen konnte. Ein unterdrückter Schmerzensschrei entfuhr ihren Lippen. „Carina“, konnte sie Grell im Hintergrund schreien hören, doch es klang dumpf in ihren Ohren. Vielmehr nahm sie ihren rasenden Puls wahr, der gegen die Innenseiten ihres Schädels hämmerte. „Reiß dich zusammen“, schleuderte sie sich gedanklich entgegen und richtete ihren Blick auf das zufrieden grinsende Gesicht ihres Gegners. „Ja genau. Denk ruhig, dass du bereits gewonnen hast“, dachte sie und eine Sekunde später entdeckte sie endlich die Lücke in seiner Verteidigung, die sie schon die ganze Zeit gesucht hatte. Sie schlug zu; schneller, als irgendjemand im Raum realisieren konnte. Im ersten Moment befand sich die Klinge ihres Katana nahe seines Oberarmes, im nächsten durchschlug sie sein Fleisch. Schnitt glatt und ohne Probleme durch den Knochen, knapp über dem Ellbogen und trennte die Extremität vom restlichen Körper ab. „Eine Death Scythe durchschneidet alles.“ Noch nie war sie froher um diesen Slogan gewesen als jetzt. Carina verfolgte jede Regung auf seinem Gesicht. Sein ungläubiger Blick, während er noch zu realisieren versuchte, was gerade passiert war. Das langsame Blinzeln, als die Tatsache langsam in seinen Kopf eindrang, dass sie ihm gerade beinahe den kompletten rechten Arm abgeschlagen hatte. Und als es endlich soweit war, explodierte Schmerz auf seinem Gesicht. Der gellende Schrei, der nun seiner Kehle entfuhr, war Musik in Carinas Ohren und sie hasste sich dafür. Wann war sie zu jemandem geworden, der sich an dem Leid anderer ergötzte? Crow taumelte rückwärts von ihr weg, bleich wie ein Bettlaken. Ob dies vom Schock herrührte oder von der gewaltigen Menge Blut, die nun zu Boden spritzte, konnte die Schnitterin nicht genau sagen. Aber in diesem Augenblick ereilte auch Carina der Schmerz an ihrem Rücken und er war so überwältigend, dass sie gezwungen war auf die Knie zu gehen und sich nach vorne zu krümmen. Cedric hatte sich in der Sekunde gegen die Barriere geworfen, als das Rapier Carinas Rücken aufgerissen hatte. In der einen Sekunde, in der sein Herz vor Schmerz laut aufgeschrien hatte. Mit jeder Faser seines Körpers wehrte er sich gegen die Wand aus Luft, brauchte jegliche Selbstbeherrschung allein dafür auf nicht vor Verzweiflung und Wut zu brüllen. Es besänftigte ihn nicht einmal, dass die 19-Jährige zum Gegenschlag ansetzte und ihrem Gegner den Arm abschlug. Seine Fingernägel kratzten über das feste Hindernis, suchten nach wie vor nach einem Schlupfloch, das nicht da war. Verdammt, aber es musste eines geben, es musste einfach. Diese Wunde… diese riesige Schnittwunde… Blut breitete sich strahlenförmig über ihr Kreuz aus, durchtränkte den blauen Stoff des Kleides. Selbst von hier aus konnte der Bestatter sehen, dass der Schnitt tief saß und genäht werden musste. Carina musste unglaubliche Schmerzen haben. „Undertaker, hör auf damit. Das bringt doch nichts“, hörte er Grell neben sich rufen, doch er ignorierte den Rotschopf. Er musste irgendwie zu Carina durchkommen und dann würde er diesen Bastard in Stücke reißen. Dafür, dass er der seinen wehgetan hatte. Und in diesem Moment traf ihn die Erkenntnis. In diesem Moment der Sorge und der Angst sie zu verlieren, da wusste er es. Er liebte Carina. Hatte es tief in seinem Unterbewusstsein schon lange gewusst, hatte immer wieder gegen diese Gefühle angekämpft, versucht den gleichen Fehler nicht noch einmal zu machen. Aber es hatte nichts gebracht, verdammt… er liebte Carina! Und der Gedanke, dass er es womöglich zu spät erkannt hatte, dass sie gleich vielleicht vor seinen Augen sterben würde, brachte ihn fast um. „Himmel Herrgott“, knurrte er und hämmerte erneut gegen die Wand. Hätte Carina diesen dämlichen Schalter doch nur nicht vernichtet… Auch Grell verlor neben ihm nun die Nerven, bekam gar nicht richtig mit, was dem Silberhaarigen gerade klar geworden war. „Carina“, schrie er zum wiederholten Male, doch die Blondine schien ihn nicht zu hören. Zu sehr war sie damit beschäftigt die gewaltigen Schmerzen in den Griff zu bekommen, um endlich weiterkämpfen zu können. Es war ein großes Glück, dass es ihrem Gegenüber genau so ging. Der Reaper zog seine Death Scythe und stieß sein rotierendes Sägeblatt mit aller Macht gegen die Barriere, doch diese hielt stand. „Das darf doch wohl nicht wahr sein“, fluchte er lautstark. Dieser Mistkerl hatte es also sogar geschafft etwas zu erfinden, was den Todessensen der Shinigami widerstehen konnte? „Scheiße“, wisperte er und konnte den Anblick seiner engsten Vertrauten kaum ertragen. Der Stoff an ihrem Rücken war mittlerweile komplett von ihrem Blut durchnässt. Die Wunde würde sie als Shinigami nicht umbringen, aber der Blutverlust konnte zumindest dazu führen, dass sie das Bewusstsein verlor. Und wenn das passierte, dann konnte Crow mit ihr machen, was er wollte. Er wollte sich gar nicht vorstellen, was– Überrascht fuhren beide Todesgötter herum, als hinter ihnen im Gang Schritte ertönten. Beide konnten sich allerdings denken, um wen es sich dabei handeln musste und bereits wenige Sekunden später bestätigte sich dieser Verdacht auch. „Sebas-chan“, bemerkte Grell, hätte er doch trotz allem nicht gedacht, dass der Butler so schnell zurückkehren würde. „Was machst du hier?“ „Haben Sie vorhin etwa nicht zugehört, Grell Sutcliff? Mein junger Herr möchte, dass ich denjenigen bestrafe, der Lady Elizabeth entführt hat.“ Er blickte zu dem einarmigen Mann, der keuchend am anderen Ende des Raumes stand. „Ich nehme an, das ist besagter Übeltäter?“ Er machte einen recht großen Schritt nach vorne, stoppte allerdings kurz vor der undurchlässigen Mauer. „Was zum-“, murmelte er und tastete die unsichtbare Wand ebenso ab, wie es der Totengräber zuvor getan hatte. Seine Augen glühten einmal rot auf, als er sich erneut daran versuchte weiter vorzurücken, aber genauso wie die Shinigami war für ihn hier Endstation. „Scheint so, als ob auch dämonische Kräfte hier nicht wirken“, seufzte Grell, verstummte dann aber abrupt, als seine Aufmerksamkeit auf Carina zurückgelenkt wurde, die jetzt ihren linken Fuß wieder auf dem Boden abgestellt hatte. Ein angestrengtes Keuchen verließ ihre Lippen. Carina konnte die kalten Schweißperlen auf ihrer Stirn fühlen und ebenso, wie sie mit jeder weiteren Minute immer blasser wurde. Sie dachte an ihren Selbstmord zurück. Damals hatte es sich ähnlich angefühlt. Mit jedem Blutstropfen, der ihren Körper verließ, verschwamm ihre Sicht mehr. „Verflucht“, zischte die junge Frau leise und richtete sich noch ein wenig weiter auf. Sofort ergriff sie ein heftiger Schwindelanfall, trieb ihr noch mehr die Farbe aus dem Gesicht. Keuchend verblieb sie daher am Boden und sah zu Crow herüber, der sich inzwischen ein Stück seines Hemdes abgerissen und als Druckverband um den Stumpf seines ehemaligen Armes gebunden hatte. Die Fassungslosigkeit in seinem Gesicht wurde nach und nach durch Wut ersetzt. „Du dämliche Hure“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Zuerst Miststück und jetzt Hure? Fällt Ihnen nichts Besseres ein?“, fragte sie atemlos und versuchte zum zweiten Mal sich aufzurichten. Doch ihr Körper hatte genug, sie hatte ihre Grenzen deutlich überschritten. Zuerst die Entführung, dann die Folter, der Schock durch Alice‘ Tod, die ganze Rennerei durch diese unterirdischen Tunnel und jetzt auch noch dieser Kampf gegen ihren ehemaligen Lehrer. Gepaart mit der blutenden Wunde hatte es ihrem Körper den Rest gegeben. „Scheiße“, dachte sie und zu ihrem größten Missfallen spürte sie Angst ihre Kehle hinaufkriechen. Wenn sie sich nicht schleunigst etwas einfallen ließ, dann würde er sie umbringen. Und dieses Mal würde es keine Rückkehr von den Toten mehr geben. Auch, wenn Carina es nicht gerne zugab: Sie wollte noch nicht sterben! „Carina“, hörte sie Grell jetzt hinter sich rufen. Sie wandte halb ihren Kopf und sah ihn an. „Steh auf“, befahl er ihr im gleichen strengen Tonfall, den er bereits zu Zeiten ihrer Ausbildung immer angeschlagen hatte. Doch sie konnte das Zittern in seiner Stimme hören. „Steh auf“, sagte er noch einmal, während seine Augen auf etwas hinter ihr fielen und nun groß wurden wie Untertassen. Carina sah zu ihrem persönlichen Erzfeind zurück. Dieser hatte es in der Zwischenzeit geschafft sich zu bücken und seine Death Scythe vom Boden aufzuheben. Carina zwang ihren Körper in die Höhe, schaffte aber nur einen einzigen Schritt nach hinten, ehe ihr Zustand sie wieder zurück auf die Knie fallen ließ. „Ich bin so ein Idiot“, dachte sie. „Wäre ich nur nicht so dumm gewesen und hätte den Schalter zerstört, dann gäbe es vielleicht jetzt noch einen Ausweg.“ Es wäre ihre eigene, dämliche Schuld, wenn sie hier draufgehen würde. Ihr verdammter Stolz würde ihr schlussendlich also doch noch das Genick brechen. „Denk nach. Denk nach“, ermahnte sie sich und sah langsam auf, ließ den Blick hektisch hin und her schweifen. Erst jetzt bemerkte die 19-Jährige, dass Sebastian zurückgekehrt war. Er stand schweigend neben Cedric und schien gerade den Versuch aufzugeben einen Weg durch die Barriere zu finden. Die dämonischen Augen legten sich kurz darauf auf sie, flackerten in der Dunkelheit des Raumes gefährlich auf. Und in diesem Augenblick, als sie den Butler und den Silberhaarigen so zusammen sah, schob sich ein Bild vor ihr inneres Auge. Eine ganz bestimmte Szene, die sich damals auf der Campania abgespielt hatte. Die scheinbar rettende Idee sprang Carina förmlich entgegen, gleichzeitig fragte sie sich, warum sie nicht schon früher auf diesen Einfall gekommen war. Wenn sie Crow richtig einschätzte, wenn er auch nur ein wenig so wie der Teufel war, dann… dann konnte dieser Plan funktionieren! Unwillkürlich beschleunigte sich ihre Atmung. Das Adrenalin schärfte erneut ihre Sinne und als sie ihren Kopf zum wiederholten Male hob und ihren Feind ansah, wirkte ihr Gesicht beinahe vollkommen ausdruckslos. „Du willst meine Cinematic Records?“, fragte sie ohne jegliches Gefühl in der Stimme, erwartete aber gar keine Antwort seinerseits. Quälend langsam – sich aber gleichzeitig jeder Bewegung bewusst – hob sie die Hand und ließ sie in ihren Ausschnitt gleiten, bis ihre Finger den kleinen festen Gegenstand ertasteten. Völlig ruhig zog sie die Filmdose hervor und hielt sie so, dass alle Anwesenden sie mit Leichtigkeit sehen konnten. „Dann hol sie dir!“ Eine deutliche Herausforderung lag in diesen Worten und als sie die Gier, diese unglaubliche Gier, in seinen Augen sah, da wusste sie, dass sie ihn richtig eingeschätzt hatte. „Oh Götter“, murmelte Grell, auch er hatte den Gesichtsausdruck des Lehrers gesehen. Eine Gänsehaut breitete sich auf seinen Armen aus. Dieser Typ war in seinem Fanatismus doch kein richtiger Mensch mehr! Neben ihm blieb der Undertaker hingegen verhältnismäßig ruhig. Er hatte das Blitzen in Carinas Augen gesehen, kurz bevor sie sich umgedreht hatte. „Sie hat einen Plan.“ Die Schnitterin sah dabei zu, wie Mr. Crow sich mehr und mehr aufrichtete. Vergessen schienen der abgetrennte Arm und die Schmerzen. Alles, was der Dunkelhaarige noch sehen konnte, war das kleine Filmdöschen in ihrer linken Hand. Auf diesen Moment hatte er so lange gewartet! Ein irres Grinsen breitete sich auf seinen Lippen aus. Er stürmte los, seine Death Scythe fest mit seiner verbleibenden Hand umklammernd. Nur noch wenige Meter… Und Carina sah ihm entgegen, unternahm nichts, rührte nicht einen Muskel. Nein, stattdessen dachte sie daran, wie er sie im Weston College in den Spiegel geworfen hatte. Wie er ihr anschließend die Tracht Prügel ihres Lebens verpasst hatte. Wie er sie nach ihrer Rückkehr zum Dispatch durch den Park verfolgt hatte. Wie er ihr das Genick gebrochen hatte. Sie anschließend gefoltert und gedemütigt hatte. Wie er… Alice getötet hatte. Das alles würde jetzt ein Ende haben! Crow streckte bereits seine Hand aus, gleich würde sein gewünschtes Zielobjekt in Reichweite sein. Gleich, endlich… Carina wartete bis zum allerletzten Augenblick. Und dann, mit einem leichten Beugen ihres Handgelenks, ließ sie die Dose los, schleuderte sie direkt an ihm vorbei. Grell, Sebastian und Cedric rissen synchron die Augen weiter auf. Alle drei wussten, was Carina nun vorhatte. Wie in Zeitlupe sah der Todesgott die Cinematic Records an sich vorbeigleiten. Mitten in seiner nach vorne stürzenden Bewegung drehte er sich um, den Blick fest auf das Objekt seiner Begierde gerichtet. Er ließ seine Waffe fallen und streckte die Hand erneut aus, die Finger weit gespreizt. Jetzt konnte ihn keiner mehr aufhalten. Er würde endlich nach so langer Zeit einen Weg finden zurückzukehren. Zurück ins 21. Jahrhundert. Die harte Arbeit der vergangenen Jahrhunderte würde sich auszahlen. Die ganzen Zeitreisenden, die er abgeschlachtet hatte, hatten sich schlussendlich doch noch gelohnt. Ein strahlendes Lächeln zierte seinen Mund und schließlich berührten seine Fingerspitzen – endlich, endlich – das glatte Material der Filmdose. Doch zeitgleich ging aus heiterem Himmel ein harter Ruck durch seinen Körper. Verwundert schaute der Todesgott an sich herunter und konnte nicht so recht begreifen, was er da sah. Ein feingeschliffenes Schwert hatte seinen Brustkorb durchstoßen, genau an der Stelle, wo sein Herz saß. Blut tropfte ihm plötzlich aus beiden Mundwinkeln, seine Finger ließen sich mit einem Mal nicht mehr krümmen. Die Dose entglitt ihm, fiel lautlos zu Boden. Immer noch keinen Schmerz spürend, drehte er sich um und sah seiner Angreiferin, die sich unmittelbar hinter ihm befand, mitten ins Gesicht. Und realisierte. Carinas Blick war eiskalt. Verschwunden waren die brennend heiße Wut und der Hass. Da war nur noch Leere. Sie sagte nichts, denn es gab nichts mehr, was sie ihm noch zu sagen hatte. Nein, er sollte sterben. Ohne die Gnade letzter schöner Worte, ohne einen Abschied. Einfach nur sterben. Und das tat er. Sein Mund öffnete sich zu einem letzten Schrei, der aber niemals seine Lippen verließ. Denn in diesem Moment schossen stechend gelbgrüne Cinematic Records aus seinem Körper, gaben ihm keine Gelegenheit mehr zu irgendeiner Reaktion. Die dünnen Streifen schlossen sich nach und nach eng um seinen ganzen Körper, bedeckten ganz zum Schluss sogar sein Gesicht. Carina zog ihr Katana schnell zurück, wich erstaunt von dem Schauspiel zurück. Was hatte das nur zu bedeuten? Was passierte da? Lange musste sie auf ihre Antwort jedenfalls nicht warten. In der Sekunde, als die Aufzeichnungen seinen kompletten Körper bedeckten, wurde das gelbgrüne Licht so grell, dass es Carina in den Augen brannte. Doch sie zwang sich sie offen zu lassen, wollte keinen Augenblick dieser Szene verpassen. Das Winden und Drehen der Cinematic Records wurde schneller. Und dann stoben sie auseinander, zerfielen nach und nach zu Asche, bis nichts mehr von ihnen übrig war. Carina wusste, dass es vorbei war. Nichts erinnerte noch an den Mann, der ihr ganzes Leben in ein einziges Chaos gestürzt hatte, der ihr ihre beste Freundin genommen hatte. Aber es stellte sich keine Erleichterung ein. Kein Glück. Kein Frieden. Sie sackte zu Boden, hatte gerade noch so die Kraft sich mit den Händen halbwegs abzufangen. Wenn sie nicht so erschöpft gewesen wäre, wenn ihr nicht alles wehtun würde, dann hätte sie am liebsten geweint. Geweint um das, was sie in diesem Bunker verloren hatte. Doch keine einzige Träne kam. Cedric stand immer noch wie erstarrt da, unfähig klar zu denken. Sie hatte diesen Mistkerl mit seinem Trick geschlagen, hatte es genau so gemacht, wie er auf der Campania. Auch Sebastian hatte sich damals ohne zu Zögern zu Ciel umgedreht und seine komplette Umgebung außer Acht gelassen. Unterschwelliger Stolz flammte in ihm auf. Carina war wirklich außergewöhnlich. „Oh Gott sei Dank“, schluchzte Grell neben ihm und war tatsächlich in Freudentränen ausgebrochen. Seiner kleinen Schwester war es wirklich gelungen, sie hatte ihre beste Freundin gerächt und den Shinigami dafür bezahlen lassen, was er getan hatte. Doch die Freude darüber verpuffte in dem Moment, als er merkte, dass die Barriere immer noch intakt war. „Scheiße“, entfuhr es ihm und rollte kurz darauf mit beiden Augen. Dieses Wort benutzte er heute viel zu häufig. „Wir müssen diese Wand irgendwie durchbrechen“, meinte der Totengräber und griff nach seiner Sense. Er wollte Carina keine Sekunde länger in ihrem eigenen Blut dort liegen lassen. Aber bevor er auch nur einmal mit seiner Death Scythe ausholen konnte, erstrahlte erneut ein helles Licht. Dieses Mal war es allerdings nicht gelbgrün, sondern blendend weiß. „Oh nein“, sagten Cedric und Sebastian unisono. Beide hatten sie dieses Licht schon mehrere Male in ihrem langen Leben gesehen und es ließ immer nur einen einzigen Schluss zu. „Das ist jetzt nicht wahr, oder?“, hauchte Grell. Er selbst hatte noch nie eine solche Begegnung gehabt, aber er kannte Unmengen an Geschichten. Sowohl Gute, als auch Schlechte. Und so beschissen, wie es in den letzten Tagen gelaufen war, konnte er Letzteres definitiv nicht ausschließen. Carina kniff die Augen zusammen. Halluzinierte sie jetzt bereits oder passierte das gerade wirklich? „Bloß nicht ins Licht hineingehen“, dachte sie flüchtig amüsiert. Anscheinend schien sie bereits den gleichen Humor wie ein gewisser Bestatter zu entwickeln. Das unangenehm starke Leuchten ließ langsam nach und als die junge Shinigami ihre Augen wieder öffnete, traute sie dem Anblick nicht, der sich ihr bot. Keine zwei Meter von ihr entfernt stand ein Mann. „Nein“, korrigierte Carina sich gedanklich. Nein, das war kein Mann. Er war um die 1,90 m groß, seine langen blonden Haare hatte er im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Die Augen, die mit einem undefinierbaren Ausdruck auf sie herabsahen, schimmerten in der Farbe von flüssigem Gold. Sein Gewand hingegen war weiß und ähnlich wie eine Toga geschnitten. Und er war unglaublich schön, dachte Carina. Nur ein Dummkopf hätte das bestritten. Nein, das hier vor ihr war definitiv kein Mann. Denn die langen, gefiederten Schwingen auf seinem Rücken sprachen da eine relativ deutliche Sprache. „Ein Engel?“ Kapitel 71: Die ganze Wahrheit ------------------------------ „Nicht das auch noch“, war alles, was Carina momentan denken konnte, als sie geschockt zu dem geflügelten Wesen aufsah, das unmittelbar vor ihr stand. Was tat ein Engel hier? Ächzend versuchte sie hochzukommen, doch ihr geschundener Körper blockierte sogleich jegliche Bewegung. Am ganzen Leib zitternd fiel sie zurück auf ihren Po, schaffte es gerade noch so sich mit den Händen am Boden abzufangen. Gleich darauf erstarrte sie zu Stein, als der Engel – nach wie vor stumm – seine rechte Hand hob. Was würde er tun? Sie schlagen? Seine Macht auf sie schleudern? Verzweifelt versuchte die Schnitterin sich an die Worte in ihren Lehrbüchern zu erinnern, an das Wissen über die Kräfte und Fähigkeiten verschiedener Engel. Doch ihr Kopf war plötzlich wie leergefegt, die Erinnerungen verschwammen vor ihrem geistigen Auge. In ihrer derzeitigen Situation konnte Carina lediglich hilflos dabei zusehen, wie die Hand schließlich auf mittlerer Höhe innehielt. Die goldenen Augen starrten ausdruckslos auf sie herab und dann… schnippte er einmal. Die nachfolgenden Sekunden passierten zu schnell für die junge Shinigami. Ein Knacken war zu hören, ähnlich dem Zersplittern von Glas, und im nächsten Augenblick spürte Carina bereits, wie sich zwei Hände fest auf ihre Schultern legten und sie stützten. Die 19-Jährige hob den Kopf und riss sogleich ungläubig die Augen auf. Grell und Cedric standen links und rechts von ihr, jeweils eine Hand auf ihr Schulterblatt gelegt. In der anderen Hand hielten sie ihre Death Scythe, beide in Richtung des weißgekleideten Mannes gerichtet, und ihre Blicke sprachen eine deutliche Sprache. Wenn es erforderlich sein sollte, würden sie sich mit dem himmlischen Krieger anlegen, ungeachtet der nachfolgenden Konsequenzen. Carina drehte ihren Kopf leicht, als rechts von ihr Schritte ertönten. Sebastian kaum ohne jegliche Eile zu ihnen rüber geschlendert, doch ein für ihn eher untypisch ernster Gesichtsausdruck schmückte seine schön geschnittenen Züge. Der Engel schaute dem Teufel entgegen und öffnete den Mund, setzte zum Sprechen an. Als seine Stimme das erste Mal erklang, zuckte Carina vor Schreck zusammen. Wenn seine Augen aussahen wie flüssiges Gold, dann hörte sich seine Stimme an wie die melodischen Klänge eines Klaviers. Und sie kam ihr irgendwie bekannt vor… „Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns jemals über den Weg laufen“, sprach er und behielt seinen Blick auf Sebastian, der die Lippen nun zu einem leichten Lächeln verzog. Etwas, das Carina nach wie vor nicht an ihm mochte. „Diese Annahme beruhte auf Gegenseitigkeit“, antwortete der Butler Ciel Phantomhives ruhig. „Was hat das alles zu bedeuten?“, fragte Carina schwach und lehnte sich mittlerweile mit ihrem gesamten Gewicht gegen die Hände der Männer, die ihr die Wichtigsten auf dieser Welt waren. Erneut schaute der Engel sie an und dieses Mal zeichnete sich ein schmales Lächeln auf seinen Lippen ab. Er ging auf ein Knie, um halbwegs mit ihr auf einer Augenhöhe zu sein. Seltsamerweise bekam die Schnitterin das Gefühl, dass dieser Mann nicht hier war, um ihnen weiteren Schaden zuzufügen. „Senkt eure Sensen“, murmelte sie. Grell schaute sie ungläubig an, während Cedric sich nicht um einen Millimeter bewegte. Sein Blick blieb durchgehend auf das übernatürliche Wesen vor ihm gerichtet. „Bitte“, setzte sie leise nach. Beide Todesgötter warfen sich gegenseitig einen kurzen Blick zu, kamen der Bitte dann aber schlussendlich nach. „Danke“, sagte der Engel, allerdings nicht an die Männer gerichtet, sondern an die einzige Frau in der Runde. „Danke, dass du dem ein Ende gesetzt hast.“ Carina runzelte die Stirn. Er sprach sie so vertraut an, als würden sie sich bereits Jahre kennen. „Wovon sprichst du?“, erwiderte sie, duzte ihn nun ebenfalls. „Das Töten von Menschen, die auf dem ein oder anderen Weg durch die Zeit gereist sind, hat bereits viel zu lange angedauert. Jetzt wird zumindest das ein Ende haben.“ „Zumindest?“, dachte Carina, kam aber nicht dazu ihre Frage zu stellen, denn Cedric erhob jetzt ebenfalls die Stimme. Und wie immer, wenn jeglicher Spaß und jegliches Kichern aus seiner Stimme verschwunden waren, überlief es Carina bei seiner Ernsthaftigkeit heiß und kalt zugleich. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Engel ohne jeglichen Grund hier auftaucht.“ „Genau“, warf Grell dazwischen und deutete mit seinem Zeigefinger auf den Fremden. „Wer bist du und was willst du von Carina?“ „Mein Name lautet Uriel“, begann der Engel, woraufhin alle außer Carina erstarrten. Nervös spähte sie zu Grell. „Sollte mir der Name was sagen?“, flüsterte sie fragend, woraufhin der Rothaarige ihr einen beinahe schon empörten Blick zuwarf. „Da hat wohl jemand nur die Bücher über Dämonen gelesen und nicht die über Engel“, meinte er trocken und traf mit dieser Aussage tatsächlich direkt ins Schwarze. Carinas Wangen färbten sich leicht rosa. „Schon möglich“, meinte sie abwehrend, ein wenig peinlich berührt über die Wissenslücke. Cedric kam ihr unerwarteterweise zur Hilfe. „Uriel ist der Name eines Engels, der in vielen Religionen als Erzengel spezifiziert wird.“ Nun erstarrte auch Carina. „E…Erzengel? Wie in Michael, Gabriel und Raphael?“ Der Silberhaarige nickte. Selbst er war bisher niemals einem solch hochrangigen Engel begegnet und war dementsprechend auf der Hut. „Du hast meine letzte Frage nicht beantwortet“, sagte Grell in diesem Moment. „Was willst du von Carina?“ „Ich habe keinerlei Intentionen ihr Schaden zuzufügen, falls es das ist, was Sie meinen, Mr. Sutcliff“, antwortete der Blonde ruhig und sorgte mit seinen letzten Worten dafür, dass Grell jegliche Worte fehlten. Woher kannte der Erzengel seinen Namen? Als hätte er seine Gedanken gelesen, antwortete Uriel: „Ich kenne Ihren Namen, weil ich bereits seit langer Zeit Carinas Situation überwache. Und somit zwangsläufig natürlich auch ihre Freunde kenne.“ Und genau in diesem Augenblick ging Carina ein Licht auf. Sie wusste, wo sie diese Stimme schon einmal gehört hatte. „Du warst das“, flüsterte sie und räusperte sich einmal, was aber nicht viel brachte. Ihre Stimme war von dem vielen Schreien in den letzten Stunden völlig erschöpft. „Du hast mir verraten, welche Abzweigungen ich nehmen muss, um Crow zu finden.“ Der Mann fixierte sie mit seinem Blick und nickte. „Hä?“, gab Grell von sich, mehr als nur verwirrt. „Ich habe seine Stimme gehört“, murmelte sie als Antwort, wandte ihre Augen aber nicht von dem Fremden ab. „Okay“, stellte sie fest. „Erzähl mir bitte, was das zu bedeuten hat. Ich habe dieses ganze Hin und Her so satt.“ „Sagt die Richtige“, dachte Cedric, hielt aber den Mund. Denn auch er erwartete endlich eine Erklärung. „Ich sollte ganz am Anfang beginnen. Möglicherweise könnte es vorerst ein wenig verwirrend für dich sein, Carina, weil die Verbindung zu deiner Geschichte nicht sofort klar wird. Aber ich bitte dich mir bis zum Ende zuzuhören.“ Seine Stimme war freundlich, beinahe schon sanft. Allein das war der Grund, warum die 19-Jährige nicht zögerte, sondern sofort nickte. „Dann will ich dir zuerst eine Frage stellen. Sagt dir der Begriff „Höllensturz“ etwas?“ Dieses Mal konnte Carina erleichtert nicken, über dieses Thema wusste sie bestens Bescheid. „Ja, allerdings kann man unter diesem Begriff mehrerlei Dinge verstehen, oder? Der Fall eines Engels, der Sieg über den Teufel in der Apokalypse oder die Verdammung der Sünder beim Jüngsten Gericht. Aber ich nehme jetzt mal einfach an, dass du Höllensturz in Bezug auf einen Engel meinst?“ Uriel nickte. „Ja, allerdings. Der betroffene Engel wird für seine Auflehnung mit der Vertreibung aus dem Himmel bestraft. Der wohl bekannteste Fall diesbezüglich stellt Luzifer dar.“ Carina nickte stumm. Auch sie hatte gleich an diesen Namen denken müssen. „Aber hier geht es nicht um Luzifer“, fuhr der Engel fort, was Grell erleichtert aufseufzen ließ. Allein der Name an sich sorgte schon dafür, dass es ihm eiskalt den Rücken herunterlief. „Und um welchen Engel geht es im Zusammenhang mit meiner Geschichte?“, fragte Carina leise, der die Entwicklung dieses Gesprächs immer weniger gefiel, dabei hatte Uriel gerade erst angefangen. „Im Laufe der Zeit hat er sich viele Namen angeeignet, aber der wohl Bekannteste unter den Menschen dürfte Samael sein.“ Und tatsächlich, auch dieser Name sagte Carina etwas. „Auch er ist in manchen Religionen als Erzengel bekannt, wenn auch nicht so ranghoch wie die anderen Vier“, bemerkte der Bestatter und entlockte Uriel damit ein weiteres Nicken. „Steht er nicht auf der Liste der Engel, die gegen Gott rebelliert haben?“, versuchte Grell sich zu erinnern und erntete mit diesen Worten ebenfalls ein Nicken des Erzengels. Aus den Augenwinkeln fiel Carina auf, dass sich Sebastians blutrote Augen leicht verengten. Das Gesprächsthema schien ihm ganz und gar nicht zu gefallen. „Es gibt viele Gründe, warum Engel aus dem Himmel vertrieben werden. Sexuelle Lust, das Ausnutzen der Willensfreiheit gegenüber Gott oder auch die Weigerung, dem Menschen – Gottes Werk – Respekt zu bezeugen. Samael jedoch wurde aus dem schlimmsten aller Gründe aus dem Himmelsreich verbannt.“ „Das Streben nach Gottgleichheit“, murmelte Cedric wissend und anhand von Uriels bitterem Gesichtsausdruck wusste Carina, dass der Silberhaarige mit seinen Worten den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. „Was für ein unsinniger Grund“, warf Sebastian ausdruckslos in die Runde und fasste sich mit seiner weiß behandschuhten Hand kurz an die Stirn. Die Schnitterin machte sein seltsames Verhalten erneut stutzig. Kannte er diesen abtrünnigen Engel etwa? „Und was passiert mit Engeln, die aus dem Himmel verbannt wurden?“, wisperte Carina, nun doch ein wenig neugierig. „Die meisten sterben recht schnell. Meist durch Dämonen, denn nach ihrer Verbannung büßen sie einen Großteil ihrer himmlischen Kräfte ein und können sich dementsprechend nicht verteidigen. Die wenigen, die trotz aller Schwierigkeiten überleben, ziehen sich ihr restliches Leben lang zurück, um für ihre begangenen Sünden zu büßen. Aber natürlich“, er seufzte kurz, „gibt es auch hier wieder Ausnahmen von der Regel. Und eine dieser Ausnahmen ist Samael.“ „Das war damals ein harter Schlag für euch, nicht wahr?“, erhob der einzige Teufel in der Runde die Stimme, ein wissendes Grinsen auf den Lippen. „Dass einer von euch in die Hölle gegangen ist, um beiden Schicksalen zu entgehen, nicht wahr?“ „In die Hölle?“, erschauderte Grell und schlug sich eine Hand vor den Mund. Der Totengräber verengte leicht die Augen, während sich Carina in ihrer Annahme bestätigt fühlte. Sebastian kannte Samael tatsächlich. „Er ist selbst zu einem Teufel geworden“, stellte Cedric fest, woraufhin Uriel schweren Herzens nickte. „Ja. Engel können in der Hölle auf Dauer nicht überleben. Ich habe Samael nach seinem Sturz nur noch ein einziges Mal zu Gesicht bekommen. Und zu diesem Zeitpunkt hatten sich seine Augen bereits blutrot verfärbt und seine ursprünglich weißen Flügel hatten sich in schwarze Schwingen verwandelt.“ Carina schluckte. Sowohl Engel, als auch Teufel waren an und für sich schon mächtige Kreaturen. Wie stand es wohl mit einem Wesen, das Fähigkeiten beider Rassen in sich vereinigte? „Ich nehme mal an“, begann sie und richtete sich mithilfe der beiden Hände in ihrem Rücken in eine aufrechtere sitzende Position auf, „dass dieser Samael seitdem nicht sonderlich gut auf seine Außenwelt zu sprechen ist, richtig?“ Uriel nickte. „Als ich ihn zuletzt sah schwor er mir, dass er seinen Plan ein gottgleiches Wesen zu werden nicht aufgegeben habe. Dass er Rache für die Demütigungen nehmen würde, die er durch die Verbannung erfahren musste.“ Carina seufzte. Es war doch immer das Gleiche. Immer ging es um Macht und um die Verbrechen derjenigen, die sie bekommen wollten. „Ein durchgedrehter Engel, der zum Teufel geworden ist. Na super“, stöhnte Grell. „Das hat uns gerade noch gefehlt.“ Die Augen des Undertakers bohrten sich währenddessen in die Sebastians. „Und welche Verbindung besteht zwischen dir und ihm, Teufel?“ Scheinbar war auch dem Bestatter dieses Detail nicht entgangen. Sebastian richtete seinen Blick gen Decke und ließ einen schwermütigen Seufzer entweichen, der die anwesenden Todesgötter irritiert blinzeln ließ. Für einen Moment hatte der Butler beinahe menschliche Züge an den Tag gelegt. „Keine sonderlich gute, wie ich zu meinem eigenen Bedauern gestehen muss“, antwortete Sebastian, legte dieses fürchterlich falsche Lächeln auf seine Lippen und sah wieder geradeaus. „Er ist mein Vater.“ Einen furchtbar langen Augenblick herrschte ungläubige Stille. Dann sprach Carina das aus, was alle dachten. „Wie bitte?“ Einzig und allein Uriel wirkte nicht überrascht. Natürlich, als Erzengel blieben ihm wohl nur die wenigsten Dinge so wirklich verborgen. „D…dein Vater?“, schrie Grell geschockt und sah so aus, als würde er sich jeden Moment bekreuzigen. „Oh mein Gott!“ „Hehe~ Das erklärt einiges, möchte ich meinen“, grinste der Silberhaarige, fast schon ein wenig provokant, und es funktionierte. Der Blick des Teufels verfinsterte sich schlagartig. „Vergleiche mich niemals mit meinem Vater, Shinigami“, knurrte er bedrohlich und seine schönen Züge wandelten sich kurzzeitig in eine gefährliche Fratze um. Die rotglühenden Augen wirkten bei diesem Gesicht noch am einladendsten und Carina fühlte sich auf unangenehme Weise an den Moment auf der Campania erinnert, als Undertaker Ciel am Kragen gepackt hatte. Auch dort hatte der Dämon für wenige Sekunden seine komplette Maskerade fallen lassen. Sogleich versuchte Grell die Situation zu entspannen, indem er erneut das Wort ergriff. „Also wurdest du damit beauftragt ein Auge auf die Aktivitäten dieses Samaels zu haben?“ Der Erzengel nickte. „Schön und gut“, sagte Carina und hustete kurz, da sich ihre Kehle inzwischen anfühlte wie Schmirgelpapier, „aber was hat das alles mit mir zu tun?“ „Ich werde dir die ganze Wahrheit sagen“, entgegnete der Entsandte des Himmels ernst. „Aber zuerst…“, er schnippte zum zweiten Mal am heutigen Tage mit den Fingern und auf einmal sank Sebastians Kopf nach vorne. Alle Anwesenden starrten ihn erschrocken an. Der Teufel wirkte jetzt beinahe so, als ob er im Stehen eingeschlafen wäre, aber natürlich war ihnen allen bewusst, dass das nicht der Fall war. „Ich habe ihn in eine Art Dämmerschlaf versetzt. Nicht alles, was ich jetzt erzähle, ist für seine Ohren bestimmt“, begann Uriel und ließ seine Hand langsam wieder sinken. Carina schluckte kurz. Erzengel waren mächtige Wesen, das war ihr nun definitiv klar… „Wie ich bereits sagte, war es Samaels oberstes Ziel gottgleich zu werden. Die Macht dazu hat er mittlerweile bereits erlangt, aber es bedarf mehr. Kannst du dir vorstellen, was ich damit meine, Carina?“, fragte er sie, forderte die Schnitterin auf aktiv mitzudenken. Die junge Frau zuckte kurz mit beiden Schultern, was sofort einen rasenden Schmerz durch ihren Rücken jagte. „Ich weiß nicht“, erwiderte sie gepresst. „Weisheit? Moral? Perfektion?“ Jetzt mischte sich auch Cedric in das Gespräch ein. „Kein Wesen ist perfekt. Nicht einmal Gott“, entgegnete er. „Wir beide sind das beste Beispiel, findest du nicht? Wir haben beide Fehler gemacht.“ Erstaunt schaute Carina ihn an. Was meinte er denn jetzt damit? Natürlich, welche Fehler er ihrerseits meinte, das war glasklar, aber welche Fehler hatte er denn bei sich entdeckt? Am liebsten hätte sie ihn danach gefragt, aber das war weder der richtige Ort dafür, noch der richtige Zeitpunkt. „Ich schätze“, fuhr der Silberhaarige fort und starrte den Engel wieder an, „dass wir von der Kontrolle über den Tod sprechen?“ Grell und Carina zuckten beide zusammen. „Nein, das… das kann nicht sein“, entfuhr es Grell, doch Uriels Schweigen war bereits Antwort genug. Carinas Augen wurden größer, je länger sie über die Bedeutung dieses Satzes nachdachte. Erst jetzt machte es in ihrem Kopf laut und deutlich Klick. „Die Shinigami. Er wollte sie unter seine Kontrolle bringen“, flüsterte sie tonlos. „Ja“, gab der Engel zu. „In Crow hatte er den perfekten Verbündeten gefunden. Er versprach ihm Macht und Schutz, sodass dieser ohne Probleme die Ordnungsabteilung gründen konnte, um noch mehr Shinigami auf die Suche nach Zeitreisenden schicken zu können. Dabei wusste selbst Crow nicht, dass er mit dieser Aktion Samael direkt in die Karten spielte und nur noch mehr Todesgötter unter seinem Kommando versammelte. Bis zum Schluss hat er nicht verstanden, dass auch er nur Mittel zum Zweck war.“ „Warum?“, warf Carina plötzlich scharf in den Raum, sodass alle sie verwundert ansahen. Der Zorn stand ihr ins Gesicht geschrieben. „Du hast ihn und die Shinigami doch die ganze Zeit beobachtet. Du wusstest, was mit den Zeitreisenden geschehen ist, die Crow in die Finger bekommen hat. Er hat sie alle umgebracht, nachdem sie ihm nicht die Wahrheit über seine Zeitreise geben konnten. Jeder einzelne musste sterben, von der vorherigen Folter will ich gar nicht erst anfangen. Wie konntest du das zulassen? Ich weiß, dass Engel nicht die Geschöpfe sind, wie die Menschen sie sich gerne ausmalen, aber die reine Existenz von diesem Samael in seiner jetzigen Form habt ihr allein zu verantworten. Warum setzen die Engel dem kein Ende?“ Grell schaute auf seine beste Freundin hinab und fragte sich unwillkürlich, wann das ehemalige kleine Mädchen, das damals in seine Obhut gekommen war, so erwachsen geworden war. Natürlich hatte er es schon lange gewusst, aber noch nie war es so deutlich hervorgetreten wie jetzt. Ein gequälter Ausdruck trat auf die himmlischen Züge des Boten Gottes. „Auch unter uns Engeln herrschen Regeln. Wie die Shinigami dürfen auch wir uns nicht in die Angelegenheiten der Menschen einmischen. Zudem dürfen wir nicht einfach so gegen andere übernatürliche Wesen vorgehen. Wenn Samael noch ein Engel gewesen wäre, dann hätte ich etwas unternehmen können, aber seit seinem Wandel zum Teufel waren mir die Hände gebunden. Ich hätte erst ab dem Zeitpunkt eingreifen dürfen, ab dem er direkt gegen den Himmel vorgegangen wäre. Aber das ist bis heute nicht passiert. Er hat sich bisher nur in die Angelegenheiten von euch Todesgöttern eingemischt, also fällt das nach unseren Regeln in euren Zuständigkeitsbereich.“ Grell verdrehte genervt die Augen. „William wäre von dieser Wortwahl sicherlich mehr als nur begeistert“, murrte er sarkastisch und stellte sich unbewusst eine bürokratische Diskussion zwischen dem Shinigami und dem Erzengel vor, in der sie über die Zuständigkeit debattierten. Uriel senkte leicht den Kopf. „Ich weiß, das ist keine Entschuldigung. Jedes Mal, wenn er seiner Sache einen weiteren Zeitreisenden geopfert hatte, habe ich mir die Macht gewünscht, um einschreiten zu können.“ Er biss die Zähne zusammen und ballte die Hände zu Fäusten. „Es tut mir leid!“ Carina schwieg. Nicht etwa, weil die Wut in ihrem Inneren nachgelassen hatte. Sondern weil sie einfach nicht wusste, was sie darauf erwidern sollte. Sie konnte Uriel ansehen, dass er unter seiner Hilflosigkeit gelitten hatte. Die 19-Jährige wusste selbst ziemlich genau, wie beschissen es sich anfühlte zur Tatenlosigkeit verdammt zu sein. Aber all das änderte nichts daran, dass vor ihr Dutzende hatten sterben müssen. Und dass auch sie knapp davor gewesen war. Allein bei dem Gedanken wurde ihr ein wenig übel. „Beruhige dich“, dachte sie und atmete einmal tief ein und anschließend wieder aus. „Er ist tot, er kann dir nichts mehr tun, nie wieder. Dafür hast du selbst gesorgt.“ „Es spielt keine Rolle mehr. Jetzt ist es für Reue ohnehin zu spät“, sagte sie schließlich, um das Thema abzuhaken. „Doch, es spielt eine Rolle. Denn auch in Zukunft werde ich nicht eingreifen dürfen.“ „In Zukunft?“, fragte Carina verblüfft, während Cedrics Griff um ihre Schulter etwas fester wurde. Uriels Flügel zuckten kurz. Scheinbar drückte das seine Nervosität aus. „Durch Crows Tod wird der Dispatch sicherlich eine umfassende Untersuchung in der Ordnungsabteilung durchführen. Spätestens dann wird rauskommen, was all die Jahre hinter dem Rücken des Rates gelaufen ist“, sagte Grell. Uriel nickte. „Samael wird euch die Schuld daran geben. Und wenn ich sage, dass er ziemlich nachtragend ist, dann ist das noch nett ausgedrückt. Deswegen bin ich hier. Um euch zu warnen.“ „Soll er doch kommen“, meinte der Bestatter in diesem Moment mit einer so eiskalten Stimme, dass Carina und Grell eine Gänsehaut bekamen. Der Blick des Silberhaarigen war hart, als er den Himmelswächter ansah. „Es ist mir egal, was dieser Teufel von uns will. Es ist mir egal, was er sich von alldem erhofft. Mit Carinas Entführung hat er den größten Fehler seines Lebens gemacht. Und auch den letzten.“ Der Erzengel blinzelte. „Samael ist mächtig“, warnte er den ehemaligen Schnitter. „Das interessiert mich nicht. Wenn er sie verletzt, zerfetze ich ihn mit bloßen Händen.“ Seine gelbgrünen Augen wurden dunkler. „Wenn er sie auch nur anrührt, reiße ich ihm die Eingeweide raus.“ Carina starrte den Mann neben sich fassungslos an. Gleich darauf spürte sie, wie ihr Herz kurz außer Takt geriet und aufgeregt in ihrer Brust hin und her hüpfte. Das klang ja schon beinahe danach, als ob sie ihm etwas bedeuten würde. Die junge Frau wusste nicht so recht, was sie jetzt davon halten sollte. „Ob er sich jetzt so verhält, weil ich die Mutter seines Kindes bin?“, schoss es ihr unwillkürlich durch den Kopf, doch gleich darauf schüttelte sie eben diesen kaum merklich. Dafür war später noch Zeit. Grell hingegen konnte nur schwer an sich halten. Am liebsten wäre er quietschend und mit Herzchenaugen durch die Gegend gesprungen. Wenn das keine Liebeserklärung war, dann wusste er aber auch nicht! „Du weißt doch auch bestimmt, wer hinter meiner Zeitreise steckt, oder?“, stellte Carina die eine Frage, die sie seit ihrer Ankunft in diesem Jahrhundert beschäftigte. Sie konnte sich noch sehr gut darin erinnern, wie sie damals im Bestattungsinstitut Tag und Nacht darüber nachgedacht, darüber nachgegrübelt hatte. Die goldenen Augen fixierten sie erneut. „Willst du es wissen?“ Carina nickte, zögerte nicht eine Sekunde lang. Ein schelmisches Lächeln legte sich auf die geschwungenen Lippen Uriels und mit dem Zeigefinger seiner linken Hand deutete er auf etwas außerhalb ihres Sichtfeldes. „Warum findest du es nicht selbst heraus?“ Die Blondine wandte den Kopf nach hinten und starrte auf die pechschwarze Filmdose, die vergessen am anderen Ende des Raumes auf dem Boden lag. Unwillkürlich musste sie schlucken. „Grell… würdest du…?“, flüsterte sie rau und sofort setzte sich der Rothaarige in Bewegung. Als er wenige Sekunden später wieder an ihrer Seite stand und das Döschen in ihre Hände drückte, schluckte die Schnitterin zum zweiten Mal. Plötzlich fragte sie sich, ob sie die Wahrheit überhaupt wissen wollte. Manchmal konnte Unwissenheit auch ein Segen sein… „Nein“, dachte sie und verfestigte ihren Griff. Keine Ausflüchte mehr, keine Ausreden und erst recht kein Weglaufen. Sie würde diese verdammte Dose jetzt öffnen und sich anschauen, wer oder besser gesagt was sie damals auf dem Friedhof an der Schulter gepackt hatte. Mit einem Ruck, vergleichsweise mit dem schnellen Abreißen eines Pflasters, drehte sie den Deckel und ließ ihn von der Dose wegschnippen. Sogleich strömten ihre Cinematic Records hinaus, nun nicht mehr gelbgrün, sondern ganz normal lesbar. Die Qualität war nicht die Beste, wirkte leicht unscharf, dennoch konnte man die Bilder deutlich erkennen. Die drei Todesgötter beugten sich näher heran, verfolgten neugierig das Geschehen. Carina war es fast schon ein wenig unangenehm, dass sie die Bilder von ihrer Kindheit im Schnelldurchlauf sehen konnten. Wenige Aufnahmen zeigten sie als Baby, dann folgte bereits das Kleinkindalter. Wie ihr Vater ihr das Fahrradfahren beibrachte, wie sie mit einer riesigen grünen Schultüte vor der Grundschule stand, wie sie lesen lernte und bald darauf jedes Buch beinahe verschlang. Der Wechsel auf die weiterführende Schule, das Kennenlernen neuer Freunde und Auszüge aus der Pubertät, die nach Carinas Meinung auch gerne hätten gestrichen werden dürfen. Weitere Bilder zeigten sie im Badeanzug am Strand, andere wie sie mit rauchendem Kopf über ihrer Mathematik Abschlussprüfung saß. Anschließend folgte ihr Abschluss, der schwere und tränenreiche Abschied von ihren Klassenkameraden und der Wechsel auf die nunmehr dritte Schule, wo sie ihr Abitur machen wollte. Ein kurzes Lächeln legte sich auf Carinas Lippen, als sie sich selbst dabei sah, wie sie eingeschüchtert und nervös in dem riesigen Forum der Schule gestanden hatte, niemanden kennend. Doch das Schicksal hatte es an diesem Tag gut mit ihr gemeint. Denn kurz darauf hatte sie sich in ihrer neuen Klasse neben Bianca gesetzt und es hatte keine 10 Minuten gedauert, da waren sie beide bereits in ein angeregtes Gespräch über Naruto verfallen. Ab dieser Stunde waren sie beide unzertrennlich gewesen… „Kann nicht mehr lange dauern“, murmelte sie und tatsächlich. Wenige Sekunden später erschien der Friedhof und natürlich sie selbst, wie sie sich über das Grab ihrer Großeltern beugte. Cedric neben ihr wirkte kurz verblüfft. Die Gräber des 21. Jahrhunderts schienen wesentlich hübscher und aufwendiger zu sein, als die jetzigen. Er erkannte die Carina von vor 3 Jahren sofort wieder, immerhin trug sie die gleichen Sachen wie damals bei ihrer Ankunft in seinem Bestattungsinstitut. Interessiert beobachtete er, wie das Mädchen sich plötzlich umdrehte und ein wenig unruhig ihre Umgebung betrachtete. „Wer ist da?“, rief sie und für einen kurzen Moment war der Bestatter geschockt darüber, wie schüchtern sie sich anhörte. Er hatte ganz vergessen, wie verängstigt sie damals bei ihrer Ankunft im 19. Jahrhundert gewesen war. Der Grund dafür war einfach. Die jetzige Carina würde nicht so reagieren. Die 19-Jährige hatte mittlerweile genug Selbstbewusstsein, um sich in den meisten Situationen zu helfen zu wissen. Manchmal hatte sie sogar mehr Selbstbewusstsein als gut für sie war, wenn er ehrlich zu sich selbst war. Wie in Zeitlupe sah Carina ihr 16-jähriges Ich losgehen, den Eimer fest mit beiden Händen umklammernd. Oh ja, sie erinnerte sich an diesen Moment, als wäre es gestern gewesen. Wie sehr sie die Geräusche und Schritte um sich herum erschrocken hatten, obwohl sichtlich keiner in der Nähe gewesen war, um sie zu verursachen. Wie sie daraufhin ihre Schritte nur noch beschleunigt hatte, genau wie jetzt in den Cinematic Records. Die Blondine schluckte schwer. Jetzt, jetzt gleich… Carina konnte ein bestürztes Aufkeuchen nicht unterdrücken, als sie die Hand samt Krallen sah, die sich um ihre rechte Schulter legte. Beinahe war ihr so, als könnte sie sie wieder auf ihrer Haut spüren. Neben ihr zuckte Grell furchtbar zusammen und auch Cedric wirkte angespannter als normal, wobei er sich natürlich kaum etwas anmerken ließ. Eine weitere Hand erschien im Bild, schlug sie einmal hart in den Nacken, sodass ihr jüngeres Ich sofort bewusstlos in sich zusammensackte. Carina senkte ihren Blick und lächelte leicht. Irgendwie erleichterte die junge Frau diese Szene. Sie hatte nie eine wirkliche Chance gehabt… „Ist… ist das nicht…“, fragte Grell plötzlich fassungslos und sofort wusste die Schnitterin, dass jetzt der Moment der Wahrheit gekommen war. Mit pochendem Herzen richtete sie ihre Augen wieder nach oben, um noch im gleichen Augenblick ebenso fassungslos zu werden wie Grell. Für eine Sekunde hatte sie sogar das Gefühl, dass ihr Herz einfach aufhörte zu schlagen, um diesen äußerst seltsamen Moment der Erkenntnis noch in die Länge zu ziehen. Die krallenbesetzten Hände hatten sich verändert. An ihre Stelle waren weiße Handschuhe gerückt, die in die pechschwarzen Ärmel eines Fracks übergingen. „Das… das kann doch nicht…“, murmelte sie und starrte voller Entsetzen auf Sebastian, der ihr jüngeres Ich auffing und noch im gleichen Moment leicht den Kopf drehte, um mit irgendjemandem hinter ihm zu reden, der aber nicht mehr im Bild auftauchte. Dieses wurde direkt danach schwarz und setzte erst wieder bei der Szene ein, als sie vollkommen verwirrt in einer der kleinen Gassen Londons aufgewacht war. Sebastian. Ausgerechnet Sebastian! Carinas Atem wurde deutlich schneller, ihre Schultern verkrampften sich. Natürlich hatte sie es damals im Weston College – als sie die Kekse gebacken hatte – einmal in Erwägung gezogen, dass es vielleicht Sebastian gewesen sein könnte, der sie damals auf dem Friedhof überwältigt hatte. Immerhin war da immer noch die ungeklärte Tatsache, dass er sie einmal vor einem Auto gerettet hatte. Dennoch, wirklich daran geglaubt hatte sie nicht. Was sollte der Teufel denn bitteschön für einen Grund haben? In ihrem trance-ähnlichen Zustand bekam sie gar nicht mit, wie Grell ihre Cinematic Records wieder in die Filmdose zurückfließen ließ. Besorgt schaute er seine ehemalige Schülerin an, auf deren Stirn sich kalter Schweiß gebildet hatte. Generell sah sie überhaupt nicht gut aus. „Aber warum… warum hat er…“, begann sie zu stammeln und atmete nun hörbar noch schneller. Es fühlte sich an, als hätte ihr Gehirn Schwierigkeiten damit die ganzen anfallenden Informationen richtig zu verarbeiten. Fühlte sich so ein Nervenzusammenbruch an? Die Seelensammlerin zuckte fürchterlich zusammen, als sich auf einmal eine Hand auf ihre linke Wange legte und sie zwang nach rechts zu sehen, direkt in diese unglaublich gelbgrünen Augen, in die sie sich so verliebt hatte. „Beruhige dich“, meinte er so ruhig, dass sie automatisch langsamer atmete. Ihre Augen schlossen sich und sie nach ein paar tiefe, bewusste Atemzüge. Noch währenddessen spürte Carina, wie Cedrics Hand ihre Wange verließ, was ihr irgendwie so ganz und gar nicht in den Kram passte. Nach einigen Sekunden öffnete sie ihre Augen wieder und widmete ihren Blick sofort Uriel, der sie aufmerksam beobachtete. „Warum sollte Sebastian mich in diese Zeit zurückschicken? Und warum ist er überhaupt dazu in der Lage?“ „Deine zweite Frage lässt sich relativ leicht beantworten“, begann der Engel. „Dämonen sind grundsätzlich nicht dazu in der Lage Menschen in der Zeit zurückzubefördern. Aber Engel eines hohen Ranges schon.“ Carina begriff schnell. „Also hat Sebastian diese Fähigkeit von seinem Vater geerbt?“ Uriel nickte bestätigend. „Zu meinem größten Bedauern ja. Es ist immer gefährlich mit der Zeit zu spielen, daher wäre es mir lieber gewesen, wenn diese Fähigkeit allein bei Samael geblieben wäre.“ „Schön und gut“, antwortete sie, „aber was ist mit meiner ersten Frage? Ich nehme an, sie haben Mittel und Wege um in die Zukunft zu sehen und haben das bezüglich mir bereits getan. Warum also hat dieser Teufel“, sie deutete mit dem Finger auf Sebastian, „mich ins 19. Jahrhundert verfrachtet?“ Ein Lächeln legte sich urplötzlich auf die Lippen des Engels. „Weil du ihn darum gebeten hast.“ Sofort breitete sich eine Stille im ganzen Raum aus, die unangenehmer nicht hätte sein können. „Was?“, stieß Carina schließlich hervor und war sich sicher, noch niemals so entsetzt geklungen zu haben. Jetzt hatte sie endgültig den roten Faden verloren. „Wie soll das bitteschön gehen?“, rief sie aus. „Ich habe Sebastian vor dieser Sache überhaupt nicht gekannt, wie also hätte ich ihn darum bitten sollen?“ „Du verstehst mich falsch. Du wirst ihn noch darum bitten. In der Zukunft.“ „In der–“ Und mit einem Mal verstand Carina. Nicht ihr 16-jähriges Ich hatte Sebastian darum gebeten. Sie selbst würde es tun, zu irgendeinem Zeitpunkt vor dem Jahr 2015. „Aber… warum sollte ich…“, stotterte sie, doch Uriel schüttelte den Kopf. „Ich darf dir nicht mehr dazu sagen. Den Rest musst du selbst herausfinden.“ Die Blondine presste die Lippen zusammen. Langsam gingen ihr die Engel mit ihren dämlichen Regeln auf die Nerven… „Ich verstehe es nicht. Warum sollte ich mir selbst so etwas antun? All das… Das kann ich doch unmöglich gewollt haben. Nein… richtiger wäre wohl: Das kann ich doch nicht wollen. Ich hab’s ja noch nicht getan“, dachte sie und bekam von diesem ganzen Wirrwarr so langsam Kopfschmerzen. „War’s das dann?“, schnappte Grell auf einmal, scheinbar war ihm die Geduld ausgegangen. „Wir wissen jetzt, dass wir uns vor diesem Samael in Acht nehmen müssen. Irgendwie bekommen wir das schon hin, so wie sonst auch immer, aber falls sonst nichts ist würde ich jetzt gerne endlich von hier verschwinden. Carinas Wunden müssen dringend versorgt werden.“ „Ich werde schon nicht sterben, Grell“, murmelte Verletzte augenverdrehend und handelte sich dafür einen bösen Blick des Rothaarigen ein, der sie verstummen ließ. Okay, Grell hatte wohl wirklich keine Geduld mehr… „Da wäre nur noch eine Sache, die ich gerne mit Carina besprechen würde“, entgegnete der Erzengel und ehe irgendjemand im Raum etwas dagegen unternehmen konnte, schnippte er zum nunmehr dritten Mal mit seinen Fingern. Grelles Licht flutete den Raum, sodass sie drei Todesgötter dazu gezwungen waren die Augen zu schließen. Als sie sie wieder öffneten, fielen ihre Reaktionen alle unterschiedlich aus. Grell zog scharf die Luft ein, Cedric stieß ein scharfes „Was zum…“ hervor und Carina? Carina gab keinen Ton von sich, es hatte ihr schier die Sprache verschlagen. Zwischen ihnen und Uriel befand sich eine Säule aus Licht, die Carina an das Gefäß erinnerte, in dem Claudia Phantomhive ruhte. Nur mit dem großen Unterschied, dass sich in dieser Säule nicht die Leiche der toten Phantomhive befand, sondern… „Was soll das?“, kreischte Grell in diesem Moment los und zeigte mit seiner rechten Hand fassungslos auf die Säule. „Warum befindet sich Carinas Körper in deinem Besitz?“ Carina war mehr als froh, dass Grell das Wort „Leiche“ nicht benutzte, aber so war es leider. Geschockt starrte sie auf ihren eigenen leblosen Körper. Sie trug das schwarze Kleid von damals, ebenso die Strumpfhose und die Schnürstiefel. Allerdings war der Stoff auf der linken Seite ihrer Brust zerrissen und blutverschmiert. Automatisch wanderte ihre Hand zu ihrer Brust, wo sich die lange Narbe direkt über ihrem Herzen befand. Die 19-Jährige konnte den Blick nicht von der Säule lösen. Ihr totes Antlitz war bleich, auf ihren Lippen und dem Kinn befand sich ebenfalls Blut. Es gab überhaupt keinen Zweifel. Das war sie, unmittelbar nach ihrem Selbstmord. Das war ihre Leiche! Beim bloßen Gedanken daran wurde ihr schlecht. Auch der Undertaker war gegen seinen Willen ein wenig blass um die Nase geworden. Normalerweise konnte er Toten immer irgendetwas abgewinnen, eine gewisse Schönheit oder sogar ernsthaftes Interesse. Aber nicht hier! Das war ein Bild, das er lieber nicht betrachten wollte. Der Anblick der 16-jährigen Toten behagte ihm ganz und gar nicht. „Jetzt verstehe ich wenigstens endlich, was nach meinem Tod mit meiner Leiche passiert ist“, meinte Carina trocken, aber mit verengten Augen. „Was hat das zu bedeuten? Wozu hast du meinen Körper verwahrt?“ „Für genau diesen Moment. Um Wiedergutmachung zu leisten“, erwiderte Uriel und schaute sie ernst an. „Du musst wissen, dass wir Erzengel die Möglichkeit haben eine Zeitreise rückgängig zu machen, solange wir den Körper des Zeitreisenden haben.“ Carina erstarrte. Die beiden Männer links und rechts von ihr ebenfalls. „Was?“, hauchte sie und konnte die Bedeutung dieser Worte einen Moment lang nicht richtig verarbeiten. „Wenn du es möchtest, kann ich dich zurückschicken. Zurück in deine Zeit“, sagte der Engel ruhig. „Dir muss aber bewusst sein, dass du in diesem Prozess deine kompletten Erinnerungen an diese Zeit verlieren würdest. Du würdest in deinem 16-jährigen Körper erwachen, ohne diese Narbe und ohne die Spur einer Ahnung, was dir geschehen ist. Für dich würde es sich anfühlen, als wärst du nur in eine kurze Ohnmacht gefallen.“ Das Gold in seinen Augen wurde wärmer, freundlicher. „Du wärst wieder ein Mensch und könntest noch einmal ganz von vorne anfangen. Ein normales Leben führen.“ Wie in Trance erhob Carina sich, den explodierenden Schmerz in ihrem Rücken ignorierend. Sie trat näher an die Säule heran, bis nur noch wenige Zentimeter sie von dem Körper darin trennten. Tief einatmend streckte sie die Hand aus und berührte das Licht, das sich unter ihren Fingern wie Glas anfühlte. Ganz von vorne anfangen… Ein normales Leben führen… Hinter ihr biss Grell sich so hart auf die Lippe, dass es wehtat. Natürlich, er wusste, was diese Möglichkeit Carina bedeuten musste. Aber er wollte nicht, dass sie ging. Allein der Gedanke machte ihn halb wahnsinnig. Vielleicht war er einfach nur egoistisch, aber er wollte seine selbsternannte kleine Schwester auf keinen Fall verlieren. Neben ihm dachte der silberhaarige Bestatter haargenau das Gleiche. Er hatte damals hautnah miterlebt, wie sehr das deutsche Mädchen in ihre Zeit zurückkehren wollte, aber keinen Weg gefunden hatte. Ebenso wenig wie Antworten auf all ihre Fragen. Und jetzt… jetzt hatte sie beides. Sein Herz krampfte sich bei der bloßen Vorstellung daran, dass sie nun einfach so verschwinden könnte, schmerzhaft zusammen. Selbst, wenn er sie durch glückliche Umstände im Jahr 2015 wiederfinden sollte, würde sie sich nicht an ihn erinnern. Am liebsten würde er einen Schritt nach vorne treten und sie von der Säule wegziehen, sie an sich drücken und ihr sagen, dass sie nirgendwo hingehen sollte. Dass er sie nicht gehen lassen würde. Aber der Shinigami blieb stumm. Diese Entscheidung gehörte Carina allein, so schwer es ihm auch fiel. Er betrachtete ihr Gesicht aufmerksam, versuchte irgendeine Regung auszumachen, die ihm verriet, was in ihr vorging. Carina hatte die Augen geschlossen, schien über die neuesten Erkenntnisse nachzudenken. Hatte sie etwa schon eine Entscheidung getroffen? Malte sie sich gerade gedanklich aus, wie schön es wäre endlich ins 21. Jahrhundert zurückzukehren? Der Silberhaarige wurde aus seinen eigenen Gedanken gerissen, als sich der Mund der 19-Jährigen plötzlich zu einem Lächeln verzog und sie die Augen langsam wieder öffnete. Was zum… Carina schaute den Engel lächelnd an. „Vielen Dank für das Angebot“, sagte sie und meinte es ehrlich. „Aber ich kann es nicht annehmen.“ „WAS?“, schrie Grell und lenkte die junge Frau dadurch von Uriel ab, der seltsam wenig überrascht wirkte. „Bist du dir da auch wirklich sicher, Carina? Ich meine… natürlich will ich, dass du hierbleibst, aber hast du nicht ewig auf diese Chance gewartet? Wolltest du nicht immer in deine eigene Zeit zurück?“ Als sie ihm antwortete, lag immer noch dieses kleine Lächeln auf ihren Lippen. Es wirkte beinahe so, als wäre sie in irgendeiner Art und Weise erleichtert. „Um ganz ehrlich zu sein, habe ich schon seit 2 Jahren nicht mehr ernsthaft darüber nachgedacht wieder in meine Zeit zurückzureisen, Grell. Einfach aus dem Grund, weil ich es nicht für möglich hielt, immerhin war in der Zwischenzeit so viel passiert. Allein schon durch meinen Selbstmord und die anschließende Ausbildung ist das Ganze irgendwie aus meinem Blickfeld gerückt. Und jetzt, wo es so zum Greifen nahe ist… Ich habe wirklich immer gedacht, dass ich jegliche Chance sofort ergreifen würde, aber so ist es schlichtweg nicht mehr.“ Sie richtete ihren Blick erneut auf den schwebenden Körper in der Säule, ihre Hand nach wie vor dagegen gedrückt. „Wenn ich wieder in meine Zeit zurückkehren würde, wäre ich wieder das 16-jährige Mädchen, das ihr hier seht. Aber das hier“, sie drückte ihre Hand fester gegen das Gefäß, „…das hier bin ich nicht mehr. Ich bin nicht mehr das kleine, verängstigte, naive Mädchen von damals und ich möchte es auch nicht wieder werden. Außerdem… was wäre ich denn für eine Mutter, wenn ich einfach so meine Tochter vergessen würde? Nein, das geht nicht.“ Sie wandte sich erneut an Uriel. „Ich habe mit meinem Schicksal Frieden geschlossen. Mein Körper sollte nun endlich in Frieden ruhen dürfen.“ „Du bist dir sicher?“, fragte er noch ein weiteres Mal nach. „Sobald ich deinen Körper freigebe, kann ich dich nicht wieder zurückschicken.“ Carina nickte. „Ich bin mir sicher“, antwortete sie und ließ ihre Hand an der Säule hinabgleiten. Genau einen Wimpernschlag lang dauerte es, da löste sich das Gebilde vor ihr auf, verschwand ebenso schnell, wie es gekommen war. Carina atmete befreit auf, als eine Last von ihren Schultern verschwand, die sie über die letzten Jahre gar nicht richtig wahrgenommen hatte. Hinter ihr tupfte sich Grell die Augen mit einem rosaroten Taschentuch trocken. Wenn Carina nicht so verletzt wäre, hätte er sich am liebsten laut heulend auf sie geworfen und sie mit einer Umarmung erdrückt. Allerdings störte es ihn gewaltig, dass der Totengräber seit dem Auftauchen der Säule kein einziges Wort mehr gesagt hatte, nicht einmal, um Carina davon abzuhalten zu gehen. Wenn sie erst einmal von hier verschwunden waren und in Sicherheit, dann würde er dem ehemaligen Schnitter noch so einiges in Sachen Romantik erklären müssen… Was der Rothaarige jedoch nicht wusste, war, dass dem Bestatter vor lauter Erleichterung kurz schwindelig geworden war. Er hatte gar nicht bemerkt, wie sehr sich sein ganzer Körper verkrampft hatte. Erst jetzt, wo es unwiderruflich feststand, dass Carina in dieser Zeit bleiben würde, löste sich seine Anspannung und etwas, was er schon lange nicht mehr in so reiner Form verspürt hatte, ergriff von ihm Besitz. Glück. Freude. Hoffnung. „Ich sollte nun gehen“, sprach der Himmelswächter und schnippte noch ein letztes Mal mit den Fingern. Sebastian erwachte abrupt aus seinem Dämmerschlaf und wirkte kurz orientierungslos. Dieser Zustand war allerdings nur von kurzer Dauer. Sobald er sich wieder einigermaßen gefangen hatte, warf er dem Erzengel einen gefährlichen Blick zu und fletschte die Zähne. Scheinbar hatte er eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was Uriel mit ihm angestellt hatte. Dieser jedoch beachtete den Sohn seines Zielobjektes nicht, sondern wandte sich erneut an die drei Todesgötter. „Wie ich bereits sagte, nehmt euch vor Samael in Acht. Er wird sich rächen wollen und dabei nicht fair spielen. Bleibt also wachsam.“ Sebastian runzelte die Stirn, hatte aber keine Gelegenheit etwas zu sagen, da nun wieder Carina das Wort ergriff. „Warte. Ich… ich habe noch eine Frage an dich.“ Während sie die nächsten Sätze sprach, wurde ihr Gesicht wieder bleicher, das Zittern ihres Körpers setzte wieder ein. „Ich verstehe nicht, was nach Crows Tod passiert ist. Warum haben die Aufzeichnungen ihn so… zerstört? Alice…“, sie keuchte ihren Namen beinahe, „Alice… ist nicht… bei ihr ist das nicht…“ „Menschen werden zu Todesgöttern, weil sie mit ihrem Selbstmord die natürliche Ordnung hintergangen haben“, unterbrach der Engel sie. „Unter bestimmten Umständen kann ihnen allerdings vergeben werden, dass sie ihr Leben selbst beendet haben. Crow wurde zum Zeitpunkt seines Todes nicht vergeben, daher wurde seine Seele von seinen eigenen Cinematic Records verschlungen.“ Carinas Augen weiteten sich. „Bedeutet das, dass… Alice…“ Uriel lächelte sanft und nickte. „Ja. Sie ist jetzt an einem besseren Ort.“ Die Blondine sank zurück auf ihre Knie. Es war kein Trost, nicht mal annähernd und doch… „Unsere Seelen werden niemals dort landen, wo ihre sind. Durch meinen Selbstmord habe ich mir für immer die Chance genommen sie wiederzusehen.“ Dicke Tränen quollen aus ihren Augen und tropften lautlos auf den kalten Steinboden. Vielleicht gab es ja doch so etwas wie einen barmherzigen Gott. Wenn er Alice an einen besseren Ort geschickt hatte, wenn er sie mit ihrer Familie wiedervereint hatte, dann musste es so etwas wie Gerechtigkeit geben. „Danke“, presste sie hervor, konnte nur schwer ein Schluchzen unterdrücken. Uriel nickte. „Viel Glück“, erwiderte er noch und war im nächsten Moment verschwunden. „Lass uns gehen, Carina“, sprach Grell und legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter. Angesprochene nickte, wischte sich die Tränen vom Gesicht und keuchte im nächsten Augenblick überrascht auf, als sie plötzlich im Brautstil hochgehoben wurde. Ungläubig schaute sie Cedric an, der sie mit einem Blick ansah, den sie nicht deuten konnte. „Schlaf jetzt. Wir kümmern uns um den Rest“, sagte er und schaute nun zu Sebastian, der nach wie vor alles andere als glücklich aussah. Als Carina jedoch spürbar ihre Finger in seinen Mantel krallte, wandte er sich wieder ihr zu. „Cedric“, flüsterte sie so schwach und leise, das nur er sie verstehen konnte. „Bitte… Alice… ihre Leiche…“, sie holte zittrig Luft, ihre Unterlippe bebte, „ich möchte sie beerdigen…“ „Ich kümmere mich darum“, flüsterte er ebenso leise zurück, seine Augen nahmen nun einen sanfteren Ausdruck an. Mit ihrer letzten, verbliebenen Kraft nickte Carina, schloss die Augen und erschlaffte gleich darauf in seinen Armen. „Sie ist nur ohnmächtig, keine Sorge“, beruhigte der Bestatter Grell, als dieser besorgt an Carinas Seite erschien. Der Rothaarige nickte. „Ein Wunder, dass sie so lange durchgehalten hat. Komm, bringen wir sie hier raus.“ Ein Räuspern hinter ihnen brachte die beiden Shinigami dazu, sich wieder zu Sebastian herumzudrehen. Die Augen des Teufels leuchteten gefährlich rot. „Also“, begann er langsam und spitzte die Lippen zu einem freundlichen Lächeln, das ihm weder Grell noch Cedric abkauften. „Würde mich endlich jemand aufklären?“ Kapitel 72: Unangenehme Gespräche --------------------------------- Carina fühlte sich vollkommen schwerelos, als ihr Bewusstsein langsam zu ihrem Körper zurückkehrte. Als hätte man sie in Watte gepackt, hörte und spürte sie alles um sich herum nur sehr gedämpft, ein Teil von ihr schien immer noch nicht ganz wieder aus der Ohnmacht erwacht zu sein. Die junge Frau vernahm Geschrei, was sofort dafür sorgte, dass sie sich verspannte. Was war los? Was hatte sie verpasst? War dieser Samael vielleicht urplötzlich aufgetaucht und kämpfte nun mit Cedric und Grell? Das Geschrei wurde lauter und urplötzlich spürte sie ein Gewicht auf ihrem Brustkorb. Kein unangenehmes Gewicht, gerade einmal spürbar. Jetzt wurde das Schreien mit einem Mal leiser, stufte sich zu einem leisen Quengeln herab. Das Gehirn der jungen Mutter schaltete sich träge wieder ein. Sie kannte dieses Geräusch doch! „Lily!“ Flatternd öffneten sich ihre Augen. Sogleich verursachte das einfallende Licht ihr Kopfschmerzen, doch sie zwang sich dazu zu blinzeln und nach und nach wurde die Umgebung schärfer. Als erstes erkannte sie Grell, der sich über sie gebeugt hatte und mit beiden Händen ihre Tochter festhielt, die auf ihrer Brust lag. „Lily“, krächzte sie mit einer Stimme, die sie kaum als ihre eigene registrierte, doch das war jetzt nicht von Bedeutung. Reflexartig schlang sie die Arme um das kleine Baby, sodass Grell zurücktreten und sich auf einen Stuhl neben ihrem Bett setzen konnte. Abgrundtiefe Erleichterung stand ihr ins Gesicht geschrieben. „Oh Gott sei Dank. Gott sei Dank“, murmelte die 19-Jährige erstickt und drückte ihrer Tochter einen Kuss auf die Stirn, wodurch auch das Quengeln schließlich verstummte. Ihrer kleinen Maus ging es gut, ihr war nichts passiert! Einige Sekunden herrschte friedliche Stille, dann schaute Carina zu dem rothaarigen Shinigami, der mehr als nur erleichtert lächelte. „Wie lange war ich-“ „Drei Tage“, beantwortete Grell ihre Frage, woraufhin die Blondine ihn mit geweiteten Augen ansah. „Jetzt schau nicht so, dein Körper hatte es bitter nötig.“ Er seufzte langgezogen. „Die meisten deiner Verletzungen hast du auskuriert, bis auf die vielen Kratzer und Blutergüsse bist du quasi wie neu. Aber dein Rücken…“, er schluckte einmal. „Es tut mir leid, aber wir haben die Schnittwunde zu lange unbehandelt gelassen. Das wird eine Narbe bleiben.“ „Grell“, meinte die Schnitterin, als sie die leidende Miene ihres besten Freundes sah. „es ist doch nur eine Narbe. Ich hätte genauso gut tot sein können. Das ist ein kleiner Preis, den ich jetzt zahlen muss. Also schau nicht so traurig, es gibt weitaus Schlimmeres.“ Außerdem war sie nicht so oberflächlich zu glauben, dass diese Narbe sie entstellen würde. Immerhin kannte sie da jemanden, dessen Narben sie überhaupt nicht störten… „Hilfst du mir, mich aufzusetzen?“, fragte sie und wurde sogleich von Grells Händen vorsichtig in eine aufrecht sitzende Position gezogen. Kurz zuckte sie zusammen, als sie spürte wie die neue Narbe an ihrem Rücken spannte. Scheinbar war sie noch nicht ganz verheilt und würde noch einige Tage schmerzen. Aber das konnte sie ertragen. Es lenkte sie von den Dingen ab, über die sie momentan einfach nicht nachdenken wollte. Der Rothaarige stopfte ihr ein zusätzliches Kissen in den Rücken und als Carina sich in ihrer neuen Haltung halbwegs sicher fühlte, hob sie Lily hoch und drehte sie, sodass das Baby in der üblichen Wiegenhaltung in ihren Armen lag. Die Kleine wandte suchend den Kopf hin und her und Carina verstand das subtile Zeichen sofort. „Hast du ein Problem damit, wenn ich…“, begann sie und deutete zwischen sich und dem Baby hin und her. Der Reaper grinste. „Natürlich nicht. Mach du nur, eine Lady wie ich kann das voll und ganz nachvollziehen.“ Carina konnte nicht anders, sie lachte leise. „Warum frage ich überhaupt?“, gab sie amüsiert von sich und knöpfe sich die Knopfleiste des langen weißes Hemdes auf, das sie derzeit trug. Gierig begann das Mädchen gleich darauf an ihrer Brustwarze zu saugen und wurde automatisch noch ruhiger. „Die Zofe hat sich gut um sie gekümmert, aber sie hat oft geschrien und wollte die Säuglingsmilch nicht so richtig annehmen“, teilte Grell ihr mit, woraufhin sich Carinas Gesichtsausdruck verdüsterte. „Kein Wunder, normalerweise lässt man ein Baby, das noch keine 2 Wochen alt ist, auch nicht von jetzt auf gleich einfach allein.“ Sie strich Lily kurz über das Köpfchen und stieß einen schweren Seufzer hervor. „Es tut mir so leid, kleine Maus.“ „Mach dir keine Vorwürfe. Es ist ja nicht so, als ob du eine Wahl gehabt hättest“, erzürnte sich nun auch Grell. „Ganz ehrlich, hättest du den Mistkerl nicht umgebracht, dann hätte ich es getan.“ Erneut schwiegen sie beide, schließlich fragte Carina: „Was hab ich verpasst?“ Grell zuckte mit den Schultern. „Eigentlich nicht viel. Sebas-chan war natürlich alles andere als begeistert davon, dass Uriel ihn außer Gefecht gesetzt hat. Er wollte von uns ganz genau wissen, worüber wir gesprochen haben. Undy hat es ihm grob erklärt, alles was die Zeitreisen angeht aber außen vor gelassen. Er weiß jetzt nur, dass Samael sich mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit an uns rächen will, weil wir seine Pläne mit der Ordnungsabteilung durchkreuzt haben.“ „Er scheint nicht sonderlich gut auf seinen Vater zu sprechen zu sein. Das spielt uns in die Karten, so wird er ihm wahrscheinlich nicht zu Hilfe kommen“, dachte Carina laut nach und zuckte kurz zusammen, als ihre Tochter einmal besonders hart an ihrer Brustwarze zog. „Das würde er ohnehin nicht, er untersteht schließlich immer noch den Befehlen des Phantomhive Jungen. Solange er es ihm also nicht befiehlt, haben wir nichts zu befürchten.“ Carina lachte trocken auf. „Außer einem rachsüchtigen Dämonen, der mal ein Erzengel war und uns jetzt auf seine Abschussliste gesetzt hat.“ „Außer das“, bestätigte Grell mit einem Grinsen, welches die Blondine für vollkommen unangebracht hielt. Manchmal vergaß sie doch wirklich, wie sorglos Grell in Bezug auf seine Gegner war. „Mach dir mal keinen Kopf, Carina. Wir bekommen das schon irgendwie hin. Engel und Dämonen mögen stark sein, aber uns Todesgötter sollte man besser auch niemals unterschätzen.“ Da hatte er wohl auch irgendwie wieder Recht, befand Carina und nickte ihm einmal zu. Allerdings war da noch eine weitere Frage, die sie ihm unbedingt stellen wollte. Eine Frage, von der sie aber nicht wusste, ob sie die Antwort darauf wirklich hören wollte. „Ist… er… also… ist er noch hier?“ Die gelbgrünen Augen ihres Gegenübers beobachteten sie aufmerksam. „Ja, ist er“, antwortete er schließlich und Carina wusste nicht so recht, was sie nun empfinden sollte. Erleichterung oder doch eher Beunruhigung? Lily gab ihr eine gute Gelegenheit, um den Blick zu senken und sich einer Antwort für eine Weile zu entziehen, denn das Baby hatte nun von ihr abgelassen und wirkte so, als würde sie bald wieder einschlafen. Mit zwei geschickten Handgriffen knöpfte sie ihr Hemd wieder zu und legte sich ihr Kind, zusammen mit einem Tuch, über die Schulter, streichelte anschließend sanft den kleinen Rücken. „Früher oder später wirst du mit ihm reden müssen, Carina“, sagte Grell nun sanft, nicht mehr als eine eindeutige Feststellung aussprechend. „Und da du ihn bereits vor drei Tagen ziemlich unschön ignoriert hast, sollte dieses Gespräch definitiv früher anstatt später stattfinden.“ Die 19-Jährige wurde ein wenig bleich, als sie sich daran erinnerte, was sie dem Vater ihres Kindes an den Kopf geworfen hatte. „Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig…“ Gott, das dürfte einfach nicht wahr sein! Mit diesem Satz hatte sie das Ganze bewusst auf die Spitze getrieben und dabei stimmte er noch nicht einmal. Natürlich war sie ihm Rechenschaft schuldig. Wenn nicht ihm, wem denn sonst? „Scheiße“, fluchte sie leise und kniff die Augen zusammen. Sie hatte absolut keine Ahnung, was sie ihm sagen sollte. „Mach doch nicht so ein Gesicht. Er wird dir schon nicht den Kopf abreißen“, versuchte Grell die Schnitterin zu beruhigen, was diese allerdings nur mit einem Blick konterte, der deutlich ausdrückte, dass sie sich da bei dem Bestatter nicht ganz so sicher war. „Ich habe Angst vor diesem Gespräch, Grell“, gab sie schließlich ehrlich zu und nahm ihre Tochter wieder nach vorne, als diese ihr Bäuerchen gemacht hatte. „Ich habe seit Monaten nicht mehr richtig mit ihm gesprochen und ich weiß nicht, was ich ihm sagen soll.“ „Die Wahrheit“, antwortete Grell ernst und seufzte. „Ehrlich Carina, sei einfach du selbst und antworte das, was dir gerade in den Sinn kommt. Damit bist du meiner Meinung nach bisher immer am besten durchgekommen.“ Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und lächelte. „Es ist nicht immer nötig, sich bereits alles vorher im Kopf auszumalen. Manchmal ist es besser, wenn man Dinge bzw. in diesem Fall Gespräche einfach auf sich zukommen lässt.“ „Vermutlich hast du Recht“, seufzte sie. Ihr blieb sowieso nichts anderes übrig. Dieses Gespräch war unausweichlich, ob sie es nun führen wollte oder nicht. Weglaufen hatte keinen Sinn mehr. Und das würde Cedric auch nicht zulassen, dafür kannte sie ihn zu gut. Nein, eher würde er sie an diesem Bett festketten, als das er zuließ, dass sie sich ihm ein weiteres Mal entzog. „Carina“, meinte Grell plötzlich mit einer Ernsthaftigkeit, die die Angesprochene direkt nervös machte. „Ich weiß, du möchtest nicht darüber reden und ich würde es dir auch ersparen, wenn ich wüsste, dass dir das helfen würde. Aber irgendwann wirst du darüber sprechen müssen und ich würde eigentlich gerne jetzt wissen, was in deiner Abwesenheit alles passiert ist.“ Ihr Körper verspannte sich automatisch, doch bevor sie auch nur Luft holen konnte, erklang von der Tür eine ihr bekannte Stimme. „Das würde ich allerdings auch gerne wissen.“ Ihre gesamte Muskulatur verkrampfte sich nun erst recht, als der silberhaarige Shinigami den Raum betrat, zu ihrer größten Erleichterung jedoch nicht noch näher kam, sondern mit verschränkten Armen im Türrahmen stehen blieb. Sein Blick glitt kurz über sie und das nun wieder schlafende Baby, das sie in den Armen hielt. Kurz huschte eine Emotion durch seine Augen, verschwand jedoch wieder so schnell, dass die Blondine nicht genau wusste, wie sie sie zuordnen sollte. Überhaupt war es komisch für sie, dass er plötzlich hier war und alles wusste. Fast schon bedauerte sie, dass sie nicht dabei gewesen war, als er Lily zum ersten Mal gesehen hatte. Sobald sie mit Grell allein war und sich der passende Zeitpunkt ergab, würde sie ihn unbedingt danach fragen müssen. „…Na gut“, gab sie sich schließlich geschlagen und ihre Schultern sackten automatisch ein wenig herab. Carina wusste, dass sie darüber sprechen musste, aber allein der Gedanke daran schnürte ihr die Kehle zu. „Wo soll ich anfangen?“ Nach einigen Sekunden Stille fragte Grell schließlich: „Wie hat er es überhaupt geschafft dich zu entführen? Es gab keinerlei Kampfspuren am See.“ „Es kam gar nicht zu einem Kampf. Er hat mir das Genick gebrochen, bevor ich in der Hinsicht irgendetwas versuchen konnte“, entgegnete Carina monoton und zuckte einmal kurz mit den Schultern. „Hat gar nicht mal wirklich wehgetan, bis auf die Nackenschmerzen beim Aufwachen vielleicht.“ Beide Männer hoben jeweils eine Augenbraue, denn beide hatten sie das Gefühl, dass die junge Frau versuchte das Ganze herunterzuspielen. „Und dann bist du in diesem Bunker aufgewacht?“ „Ja“, begann Carina langsam, während ihr die passenden Bilder dazu durch den Kopf geisterten. „In einer Zelle, gefesselt an eine Art Liege. Crow hat auch nicht lange auf sich warten lassen und ist reingekommen, um sich über meinen fassungslosen Gesichtsausdruck lustig zu machen, als ich ihn erkannt habe. Und dann…“, sie ging die Erinnerung Stück für Stück durch, „dann hat er mich geohrfeigt. Zweimal. Anschließend-“ Grell zog scharf die Luft ein, doch Carina ließ sich nicht unterbrechen. Je schneller sie das hier hinter sich bringen würde, desto besser! „-hat er angefangen mir die ganze Geschichte zu erzählen. Dass er ebenfalls aus der Zukunft kommt und seit Jahrhunderten versucht wieder in seine eigene Zeit zurückzukehren. Allerdings hatte er – ebenso wenig wie ich – eine Ahnung, wie er das anstellen soll. Also kam er auf die dämliche Idee andere Zeitreisende, die sich ebenfalls das Leben genommen hatten, zu entführen und in ihren Cinematic Records nachzuschauen, wie sie in diese Zeit gelangt sind. Um so vielleicht herausfinden zu können, wie man im Umkehrschluss wieder zurückkehren kann.“ „Das frage ich mich schon die ganze Zeit. Wie hat er es denn bitteschön geschafft, die Cinematic Records von einem Shinigami zu lesen?“, fragte Grell und auch Cedric schien mehr als nur interessiert an dieser Information zu sein. „Er meinte, dass die Seele eines Shinigami einen instinktiven Abwehrmechanismus hat, weil sie wesentlich robuster ist als die eines Menschen. Um diesen Abwehrmechanismus außer Kraft zu setzen, muss man den Geist desjenigen brechen, dessen Erinnerungen man haben will.“ Den zwei Todesgöttern schien plötzlich ein Licht aufzugehen. „Deswegen hat er Alice getötet?“, flüsterte der Rothaarige leise, woraufhin Carina lediglich nicken konnte. Der Schmerz, der daraufhin in ihrer Brust aufflackerte, raubte ihr den Atem. Erneut schob sie den Gedanken weit von sich. „Aber er hat es zuerst auf andere Weise versucht, nicht wahr?“, äußerte Cedric und fixierte die 19-Jährige mit seinen gelbgrünen Augen. „Ja“, murmelte sie. Jede einzelne seiner Methoden konnte Carina deutlich vor ihrem inneren Auge sehen. Es war, als könnte sie die Schläge und Schnitte wieder auf ihrer Haut spüren. „Er hat dich gefoltert?“, fragte der Bestatter, obwohl es eigentlich keine Frage war, sondern eine Feststellung. „Ja“, gab sie leise von sich. Cedrics Kiefer verkrampfte sich vor Zorn, als er noch an etwas ganz anderes dachte. „Er hat dich angefasst?“, meinte er weiterhin mit mühsam kontrollierter Stimme, woraufhin Grell sich ebenfalls anspannte. Carina schluckte, als sie die Erinnerung mit voller Wucht traf. Ihr wurde übel. „Ja“, presste sie hervor und drückte sich ihre geschlossene Faust seitlich gegen den Mund, um die aufsteigende Magensäure zu unterdrücken. Es schien glücklicherweise zu funktionieren, denn Carina hätte sich nur ungern vor Cedric und Grell übergeben und außerdem hatte sie immer noch Lily auf dem Arm. Grell öffnete langsam den Mund, traute sich kaum die Worte auszusprechen, doch Carina unterbrach ihn mit einem Kopfschütteln. „Nein, hat er nicht“, beantwortete sie die unausgesprochene Frage und konnte genau sehen, wie die Spannung aus den Schultern der beiden Männer wich. Sie lächelte schwach. „Im Nachhinein wäre mir das tatsächlich lieber gewesen als das, was er dann schlussendlich gemacht hat“, wisperte die Schnitterin, gab den anderen Todesgöttern aber keine Gelegenheit das eben Gesagte zu kommentieren. „Na ja, jedenfalls hat er es schlussendlich geschafft und meine Cinematic Records eingescannt. Der Rest ist schnell erzählt. Ich hab es geschafft mich zu befreien, hab Elizabeth mit mir genommen, wir haben meine Cinematic Records zurückgeholt und haben dann gegen die Bizarre Dolls gekämpft, woraufhin ihr gekommen seid. Ende der Geschichte.“ Cedric und Grell bezweifelten stark, dass das das Ende der Geschichte war, sagten aber nichts dazu. Wenn Carina Zeit brauchte, um das Ganze zu verarbeiten, dann sollte sie diese auch bekommen. „Mal eine ganz andere Frage. Warum hat der Kerl eigentlich auch Elizabeth Midford entführt?“ Grells Frage warf Carina völlig aus der Bahn. Scheiße, daran hatte sie überhaupt nicht mehr gedacht! Crow hatte Elizabeth schließlich nur entführt, um nachweisen zu können, dass sie tatsächlich die Vorfahrin von Carina war. Aber das konnte sie jetzt schlecht sagen, vor allem Cedric nicht. Andererseits hatte sie so überhaupt keine Lust, sich jetzt noch eine Ausrede einfallen zu lassen. Die hatte es in der Vergangenheit mittlerweile genug gegeben. „Nehmt es mir nicht übel, aber… darüber würde ich gerne ein anderes Mal sprechen“, erwiderte sie vorsichtig und senkte ihren Blick auf Lily herab, um Cedric nicht ansehen zu müssen. Dieser hob eine Augenbraue und schaute Grell an, der aber lediglich mit den Schultern zuckte. „In Ordnung“, antwortete der Silberhaarige schließlich. Immerhin hatte sie ihn nicht wieder angelogen und früher oder später würde sie schon mit der Sprache rausrücken. Sowieso gab es für ihn momentan viel wichtigere Dinge zu klären als die Frage, was Elizabeth Midford nun für eine Rolle bei dem Ganzen gespielt hatte. „Ich habe deine Freundin in der Nähe des Sees beigesetzt“, meinte er, woraufhin Carina ihn das erste Mal wieder richtig ansah. „…Danke“, flüsterte sie und schloss kurz die Augen, um die nun aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Weinen wollte sie gerade ebenso wenig wie sich übergeben. Durch ihre geschlossenen Augen bekam die Shinigami daher nicht mit, wie der Totengräber Grell einen eindeutigen Blick zuwarf, den man definitiv nicht falsch verstehen konnte. Der Rothaarige erhob sich und trat näher an seine beste Freundin heran. „Lily sieht so aus, als könnte sie frische Luft vertragen. Ich entführe sie dir mal für einen kleinen Spaziergang, ja?“ Carina – vollkommen verblüfft – nickte irritiert und ließ sich das Kind abnehmen, bemerkte aber sogleich ihren Fehler. Wenn Grell und Lily nach draußen gingen, dann wären nur noch sie hier und… Grell konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, als sie ihm einen teils geschockten, teils einen „Du-mieser-Verräter“ Blick zuwarf. Bevor sie auch nur ein weiteres Wort sagen konnte, war der Schnitter bereits aus dem Raum verschwunden. Wenige Sekunden später fiel auch die Haustür hörbar ins Schloss. Die Stille, die daraufhin folgte, war – um es freundlich auszudrücken – ohrenbetäubend. Carina hatte keine Ahnung, wo sie hingucken sollte, also starrte sie ihre schneeweiße Bettdecke nieder und konnte ihren eigenen Fingern dabei zusehen, wie sie sich verkrampft in der Bettwäsche vergruben. Langsame Schritte ertönten und aus den Augenwinkeln konnte die junge Mutter sehen, wie Cedric sich auf den Stuhl neben ihrem Bett niederließ, jedoch den gebührenden Abstand einhielt. Ihr Hals wurde mit einem Mal furchtbar trocken. So musste sich wohl ein in die Enge getriebenes Tier fühlen… Cedric hingegen erinnerte diese Situation stark an das letzte, richtige Gespräch, das er mit Carina geführt hatte. Auch in dem Café hatte sie nicht von sich aus gesprochen, sondern immer nur auf seine Fragen reagiert. Das hier würde wohl ähnlich ablaufen, aber ihm sollte es nur recht sein. Solange er endlich mal ein paar Antworten bekam! Allerdings überraschte Carina ihn – wie so oft – in der Hinsicht ein weiteres Mal. „Also, leg los“, sagte sie plötzlich und schaute vorsichtig auf. Er hob eine Augenbraue. „Leg los?“, fragte er verständnislos, woraufhin die junge Frau mit den Schultern zuckte. „Na ja, du willst Antworten, oder etwa nicht? Dann solltest du mir Fragen stellen. Ich kann mir denken, dass du nicht sonderlich gut auf mich zu sprechen bist, also sollten wir das Ganze so schnell wie möglich-“ „Wundert dich das etwa?“, unterbrach er sie und sein ruhiger Ton strahlte etwas Bedrohliches aus, was sie kurz zusammenzucken ließ. „Nach allem, was du mir verschwiegen hast?“ „Ich hatte meine Gründe“, entgegnete sie verteidigend. „Schön, fangen wir doch damit an“, schleuderte er ihr entgegen, seine schönen Augen funkelten sie an. Carina starrte ihn an, brachte auf einmal kein Wort mehr heraus. Wo sollte sie anfangen? Wie sollte sie es ihm irgendwie begreiflich machen? „Ich… ich konnte es dir einfach nicht sagen“, antwortete sie überfordert und wandte ihren Blick erneut der Bettdecke zu. „Und wieso nicht? Du bist den gesamten Weg nach Baden-Baden gekommen, um es mir zu sagen, richtig? Und als du mich dann endlich gefunden hattest, hast du einen Rückzieher gemacht. Warum?“ „Hat Grell dir nichts gesagt?“, antwortete sie ihm mit einer Gegenfrage, doch der Silberhaarige ließ sich nicht ablenken. „Nur, dass du über Vincent Bescheid weißt. Was ich allerdings auch gerne von dir selbst erfahren hätte. Genauso wie die bloße Tatsache, dass wir ein gemeinsames Kind haben.“ Nun schwang offener Zorn in seiner Stimme mit und Carina konnte es ihm nicht einmal übel nehmen. Ihre Fingernägel bohrten sich mittlerweile fast schmerzhaft in ihre Handinnenflächen. „Nachdem ich dein Gespräch mit diesem Diederich belauscht hatte – guck nicht so, du hättest genau das Gleiche getan – kam in mir so ein Verdacht auf, dass es eine Verbindung zwischen Claudia und Vincent Phantomhive geben könnte. Und, dass Vincent möglicherweise mehr für dich war, als nur der vorherige Wachhund der Königin. Da habe ich Grell gebeten mir das Stammbuch der Familie Phantomhive zu bringen. Ich schätze mal, du kannst dir denken, was da drin stand.“ Er nickte. „Das erklärt aber immer noch nicht, warum diese Erkenntnisse dazu geführt haben, dass du deine Meinung geändert hast.“ „Verdammt Cedric, willst du mich denn nicht verstehen?“, zischte sie ihm aufgebracht entgegen, denn er gab ihr das Gefühl sich für ihre Taten rechtfertigen zu müssen. Also schleuderte sie ihm dieselben Worte entgegen, die sie damals bereits Grell gesagt hatte. „Ich habe gesehen, wie du geweint hast. Um deinen toten Sohn.“ Angesprochener verkrampfte sich ein wenig. Diesen einen Moment der Schwäche hätte sie nicht sehen dürfen. Aber sie hatte es gesehen und ihre Schlüsse daraus gezogen. „Selbst jetzt noch hast du mit dem Schmerz über seinen Tod zu kämpfen, das konnte ich in deinen Augen sehen. Glaubst du tatsächlich, ich wollte dir das nochmal antun? Lily ist ein Mensch und selbst, wenn sie ein langes und glückliches Leben führen sollte, wird irgendwann der Zeitpunkt kommen, wo sie sterben wird. Wie hätte ich dir diese Bürde ein weiteres Mal auferlegen können?“ Cedric starrte sie stumm an, war schlichtweg sprachlos. Mit solchen Gedanken ihrerseits hatte er nicht gerechnet. Wobei er nun wenigstens einige ihrer Handlungen besser nachvollziehen konnte. „Außerdem“, fügte Carina plötzlich noch hinzu und schaute ihn erneut nicht an, „wollte ich nicht, dass du dich verpflichtet fühlst wegen dem Baby bei mir zu bleiben. Oder deine Pläne aufzugeben.“ Die Sorge, dass er sie deswegen irgendwann hassen könnte, sprach sie bewusst nicht aus. Dieses Gespräch hier war schon peinlich genug, da würde sie ihm garantiert nicht ein zweites Mal auf die Nase binden, dass sie ihn liebte. Obwohl das inzwischen wohl mehr als offensichtlich sein dürfte. „Das, was du sagst, mag alles stimmen“, bekannte er ruhig, was die 19-Jährige irgendwie erleichterte. „Dennoch, du hättest es mir sagen müssen. Es ist meine Entscheidung, ob ich mich um meine Tochter kümmern möchte. Nicht deine.“ Carina kniff die Lippen zusammen. „Das ist mir inzwischen auch klar geworden“, gestand sie ihre Schuld ein und nahm all ihren Mut zusammen, um im nächsten Moment über ihren eigenen Schatten zu springen. „Es tut mir leid. Damals schien es mir das Richtige zu sein.“ Kurz herrschte Schweigen, dann antwortete er: „Fehler zu machen ist menschlich und du bist noch jung. Selbst in meinem Alter kann man noch genügend Fehler machen, das habe ich im Umgang mit dir wohl auch schon bewiesen, nicht wahr?“ Ein schwaches Lächeln legte sich auf ihre Lippen. „Ja, kann man so sagen“, erwiderte sie und wusste erneut nicht so recht, was sie jetzt sagen sollte. Obwohl sie über das Meiste jetzt endlich gesprochen hatten, war da immer noch eine gewisse Distanz zwischen ihnen. Wahrscheinlich war das etwas, was nur mit der Zeit vergehen würde. „Hör mal“, begann sie schließlich vorsichtig und holte tief Luft; wappnete sich auf das Folgende. „Du kannst Lily jederzeit sehen. Ich möchte, dass sie einen Vater hat und dich kennenlernt.“ Die Schnitterin machte eine kurze Kunstpause, ließ ihre Worte auf ihren Gegenüber wirken. „Aber ich möchte nicht, dass sie mit deinen Plänen in irgendeiner Form in Berührung kommt. Weder mit deinen Bizarre Dolls, noch mit sonstigen Experimenten. Sobald ich merke, dass sie irgendetwas davon mitbekommt, bekommen wir beide Probleme miteinander.“ Sie sprach in einem ruhigen Tonfall, aber er konnte klar und deutlich erkennen, wie ernst es ihr damit war. Trotzdem gab es da etwas, was sie noch nicht wusste. „Es wird keine Experimente und Pläne mehr geben.“ Carina runzelte sogleich irritiert die Stirn, ihre Augen wurden merklich weiter. „Wie bitte?“, fragte sie komplett überfordert nach, konnte nicht glauben, was sie da soeben gehört hatte. Ihr Gehirn musste ihr einen Streich spielen. Oder er meinte mit seinen Worten etwas vollkommen anderes; etwas, auf das sie momentan nicht kam. Nie und nimmer konnte er das gemeint haben, was sie darunter verstanden hatte. Cedrics Blick wurde eine Spur weicher. „Du bist nicht die Einzige, die sich ihre Gedanken zu der Zukunft gemacht hat.“ Tatsächlich hatte er in den letzten drei Tagen ständig an die Worte denken müssen, die Carina an den Erzengel gerichtet hatte. „Ich habe mit meinem Schicksal Frieden geschlossen. Mein Körper sollte nun endlich in Frieden ruhen dürfen.“ Es war ihm einfach nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Genauso wenig wie die Erkenntnis, dass er sich tatsächlich in sie verliebt hatte. Hieß es nicht eigentlich, dass Menschen – und auch Todesgötter – aus ihren Fehlern lernten? Wie hatte es ihm dann erneut passieren können? Nach all dem Schmerz und der Trauer, wie hatte er nach Claudias Tod erneut solche Gefühle für eine Frau entwickeln können? Sein Verstand sträubte sich gegen die bloße Tatsache, aber sein ganzer Körper reagierte automatisch auf ihre Nähe. Es war sinnlos es noch länger zu leugnen. Und er sollte verdammt sein, aber Carina liebte ihn auch und sie hatten ein Kind und er wollte verflucht nochmal mit ihr zusammen sein… „Ich werde meine Forschungen einstellen. Und bevor du dir jetzt Sorgen machst, dass ich das nur mache, weil ich jetzt von Lily weiß und mich verantwortlich fühle: Ich habe schon seit einiger Zeit Zweifel“, gestand er und dachte an seinen Aufenthalt in Frankreich zurück. „Mittlerweile bin ich mir ziemlich sicher, dass es nicht möglich ist Tote wieder zurückzuholen. Jedenfalls nicht so, wie sie einmal waren. Sicherlich, ich könnte ihren Körper wiederherstellen, mit ihren Erinnerungen und es vielleicht auch so weit bringen, dass sie sich verhält wie ein ganz normaler Mensch. Aber ohne die Seele, ohne die richtige Seele, wäre es trotzdem nicht meine Claudia.“ In den letzten Jahrzehnten hatte er bereits so viele seiner Ideen in die Tat umgesetzt, doch hatte es nie gereicht. Vielleicht hatte Carina Recht. Vielleicht waren Tote wirklich nicht dazu bestimmt ins Leben zurückzukehren. Vielleicht… sollte er Claudia auch endlich in Frieden ruhen lassen. Und als er in den letzten Tagen darüber nachgedacht hatte, hatte er sich selbst dabei ertappt, wie der Gedanke daran ihn nicht wie früher in einen endlosen Abgrund voller Leere und Trauer zog. Natürlich, Claudias Tod tat immer noch weh, furchtbar weh und würde vermutlich auch immer wehtun. Aber er merkte selbst – und auch hier hatte leugnen keinen Zweck – dass es jetzt etwas anderes gab, was sein ganzes Bewusstsein einnahm. Ohne, dass er es selbst gemerkt hatte, hatte Carina langsam immer mehr Platz in seinem Kopf beansprucht. Und der klägliche Rest, der nicht an sie gedacht hatte, war dann mit einem Schlag von seiner Tochter eingenommen worden, seitdem er sie das erste Mal gesehen hatte. Carina starrte ihn nach wie vor an, konnte nicht verhindern, dass ihr Herz schneller in ihrer Brust schlug. Vor ein paar Monaten wäre sie bei diesen Worten von ihm in Tränen ausgebrochen, hätte sich nichts sehnlicher gewünscht. Es hatte Zeiten gegeben, da hatte sie sogar davon geträumt. Doch jetzt fühlte sie lediglich unendliche Verwirrung und Fassungslosigkeit. „Dabei ist diese Entwicklung doch gut… oder nicht?“ Natürlich, für Lily war das großartig. Sie würde einen Vater haben. Etwas, an das Carina nie richtig geglaubt hatte, und es freute sie unheimlich. Ein Kind sollte beide Elternteile kennenlernen dürfen. Aber für sie selbst machte es schlussendlich doch keinen Unterschied. Nur, weil er Claudia endlich loslassen konnte, hieß das noch lange nicht, dass sie sich plötzlich Hoffnungen auf eine Beziehung mit ihm zu machen brauchte. Und das tat sie auch nicht. Nicht nach alldem, was zwischen ihnen passiert war. „Das… ist gut“, sagte sie schließlich und bemerkte sogleich, dass das nicht die Reaktion gewesen war, die er erwartet hatte. Was sie allerdings nicht bemerkte, war die Enttäuschung in seinen Augen. Der Silberhaarige hätte sich für diese Emotion schlagen können. Was hatte er denn erwartet? Dass sie ihm freudestrahlend um den Hals fallen würde? Nicht, dass er es sich nicht insgeheim gewünscht hätte, aber der Gedanke war schlichtweg naiv. Carina hatte immer noch mit den Auswirkungen der letzten Tage zu kämpfen und würde wohl kaum damit rechnen, dass er endlich begriffen hatte, was er für sie empfand. Was sie für ihn war. Und der Bestatter würde den Teufel tun und ihr dies genau jetzt auf die Nase binden. Nicht, wenn sie noch nicht ganz bei sich war. Er wollte, dass sie in Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte war, wenn er es ihr sagte. Bestand nur noch die Frage, wie er es ihr sagen sollte. Aber darüber würde er sich später Gedanken machen. „Da gibt es noch eine Sache, die du wissen solltest“, begann er, um die unangenehme Stille zu beenden. „Ich habe gestern mit dem Earl gesprochen und ihm die Situation geschildert. Nun ja, nicht den Teil mit Claudia, aber zumindest die groben Umstände, was es mit meinen Bizarre Dolls auf sich hat.“ Carina hob eine Augenbraue. „Er hat dich zu Wort kommen lassen?“ „Nun ja“, er grinste ein wenig, „nachdem seine Verlobte ihm über den Mund gefahren ist, schon. Du scheinst einen bleibenden Eindruck bei ihr hinterlassen zu haben und da sie gesehen hat, wie wir beide uns geküsst haben-“ „Schon gut, sprich weiter“, unterbrach die Blondine ihn und wandte den Kopf in Richtung Fenster, um den leichten Rotschimmer auf ihren Wangen zu verbergen. Gott, den Kuss hatte sie ja beinahe schon wieder vergessen gehabt. Musste er jetzt davon anfangen? „Jedenfalls haben wir einen dauerhaften Waffenstillstand ausgehandelt. Er verrät mich nicht an die Königin und lässt mich wieder zurück in mein Bestattungsinstitut, wenn ich im Gegenzug wieder als sein Informant arbeite und ihm in dem ein oder anderen Fall zu Diensten bin.“ „Mehr nicht? Das ist alles?“, fragte die 19-Jährige misstrauisch. Der Junge war immerhin der Wachhund der Königin. Würde er wirklich jemanden einfach so davon kommen lassen? „Du unterschätzt ihn“, bemerkte der Todesgott. „Er arbeitet zwar für die Königin, ist aber nicht so dumm ihr zu vertrauen. Er weiß, dass sie nicht immer nur Gutes im Sinn hat. Und sie war eine Spur zu sehr an meinen bizarren Puppen interessiert.“ „Wenn man ihren Ruf bei den Shinigami bedenkt, wundert mich das nicht sonderlich“, gab Carina zurück. „Vielleicht will sie schon einmal aufrüsten? Vollkommen unnötig, sie wird ihn sowieso nicht mehr erleben“, sagte sie gedankenverloren. „Einen Krieg?“, fragte der Undertaker interessiert, woraufhin Angesprochene lediglich nickte, aber nicht mehr dazu sagte. Und der Totengräber fragte auch nicht weiter nach. Er wollte sich von der Zukunft viel lieber überraschen lassen. Carina hingegen dachte zum ersten Mal an den ersten Weltkrieg, der in 24 Jahren beginnen würde. Für Queen Victoria würde es zwar keine Rolle mehr spielen, aber für Lily schon. Endlich zahlte es sich einmal aus im Geschichtsunterricht in der Schule aufgepasst zu haben. So konnte sie immerhin rechtzeitig dafür sorgen, dass ihre Tochter in Sicherheit sein würde. Doch vorerst schob sie die Überlegungen dazu in den Hintergrund. Darüber konnte sie sich in zwei Jahrzehnten noch genug Gedanken machen. „Das heißt also, du kehrst nach London zurück“, stellte sie fest und bekam das komische Gefühl nicht los, dass hinter seiner Aussage noch etwas anderes steckte. Das sollte sie allerdings schneller erfahren, als ihr lieb war. „Wir“, korrigierte Cedric sie nämlich in diesem Moment. „Wir kehren nach London zurück.“ Carina blinzelte. „Wie bitte?“, fragte sie zum zweiten Mal am heutigen Tage, klang aber nun weitaus schockierter. Der Totengräber seufzte. Vor dieser Reaktion hatte Grell ihn schon gewarnt. „Dieser Samael wird sich an dir rächen wollen. Es ist viel zu gefährlich, dich und Lily hier alleine zu lassen. Grell kann nicht rund um die Uhr hier sein, genauso wenig wie ich. Was ist also, wenn dich dieser Dämon hier aufspürt, wenn du gerade in diesem Moment allein bist? Daher habe ich die Entscheidung getroffen, dass ihr beide mit mir nach London kommt. Ich kann euch zwar dort auch nicht immer im Auge behalten, aber das ist allemal besser als hier.“ Carinas Miene hatte sich bei seinem vorletzten Satz merklich verfinstert. „Ach, triffst du jetzt neuerdings die Entscheidungen für mich?“, äußerte sie genervt ihre Meinung, was unmittelbar dazu führte, dass sich die Augen des Undertakers verengten. „Das muss ich anscheinend, denn deine Entscheidungen waren in letzter Zeit nicht gerade die besten. Ich sage nur Schalter.“ Die junge Frau verzog kurz die Mundwinkel. Zugegeben, im Nachhinein nicht eine ihrer besten Entscheidungen, aber- Sie wurde abrupt aus ihren Gedanken gerissen, als sich sein Daumen und Zeigefinger fest um ihr Kinn schlossen und er sich auf dem Stuhl weiter nach vorne beugte, näher an ihr Gesicht heran. Der Schnitterin wich ein wenig die Farbe aus den Wangen, als sie in seine bedrohlich glitzernden Augen schaute. „Mach so etwas Dummes… ja nie wieder, verstanden?“, raunte er ihr entgegen und der Befehl war unmissverständlich. Klugerweise hielt sie den Mund und nickte, soweit es seine Finger zuließen. „Gut“, antwortete er und ließ sogleich ihr Kinn los, um sich im nächsten Augenblick zu erheben. „Sobald dieser ehemalige Erzengel tot ist, kannst du gerne hierhin zurückkehren. Ich werde schon einmal anfangen im Institut für Ordnung zu sorgen. Du solltest dich noch ein wenig ausruhen und dann vielleicht schon einmal anfangen zu packen. Grell wird dich dann morgen früh nach London bringen.“ Mit diesen Worten verschwand er durch die Tür und ließ die 19-Jährige ein wenig eingeschüchtert im Bett sitzend zurück. Carina stieß die Luft aus, von der sie gar nicht gewusst hatte, dass sie sie angehalten hatte. Natürlich wusste sie, dass er mit seinen Worten Recht hatte. Es war wirklich viel zu gefährlich hier zu bleiben, das sah sie ja ein. Aber es passte ihr nun einmal überhaupt nicht in den Kram, dass er gerade so getan hatte, als hätte er die Befehlsgewalt über sie. Sie war weder sein Hund, noch seine Frau und selbst wenn sie seine Frau wäre, würde sie bestimmt nicht nach seiner Pfeife tanzen. „Ich werde wieder mit ihm zusammenwohnen. Genauso wie damals“, dachte sie angespannt und wurde bei der bloßen Vorstellung nervös. Eigentlich sollte sie das glücklich machen, aber irgendwie… Ach, sie wusste doch auch nicht! Die ganze Situation überforderte sie total. Seufzend ließ Carina sich ins Bett zurücksinken, versuchte irgendwie Schlaf zu finden. Doch die Ereignisse kreisten in ihrem Kopf, ließen ihr keine Ruhe. Mehr als nur gefrustet erhob sie sich schließlich nach einer halben Stunde vorsichtig und stand aus dem Bett auf. Sofort schoss ein scharfer Schmerz durch ihr Kreuz. „Das ist wohl der Preis, den ich jetzt zahlen muss“, dachte sie und zog sich unendlich langsam an. Es dauerte wirklich eine gefühlte Ewigkeit und auf Socken musste sie sogar ganz verzichten, da sie den Rücken noch nicht richtig krümmen konnte. Am Ende trug sie eine bequeme Pyjamahose und eine locker sitzende weiße Bluse, über die sie sich noch eine weiche, graue Wolljacke zog. 5 Sekunden, nachdem sie fertig geworden war, streckte Grell vorsichtig den Kopf zur Tür herein. „Alles in Ordnung?“, fragte er, woraufhin Carina ihn mit einem eindeutig genervten Blick bedachte. „Ach, traust du Verräter dich etwa doch noch nach hier?“ Er grinste entschuldigend. „Jetzt komm schon, sei nicht sauer. Ich wollte euch beiden nur die Gelegenheit einräumen ungestört miteinander zu reden.“ Carina verdrehte die Augen. „Ja, und was hab ich nun davon? Einen Mann, der meint mir Befehle erteilen zu können.“ Jetzt grinste Grell noch breiter. „Liebe Carina, das ist normal in dieser Zeit“, belehrte er sie belustigt. Angesprochene schnaubte nur einmal laut auf und ging dann an dem Rothaarigen vorbei in die Küche, um nach den letzten Tagen endlich noch einmal etwas in den Magen zu bekommen. „Wo ist Lily?“, fragte sie beiläufig und schmierte Butter auf eine Scheibe Weißbrot. „In ihrem Zimmer und schläft tief und fest. Die frische Luft scheint ihr gut getan zu haben.“ „Das werde ich später auch mal in Angriff nehmen“, murmelte sie, legte eine Scheibe Käse auf das Brot und biss hinein. Es schmeckte nach gar nichts. „Willst du ihr Grab besuchen?“, fragte Grell vorsichtig und Carina spürte, dass er sie von der Seite aus ansah. „… Ja“, erwiderte sie leise und kaute weiter auf ihrem Brot herum, obwohl sie plötzlich überhaupt keinen Hunger mehr hatte. Der Rothaarige seufzte leise. Er würde es niemals zugeben, aber auch er trauerte um die kleine Schwarzhaarige. Sie war ihm zwar immer auf die Nerven gegangen, aber er hatte sie trotzdem irgendwie gerne gehabt. Außerdem war es mit ihr nie langweilig geworden, was bei Grell schon etwas heißen sollte. „Du findest die Idee also gut, dass ich nach London gehen soll?“, meinte sie plötzlich, um das Thema zu wechseln. Der Schnitter zuckte mit den Schultern. „Was heißt gefallen? Natürlich fände ich es wesentlich besser, wenn du und Lily hier bleiben würdet, aber es ist einfach zu riskant. Und vielleicht ist es ja auch nur vorübergehend. Vielleicht dauert es gar nicht so lange diesen Samael unschädlich zu machen.“ „Ja, vielleicht“, antwortete Carina, allerdings mit deutlich hörbarem Zweifel in der Stimme. „Jetzt stell dich doch nicht so an, Carina. Ihr habt doch schon mal zusammen gewohnt.“ Sie schenkte ihm einen verärgerten Blick. „Das kannst du doch gar nicht vergleichen. Damals war es noch nicht so… so… kompliziert zwischen uns. Ich war weder in ihn verliebt, noch hatte ich mit ihm geschlafen. Geschweige denn ein Kind von ihm, von dem er erst nach der Geburt erfahren hat. Tze, und dabei dachte ich vor 3 ½ Jahren es wäre eine schwierige Situation gewesen. Weit gefehlt, es geht scheinbar tatsächlich immer schlimmer.“ Die 19-Jährige raufte sich die Haare. „Noch dazu kommt, dass er jetzt den ganzen Mist mit den Bizarre Dolls sein lässt. Scheinbar bin ich mittlerweile die Einzige, die immer weiter Fehler-“ „Er tut was?“, stieß Grell ungläubig hervor und als Carina ihm in einer kurzen Zusammenfassung erzählte, was Cedric ihr gesagt hatte, konnte der Rothaarige nicht anders. Er verfiel in seinen Divenmodus. „Aber Carina, das ist doch großartig. Er scheint es endlich begriffen zu haben.“ Angesprochene runzelte die Stirn. „Was begriffen?“, fragte sie vollkommen ahnungslos nach. „Na, dass er dich liebt“, schwärmte der Reaper und tänzelte fröhlich durch den Raum. „Ach Grell, nicht das schon wieder“, jammerte sie, doch ihr bester Freund ließ sich nicht beirren. „Papperlapapp. Du hättest ihn mal sehen sollen, als ich ihm von deiner Entführung erzählt habe. Er war definitiv total in Sorge und als ich ihn darauf angesprochen habe-“ „Du hast was?“, war Carina nun diejenige, die ihn unterbrach und schaute ihn starr an, mit einer unguten Vorahnung im Hinterkopf. „Na, ich habe ihm gesagt, dass ich es überhaupt nicht ausstehen kann, wenn ein Mann die Frau im Stich lässt, die er liebt. Und das ich bin mir ziemlich sicher bin, dass er dich liebt, obwohl er das anscheinend selbst noch nicht begriffen hat.“ Carina schlug sich beide Hände vors Gesicht, wollte nun am liebsten im Erdboden versinken. Verflucht sei Grell und verflucht sei seine verdammte Ehrlichkeit. Mit hochrotem Kopf fragte sie: „Und was hat er darauf geantwortet?“ „Gar nichts, aber er ist mit mir gekommen. Manchmal sagen Taten mehr als Worte.“ Die junge Frau seufzte. „Du interpretierst da zu viel rein. Nur, weil er endlich Claudias Tod akzeptiert, bedeutet das nicht automatisch, dass er mich liebt.“ Grell seufzte. „Euch beiden ist echt nicht mehr zu helfen. Aber bitteschön, ich mische mich da nicht mehr ein. Ihr seid beide erwachsen, ihr solltet das alleine hinbekommen. Und ich freue mich jetzt schon darauf, wenn ich sagen kann „Ich habe es doch gewusst“. So, und jetzt muss ich zur Arbeit. Wir sehen uns morgen früh.“ Er drückte ihr einen kurzen Kuss auf die Wange und verschwand bereits in der nächsten Sekunde. Carina kniff sich kurz in den Nasenrücken. Wenn Grell sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann konnte man wirklich machen, was man wollte, er hielt daran fest. Sie lächelte. „Aber das ist ja auch das, was ihn ausmacht“, dachte sie schmunzelnd. In den nächsten Stunden begann sie die wichtigsten Dinge einzupacken, was eigentlich nicht viel war. Zum größten Teil waren es nur Kleidungsstücke und Lilys Babysachen, sowie das Bilderalbum, ein paar Bücher und ihre Waffen. Falls sie etwas vergessen haben sollte, würde Grell sie ihr bestimmt nachträglich besorgen. Zwischen der Packerei schaute sie immer mal wieder nach ihrer Tochter, um sie zu wickeln oder zu füttern, aber ansonsten blieb es den restlichen Tag ganz ruhig. Am späten Nachmittag traute sie sich dann tatsächlich endlich nach draußen und stand bereits nach wenigen Sekunden vor dem Grab ihrer besten Freundin. Und wie sie es von ihm gewohnt war, hatte Cedric seinem Beruf alle Ehre gemacht. Der Grabstein war aus hellem Granit gefertigt, um ihn herum lagen wunderschöne, weiße Lilien. Alice‘ Name stand mittig auf dem Stein, das Geburts- und Sterbedatum war jedoch weggelassen worden. Wie auch, der Bestatter hatte sie nicht gekannt. Stattdessen aber standen die Worte Bis wir uns wiedersehen darunter, hinterließen eine stumme Botschaft. Carina spürte sogleich einen drückenden Kloß in ihrer Kehle. Die Tränen kamen ganz automatisch und jetzt, wo sie alleine war, ließ sie ihnen freien Lauf. Doch die volle Wucht ihrer Trauer unterdrückte sie nach wie vor. Es war noch zu früh… „Ach Alice“, flüsterte sie und kniete sich zu dem Grab hinunter, ihre Handfläche gegen den Namen der Verstorbenen gedrückt. „Ich wünschte, du könntest jetzt bei mir sein.“ Lange Minuten blieb sie einfach in dieser Position hocken, erlaubte es sich nicht aufzustehen und wieder wehzugehen. Ihre Tränen versiegten mit der Zeit, was ihr schon fast ein schlechtes Gewissen bescherte. Alice hatte es verdient, dass sie sie betrauerte, dass sie richtig um sie weinte. Doch sie konnte es nicht. Es war beinahe so, als würde sie etwas von innen heraus blockieren, als würde ihr Körper aus reinem Selbstschutz gegen die Trauer ankämpfen. Als es schließlich dunkel wurde, erhob die Shinigami sich und ging zu der kleinen Hütte zurück, um dort auf unbestimmte Zeit die letzte Nacht zu verbringen. Dabei hatte sie bei ihrem Einzug wirklich daran geglaubt, dass sie jetzt endlich einmal irgendwo angekommen war. Dass sie ein Zuhause gefunden hatte. „Ich werde hierher zurückkehren. Irgendwann werde ich hierher zurückkehren“, schwor sie sich in diesem Moment. Egal, wie lange es auch dauern würde. Carina wäre es lieber gewesen, wenn der nächste Morgen nicht so schnell gekommen wäre. Sie war kaum angezogen, da stand Grell bereits in der Tür und bedachte ihre zwei gepackten Taschen mit einem kritischen Blick. „Das ist alles?“, fragte er, woraufhin die Blondine mit den Augen rollte. „Kann ja nicht jeder so viel Kram haben wie du. Sei doch froh, dann musst du nicht mehrere Male zwischen London und hier hin- und herspringen.“ „Ist ja schon gut, war nur eine Frage. Ich wusste ja, dass du schlechte Laune haben würdest, aber du tust ja gerade so, als würde ich dich zu deiner eigenen Hinrichtung führen.“ „Es kommt dem schon sehr nahe“, entgegnete sie trocken und erhob sich vom Bett. „Wollen wir also?“ „Moment noch“, antwortete der Rothaarige, plötzlich ganz ernst, und warf ihr im nächsten Augenblick eine kleine Dose zu, die Carina irritiert auffing. „Was soll ich damit?“, fragte sie verwirrt und beschaute sich das kleine Gefäß, das bis zum Rand mit kleinen, weißen Tabletten gefüllt war. „Ich denke, das weißt du ganz genau“, sagte er, doch bei Carina klopfte die Erkenntnis immer noch nicht an. Grell seufzte. „Ich liebe Lily, das weißt du, aber ich denke mal nicht, dass du in nächster Zeit noch ein Geschwisterchen für sie geplant hast, oder etwa doch?“ Er konnte ganz genau sehen, wie bei Carina endlich der Groschen fiel. Sie wurde feuerrot im Gesicht. „Das ist doch nicht… wir haben nicht…“ „Ist mir ganz egal. Du wirst diese Tabletten ab heute täglich nehmen, ob ihr jetzt Sex habt oder nicht. Vorsicht ist besser als Nachsicht.“ Er schenkte ihr einen auffordernden Blick, der keinen Widerspruch duldete, und hörte damit erst auf, als die junge Mutter – immer noch hochrot im ganzen Gesicht – eine der Tabletten aus der Dose nahm und sie ohne ein einziges Wort runterschluckte. „Na geht doch!“ Der Todesgott wandte sich um in Richtung Tür. „Kommst du dann bitte ins Wohnzimmer, ich würde jetzt gerne los.“ Er schritt hinaus und ließ eine fassungslose Carina zurück, die nur peinlich berührt weiterhin auf die Medikamentendose starren konnte. War das gerade ernsthaft passiert? Kapitel 73: Zurück zu den Anfängen ---------------------------------- Grauer Nieselregen erstreckte sich über London, als Carina mitsamt Grell und ihrer Tochter in der Hauptstadt erschien. Die Blondine schaute in den wolkenverdeckten Himmel und seufzte einmal laut. Das Wetter spiegelte ihre Stimmung eins zu eins wieder. Ihr Magen zog sich mittlerweile vor Nervosität schmerzhaft zusammen. Sie hatte absolut keine Ahnung, was sie gleich in dem Bestattungsinstitut erwarten würde. Fast fühlte sich die 19-Jährige wieder wie das kleine Mädchen von damals, das Hals über Kopf durch Cedrics Tür gestolpert war. „Aber das bin ich nicht mehr“, dachte sie und atmete tief ein, ehe sie Lily enger an sich drückte und in die entsprechende Straße einbog. Der altbekannte Anblick des Ladens versetzte ihr dann doch tatsächlich einen innerlichen Schlag. Was allerdings, wenn man genauer darüber nachdachte, auch kein Wunder war. Immerhin hatte sie das letzte Mal, als sie hier gewesen war, erfahren, dass sie schwanger war. Keine sonderlich schöne Erinnerung, dafür hatte Sebastian nachhaltig gesorgt. Carina zuckte zusammen, als Grell ihr eine Hand auf die Schulter legte. „Seit wann so schreckhaft?“, grinste der Rothaarige, doch das Lächeln verließ seine Lippen auf der Stelle, als er in das bleiche Gesicht der Schnitterin sah. Sofort wurde ihm sein Fehler klar. Crow hatte ihr das Genick gebrochen, also musste er sie ebenfalls vorher plötzlich in der Nähe der Schultern berührt haben. „Entschuldige“, murmelte er niedergeschlagen, als ihm erneut bewusst wurde, dass es noch sehr lange dauern würde, bis Carina das alles verarbeitet hatte. „Schon gut, ich hab mich nur kurz erschrocken. Keine Sorge.“ Sie lächelte, doch es erreichte ihre Augen nicht. „Also, wollen wir dann?“ Grell nickte, überholte seine beste Freundin und hielt ihr anschließend die Tür auf. Carina atmete innerlich noch einmal tief durch und betrat dann erneut den Ort, wo ihre Reise angefangen hatte. Es hatte sich nicht großartig viel seit ihrem letzten Besuch verändert. Der Eingangsbereich stand immer noch voller Särge, in der hinteren rechten Ecke stand nach wie vor das Skelett – über das sie an ihrem ersten Tag versehentlich gefallen war – und am anderen Ende des Raumes konnte sie den breiten Empfangstresen des Bestatters ausmachen. Lediglich eine Sache hatte sich grundlegend verändert. Carinas Augen huschten erneut durch den gesamten Raum und tatsächlich. Es war sauber! Kein Staub, keine Spinnenweben, nicht einmal mehr Kekskrümel konnte sie ausmachen. Automatisch wanderte ihre linke Augenbraue in die Höhe. Hatte Cedric etwa… geputzt? Allein schon der Gedanke kam ihr lächerlich vor, doch wenn der Todesgott keine Putzfrau engagiert hatte, schien das wohl die einzig logische Erklärung zu sein. „Na ja, so muss wenigstens nicht ich mich darum kümmern“, dachte sie, während Grell neben ihr trat und ein wenig die Nase rümpfte. „Nun ja, schick ist wahrlich anders“, gab er von sich, was die 19-Jährige unwillkürlich grinsen ließ. Das war doch wieder mal typisch für den Rothaarigen. „Ich wäre auch lieber in der Hütte geblieben, aber das ging ja nicht“, entgegnete sie, absichtlich ein wenig schnippisch, und stellte eine ihrer Taschen neben sich ab. Sogleich vernahmen ihre Shinigami Sinne Geräusche aus dem oberen Stockwerk, dicht gefolgt von dem Knarzen der obersten Treppenstufe. Keine 10 Sekunden später betrat Cedric den Raum, sein altbekanntes breites Grinsen im Gesicht. „Hehe, da seid ihr ja~“, kicherte er fröhlich, woraufhin Carina beinahe die zweite Tasche aus der Hand gefallen wäre. War das sein Ernst? Wollte er wirklich wieder mit dieser Scharade anfangen? „Nein“, dachte sie gleich darauf. „Er liebt es einfach nur Leute an der Nase herumzuführen. Und ganz besonders mich, wie es scheint.“ Aber darauf würde sie sich nicht einlassen. „Ah, da bist du ja, Undy“, sagte Grell in diesem Moment, was Carina kurz schmunzeln ließ. Der Spitzname hatte schon etwas für sich, das musste sie ihrem besten Freund lassen. „Ehrlich mal, das hier ist alles viel zu trist. Du solltest etwas mehr Farbe an die Wände bringen“, gab der Reaper seine Meinung ganz offen kund. Der Undertaker hob beide Augenbrauen. „Das hier ist ein Bestattungsinstitut, Grell. Kein Hotel“, sagte er und musste bei dem bloßen Gedanken daran noch weiter grinsen. Angesprochener öffnete schon wieder den Mund, um darauf etwas zu erwidern, doch Carina hielt ihn zurück. „Fang jetzt keine Diskussion an, das bringt nichts“, meinte sie aus Erfahrung und suchte den Blick des Silberhaarigen. „Ich nehme mal an, ich bekomme wieder das Schlafzimmer von damals?“ „Sicher“, antwortete er, ging auf sie zu und wollte die Taschen vom Boden aufheben, doch Carina machte ihm einen Strich durch die Rechnung. „Danke, aber das schaffe ich selbst“, sagte sie und fasste gedanklich einen gewagten Entschluss. Mit einem Kopfnicken deutete sie auf Lily, die friedlich in ihrem Arm schlief. „Du kannst Lily nehmen.“ Beinahe glaubte Carina zu sehen, wie sich Cedrics Adamsapfel einmal nach oben und wieder nach unten bewegte, als er schluckte. Sie hob erneut eine Augenbraue. „Das kannst du doch… oder etwa nicht?“, fragte sie zweifelnd. „Sicher kann er“, beantwortete Grell die Frage und zwinkerte dem Bestatter vielsagend zu. Dieser nickte einmal langsam und streckte seine Hände nach dem Baby aus. Carina ließ ihn dabei nicht aus den Augen und zog ihre Hände erst zurück, als sie sich sicher war, dass er ihre Tochter richtig in den Armen hielt. Kurz richteten sich ihre verwandelten blauen Augen auf das Bild, verweilten darauf und nun musste sie selbst einmal schwer schlucken, als ihr Herz einen kleinen Satz nach oben machte. Die beiden Wesen, die sie auf dieser Welt am meisten liebte, so zusammen zu sehen, war für sie wie ein Sechser im Lotto. Und dann stand Cedric das Baby überraschenderweise auch noch so gut… Sie räusperte sich einmal und fragte mit versucht ruhiger Stimme: „Gehst du vor?“ Er nickte, drückte Lily ein wenig enger an seine Brust und drehte sich dann wieder in Richtung Treppe um. Grell folgte den Zweien stillschweigend die Treppe hoch. Er wollte sich vorerst nicht mehr einmischen als nötig, dafür fand er es einfach viel zu interessant, wie die beiden Todesgötter momentan miteinander umgingen. Für ihn war die Sache klar. Sie liebten sich, kein Zweifel. Aber er wusste nicht, wie er es ihr sagen sollte und Carina hatte keine Ahnung, was sie überhaupt sagen sollte. Ein kleines Lächeln schlich sich auf Grells Lippen. Das würde sicherlich noch witzig zwischen den beiden werden, wenn er erst einmal weg war… Im oberen Stockwerk gab es fünf Türen, je zwei links und rechts und dann noch eine hinten in der Mitte. Für Carina war es keine Überraschung, dass der Bestatter die zweite Tür auf der linken Seite ansteuerte, immerhin hatte sie dort einmal regelmäßig ihre Nächte verbracht. Generell war ihr dieses Bestattungsinstitut erstaunlich scharf im Gedächtnis geblieben. Nun ja, wenn sie genau darüber nachdachte, hatte ihr dieser Ort damals das Leben gerettet. Wie Crow bereits gesagt hatte, viele Zeitreisende hatten sich wegen ihrer ausweglosen Lage umgebracht. Wer wusste schon, was aus ihr geworden wäre, wenn Cedric ihre keine Zuflucht gewährt hätte? Auch hier war alles gesäubert worden, was die 19-Jährige irgendwie ein wenig rührte. Für ein Baby waren Staub und Dreck keine Option. Scheinbar hatte der Silberhaarige sich wirklich seine Gedanken gemacht… In ihrem neuen Schlafzimmer angekommen, stellte sie die Taschen neben ihrem Bett ab und beäugte eben dieses kritisch. Sie hatte vorher noch nie so wirklich darüber nachgedacht, aber es handelte sich um ein Doppelbett. Dies schien auch Grell aufgefallen zu sein, denn als sie vorsichtig zu ihm herüberschielte, zwinkerte er ihr in eindeutiger Manier zu. Carina stieg daraufhin Hitze in die Wangen und sie musste an seine Worte kurz vor ihrem Aufbruch zurückdenken. „Ich liebe Lily, das weißt du, aber ich denke mal nicht, dass du in nächster Zeit noch ein Geschwisterchen für sie geplant hast, oder etwa doch?“ „Verfluchte Scheiße“, dachte sie, als sich automatisch ein Bild in ihren Kopf schlich, das sie und Cedric auf dem Doppelbett zeigte. Aufeinander. Nackt. „Das darf ja jetzt wohl nicht wahr sein. Reiß dich zusammen, verdammt nochmal!“ „Möchtest du das Kinderzimmer sehen?“, fragte der Bestatter sie in diesem Moment und riss Carina somit aus ihren Gedanken. „Kinderzimmer?“, fragte sie irritiert, da sie bisher gedacht hatte, dass Lily mit ihr in diesem Raum schlafen würde. Er nickte. „Das Zimmer links von hier, in der Mitte. Ursprünglich war es einmal eine Art Abstellraum, aber ich habe die unnötigen Sachen weggeworfen und den Rest im Keller verstaut.“ „Und ich habe den Raum vorgestern gestrichen. Eigentlich sieht er jetzt fast genauso aus wie das Kinderzimmer in der Hütte“, warf Grell ein. „Das klingt doch gut“, meinte sie und tatsächlich sah das Kinderzimmer dem vorherigen sehr ähnlich, als sie es wenige Sekunden später betraten. Es entspannte sie ein wenig und vielleicht würde es Lily so leichter fallen, sich an diesen neuen Ort zu gewöhnen. Wobei sie ohnehin nicht so genau wusste, wie Babys zu einem Umzug standen. „Danke, dass ihr euch solche Mühen gemacht habt. Ich weiß das wirklich zu schätzen“, sagte sie und beobachtete Cedric dabei, wie er seine Tochter vorsichtig in die Wiege legte und zudeckte. Seine Augen verweilten währenddessen die ganze Zeit auf dem Säugling und es lag eine Zärtlichkeit in ihnen, die Carina gleichzeitig erfreute und bedrückte. Erfreute, weil ihm Lily tatsächlich wichtig zu sein schien, und bedrückte, weil sich ihr schlechtes Gewissen wieder einmal zu Wort meldete. Sie hätte ihm von Anfang an die Wahrheit sagen sollen. „Tja, ihr Süßen“, begann Grell auf einmal und schaute auf seine Armbanduhr. „Meine Schicht fängt gleich an, ich muss los. Seid nett zueinander, ja? Ich komme dann morgen Vormittag wieder vorbei.“ Er drückte Carina kurz an sich, gab ihr ein kleines Küsschen auf die rechte Wange und tänzelte dann fröhlich die Treppe hinunter. Die Blondine konnte sich ziemlich genau vorstellen, warum der Rothaarige auf einmal so gut gelaunt war. „Was denkt er sich denn? Dass wir übereinander herfallen, sobald die Tür hinter ihm zugefallen ist?“ „Ich packe dann mal meine Sachen aus“, sagte sie und verließ das Zimmer, bevor der Totengräber die Gelegenheit zum Antworten hatte. Gott, ihr Magen fühlte sich an, als würde er Trampolin springen. Jetzt konnte sie anscheinend nicht mal mehr mit ihm alleine in einem Raum sein, ohne dass es sie nervös machte. Dabei hatte sich dies im Weston College doch so gut eingependelt. Jetzt fühlte sie sich eher wieder wie auf der Campania. Verunsichert und vollkommen überfordert in seiner Nähe. Wenn sie Grells Worten Glauben schenkte, dann mussten sie sich nur wieder aneinander gewöhnen. „Sein Wort in Gottes Ohr“, dachte sie und begann ihre Kleidung in den Schrank einzuräumen. „Trotzdem, wenn er versucht mir Befehle zu erteilen oder über mich zu bestimmen, dann kann er sich auf etwas gefasst machen.“ Die Schnitterin ließ sich mit dem Einräumen ihrer Sachen Zeit, dennoch dauerte es gerade einmal eine gute Stunde bis sie damit fertig war und etwas ratlos in der Mitte ihres Zimmers stand. „Tja und was jetzt?“ Cedric wollte sie gerade nicht wirklich über den Weg laufen, aber Lily würde sicherlich bald wach werden und Hunger haben. Und mit dieser Vermutung lag sie goldrichtig, denn als sie an die Wiege ihrer Tochter herantrat, hatte diese bereits die Augen aufgeschlagen und schaute neugierig nach oben. Sanft strich sie ihr kurz über die Wange, ehe sie den Finger weiter an ihre Lippen führte. Sofort fing das kleine Mädchen an zu saugen, was Carina lächeln ließ. Mittlerweile hatte sie wirklich eine innere Uhr für ihre Tochter entwickelt. Das Stillen klappte schnell und reibungslos, wobei die 19-Jährige dann doch die Tür abschloss, um nicht gestört zu werden. Eigentlich sollte es ihr nicht peinlich sein – Cedric hatte sie immerhin schon nackt gesehen, ihre Brüste also sowieso – aber momentan war die Situation zwischen ihnen ohnehin schon schwierig, da mussten nicht auch noch solche Sachen dazwischenkommen. 15 Minuten später legte sie das nun wieder schlafende Baby zurück in die Wiege und ging ins Badezimmer, um endlich noch einmal ein ausgiebiges Bad zu nehmen. Die Tür schloss sie hinter sich ab. Ihr hellblaues Kleid fiel gleich darauf zu Boden, dicht gefolgt von ihrer Strumpfhose und der Unterwäsche. Vollkommen nackt stand sie nun vor dem großen Spiegel über dem Waschbecken und betrachtete sich kurz darin. Nichts deutete mehr auf die Folter hin, die sie vor ein paar Tagen hatte ertragen müssen. Nichts bis auf… Sie atmete einmal tief ein und drehte sich dann um, wandte den Kopf jedoch über ihre rechte Schulter, um weiterhin ihr Spiegelbild ansehen zu können. Die Narbe begann auf ihrem linken Schulterblatt, knapp unter dem Knochen, und zog sich in einer diagonalen Linie über ihr Kreuz, ehe sie auf der rechten Seite endete, wenige Millimeter über dem Steißbein. Carina konnte nicht anders, sie musste schlucken. Hatte sie damals wirklich gedacht, dass die Narbe auf ihrer Brust groß war? „Tja, scheinbar gibt es immer eine Steigerung“, murmelte sie und ließ ihren Blick mehrere Male über ihren Rücken wandern. Von der Beschaffenheit ähnelte die Wunde Cedrics Narbe im Gesicht. Carina konnte sich daher denken, dass er sie wohl genäht haben musste. „Es hätte mich schlimmer treffen können. Die Narbe ist halbwegs glatt und durchgehend, sie wird also keine körperlichen Beschwerden verursachen. Ich hätte auch genauso gut tot sein können.“ Alice’ Antlitz blitzte kurz vor ihrem inneren Auge auf. Mit einem tiefen Seufzer wandte sie ihr Gesicht vom Spiegel ab und ließ sie sich in das dampfende Wasser sinken, um anschließend betrübt gegen die Decke zu starren. Man sagte immer, dass Narben eine Geschichte erzählten und mittlerweile war Carina klar geworden, dass das stimmte. Die Narbe auf ihrer Brust würde sie immer an ihren Selbstmord erinnern und die Narbe auf ihrem Rücken an Crow und Alice’ Tod. Ihr Leben lang würden diese beiden Wunden sie daran erinnern, was für Fehler sie begangen hatte. Dass sie versagt hatte. Die Schnitterin blieb in der Wanne sitzen bis das Wasser kalt war und begann dann erst langsam sich die Haare zu waschen, dicht gefolgt von ihrem Körper. Bis sie schließlich aus der Badewanne herausgestiegen war, sich abgetrocknet und wieder angezogen hatte, waren es bereits 15 Uhr. Viel zu früh, um schon ins Bett zu gehen. Dabei fühlte sich die 19-Jährige hundemüde. Scheinbar schien ihr Körper die Strapazen der letzten Wochen doch noch nicht ganz verarbeitet zu haben. „Ich sollte etwas essen“, ging es ihr durch den Kopf, während sie die Badezimmertür lautlos hinter sich schloss. Auf leisen Sohlen schlich sie die Treppe hinunter und ging in die Küche, wo ihr sogleich etwas auffiel. „Na toll. In dieser Hinsicht hat er sich zumindest kein Stück verändert“, dachte sie und betrachtete die gähnende Leere im Kühlschrank, der ihrer Meinung nach überhaupt nicht aussah, wie ein richtiger Kühlschrank. Wieder einmal ließ auch hier das 19. Jahrhundert grüßen. Ein wenig genervt schloss sie die Augen und kniff sich mit Daumen und Zeigefinger in den Nasenrücken, während ihre feinen Sinne auf die Energiesignatur des Bestatters reagierten, als dieser sich näherte. Keine zwei Sekunden später stand er im Türrahmen, woraufhin die Blondine die Augen öffnete und ihn ansah. Kurz machte sich eine unangenehme Stille im Raum breit, ehe der Todesgott seine rechte Hand hob und ihr eine ziemlich bekannte Urne entgegenhielt. „Kekse?“, fragte er lediglich, was Carinas Mundwinkel tatsächlich kurz zum Zucken brachte. „Danke“, sagte sie und nahm sich einen. „Du weißt aber schon, dass das keine dauerhafte Lösung ist, oder?“ „Wieso nicht?“, fragte er und genehmigte sich selbst einen von den Knochenkeksen. „Im Gegensatz zu damals bist du jetzt auch ein Shinigami. Du brauchst keine vitaminreiche Nahrung mehr zu dir zu nehmen.“ „Das mag grundsätzlich stimmen, aber solange ich Lily stille sollte ich auf meine Ernährung achten.“ Mal ganz abgesehen davon, dass ihr die Kekse irgendwann zum Halse raushängen würden. Der Silberhaarige wirkte ehrlich verblüfft. „Darüber habe ich überhaupt nicht nachgedacht“, gestand er und ließ seinen Blick zu ihren Brüsten wandern, was Carina mit einer hochgezogenen Augenbraue quittierte. Er grinste unschuldig. „Na ja, mir ist schon aufgefallen, dass sie größer geworden sind, aber-“ „Sprich nicht weiter“, warnte sie ihn trocken und verfluchte gleichzeitig ihre Wangen, in denen nun das Blut pulsierte. Was sollte dieses kindische Verhalten seinerseits denn jetzt bitteschön bedeuten? „Hehe~“, kicherte der Bestatter und amüsierte sich königlich über Carinas offensichtliche Verlegenheit. Allerdings war ihm gleichzeitig auch bewusst, dass er mit seinem momentanen Auftreten nur seine eigene Unsicherheit überspielte. Wie sollte er es ihr nur sagen? Wann war der richtige Zeitpunkt? Gab es überhaupt einen richtigen Zeitpunkt? „Ich gehe jetzt einkaufen, die Geschäfte haben ja Gott sei Dank noch offen“, unterbrach die Blondine seinen Gedankenfluss und ging im nächsten Moment bereits an ihm vorbei, um ihren Mantel zu holen. Fast schon ein wenig panisch drehte er sich zu ihr herum. „Und Lily?“, fragte er, woraufhin Carina ihn wieder ansah. „Du bist doch hier“, sagte sie und schlüpfte seelenruhig in die Ärmel ihres schwarzen Mantels. „Du wolltest dich um sie kümmern, hast du gestern noch selbst gesagt.“ „Ja schon“, begann er und lachte einmal hilflos auf, „aber was ist, wenn sie wach wird und weint?“ „Herrgott“, murmelte die junge Frau. „Du bist über 800 Jahre alt und hast keine Ahnung, wie man mit einem Baby umgeht?“ Er schüttelte stumm den Kopf und irgendwie fand Carina das auf seltsame Art und Weise niedlich. „Wichtigster Punkt: Keine Panik bekommen, wenn sie weint. Babys weinen nun einmal, das ist ganz normal“, begann die 19-Jährige sanft und knöpfte sich währenddessen den Mantel zu. „Es hat immer einen Grund, wenn Lily weint. Entweder ist sie hungrig oder müde oder ihre Windel muss gewechselt werden. Manchmal reicht es auch schon aus, wenn man sie nur auf den Arm nimmt und ein wenig mit ihr spricht. Was von den genannten Sachen zutrifft, wirst du mit der Zeit schon selbst herausfinden, keine Sorge.“ Sie öffnete die Ladentür und hielt noch einmal kurz inne. „Hunger dürfte sie übrigens erst wieder in etwa einer Stunde haben, bis dahin werde ich längst zurück sein.“ Er nickte einmal kurz und die Schnitterin konnte es nicht verhindern, sie grinste ihn süffisant an. „Tja Cedric, dann stell mal deine Vaterqualitäten unter Beweis. Sonst weißt du ja schließlich auch immer alles besser.“ Der letzte Satz klang in Carinas eigenen Ohren schon fast ein wenig zu spöttisch, aber seinen entgeisterten Gesichtsausdruck zu sehen, kurz bevor sie aus der Tür ging, machte es das allemal wert. Es gab Zeiten, in denen er das Selbstbewusstsein von Carina liebte und dann gab es Zeiten, wo ihm genau dieses ganz und gar nicht passte, stellte Cedric stumm für sich selbst fest. Sie war gerade einmal 10 Minuten weg und trotzdem war sein ganzer Körper in Alarmbereitschaft, horchte nur auf das kleinste Geräusch seiner Tochter, die oben in ihrem Zimmer schlief. Er konnte es immer noch nicht so richtig fassen. Carina hatte ihn mit dem Kind allein gelassen. Ihn. Mit einem Kind. War sie denn vollkommen verrückt geworden? Er hatte doch nicht die geringste Ahnung von Babys! „Und was sollte überhaupt dieser letzte Satz bedeuten? Sonst weißt du ja schließlich auch immer alles besser?“ Spielte sie damit vielleicht darauf an, dass er eine Entscheidung für sie getroffen hatte? Nun gut, man brauchte Carina nicht sonderlich gut zu kennen, um zu wissen, dass ihr das ganz und gar nicht gefallen hatte. Sie war mit dem Verständnis aufgewachsen, dass Frauen und Männer gleichberechtigt waren und war natürlich auch dementsprechend erzogen worden. Noch dazu kamen ihr Temperament und dieser unaufhörliche Dickkopf, den Cedric gleichermaßen liebte und verfluchte. „Wenn ich mich mit ihr über bestimmte Dinge streiten muss, um sie zu beschützen, dann soll es mir recht sein“, dachte er bei sich und trug gedankenverloren die Termine für seine nächsten Beerdigungen ein. Doch dann kam natürlich 5 Minuten später genau das, wovon der Bestatter gehofft hatte, dass es nicht passieren würde. Ein Klagelaut wehte die Treppe zu ihm hinunter und sofort erstarrte der Todesgott zur Salzsäule. Er schluckte einmal, straffte sich dann aber innerlich. Er hatte in seinem langen Leben bereits gegen Todesgötter, Dämonen und sogar den ein oder anderen Engel gekämpft. Da würde er ja wohl auch mit einem Kind fertig werden, noch dazu mit seinem eigenen! 1 Minute später beugte er sich bereits über die Wiege und schaute sich seine Tochter an, die vom Weinen bereits ganz rote Wangen bekommen hatte. „Hey“, meinte er leise und musste sich einmal kurz räuspern, weil seine Stimme so rau klang. Das Mädchen zeigte sich von der zurückhaltenden Art ihres Vaters unbeeindruckt und beantwortete sein einzelnes Wort mit einem erneuten Schrei. Unwillkürlich musste er grinsen. „Zweifelsohne das Organ deiner Mama“, gluckste er belustigt. „Erzähl ihr aber bloß nicht, dass ich das gesagt habe, sonst bekomme ich bestimmt noch mehr Stress mit ihr.“ Lily wurde auf den Klang seiner Stimme hin ein wenig leiser, strampelte aber immer noch unruhig mit ihren Beinchen in der Luft herum. „Hmm, Hunger solltest du noch keinen haben und an der Windel scheint es auch nicht zu liegen“, überlegte er laut und dankte innerlich seiner guten Nase. „Ist dir vielleicht langweilig?“, fragte er, obwohl ihm natürlich bewusst war, dass er keine Antwort erhalten würde. Also nahm er all seinen Mut zusammen und griff einfach beherzt in die Wiege hinein, um das Baby im nächsten Augenblick auf seinen Arm zu nehmen. Er tat es genauso, wie die schwarzhaarige Rezeptionistin es ihm gezeigt hatte und kaum lag das kleine Wesen richtig in seiner Armbeuge, verstummten die missbilligenden Laute. Von sich selbst begeistert schaute der Shinigami hinab in die kugelrunden, blauen Augen seiner Tochter, die ihn nun interessiert anblickten. „Na du?“, flüsterte er sanft und stupste dem Baby mit seinem Zeigefinger einmal gegen die Nase. Lilys Reaktion bestand darin mit ihrer Hand orientierungslos nach der seinen zu greifen und als er ihr seinen filigranen Zeigefinger hinhielt, umschlossen ihre kleinen Fingerchen ihn ohne zu zögern. Uneingeschränkte, bedingungslose Liebe keimte in ihm auf, gegen die er sich nicht zur Wehr setzen konnte, geschweige denn wollte. Das kleine Mädchen hatte ihn ganz und gar in ihren Bann gezogen. Als Carina 25 Minuten später wieder durch die Tür des Bestattungsinstitutes trat, traf sie fast der Schlag. Cedric saß an seinem Empfangstresen und schrieb mit einer Hand etwas in seine Unterlagen, während er mit der anderen Hand Lily hielt, die seelenruhig zu ihm hochschaute und ihre Finger in seinen schwarzen Mantel krallte. Beinahe wäre der jungen Mutter der Korb aus den Händen gefallen. Der Anblick löste etwas in ihr aus, ließ ihr Herz automatisch höher schlagen. Wäre sie Grell, hätte sie jetzt vermutlich quietschend ein lautes „Oh, wie süß“ von sich gegeben. Was durchaus zutreffend war, aber da sie nun einmal war wie sie war, konnte sie einfach nur sprachlos in der Tür stehen bleiben und sich das ihr gebotene Bild so gut es ging einprägen. „Da bist du ja wieder“, sagte Cedric auf einmal und riss Carina somit aus ihrer Starre. „Äh, ja“, stotterte sie, ganz kurz überfordert mit der Situation. „War… ähm, war alles gut?“, fragte sie gleich darauf, schloss die Tür hinter sich und trat an den Tresen heran. Lily drehte das Köpfchen leicht in ihre Richtung, als sie die Stimme ihrer Mutter hörte, blieb aber nach wie vor vollkommen ruhig. „Bestens“, grinste der Bestatter und schaute erneut in sein Geschäftsbuch. „Schön“, entgegnete Carina, weil sie absolut keine Ahnung hatte, was sie ansonsten sagen sollte. Versucht gleichgültig ging sie in die Küche und begann die Lebensmittel in die verschiedenen Schränke einzuräumen. Doch währenddessen musste sie die ganze Zeit daran denken, dass sie jetzt zu dritt wie eine Familie zusammenlebten und dennoch keine waren. Und es tat ihr weh. „Dummkopf“, schimpfte die junge Frau sich gedanklich selbst. „Du hast doch gewusst, dass nicht mehr daraus werden wird und trotzdem nimmt es dich so mit. Lernst du denn nie dazu?“ Sich zusammennehmend krempelte sie die Ärmel ihres Kleides hoch und begann vorsichtig die Kartoffeln zu schälen. 30 Minuten später betrat der Undertaker die Küche, immer noch Lily auf dem Arm, die jetzt allerdings die Augen zugemacht hatte und schlief. „Brauchst du Hilfe?“, fragte er höflich nach und Carina warf ihm einen ungläubigen Blick zu, gepaart mit einer erhobenen Augenbraue. „Du kannst kochen?“ „Nein, nicht wirklich“, gab er grinsend zu, was die Blondine die Augen verdrehen ließ. „Dann bleib bloß wo du bist. Nachher verwechselst du noch Salz mit Zucker und das wäre bei einem Linseneintopf jetzt eher suboptimal.“ „Bei mir hat es leider nur für’s Kekse backen gereicht. Aber wenn du kochen kannst, müsste das ja auch ausreichen. Bleibst du bei der deutschen Küche?“ „Mal so, mal so. Ich kann beides relativ gut, aber manchmal muss es einfach etwas Deftiges sein. Das erinnert mich an zu Hause.“ Sein Blick wurde kurz ernster. „Vermisst du es?“ „Mein Zuhause?“, fragte sie und er nickte. Carina seufzte und begann den Eintopf zu würzen. „Nicht mehr so sehr wie noch vor 3 Jahren, aber ja. Ab und zu denke ich schon noch daran. Vor allem an meine Eltern.“ Ein bitterer Stich zog sich sichtbar durch ihre Augen. „Ich werde das Gefühl einfach nicht los sie zurückgelassen zu haben.“ „Du könntest sie wiedersehen, weißt du?“, gab er zu bedenken und Carina schnaubte. „Theoretisch. Nur mal angenommen, dass dieser Samael uns nicht alle umbringt. Dann dauert es trotzdem noch ganze 125 Jahre. Das ist eine lange Zeit. Wer weiß schon, was bis dahin noch alles in meinem Leben passieren wird.“ „Und trotzdem hast du dich dafür entschieden nicht in die Zukunft zurückzukehren“, murmelte der Bestatter. „Ja und das war die richtige Entscheidung. Wie bereits gesagt, ich habe mich verändert und ich mag mich, wie ich jetzt bin. Außerdem braucht Lily mich mehr, als mich meine Eltern brauchen.“ „Ich brauche dich auch“, dachte Cedric und wollte sich am liebsten dafür schlagen, dass er es nicht über die Lippen brachte. Er beobachtete, wie Carina die letzten Zutaten in den Eintopf warf und sich anschließend wieder zu ihm herumdrehte. Ein schiefes Lächeln lag auf ihren Lippen, das ihn sofort magisch anzog. Er hatte damals auf der Campania nicht ohne Grund gesagt, dass es traurig sein würde, wenn es kein Gelächter mehr gäbe. Für ihn gehörte Lachen und Lächeln einfach zum Leben dazu und Carina tat es nach wie vor viel zu selten. „Du machst das gut“, sagte sie, immer noch mit diesem zurückhaltenden Lächeln, und deutete auf das Baby in seinen Armen. „Ja?“, fragte er atemlos und freute sich, als sie nickte. „Ein Baby steht dir. Vor allem, da Lily genauso aussieht wie du.“ Ein sanfter Unterton schwang in ihren Worten mit. „Schon, aber die Augen hat sie von dir“, antwortete der Bestatter und kreuzte seinen Blick mit ihrem. „Glücklicherweise.“ Carina spürte, wie sie leicht errötete. „Flirtet er mit mir?“ Nein, das konnte nicht sein. Er war nun einmal immer schon so direkt in seinen Aussagen gewesen und selten hatte mehr dahinter gesteckt. Sie machte sich einfach zu viele Gedanken. Abrupt versuchte die Schnitterin daher das Thema zu wechseln. „Wie auch immer. Möchtest du gleich etwas essen? Ich bin fast fertig, du könntest Lily vorher noch ins Bett bringen und-“ „Gerne“, unterbrach er sie und zeigte ihr seine blendend weißen Zähne, als er grinste. Carina nickte überrumpelt und schaute dem Silberhaarigen beim Verlassen der Küche hinterher, kurz darauf knarzte es wieder auf der Treppe. „Wir haben tatsächlich ein halbwegs normales Gespräch miteinander geführt. Ich kann’s kaum fassen“, ging es ihr durch den Kopf. Das dürfte sie Grell unter gar keinen Umständen auf die Nase binden. Der Rothaarige würde sich nur wieder ins Fäustchen lachen und behaupten, dass er die ganze Zeit Recht gehabt hatte. Eine Viertelstunde später saßen die beiden Todesgötter am Esstisch und schwiegen sich stur während dem Essen an. Carina war die ganze Situation immer noch unangenehm. Sie hatte einfach weiterhin keine richtige Ahnung, wie sie mit Cedric umgehen sollte. Dem Totengräber schien es leichter zu fallen, denn wenige Minuten später brach er plötzlich die Stille. „Ich hab dich noch gar nicht gefragt, wie das eigentlich so war. Die Schwangerschaft, meine ich.“ „Na ja“, begann sie langsam, aber dennoch ehrlich erfreut über sein Interesse. „Schön, aber auch verdammt anstrengend, zumindest das letzte Drittel. Körperlich ist da halt nicht mehr so viel drin, mal ganz abgesehen von den unglaublichen Rückenschmerzen und der ständig drückenden Blase. Es war am Ende einfach nur noch furchtbar langweilig.“ „Klingt einleuchtend“, erwiderte er und steckte sich einen weiteren Löffel Eintopf in den Mund. „Hat sie… hat sie dich oft getreten?“ Carina nickte und konnte nicht anders, als vergnügt auszusehen. „Ja, ständig. Sie hat mich ganz schön auf Trab gehalten, die kleine Maus. Ich war wirklich froh, als sie dann endlich auf der Welt war.“ „Ich habe das Bild gesehen. Du sahst ziemlich fertig aus nach der Geburt.“ Sie zuckte kurz mit den Schultern. „Ich denke, das ist normal, auch für eine Shinigami. Aber ich will es nicht abstreiten, es war hart. Um ehrlich zu sein: Es war die absolute Hölle. Sicher, gedanklich bereitet man sich darauf vor, aber das nützt einem gar nichts mehr, wenn man dann plötzlich 20 Stunden in den Wehen liegt. Definitiv die längsten 20 Stunden meines Lebens.“ Der Bestatter verschluckte sich bei ihren Worten beinahe. 20 Stunden? Sie hatte 20 Stunden in den Wehen gelegen? Jetzt war er auf einmal fast schon froh, dass er nicht dabei gewesen war. Wenn er sich vorstellte, dass er die gesamte Zeit nur hilflos hätte daneben stehen und zusehen können, dann wurde ihm ganz anders. Nein, im Nichtstun war der Shinigami noch nie gut gewesen. „Jetzt schau nicht so. Ich bereue keine Sekunde davon. Und ich hab’s überlebt.“ „Stimmt“, murmelte er leise und sah der Mutter seines Kindes dabei zu, wie sie ihren Teller auf die Anrichte stellte und begann ihn abzuspülen. „Außerdem… war Alice bei mir“, flüsterte sie plötzlich und starrte stur auf die gegenüberliegende Wand, sodass er ihr Gesicht nicht sehen konnte. „Carina“, begann er vorsichtig, „wenn du darüber sprechen möchtest-“ „Mir geht’s gut“, unterbrach sie ihn schnell und setzte ein dermaßen falsches Lächeln auf, dass es ihm die Sprache verschlug. Aber nur kurzzeitig. „Nein, es geht dir nicht gut“, antwortete er ruhig und sachlich, eine bloße Feststellung. „Und das ist in Ordnung. Sie ist gestorben und du hast ein Recht darauf zu trauern. Ich weiß, dass du das momentan noch nicht kannst, aber irgendwann musst du aufhören all den Schmerz in dich hineinzufressen. Das wird auf Dauer nämlich nicht funktionieren.“ Die Miene der 19-Jährigen verkrampfte sich, ebenso wie ihr ganzer Körper. „Das sagt ja genau der Richtige“, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Wer hat denn jahrzehntelang versucht seine Geliebte von den Toten zurückzuholen?“ Es war ein Seitenhieb und ein gemeiner noch dazu, aber das war Carina in jenem Augenblick egal. In dieser Hinsicht würde sie sich nicht von ihm belehren lassen. „Deswegen sage ich es dir ja. Weil ich es inzwischen besser weiß“, meinte er, seine Stimme nun ein wenig kühler als zuvor. Die junge Frau hatte schon immer die Fähigkeit besessen sich verbal zur Wehr zu setzen, das hatte er schon damals bemerkt, als sie noch ein Mensch war. Noch so eine Sache, die er an Carina sowohl schätzte, als auch verfluchte. Den restlichen Abend schwiegen sie, wechselten kein Wort mehr miteinander. Carina verschwand relativ zügig in ihrem Zimmer und konnte von dort aus hören, wie einer der unten stehenden Särge geöffnet wurde. Vermutlich machte Cedric es sich dort für die Nacht bequem, was sie allerdings nicht sonderlich überraschte. Das Bett schien er in seinem Laden sehr selten zu nutzen, wenn überhaupt. Doch das interessierte Carina momentan nicht sonderlich. „Was fällt ihm überhaupt ein?“, dachte sie zornig und riss die Bettdecke mit einem Ruck nach hinten, um sich anschließend darunter sinken zu lassen. „Ich trauere nicht? Was weiß er denn schon?“ Er hatte doch keine Ahnung. Keine Ahnung von dem Schmerz, der in ihrer Brust tobte, keine Ahnung von dem drückenden Gefühl auf ihrer Lunge, keine Ahnung von den Tränen, die in ihrer Kehle feststeckten und einfach nicht kommen wollten. Unabsichtlich hatte sie eine Mauer in ihrem Inneren errichtet, die sie in dem Bunker davor hatte schützen sollen vollkommen durchzudrehen. Und jetzt bekam sie sie selbst nicht mehr eingerissen, wollte es insgeheim auch gar nicht. Sie hatte Angst vor den Folgen, Angst davor sich dem wahren Schmerz erst noch stellen zu müssen. „Er kann sich seine weisen Ratschläge sonst wohin stecken. Er selbst hat Claudias Tod doch auch erst jetzt wirklich akzeptiert. Und wie lange hat das gedauert? 24 Jahre! Wenigstens habe ich mir nicht in den Kopf gesetzt Alice irgendwie zurückholen zu wollen.“ Dennoch… jetzt, wo sie so darüber nachdachte, konnte sie Cedric wohl wahrlich zum ersten Mal richtig verstehen. Einen geliebten Menschen zu verlieren war mit Abstand das Schlimmste, was einem im Leben passieren konnte. Erst recht auf diese Art und Weise. Der Gedanke noch einmal mit Alice sprechen zu können, sie bei sich zu haben und mit ihr lachen zu können… Natürlich wünschte sie sich das! Wer tat so etwas nicht, wenn er jemanden verloren hatte? „Aber es geht nicht“, dachte sie und schluckte schwer. „Alice ist tot und der Tod ist eine Einbahnstraße. Finde dich damit ab.“ Alles, was sie jetzt noch tun konnte, war darauf zu vertrauen, dass Uriel die Wahrheit gesprochen hatte. Dass Alice nun wirklich wieder mit ihrer Familie vereint war… Carina war sich bis zu dem Zeitpunkt nie wirklich bewusst gewesen, wie lang eine Nacht wirklich war, wenn man nicht schlief. Zu viele Gedanken kreisten in ihrem Kopf umher und jedes Mal, wenn sie dann doch kurz davor gewesen war endlich einzuschlafen, meldete sich Lily zu Wort und bedürfte ihrer Aufmerksamkeit. Die 19-Jährige störte sich normalerweise nicht sonderlich daran, ihre Tochter war nämlich glücklicherweise kein Schreihals und weinte wirklich nur, wenn sie etwas wollte. Daher waren die meisten Nächte bisher relativ ruhig geblieben und Carina hatte nur ein oder zwei Mal aufstehen müssen. Jetzt jedoch zerrte es ein wenig an ihren Nerven, da sie die Müdigkeit in ihren Knochen spüren konnte. „Was soll’s. Ich kann doch eh nicht schlafen“, dachte sie und als plötzlich die ersten Sonnenstrahlen des Tages durch das Fenster drangen, versuchte sie es auch gar nicht mehr. Als sie sich wenige Minuten später an den Küchentisch neben Cedric setzte, ein leises „Guten Morgen“ brummte und von ihm lediglich die gleichen Worte vernahm, war sie froh, dass er sie nicht auf ihre Augenringe ansprach. Bestimmt dachte er sich seinen Teil, bestätigte ihr Anblick doch nur das, was er ihr gestern Abend gesagt hatte. Die beiden Todesgötter aßen schweigend, die Stille nur ab und zu unterbrochen durch ein unterdrücktes Gähnen der Schnitterin. Nach dem Frühstück gingen sie wieder unterschiedliche Wege. Cedric verschwand im Keller, um einen seiner “Gäste“ wieder schön zu machen, und Carina ging nach oben, um Lily für den Tag fertig zu machen. Während sie ihr die Windel wechselte und anschließend einen neuen Strampler anzog, läutete unten die Türklingel und kurz darauf hörte sie den Bestatter auf der Treppe. Stimmen erklangen gleich darauf, was Carina interessiert den Kopf drehen ließ. „Grell kann es nicht sein, dafür ist es noch zu früh. Vielleicht Kundschaft?“ Neugierig schlich sie sich die Treppe hinunter, ihre Tochter auf dem Arm, die friedlich an ihrem Daumen lutschte. Die Stimmen wurden jetzt deutlicher. „Vielen Dank, dass sie sich so gut um meinen Mann gekümmert haben. Ich bin sicher… die Beerdigung hätte ihm gefallen.“ Die eindeutig weibliche Stimme schwankte kurz gefährlich, fasste sich dann aber wieder. „Hehe~ Sie müssen mir nicht danken, Miss. Das ist mein Beruf.“ „Dennoch… nicht alle Bestatter geben sich solche Mühe mit ihren Beerdigungen. Ich bin froh, dass sie von ihrer Auslandsreise zurückgekehrt sind und viele Menschen werden mir da zustimmen.“ Carina betrat beinahe lautlos den Raum und entdeckte Cedric hinter seinem Empfangstresen, dicht vor ihm stand eine Frau mit zusammengebundenen, bereits ergrauten Haaren. Rein intuitiv schätzte die junge Mutter sie auf Mitte 50. „Guten Tag“, begrüßte sie die Kundin höflich und neigte leicht den Kopf. Die Frau, die scheinbar vor kurzem ihren Mann verloren hatte, schaute sie zuerst reichlich irritiert an, bevor sich ein strahlendes Lächeln auf ihren Lippen ausbreitete, was dann wiederum Carina irritierte. Was war denn jetzt los? „Jetzt verstehe ich“, rief sie aus und klatschte freudig in die Hände. „Das ist also der Grund, warum Sie solange weg waren, nicht wahr? Sie haben geheiratet! Oh, wie wunderbar! Meine herzlichen Glückwünsche, Mr. Undertaker.“ Carina verschluckte sich beinahe an ihrer eigenen Spucke, als sie die Worte der älteren Frau hörte. Wie bitte?! Sie hatte bereits halb den Mund geöffnet – zweifelsohne, um der Frau mitzuteilen, dass sie und Cedric keineswegs verheiratet waren – als der Bestatter ihr zuvorkam. Allerdings mit einer komplett anderen Antwort, als sie im Sinn gehabt hatte und die sie noch im gleichen Augenblick erstarren ließ. „Ja“, sagte er, ein verschmitztes Lächeln auf den Lippen. „Das ist meine Frau.“ Kapitel 74: Geständnis ---------------------- Das ist meine Frau. Das ist meine Frau. Das ist meine Frau. Der Satz lief in Dauerschleife in Carinas Kopf ab, während sie zwanghaft versuchte ihr Gesicht unter Kontrolle zu behalten. Dennoch, wenn man genau hinsah, konnte man die geweiteten Augen und die entgleisten Gesichtszüge deutlich erkennen. Doch die Fassungslosigkeit verflog schnell. Was zurückblieb war grenzenlose Wut, die ihr für einen Moment schier den Atem raubte. Sie biss die Zähne so fest zusammen, dass ihre Wangenknochen schmerzten. Das hatte er jetzt nicht ernsthaft getan! Lily merkte als Allererste, dass mit ihrer Mama etwas nicht stimmte und fing gleich darauf an halblaut zu weinen. „Shhh“, murmelte Carina sogleich und lockerte automatisch ihre verkrampften Arme etwas, um das Baby zu beruhigen. „Entschuldigen Sie mich bitte“, presste sie dann schließlich hervor, schenkte der älteren Frau ein Lächeln, das falscher nicht hätte sein können, und verließ den Raum in Richtung oberes Stockwerk. Der Undertaker sah ihr nach, sein verschmitztes Lächeln von eben restlos verschwunden. Mit so einer heftigen Reaktion ihrerseits hätte er nicht gerechnet. Im Weston College hatte es ihr zwar auch nicht sonderlich gefallen, aber trotzdem war sie doch bemerkenswert ruhig dabei geblieben. Jetzt hatte sie ihn angestarrt, als würde sie jeden Moment auf ihn losgehen. Was vermutlich auch passiert wäre, hätte sie Lily nicht im Arm gehabt und die Frau aus der Nachbarschaft nicht vor ihrer Nase. Er war sich sicher, das würde noch ein Nachspiel für ihn haben. „Was fällt ihm überhaupt ein?“, dachte sie wutentbrannt und ging unruhig im Schlafzimmer auf und ab. Lily hatte sich relativ schnell wieder beruhigt und schlief nun in ihrem Kinderzimmer, aber bei ihrer Mutter sah die Sache schon ganz anders aus. „Glaubt er wirklich, dass ich hier einen auf liebende Ehefrau mache? Das kann er vergessen!“ Von Anfang an hatte sie gewusst, dass dieser Einzug hier eine schlechte Idee gewesen war und jetzt wusste sie auch wieder warum. Was dachte er denn, wie sie auf so etwas reagieren würde? Seine Frau… Tze, was für ein Schwachsinn! Glaubte er wirklich, dass er seine Spiele nach Belieben mit ihr spielen konnte, nur weil sie ihm ihre Liebe gestanden hatte? „Nein, nicht mit mir!“, knurrte sie und stürmte in der nächsten Sekunde wieder die Treppenstufen hinunter. Im Laden herrschte Stille, scheinbar war die Dame bereits kurz nach ihrem eigenen Verschwinden selbst gegangen. Lange musste sie nach Cedric allerdings trotzdem nicht suchen. Er stand in der Küche und machte sich gerade einen Tee, dem Geruch nach zu urteilen vermutlich einer dieser süßen Früchtetees. Dennoch kippte er natürlich noch ganze 8 Löffel Zucker in den Messbecher, sodass es nun eher einer Art Sirup ähnelte. Der Silberhaarige drehte sich zu ihr um und als er ihren Blick bemerkte, hob er verteidigend beide Hände. Carina allerdings ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Für wen hältst du dich eigentlich?“, rief sie und baute sich vor ihm auf. Gleichzeitig ärgerte sie sich darüber, dass der Todesgott so viel größer war als sie selbst, denn so war sie dazu gezwungen zu ihm hinauf zu sehen. „Deine Frau? Deine verdammte Frau? Willst du mich eigentlich verarschen?“ Der Bestatter hob beide Augenbrauen. Er hatte beinahe schon wieder vergessen gehabt, dass Carina wahrlich kein Blatt vor den Mund nahm, wenn ihr etwas nicht passte. „Jetzt reg dich doch nicht so auf“, wollte er sie beruhigen, merkte allerdings noch im gleichen Moment, dass er mit diesem Satz nur noch Öl ins Feuer gegossen hatte. „Einen Scheiß werde ich tun“, fauchte sie und stemmte beide Hände in die Hüfte. „Du hattest absolut kein Recht-“ „Wozu?“, unterbrach er sie. „Den Leuten eine glaubhafte Geschichte aufzutischen? Was meinst du wohl, wie über eine unverheiratete Frau gesprochen wird, die dennoch schon ein Kind hat?“ „Halt mich nicht für einfältig“, entgegnete sie scharf. „Das weiß ich selbst. Aber ganz ehrlich? Das interessiert mich einen Dreck. Ich bin eine Shinigami, mir ist es total egal, wie die Leute über mich reden. Sollen sie doch!“ „Schön und gut“, antwortete der Silberhaarige, dem es selbst ja auch immer ziemlich gleichgültig gewesen war, was die Menschen so alles über ihn sagten. „Aber wie steht’s mit Lily? Ich werde es ganz sicherlich nicht zulassen, dass meine Tochter als Bastard deklariert wird.“ Dieser Satz sorgte tatsächlich dafür, dass Carina ein wenig ruhiger wurde, doch die Wut in ihrem Inneren zügelte er nicht. „Spielt das denn eine Rolle? Für den kurzen Zeitraum, den wir hier sein werden, können die Leute gerne sagen, was sie wollen. Wenn wir weg sind, dann hat sich das Problem von ganz alleine erledigt. Dann kannst du dir gerne einfallen lassen, was du den Leuten dann erzählst. Scheidung scheint mir ein sinnvoller Vorschlag zu sein.“ „Was soll das heißen, wenn ihr weg seid?“, fragte der Undertaker mit einer unguten Vorahnung in der Stimme. „Das soll heißen, dass wir weg sind sobald sich das Problem mit diesem Samael erledigt hat bzw. wohl eher sobald er tot ist.“ „Warum solltet ihr weggehen?“ „Warum sollten wir denn bleiben?“, stellte sie die Gegenfrage und warf ihm einen leicht verächtlichen Blick zu. „Falls du es vergessen haben solltest, Cedric: Ich komme aus dem 21. Jahrhundert. Und dort bleibt eine Frau nicht nur bei einem Mann, weil er der Vater ihres Kindes ist. Das kannst du vergessen.“ Nein, das würde sie auf Dauer nicht ertragen. Ihn jeden Tag zu sehen und doch nicht mit ihm zusammen zu sein. Auf gar keinen Fall! Angesprochener wirkte für einen Moment komplett sprachlos. Mit dieser Art von Entwicklung schien er ganz offensichtlich nicht gerechnet zu haben. „Ich will aber nicht, dass ihr geht“, sagte er trotzig und hörte sich dabei tatsächlich an wie ein kleines Kind. Carina schluckte. Nur mit Mühe konnte sie ihre ernste Miene beibehalten. „Ich habe dir doch bereits gesagt, dass du Lily jederzeit sehen kannst. Ich gebe dir mein Wort.“ „Darum geht es nicht.“ Der Bestatter schien nach Worten zu ringen, was vollkommen untypisch für ihn war, Carina aber in diesem Augenblick zur Weißglut trieb. „Worum geht es dann, Cedric?“, wurde sie nun wieder lauter, denn gerade verstand sie ihn einfach absolut nicht. Warum sonst sollte er sie unbedingt hier behalten wollen, wenn nicht wegen Lily? „Erkläre es mir, denn ich verstehe es absolut ni-“ „Verdammt, Carina, ich liebe dich“, unterbrach er sie harsch und in einem dermaßen harten Tonfall, dass die 19-Jährige kurze Zeit brauchte, um seine Worte zu realisieren; passte der Ton doch so gar nicht zu der Bedeutung, die eigentlich dahinter steckte. Ihr Mund klappte wieder zu und mit fassungsloser Miene starrte sie ihn an. Vergessen waren die Wut und der Zorn, vergessen die vorhergegangenen Worte. Alles, was ihr Gehirn jetzt noch abspielte, waren seine letzten drei Worte. Ich liebe dich. Seltsamerweise fühlte sie zuerst gar nichts. Obwohl sie so lange auf genau diese Worte gewartet hatte, spürte sie überhaupt nichts. Ihre Regungslosigkeit machte den Undertaker nervös. Jetzt bekam er langsam eine gewisse Vorstellung davon, wie sie sich damals in dem Café gefühlt haben musste. Und es war kein schönes Gefühl. „Carina?“, flüsterte er, eine eindeutige Frage in der Stimme und es riss die Schnitterin aus ihrer Trance. Jetzt endlich fühlte sie wieder etwas und es war, zu ihrem eigenen Erstaunen, vollkommenes Unverständnis. „Warum sagst du das?“, wisperte sie und zwang sich dazu ihm ins Gesicht zu schauen. In die intensiven gelbgrünen Augen, die sie ebenfalls fokussierten. „Weil es stimmt“, antwortete er ebenso leise, aber mit fester werdender Stimme. Hätte er gewusst, wie erleichternd es war es endlich laut auszusprechen, dann hätte er es ihr schon viel früher gesagt. Die nächste Emotion kam und erneut war es nicht das, was Carina von sich selbst erwartet hätte. „Was soll der Mist?“, rief sie aus und verschränkte die Arme vor der Brust, eine unmissverständliche Abwehrhaltung. „Vor ein paar Tagen erst hast du deine Experimente bezüglich Claudia eingestellt und jetzt liebst du mich plötzlich? Ist das dein Ernst?“ „So ist das nicht“, erwiderte er und wirkte eine Sekunde lang furchtbar überfordert. „Wie denn dann? Soll ich dir sagen, wie ich das Ganze sehe?“, antwortete sie ihm und ballte ihre Hände zu Fäusten. „Meiner Ansicht nach bin ich jetzt die zweite Wahl, weil du eingesehen hast, dass du Claudia nicht zurückholen kannst. Außerdem kannst du so dafür sorgen, dass Lily hier bleibt, was dir sicherlich ganz hervorragend in den Kram passt, stimmt’s?“ Nun war es an ihm sie fassungslos anzustarren. „Nein, das stimmt nicht“, sagte er laut, um sich Gehör zu verschaffen. Es funktionierte scheinbar, denn Carina gab ihm mit einem kleinen Wink ihrer Hand die stumme Aufforderung weiterzusprechen. „Hör zu, ich… ich bin nicht gut in so etwas“, begann er und kniff sich mit Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand in den Nasenrücken. „Nach Claudias Tod habe ich mir selbst geschworen, dass mir ein derartiger Fehler nie wieder unterlaufen würde. Dass ich mich noch einmal in jemanden verliebe, meine ich. Abgesehen davon konnte ich mir zu dem Zeitpunkt nicht vorstellen, dass ich mich jemals wieder von diesem Schmerz erholen würde.“ Er atmete einmal tief ein. „Aber ich fürchte, ich habe mir selbst etwas vorgemacht. Nachdem du das Weston College verlassen hattest, war ich unglaublich wütend, weil du einfach ohne ein Wort zu sagen verschwunden bist. Und ich habe ständig darüber nachgedacht warum du gegangen bist und warum auf diese Art und Weise.“ Er strich sich einmal mit seiner Hand durch das lange, silberne Haar. „Als wir uns dann in Deutschland wieder über den Weg gelaufen sind und ich die Wahrheit erfahren habe, wurde es nur noch schlimmer. Ich habe meine Forschungen danach nach Frankreich verlagert, aber ich musste einfach ständig an dich denken. Sogar wenn ich mit meinen Gedanken eigentlich bei Claudia hätte sein sollen, bist du mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Es hat mich genervt, aber ich konnte einfach nichts dagegen machen.“ Der Bestatter schaute ihr mitten ins Gesicht, das mittlerweile einen Großteil seiner Farbe verloren hatte. „Verstehst du jetzt, Carina? Ich habe schon seit langer Zeit Gefühle für dich. Ich weiß nicht, wann es angefangen hat und ich weiß auch nicht, wie es überhaupt ohne mein Zutun passieren konnte. Aber als du im Kampf gegen Crow so schwer verletzt wurdest und ich dir nicht helfen konnte… da wurde mir schlagartig bewusst, dass ich dich nicht verlieren will.“ Der Ausdruck in seinem Gesicht wurde weicher. „Ich liebe dich, Carina“, sagte er mit rauer Stimme. Ein Muskel am Mund der 19-Jährigen zuckte kurz, während sie ihn weiterhin stumm ansah; blass und mit im Stoff des Kleides verkrampften Händen. Es war nicht einmal eine Minute des Schweigens, dennoch kam es dem Todesgott vor wie eine halbe Ewigkeit. Schließlich öffnete Carina den Mund. „Ich glaube dir nicht“, sagte sie mit einer Stimme, die so dünn war wie Schmirgelpapier. Ihre Augen glänzten verdächtig und sie konnte ihn nicht länger ansehen. Nein, das hier konnte nicht wahr sein. Es war zu gut, zu perfekt um wahr zu sein. Cedric hatte ehrlich geklungen und vielleicht dachte er ja wirklich, dass er sie liebte. Viel wahrscheinlicher war es in ihren Augen jedoch, dass er mit der momentanen Situation überfordert war und sich etwas einredete, was in Wirklichkeit gar nicht stimmte. Carina war in ihrem bisherigen Leben nie etwas in den Schoß gefallen – warum sollte es jetzt anders sein? „Carina, bitte“, sagte er und konnte für einen Moment nicht fassen, dass er sich flehend anhörte. Sie konnte ihn jetzt nicht einfach so damit stehen lassen, das würde er nicht ertragen! „Ich meine es ernst. Ich will mit dir zusammen sein.“ Er packte sie am Handgelenk, doch sie riss sich von ihm los. „Ich kann das gerade nicht“, rief sie mit bebender Stimme, die Überforderung stand ihr klar und deutlich ins Gesicht geschrieben. Und als ob diese Situation nicht schon schlimm genug gewesen wäre, suchte sich Grell gerade diese aus, um freudestrahlend in die Küche hereinmarschiert zu kommen. „Naaa, habt ihr mich schon ver-“ Der Rothaarige brach mitten im Satz ab, als er Carinas Gesichtsausdruck bemerkte, das Lächeln fror ihm sofort merklich im Gesicht ein. „Was ist passiert?“, fragte er bestürzt und als der Silberhaarige sich, etwas genervt, zu ihm umdrehte, nutzte Carina die Gelegenheit und rannte an ihm vorbei, die Treppe nach oben. Zwei Sekunden später fiel oben eine Tür mit einem lauten Krachen zu. „Was zum Teufel hast du jetzt wieder angestellt?“, fauchte Grell wütend und rannte ohne eine Antwort abzuwarten ebenfalls nach oben. Kurz klopfte er an die Schlafzimmertür, entschied sich dann aber doch gleich hineinzugehen. Der sich ihm bietende Anblick traf ihn härter als jeder Stein es hätte tun können. Seine beste Freundin saß mit dem Rücken an das Bett angelehnt auf dem Boden, hielt ihre Beine dicht am Körper angewinkelt und presste sich beide Hände auf das Gesicht, um die gelegentlichen Schluchzer zu ersticken. „Um Gottes Willen, Carina“, rief er und sank neben ihr zu Boden, um sie gleich darauf in eine schützende Umarmung zu ziehen. Die Blondine rührte sich nicht, wehrte die Umarmung aber auch nicht ab. „Was hat er getan? Hat er dich verletzt? Ich schwöre, wenn er auch nur irgendetwas-“ Sie schüttelte lediglich stumm den Kopf, immer noch das Gesicht durch beide Hände verdeckt. Grell runzelte die Stirn. „Was hat er dann gemacht?“, fragte er verwirrt und reichte der jungen Mutter eines seiner roten Taschentücher, das sie nach kurzem Zögern dankend annahm. Grob wischte Carina sich die Tränen vom Gesicht, doch ihre Lippen bebten nach wie vor. „E-er ha-hat“, sie schluckte und räusperte sich einmal, dann versuchte sie es ein weiteres Mal, nun jedoch sehr leise. „Er hat mir gesagt, dass er mich liebt“, flüsterte sie und erneut stiegen ihr die Tränen in die Augen. Grell blinzelte sie ein paar Wimpernschläge nur ungläubig an, schien Gesagtes erst einmal verarbeiten zu müssen. Dann verzogen sich seine Lippen jedoch zu einem breiten Grinsen und er sprang auf, die Arme glücklich ausgebreitet. „Aber Carina, das ist doch wundervoll. Ich hab es doch die ganze Zeit gewusst, es war ja irgendwie auch mehr als offensichtlich, wenn man die Zeichen richtig gedeutet hat. Das ist doch ein Grund zur Freude. Also warum weinst du?“ „Weil ich ihm das nicht glauben kann, darum“, antwortete sie heftig und tupfte sich erneut das Gesicht ab. „Warum sollte er auch? Ich habe ihn belogen, ihm Lily verschwiegen und außerdem hatte er vor nicht einmal einer Woche noch vor, seine Geliebte von den Toten zurückzuholen. Nicht gerade Anzeichen für eine plötzliche Liebe, oder?“ Der Rothaarige stöhnte genervt auf. „Was hat er dir denn genau gesagt?“, fragte er und als Carina ihm das Gespräch so gut es ging wiedergab, starrte er sie am Ende beinahe nieder. „Meine Güte, das darf nicht wahr sein, Carina. Er schüttet dir sein Herz aus und das Einzige, was du dazu zu sagen hast, ist: Ich glaube dir nicht? Und ich habe den Armen auch noch angeschnauzt“, sagte er und griff sich theatralisch an die Stirn. „Für ihn bin ich doch nur ein Trostpflaster“, murmelte sie niedergeschlagen gen Boden. „Nein, das glaube in keine Sekunde lang“, hielt Grell dagegen. „Du hast selbst einmal zu mir gesagt, dass er dir während der ganzen Zeit nicht einmal Hoffnungen auf eine Beziehung gemacht hat. Warum sollte er dann bitteschön jetzt damit anfangen, wenn er es nicht ehrlich meinen würde? Lily darf er so oder so sehen, das hast du ihm versprochen. Er hat also absolut keinen Grund dich anzulügen, Carina.“ „Und wenn er nur denkt, dass er mich liebt? Vielleicht irrt er sich auch nur“, gab sie schwach zurück, was den Reaper aber lediglich laut schnauben ließ. „Hältst du ihn wirklich für solch einen Mann, der so etwas sagen würde, wenn er sich bezüglich seiner Gefühle nicht ganz sicher wäre?“ „Nein… eigentlich nicht“, entgegnete sie kleinlaut, während Zweifel sich in ihrem gesamten Körper ausbreiteten. Seit Cedric ihr diese Worte gesagt hatte, hatte Carina mit einer ganzen Palette von Gefühlen zu kämpfen. Ungläubigkeit, Wut und Kummer auf der einen Seite; lautes Herzklopfen, Glück und Hoffnung auf der anderen. Konnte es wirklich sein, wie Grell sagte? Liebte er sie tatsächlich? Wurde ihr trotz ihrer verdammten Seele und ihrem Dasein als Shinigami vielleicht doch noch ein klein wenig Glück zuteil? Konnte sie darauf hoffen? Die pochenden Kopfschmerzen in ihren Schläfen wurden stärker. „Ich kann das momentan einfach nicht, Grell“, flüsterte sie und schloss die Augen, die sich schwer wie Blei anfühlten. Kein Wunder, immerhin hatte sie letzte Nacht nicht geschlafen. „Es ist doch so schon schwer genug. Die Entführung durch Crow, Alice‘ Tod, der plötzliche Umzug und jetzt das… Es ist gerade einfach alles zu viel.“ Sie schluckte schwer und Grell konnte die heillose Überforderung im Gesicht der Schnitterin sehen. Mit einem leisen Seufzen ließ er sich wieder neben sie sinken und legte sanft eine Hand auf ihre Schulter. „Niemand hat gesagt, dass du jetzt sofort darauf reagieren musst. Wenn du Zeit brauchst, um darüber nachzudenken, dann nimm sie dir. Obwohl ich ja glaube, dass du tief in deinem Inneren die Antwort auf all das schon kennst.“ Er zwinkerte ihr einmal zu und brachte Carina damit sogar wieder zum Lächeln. „Danke Grell“, murmelte sie und bedeckte seine Hand mit der ihren. „Danke, dass du da bist.“ Der Undertaker sah von seiner Arbeit auf, als Grell schließlich wieder die Treppe herunterkam. „Geht es ihr gut?“, fragte er ruhig, woraufhin der rothaarige Shinigami nickte. „Sie hat sich wieder beruhigt, keine Sorge.“ Er seufzte. „Entschuldige, dass ich dich eben so angefahren habe. Aber du musst zugeben, die Situation war ziemlich missverständlich und-“ „Schon in Ordnung“, unterbrach der Totengräber ihn und nickte einmal verstehend. „Du willst nur das Beste für sie, das ist mir bewusst. In diesem Punkt unterscheiden wir uns nicht.“ Grell strahlte ihn an und dann tat er etwas, mit dem der Silberhaarige nicht gerechnet hatte. Er knuffte ihn leicht in die Seite. „Hätte ja nicht gedacht, dass du es so schnell schaffst den Mund aufzubekommen. Gut gemacht, Undy.“ Angesprochener starrte ihn mit erhobener Augenbraue an. Irgendwie wusste er bei dem Patenonkel seiner Tochter nie so recht, ob er jetzt lachen oder die Augen verdrehen sollte. „Ich hab nur die Wahrheit gesagt“, erwiderte er. „Tja, und genau da liegt bei Carina das Problem. Sie ist sich nicht sicher, ob das – was du gesagt hast – auch wirklich die Wahrheit ist. Oder ganz salopp ausgedrückt: Sie denkt, dass du dich vielleicht irrst.“ Cedric seufzte. Das hatte er sich beinahe schon gedacht. Carinas Reaktion war an dieser Stelle dann doch recht eindeutig gewesen. „Ich irre mich nicht.“ „Genau das habe ich ihr auch gesagt“, sagte der Schnitter und seufzte nun ebenfalls. „Aber ich kann sie auch irgendwo verstehen, es ist gerade einfach alles zu viel für sie. Gib ihr ein wenig Zeit, halt vielleicht einfach ein paar Tage Abstand. Möglicherweise bringt es euch beiden ja etwas.“ „Ich kann nicht von mir behaupten, dass mir die Idee sonderlich gut gefällt, aber wenn es ihr hilft…“, meinte er und griff nach der Urne, um sich einen Keks herauszunehmen. „Ein paar Tage wirst du dich ja wohl gedulden können. Carina hat viel länger auf dich gewartet und glaube mir, wenn ich dir sage, dass das alles andere als schön für sie war.“ Grells letzte Worte klangen hart und ernst, was der Bestatter nachvollziehen konnte. Statt einer Antwort steckte er sich zwei Kekse auf einmal in den Mund und begann zu kauen, was Grell mit einem leicht angewiderten Gesichtsausdruck beobachtete. Wenn William wüsste, wie schräg der Undertaker manchmal war, dann würde er sicherlich nie wieder behaupten, dass Grell seltsame Angewohnheiten an den Tag legte. „Nun ja, ich mach mich dann mal wieder auf den Weg. Denk dran, was ich dir gesagt habe. Carina ist eine erwachsene Frau, sie bekommt schon den Mund auf, wenn sie etwas will.“ „Oh ja, das habe ich gemerkt“, murmelte der Silberhaarige und konnte sich ein schiefes Grinsen nicht verkneifen. Grell warf ihm einen gespielt bösen Blick zu, der wohl so viel aussagen sollte wie „Benimm dich!“ und verschwand drei Sekunden später bereits aus dem Bestattungsinstitut. Cedric seufzte und schaute hoch zur Decke. „Na, das kann ja noch was werden“, nuschelte er leise vor sich hin und stieg die Treppenstufen zum Keller hinab, um sich wieder um seine Gäste zu kümmern. Die nächsten fünf Tage liefen tatsächlich so ab, wie Grell es ihm geraten bzw. wohl eher prophezeit hatte. Er und Carina sprachen kaum ein Wort mehr miteinander, abgesehen von einem „Guten Morgen“ beim Frühstück und einem „Gute Nacht“ beim Schlafengehen. Gelegentlich wechselten sie das ein oder andere Wort, wenn es um Lily ging, aber viel mehr als das war nicht drin. Der Undertaker hätte es nicht für möglich gehalten, wie sehr ihm dieses aneinander vorbeileben auf die Nerven ging. Da war es ihm doch tatsächlich angenehmer gewesen allein zu wohnen, nur umringt von Leichen und den seltenen Besuchen des Earls. Und was ihn fast noch mehr störte waren Carinas Augenringe, die von Tag zu Tag größer wurden. Die Blondine schlief nicht oder zumindest so gut wie gar nicht. Nicht, dass es ihn großartig überraschte. Der Tod ihrer besten Freundin nahm sie spürbar mit und das war genau das, was er ihr gesagt hatte. Irgendwann musste sie mit irgendjemanden darüber reden und es war ihm ganz egal, ob sie es nun mit ihm tat oder mit Grell oder mit sonst irgendwem. Hauptsache sie tat es und es ging ihr danach besser. Auch hier war er mit Grell ein und derselben Meinung. Denn dem Rothaarigen waren die Anzeichen des Schlafmangels bei seinem Schützling ebenfalls nicht entgangen, wenn er gelegentlich zu Besuch kam. Er sagte Carina nichts dazu, weil er genauso wie Cedric wusste, dass es von ihr selbst kommen musste, aber gefallen tat es ihm dennoch ganz und gar nicht. Am siebten Tag nach Carinas Einzug reichte es dem Bestatter dann endgültig. Die 19-Jährige saß ihm gerade am Esstisch gegenüber und machte den Eindruck, als würde sie jeden Moment über ihrer Schüssel Haferflocken einschlafen. An sich eigentlich ein recht lustiger Gedankengang, über den der Totengräber sicherlich normalerweise herzlich gelacht hätte. Stattdessen riss ihm der Geduldsfaden. „Carina, so kann das nicht weiter gehen“, begann er und sprach erst weiter, als Angesprochene ihm langsam ihre müden Augen zugewandt hatte. „Du wirst jetzt hoch in dein Zimmer gehen und dich ins Bett legen und ich werde dich erst wieder irgendetwas anderes tun lassen, wenn du zumindest ein paar Stunden geschlafen hast“, sagte er und er sagte es so rigoros, dass es Carina gar nicht in den Sinn kam zu widersprechen. Ihre einzige Reaktion bestand in einem vollkommen fertigen Nicken, was dem Silberhaarigen erneut zeigte wie müde sie sein musste, denn er hatte mit deutlich mehr Widerspruch gerechnet. Seine Augen folgten ihr, als sie im schleppenden Tempo ins obere Stockwerk ging und als er wenige Sekunden später leise die Tür zugehen hörte, seufzte er hörbar auf. Hoffentlich würde der langersehnte Schlaf jetzt endlich kommen… Carina ließ sich mit ihrem kompletten Körper schwer auf das Bett fallen und vergrub sogleich ihren Kopf in dem weichen Kissen. Ihre Augen schmerzten unheimlich durch den Schlafmangel und sorgten gleichzeitig auch für stechende Kopfschmerzen, die unangenehm in ihrem Schädel pulsierten. Die Schnitterin wusste, dass sie die Belastungsgrenze eines Shinigami bereits lange überschritten hatte und sie wusste ebenso, dass Cedric Recht mit seinen Worten hatte. So konnte es nicht weiter gehen! Wenn sie doch nur diese dummen Gedanken abstellen könnte, die sie nachts heimsuchten, wenn um sie herum alles still war und sie nichts hatte, um sich anderweitig abzulenken. Wenn sie doch einfach nur diese verdammten Bilder in ihrem Gedächtnis löschen könnte… Carina nahm nicht bewusst wahr, dass sie noch einigen langen Minuten tatsächlich langsam in den Schlaf glitt, aber als sie das nächste Mal die Augen aufschlug befand sie sich wieder in ihrer kalten, dunklen Zelle; die Ketten fest um ihre Handgelenke geschlungen und den Körper voller Wunden. Crow ragte vor ihr auf und hielt Alice erneut seine Death Scythe gegen die Kehle gedrückt. Zum wiederholten Male spürte Carina das Grauen in sich aufsteigen, konnte das Zittern ihrer Gliedmaßen nicht unterdrücken und hörte sich selber die Worte sagen, die sie in ihrer dunkelsten Stunde über die Lippen gebracht hatte. „Bitte. Ich flehe dich an, lass sie gehen. Ich tue alles, ich schwöre es. Ich lasse mich von dir brechen, mach mit mir, was du willst. Schlag mich, vergewaltige mich, ist mir egal. Aber bitte lass sie gehen. Sie ist unschuldig. Bitte. Bitte…“ Aber was noch viel schlimmer war, waren Alice‘ letzte Worte. Die Worte, die sie mit einem Lächeln auf den Lippen gesagt hatte, weil sie genau gewusst hatte, dass es hier für sie zu Ende war. Hier, in diesem dunklen, dreckigen Loch. „Danke. Für alles. Ich liebe dich, Carina.“ „Lebewohl." Natürlich blieb sie auch nicht von den Bildern verschont, die sich unwiderruflich in ihr Gedächtnis gebrannt hatten. Das ganze Blut. Alice‘ Körper, der dumpf zu Boden fiel. Crow’s grausames Lachen im Hintergrund. Der Kopf ihrer besten Freundin, der baumelnd in seinem Griff hing. Genauso wie es in der Realität gewesen war, konnte sie lediglich stumm diesen entsetzlichen Anblick ertragen. Erst, als ihr Peiniger Alice‘ Kopf losließ und ihn ihr entgegen schleuderte, wurde sie aus ihrer Lethargie herausgerissen. Der Stumpf rollte ihr entgegen und blieb so liegen, dass Carina in Alice‘ bleiches, totes Gesicht schauen konnte. Und die 19-Jährige wusste, dass es ein Traum war, sie wusste es in ihrem Unterbewusstsein. Dennoch japste sie erschrocken nach Luft, als sich die gelbgrünen Augen ihrer besten Freundin weit öffneten und sie anklagend anstarrten. „Es ist deine Schuld, dass ich tot bin“, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme und Carina wurde – wenn es denn überhaupt möglich war – noch bleicher. „Nur deine!“ „N-nein, i-ich…“, stammelte sie verzweifelt und schüttelte wie in einer Art Trance den Kopf. „Wenn du nicht gewesen wärst, dann würde ich noch leben“, sprach das Totengesicht weiter und trieb Carina damit an den Rand des Wahnsinns. Sie kniff die Augen zusammen, presste sich beide Hände auf die Ohren, um diese Stimme nicht mehr hören zu müssen. Wann hörte es auf, wann hörte dieser Wahnsinn endlich auf? Zwei warme Hände, die sich plötzlich auf ihre Wangen legten, rissen die junge Frau abrupt aus ihrem Albtraum heraus. Sie riss die Augen auf und schnappte noch im gleichen Moment verzweifelt nach Luft, doch ihre Kehle schnürte sich komplett zu, ähnlich wie nach ihrem Selbstmord damals. Panisch rang sie nach Atem, nahm von ihrer gesamten Außenwelt nichts mehr wahr, bis der Druck auf ihren Wangen stärker wurde und sie ihren eigenen Namen hörte. „Carina!“ Cedric kniete neben ihr auf dem Bett, die Hände nach wie vor auf ihre Wangen gelegt und einen ernsten Ausdruck im Gesicht. Sein Anblick sorgte automatisch dafür, dass sie ruhiger wurde und endlich wieder Luft bekam. Erst jetzt nahm sie den kalten Schweiß auf ihrer Stirn wahr und das anstrengende Zittern ihres ganzen Körpers. Sofort versuchte sie sich wieder in den Griff zu kriegen, doch es half alles nichts. Ihr Verstand verlor den Kampf gegen ihren Körper, das Zittern hörte nicht auf. Dem Bestatter blieb dies nicht verborgen. „Ganz ruhig“, murmelte er und zog sie im nächsten Moment fest in seine Arme, eine Hand an ihrem Hinterkopf, die andere mittig auf ihrem Rücken platziert. Sogleich spürte er, wie sie in seiner Umarmung erbebte und ihren Kopf im schwarzen Stoff seines Mantels vergrub. Carina konnte einfach nicht mehr. Der Kloß in ihrem Hals war mittlerweile viel zu groß geworden, um ihn noch herunterschlucken zu können. Und Cedrics Umarmung gab ihr schlussendlich den Rest. Als sie seinen warmen Körper an ihrem spürte und seine schützenden Hände, die sie festhielten, sie nicht loslassen wollten, da bröckelte die Mauer in ihrem Inneren. Heiße Tränen sammelten sich in ihren Augen und rollten im nächsten Augenblick bereits über ihre Wangen, um gleich darauf in den schwarzen Stoff unter ihr zu sickern. Carina vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter und schluchzte erstickt in den Mantel hinein, während sich seine Umarmung daraufhin nur noch verstärkte. Wenn er sie jetzt losließ, dann würde sie versinken, versinken in endloser Dunkelheit. „L-lass m-mich nicht los“, schluchzte sie ihm deswegen kaum verständlich entgegen und obwohl sie ihn die letzten Tage weitestgehend von sich gewiesen hatte, zögerte er keine Sekunde mit seiner Antwort. „Werde ich nicht!“ Auf seltsame Art und Weise war die Situation fast friedlich. Keiner von ihnen sagte in den nachfolgenden 10 Minuten auch nur ein Wort. Lediglich Carinas leises Hicksen war ab und zu durch die Stille hindurch zu hören, wobei es von Minute zu Minute leiser wurde und schließlich ganz verstummte. Auch das Zittern ließ langsam nach und erst, als sie vollkommen regungslos und stumm in seinen Armen lag, die Finger mittlerweile sanft in seine Seiten gekrallt, ergriff der Undertaker wieder das Wort. „Was ist passiert, nachdem Crow Alice entführt hatte?“ Sie versteifte sich in seiner Umarmung, aber er ließ sie immer noch nicht los. Egal, ob sie es ihm jetzt sagen würde oder nicht, er würde sie erst dann wieder loslassen, wenn sie ihn dazu aufforderte. Doch seine Gedanken waren unbegründet, denn Carina begann zu sprechen. Leise und mit gebrochener Stimme, aber sie sprach. „Er kam mit ihr in meine Zelle“, begann sie flüsternd und umklammerte Cedric unbewusst fester. „Er erinnerte mich an die Warnung, die er ausgesprochen hatte, nachdem ich ihn gebissen hatte. Dass ich es bereuen würde, ihn so gereizt zu haben.“ Sie schluckte hart. „Plötzlich hat er ihre seine Death Scythe gegen die Kehle gedrückt. Ich habe ihn angeschrien, habe ihm gesagt, dass er sie in Ruhe lassen soll. Er hat-“, kurz versagte Carina die Stimme und sie brauchte mehrere lange Sekunden, um sich wieder halbwegs zu fangen. „Er sagte, ich solle darum betteln. Und das habe ich getan.“ Das Zittern setzte wieder ein. „Ich habe ihn angefleht sie gehen zu lassen, ich habe gesagt, dass er mit mir machen kann, was auch immer er will.“ Zorn schlich sich nun in ihre Stimme, brannte in ihrer Kehle. „Ich habe mich vor ihm auf die Knie geworfen, ich habe mich vor ihm erniedrigt und er hat mich gedemütigt. Aber das war mir in dem Moment egal. Ich hätte alles getan und gesagt, damit er Alice gehen lässt.“ Eiskalte Wut kochte jetzt ebenfalls in dem Silberhaarigen hoch. Er konnte sich vorstellen, wie sehr der einstige Lehrer dies genossen haben musste. Je länger er darüber nachdachte, desto mehr kam er zu dem Schluss, dass Crow’s Tod viel zu schnell vonstattengegangen war. „Und trotzdem… und trotzdem hat er…“ „Du musst nicht weitersprechen“, murmelte er leise, denn er konnte sich denken, was als nächstes passiert war. Crow hatte in diesem Punkt keinen Raum für Spekulationen gelassen. „Es hat ihn vollkommen kalt gelassen, weißt du? Ich konnte es in seinen Augen sehen, es hat ihn einfach absolut nicht interessiert. Mein Flehen war einzig dazu da, um mich am Boden zu sehen und ich bin darauf hereingefallen. Egal, was ich noch getan oder gesagt hätte, er hätte Alice so oder so umgebracht.“ Wieder herrschte eine kurze Stille, dann sagte Carina: „Ich bekomme diese Bilder einfach nicht mehr aus meinem Kopf. Sie verfolgen mich, lassen mich nicht mehr in Ruhe. Das ganze Blut und… und ihr Kopf, den er mir vor die Füße geworfen hat.“ Cedrics Augen weiteten sich. Selbst ihn überkam bei dieser Vorstellung ein kalter Schauder. Das, was Crow getan hatte, konnte man schon nicht mehr als Grausamkeit bezeichnen. Nein, es war etwas Tiefergehendes gewesen, etwas Krankhaftes. Er hatte mit Carinas Psyche gespielt, wie eine Katze mit einem Wollknäuel und jetzt musste die 19-Jährige zusehen, wie sie die Überreste wieder zusammensetzen konnte. „Wie soll ich nur jemals wieder diese Bilder vertreiben? Wie soll ich jemals wieder schlafen?“ Langsam hob sie ihren Kopf von seiner Schulter, sodass er nun in ihre stark geröteten Augen schauen konnte, die nach wie vor von dicken Augenringen untermalt wurden. „Ich bin so müde, Cedric…“ „Ich weiß“, flüsterte er sanft und ließ sich zu Carinas größter Überraschung plötzlich seitlich auf das Bett fallen. Durch seine immer noch anhaltende Umarmung war sie dazu gezwungen ihm zu folgen und lag in der nächsten Sekunde ebenfalls auf der Seite, mit dem Gesicht dem seinen zugewandt. Seine Hand, die nach wie vor auf ihrem Rücken lag, zog sie dichter an ihn heran und begann kurz darauf mit kleinen, kreisenden Bewegungen ihre Wirbelsäule entlang zu streicheln. „Schlaf jetzt. Ich bleibe hier“, erwiderte er und Carina konnte nicht anders, als schwach zu erröten. Doch ein wirkliches Schämen blieb aus, dazu war sie momentan einfach viel zu erschöpf. Und seine Streicheleinheiten fühlten sich so gut an… „Versprochen?“, wisperte sie leise, ließ ihre Stirn gegen sein Schlüsselbein sinken und schloss dabei langsam die schmerzenden Augen. „Versprochen“, antwortete er ebenso leise zurück und spürte zu seiner größten Erleichterung, wie die Anspannung langsam aus dem Körper der jungen Frau wich. Eigentlich wollte Carina ihm noch sagen, dass er sie bloß wecken sollte, wenn er auch nur das kleinste Anzeichen vernahm, dass sie erneut in einem Albtraum gefangen war, aber das brachte sie einfach nicht mehr fertig. Hier in seinen Armen fühlte sie sich sicher, geborgen. Die Wärme und die Berührungen seiner Hände lullten sie langsam wieder zurück in den Schlaf und gerade war es ihr sogar gleich, was passieren würde, sobald sie ihr Bewusstsein der nachfolgenden Dunkelheit überließ. Cedric war bei ihr und das war in diesem Augenblick wahrlich das Einzige, was für sie zählte. Kapitel 75: Verbindung ---------------------- Als Carina früh am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie sich so ausgeruht wie schon lange nicht mehr. Die Bettseite neben ihr war noch warm, was bedeutete, dass Cedric noch nicht lange weg sein konnte. „Er ist tatsächlich die ganze Zeit hiergeblieben“, dachte sie und spürte, wie ihr Herz plötzlich schneller schlug. Jetzt, wo ihr Gehirn dank des nicht mehr vorhandenen Schlafmangels wieder richtig funktionierte, war ihr die Situation des vorherigen Tages mit einem Mal furchtbar peinlich. „Er hat mich in den Arm genommen“, ging es ihr durch den Kopf, während langsam das Blut in ihre Wangen stieg. Wie lange war es her, dass jemand sie so umarmt hatte? Gut, Grell und Alice hatten es natürlich getan, aber in Carinas Augen konnte man das irgendwie schwerlich vergleichen. Cedrics Umarmung war… anders gewesen. In jenem gestrigen Moment war es ihr wie das Natürlichste der Welt vorgekommen. Und sie hatte sich so behütet gefühlt. So gewollt. „Gott, nein“, murmelte die 19-Jährige, als sich zu ihrem schneller schlagenden Herzen jetzt auch noch ein Kribbeln tief in der Magengrube hinzugesellte. Es war einfach nicht fair. Wie konnte jemand allein nur so eine anziehende Wirkung auf sie haben? Allein schon beim Klang seiner Stimme bekam sie ganz weiche Knie. Seltsamerweise war ihr zum Lachen zumute. Wie hatte sie nur jemals annehmen können, dass sie ein Leben ohne ihn führen wollte? Vollkommener Schwachsinn! Seufzend richtete die Schnitterin sich auf und ging auf direktem Weg ins Badezimmer, um sich die zerzausten Haare zu kämen und sich generell frisch zu machen. Ihre Augenringe waren beinahe restlos verschwunden, dennoch waren ihre Augen immer noch schwach gerötet und angeschwollen. „Wenn ich diese Nacht wieder normal schlafe, müsste das morgen auch weg sein“, murmelte sie und klatschte sich eine Handvoll Wasser ins Gesicht. Vielleicht sollte sie ihn darum bitten, dass er diese Nacht wieder bei ihr schlief… „Auf gar keinen Fall“, dachte sie sogleich und wurde erneut rot. Wie sollte sie ihn das denn fragen? Cedric, könntest du dich bitte wieder zu mir ins Bett legen? Wenn du da bist, habe ich keine Albträume? Nein, dann könnte sie sich auch gleich nackt vor ihm ausziehen, denn diese Worte kämen einer seelischen Entblößung gleich. „Vielleicht kann ich ja jetzt wieder schlafen. Irgendwie hat es doch schon geholfen mit ihm darüber zu reden.“ Dass er ihr dies von vorneherein gesagt hatte und somit schlussendlich Recht behalten hatte, schob sie in diesem Augenblick weit von sich. Bevor sie das Badezimmer wieder verließ, schluckte sie ganz nebenbei noch eine der kleinen Tabletten, die Grell ihr besorgt hatte, und schaute kurz darauf nach ihrer Tochter, die zu ihrer großen Überraschung einen anderen Strampler trug als am vorherigen Tag. Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. „Hat Papa dich etwa umgezogen?“, fragte sie das kleine Mädchen und hob sie aus der Wiege, um sie gleich darauf an ihre Brust zu legen. Lily begann sofort zu trinken und antwortete natürlich nicht, aber das musste sie auch gar nicht. Die Antwort lag klar auf der Hand und zauberte Carina ganz automatisch ein Lächeln ins Gesicht. „Du hast einen guten Papa“, murmelte sie leise und strich dem Baby zärtlich über den silbernen Haarschopf. Jetzt kam es ihr beinahe schon seltsam vor, dass sie diesbezüglich jemals an ihm gezweifelt hatte. Dabei bestand kein Grund zur Sorge. Cedric liebte seine Tochter. Und- „Verdammt, Carina, ich liebe dich.“ -sie scheinbar auch. Die Blondine biss sich hart auf ihre Unterlippe. Sie wollte sich keine Hoffnungen machen was ihn anging, aber wem machte sie hier eigentlich etwas vor? Das tat sie bereits! Seufzend legte sie ihre eindösende Tochter wieder in die Wiege, deckte sie sanft zu und hauchte ihr noch einen Kuss auf die Stirn, ehe sie mit lautlosen Schritten ins untere Stockwerk ging. Kurz spähte sie in die Küche, hörte dann aber Geräusche aus dem Keller des Instituts. Scheinbar kümmerte Cedric sich gerade um einen seiner Gäste. Für eine Sekunde hielt sie inne und zögerte, gab sich dann aber innerlich selbst einen Ruck und stieg die Treppenstufen hinunter. Hier war sie tatsächlich noch nie gewesen. Als Mensch hatte sie sich nie getraut auch nur in die Nähe der Leichen zu kommen, daher hatte sie um die Treppe immer einen großen Bogen gemacht. Jetzt bestand dieses Problem definitiv nicht mehr, hatte sie als Shinigami doch mehr Tote und abscheuliche Dinge gesehen, als die meisten Menschen es in ihrem gesamten Leben je taten. Der Keller war relativ übersichtlich. Es gab einen kleinen Flur, der anschließend in einen größeren Raum überging, wo der Totengräber seine Arbeit verrichtete. Carina streckte vorsichtig den Kopf durch die Tür und sah den silberhaarigen Shinigami neben einer langen, silbernen Liege stehen, auf der die Leiche einer jungen Frau aufgebahrt war. „Komm rein“, sagte der Bestatter, ohne von seinem Gast aufzusehen, und winkte Carina zu sich, die langsam näher kam. Neben dem Kopf der Frau, die schätzungsweise gerade einmal die Volljährigkeit erreicht hatte, kam sie zum Stehen und schaute Cedric dabei zu, wie er eine blutverschmierte Zange auf einen kleinen Beistelltisch legte, die sich bis eben noch im Abdomen der Leiche befunden hatte. Sie hob eine Augenbraue. „Du hast ihr Organe entnommen?“ Der Undertaker grinste. „Sie braucht sie ja nicht mehr“, gab er nonchalant zu, was Carina zugegebenermaßen leicht schmunzeln ließ. „Was glaubst du, was war die Todesursache?“, fragte er sie plötzlich, was die ehemalige Schnitterin tatsächlich kurz irritierte. Dennoch beschaute sie sich daraufhin die Dahingeschiedene. „Hmm“, begann sie laut zu überlegen und tippte sich mit dem Zeigefinger gegen das Kinn. „Da sie keine äußeren Verletzungen aufweist – mal ganz abgesehen von ihrem geöffneten Bauch, was definitiv erst nach ihrem Tod passiert ist –“, bei dieser Stelle wurde das Grinsen des Bestatters noch breiter, „nehme ich an, dass es sich um eine natürliche Todesursache handelt. Außerdem scheint sie sehr schnell sehr viel Gewicht verloren zu haben, wenn man die Dehnungsstreifen an Bauch und Beinen in Betracht zieht. Ihre Wangen sind auch ganz eingefallen. Ich würde spontan auf eine der gängigsten Krankheiten tippen, die momentan den Tod verursachen. Influenza? Tuberkulose? Pneumonie?“ „Mit letzterem liegst du richtig“, erwiderte er und begann gleichzeitig die Bauchdecke der Verstorbenen mit Nadel und Faden wieder zu verschließen. Carina faszinierte es, wie geschickt er in diesem Zusammenhang seine Hände einsetzte. Generell war es so, dass sie seine Hände mochte. Und was er damit alles anstellen konnte… „Warum hast du mich das gefragt?“, meinte sie, bevor ihre Gedanken noch in eine vollkommen falsche Richtung abdrifteten. „Ich habe mich gerade eben daran erinnert, wie du damals knapp nach deiner Ankunft in diesem Jahrhundert auf den Anblick der jungen Frauenleiche reagiert hast, die zu mir gebracht wurde. Und jetzt sieh dich an.“ Seine gelbgrünen Augen fesselten ihren Blick. „Du zuckst nicht mal mehr mit der Wimper und kennst dich in diesem Bereich sogar richtig gut aus.“ „Na ja, das bleibt in meinem Job nicht aus“, entgegnete sie. „Als Schnitterin sieht man so viele Dinge, dass es irgendwann normal wird. Außerdem lernt man die Anzeichen für bestimmte Krankheiten an den Toten zu sehen, deren Seele man einsammelt. Glaub mir, wenn du mir vor 3 Jahren gesagt hättest, dass mir der Anblick von Leichen mal nichts mehr ausmachen würde, dann hätte ich dich für verrückt erklärt.“ „Tun das nicht sowieso fast alle?“, lachte er laut und beobachtete erfreut, wie sich die Mundwinkel der jungen Frau leicht hoben. Gekonnt setzte er einen letzten Stich mit der Nadel und legte das Nähwerkzeug anschließend beiseite. „Warum bist du heruntergekommen?“, stellte er nun seinerseits eine Frage und schlagartig wurde Carina ernst. Er konnte sehen, dass sie kurz schlucken musste. „Cedric, ich…“, begann sie stockend und schluckte erneut. „Danke, dass du gestern da warst“, fügte sie schließlich kleinlaut hinzu und schaute ihm scheu in die Augen. „Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich ohne dich getan hätte. Das… das wollte ich dir nur sagen.“ Sie machte Anstalten sich wegzudrehen, doch der Silberhaarige packte sie sogleich am Oberarm, woraufhin sie ihn leicht erschrocken musterte. „Ich werde von nun an immer da sein, wenn du mich brauchst. Das verspreche ich“, antwortete er ernst und sah dabei zu, wie sich Carinas Augen weiteten. Dann wurde sie – zu seinem eigenen Vergnügen – rot im Gesicht. Doch bereits im nächsten Moment brachte sie ihn vollkommen aus dem Konzept, als sie sich auf Zehenspitzen nach vorne beugte und ihm einen langen Kuss auf die Wange drückte. Der Bestatter war so perplex, dass er ihren Oberarm losließ und Carina nutzte die Situation sogleich für sich aus, indem sie mit einem leise gemurmelten „Bis später“ den Keller verließ. Der ehemalige Schnitter blinzelte und führte dann langsam seine Hand an die Wange, auf der er immer noch Carinas Lippen spüren konnte. Nicht, dass ihm das nicht gefallen hätte – denn das hatte es, definitiv – aber ihm wäre es doch lieber gewesen, wenn sie ihn auf den Mund geküsst hätte. Seine Augen verdunkelten sich allein bei dem Gedanken daran, wie es sich anfühlen würde. Ihre Lippen auf den seinen, ihr Geschmack auf seiner Zunge und diese süße, prickelnde Hitze auf seinem Mund, wenn er sie fester an sich pressen würde… Er spürte, wie es in seiner Hose enger wurde. Ein Aufstöhnen unterdrückend wandte er sich wieder der toten Frau zu, um sie für ihre letzte Reise schön zu machen. Carina hatte ja absolut keine Ahnung, wie sein Körper auf ihre Nähe reagierte… „Wieso hab ich das nur getan?“, dachte unterdessen Carina, die in der Küche auf und ab ging. Ihn auf die Wange zu küssen, welcher Teufel hatte sie denn da geritten? „Nicht, dass es nicht ein gutes Gefühl gewesen wäre, aber deswegen hätte ich es noch lange nicht tun sollen.“ Automatisch erinnerte sie sich an all die intimen Momente mit ihm zurück. Wie er sie geküsst und berührt und mit ihr geschlafen hatte… Wenn Carina ganz ehrlich zu sich selbst war, dann vermisste sie es. Leise aufstöhnend schnappte sie sich Tinte, Feder und einen Zettel, um gleich darauf eine knappe Nachricht zu formulieren. Bin kurz mit Lily spazieren. Eine Sekunde lang dachte sie darüber nach noch Liebe Grüße darunter zu setzen, verwarf diesen Gedanken dann aber ganz schnell wieder. Nein, das würde so schon ausreichen. Momentan brauchte sie einfach mal frische Luft und ihrer Tochter konnte das ganz gewiss nicht schaden. Innerhalb weniger Minuten hatte sie Lily warm eingepackt, sich selbst ihren schwarzen Mantel angezogen und verließ dann das Bestattungsinstitut in Richtung Friedhof, da das die einzige Gegend in London war, wo sie sich gut auskannte. Es war ein recht nebliger Februarmorgen, doch glücklicherweise blieb es trocken, sodass dem Spaziergang nichts im Wege stand. Carina ging interessiert an den ihr bekannten Geschäften vorbei. In den letzten Jahren hatte sich hier kaum etwas verändert. Einige Läden hatten neue Besitzer, andere schienen in der Zwischenzeit zugemacht und wieder neu eröffnet worden zu sein. Die typischen Entwicklungen einer Stadt eben, die es auch im 21. Jahrhundert nach wie vor gab. „Nur dieses Geschäft hier hat sich natürlich nicht im Geringsten verändert“, dachte die junge Frau verächtlich und blieb vor dem Spielzeugwarenladen der Funtom Corporation stehen, der zu dieser Tageszeit bereits gut besucht war. Was aber eigentlich kein großes Wunder war, wenn man sich die Vielfältigkeit und Qualität der zu verkaufenden Waren besah. Ciel legte hier eine unbestreitbare Kreativität an den Tag. „Wenn er nicht als Earl geboren worden wäre, hätte er auch gut einfach ein eigenes Spielzeugwarengeschäft eröffnen können“, dachte die 19-Jährige und hatte sich schon halb von den Schaufenstern weggedreht, als eine Stimme hinter ihr sie vom Weitergehen abhielt. „Carina?“ Verwundert darüber, dass eine eindeutig weibliche Stimme ihren Namen rief, drehte sich die Angesprochene um und erblickte nur wenige Meter von ihr entfernt Elizabeth Midford. Das junge Mädchen starrte sie zuerst ungläubig an, dann jedoch begannen ihre grünen Augen freudig zu funkeln. „Habe ich mich also doch nicht geirrt“, rief sie erfreut und kam näher, sodass sie gleich darauf vor Carina knicksen konnte. Diese lächelte leicht amüsiert und neigte als Zeichen des Respekts kurz den Kopf. „Hallo Elizabeth“, antwortete sie und konnte sofort sehen, dass es die Adelige freute nicht mehr „Verlobte des Wachhundes der Königin“ genannt zu werden. Carina besah sich die 15-Jährige kurz. Sie trug ein Kleid, das starke Ähnlichkeit zu dem Kleid aufwies, das sie auf der Campania getragen hatte, wirkte aber wesentlich erwachsener als damals. „Aww, die Kleine ist ja total süß. Ist sie deine Tochter?“, fragte die Midford neugierig, während ihre jadegrünen Augen verzückt zu Lily sahen. „Ja, das ist Lily“, erwiderte die 19-Jährige lächelnd und zum ersten Mal fiel ihr auf, dass Lily unter anderem eine Kurzform von dem Namen Elizabeth war. „Was führt dich nach London?“, fragte die Shinigami ein wenig neugierig und spazierte weiter, ihre Vorfahrin folgte ihr sogleich. „Ich wollte mir Ciels neueste Kreationen ansehen und anschließend… na ja, anschließend wollte ich eigentlich zu dir.“ „Zu mir?“, fragte Carina verwirrt und Elizabeth nickte. „Ja, ich wollte mich bei dir bedanken. Du hast in diesem Bunker die ganze Zeit auf mich aufgepasst, dabei kennen wir uns nicht mal richtig.“ Carina konnte nicht anders, sie lachte. „Elizabeth Midford, ich glaube, du kannst auch ziemlich gut auf dich alleine aufpassen. Deine Fechtkünste sind überwältigend.“ „Im wahrsten Sinne des Wortes.“ „Das ist lieb von dir, aber mit dir kann ich trotzdem nicht mithalten“, antwortete die Blondine, was Carina schnauben ließ. „Mag sein, aber ich bin auch kein-“ Abrupt hielt sie inne und verfluchte sich kurz darauf gedanklich. Warum sprach sie eigentlich immer zuerst und dachte erst dann nach? „Kein Mensch, sondern ein Shinigami“, vollendete Elizabeth ihren Satz und kicherte, als sie Carinas fassungslosen Gesichtsausdruck bemerkte. „Hast du es schon vergessen? Ciel versprach mir doch dort unten, dass er mir alles erzählen würde, wenn es vorbei ist. Und daran hat er sich auch gehalten. Er hält immer, was er mir verspricht.“ Bei diesen Worten legte sich eine zarte Röte auf ihre Wangen und sie lächelte so verliebt, dass Carina das Herz in der Brust schwer wurde. Wenn all das stimmte, was Crow ihr erzählt hatte, dann würde Elizabeth nicht mit Ciel, sondern mit einem anderen Mann Kinder bekommen. Und das wiederum konnte nur bedeuten, dass sie ihn vermutlich niemals heiraten würde. „Du weißt jetzt also über alles Bescheid? Auch über Sebastian?“ „Ja“, erwiderte die Blondine, was Carina dann doch irritierte. Müsste das Mädchen über dieses neue Wissen nicht eigentlich am Boden zerstört sein? Elizabeth interpretierte ihren Gesichtsausdruck richtig. „Natürlich gefällt es mir nicht, dass mein Verlobter einen Pakt mit einem Dämon geschlossen hat und dass er immer noch so auf Rache aus ist, aber…“, und hierbei lächelte sie plötzlich, „wenn er seine Rache bekommen hat, dann verschwindet Sebastian ja wieder und wir können dann endlich heiraten. Dann wird alles gut.“ Carina verschluckte sich beinahe beim Luftholen. Gleich darauf musste sie sich schwer zusammenreißen, um nichts von dem Zorn zu zeigen, der sich am liebsten auf ihrem Gesicht widergespiegelt hätte. Ciel hatte seiner Verlobten natürlich nur die halbe Wahrheit erzählt. Warum wunderte sie das nicht? Ihr Blick fiel auf Elizabeth, die nun bei dem Gedanken an ihre eigene Hochzeit ins Schwärmen geriet und gar nicht mehr aufhören konnte von ihren Vorstellungen und Wünschen zu erzählen. Zweifel stiegen in ihr hoch. Konnte sie es dem 14-Jährigen wirklich verübeln, dass er Elizabeth nichts davon erzählt hatte, dass er sterben würde, sobald er seine Rache vollendet hatte? Nein, noch schlimmer, dass er seine Seele verlieren würde? Der Phantomhive liebte seine Verlobte, das hatte er mehr als nur einmal bewiesen. Sowohl auf der Campania, als auch in dem unterirdischen Bunker. Er wusste, dass die Wahrheit ihr das Herz brechen würde. Selbst Carina wusste das und sie kannte die Midford kaum. Sollte sie ihr wirklich sagen, was mit Ciel geschehen würde? „Nein, das kann ich nicht“, dachte sie. Es war nicht ihre Aufgabe und außerdem wollte nicht sie diejenige sein, die das Glück der jungen Adeligen zerstörte. Und würde es überhaupt einen Unterschied machen? Wenn sie es Elizabeth jetzt erzählen würde, würde die 15-Jährige leiden. Und wenn sie es ihr nicht erzählen würde, dann würde sie ebenfalls leiden, wenn auch erst zu dem Zeitpunkt, an dem Ciels Seele den endgültigen Tod gefunden hatte. Aber vielleicht würden bis dahin noch einige Jahre ins Land ziehen. Vielleicht würde es die Midford besser verkraften, wenn sie ein wenig älter sein würde. „Oder es macht alles noch viel schlimmer, weil sie Ciel dann noch mehr liebt, als ohnehin schon…“ Aber es nützte nichts jetzt darüber nachzudenken. Vorerst würde sie ihren Mund halten, aber sie konnte ihre Meinung jederzeit ändern, wenn sich neue Umstände ergeben würden. Und das würde sie auch, sollte es nötig werden. „Aber genug von mir. Wie geht es dir?“, riss Elizabeth sie aus ihren Gedanken, als sie gerade durch einen kleinen Park spazierten. „Mir? Ach, mir geht es soweit ganz gut“, antwortete Carina und setzte sich auf eine hölzerne Parkbank, was ihre Verwandte ihr gleichtat. „Bis auf die Tatsache, dass ein gefallener Erzengel, der zu einem Teufel geworden ist, sich an mir rächen will und ich gleichzeitig mit dem Mann, den ich liebe, zusammenlebe, aber nicht wirklich zusammen bin.“ Elizabeth bedachte sie daraufhin mit einem Blick, der deutlich ausdrückte, dass sie ihr nicht glaubte. „Schau mich nicht so an, mir geht’s wirklich gut“, meinte die Schnitterin und bemerkte noch im gleichen Augenblick, dass sie die Anwesenheit der Midford tatsächlich genoss. „Meine Verletzungen sind verheilt, unser Entführer ist tot und-“ „Das meine ich nicht“, flüsterte sie leise und schaute die junge Mutter traurig an. „Die Frau, die er umgebracht hat, war deine Freundin, nicht wahr?“ Carina schluckte. Sie hatte vollkommen vergessen, dass Elizabeth bei Alice‘ Tod ebenfalls zugegen gewesen war. „Ja“, sagte sie mit furchtbar rauer Stimme und starrte zu Boden. Einmal tief ein- und wieder ausatmend versuchte sie die aufsteigenden Bilder aus ihrem Gedächtnis zu vertreiben, versuchte sich an Cedrics warme Umarmung zu erinnern und wie er sie festgehalten hatte, als sie kurz davor gewesen war in der Dunkelheit ihrer Erinnerungen zu ertrinken. Es funktionierte überraschenderweise. „Es… es ist nicht leicht, aber es wird besser werden. Mit der Zeit“, fügte sie hinzu und Elizabeth nickte verstehend, legte ihr aber dennoch beruhigend eine Hand auf den Oberarm, die in einem schwarzen, langen Handschuh steckte. „Falls du jemandem zum Reden brauchst, dann bin ich für dich da, okay?“ Carina lächelte sachte und legte nun ihre eigene Hand über die der Adeligen. „Vielen Dank, Lizzy, das weiß ich zu schätzen.“ Komischerweise wurden ihre Wangen aufgrund des Spitznamens heiß, aber Elizabeth strahlte sie lediglich glücklich an. Gott, dieses Mädchen war einfach viel zu gut für diese Welt… „Aber jetzt einmal zu etwas ganz anderem“, meinte Elizabeth plötzlich und hielt sich eine Hand neben den Mund, um die nachfolgenden Worte direkt in Carinas Ohr flüstern zu können. „Undertaker ist wirklich dein Mann?“ Carina kratzte sich leicht mit ihrem Zeigefinger an der Wange, während sie leise auflachte. „Ja, das ist er“, antwortete sie notgedrungen und konnte immer noch nicht fassen, dass sie allen um sich herum tatsächlich diese Lüge auftischen musste. Elizabeth kicherte. „Ich meine, es war ja recht offensichtlich nach diesem Kuss im Bunker-“, Carina wurde rot, „-aber so ganz glauben konnte ich es dann doch nicht sofort. Er ist ja schon recht seltsam.“ „Ja, das ist er wohl“, seufzte die 19-Jährige und rieb sich über die Stirn. „Aber er kann auch anders“, konnte sie es sich nicht verkneifen noch hinzuzufügen. „Und das in mehrerlei Hinsicht.“ „Das kann ich mir vorstellen“, lachte die Midford. „Ciel ist zu den meisten Menschen auch immer so distanziert und strickt höflich, aber zu mir ist er ganz anders.“ Das Mädchen wurde bei diesen Worten puterrot, ganz so als ob sie über etwas Verbotenes sprechen würde. Doch Carina brachte dies nur zum Grinsen. „Er weiß nicht, dass du dich mit mir triffst, oder?“, fragte sie und Angesprochene schüttelte lediglich stumm den Kopf. „Nein, ich habe ihm nichts davon gesagt. Ich wollte mit dir allein sprechen und hatte die Befürchtung, dass er mich nicht allein gehen lassen würde. Er kann sehr besorgt sein.“ „Das kann ich mir vorstellen, nachdem du vor nicht einmal 2 Wochen entführt wurdest“, entgegnete Carina und zog gedanklich unfassbarerweise eine Verbindung zu Cedric. Auch er würde sie am liebsten auf Schritt und Tritt begleiten, damit ihr nichts mehr passierte. „Du wirst ihm doch nicht erzählen, dass wir uns getroffen haben, oder?“, fragte Elizabeth auf einmal mit einem besorgten Unterton, woraufhin Carina ihr zuzwinkerte. „Keine Sorge, ich werde ihm nichts verraten. Abgesehen davon sehe ich ihn ja kaum.“ „Aber Undertaker ist doch jetzt wieder einer seiner Informanten. Das heißt, du könntest ihn von nun an häufiger sehen, wenn er wieder einen Fall für die Königin bearbeitet“, berichtigte die 15-Jährige sie. „Ach herrje“, dachte die Shinigami. Darüber hatte sie überhaupt nicht nachgedacht. „Ja, da hast du wohl Recht“, meinte sie, kam aber dank Lily um eine ausschweifendere Antwort herum. Das kleine Mädchen hatte ihre blauen Augen aufgeschlagen und bewegte sich nun leicht in den Armen ihrer Mutter. Sofort war die Midford Feuer und Flamme. „Sie ist wirklich goldig. Und sie hat genau die gleichen Augen wie du.“ Kurz hielt sie irritiert inne. „Warum eigentlich? Müsstest du nicht auch diese gelbgrünen Augen haben, wie die anderen Shinigami?“ Ciel schien sie diesbezüglich gut aufgeklärt zu haben, das musste Carina ihm lassen. „Shinigami können ihr Aussehen beliebig verändern. Es erfordert etwas Übung, aber sobald man den Dreh raus hat, ist es ganz leicht.“ Kurzweilig hob Carina die Veränderung ihrer Augen auf und wechselte gleich darauf wieder in ihre ursprüngliche Augenfarbe zurück. „Siehst du?“ Elizabeth nickte. „Stimmt, jetzt wo ich so darüber nachdenke… Diese Augen wären in der Öffentlichkeit einfach viel zu auffällig.“ Lily gluckste leise und umschloss mit ihrer rechten Hand Carinas Zeigefinger, als diese ihn ihr hinhielt. Die Adelige beschaute sich das Baby erneut. „Sie hat zwar deine Augen, aber ist ihrem Vater ansonsten wie aus dem Gesicht geschnitten.“ „Ja, glücklicherweise“, entfuhr es der Todesgöttin, bevor sie es verhindern konnte. Prompt erntete sie ein verlegenes Lächeln ihrer Gegenüber. „Er… er sieht wirklich gut aus, nicht? Ich war ganz überrascht, weil er normalerweise ja nie sein Gesicht zeigt. Jetzt ergibt es im Nachhinein natürlich viel mehr Sinn.“ „Weil er ein Shinigami ist oder weil ihn die Frauen sonst nicht mehr in Ruhe lassen würden?“, fragte Carina grinsend und sorgte somit dafür, dass Elizabeth zum nunmehr dritten Mal rot anlief. „Ich sprach jetzt eigentlich von ersterem, aber mit letzterem könntest du ebenfalls Recht haben“, erwiderte sie schüchtern, was die Schnitterin tatsächlich laut auflachen ließ. Die beiden Frauen redeten noch eine ganze Weile miteinander. Carina erfuhr viel über die Vergangenheit der Midford und stellte für sich erneut fest, dass es für Elizabeth besser gewesen wäre, wenn sie im 21. Jahrhundert geboren worden wäre. Dort hätte sie wesentlich mehr aus ihren Fechtkünsten machen können, möglicherweise hätte sie es sogar zu ihrem Beruf gemacht. Hier hingegen versuchte sie ihr Talent zu verstecken, um ihrem Verlobten zu gefallen. Etwas, was Carina in keinerlei Hinsicht nachvollziehen konnte. „Aber so bin ich nun mal“, seufzte sie gedanklich. „Ich könnte mich niemals so für einen Mann verbiegen.“ Sie schluckte, als ihr noch ein weiterer Gedanke kam. Nämlich, dass Cedric sie immer so akzeptiert hatte, wie sie war. Mit all ihren Macken und Fehlern. „Verdammt, Carina, ich liebe dich.“ Ihr Herz machte einen kleinen, sachten Hüpfer in ihrer Brust. Vielleicht hatte Grell Recht. Cedric war kein Mann, der so etwas sagen würde, wenn er sich bezüglich seiner Gefühle nicht ganz sicher wäre. Vielleicht… möglicherweise… sollte sie… „Carina? Sehen wir uns bald wieder?“, unterbrach Elizabeth ihre Gedanken und erhob sich von der Bank. Sie hatte länger hier gesessen als geplant und wenn sie nicht bald nach Hause zurückkehren würde, würden ihre Eltern sicherlich anfangen sich Sorgen zu machen und Ciel benachrichtigen. Etwas, was sie unter keinen Umständen riskieren wollte. Carina erhob sich ebenfalls, ihre nun wieder schlafende Tochter fest an sich gedrückt. „Das würde mich freuen“, antwortete sie lächelnd. „Du weißt ja, wo ich wohne. Wenn irgendetwas ist oder du einfach nur mal reden möchtest, dann komm vorbei.“ Elizabeths Augen glänzten leicht, als sie nickte und sich winkend von der Todesgöttin verabschiedete. Diese erwiderte die Geste kurz und ließ sich, sobald das blonde Mädchen aus ihrem Sichtfeld verschwunden war, erneut auf die Parkbank sinken. Das Lächeln glitt ihr langsam von den Lippen, während sie ein paar Minuten lediglich nachdachte und dabei geradeaus ins Leere starrte, ohne wirklich etwas zu sehen. Schließlich straffte sich ihre Miene jedoch, als sie zu einem Entschluss kam. „Uriel?“, fragte sie in die Stille hinein und kam sich dabei ziemlich lächerlich vor. „Wenn du mich hören kannst, dann… komm bitte zu mir. Ich möchte dich etwas fragen.“ Einige lange Sekunden passierte gar nichts, was dafür sorgte, dass Carina sich noch blöder vorkam. Was hatte sie denn auch erwartet? Dass der Erzengel ein Auge auf sie hatte bezüglich Samael? Dass er springen würde, wenn sie ihn rief und neben ihr- „Du hast gerufen?“ Carina erlitt einen mehrfachen Herzinfarkt, als neben ihr auf der Bank plötzlich Uriel saß, schön wie eh und je. Seine goldenen Augen blickten zu ihr herab, wanderten kurz zu Lily und dann wieder zu ihr zurück. Die Shinigami fühlte sich erneut von seiner bloßen Gegenwart erschlagen. „Ja, habe ich“, antwortete sie überfordert und deutete ohne darüber nachzudenken auf seine schneeweißen Flügel. „Menschen können sie nicht sehen“, beantwortete er ihre Frage, ohne dass sie sie stellen musste. „Aha“, meinte sie, immer noch ziemlich überrollt von seinem plötzlichen Auftauchen. „Was möchtest du mich fragen?“, sprach er und musste scheinbar kurz über ihre Unbeholfenheit lächeln. „Also…“, begann sie zögerlich und schluckte. „Es geht um Elizabeth Midford, die – wie du sicherlich weißt – meine Vorfahrin ist.“ Er nickte. „Ich… ich möchte gerne wissen, was mit ihr in der Zukunft passiert. Also“, schob sie schnell hinterher, um jegliche Art von Missverständen zu vermeiden, „nicht ihre Zukunft generell, aber im Hinblick auf die Tatsache, dass ich von ihr abstamme, aber nicht von Ciel Phantomhive. Ich kann einfach nicht nachvollziehen, wie das passieren konnte. Ich meine… sie liebt Ciel. Wie konnte sie ein Kind von einem anderen Mann bekommen?“ Der Engel stieß ein Seufzen aus und schien erst über ihr Anliegen nachdenken zu müssen. „Ich erzähle es dir, weil es in gewissem Maße auch dich betrifft, aber das ist eine absolute Ausnahme“, sagte er schließlich und Carina nickte erleichtert, gleichzeitig aber war sie angespannt. Elizabeth war so ein liebes Mädchen. Sie wünschte ihr kein Leid, aber vermutlich war das wirklich Wunschdenken ihrerseits. „Ich nehme an“, erwiderte Uriel und schaute die junge Frau interessiert an, „dass du dir bereits deine eigenen Gedanken dazu gemacht hast?“ Carina nickte. „Ja, das habe ich. Ich kann die Möglichkeit ausschließen, dass Lizzy Ciel verlässt. Dafür liebt sie ihn zu sehr. Herrgott, ich glaube sie würde ihn sogar dann noch lieben, wenn sie von seinen üblen Taten erfahren würde.“ Etwas, was Carina nachvollziehen konnte, war sie doch in der Hinsicht kein Stück besser. „Bleiben also eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Entweder er verlässt sie aus irgendwelchen Gründen – was ich allerdings auch nicht glaube, er scheint sie nämlich ebenfalls zu lieben – oder…“, sie räusperte sich einmal, „oder er stirbt“, endete sie mit rauer Stimme. Nicht, dass es ihr dabei um Ciel leidtat. Der Phantomhive hatte sich diese ganze Sache selbst eingebrockt und seine Seele an den Teufel verkauft, er wäre es in ihren Augen selbst Schuld. Aber Elizabeth würde das Ganze zerstören. Der Ausdruck in den Augen des Erzengels wurde weicher, als er die Betroffenheit der 19-Jährigen spürte. „Du hast Recht“, sagte er leise, sodass Carina ihn wieder anschaute. „Er wird sterben.“ Carina atmete einmal tief ein. „Wann?“, hauchte sie beim Ausatmen und wünschte sich jetzt bereits, sie hätte nicht gefragt. „Wenige Wochen vor seinem 18. Geburtstag.“ „Also bereits in 4 Jahren“, murmelte die Schnitterin. Mitleid für Elizabeth stieg in ihr auf. Die Midford wäre zu diesem Zeitpunkt 19 Jahre alt, also genauso alt wie sie selbst jetzt. Sicherlich würde sie in diesem Alter besser mit dem Tod ihres Verlobten umgehen können als jetzt, aber es würde ihr trotzdem fürchterlich wehtun. Sie selbst hatte die Trennung von Cedric nur schwer verkraftet und er war nicht einmal tot gewesen, sondern nur an einem anderen Ort. Wie würde es sich für Elizabeth anfühlen? „Samaels Sohn“, fuhr Uriel fort, als er sich Carinas Aufmerksamkeit wieder sicher war, „wird ihm die Seele nehmen, sobald er die Rache für den Tod seiner Familie genommen hat und der Vertrag zwischen den beiden somit erfüllt ist.“ Carina schnaubte. „Nehmen ist ein nettes Wort für das, was du eigentlich meinst“, erwiderte sie. Fressen würde der Teufel sie; in den endlosen Abgrund seiner selbst ziehen, wo es nichts anderes gab außer Leere und Schmerz und Dunkelheit… „Durch Ciel Phantomhives Tod endet gleichzeitig sein Nachname und somit auch die lange Linie der Wachhunde der Königin. Allerdings wird sie sich von dem ursprünglichen Konzept des Wachhundes nicht abwenden.“ „Was soll das heißen?“, fragte die Shinigami mit einer unguten Vorahnung und bekam sie im nächsten Moment bereits bestätigt. „Edward Midford wird zu dem Todeszeitpunkt seines Cousins bereits verheiratet sein, somit verblieb nur noch Elizabeth. Die Königin plante sie mit einem einflussreichen Mann zu verheiraten und aus der neu entstehenden Linie, die dann auch das Blut der Phantomhives beinhalten würde, die neuen Wachhunde der Königin zu machen.“ Abscheu stieg in Carina hoch. Mittlerweile empfand sie gegenüber der Monarchin die gleiche Abneigung wie Cedric es tat. Diese Frau spielte mit Menschenleben wie mit Schachfiguren und kam damit auch noch durch. Sie wäre nicht einmal vor dem Einsatz der Bizarre Dolls zurückgeschreckt, um die Überlegenheit ihres Landes zu sichern. Warum befanden sich immer Menschen in solchen Machtpositionen, die keine Grenzen kannten? „Wahrscheinlich, weil sie es ohne diese Skrupellosigkeit erst gar nicht dorthin geschafft hätten.“ „Allerdings hat deine Vorfahrin bei den Plänen der Königin nicht mitgespielt“, redete der Engel weiter. „Sie hat mit den Jahren gemerkt, was diese Position ihrem Verlobten abverlangt hat und wollte unter allen Umständen verhindern, dass ihren eigenen Kindern dasselbe Schicksal zuteilwird. Also ist sie in einiger nebligen Nacht – kurze Zeit nach dem Bekanntwerden ihrer neuen Verlobung – aus England geflohen.“ Carina lächelte, als Stolz auf ihre Vorfahrin in ihr aufflackerte. Genauso hätte sie selbst es auch getan. Elizabeth würde zu einer jungen Frau heranwachsen, die sich nicht wie eine Marionette benutzen lassen würde. „Lass mich raten. Nach Deutschland?“, fragte sie, woraufhin Uriel nickte. „Sie wird dort ein Jahr später ihren zukünftigen Mann kennenlernen und-“ „Danke, aber das reicht mir schon“, unterbrach die Todesgöttin ihn. Er blinzelte daraufhin verwirrt, hatte doch vermutet, dass die Nachfahrin der Midford die ganze Geschichte hören wollte. „Ich weiß jetzt, dass es Elizabeth in der Zukunft gut gehen wird, wenn auch nach einigen Diskrepanzen. Das zu wissen war mir wichtig, den Rest finde ich schon selbst heraus, wenn es soweit ist.“ Sie erhob sich ein weiteres Mal von der Bank und ihr Nebenmann tat es ihr gleich. „Vielen Dank, dass du eine Ausnahme gemacht und es mir erzählt hast, Uriel“, sagte sie und versuchte mit ihm zu sprechen, als wäre er jemand ganz Normales und nicht ein mächtiger Erzengel. Uriels Mundwinkel hoben sich ein kleines Stück. „Das war wohl das Mindeste, was ich für dich tun konnte. Nach allem, was passiert ist.“ Ein trauriger Ausdruck erschien auf seinem Gesicht und die Schnitterin wusste sofort, wovon er sprach. „Ich gebe dir nicht die Schuld an dem, was passiert ist. Du hast dich nur an deine Regeln und Vorschriften gehalten. Wenn jemand Schuld an alldem hat, dann sind es Samael und Crow. Letzterer hat bereits für seine Taten bezahlt. Und um Samael werden wir uns auch irgendwie kümmern, das hoffe ich jedenfalls.“ Der Engel wirkte aufgrund ihrer Worte erleichtert. „Ich werde euch so gut es geht unterstützen, das verspreche ich. Bei meiner Ehre als Erzengel.“ Mit diesen Worten neigte er als Abschiedsgeste leicht den Kopf und verschwand im nächsten Augenblick genauso schnell, wie er gekommen war. „Danke“, murmelte Carina leise und war sich trotz seines sichtbaren Verschwindens sicher, dass er sie noch hören konnte. Ihr Blick fiel auf Lily. Bald würde ihr Mädchen wieder aufwachen und dann würde sie sicherlich Hunger haben. „Zeit nach Hause zu gehen“, flüsterte sie und setzte Gesagtes sogleich in die Tat um. Schnell ließ sie den Park und die Einkaufsstraße hinter sich, ehe sie bereits 15 Minuten später in die Gasse einbog, wo sich das Bestattungsinstitut befand. „Es hat wirklich gut getan einfach mal rauszukommen. Und obwohl das Gespräch mit Elizabeth gar nicht geplant war, war es doch irgendwie genau das, was ich gebraucht habe.“ Natürlich, auch mit Grell konnte sie sprechen und sie fühlte sich danach auch meistens wesentlich besser, aber mit einer Außenstehenden zu reden, mit einer anderen Frau, die ihr auf erstaunliche Art und Weise ähnlich war, fühlte sich dennoch anders an. Von den Gesprächen mit Cedric ganz zu schweigen. Die Blondine kam von ihrem Gedankengang ab, als Stimmen im Bestattungsinstitut lauter wurden, je näher sie diesem kam. Zwei Stimmen, die ihr äußerst vertraut waren. „Jetzt beruhige dich doch mal…“ „Ich soll mich beruhigen? Ist das dein Ernst, Rotschopf?“ „Vielleicht ist ja überhaupt nichts passiert.“ „Ach ja? Ich darf dich an das letzte Mal erinnern, als du nicht wusstest, wo sie war.“ Carina runzelte die Stirn. Was war denn jetzt los? Mit einem seltsamen Gefühl im Bauch ergriff sie die Türklinge, zögerte nicht lange und betrat im nächsten Moment bereits das alte Gebäude. Sofort lagen zwei gelbgrüne Augenpaare auf ihr. Grell und Cedric standen sich mittig im Raum gegenüber und wirkten beide aufgebracht. Doch während ihr bester Freund bei ihrem Anblick merklich erleichtert wirkte, funkelten die Augen des Undertakers vor Wut. „Wo bist du gewesen?“, fuhr er sie an und es kam so unerwartet, dass Carina lediglich der Mund aufklappte. „Muss ich ihm jetzt auch noch darüber Rechenschaft ablegen, wohin ich gehe?“, ging es ihr durch den Kopf, doch sie biss sich auf die Zunge, bevor auch nur ein Wort davon ihren Mund verlassen konnte. Das Wort Rechenschaft sollte sie ihm gegenüber wohl erst einmal nicht mehr erwähnen… „Ich war spazieren. Hast du meinen Zettel nicht gefunden?“, erwiderte sie stattdessen ruhig und sah sich bereits im nächsten Moment mit besagtem Schriftstück konfrontiert, als der Silberhaarige es ihr vor die Nase hielt. „Du hast geschrieben – und ich darf dich an dieser Stelle zitieren – Bin kurz mit Lily spazieren.“ Carina schaute ihn verständnislos an. „Ja und?“, fragte sie, weil sie absolut keine Ahnung hatte, worauf der Todesgott hinauswollte. Daraufhin warf ihr der Bestatter einen Blick zu, als wolle er sie ebenfalls – wie schon zuvor Grell – fragen, ob das ihr Ernst war. „3 Stunden? Das verstehst du also unter „kurz“, ja?“, entgegnete er trocken, aber gleichzeitig auch aufgebracht, und nun machte es bei der 19-Jährigen endlich Klick. Sie spürte, wie ihre Ohren vor Scham ganz heiß wurden. War sie wirklich so lange weg gewesen? Das hatte sie überhaupt nicht gemerkt. „I-ich hab auf meinem Spaziergang Elizabeth getroffen und wir haben miteinander geredet. Ich… ich muss wohl einfach die Zeit vergessen haben“, rechtfertigte sie sich verblüfft, weil sie es selbst gar nicht fassen konnte. Grell lachte kurz auf und warf Cedric einen „Ich-hab‘s-dir-doch-gesagt“ Blick zu. „Siehst du, was habe ich dir gesagt? Es gibt eine ganz einfache Erklärung, sie hat die kleine Midford getroffen und die Mädels haben sich verquatscht, es ist überhaupt nichts passiert.“ Der silberhaarige Todesgott schaute ihn daraufhin mit einem Blick an, der Grell sofort verstummen ließ. Carina seufzte. Da hatte sie ja mal wieder was angerichtet… „Entschuldige, ich wollte wirklich nicht, dass du dir Sorgen machst. So weit habe ich ehrlich gesagt überhaupt nicht gedacht. Es wird nicht wieder vorkommen, in Ordnung?“ Ihre Blicke trafen sich und die junge Frau konnte sehen, wie sich seine Schultern langsam wieder entspannten. Dann stieß er einen leisen, aber tiefen Seufzer aus. „In Ordnung“, gab er zurück. Diese Frau würde ihn irgendwann noch endgültig um den Verstand bringen… „Nun, da das jetzt geklärt ist“, meinte Grell und grinste Carina breit an, „worüber habt ihr beiden denn so gesprochen?“ „Och“, begann Angesprochene wage und zuckte kurz mit den Schultern, um ihre Unsicherheit zu überspielen, „über dies und das. Worüber man halt so spricht. Vorrangig darüber“, fuhr sie schnell fort, da beide Männer fragend die Augenbrauen hochgezogen hatten, „dass sie jetzt über alles Bescheid weiß. Über Dämonen und Todesgötter und Ciels Situation.“ Hoffentlich würde das als Information ausreichen. Sie konnte ihnen ja schlecht die ganze Wahrheit sagen. Denn erstens wussten die beiden ja schließlich noch nicht, in welchem Verwandtschaftsverhältnis sie zu Elizabeth stand und zweitens würde sie ihnen wohl kaum auf die Nase binden, dass sie auch über Cedric gesprochen hatten und wie gut er aussah. „Nein, das hätte seinem Ego gerade noch gefehlt.“ „So? Das hätte ich dem Earl gar nicht zugetraut“, kicherte der Bestatter sogleich los und zeigte sein altbekanntes, volles Grinsen. Carinas Laune steigerte sich sofort merklich. „Ja, nicht wahr?“, sagte sie und gluckste kurz. Grells rechte Augenbraue hob sich erneut. Stillschweigend besah er sich die beiden Shinigami. Irgendetwas hatte sich seit seinem letzten Besuch verändert. Carina wirkte plötzlich viel aufgeschlossener in der Gegenwart des Totengräbers. Nur schwer konnte sich der Rothaarige ein aufgeregtes Jauchzen verkneifen. Würden die beiden es vielleicht bald schaffen über ihre Schatten zu springen und endlich ein Paar werden? Wenn es nach ihm selbst ging, dann konnte das gar nicht schnell genug passieren. „Aber er hatte gar keine andere Wahl. Sie hätte ihn so lange genervt, bis er es ihr schließlich gesagt hätte. Und sie kann sehr beharrlich sein, das habe ich inzwischen auf jeden Fall festgestellt.“ „Da kenne ich noch jemanden“, sagten Cedric und Grell – zu ihrem eigenen Erstaunen – vollkommen synchron und grinsten sich gleich darauf gegenseitig an, während Carina lediglich mit den Augen rollte. Gott, hoffentlich entwickelte sich zwischen den beiden nicht so etwas wie eine Männerfreundschaft, denn dann konnte sie sich in Zukunft auf so einiges gefasst machen. „Ich gehe dann mal hoch“, sagte sie und ließ den eben gefallenen Satz vorsichtshalber unkommentiert. „Kommst du mit, Grell?“ Der Rothaarige nickte und folgte ihr die Treppe hoch, während Cedric in der Küche verschwand, um neue Kekse für seine Urne zu backen. „So, und jetzt raus damit“, sagte Grell, als sie im Kinderzimmer standen und Carina gerade Lily stillte, die soeben aufgewacht war. „Was ist in den letzten beiden Tagen passiert, als ich nicht da war?“ „Wovon sprichst du?“, fragte Carina und setzte eine Unschuldsmiene auf. „Dein Ernst?“, rief Grell beleidigt und zog eine Schnute. „Glaubst du etwa, ich bin blind? Irgendetwas ist doch zwischen euch vorgefallen, das merke ich genau.“ Nun schaute ihn die 19-Jährige genervt an. „Echt mal, Grell, das ist wirklich unheimlich, wie du solche Sachen 10 km gegen den Wind riechst.“ „Ich habe eben ein sehr feines Näschen“, erwiderte er und entblößte dabei seine spitzen Zähne. „Ich höre?“ Carina seufzte – was ihrem eigenen Geschmack nach zu urteilen heute schon viel zu oft passiert war. „Ich habe letzte Nacht durchgeschlafen.“ „Das hattest du auch bitter nötig. Deine Augenringe sahen zum Weglaufen aus.“ „Na vielen Dank“, murmelte sie und legte nebenbei Lily gegen ihre Schulter. „Ich war aber noch nicht fertig. Ich habe durchgeschlafen, weil“, sie atmete einmal tief durch und sagte das darauffolgende dann ganz schnell; wie ein Pflaster, das abgezogen werden musste, „weil er bei mir geschlafen hat.“ Einen furchtbar langen Moment herrschte Stille, nur kurz unterbrochen durch das Bäuerchen, das Lily ausstieß. Dann, nach etwa 10 Sekunden, wurden Grells Augen groß wie Untertassen. „Flipp jetzt bitte nicht aus“, sagte Carina warnend und deutete auf ihre Tochter, die gerade im Inbegriff war wieder einzuschlafen. Man konnte dem Rothaarigen ansehen, wie schwer es ihm fiel die nächsten Worte leise auszusprechen. „Oh mein Gott, er hat was???“ Carina verdrehte erneut die Augen. „Bei mir geschlafen, Grell. Nicht mit mir!“ „Das habe ich schon verstanden, aber trotzdem. Wie süß ist das denn bitte?“ Die Schnitterin biss sich auf die Unterlippe. „Es war schon irgendwie süß“, gab sie zu und schluckte hart. „Und lass mich raten“, meinte Grell und wackelte nun in eindeutiger Manier mit seinen schmalen, roten Augenbrauen, „wenn es nach dir ginge, dann würde es nicht nur bei dem „bei mir“ bleiben, oder?“ „Ich kann nicht fassen, dass ich dieses Gespräch mit dir führe“, stöhnte sie und legte das schlafende Baby in die Wiege, um anschließend ihr Gesicht in den Händen zu vergraben. „Das ist keine Antwort auf meine Frage“, sagte der Reaper, während sein Grinsen immer breiter wurde. Dieses Mal war Carinas Mund schneller als ihr Gehirn. „Jede Frau, die einmal Sex mit ihm hatte, würde das noch einmal wollen und ich war viermal mit ihm Bett, was glaubst du also?“, zischte sie leise und wurde gleich darauf feuerrot. Selbst Grells Wangen wurden ein wenig wärmer, hatte er doch nicht erwartet, dass seine selbsternannte kleine Schwester es mal wieder auf ihre eigene Art und Weise so direkt formulieren würde. „Themenwechsel“, stieß sie hervor und schritt eilig in ihr eigenes Schlafzimmer, ihren besten Freund dabei dicht auf den Fersen. „Okay“, meinte dieser, konnte sich aber nach ein paar Sekunden Schweigen die nachfolgende Frage dennoch nicht verkneifen. „Nimmst du auch noch die Tabletten?“ „Grell!“ „Schon gut, schon gut, ich bin still.“ Als Grell eine gute Stunde später zu seiner nächsten Schicht aufbrach, war es bereits später Nachmittag. Carina kam sich schon beinahe wie eine richtige Hausfrau vor, als sie zuerst die Wäsche wusch und anschließend das Abendessen – Fisch mit Kartoffeln und Spinat – vorbereitete. „Das hätte vor ein paar Jahren auch keiner gedacht, am allerwenigsten ich selbst“, dachte sie und lachte leise. Beim Essen bewahrten beide Todesgötter Schweigen und hingen jeweils ihren eigenen Gedanken nach. Während Carina ihr Gespräch mit Elizabeth noch einmal Revue passieren ließ, plante der Undertaker gedanklich die Beerdigungen durch, die in den nächsten Tagen anstehen würden. Er verabschiedete sich nach dem Abendessen direkt nach oben, um ein Bad zu nehmen und die Schnitterin störte es nicht. Nach diesem Tag war sie auch einfach mal froh, wenn diese angenehme, fast schon friedliche Stille herrschte. „Mal sehen wie es läuft, wenn ich nachher im Bett liege“, dachte sie und wusch in aller Ruhe das Geschirr ab. Wahrscheinlich würde sie dann wieder die Stille verfluchen, wenn sie mit ihren ganzen Gedanken unter der warmen Decke lag und wieder einmal nicht einschlafen konnte. Leicht deprimiert trocknete die junge Mutter sich die Hände ab, hängt das Geschirrtuch zum Trocknen auf und begab sich im Anschluss ebenfalls nach oben, um noch einmal nach Lily zu sehen. Das Baby war bereits wieder wach und quengelte leicht, aber Carina erkannte schnell, wo das Problem lag. „Und wieder neue Wäsche für morgen“, seufzte sie, wechselte die Windel und den Strampler und warf die beiden Kleidungsstücke in den bereits wieder halbvollen Wäschekorb. „Das kann jetzt aber auch noch bis morgen warten“, gähnte sie und stillte ihre Tochter erneut, dieses Mal jedoch an der anderen Brust. Obwohl sie als Shinigami eigentlich schnellere Regenerationskräfte hatte, kam sie doch nicht umhin festzustellen, dass ihre Brüste öfters schmerzten und empfindlich waren. „Tja, wäre auch zu schön gewesen davon auch noch verschont zu bleiben.“ Na ja, immerhin hatte sich ihr Körper von den Strapazen der Geburt schnell erholt… 15 Minuten später schlief das fast 3 Wochen alte Baby wieder tief und fest und Carina gähnte erneut, während sie in ihr Zimmer zurückging. „Hoffentlich klappt das mit dem Schlafen, ich bin nämlich echt schon wieder hundemüde…Huch?“, dachte sie irritiert und blickte sich suchend nach ihrem Nachthemd um. „Oh nein“, fiel es ihr plötzlich siedend heiß ein. Hatte sie das Kleidungsstück nicht am gestrigen Morgen gewaschen und anschließend im Badezimmer zum Trocknen aufgehängt? „Wo es wahrscheinlich immer noch liegt“, murmelte sie und schluckte einmal. Cedric war im Badezimmer… Wie auf Knopfdruck schob sich ein Bild vor ihr inneres Auge. Wie sie ihn damals im Weston College in der Badewanne überrascht hatte. Seine silbernen Haare vollgesogen mit Wasser und sein nackter, nasser Körper… „Gefällt dir was du siehst?“ Carina schluckte noch einmal, kämpfte gegen das Verlangen an, das sich zwischen ihren Beinen einnisten wollte. Was war denn heute bloß los mit ihr? Schon heute Morgen hatte sie an ihre gemeinsamen intimen Momente gedacht und auch im Gespräch mit Elizabeth war sie von solch ähnlichen Gedanken nicht verschont geblieben. „Vielleicht nur die Hormone“, seufzte sie genervt und machte sich widerwillig auf den Weg in den Flur, um direkt vor der Badezimmertür stehen zu bleiben. Ihre Sinne nahmen ihn wahr, aber sie konnte keine Geräusche hören. War er vielleicht schon fertig mit seinem Bad? „Cedric?“, rief sie fragend und klopfte einmal gegen die Tür. „Kann ich rein kommen?“ „Komm rein~“, antwortete er ihr in seiner typisch fröhlichen Tonlage und Carina drückte ohne sich dabei etwas zu denken die Klinke herunter, um sich bereits im nächsten Augenblick mit dem Silberhaarigen konfrontiert zu sehen. In der Badewanne. Nackt. „Womit habe ich das nur verdient?“, ging es ihr durch den Kopf, während sie den ersten Impuls – nämlich ihren Kopf peinlich berührt abzuwenden – widerstand. Solche eindeutigen Reaktionen ihrerseits würden das Ganze nämlich nur noch peinlicher machen. Abgesehen davon, dachte sie, war es ganz bestimmt genau das, was Cedric von ihr erwartete, sonst hätte er sie wohl kaum hineingerufen. Diese Genugtuung gönnte sie ihm nicht! Also behielt sie ihren Blick zielgerichtet auf seinem Gesicht und sagte mit einer so normalen Stimme, das sie es sich beinahe selbst abgekauft hätte, zu ihm: „Entschuldige, ich wollte nur mein Nachthemd holen.“ Sie entdeckte das gesuchte Kleidungsstück nahe der Fensterbank und ging gemächlich darauf zu. Gleichzeitig dankte sie Gott dafür, dass dem Todesgott das Wasser bis zum Bauchnabel stand und sie daher nichts sehen konnte, was die Situation noch unangenehmer für sie machte. Der Undertaker hingegen starrte ihr schon beinahe missmutig hinterher, war das doch so überhaupt nicht die Reaktion, die er sich von Carina erhofft hatte. Viel schöner wäre es gewesen, wenn sich ihr Mund leicht geöffnet hätte und wieder diese possierliche Röte über ihre Wangen gekrochen wäre. Jetzt hatte es viel eher den Anschein, als hätte sie seine Nacktheit zwar registriert, scherte sich jedoch nicht großartig darum. Und dann auch noch dieser kleine, harmlose Kuss auf seine Wange am heutigen Morgen… So langsam bekam der Bestatter den Eindruck, als hätte die junge Frau kein Interesse mehr an ihm. Noch in dem Moment, wo er diese Worte dachte, spürte er einen kalten Stein in seiner Magengegend. Konnte es das sein? Wollte sie ihn nicht mehr? Hatte sie deswegen so auf sein Liebesgeständnis reagiert? Bei alldem Mist, den er im vergangenen Jahr gebaut hatte, würde es ihn nicht einmal großartig wundern, aber verdammt nein! Allein bei dem puren Gedanken zog sich Herz bereits schmerzhaft zusammen. Das dürfte einfach nicht wahr sein. Carina hatte sich indes das Nachthemd geholt und wunderte sich auf dem kurzen Rückweg zur Tür darüber, dass der Vater ihrer Tochter gar nichts mehr sagte. War er immer noch so in Gedanken versunken wie schon beim Abendessen? Erst, als sie die Tür wieder hinter sich geschlossen und die Türklinke losgelassen hatte, konnte sie erleichtert aufatmen. Und erst jetzt stieg ihr die Hitze ins Gesicht. Die 19-Jährige biss sich auf die Innenseite ihrer Wange, als sie an das eben gebotene Bild zurückdachte. Man konnte über Cedric sagen, was man wollte, aber sein Körper sah einfach verboten gut aus. Er wirkte wie ein Aphrodisiakum auf sie und das nicht zu knapp. Herrgott, wenn sie mit ihm zusammen wäre, hätte sie sich wahrscheinlich ausgezogen und wäre einfach zu ihm in die Wanne gestiegen. Bei der Vorstellung wurde ihr wieder heiß. „Ich drehe bald komplett durch“, murmelte sie deprimiert und ging ins Schlafzimmer zurück, um sich umzuziehen. Sauber gefaltet legte sie zuerst ihr Kleid, dann die Strumpfhose und schließlich das Unterhemd samt BH auf einen Stuhl in der Ecke des Zimmers, ehe sie sich das Nachthemd über den Kopf zog. Die Petroleumlampe auf dem Nachttischchen war die einzig verbliebene Lichtquelle im Raum und spendete ihr gerade noch genug Helligkeit, um alles im Raum erkennen zu können. Erneut gähnend schlug sie die beiden übereinanderliegenden Bettdecken, die sie zu dieser Jahreszeit definitiv noch brauchte, zurück und wollte gerade darunter schlüpfen, als es gegen ihre Zimmertür klopfte. Irritiert glitt ihr Blick in die Richtung des Klopfens. Was wollte Cedric denn jetzt noch von ihr? „Ja?“, rief sie fragend und setzte sich auf das Bettende, während der Silberhaarige eintrat. Sofort musste sie schlucken. Der Bestatter trug lediglich eine schwarze Unterhose und ein weißes Hemd, wobei die Knöpfe des Hemdes nicht einmal geschlossen waren und sie somit eine wunderbare Aussicht auf seine nackte Brust hatte. Ihr Mund wurde trocken. „Ich wollte nur nachsehen, ob alles in Ordnung ist“, meinte er und Carina wusste sofort, worauf er anspielte. Einer ihrer Mundwinkel hob sich ein wenig, sodass sie ihn nun schief anlächelte. „Keine Sorge, mir geht’s gut. Ich werde schon schlafen können, mach dir keine Gedanken.“ Ihr Lächeln wurde eine Spur wärmer. „Aber danke, dass du gefragt hast.“ Seine gelbgrünen Augen hefteten sich auf dieses eine Lächeln in ihrem Gesicht, das ihn jedes Mal aufs Neue ein wenig aus der Fassung brachte. Dann wanderte sein Blick an dem weißen Nachthemd hinab, das ihr lediglich bis zu den Knien reichte, aber zu seinem Glück – oder Leidwesen – wenigstens nicht durchsichtig war wie das Negligé im Weston College. „Sicher?“, fragte er und war schon fast enttäuscht darüber, dass sie nickte. Irgendein Teil seines männlichen Stolzes hatte darauf gehofft, dass sie ihn darum bitten würde diese Nacht wieder bei ihr zu schlafen. Erneut kam ihm die Befürchtung, dass sie ihn vielleicht gar nicht mehr wollte. Nicht mehr als Mann wollte. Carina sah einen seltsamen Ausdruck über sein Gesicht huschen, als er sich von ihr abwandte und scheinbar das Zimmer wieder verlassen wollte. Doch im letzten Augenblick hielt er noch einmal inne, die Hände im Türrahmen und einen Fuß bereits im Flur. Sein Kopf wandte sich ihr wieder zu und die 19-Jährige erstarrte, als er sie mit einem eindringlichen Blick anschaute. „Carina, wenn du kein Interesse mehr an mir hast, dann musst du es mir sagen“, sagte er sehr ernst und schaute die junge Frau, deren Augen sich erschrocken geweitet hatten, abwartend an. Was bitte? Carina starrte ihn schockiert an, konnte nicht glauben, was sie da gerade gehört hatte. Das dachte er? Dass sie ihn nicht mehr liebte? Ja, hatte er denn jetzt vollkommen den Verstand verloren? Als ob es in dieser Hinsicht für sie jemals einen Weg zurück gegeben hätte. „Das ist meine Schuld“, wurde es ihr sogleich bewusst. Mit ihrem Verhalten hatte sie dafür gesorgt, dass er so etwas dachte. Etwas, das ganz und gar nicht stimmte. Dem Undertaker wurde das Herz schwer, als er in ihre erstarrte Miene sah. Also doch… „Verstehe“, murmelte er, wandte sich nun zum zweiten Mal von ihr ab. Carinas Kopf ruckte abrupt in die Höhe. Oh nein, das würde sie auf gar keinen Fall zulassen! So würde sie diese Angelegenheit nicht stehen lassen. „Du Idiot“, rief sie und sorgte somit dafür, dass nun der Bestatter derjenige war, der sie erschrocken anstarrte. Die Shinigami bedachte ihn mit einem entschlossenen Blick, gleichzeitig aber glänzten ihre Augen verdächtig im Schein der Petroleumlampe. Und dann kamen die Worte, die ihn für den Rest des heutigen Tages völlig aus der Bahn werfen würden. „An meinen Gefühlen für dich hat sich nicht das Geringste geändert, Cedric.“ Sie sagte es mit einer derart festen Stimme, dass es keine Zweifel an der Aussage in ihren Worten geben konnte. Seine gelbgrünen Augen weiteten sich um wenige Millimeter. Stille breitete sich wie ein Tuch über die beiden Todesgötter aus, während sie sich weiterhin nur gegenseitig in die Augen schauen konnten. Und zum allerersten Mal waren da keine Mauern, keine Barrieren zwischen ihnen. Zum allerersten Mal konnte Carina in Cedrics Augen lesen wie in einem offenen Buch und sie war sich sicher, dass er das Gleiche bei ihr tat. Sie öffnete den Mund, ohne überhaupt zu wissen, was sie eigentlich sagen wollte. Doch weiter kam sie ohnehin nicht. Innerhalb einer Sekunde war der Bestatter, der eben noch halb im Flur gestanden hatte, bei ihr am Bettende. Direkt über ihr. Das Letzte, was Carina wirklich geistig realisieren konnte, waren seine warmen Hände, die sich auf ihre Wangen legten. Dann pressten sich seine Lippen mit solch einer Inbrunst auf ihren Mund, dass es der jungen Frau den Atem raubte. Sie hatte gerade einmal Zeit den Kuss zu erwidern, ehe sein Schwung sie nach hinten drückte und sie zusammen aufs Bett fielen, sein Körper schwer auf dem ihren. Sie keuchte in seinen Mund hinein, spürte sogleich die altbekannte Hitze in sich aufsteigen. So eindringlich hatte er sie noch nie geküsst! Carina verlor vollkommen den Kopf, vergaß wo oben und unten war und hätte vermutlich auch ihren eigenen Namen vergessen, wenn sich Cedric nicht in diesem Moment von ihr gelöst und eben diesen heiser gegen ihr Ohr geknurrt hätte, nur um sich gleich darauf ihrem Hals zu widmen. Ein raues Stöhnen entfuhr ihrer Kehle, als sich seine Zähne in die empfindliche Haut ihrer Halsbeuge bohrten und sich seine Hände zeitgleich von ihren Wangen lösten, um über ihre Arme hinweg nach unten zu gleiten. Erregt schloss sie die Augen und legte den Kopf unbewusst weiter in den Nacken. Der Undertaker fühlte, wie sich ihre Finger in die offenen Knopfleisten seines Hemdes gruben und ein wenig daran zerrten, als er seinen Mund fester um ihre heftig pochende Halsschlagader schloss. Gleichzeitig erreichten seine Hände endlich den Saum ihres Nachthemdes und schoben ihn ohne zu zögern nach oben, über ihre Knie bis zu den Rundungen ihrer Hüfte hinauf. Ohne wirklich hinzusehen glitten seine Finger anschließend sofort wieder nach unten und fanden nicht einmal eine Sekunde später ihren Slip. Kurz darauf spürte, fühlte er die Hitze und die Feuchtigkeit unter dem dünnen Stück Stoff und als Carina unter seiner Berührung erneut aufstöhnte, raubte es ihm den letzten Rest seiner Selbstbeherrschung. Er konnte nicht länger warten, er brauchte sie jetzt! Er hatte schon viel zu lange gewartet… Während seine linke Hand beinahe schon grob ihre Unterhose beiseite zog, befreite er mit der rechten seine bereits schmerzhaft pochende Erektion und löste sich von ihrem Hals, um näher an ihren Körper heranzurutschen und ihre Schenkel auseinander zu drücken. Carina schlug die Augen erschrocken auf, als sie mit einem Mal seine gesamte Härte an ihrem Oberschenkel spürte. Sie drückte gegen ihr Bein und im gleichen Augenblick konnte sie Cedric über sich scharf die Luft einziehen hören. Dann drängte sich seine Spitze plötzlich gegen ihre pochende Mitte und seine rechte Hand legte sich mit festem Griff um das hochgekrempelte Nachthemd an ihrer Hüfte. Carina – die noch nicht einmal wirklich realisiert hatte, dass das hier gerade tatsächlich passierte – konnte gerade noch ein überraschtes „Cedric“ hervorstoßen, als er seinen Körper auch schon nach vorne bewegte und sich mit einem festen Stoß bis zum Anschlag in ihr versenkte. Ein kehliges Stöhnen verließ die Lippen des Bestatters und vermischte sich mit dem erschrockenen Japsen der Frau unter ihm, die jetzt die Hände unter seinen Armen hindurch schlang und ihre Finger in den Stoff des weißen Hemdes an seinem Rücken krallte. „V-verflucht, Cedric“, keuchte sie und verstärkte ihren Griff um ihn, als seine Hüfte zum zweiten Mal hart gegen ihre zuckte. „N-nicht so hastig.“ Ihr Körper konnte sich nicht zwischen Schmerz und Lust entscheiden. Immerhin lag das letzte Mal beinahe schon ein ganzes Jahr zurück, sie musste sich erst wieder an das Gefühl gewöhnen so ausgefüllt zu werden… „Entschuldige“, raunte er heiser gegen ihr Ohr und lehnte seine Stirn gegen die ihre, während seine Stöße sogleich sanfter wurden, jedoch nicht langsamer. „Aber ich konnte einfach nicht noch länger warten.“ Die 19-Jährige schluckte trocken, als seine gelbgrünen Seelenspiegel ihren Blick kreuzten. An und für sich suchten seine Augen ohnehin schon ihresgleichen, doch jetzt, wo sie vor Lust verdunkelt waren, war Carina sich sicher. Sie hatte nie etwas Erotischeres gesehen als ihn, wenn er in Ekstase war… Ohne einen weiteren Gedanken an irgendetwas anderes zu verschwenden, neigte sie ihren Kopf zur Seite und küsste ihn verlangend auf den Mund. Ihr Herz vollführte einen kleinen Salto, als er den Kuss erwiderte und seine linke Hand zusätzlich in ihren Nacken wandern ließ, um sie noch näher an sich heranzuziehen. Nach wie vor schmeckte er nach karamellisiertem Zucker und seinem ganz eigenen Aroma, das sofort dafür sorgte, dass jede Menge Glückshormone ihren Körper fluteten. Sie hätte ihn ewig so küssen können, doch der Bestatter schien etwas anderes im Sinn zu haben. Plötzlich verschwand seine Hand wieder aus ihrem Nacken und legte sich zusammen mit seiner anderen unter ihre Kniekehlen. Mit geringem Kraftaufwand drückte er ihre Beine weiter nach oben, spreizte gleichzeitig ihre Schenkel weiter auseinander. Carina löste sich keuchend aus dem Kuss, als er jetzt noch tiefer in sie eindrang. Vergessen war der Schmerz, als das Verlangen sie nun im vollen Umfang und mit ganzer Wucht traf. Die Todesgöttin bewegte ihm abrupt ihr Becken entgegen, was dem Undertaker ein halblautes Knurren entlockte. Sie war immer noch so eng und feucht, wie er sie in Erinnerung gehabt hatte und diese unglaubliche Hitze in ihrem Inneren würde ihm bald auch noch das letzte bisschen klaren Verstandes rauben. Lange würde er das nicht mehr aushalten. Carina ging es nicht anders. Das Pochen in ihrem Unterleib wurde immer stärker, drängender. „Cedric“, stöhnte sie erregt und vergrub ihre Finger haltesuchend noch tiefer in seinem Hemd. Sie hoffte, dass er morgen keine Kratzspuren davontragen würde, aber in diesem Moment hätte es sie nicht weniger kümmern können. Seine Bewegungen wurden jetzt wieder ungehemmter, die Stöße kräftiger. Die 19-Jährige drückte mit ihren Oberschenkeln gegen seine Handflächen und der Silberhaarige verstand die stumme Botschaft. Sofort ließ er sie los, woraufhin sich ihre Beine eng um seine Hüften schlangen. Carina überkreuzte sie auf der Höhe seines Steißbeins und drückte ihn dabei ganz automatisch nach vorne, sodass sein steifes Glied ruckartig tiefer in sie drang. Er stieß einen unterdrückten Fluch aus und packte nun mit beiden Händen ihre Hüfte, um sie zum Stillhalten zu zwingen. Wenn sie so weitermachte, dann würde er… Doch Carina dachte gar nicht daran stillzuhalten. Ihre Finger an seinem Rücken drückten ihn nach vorne und sobald sein Oberkörper gegen den ihren fiel, vergrub sie ihr Gesicht an seinem Hals und biss zu, um ihr lauter werdendes Stöhnen zu ersticken. Der leichte Schmerz an seinem Hals fuhr ihm direkt in die Lenden und löschte den letzten Rest seiner mühsam behaltenen Kontrolle aus. Er schob sich grob in sie, immer und immer wieder, bis Carina vor Verlangen nur noch hilflos wimmern konnte. Der Druck in seinem Glied wurde nun unerträglich. Schwer atmend hob er den Kopf, sorgte somit dafür, dass die junge Frau ihn wieder ansah. Das Licht der Petroleumlampe warf einen hellen Schein auf ihr Gesicht und erleuchtete jede einzelne Regung von ihr. Den Schweiß auf ihrer Stirn, jeder heftige Atemzug bei einem erneuten Vorstoß seinerseits und dann noch ihre verwandelten marineblauen Augen, die ihm dunkel vor Erregung entgegenblickten. Wie er es zuvor schon bei ihr getan hatte, lehnte nun Carina ihre Stirn an seine. Ihre Nasenspitzen stießen sanft gegeneinander, als sie ihre Lippen genau vor seinen Mund brachte, ihn jedoch nicht berührte. Sie war ihm so nahe, dass er ihren beschleunigten Atem auf seinen Lippen schmecken konnte. „Komm in mir, Cedric“, flüsterte sie mit rauer Stimme und presste danach direkt die Lippen aufeinander, unfähig auch nur ein weiteres Wort hervorzubringen. Der Bestatter konnte sich nicht daran erinnern, in seinem bisherigen Leben schon einmal etwas gehört zu haben, was ihm so durch Mark und Bein ging. Er packte ihre Hüfte fester, beschleunigte noch einmal sein Tempo. Carinas Körper unter ihm zitterte mittlerweile unkontrolliert vor Anstrengung und Erregung. Als ihr erneut ein Wimmern entfuhr, gab er dem Druck in seinen Lenden endlich nach. Er vergrub sich ein letztes Mal tief in ihrer feuchten Enge, ehe er mit einem erstickten Stöhnen endlich in ihr kam. Kurz schwanden ihm die Sinne, als ihn die geballte Intensität seines Höhepunktes traf. Carina spürte mit aller Deutlichkeit die Wärme, die sich in ihrem Schoß ausbreitete und dieses Gefühl gab ihr schlussendlich den Rest. Ihre ohnehin schon strapazierten Muskeln spannten sich erbarmungslos an, als ihr Orgasmus sie ergriff und sie den rhythmischen Zuckungen in ihrem Unterleib hilflos ausgeliefert war. Cedric fühlte, wie sich ihr Fleisch enger um sein Glied presste, es leicht massierte. Es entlockte ihm ein leises Seufzen, während er sich sanft weiter in ihr bewegte, um ihre beiden Höhepunkte noch ein wenig in die Länge zu ziehen. Immerhin konnte der ganze Akt nicht mehr als 10 Minuten gedauert haben und das war für seine Verhältnisse dann doch eher ungewöhnlich kurz. Aber wie hätte er sich nach solch einer langen Zeit der Abstinenz auch zurückhalten können? Der Silberhaarige schaute auf die junge Frau herab, die Mutter seines Kindes. Einige ihrer blonden Strähnen hingen ihr verschwitzt in der Stirn, das Nachthemd klebte ihr am Körper. Vor lauter Anstrengung hatten sich die Wangen der 19-Jährigen gerötet und auch der Griff ihrer Hände an seinem Rücken hatte sich gelöst, sodass ihre Arme nun erschlafft auf dem Bett lagen. Genau in diesem Augenblick erwiderte Carina seinen Blick und lächelte, halb schüchtern, halb vergnügt. Scheinbar war er nicht der Einzige, der sich von den Entwicklungen der letzten 10 Minuten ein wenig überrumpelt fühlte. Dennoch musste er ihr Lächeln einfach erwidern. Sie war so wunderschön… Carina schloss die Augen, als er sich zu ihr herunterbeugte und sie innig küsste. Sein Körper sank auf sie, erdrückte sie mit seinem Gewicht, allerdings auf angenehme Weise. Sie vergrub ihre Nase in seinem silbernen Haar, atmete seinen Duft ein und seufzte wohlig auf. Wie lange hatte sie auf diesen Moment gewartet, wie lange hatte sie sich nach seiner Nähe verzehrt? Und jetzt war er wieder da, hier bei ihr und sie wusste, dass sich jede einzelne Sekunde des Wartens, des Hoffens gelohnt hatte. „Carina, ich-“, begann er plötzlich, doch die Schnitterin schüttelte schnell den Kopf. „Nicht heute“, hauchte sie und ließ ihren Kopf zurück auf das Bett fallen. „Lass uns morgen über alles sprechen. Jetzt… möchte ich einfach nur diesen Moment genießen und schlafen.“ Sie gähnte leise, was er mit einem ebenso leisen Lachen quittierte. „Ja“, murmelte er und drückte ihr einen Kuss auf die Wange, ehe er sich sanft erhob und aus ihr herausglitt. Das weiße Hemd, das ihm etwas feucht am Körper klebte, zog er aus und schmiss es neben seine Unterhose auf den Boden. Während er schweigend die Lampe auf dem Nachtischchen löschte, tat Carina es ihm gleich und zog sich das Nachthemd über den Kopf. Sie rutschte ans Kopfende, sodass Cedric die Bettdecken anheben und darunter schlüpfen konnte. Er legte sich auf die Seite, mit dem Kopf in ihre Richtung gedreht, und hob die Bettdecke neben sich erneut an. Carina folgte der stummen Einladung, kroch unter den wärmenden Stoff und rückte an ihn heran, bis ihr Rücken sich dicht an seine Brust schmiegte. Sofort schlang sich sein rechter Arm um ihre Taille, zog sie noch etwas näher an seinen Körper. Die 19-Jährige lächelte und ergriff seine Hand, hielt sie fest. „Gute Nacht, Cedric“, flüsterte sie in die jetzt herrschende Dunkelheit hinein. Der Bestatter küsste sie in den Nacken, vergrub anschließend zufrieden seinen Kopf an eben dieser Stelle. „Gute Nacht“, wisperte er und schloss die Augen, als auch ihn jetzt die Müdigkeit ergriff. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er sich das letzte Mal so glücklich, so befreit gefühlt hatte. Und dieses Mal würde er nicht alleine aufwachen… Kapitel 76: Verbindung *zensiert* --------------------------------- Als Carina früh am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie sich so ausgeruht wie schon lange nicht mehr. Die Bettseite neben ihr war noch warm, was bedeutete, dass Cedric noch nicht lange weg sein konnte. „Er ist tatsächlich die ganze Zeit hiergeblieben“, dachte sie und spürte, wie ihr Herz plötzlich schneller schlug. Jetzt, wo ihr Gehirn dank des nicht mehr vorhandenen Schlafmangels wieder richtig funktionierte, war ihr die Situation des vorherigen Tages mit einem Mal furchtbar peinlich. „Er hat mich in den Arm genommen“, ging es ihr durch den Kopf, während langsam das Blut in ihre Wangen stieg. Wie lange war es her, dass jemand sie so umarmt hatte? Gut, Grell und Alice hatten es natürlich getan, aber in Carinas Augen konnte man das irgendwie schwerlich vergleichen. Cedrics Umarmung war… anders gewesen. In jenem gestrigen Moment war es ihr wie das Natürlichste der Welt vorgekommen. Und sie hatte sich so behütet gefühlt. So gewollt. „Gott, nein“, murmelte die 19-Jährige, als sich zu ihrem schneller schlagenden Herzen jetzt auch noch ein Kribbeln tief in der Magengrube hinzugesellte. Es war einfach nicht fair. Wie konnte jemand allein nur so eine anziehende Wirkung auf sie haben? Allein schon beim Klang seiner Stimme bekam sie ganz weiche Knie. Seltsamerweise war ihr zum Lachen zumute. Wie hatte sie nur jemals annehmen können, dass sie ein Leben ohne ihn führen wollte? Vollkommener Schwachsinn! Seufzend richtete die Schnitterin sich auf und ging auf direktem Weg ins Badezimmer, um sich die zerzausten Haare zu kämen und sich generell frisch zu machen. Ihre Augenringe waren beinahe restlos verschwunden, dennoch waren ihre Augen immer noch schwach gerötet und angeschwollen. „Wenn ich diese Nacht wieder normal schlafe, müsste das morgen auch weg sein“, murmelte sie und klatschte sich eine Handvoll Wasser ins Gesicht. Vielleicht sollte sie ihn darum bitten, dass er diese Nacht wieder bei ihr schlief… „Auf gar keinen Fall“, dachte sie sogleich und wurde erneut rot. Wie sollte sie ihn das denn fragen? Cedric, könntest du dich bitte wieder zu mir ins Bett legen? Wenn du da bist, habe ich keine Albträume? Nein, dann könnte sie sich auch gleich nackt vor ihm ausziehen, denn diese Worte kämen einer seelischen Entblößung gleich. „Vielleicht kann ich ja jetzt wieder schlafen. Irgendwie hat es doch schon geholfen mit ihm darüber zu reden.“ Dass er ihr dies von vorneherein gesagt hatte und somit schlussendlich Recht behalten hatte, schob sie in diesem Augenblick weit von sich. Bevor sie das Badezimmer wieder verließ, schluckte sie ganz nebenbei noch eine der kleinen Tabletten, die Grell ihr besorgt hatte, und schaute kurz darauf nach ihrer Tochter, die zu ihrer großen Überraschung einen anderen Strampler trug als am vorherigen Tag. Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. „Hat Papa dich etwa umgezogen?“, fragte sie das kleine Mädchen und hob sie aus der Wiege, um sie gleich darauf an ihre Brust zu legen. Lily begann sofort zu trinken und antwortete natürlich nicht, aber das musste sie auch gar nicht. Die Antwort lag klar auf der Hand und zauberte Carina ganz automatisch ein Lächeln ins Gesicht. „Du hast einen guten Papa“, murmelte sie leise und strich dem Baby zärtlich über den silbernen Haarschopf. Jetzt kam es ihr beinahe schon seltsam vor, dass sie diesbezüglich jemals an ihm gezweifelt hatte. Dabei bestand kein Grund zur Sorge. Cedric liebte seine Tochter. Und- „Verdammt, Carina, ich liebe dich.“ -sie scheinbar auch. Die Blondine biss sich hart auf ihre Unterlippe. Sie wollte sich keine Hoffnungen machen was ihn anging, aber wem machte sie hier eigentlich etwas vor? Das tat sie bereits! Seufzend legte sie ihre eindösende Tochter wieder in die Wiege, deckte sie sanft zu und hauchte ihr noch einen Kuss auf die Stirn, ehe sie mit lautlosen Schritten ins untere Stockwerk ging. Kurz spähte sie in die Küche, hörte dann aber Geräusche aus dem Keller des Instituts. Scheinbar kümmerte Cedric sich gerade um einen seiner Gäste. Für eine Sekunde hielt sie inne und zögerte, gab sich dann aber innerlich selbst einen Ruck und stieg die Treppenstufen hinunter. Hier war sie tatsächlich noch nie gewesen. Als Mensch hatte sie sich nie getraut auch nur in die Nähe der Leichen zu kommen, daher hatte sie um die Treppe immer einen großen Bogen gemacht. Jetzt bestand dieses Problem definitiv nicht mehr, hatte sie als Shinigami doch mehr Tote und abscheuliche Dinge gesehen, als die meisten Menschen es in ihrem gesamten Leben je taten. Der Keller war relativ übersichtlich. Es gab einen kleinen Flur, der anschließend in einen größeren Raum überging, wo der Totengräber seine Arbeit verrichtete. Carina streckte vorsichtig den Kopf durch die Tür und sah den silberhaarigen Shinigami neben einer langen, silbernen Liege stehen, auf der die Leiche einer jungen Frau aufgebahrt war. „Komm rein“, sagte der Bestatter, ohne von seinem Gast aufzusehen, und winkte Carina zu sich, die langsam näher kam. Neben dem Kopf der Frau, die schätzungsweise gerade einmal die Volljährigkeit erreicht hatte, kam sie zum Stehen und schaute Cedric dabei zu, wie er eine blutverschmierte Zange auf einen kleinen Beistelltisch legte, die sich bis eben noch im Abdomen der Leiche befunden hatte. Sie hob eine Augenbraue. „Du hast ihr Organe entnommen?“ Der Undertaker grinste. „Sie braucht sie ja nicht mehr“, gab er nonchalant zu, was Carina zugegebenermaßen leicht schmunzeln ließ. „Was glaubst du, was war die Todesursache?“, fragte er sie plötzlich, was die ehemalige Schnitterin tatsächlich kurz irritierte. Dennoch beschaute sie sich daraufhin die Dahingeschiedene. „Hmm“, begann sie laut zu überlegen und tippte sich mit dem Zeigefinger gegen das Kinn. „Da sie keine äußeren Verletzungen aufweist – mal ganz abgesehen von ihrem geöffneten Bauch, was definitiv erst nach ihrem Tod passiert ist –“, bei dieser Stelle wurde das Grinsen des Bestatters noch breiter, „nehme ich an, dass es sich um eine natürliche Todesursache handelt. Außerdem scheint sie sehr schnell sehr viel Gewicht verloren zu haben, wenn man die Dehnungsstreifen an Bauch und Beinen in Betracht zieht. Ihre Wangen sind auch ganz eingefallen. Ich würde spontan auf eine der gängigsten Krankheiten tippen, die momentan den Tod verursachen. Influenza? Tuberkulose? Pneumonie?“ „Mit letzterem liegst du richtig“, erwiderte er und begann gleichzeitig die Bauchdecke der Verstorbenen mit Nadel und Faden wieder zu verschließen. Carina faszinierte es, wie geschickt er in diesem Zusammenhang seine Hände einsetzte. Generell war es so, dass sie seine Hände mochte. Und was er damit alles anstellen konnte… „Warum hast du mich das gefragt?“, meinte sie, bevor ihre Gedanken noch in eine vollkommen falsche Richtung abdrifteten. „Ich habe mich gerade eben daran erinnert, wie du damals knapp nach deiner Ankunft in diesem Jahrhundert auf den Anblick der jungen Frauenleiche reagiert hast, die zu mir gebracht wurde. Und jetzt sieh dich an.“ Seine gelbgrünen Augen fesselten ihren Blick. „Du zuckst nicht mal mehr mit der Wimper und kennst dich in diesem Bereich sogar richtig gut aus.“ „Na ja, das bleibt in meinem Job nicht aus“, entgegnete sie. „Als Schnitterin sieht man so viele Dinge, dass es irgendwann normal wird. Außerdem lernt man die Anzeichen für bestimmte Krankheiten an den Toten zu sehen, deren Seele man einsammelt. Glaub mir, wenn du mir vor 3 Jahren gesagt hättest, dass mir der Anblick von Leichen mal nichts mehr ausmachen würde, dann hätte ich dich für verrückt erklärt.“ „Tun das nicht sowieso fast alle?“, lachte er laut und beobachtete erfreut, wie sich die Mundwinkel der jungen Frau leicht hoben. Gekonnt setzte er einen letzten Stich mit der Nadel und legte das Nähwerkzeug anschließend beiseite. „Warum bist du heruntergekommen?“, stellte er nun seinerseits eine Frage und schlagartig wurde Carina ernst. Er konnte sehen, dass sie kurz schlucken musste. „Cedric, ich…“, begann sie stockend und schluckte erneut. „Danke, dass du gestern da warst“, fügte sie schließlich kleinlaut hinzu und schaute ihm scheu in die Augen. „Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich ohne dich getan hätte. Das… das wollte ich dir nur sagen.“ Sie machte Anstalten sich wegzudrehen, doch der Silberhaarige packte sie sogleich am Oberarm, woraufhin sie ihn leicht erschrocken musterte. „Ich werde von nun an immer da sein, wenn du mich brauchst. Das verspreche ich“, antwortete er ernst und sah dabei zu, wie sich Carinas Augen weiteten. Dann wurde sie – zu seinem eigenen Vergnügen – rot im Gesicht. Doch bereits im nächsten Moment brachte sie ihn vollkommen aus dem Konzept, als sie sich auf Zehenspitzen nach vorne beugte und ihm einen langen Kuss auf die Wange drückte. Der Bestatter war so perplex, dass er ihren Oberarm losließ und Carina nutzte die Situation sogleich für sich aus, indem sie mit einem leise gemurmelten „Bis später“ den Keller verließ. Der ehemalige Schnitter blinzelte und führte dann langsam seine Hand an die Wange, auf der er immer noch Carinas Lippen spüren konnte. Nicht, dass ihm das nicht gefallen hätte – denn das hatte es, definitiv – aber ihm wäre es doch lieber gewesen, wenn sie ihn auf den Mund geküsst hätte. Seine Augen verdunkelten sich allein bei dem Gedanken daran, wie es sich anfühlen würde. Ihre Lippen auf den seinen, ihr Geschmack auf seiner Zunge und diese süße, prickelnde Hitze auf seinem Mund, wenn er sie fester an sich pressen würde… Er spürte, wie es in seiner Hose enger wurde. Ein Aufstöhnen unterdrückend wandte er sich wieder der toten Frau zu, um sie für ihre letzte Reise schön zu machen. Carina hatte ja absolut keine Ahnung, wie sein Körper auf ihre Nähe reagierte… „Wieso hab ich das nur getan?“, dachte unterdessen Carina, die in der Küche auf und ab ging. Ihn auf die Wange zu küssen, welcher Teufel hatte sie denn da geritten? „Nicht, dass es nicht ein gutes Gefühl gewesen wäre, aber deswegen hätte ich es noch lange nicht tun sollen.“ Automatisch erinnerte sie sich an all die intimen Momente mit ihm zurück. Wie er sie geküsst und berührt und mit ihr geschlafen hatte… Wenn Carina ganz ehrlich zu sich selbst war, dann vermisste sie es. Leise aufstöhnend schnappte sie sich Tinte, Feder und einen Zettel, um gleich darauf eine knappe Nachricht zu formulieren. Bin kurz mit Lily spazieren. Eine Sekunde lang dachte sie darüber nach noch Liebe Grüße darunter zu setzen, verwarf diesen Gedanken dann aber ganz schnell wieder. Nein, das würde so schon ausreichen. Momentan brauchte sie einfach mal frische Luft und ihrer Tochter konnte das ganz gewiss nicht schaden. Innerhalb weniger Minuten hatte sie Lily warm eingepackt, sich selbst ihren schwarzen Mantel angezogen und verließ dann das Bestattungsinstitut in Richtung Friedhof, da das die einzige Gegend in London war, wo sie sich gut auskannte. Es war ein recht nebliger Februarmorgen, doch glücklicherweise blieb es trocken, sodass dem Spaziergang nichts im Wege stand. Carina ging interessiert an den ihr bekannten Geschäften vorbei. In den letzten Jahren hatte sich hier kaum etwas verändert. Einige Läden hatten neue Besitzer, andere schienen in der Zwischenzeit zugemacht und wieder neu eröffnet worden zu sein. Die typischen Entwicklungen einer Stadt eben, die es auch im 21. Jahrhundert nach wie vor gab. „Nur dieses Geschäft hier hat sich natürlich nicht im Geringsten verändert“, dachte die junge Frau verächtlich und blieb vor dem Spielzeugwarenladen der Funtom Corporation stehen, der zu dieser Tageszeit bereits gut besucht war. Was aber eigentlich kein großes Wunder war, wenn man sich die Vielfältigkeit und Qualität der zu verkaufenden Waren besah. Ciel legte hier eine unbestreitbare Kreativität an den Tag. „Wenn er nicht als Earl geboren worden wäre, hätte er auch gut einfach ein eigenes Spielzeugwarengeschäft eröffnen können“, dachte die 19-Jährige und hatte sich schon halb von den Schaufenstern weggedreht, als eine Stimme hinter ihr sie vom Weitergehen abhielt. „Carina?“ Verwundert darüber, dass eine eindeutig weibliche Stimme ihren Namen rief, drehte sich die Angesprochene um und erblickte nur wenige Meter von ihr entfernt Elizabeth Midford. Das junge Mädchen starrte sie zuerst ungläubig an, dann jedoch begannen ihre grünen Augen freudig zu funkeln. „Habe ich mich also doch nicht geirrt“, rief sie erfreut und kam näher, sodass sie gleich darauf vor Carina knicksen konnte. Diese lächelte leicht amüsiert und neigte als Zeichen des Respekts kurz den Kopf. „Hallo Elizabeth“, antwortete sie und konnte sofort sehen, dass es die Adelige freute nicht mehr „Verlobte des Wachhundes der Königin“ genannt zu werden. Carina besah sich die 15-Jährige kurz. Sie trug ein Kleid, das starke Ähnlichkeit zu dem Kleid aufwies, das sie auf der Campania getragen hatte, wirkte aber wesentlich erwachsener als damals. „Aww, die Kleine ist ja total süß. Ist sie deine Tochter?“, fragte die Midford neugierig, während ihre jadegrünen Augen verzückt zu Lily sahen. „Ja, das ist Lily“, erwiderte die 19-Jährige lächelnd und zum ersten Mal fiel ihr auf, dass Lily unter anderem eine Kurzform von dem Namen Elizabeth war. „Was führt dich nach London?“, fragte die Shinigami ein wenig neugierig und spazierte weiter, ihre Vorfahrin folgte ihr sogleich. „Ich wollte mir Ciels neueste Kreationen ansehen und anschließend… na ja, anschließend wollte ich eigentlich zu dir.“ „Zu mir?“, fragte Carina verwirrt und Elizabeth nickte. „Ja, ich wollte mich bei dir bedanken. Du hast in diesem Bunker die ganze Zeit auf mich aufgepasst, dabei kennen wir uns nicht mal richtig.“ Carina konnte nicht anders, sie lachte. „Elizabeth Midford, ich glaube, du kannst auch ziemlich gut auf dich alleine aufpassen. Deine Fechtkünste sind überwältigend.“ „Im wahrsten Sinne des Wortes.“ „Das ist lieb von dir, aber mit dir kann ich trotzdem nicht mithalten“, antwortete die Blondine, was Carina schnauben ließ. „Mag sein, aber ich bin auch kein-“ Abrupt hielt sie inne und verfluchte sich kurz darauf gedanklich. Warum sprach sie eigentlich immer zuerst und dachte erst dann nach? „Kein Mensch, sondern ein Shinigami“, vollendete Elizabeth ihren Satz und kicherte, als sie Carinas fassungslosen Gesichtsausdruck bemerkte. „Hast du es schon vergessen? Ciel versprach mir doch dort unten, dass er mir alles erzählen würde, wenn es vorbei ist. Und daran hat er sich auch gehalten. Er hält immer, was er mir verspricht.“ Bei diesen Worten legte sich eine zarte Röte auf ihre Wangen und sie lächelte so verliebt, dass Carina das Herz in der Brust schwer wurde. Wenn all das stimmte, was Crow ihr erzählt hatte, dann würde Elizabeth nicht mit Ciel, sondern mit einem anderen Mann Kinder bekommen. Und das wiederum konnte nur bedeuten, dass sie ihn vermutlich niemals heiraten würde. „Du weißt jetzt also über alles Bescheid? Auch über Sebastian?“ „Ja“, erwiderte die Blondine, was Carina dann doch irritierte. Müsste das Mädchen über dieses neue Wissen nicht eigentlich am Boden zerstört sein? Elizabeth interpretierte ihren Gesichtsausdruck richtig. „Natürlich gefällt es mir nicht, dass mein Verlobter einen Pakt mit einem Dämon geschlossen hat und dass er immer noch so auf Rache aus ist, aber…“, und hierbei lächelte sie plötzlich, „wenn er seine Rache bekommen hat, dann verschwindet Sebastian ja wieder und wir können dann endlich heiraten. Dann wird alles gut.“ Carina verschluckte sich beinahe beim Luftholen. Gleich darauf musste sie sich schwer zusammenreißen, um nichts von dem Zorn zu zeigen, der sich am liebsten auf ihrem Gesicht widergespiegelt hätte. Ciel hatte seiner Verlobten natürlich nur die halbe Wahrheit erzählt. Warum wunderte sie das nicht? Ihr Blick fiel auf Elizabeth, die nun bei dem Gedanken an ihre eigene Hochzeit ins Schwärmen geriet und gar nicht mehr aufhören konnte von ihren Vorstellungen und Wünschen zu erzählen. Zweifel stiegen in ihr hoch. Konnte sie es dem 14-Jährigen wirklich verübeln, dass er Elizabeth nichts davon erzählt hatte, dass er sterben würde, sobald er seine Rache vollendet hatte? Nein, noch schlimmer, dass er seine Seele verlieren würde? Der Phantomhive liebte seine Verlobte, das hatte er mehr als nur einmal bewiesen. Sowohl auf der Campania, als auch in dem unterirdischen Bunker. Er wusste, dass die Wahrheit ihr das Herz brechen würde. Selbst Carina wusste das und sie kannte die Midford kaum. Sollte sie ihr wirklich sagen, was mit Ciel geschehen würde? „Nein, das kann ich nicht“, dachte sie. Es war nicht ihre Aufgabe und außerdem wollte nicht sie diejenige sein, die das Glück der jungen Adeligen zerstörte. Und würde es überhaupt einen Unterschied machen? Wenn sie es Elizabeth jetzt erzählen würde, würde die 15-Jährige leiden. Und wenn sie es ihr nicht erzählen würde, dann würde sie ebenfalls leiden, wenn auch erst zu dem Zeitpunkt, an dem Ciels Seele den endgültigen Tod gefunden hatte. Aber vielleicht würden bis dahin noch einige Jahre ins Land ziehen. Vielleicht würde es die Midford besser verkraften, wenn sie ein wenig älter sein würde. „Oder es macht alles noch viel schlimmer, weil sie Ciel dann noch mehr liebt, als ohnehin schon…“ Aber es nützte nichts jetzt darüber nachzudenken. Vorerst würde sie ihren Mund halten, aber sie konnte ihre Meinung jederzeit ändern, wenn sich neue Umstände ergeben würden. Und das würde sie auch, sollte es nötig werden. „Aber genug von mir. Wie geht es dir?“, riss Elizabeth sie aus ihren Gedanken, als sie gerade durch einen kleinen Park spazierten. „Mir? Ach, mir geht es soweit ganz gut“, antwortete Carina und setzte sich auf eine hölzerne Parkbank, was ihre Verwandte ihr gleichtat. „Bis auf die Tatsache, dass ein gefallener Erzengel, der zu einem Teufel geworden ist, sich an mir rächen will und ich gleichzeitig mit dem Mann, den ich liebe, zusammenlebe, aber nicht wirklich zusammen bin.“ Elizabeth bedachte sie daraufhin mit einem Blick, der deutlich ausdrückte, dass sie ihr nicht glaubte. „Schau mich nicht so an, mir geht’s wirklich gut“, meinte die Schnitterin und bemerkte noch im gleichen Augenblick, dass sie die Anwesenheit der Midford tatsächlich genoss. „Meine Verletzungen sind verheilt, unser Entführer ist tot und-“ „Das meine ich nicht“, flüsterte sie leise und schaute die junge Mutter traurig an. „Die Frau, die er umgebracht hat, war deine Freundin, nicht wahr?“ Carina schluckte. Sie hatte vollkommen vergessen, dass Elizabeth bei Alice‘ Tod ebenfalls zugegen gewesen war. „Ja“, sagte sie mit furchtbar rauer Stimme und starrte zu Boden. Einmal tief ein- und wieder ausatmend versuchte sie die aufsteigenden Bilder aus ihrem Gedächtnis zu vertreiben, versuchte sich an Cedrics warme Umarmung zu erinnern und wie er sie festgehalten hatte, als sie kurz davor gewesen war in der Dunkelheit ihrer Erinnerungen zu ertrinken. Es funktionierte überraschenderweise. „Es… es ist nicht leicht, aber es wird besser werden. Mit der Zeit“, fügte sie hinzu und Elizabeth nickte verstehend, legte ihr aber dennoch beruhigend eine Hand auf den Oberarm, die in einem schwarzen, langen Handschuh steckte. „Falls du jemandem zum Reden brauchst, dann bin ich für dich da, okay?“ Carina lächelte sachte und legte nun ihre eigene Hand über die der Adeligen. „Vielen Dank, Lizzy, das weiß ich zu schätzen.“ Komischerweise wurden ihre Wangen aufgrund des Spitznamens heiß, aber Elizabeth strahlte sie lediglich glücklich an. Gott, dieses Mädchen war einfach viel zu gut für diese Welt… „Aber jetzt einmal zu etwas ganz anderem“, meinte Elizabeth plötzlich und hielt sich eine Hand neben den Mund, um die nachfolgenden Worte direkt in Carinas Ohr flüstern zu können. „Undertaker ist wirklich dein Mann?“ Carina kratzte sich leicht mit ihrem Zeigefinger an der Wange, während sie leise auflachte. „Ja, das ist er“, antwortete sie notgedrungen und konnte immer noch nicht fassen, dass sie allen um sich herum tatsächlich diese Lüge auftischen musste. Elizabeth kicherte. „Ich meine, es war ja recht offensichtlich nach diesem Kuss im Bunker-“, Carina wurde rot, „-aber so ganz glauben konnte ich es dann doch nicht sofort. Er ist ja schon recht seltsam.“ „Ja, das ist er wohl“, seufzte die 19-Jährige und rieb sich über die Stirn. „Aber er kann auch anders“, konnte sie es sich nicht verkneifen noch hinzuzufügen. „Und das in mehrerlei Hinsicht.“ „Das kann ich mir vorstellen“, lachte die Midford. „Ciel ist zu den meisten Menschen auch immer so distanziert und strickt höflich, aber zu mir ist er ganz anders.“ Das Mädchen wurde bei diesen Worten puterrot, ganz so als ob sie über etwas Verbotenes sprechen würde. Doch Carina brachte dies nur zum Grinsen. „Er weiß nicht, dass du dich mit mir triffst, oder?“, fragte sie und Angesprochene schüttelte lediglich stumm den Kopf. „Nein, ich habe ihm nichts davon gesagt. Ich wollte mit dir allein sprechen und hatte die Befürchtung, dass er mich nicht allein gehen lassen würde. Er kann sehr besorgt sein.“ „Das kann ich mir vorstellen, nachdem du vor nicht einmal 2 Wochen entführt wurdest“, entgegnete Carina und zog gedanklich unfassbarerweise eine Verbindung zu Cedric. Auch er würde sie am liebsten auf Schritt und Tritt begleiten, damit ihr nichts mehr passierte. „Du wirst ihm doch nicht erzählen, dass wir uns getroffen haben, oder?“, fragte Elizabeth auf einmal mit einem besorgten Unterton, woraufhin Carina ihr zuzwinkerte. „Keine Sorge, ich werde ihm nichts verraten. Abgesehen davon sehe ich ihn ja kaum.“ „Aber Undertaker ist doch jetzt wieder einer seiner Informanten. Das heißt, du könntest ihn von nun an häufiger sehen, wenn er wieder einen Fall für die Königin bearbeitet“, berichtigte die 15-Jährige sie. „Ach herrje“, dachte die Shinigami. Darüber hatte sie überhaupt nicht nachgedacht. „Ja, da hast du wohl Recht“, meinte sie, kam aber dank Lily um eine ausschweifendere Antwort herum. Das kleine Mädchen hatte ihre blauen Augen aufgeschlagen und bewegte sich nun leicht in den Armen ihrer Mutter. Sofort war die Midford Feuer und Flamme. „Sie ist wirklich goldig. Und sie hat genau die gleichen Augen wie du.“ Kurz hielt sie irritiert inne. „Warum eigentlich? Müsstest du nicht auch diese gelbgrünen Augen haben, wie die anderen Shinigami?“ Ciel schien sie diesbezüglich gut aufgeklärt zu haben, das musste Carina ihm lassen. „Shinigami können ihr Aussehen beliebig verändern. Es erfordert etwas Übung, aber sobald man den Dreh raus hat, ist es ganz leicht.“ Kurzweilig hob Carina die Veränderung ihrer Augen auf und wechselte gleich darauf wieder in ihre ursprüngliche Augenfarbe zurück. „Siehst du?“ Elizabeth nickte. „Stimmt, jetzt wo ich so darüber nachdenke… Diese Augen wären in der Öffentlichkeit einfach viel zu auffällig.“ Lily gluckste leise und umschloss mit ihrer rechten Hand Carinas Zeigefinger, als diese ihn ihr hinhielt. Die Adelige beschaute sich das Baby erneut. „Sie hat zwar deine Augen, aber ist ihrem Vater ansonsten wie aus dem Gesicht geschnitten.“ „Ja, glücklicherweise“, entfuhr es der Todesgöttin, bevor sie es verhindern konnte. Prompt erntete sie ein verlegenes Lächeln ihrer Gegenüber. „Er… er sieht wirklich gut aus, nicht? Ich war ganz überrascht, weil er normalerweise ja nie sein Gesicht zeigt. Jetzt ergibt es im Nachhinein natürlich viel mehr Sinn.“ „Weil er ein Shinigami ist oder weil ihn die Frauen sonst nicht mehr in Ruhe lassen würden?“, fragte Carina grinsend und sorgte somit dafür, dass Elizabeth zum nunmehr dritten Mal rot anlief. „Ich sprach jetzt eigentlich von ersterem, aber mit letzterem könntest du ebenfalls Recht haben“, erwiderte sie schüchtern, was die Schnitterin tatsächlich laut auflachen ließ. Die beiden Frauen redeten noch eine ganze Weile miteinander. Carina erfuhr viel über die Vergangenheit der Midford und stellte für sich erneut fest, dass es für Elizabeth besser gewesen wäre, wenn sie im 21. Jahrhundert geboren worden wäre. Dort hätte sie wesentlich mehr aus ihren Fechtkünsten machen können, möglicherweise hätte sie es sogar zu ihrem Beruf gemacht. Hier hingegen versuchte sie ihr Talent zu verstecken, um ihrem Verlobten zu gefallen. Etwas, was Carina in keinerlei Hinsicht nachvollziehen konnte. „Aber so bin ich nun mal“, seufzte sie gedanklich. „Ich könnte mich niemals so für einen Mann verbiegen.“ Sie schluckte, als ihr noch ein weiterer Gedanke kam. Nämlich, dass Cedric sie immer so akzeptiert hatte, wie sie war. Mit all ihren Macken und Fehlern. „Verdammt, Carina, ich liebe dich.“ Ihr Herz machte einen kleinen, sachten Hüpfer in ihrer Brust. Vielleicht hatte Grell Recht. Cedric war kein Mann, der so etwas sagen würde, wenn er sich bezüglich seiner Gefühle nicht ganz sicher wäre. Vielleicht… möglicherweise… sollte sie… „Carina? Sehen wir uns bald wieder?“, unterbrach Elizabeth ihre Gedanken und erhob sich von der Bank. Sie hatte länger hier gesessen als geplant und wenn sie nicht bald nach Hause zurückkehren würde, würden ihre Eltern sicherlich anfangen sich Sorgen zu machen und Ciel benachrichtigen. Etwas, was sie unter keinen Umständen riskieren wollte. Carina erhob sich ebenfalls, ihre nun wieder schlafende Tochter fest an sich gedrückt. „Das würde mich freuen“, antwortete sie lächelnd. „Du weißt ja, wo ich wohne. Wenn irgendetwas ist oder du einfach nur mal reden möchtest, dann komm vorbei.“ Elizabeths Augen glänzten leicht, als sie nickte und sich winkend von der Todesgöttin verabschiedete. Diese erwiderte die Geste kurz und ließ sich, sobald das blonde Mädchen aus ihrem Sichtfeld verschwunden war, erneut auf die Parkbank sinken. Das Lächeln glitt ihr langsam von den Lippen, während sie ein paar Minuten lediglich nachdachte und dabei geradeaus ins Leere starrte, ohne wirklich etwas zu sehen. Schließlich straffte sich ihre Miene jedoch, als sie zu einem Entschluss kam. „Uriel?“, fragte sie in die Stille hinein und kam sich dabei ziemlich lächerlich vor. „Wenn du mich hören kannst, dann… komm bitte zu mir. Ich möchte dich etwas fragen.“ Einige lange Sekunden passierte gar nichts, was dafür sorgte, dass Carina sich noch blöder vorkam. Was hatte sie denn auch erwartet? Dass der Erzengel ein Auge auf sie hatte bezüglich Samael? Dass er springen würde, wenn sie ihn rief und neben ihr- „Du hast gerufen?“ Carina erlitt einen mehrfachen Herzinfarkt, als neben ihr auf der Bank plötzlich Uriel saß, schön wie eh und je. Seine goldenen Augen blickten zu ihr herab, wanderten kurz zu Lily und dann wieder zu ihr zurück. Die Shinigami fühlte sich erneut von seiner bloßen Gegenwart erschlagen. „Ja, habe ich“, antwortete sie überfordert und deutete ohne darüber nachzudenken auf seine schneeweißen Flügel. „Menschen können sie nicht sehen“, beantwortete er ihre Frage, ohne dass sie sie stellen musste. „Aha“, meinte sie, immer noch ziemlich überrollt von seinem plötzlichen Auftauchen. „Was möchtest du mich fragen?“, sprach er und musste scheinbar kurz über ihre Unbeholfenheit lächeln. „Also…“, begann sie zögerlich und schluckte. „Es geht um Elizabeth Midford, die – wie du sicherlich weißt – meine Vorfahrin ist.“ Er nickte. „Ich… ich möchte gerne wissen, was mit ihr in der Zukunft passiert. Also“, schob sie schnell hinterher, um jegliche Art von Missverständen zu vermeiden, „nicht ihre Zukunft generell, aber im Hinblick auf die Tatsache, dass ich von ihr abstamme, aber nicht von Ciel Phantomhive. Ich kann einfach nicht nachvollziehen, wie das passieren konnte. Ich meine… sie liebt Ciel. Wie konnte sie ein Kind von einem anderen Mann bekommen?“ Der Engel stieß ein Seufzen aus und schien erst über ihr Anliegen nachdenken zu müssen. „Ich erzähle es dir, weil es in gewissem Maße auch dich betrifft, aber das ist eine absolute Ausnahme“, sagte er schließlich und Carina nickte erleichtert, gleichzeitig aber war sie angespannt. Elizabeth war so ein liebes Mädchen. Sie wünschte ihr kein Leid, aber vermutlich war das wirklich Wunschdenken ihrerseits. „Ich nehme an“, erwiderte Uriel und schaute die junge Frau interessiert an, „dass du dir bereits deine eigenen Gedanken dazu gemacht hast?“ Carina nickte. „Ja, das habe ich. Ich kann die Möglichkeit ausschließen, dass Lizzy Ciel verlässt. Dafür liebt sie ihn zu sehr. Herrgott, ich glaube sie würde ihn sogar dann noch lieben, wenn sie von seinen üblen Taten erfahren würde.“ Etwas, was Carina nachvollziehen konnte, war sie doch in der Hinsicht kein Stück besser. „Bleiben also eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Entweder er verlässt sie aus irgendwelchen Gründen – was ich allerdings auch nicht glaube, er scheint sie nämlich ebenfalls zu lieben – oder…“, sie räusperte sich einmal, „oder er stirbt“, endete sie mit rauer Stimme. Nicht, dass es ihr dabei um Ciel leidtat. Der Phantomhive hatte sich diese ganze Sache selbst eingebrockt und seine Seele an den Teufel verkauft, er wäre es in ihren Augen selbst Schuld. Aber Elizabeth würde das Ganze zerstören. Der Ausdruck in den Augen des Erzengels wurde weicher, als er die Betroffenheit der 19-Jährigen spürte. „Du hast Recht“, sagte er leise, sodass Carina ihn wieder anschaute. „Er wird sterben.“ Carina atmete einmal tief ein. „Wann?“, hauchte sie beim Ausatmen und wünschte sich jetzt bereits, sie hätte nicht gefragt. „Wenige Wochen vor seinem 18. Geburtstag.“ „Also bereits in 4 Jahren“, murmelte die Schnitterin. Mitleid für Elizabeth stieg in ihr auf. Die Midford wäre zu diesem Zeitpunkt 19 Jahre alt, also genauso alt wie sie selbst jetzt. Sicherlich würde sie in diesem Alter besser mit dem Tod ihres Verlobten umgehen können als jetzt, aber es würde ihr trotzdem fürchterlich wehtun. Sie selbst hatte die Trennung von Cedric nur schwer verkraftet und er war nicht einmal tot gewesen, sondern nur an einem anderen Ort. Wie würde es sich für Elizabeth anfühlen? „Samaels Sohn“, fuhr Uriel fort, als er sich Carinas Aufmerksamkeit wieder sicher war, „wird ihm die Seele nehmen, sobald er die Rache für den Tod seiner Familie genommen hat und der Vertrag zwischen den beiden somit erfüllt ist.“ Carina schnaubte. „Nehmen ist ein nettes Wort für das, was du eigentlich meinst“, erwiderte sie. Fressen würde der Teufel sie; in den endlosen Abgrund seiner selbst ziehen, wo es nichts anderes gab außer Leere und Schmerz und Dunkelheit… „Durch Ciel Phantomhives Tod endet gleichzeitig sein Nachname und somit auch die lange Linie der Wachhunde der Königin. Allerdings wird sie sich von dem ursprünglichen Konzept des Wachhundes nicht abwenden.“ „Was soll das heißen?“, fragte die Shinigami mit einer unguten Vorahnung und bekam sie im nächsten Moment bereits bestätigt. „Edward Midford wird zu dem Todeszeitpunkt seines Cousins bereits verheiratet sein, somit verblieb nur noch Elizabeth. Die Königin plante sie mit einem einflussreichen Mann zu verheiraten und aus der neu entstehenden Linie, die dann auch das Blut der Phantomhives beinhalten würde, die neuen Wachhunde der Königin zu machen.“ Abscheu stieg in Carina hoch. Mittlerweile empfand sie gegenüber der Monarchin die gleiche Abneigung wie Cedric es tat. Diese Frau spielte mit Menschenleben wie mit Schachfiguren und kam damit auch noch durch. Sie wäre nicht einmal vor dem Einsatz der Bizarre Dolls zurückgeschreckt, um die Überlegenheit ihres Landes zu sichern. Warum befanden sich immer Menschen in solchen Machtpositionen, die keine Grenzen kannten? „Wahrscheinlich, weil sie es ohne diese Skrupellosigkeit erst gar nicht dorthin geschafft hätten.“ „Allerdings hat deine Vorfahrin bei den Plänen der Königin nicht mitgespielt“, redete der Engel weiter. „Sie hat mit den Jahren gemerkt, was diese Position ihrem Verlobten abverlangt hat und wollte unter allen Umständen verhindern, dass ihren eigenen Kindern dasselbe Schicksal zuteilwird. Also ist sie in einiger nebligen Nacht – kurze Zeit nach dem Bekanntwerden ihrer neuen Verlobung – aus England geflohen.“ Carina lächelte, als Stolz auf ihre Vorfahrin in ihr aufflackerte. Genauso hätte sie selbst es auch getan. Elizabeth würde zu einer jungen Frau heranwachsen, die sich nicht wie eine Marionette benutzen lassen würde. „Lass mich raten. Nach Deutschland?“, fragte sie, woraufhin Uriel nickte. „Sie wird dort ein Jahr später ihren zukünftigen Mann kennenlernen und-“ „Danke, aber das reicht mir schon“, unterbrach die Todesgöttin ihn. Er blinzelte daraufhin verwirrt, hatte doch vermutet, dass die Nachfahrin der Midford die ganze Geschichte hören wollte. „Ich weiß jetzt, dass es Elizabeth in der Zukunft gut gehen wird, wenn auch nach einigen Diskrepanzen. Das zu wissen war mir wichtig, den Rest finde ich schon selbst heraus, wenn es soweit ist.“ Sie erhob sich ein weiteres Mal von der Bank und ihr Nebenmann tat es ihr gleich. „Vielen Dank, dass du eine Ausnahme gemacht und es mir erzählt hast, Uriel“, sagte sie und versuchte mit ihm zu sprechen, als wäre er jemand ganz Normales und nicht ein mächtiger Erzengel. Uriels Mundwinkel hoben sich ein kleines Stück. „Das war wohl das Mindeste, was ich für dich tun konnte. Nach allem, was passiert ist.“ Ein trauriger Ausdruck erschien auf seinem Gesicht und die Schnitterin wusste sofort, wovon er sprach. „Ich gebe dir nicht die Schuld an dem, was passiert ist. Du hast dich nur an deine Regeln und Vorschriften gehalten. Wenn jemand Schuld an alldem hat, dann sind es Samael und Crow. Letzterer hat bereits für seine Taten bezahlt. Und um Samael werden wir uns auch irgendwie kümmern, das hoffe ich jedenfalls.“ Der Engel wirkte aufgrund ihrer Worte erleichtert. „Ich werde euch so gut es geht unterstützen, das verspreche ich. Bei meiner Ehre als Erzengel.“ Mit diesen Worten neigte er als Abschiedsgeste leicht den Kopf und verschwand im nächsten Augenblick genauso schnell, wie er gekommen war. „Danke“, murmelte Carina leise und war sich trotz seines sichtbaren Verschwindens sicher, dass er sie noch hören konnte. Ihr Blick fiel auf Lily. Bald würde ihr Mädchen wieder aufwachen und dann würde sie sicherlich Hunger haben. „Zeit nach Hause zu gehen“, flüsterte sie und setzte Gesagtes sogleich in die Tat um. Schnell ließ sie den Park und die Einkaufsstraße hinter sich, ehe sie bereits 15 Minuten später in die Gasse einbog, wo sich das Bestattungsinstitut befand. „Es hat wirklich gut getan einfach mal rauszukommen. Und obwohl das Gespräch mit Elizabeth gar nicht geplant war, war es doch irgendwie genau das, was ich gebraucht habe.“ Natürlich, auch mit Grell konnte sie sprechen und sie fühlte sich danach auch meistens wesentlich besser, aber mit einer Außenstehenden zu reden, mit einer anderen Frau, die ihr auf erstaunliche Art und Weise ähnlich war, fühlte sich dennoch anders an. Von den Gesprächen mit Cedric ganz zu schweigen. Die Blondine kam von ihrem Gedankengang ab, als Stimmen im Bestattungsinstitut lauter wurden, je näher sie diesem kam. Zwei Stimmen, die ihr äußerst vertraut waren. „Jetzt beruhige dich doch mal…“ „Ich soll mich beruhigen? Ist das dein Ernst, Rotschopf?“ „Vielleicht ist ja überhaupt nichts passiert.“ „Ach ja? Ich darf dich an das letzte Mal erinnern, als du nicht wusstest, wo sie war.“ Carina runzelte die Stirn. Was war denn jetzt los? Mit einem seltsamen Gefühl im Bauch ergriff sie die Türklinge, zögerte nicht lange und betrat im nächsten Moment bereits das alte Gebäude. Sofort lagen zwei gelbgrüne Augenpaare auf ihr. Grell und Cedric standen sich mittig im Raum gegenüber und wirkten beide aufgebracht. Doch während ihr bester Freund bei ihrem Anblick merklich erleichtert wirkte, funkelten die Augen des Undertakers vor Wut. „Wo bist du gewesen?“, fuhr er sie an und es kam so unerwartet, dass Carina lediglich der Mund aufklappte. „Muss ich ihm jetzt auch noch darüber Rechenschaft ablegen, wohin ich gehe?“, ging es ihr durch den Kopf, doch sie biss sich auf die Zunge, bevor auch nur ein Wort davon ihren Mund verlassen konnte. Das Wort Rechenschaft sollte sie ihm gegenüber wohl erst einmal nicht mehr erwähnen… „Ich war spazieren. Hast du meinen Zettel nicht gefunden?“, erwiderte sie stattdessen ruhig und sah sich bereits im nächsten Moment mit besagtem Schriftstück konfrontiert, als der Silberhaarige es ihr vor die Nase hielt. „Du hast geschrieben – und ich darf dich an dieser Stelle zitieren – Bin kurz mit Lily spazieren.“ Carina schaute ihn verständnislos an. „Ja und?“, fragte sie, weil sie absolut keine Ahnung hatte, worauf der Todesgott hinauswollte. Daraufhin warf ihr der Bestatter einen Blick zu, als wolle er sie ebenfalls – wie schon zuvor Grell – fragen, ob das ihr Ernst war. „3 Stunden? Das verstehst du also unter „kurz“, ja?“, entgegnete er trocken, aber gleichzeitig auch aufgebracht, und nun machte es bei der 19-Jährigen endlich Klick. Sie spürte, wie ihre Ohren vor Scham ganz heiß wurden. War sie wirklich so lange weg gewesen? Das hatte sie überhaupt nicht gemerkt. „I-ich hab auf meinem Spaziergang Elizabeth getroffen und wir haben miteinander geredet. Ich… ich muss wohl einfach die Zeit vergessen haben“, rechtfertigte sie sich verblüfft, weil sie es selbst gar nicht fassen konnte. Grell lachte kurz auf und warf Cedric einen „Ich-hab‘s-dir-doch-gesagt“ Blick zu. „Siehst du, was habe ich dir gesagt? Es gibt eine ganz einfache Erklärung, sie hat die kleine Midford getroffen und die Mädels haben sich verquatscht, es ist überhaupt nichts passiert.“ Der silberhaarige Todesgott schaute ihn daraufhin mit einem Blick an, der Grell sofort verstummen ließ. Carina seufzte. Da hatte sie ja mal wieder was angerichtet… „Entschuldige, ich wollte wirklich nicht, dass du dir Sorgen machst. So weit habe ich ehrlich gesagt überhaupt nicht gedacht. Es wird nicht wieder vorkommen, in Ordnung?“ Ihre Blicke trafen sich und die junge Frau konnte sehen, wie sich seine Schultern langsam wieder entspannten. Dann stieß er einen leisen, aber tiefen Seufzer aus. „In Ordnung“, gab er zurück. Diese Frau würde ihn irgendwann noch endgültig um den Verstand bringen… „Nun, da das jetzt geklärt ist“, meinte Grell und grinste Carina breit an, „worüber habt ihr beiden denn so gesprochen?“ „Och“, begann Angesprochene wage und zuckte kurz mit den Schultern, um ihre Unsicherheit zu überspielen, „über dies und das. Worüber man halt so spricht. Vorrangig darüber“, fuhr sie schnell fort, da beide Männer fragend die Augenbrauen hochgezogen hatten, „dass sie jetzt über alles Bescheid weiß. Über Dämonen und Todesgötter und Ciels Situation.“ Hoffentlich würde das als Information ausreichen. Sie konnte ihnen ja schlecht die ganze Wahrheit sagen. Denn erstens wussten die beiden ja schließlich noch nicht, in welchem Verwandtschaftsverhältnis sie zu Elizabeth stand und zweitens würde sie ihnen wohl kaum auf die Nase binden, dass sie auch über Cedric gesprochen hatten und wie gut er aussah. „Nein, das hätte seinem Ego gerade noch gefehlt.“ „So? Das hätte ich dem Earl gar nicht zugetraut“, kicherte der Bestatter sogleich los und zeigte sein altbekanntes, volles Grinsen. Carinas Laune steigerte sich sofort merklich. „Ja, nicht wahr?“, sagte sie und gluckste kurz. Grells rechte Augenbraue hob sich erneut. Stillschweigend besah er sich die beiden Shinigami. Irgendetwas hatte sich seit seinem letzten Besuch verändert. Carina wirkte plötzlich viel aufgeschlossener in der Gegenwart des Totengräbers. Nur schwer konnte sich der Rothaarige ein aufgeregtes Jauchzen verkneifen. Würden die beiden es vielleicht bald schaffen über ihre Schatten zu springen und endlich ein Paar werden? Wenn es nach ihm selbst ging, dann konnte das gar nicht schnell genug passieren. „Aber er hatte gar keine andere Wahl. Sie hätte ihn so lange genervt, bis er es ihr schließlich gesagt hätte. Und sie kann sehr beharrlich sein, das habe ich inzwischen auf jeden Fall festgestellt.“ „Da kenne ich noch jemanden“, sagten Cedric und Grell – zu ihrem eigenen Erstaunen – vollkommen synchron und grinsten sich gleich darauf gegenseitig an, während Carina lediglich mit den Augen rollte. Gott, hoffentlich entwickelte sich zwischen den beiden nicht so etwas wie eine Männerfreundschaft, denn dann konnte sie sich in Zukunft auf so einiges gefasst machen. „Ich gehe dann mal hoch“, sagte sie und ließ den eben gefallenen Satz vorsichtshalber unkommentiert. „Kommst du mit, Grell?“ Der Rothaarige nickte und folgte ihr die Treppe hoch, während Cedric in der Küche verschwand, um neue Kekse für seine Urne zu backen. „So, und jetzt raus damit“, sagte Grell, als sie im Kinderzimmer standen und Carina gerade Lily stillte, die soeben aufgewacht war. „Was ist in den letzten beiden Tagen passiert, als ich nicht da war?“ „Wovon sprichst du?“, fragte Carina und setzte eine Unschuldsmiene auf. „Dein Ernst?“, rief Grell beleidigt und zog eine Schnute. „Glaubst du etwa, ich bin blind? Irgendetwas ist doch zwischen euch vorgefallen, das merke ich genau.“ Nun schaute ihn die 19-Jährige genervt an. „Echt mal, Grell, das ist wirklich unheimlich, wie du solche Sachen 10 km gegen den Wind riechst.“ „Ich habe eben ein sehr feines Näschen“, erwiderte er und entblößte dabei seine spitzen Zähne. „Ich höre?“ Carina seufzte – was ihrem eigenen Geschmack nach zu urteilen heute schon viel zu oft passiert war. „Ich habe letzte Nacht durchgeschlafen.“ „Das hattest du auch bitter nötig. Deine Augenringe sahen zum Weglaufen aus.“ „Na vielen Dank“, murmelte sie und legte nebenbei Lily gegen ihre Schulter. „Ich war aber noch nicht fertig. Ich habe durchgeschlafen, weil“, sie atmete einmal tief durch und sagte das darauffolgende dann ganz schnell; wie ein Pflaster, das abgezogen werden musste, „weil er bei mir geschlafen hat.“ Einen furchtbar langen Moment herrschte Stille, nur kurz unterbrochen durch das Bäuerchen, das Lily ausstieß. Dann, nach etwa 10 Sekunden, wurden Grells Augen groß wie Untertassen. „Flipp jetzt bitte nicht aus“, sagte Carina warnend und deutete auf ihre Tochter, die gerade im Inbegriff war wieder einzuschlafen. Man konnte dem Rothaarigen ansehen, wie schwer es ihm fiel die nächsten Worte leise auszusprechen. „Oh mein Gott, er hat was???“ Carina verdrehte erneut die Augen. „Bei mir geschlafen, Grell. Nicht mit mir!“ „Das habe ich schon verstanden, aber trotzdem. Wie süß ist das denn bitte?“ Die Schnitterin biss sich auf die Unterlippe. „Es war schon irgendwie süß“, gab sie zu und schluckte hart. „Und lass mich raten“, meinte Grell und wackelte nun in eindeutiger Manier mit seinen schmalen, roten Augenbrauen, „wenn es nach dir ginge, dann würde es nicht nur bei dem „bei mir“ bleiben, oder?“ „Ich kann nicht fassen, dass ich dieses Gespräch mit dir führe“, stöhnte sie und legte das schlafende Baby in die Wiege, um anschließend ihr Gesicht in den Händen zu vergraben. „Das ist keine Antwort auf meine Frage“, sagte der Reaper, während sein Grinsen immer breiter wurde. Dieses Mal war Carinas Mund schneller als ihr Gehirn. „Jede Frau, die einmal Sex mit ihm hatte, würde das noch einmal wollen und ich war viermal mit ihm Bett, was glaubst du also?“, zischte sie leise und wurde gleich darauf feuerrot. Selbst Grells Wangen wurden ein wenig wärmer, hatte er doch nicht erwartet, dass seine selbsternannte kleine Schwester es mal wieder auf ihre eigene Art und Weise so direkt formulieren würde. „Themenwechsel“, stieß sie hervor und schritt eilig in ihr eigenes Schlafzimmer, ihren besten Freund dabei dicht auf den Fersen. „Okay“, meinte dieser, konnte sich aber nach ein paar Sekunden Schweigen die nachfolgende Frage dennoch nicht verkneifen. „Nimmst du auch noch die Tabletten?“ „Grell!“ „Schon gut, schon gut, ich bin still.“ Als Grell eine gute Stunde später zu seiner nächsten Schicht aufbrach, war es bereits später Nachmittag. Carina kam sich schon beinahe wie eine richtige Hausfrau vor, als sie zuerst die Wäsche wusch und anschließend das Abendessen – Fisch mit Kartoffeln und Spinat – vorbereitete. „Das hätte vor ein paar Jahren auch keiner gedacht, am allerwenigsten ich selbst“, dachte sie und lachte leise. Beim Essen bewahrten beide Todesgötter Schweigen und hingen jeweils ihren eigenen Gedanken nach. Während Carina ihr Gespräch mit Elizabeth noch einmal Revue passieren ließ, plante der Undertaker gedanklich die Beerdigungen durch, die in den nächsten Tagen anstehen würden. Er verabschiedete sich nach dem Abendessen direkt nach oben, um ein Bad zu nehmen und die Schnitterin störte es nicht. Nach diesem Tag war sie auch einfach mal froh, wenn diese angenehme, fast schon friedliche Stille herrschte. „Mal sehen wie es läuft, wenn ich nachher im Bett liege“, dachte sie und wusch in aller Ruhe das Geschirr ab. Wahrscheinlich würde sie dann wieder die Stille verfluchen, wenn sie mit ihren ganzen Gedanken unter der warmen Decke lag und wieder einmal nicht einschlafen konnte. Leicht deprimiert trocknete die junge Mutter sich die Hände ab, hängt das Geschirrtuch zum Trocknen auf und begab sich im Anschluss ebenfalls nach oben, um noch einmal nach Lily zu sehen. Das Baby war bereits wieder wach und quengelte leicht, aber Carina erkannte schnell, wo das Problem lag. „Und wieder neue Wäsche für morgen“, seufzte sie, wechselte die Windel und den Strampler und warf die beiden Kleidungsstücke in den bereits wieder halbvollen Wäschekorb. „Das kann jetzt aber auch noch bis morgen warten“, gähnte sie und stillte ihre Tochter erneut, dieses Mal jedoch an der anderen Brust. Obwohl sie als Shinigami eigentlich schnellere Regenerationskräfte hatte, kam sie doch nicht umhin festzustellen, dass ihre Brüste öfters schmerzten und empfindlich waren. „Tja, wäre auch zu schön gewesen davon auch noch verschont zu bleiben.“ Na ja, immerhin hatte sich ihr Körper von den Strapazen der Geburt schnell erholt… 15 Minuten später schlief das fast 3 Wochen alte Baby wieder tief und fest und Carina gähnte erneut, während sie in ihr Zimmer zurückging. „Hoffentlich klappt das mit dem Schlafen, ich bin nämlich echt schon wieder hundemüde…Huch?“, dachte sie irritiert und blickte sich suchend nach ihrem Nachthemd um. „Oh nein“, fiel es ihr plötzlich siedend heiß ein. Hatte sie das Kleidungsstück nicht am gestrigen Morgen gewaschen und anschließend im Badezimmer zum Trocknen aufgehängt? „Wo es wahrscheinlich immer noch liegt“, murmelte sie und schluckte einmal. Cedric war im Badezimmer… Wie auf Knopfdruck schob sich ein Bild vor ihr inneres Auge. Wie sie ihn damals im Weston College in der Badewanne überrascht hatte. Seine silbernen Haare vollgesogen mit Wasser und sein nackter, nasser Körper… „Gefällt dir was du siehst?“ Carina schluckte noch einmal, kämpfte gegen das Verlangen an, das sich zwischen ihren Beinen einnisten wollte. Was war denn heute bloß los mit ihr? Schon heute Morgen hatte sie an ihre gemeinsamen intimen Momente gedacht und auch im Gespräch mit Elizabeth war sie von solch ähnlichen Gedanken nicht verschont geblieben. „Vielleicht nur die Hormone“, seufzte sie genervt und machte sich widerwillig auf den Weg in den Flur, um direkt vor der Badezimmertür stehen zu bleiben. Ihre Sinne nahmen ihn wahr, aber sie konnte keine Geräusche hören. War er vielleicht schon fertig mit seinem Bad? „Cedric?“, rief sie fragend und klopfte einmal gegen die Tür. „Kann ich rein kommen?“ „Komm rein~“, antwortete er ihr in seiner typisch fröhlichen Tonlage und Carina drückte ohne sich dabei etwas zu denken die Klinke herunter, um sich bereits im nächsten Augenblick mit dem Silberhaarigen konfrontiert zu sehen. In der Badewanne. Nackt. „Womit habe ich das nur verdient?“, ging es ihr durch den Kopf, während sie den ersten Impuls – nämlich ihren Kopf peinlich berührt abzuwenden – widerstand. Solche eindeutigen Reaktionen ihrerseits würden das Ganze nämlich nur noch peinlicher machen. Abgesehen davon, dachte sie, war es ganz bestimmt genau das, was Cedric von ihr erwartete, sonst hätte er sie wohl kaum hineingerufen. Diese Genugtuung gönnte sie ihm nicht! Also behielt sie ihren Blick zielgerichtet auf seinem Gesicht und sagte mit einer so normalen Stimme, das sie es sich beinahe selbst abgekauft hätte, zu ihm: „Entschuldige, ich wollte nur mein Nachthemd holen.“ Sie entdeckte das gesuchte Kleidungsstück nahe der Fensterbank und ging gemächlich darauf zu. Gleichzeitig dankte sie Gott dafür, dass dem Todesgott das Wasser bis zum Bauchnabel stand und sie daher nichts sehen konnte, was die Situation noch unangenehmer für sie machte. Der Undertaker hingegen starrte ihr schon beinahe missmutig hinterher, war das doch so überhaupt nicht die Reaktion, die er sich von Carina erhofft hatte. Viel schöner wäre es gewesen, wenn sich ihr Mund leicht geöffnet hätte und wieder diese possierliche Röte über ihre Wangen gekrochen wäre. Jetzt hatte es viel eher den Anschein, als hätte sie seine Nacktheit zwar registriert, scherte sich jedoch nicht großartig darum. Und dann auch noch dieser kleine, harmlose Kuss auf seine Wange am heutigen Morgen… So langsam bekam der Bestatter den Eindruck, als hätte die junge Frau kein Interesse mehr an ihm. Noch in dem Moment, wo er diese Worte dachte, spürte er einen kalten Stein in seiner Magengegend. Konnte es das sein? Wollte sie ihn nicht mehr? Hatte sie deswegen so auf sein Liebesgeständnis reagiert? Bei alldem Mist, den er im vergangenen Jahr gebaut hatte, würde es ihn nicht einmal großartig wundern, aber verdammt nein! Allein bei dem puren Gedanken zog sich Herz bereits schmerzhaft zusammen. Das dürfte einfach nicht wahr sein. Carina hatte sich indes das Nachthemd geholt und wunderte sich auf dem kurzen Rückweg zur Tür darüber, dass der Vater ihrer Tochter gar nichts mehr sagte. War er immer noch so in Gedanken versunken wie schon beim Abendessen? Erst, als sie die Tür wieder hinter sich geschlossen und die Türklinke losgelassen hatte, konnte sie erleichtert aufatmen. Und erst jetzt stieg ihr die Hitze ins Gesicht. Die 19-Jährige biss sich auf die Innenseite ihrer Wange, als sie an das eben gebotene Bild zurückdachte. Man konnte über Cedric sagen, was man wollte, aber sein Körper sah einfach verboten gut aus. Er wirkte wie ein Aphrodisiakum auf sie und das nicht zu knapp. Herrgott, wenn sie mit ihm zusammen wäre, hätte sie sich wahrscheinlich ausgezogen und wäre einfach zu ihm in die Wanne gestiegen. Bei der Vorstellung wurde ihr wieder heiß. „Ich drehe bald komplett durch“, murmelte sie deprimiert und ging ins Schlafzimmer zurück, um sich umzuziehen. Sauber gefaltet legte sie zuerst ihr Kleid, dann die Strumpfhose und schließlich das Unterhemd samt BH auf einen Stuhl in der Ecke des Zimmers, ehe sie sich das Nachthemd über den Kopf zog. Die Petroleumlampe auf dem Nachttischchen war die einzig verbliebene Lichtquelle im Raum und spendete ihr gerade noch genug Helligkeit, um alles im Raum erkennen zu können. Erneut gähnend schlug sie die beiden übereinanderliegenden Bettdecken, die sie zu dieser Jahreszeit definitiv noch brauchte, zurück und wollte gerade darunter schlüpfen, als es gegen ihre Zimmertür klopfte. Irritiert glitt ihr Blick in die Richtung des Klopfens. Was wollte Cedric denn jetzt noch von ihr? „Ja?“, rief sie fragend und setzte sich auf das Bettende, während der Silberhaarige eintrat. Sofort musste sie schlucken. Der Bestatter trug lediglich eine schwarze Unterhose und ein weißes Hemd, wobei die Knöpfe des Hemdes nicht einmal geschlossen waren und sie somit eine wunderbare Aussicht auf seine nackte Brust hatte. Ihr Mund wurde trocken. „Ich wollte nur nachsehen, ob alles in Ordnung ist“, meinte er und Carina wusste sofort, worauf er anspielte. Einer ihrer Mundwinkel hob sich ein wenig, sodass sie ihn nun schief anlächelte. „Keine Sorge, mir geht’s gut. Ich werde schon schlafen können, mach dir keine Gedanken.“ Ihr Lächeln wurde eine Spur wärmer. „Aber danke, dass du gefragt hast.“ Seine gelbgrünen Augen hefteten sich auf dieses eine Lächeln in ihrem Gesicht, das ihn jedes Mal aufs Neue ein wenig aus der Fassung brachte. Dann wanderte sein Blick an dem weißen Nachthemd hinab, das ihr lediglich bis zu den Knien reichte, aber zu seinem Glück – oder Leidwesen – wenigstens nicht durchsichtig war wie das Negligé im Weston College. „Sicher?“, fragte er und war schon fast enttäuscht darüber, dass sie nickte. Irgendein Teil seines männlichen Stolzes hatte darauf gehofft, dass sie ihn darum bitten würde diese Nacht wieder bei ihr zu schlafen. Erneut kam ihm die Befürchtung, dass sie ihn vielleicht gar nicht mehr wollte. Nicht mehr als Mann wollte. Carina sah einen seltsamen Ausdruck über sein Gesicht huschen, als er sich von ihr abwandte und scheinbar das Zimmer wieder verlassen wollte. Doch im letzten Augenblick hielt er noch einmal inne, die Hände im Türrahmen und einen Fuß bereits im Flur. Sein Kopf wandte sich ihr wieder zu und die 19-Jährige erstarrte, als er sie mit einem eindringlichen Blick anschaute. „Carina, wenn du kein Interesse mehr an mir hast, dann musst du es mir sagen“, sagte er sehr ernst und schaute die junge Frau, deren Augen sich erschrocken geweitet hatten, abwartend an. Was bitte? Carina starrte ihn schockiert an, konnte nicht glauben, was sie da gerade gehört hatte. Das dachte er? Dass sie ihn nicht mehr liebte? Ja, hatte er denn jetzt vollkommen den Verstand verloren? Als ob es in dieser Hinsicht für sie jemals einen Weg zurück gegeben hätte. „Das ist meine Schuld“, wurde es ihr sogleich bewusst. Mit ihrem Verhalten hatte sie dafür gesorgt, dass er so etwas dachte. Etwas, das ganz und gar nicht stimmte. Dem Undertaker wurde das Herz schwer, als er in ihre erstarrte Miene sah. Also doch… „Verstehe“, murmelte er, wandte sich nun zum zweiten Mal von ihr ab. Carinas Kopf ruckte abrupt in die Höhe. Oh nein, das würde sie auf gar keinen Fall zulassen! So würde sie diese Angelegenheit nicht stehen lassen. „Du Idiot“, rief sie und sorgte somit dafür, dass nun der Bestatter derjenige war, der sie erschrocken anstarrte. Die Shinigami bedachte ihn mit einem entschlossenen Blick, gleichzeitig aber glänzten ihre Augen verdächtig im Schein der Petroleumlampe. Und dann kamen die Worte, die ihn für den Rest des heutigen Tages völlig aus der Bahn werfen würden. „An meinen Gefühlen für dich hat sich nicht das Geringste geändert, Cedric.“ Sie sagte es mit einer derart festen Stimme, dass es keine Zweifel an der Aussage in ihren Worten geben konnte. Seine gelbgrünen Augen weiteten sich um wenige Millimeter. Stille breitete sich wie ein Tuch über die beiden Todesgötter aus, während sie sich weiterhin nur gegenseitig in die Augen schauen konnten. Und zum allerersten Mal waren da keine Mauern, keine Barrieren zwischen ihnen. Zum allerersten Mal konnte Carina in Cedrics Augen lesen wie in einem offenen Buch und sie war sich sicher, dass er das Gleiche bei ihr tat. Sie öffnete den Mund, ohne überhaupt zu wissen, was sie eigentlich sagen wollte. Doch weiter kam sie ohnehin nicht. Innerhalb einer Sekunde war der Bestatter, der eben noch halb im Flur gestanden hatte, bei ihr am Bettende. Direkt über ihr. Das Letzte, was Carina wirklich geistig realisieren konnte, waren seine warmen Hände, die sich auf ihre Wangen legten. Dann pressten sich seine Lippen mit solch einer Inbrunst auf ihren Mund, dass es der jungen Frau den Atem raubte. Sie hatte gerade einmal Zeit den Kuss zu erwidern, ehe sein Schwung sie nach hinten drückte und sie zusammen aufs Bett fielen, sein Körper schwer auf dem ihren. Sie keuchte in seinen Mund hinein, spürte sogleich die altbekannte Hitze in sich aufsteigen. So eindringlich hatte er sie noch nie geküsst! Carina verlor vollkommen den Kopf, vergaß wo oben und unten war und hätte vermutlich auch ihren eigenen Namen vergessen, wenn sich Cedric nicht in diesem Moment von ihr gelöst und eben diesen heiser gegen ihr Ohr geknurrt hätte, nur um sich gleich darauf ihrem Hals zu widmen. Ein raues Stöhnen entfuhr ihrer Kehle, als sich seine Zähne in die empfindliche Haut ihrer Halsbeuge bohrten und sich seine Hände zeitgleich von ihren Wangen lösten, um über ihre Arme hinweg nach unten zu gleiten. Erregt schloss sie die Augen und legte den Kopf unbewusst weiter in den Nacken. Der Undertaker fühlte, wie sich ihre Finger in die offenen Knopfleisten seines Hemdes gruben und ein wenig daran zerrten, als er seinen Mund fester um ihre heftig pochende Halsschlagader schloss. Gleichzeitig erreichten seine Hände endlich den Saum ihres Nachthemdes und schoben ihn ohne zu zögern nach oben, über ihre Knie bis zu den Rundungen ihrer Hüfte hinauf. Ohne wirklich hinzusehen glitten seine Finger anschließend sofort wieder nach unten und fanden nicht einmal eine Sekunde später ihren Slip. Kurz darauf spürte, fühlte er die Hitze und die Feuchtigkeit unter dem dünnen Stück Stoff und als Carina unter seiner Berührung erneut aufstöhnte, raubte es ihm den letzten Rest seiner Selbstbeherrschung. Er konnte nicht länger warten, er brauchte sie jetzt! Er hatte schon viel zu lange gewartet… [...] Der Silberhaarige schaute auf die junge Frau herab, die Mutter seines Kindes. Einige ihrer blonden Strähnen hingen ihr verschwitzt in der Stirn, das Nachthemd klebte ihr am Körper. Vor lauter Anstrengung hatten sich die Wangen der 19-Jährigen gerötet und auch der Griff ihrer Hände an seinem Rücken hatte sich gelöst, sodass ihre Arme nun erschlafft auf dem Bett lagen. Genau in diesem Augenblick erwiderte Carina seinen Blick und lächelte, halb schüchtern, halb vergnügt. Scheinbar war er nicht der Einzige, der sich von den Entwicklungen der letzten 10 Minuten ein wenig überrumpelt fühlte. Dennoch musste er ihr Lächeln einfach erwidern. Sie war so wunderschön… Carina schloss die Augen, als er sich zu ihr herunterbeugte und sie innig küsste. Sein Körper sank auf sie, erdrückte sie mit seinem Gewicht, allerdings auf angenehme Weise. Sie vergrub ihre Nase in seinem silbernen Haar, atmete seinen Duft ein und seufzte wohlig auf. Wie lange hatte sie auf diesen Moment gewartet, wie lange hatte sie sich nach seiner Nähe verzehrt? Und jetzt war er wieder da, hier bei ihr und sie wusste, dass sich jede einzelne Sekunde des Wartens, des Hoffens gelohnt hatte. „Carina, ich-“, begann er plötzlich, doch die Schnitterin schüttelte schnell den Kopf. „Nicht heute“, hauchte sie und ließ ihren Kopf zurück auf das Bett fallen. „Lass uns morgen über alles sprechen. Jetzt… möchte ich einfach nur diesen Moment genießen und schlafen.“ Sie gähnte leise, was er mit einem ebenso leisen Lachen quittierte. „Ja“, murmelte er und drückte ihr einen Kuss auf die Wange, ehe er sich sanft erhob und aus ihr herausglitt. Das weiße Hemd, das ihm etwas feucht am Körper klebte, zog er aus und schmiss es neben seine Unterhose auf den Boden. Während er schweigend die Lampe auf dem Nachtischchen löschte, tat Carina es ihm gleich und zog sich das Nachthemd über den Kopf. Sie rutschte ans Kopfende, sodass Cedric die Bettdecken anheben und darunter schlüpfen konnte. Er legte sich auf die Seite, mit dem Kopf in ihre Richtung gedreht, und hob die Bettdecke neben sich erneut an. Carina folgte der stummen Einladung, kroch unter den wärmenden Stoff und rückte an ihn heran, bis ihr Rücken sich dicht an seine Brust schmiegte. Sofort schlang sich sein rechter Arm um ihre Taille, zog sie noch etwas näher an seinen Körper. Die 19-Jährige lächelte und ergriff seine Hand, hielt sie fest. „Gute Nacht, Cedric“, flüsterte sie in die jetzt herrschende Dunkelheit hinein. Der Bestatter küsste sie in den Nacken, vergrub anschließend zufrieden seinen Kopf an eben dieser Stelle. „Gute Nacht“, wisperte er und schloss die Augen, als auch ihn jetzt die Müdigkeit ergriff. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er sich das letzte Mal so glücklich, so befreit gefühlt hatte. Und dieses Mal würde er nicht alleine aufwachen… Kapitel 77: Der frühe Vogel fängt den Wurm ------------------------------------------ Carinas Körper fühlte sich im Halbschlaf an, als würde er schweben. Sie fühlte sich federleicht und so unglaublich befreit. Beruhigende Wärme umhüllte sie, die – wie sie automatisch wusste – nicht nur von der Bettdecke, sondern auch von Cedric stammte, der nach wie vor dicht an ihrem Körper gedrängt im Bett lag. Sie war in dieser Nacht zweimal aufgestanden, um Lily zu stillen und beide Male hatte der Bestatter sie bei ihrer Rückkehr sofort an sich herangezogen, ohne jedoch dabei aufzuwachen. Sein fester Schlaf kam dem eines Toten wirklich schon sehr nahe… Aber es hatte sie nicht wirklich gekümmert. Ganz im Gegenteil sogar. Nur allzu gerne war sie zurück in seine Arme geschlüpft, hatte sich an seine warme Haut geschmiegt und das Gesicht anschließend an seine Halsbeuge gelegt, um seinen Duft langsam einzuatmen. Der Duft, der ihr automatisch Sicherheit und Geborgenheit vermittelte. Carina konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann sie das letzte Mal so schnell eingeschlafen war. Mit einem Mal spürte sie jedoch, wie die Wärme abrupt zunahm. Sie war jetzt nicht mehr einlullend und entspannend, vielmehr verwandelte sie sich innerhalb weniger Sekunden zu einer Hitzewelle, die ihren gesamten Körper überrollte. Bevor die 19-Jährige richtig realisieren konnte, woher dieses seltsame Gefühl kam, öffnete sie noch im Halbschlaf ihren Mund und stieß ein raues Stöhnen hervor. Das Geräusch aus ihrer eigenen Kehle sorgte dafür, dass sich ihr halbwacher Zustand endlich lichtete. Flatternd öffnete sie die Augen, sah zuerst einige lange Sekunden verschwommen, ehe sie ihr Schlafzimmer erkannte. Sie lag immer noch im Bett, auf die linke Seite gedreht und hatte eine gute Sicht auf das Fenster, aus dem bereits die ersten Lichtstrahlen des frühen Morgens fielen. „Hab ich Fieber? Woher kommt diese unerträgliche Hitze?“, dachte Carina träge und fragte sich gleichzeitig, ob Shinigami überhaupt so etwas wie eine Erkältung bekommen konnten. Nur ganz langsam schaltete ihr Gehirn, wo sich dieses Gefühl konzentrierte und erst in dem Moment, indem sie wieder vollständig im Hier und Jetzt angekommen war, registrierte sie Cedrics Körper hinter sich. Und seine Erektion, die sich fest gegen ihren Hintern drückte. Aber vor allen Dingen spürte sie seine rechte Hand, die sich zwischen ihren Schenkeln befand. Ein erneutes Stöhnen verließ ihren Mund. Die Schnitterin biss sich sogleich hart auf die Unterlippe, während ihr das Blut zeitgleich in die Wangen schoss. Die Finger ihrer linken Hand krallten sich in das weiße Bettlaken unter ihr, die Finger ihrer anderen legten sich auf seinen Unterarm, ohne ihn jedoch wirklich von seinem Handeln anzuhalten. „Ein simples „Guten Morgen“ hätte es auch getan“, presste sie mit halbwegs kontrollierter Stimme hervor und zuckte im nächsten Moment vor Erregung zusammen, als sich seine Lippen in ihren Nacken legten und die empfindliche Haut liebkosten. „Guten Morgen“, raunte er ihr ins Ohr und drang ganz nebenbei mit zwei seiner Finger in ihre Enge ein. Carina bemerkte, wie die Abstände zwischen ihren Atemzügen kürzer wurden. „Erstaunlich, wie schnell dein Körper auf mich reagiert“, flüsterte er und sie konnte das Grinsen in seiner Stimme praktisch hören. Die Blondine verdrehte die Augen. „Musst du gerade sagen“, gab sie zurück und drückte ihren Po nach hinten gegen seine Erektion, was ihm ein kurzes Keuchen entlockte. „Immer noch so ein kleines Biest“, murmelte er, woraufhin nun Carina grinsen musste. „Ich sorge nur für Gleichberechtigung“, erwiderte sie und bewegte ihre Hüften seinen Fingern entgegen, sodass sie gleichzeitig immer wieder an seinem steifen Glied entlang rieb. Es ließ den Silberhaarigen ganz eindeutig nicht kalt, denn das Eindringen seiner Finger in ihre Mitte wurde deutlich fester. „Hmm“, brummte er ihr als Antwort entgegen und biss neckend in ihr Schulterblatt. Etwas, was der Schnitterin definitiv gefiel. „Außerdem“, fuhr sie fort, jetzt allerdings mit deutlich abgehackten Atemzügen, „warst du nicht der Einzige, der lange auf Sex verzichten musste. Und glaube mir, wenn ich dir sage, dass es für mich deutlich schlimmer war als für dich. Da ist es doch kein Wunder, wenn ich jetzt so auf deine Berührungen reagiere.“ Der Bestatter runzelte hinter ihr die Stirn. „Schlimmer? Wieso das?“ „Na ja“, begann die 19-Jährige und musste kurz Luft holen, als er einen weiteren Finger in sie hineinschob, sie somit weiter für ihn dehnte, „Du weißt doch, in der Schwangerschaft spielen die Hormone einer Frau einfach total verrückt. In den ersten paar Monaten war ich einfach ständig… nun ja, triebgesteuert trifft es wohl ganz gut.“ Carina spürte, wie seine Finger abrupt in ihrer Bewegung innehielten und sein Glied an ihrem Hintern zuckte. Ein Grinsen schlich sich auf ihre Lippen und sie konnte es sich einfach nicht verkneifen noch einen draufzusetzen. „Sogar im Schlaf musste ich die ganze Zeit an Sex denken.“ Das war anscheinend zu viel für Cedric. Bereits im nächsten Moment musste Carina blinzeln, als sie plötzlich auf dem Rücken lag, ihren Partner direkt über sich. Seine Hände stützten sich neben ihrem Kopf ab und sein Knie spreizte in aller Seelenruhe ihre Beine, damit er sich anschließend dazwischen niederlassen konnte. „Ach ja?“, lächelte er und es war dieses eine Lächeln, dieses zahnlose Lächeln von ihm, das ihr das Herz in der Brust höher schlagen ließ. „Spielte ich in diesen Träumen von dir auch eine Rolle?“ Seine Augen waren auf ihr Gesicht fixiert, auf das sich nun ein anzüglicher Ausdruck schlich, den er so noch nie an ihr gesehen hatte. „Die Hauptrolle“, raunte sie und es kostete den Shinigami all seine Willenskraft, nicht einfach in sie einzudringen und sie genauso grob zu nehmen, wie am vorherigen Abend. Carina sah, wie sich seine gelbgrünen Augen verdunkelten. Erneut biss sie sich auf die Unterlippe, versuchte zeitgleich das köstliche Ziehen in ihrem Unterleib zu ignorieren. „… Und was habe ich so alles mit dir angestellt?“, fragte er mit gefährlich ruhiger Stimme und sogleich musste die junge Frau an einen ganz bestimmten Traum denken. „Du… hast mich berührt“, hauchte sie und wurde bei der bloßen Erinnerung an die Szene feuchter. Der Silberhaarige lächelte und fuhr mit seiner Hand wieder zurück zwischen ihre Beine. „Hier?“, fragte er und genoss das abgehackte Keuchen, das von der Frau unter ihm kam. „Ja, aber…“, sie wurde rot im Gesicht und senkte die Stimme zu einem Flüsterton herab, „aber… nicht mit den Fingern.“ Sichtlich peinlich berührt schaute sie zur Zimmerdecke hoch und verpasste somit das Aufblitzen von Schalk in seinen Augen. „So?“, erwiderte er und ehe Carina reagieren konnte, war der Todesgott an ihr heruntergerutscht und presste seinen Mund gegen das empfindliche Fleisch zwischen ihren Schamlippen. Die 19-Jährige stieß ein ersticktes Stöhnen aus und musste im ersten Moment entsetzt nach Luft schnappen. Scheiße, das fühlte sich so gut an… Ihre Finger krallten sich erneut in das weiße Laken unter ihr, während sie den Kopf zurück aufs Bett fallen ließ, ihren Rücken durchdrückte und ins Hohlkreuz ging, ihm ihre Hüften entgegenwölbend. „Ja, genau so“, keuchte sie und spürte gleich darauf seine Zunge, die mit leichtem Druck über ihre Klitoris glitt. Seine Hände umschlossen ihr Becken und hielten es ruhig, als sie sich ihm erneut entgegendrückte. „Nicht so gierig“, lachte er leise, hauchte dabei einen seiner Atemzüge gegen ihre Hitze. „Ich glaube… hnn… dass du der Letzte bist, der jemand anderen gierig nennen sollte“, antwortete sie und der Bestatter wusste sofort, dass sie auf den gestrigen Abend anspielte. Der Anflug eines schlechten Gewissens traf ihn. Das war ihm in seinem gesamten bisherigen Leben tatsächlich noch nie passiert. Dass er eine Frau ohne Vorspiel oder jegliche Art der Vorwarnung einfach genommen hatte. Carina hatte es ganz augenscheinlich nicht sonderlich gestört, aber er selbst war im Nachhinein von dieser fast schon animalischen Seite an ihm doch ein wenig überrascht gewesen. „Keine Sorge. Heute lasse ich mir mehr Zeit“, erwiderte er und senkte erneut den Kopf zwischen ihre Schenkel. Die nächsten Minuten konnte sich Carina schwerlich auf etwas anderes konzentrieren, als ihre rasche Atmung und das befriedigende Pochen in ihrem Schoß, ausgelöst durch seinen Mund und seine verdammte Zunge, die genau die richtigen Stellen berührte. Zweimal ließ Cedric kurz von ihr ab, allerdings nur, um sie in die Innenseite ihres Oberschenkels zu beißen, seine Markierung auf ihr zu hinterlassen. Als er sich nach endlos langen Minuten endlich wieder aufrichtete, war die 19-Jährige das reinste Nervenbündel. „Bitte“, murmelte sie angespannt, beinahe flehend, und spreizte ihre Beine weiter auseinander. Eine stumme Aufforderung, die deutlicher nicht hätte sein können. Sein muskulöser Körper legte sich über den ihren und im nächsten Augenblick versiegelte er ihre Lippen miteinander. Der Kuss war sinnlich, tief. Sie konnte sich selbst auf seinen Lippen und seiner Zunge schmecken und als sie genießend ihre Augen schloss, sich in diesen Kuss hineinfallen ließ, drang er sanft in sie ein, dehnte sie langsam. Der Laut aus ihrer Kehle wurde von seinem Mund aufgefangen, sodass nur noch gedämpftes Stöhnen im Raum zu hören war. Während sich ihre Zehen vor Lust in das Bettlaken gruben, umschlang sie mit ihrem linken Arm seinen oberen Rücken. Ihre rechte Hand glitt langsam an seiner Seite hinab und legte sich schließlich auf die Kurve seines Hinterns, um ihn mit leichtem Druck noch näher an sich heranzuziehen. Seine Hüften gaben einen langsamen Rhythmus vor, der Carina fast in den Wahnsinn trieb, versenkte er sich doch jedes Mal bis zum Anschlag in ihr. „Verdammt“, keuchte sie atemlos, als er seinen Mund endlich von ihrem löste und sie anschließend zärtlich auf den Kehlkopf küsste. Der Todesgott schmunzelte, ließ ihre Aussage unkommentiert und umfasste im nächsten Moment ihre linke Brust, was sie spürbar zusammenzucken ließ. Er fühlte, wie sich ihr Körper kurz verkrampfte. „Nicht“, stieß sie zittrig hervor, ihre Stimme eine Mischung aus Erregung und süßem Schmerz. „Sie… sie sind ziemlich empfindlich momentan.“ Verstehend gab Cedric sofort nach, löste seinen Griff und wanderte stattdessen zu ihren Hüftknochen, um liebevoll darüber zu streicheln. Das Bett knarzte leicht bei jeder ihrer Bewegungen, aber keiner der beiden achtete großartig darauf. Vielmehr wurde es Carina langsam zu bunt. „Du hast dir jetzt genug Zeit gelassen“, knurrte sie und kam seinem nächsten Stoß härter entgegen. „Was denn?“, grinste er schadenfroh und packte ihre Hüften fester, um sie still zu halten. „Was möchtest du von mir, Carina?“ Angesprochene rollte genervt mit den Augen. Schön, wenn er es denn unbedingt von ihr hören wollte… „Mach schneller, verdammt nochmal“, zischte sie, konnte einen leichten Rotschimmer auf ihren Wangen jedoch nicht ganz verhindern. Er lachte leise, kam ihrer deutlichen Bitte – wobei, Befehl traf es hier eigentlich eher – aber nach und beschleunigte sein Tempo. Die Schnitterin legte den Kopf weiter ins Kissen und schlang ihre Beine nun zusätzlich um ihn. Cedric stöhnte sachte auf. Schweiß bildete sich auf seinem Körper und auch er spürte das immer stärker werdende Ziehen in seinen Lenden nun überdeutlich. Dass Carina sich in genau diesem Moment auch noch zu ihm vorbeugte, um ihre Zähne in seiner Unterlippe zu vergraben und spielerisch daran zu ziehen, machte die ganze Situation nicht unbedingt besser. Unabsichtlich wurde er ein wenig grober und schaute fasziniert dabei zu, wie die junge Frau unter ihm von seiner Lippe ablassen musste, um ein erregtes Japsen auszustoßen. Ein kühnes Lächeln legte sich auf seine Gesichtszüge. Manchmal vergaß er einfach, dass Carina genauso wie er ein Shinigami war. Sie konnte so einiges aushalten, bei ihr musste er sich keine Sorgen machen, dass sie wie Glas unter seinen Fingern zerbrechen würde. Und scheinbar mochte sie es, wenn es etwas gröber zuging… Etwas, was er in Zukunft sowieso noch gedachte auszutesten, so viel stand fest! Allein der Gedanke brachte ihn gefährlich nahe an den Abgrund. Gezielt führte er seine rechte Hand von ihrer Hüfte nach unten und legte seinen Daumen gleich darauf auf ihre Klitoris. Carinas Augen weiteten sich erschrocken, als er anfing diesen empfindlichen Punkt ihres Körpers ohne Rücksicht zu reiben, all ihre Nerven schienen mit einem Mal in Flammen zu stehen. Im Takt der Bewegungen seines Daumens drang er weiterhin unbarmherzig in sie ein. Dieses Mal würde er sich erst erlauben zu kommen, wenn Carina ihm vorausging. Und es dauerte nicht besonders lange. Die Kombination seiner Berührungen ihres Lustpunktes und seiner Erektion, die sie komplett ausfüllte, waren einfach zu viel. Ein Wimmern entfuhr der 19-Jährigen, während sie ihre Fingernägel unbewusst in seinen Rücken drückte, ihn damit nur noch anspornte. Genau in der Sekunde, in der sie seinen Namen hilflos krächzte, zogen sich ihre Wände beinahe schmerzhaft eng um ihn zusammen. Der Bestatter vergrub sich noch ein weiteres Mal in ihrer heftig pulsierenden Enge, ehe auch er seinen Höhepunkt erreichte und sich stöhnend in ihr ergoss. Sanft bewegte er sein Becken weiter, woraufhin Carina aufseufzte, immer noch halb in den Nachwirkungen ihres Orgasmus gefangen. Die Muskeln in ihren Beinen verloren ihre Anspannung und rutschten von seinen Hüften hinunter, sodass er nur wenige Augenblicke später aus ihr herausgleiten konnte, um sich neben ihr auf das Bett sinken zu lassen. Ein paar Minuten sprachen sie gar nicht, versuchten stattdessen ihre raschen Atemzüge wieder unter Kontrolle zu bekommen. Schließlich durchbrach Cedric die Stille, indem er amüsiert auflachte. „An solch eine Prozedur vor dem Aufstehen könnte ich mich gewöhnen.“ Carina schnaubte einmal laut, allerdings ebenfalls unüberhörbar amüsiert. „Das glaube ich dir aufs Wort.“ Kurz haderte sie mit sich selbst, ehe sie weitersprach. „Also“, meinte sie und zog das Wort etwas in die Länge, um ihre eigene Unsicherheit zu überspielen, „sind wir… sind wir jetzt… zusammen?“ Er hob beide Augenbrauen und Carina wusste sofort, dass sie die falsche Formulierung gewählt hatte. „Sind wir das nicht schon die ganze Nacht gewesen?“, fragte er grinsend, woraufhin die Blondine genervt aufstöhnte. „Du weißt genau, wie ich das gemeint habe“, murmelte sie beleidigt und boxte ihn leicht gegen seinen Brustkorb. Sofort ergriff er ihre Faust und zog sie an sich heran, sodass sie nun mit dem Oberkörper halb auf ihm lag. Sie schluckte, als sie in seine phosphoreszierenden Augen sah, die sie eindringlich anblickten. In diesem Moment gab er ihr das Gefühl, sie wären die einzig beiden existierenden Wesen auf dieser Welt. „Ich weiß“, antwortete er. „Und falls das nicht ohnehin schon offensichtlich gewesen ist: Die Antwort lautet Ja.“ „Bei dir ist fast nie etwas offensichtlich, Cedric“, brachte sie gerade noch so hervor, ehe sich ihre Lippen zu einem breiten Lächeln verzogen und sie ihn mit aller Inbrunst küsste, die sie in diesem Moment aufbringen konnte. Seine Hände legten sich auf die warme Haut ihres unteren Rückens und hielten sie fest, während er den Kuss erwiderte. Gegen Carinas Willen brannten plötzlich heiße Tränen in ihren Augen. Genau hier gehörte sie hin, hier an seine Seite. „Ich will hoffen, dass das Freudentränen sind“, hauchte er gegen ihre Lippen und wischte zärtlich die beiden einzelnen Tränen weg, die sich einen Weg über ihre Wangen gebahnt hatten. Sie lachte erstickt auf und legte nun ihrerseits ihre Hände an seine Wangen, strich sanft mit dem linken Daumen über seine Narbe. „Gott, ich liebe dich so sehr, Cedric…“ Erneut fanden sich ihre Lippen und mit ziemlicher Sicherheit wäre zum zweiten Mal an diesem Tag mehr daraus geworden, hätte sich nicht genau in dieser Sekunde ihre gemeinsame Tochter zu Wort gemeldet. Die beiden Todesgötter lösten sich voneinander, als das leise Weinen hinter der Tür zu ihnen durchdrang. Bevor Carina sich erheben konnte, war der Mann neben ihr bereits auf den Beinen und zog sich seine Unterwäsche an. „Lass nur, ich mach das schon“, sagte er und war bereits auf dem halben Weg zur Tür, als die junge Mutter ihm antwortete. „Du kannst Lily direkt mitbringen. Sie wird Hunger haben.“ „Hehe, Mutterinstinkte sind doch immer wieder erstaunlich“, kicherte er. Und Carina sollte tatsächlich Recht behalten. Als Cedric nicht einmal eine Minute später mit ihrem gemeinsamen Baby zurückkehrte und sie der 19-Jährigen in die Arme legte, dauerte es keine 5 Sekunden und das Mädchen fand ihre linke Brustwarze. Kurz zuckte Carina zusammen, was dem Bestatter nicht verborgen blieb. Er runzelte die Stirn. „Tut es sehr weh?“ „Nicht direkt, aber wie ich dir gerade eben bereits sagte, sie sind empfindlich. Es ist ein wenig unangenehm, aber auszuhalten.“ Liebevoll streichelte sie über den silbernen Haarschopf ihrer Tochter und der Todesgott spürte erneut jähe Zuneigung in sich aufflackern. Carina schaffte es einfach immer wieder ihn zu faszinieren. Ganz zu Anfang lediglich als Mensch, anschließend als Kämpferin und Todesgöttin, dann als seine Geliebte. Und jetzt war es einfach so viel mehr als das… Eine Stunde später saßen die beiden Shinigami am Frühstückstisch, gewaschen und vollständig angezogen. Lily befand sich auf Carinas linkem Arm und spielte mit einer der etwas längeren blonden Haarsträhnen ihrer Mutter, während diese sich mit einer Gabel in ihrer rechten Hand Rührei in den Mund schob. Gott, sie war am Verhungern. „Kein Wunder, bei den sportlichen Aktivitäten vor und nach dem Schlafengehen“, dachte sie amüsiert und konnte ihren Blick kaum von Cedric abwenden, der gerade seinen Terminkalender für heute durchging. „Die nächste Beerdigung findet erst morgen statt. Wir können also den lieben langen Tag machen, was wir wollen“, grinste er und wackelte einmal spielerisch mit beiden Augenbrauen. Carina hingegen hob daraufhin nur ihre linke. „Vergiss es“, antwortete sie und trank einen Schluck Tee. „Ich fühle mich mittlerweile ohnehin schon ein wenig wund, da mache ich doch nicht direkt weiter.“ „Aber wir müssen doch so vieles nachholen“, erwiderte er in einem kindlich weinerlichen Ton, der Carina wieder einmal an seinem Alter zweifeln ließ. „Das letzte Mal ist gerade eine Stunde her, Cedric“, entgegnete sie trocken, doch ihre Augen strahlten Belustigung aus. „Außerdem wird Grell heute noch kommen und ich habe nicht das geringste Interesse daran, dass er genau dann ins Zimmer geplatzt kommt, wenn wir gerade miteinander zugange sind.“ „Wobei sein entsetzter und peinlich berührter Gesichtsausdruck das schon fast wieder Wert wäre, hehe~“, gackerte der Bestatter und klappte das kleine Buch zu. „Von wegen peinlich berührt“, murmelte sie und rollte einmal mit den Augen. „Wie ich Grell kenne, würde er zuerst himmelhochjauchzend durchs Schlafzimmer hüpfen und sich wahrscheinlich noch nicht einmal groß darum scheren, dass wir nackt auf dem Bett liegen. Erst, wenn die erste Freude nachgelassen hat, dann fängt bei ihm das Schämen an. Was im Übrigen nicht zu vergleichen wäre mit der Scham, die ich bei dem Ganzen empfinden würde.“ „Ich konnte noch nie wirklich nachvollziehen, warum Menschen sich für so viele Dinge schämen. Gerade, wenn es um Sex geht. Keiner traut sich darüber zu sprechen, dabei passiert es hinter fast jeder verschlossenen Tür. Das ist das Natürlichste auf der Welt, warum also nicht offen darüber reden?“ Carina lächelte schief. „Was das angeht, wird die Menschheit tatsächlich schlauer. Im 21. Jahrhundert wird über solche Themen definitiv wesentlich mehr gesprochen, als zur jetzigen Zeit. Was allerdings auch nicht sonderlich schwer ist, bedenkt man den heutigen Stand der Dinge.“ „Interessant“, murmelte er und warf ihr in der gleichen Sekunde einen fragenden Blick zu. „Dafür, dass du so aufgewachsen bist, hast du dich aber auch am Anfang reichlich geziert“, neckte er sie. Carina schnaubte und kratzte sich kurz verlegen am Kopf. „Tja, was soll ich sagen, so war ich eben. Aber da es in deiner Gegenwart tödlich wäre sich auf Dauer für jede Kleinigkeit zu schämen, habe ich diese Charaktereigenschaft wohl auf ein Minimum reduziert.“ „Gut gekontert“, lachte er und erhob sich von seinem Platz, um das Geschirr wegzuräumen. „Danke“, erwiderte sie nonchalant und hob lächelnd den Kopf, als der Bestatter ihr einen sanften Kuss auf den Mund drückte. Genau in diesem Moment erklang das Läuten der Türklingel, als jemand das Institut betrat. „Undertaker, bist du da?“, erklang die unverkennbare Stimme von Ciel Phantomhive und Carina bekam sogleich eine Art Déjà-Vu. Damals, als sie ihm hier zum allerersten Mal begegnet war, hatte er genau die gleichen Worte benutzt. „Earl~“, rief der Undertaker beinahe erfreut aus und ging begleitet von seinem allseits bekannten Kichern in den vorderen Teil des Ladens, Carina dicht auf seinen Versen. Ciel stand bereits mitten im Raum, Sebastian wie immer dicht hinter sich. Scheinbar hatte Elizabeth mit ihrer Aussage Recht behalten, dass die Todesgötter ihren Verlobten nun häufiger zu Gesicht bekommen würden. Etwas, wovon Carina noch nicht recht wusste, ob es ihr wirklich gefallen sollte. „Was verschafft mit denn die Ehre Eures Besuches?“, fuhr Cedric fort und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. Die 19-Jährige hingegen blieb stehen und lehnte sich neben ihm gegen das hölzerne Möbelstück. Der Adelige hatte schon halb den Mund geöffnet, als sein Blick auf die einzige Frau im Zimmer fiel. Kurz schien er mit sich selbst zu hadern. Schließlich trat er dicht an den Schreibtisch heran, seine marineblauen Augen auf Carina gerichtet. „Ich muss mich bei dir bedanken. Elizabeth hat mir erzählt, was du in diesem Bunker alles für sie getan hast. Dass du ihr zur Flucht verholfen hast.“ Er neigte leicht den Kopf. „Vielen Dank, dass du meiner Verlobten geholfen hast.“ Carina stand die Überraschung ob dieser Worte klar und deutlich ins Gesicht geschrieben. Damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. „Gern geschehen“, entschloss sie sich schließlich zu sagen, weil ihr nichts Besseres darauf einfiel. Immerhin war sie ja auch irgendwie der Grund gewesen, warum Elizabeth überhaupt erst in diese Lage gekommen war. Crow hätte die Midford niemals entführt, wenn sie nicht die Vorfahrin der Todesgöttin wäre. „Eure Verlobte ist ein guter Mensch. Ich würde es jederzeit wieder so machen.“ Der junge Phantomhive schien von ihrer Antwort ebenso überrascht zu sein, wie Carina zuvor von seinen Worten. Unbeholfen nickte er, gab sich mit ihrer Aussage zufrieden. Sein Blick huschte kurz zu Lily, die mittlerweile wieder friedlich in den Armen ihrer Mutter schlief. Erneut zögerte er kurz, dann wandte er sich an den Bestatter. „Gratuliere. Zur Vaterschaft“, murmelte er, ganz offensichtlich peinlich berührt von dieser Situation. Der Undertaker schmunzelte. „Danke, Earl“, sagte er ehrlich und ohne jegliches Verstellen seiner Stimme. „Also, wie kann ich Euch helfen?“ Ciel schaute zu seinem Butler und dieser begann sofort zu sprechen. „Es dürfte Euch interessieren, dass in den letzten Tagen vermehrt dämonische Aktivitäten in und um London herum stattgefunden haben.“ Carina und Cedric wechselten einen schnellen Blick. „…Ein Anzeichen auf die Anwesenheit deines Vaters?“, fragte die Schnitterin angespannt und der Schwarzhaarige nickte. „Vermutlich. Er kann seine Präsenz verbergen, daher kann ich es nicht mit Sicherheit sagen. Aber es ist zumindest möglich, dass ein direkter Zusammenhang besteht.“ „Großartig“, seufzte sie und rieb sich nervös über die Stirn. Samael hatte schneller reagiert, als sie erwartet hatten. „Eine Sache würde mich interessieren, Dämon“, erwiderte der Bestatter und strich sich die silbernen Haare zurück, sodass seine Augen klar und deutlich zu sehen waren. „Mir ist klar, dass du uns hilfst, weil dein Meister es dir befohlen hat. Aber selbst wenn nicht, hättest du scheinbar keine großen Probleme damit deinen eigenen Vater zu töten. Warum?“ „Ich glaube nicht, dass Euch das etwas angeht, Shinigami“, entgegnete Sebastian kühl. Seine roten Seelenspiegel glommen einmal kurz auf, zeigten eine stumme Botschaft, nämlich das Thema nicht weiter zu vertiefen. „Die viel dringlichere Frage ist doch wohl, wie es jetzt weiter gehen soll“, warf Carina ein und ließ ausnahmsweise ihre Abneigung gegen Sebastian außen vor. „Kann man Samael mit einer Death Scythe töten?“ Angesprochener legte eine seiner behandschuhten Hände überlegend ans Kinn. „Ich vermute es. Undertakers Sense hat auf der Campania schweren Schaden an meinem Körper angerichtet.“ An dieser Stelle funkelte er den Shinigami gefährlich an, dieser quittierte die Geste allerdings nur mit einem entspannten Grinsen. „Ich gehe stark davon aus, dass es meinen Vater töten könnte.“ „Das ist immerhin schon mal ein Anfang“, seufzte sie. „Das klärt aber leider noch nicht die Frage, wie wir ihn aufspüren sollen. Oder was er überhaupt plant“, sagte der Bestatter ernst. Eine gewisse Anspannung hatte von ihm Besitz ergriffen. Wenn er sich in die Sicht des gefallenen Erzengels hineinversetzte, dann wäre selbst in seinen Augen Carina diejenige, die hauptverantwortlich war für das Scheitern seines Planes, die Shinigami vollständig unter seine Kontrolle zu bekommen. „Er ist hinter dir her, Carina“, meinte er leise und erhob sich von seinem Stuhl, um auf die junge Frau hinabzusehen. Sie erwiderte seinen Blick, einen weicher werdenden Ausdruck in den blauen Augen. Natürlich machte sie sich selbst auch Sorgen, aber die Tatsache, dass er sie mit so einer besorgten Miene betrachtete, machte sie seltsamerweise ziemlich glücklich. „Du bist doch bei mir. Was kann da schon großartig passieren?“, meinte sie und hatte vollkommen vergessen, dass Ciel und Sebastian immer noch im Raum waren. Der 14-Jährige errötete stark und räusperte sich einmal deutlich, woraufhin die beiden Todesgötter wieder zu ihm sahen. Sebastian lächelte lediglich aufgrund der peinlichen Berührtheit seines Meisters. „Momentan scheinen wir noch nicht wirklich etwas unternehmen zu können. Daher wäre es mein Vorschlag vorerst die Füße still zu halten und abzuwarten, wie sich die Lage entwickelt.“ „Wir scheinen keine andere Wahl zu haben“, gab Carina zu. Auch Cedric verdeutlichte seine Zustimmung durch ein Nicken. Ciel wirkte zufrieden. „In Ordnung. Undertaker, bis das wir näheres herausfinden, erwarte ich von dir, dass du dich wieder deinen alten Pflichten widmest und Augen und Ohren in der Unterwelt offen hältst.“ „Sehr wohl, Earl~“, quakte er, was ihm sogleich ein genervtes Schnauben des Adeligen einbrachte. Sebastian reichte ihm stillschweigend Zylinder und Mantel und keine Minute später hatten die beiden das Bestattungsinstitut bereits wieder verlassen. „Das… lief tatsächlich besser ab, als ich vermutet hatte“, sagte Carina erstaunt und schaute den Vater ihrer Tochter mit gerunzelter Stirn an. „Wie ich dir sagte, der Earl ist nicht dumm. Er weiß ziemlich genau, wen er sich besser nicht zum Feind macht. Noch dazu kommt, dass wir einen gemeinsamen Gegner haben, das verbindet nun einmal.“ „Glaubst du, er ahnt etwas?“, flüsterte sie, obwohl sie alleine waren. „Dass seine Großmutter und du…“ Sie ließ den Satz unbeendet, aber ihre Andeutung hätte nicht deutlicher sein können. Ganz gewiss war der Junge nicht dumm, sonst hätte er es nie so weit gebracht. Und er wusste, dass sich der Name seiner Großmutter in einem der Medaillons des Undertakers verbarg. Wenn er jetzt nur noch ein bisschen über den Tellerrand hinausschauen würde, dann… „Ich weiß es nicht“, unterbrach der Totengräber ihre Gedanken. „Falls er etwas ahnen sollte, dann hat er es bis jetzt unausgesprochen gelassen. Etwas, was vielleicht auf für die Zukunft besser wäre.“ „Ja, vermutlich“, murmelte sie. Im nächsten Moment erklang die Türklingel zum zweiten Mal am heutigen Tage und Grell kam herein, freudestrahlend und überschwänglich wie immer. „Hallöchen, meine Lieben, habt ihr mich schon vermisst?“, trällerte er in seiner üblichen Tonlage, was alle Anwesenden sofort grinsen ließ. „Hallo Grell“, erwiderte die Schnitterin gut gelaunt, woraufhin Grell irritiert eine Augenbraue hob. „Ich hätte nicht gedacht, dass du so gut gelaunt bist, Carina. Ich habe die Kutsche des kleinen Phantomhives gerade noch wegfahren sehen. Und mich – nebenbei bemerkt – beinahe zu Tode geärgert, dass ich Sebas-chan so knapp verpasst habe. Aber zurück zum Thema, was gab es denn so wichtiges zu besprechen?“ Carina erläuterte ihrem besten Freund kurz das Geschehene und als sie mit den Erklärungen fertig war, konnte sie auf seinem Gesicht die gleiche Anspannung erkennen, wie zuvor bei Cedric. „Du musst vorsichtig sein, Liebes. Der Kerl hat es ganz klar auf dich abgesehen. Und wer weiß, wozu er alles fähig ist.“ „Ich bin mir der Gefahr durchaus bewusst, danke“, antwortete sie ihm, nun fast schon ein bisschen gereizt. „Aber es nützt absolut nichts, wenn ich mich jetzt 24 Stunden am Tag verrückt mache und hinter jeder Ecke einen Feind vermute. Das zermürbt mir lediglich das Hirn. Keine Sorge, ich werde mich von nun an nur noch dort aufhalten, wo viele Menschen sind. Oder in eurer Nähe. Beruhigt euch das?“ „Ja, allerdings“, erwiderten die beiden Todesgötter unisono. Carina seufzte. Herrgott, die schützende Ader der beiden war süß und furchtbar zugleich… „Schön. Jetzt, wo wir das geklärt haben“, fuhr Grell fort und schaute seinen Schützling interessiert an, „gab es sonst noch etwas Neues, was ich wissen sollte?“ „…Och“, begann Carina langsam und warf einen flüchtigen Blick zu Cedric, der sofort verstand und mit einem breiter werdenden Grinsen zu ihr trat. „Ich bringe Lily nach oben, dann könnt ihr in Ruhe sprechen“, sagte er und drückte ihr einen festen Kuss auf den Mund, bevor sie es verhindern konnte. Überrumpelt erwiderte sie den kurzen Kontakt und ließ sich dann das schlafende Baby abnehmen. Leise summend verschwand er nach oben und Carina drehte sich mit einem seltsamen Gefühl im Magen wieder zurück in Grells Richtung. Gleich darauf musste sie sich ein Kichern verkneifen. Grells Mund war so weit aufgeklappt, wie es der menschliche Kiefer überhaupt zuließ. Die Brille saß ihm ein wenig schief auf der Nase und seine Augen waren groß geworden wie Untertassen. „Ähehe“, gab sie unbeholfen von sich und kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Ja, da gibt es tatsächlich etwas, was du wissen solltest.“ Kapitel 78: Der frühe Vogel fängt den Wurm *zensiert* ----------------------------------------------------- Carinas Körper fühlte sich im Halbschlaf an, als würde er schweben. Sie fühlte sich federleicht und so unglaublich befreit. Beruhigende Wärme umhüllte sie, die – wie sie automatisch wusste – nicht nur von der Bettdecke, sondern auch von Cedric stammte, der nach wie vor dicht an ihrem Körper gedrängt im Bett lag. Sie war in dieser Nacht zweimal aufgestanden, um Lily zu stillen und beide Male hatte der Bestatter sie bei ihrer Rückkehr sofort an sich herangezogen, ohne jedoch dabei aufzuwachen. Sein fester Schlaf kam dem eines Toten wirklich schon sehr nahe… Aber es hatte sie nicht wirklich gekümmert. Ganz im Gegenteil sogar. Nur allzu gerne war sie zurück in seine Arme geschlüpft, hatte sich an seine warme Haut geschmiegt und das Gesicht anschließend an seine Halsbeuge gelegt, um seinen Duft langsam einzuatmen. Der Duft, der ihr automatisch Sicherheit und Geborgenheit vermittelte. Carina konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann sie das letzte Mal so schnell eingeschlafen war. Mit einem Mal spürte sie jedoch, wie die Wärme abrupt zunahm. Sie war jetzt nicht mehr einlullend und entspannend, vielmehr verwandelte sie sich innerhalb weniger Sekunden zu einer Hitzewelle, die ihren gesamten Körper überrollte. Bevor die 19-Jährige richtig realisieren konnte, woher dieses seltsame Gefühl kam, öffnete sie noch im Halbschlaf ihren Mund und stieß ein raues Stöhnen hervor. Das Geräusch aus ihrer eigenen Kehle sorgte dafür, dass sich ihr halbwacher Zustand endlich lichtete. Flatternd öffnete sie die Augen, sah zuerst einige lange Sekunden verschwommen, ehe sie ihr Schlafzimmer erkannte. Sie lag immer noch im Bett, auf die linke Seite gedreht und hatte eine gute Sicht auf das Fenster, aus dem bereits die ersten Lichtstrahlen des frühen Morgens fielen. „Hab ich Fieber? Woher kommt diese unerträgliche Hitze?“, dachte Carina träge und fragte sich gleichzeitig, ob Shinigami überhaupt so etwas wie eine Erkältung bekommen konnten. Nur ganz langsam schaltete ihr Gehirn, wo sich dieses Gefühl konzentrierte und erst in dem Moment, indem sie wieder vollständig im Hier und Jetzt angekommen war, registrierte sie Cedrics Körper hinter sich. Und seine Erektion, die sich fest gegen ihren Hintern drückte. Aber vor allen Dingen spürte sie seine rechte Hand, die sich zwischen ihren Schenkeln befand. [...] Ein paar Minuten sprachen sie gar nicht, versuchten stattdessen ihre raschen Atemzüge wieder unter Kontrolle zu bekommen. Schließlich durchbrach Cedric die Stille, indem er amüsiert auflachte. „An solch eine Prozedur vor dem Aufstehen könnte ich mich gewöhnen.“ Carina schnaubte einmal laut, allerdings ebenfalls unüberhörbar amüsiert. „Das glaube ich dir aufs Wort.“ Kurz haderte sie mit sich selbst, ehe sie weitersprach. „Also“, meinte sie und zog das Wort etwas in die Länge, um ihre eigene Unsicherheit zu überspielen, „sind wir… sind wir jetzt… zusammen?“ Er hob beide Augenbrauen und Carina wusste sofort, dass sie die falsche Formulierung gewählt hatte. „Sind wir das nicht schon die ganze Nacht gewesen?“, fragte er grinsend, woraufhin die Blondine genervt aufstöhnte. „Du weißt genau, wie ich das gemeint habe“, murmelte sie beleidigt und boxte ihn leicht gegen seinen Brustkorb. Sofort ergriff er ihre Faust und zog sie an sich heran, sodass sie nun mit dem Oberkörper halb auf ihm lag. Sie schluckte, als sie in seine phosphoreszierenden Augen sah, die sie eindringlich anblickten. In diesem Moment gab er ihr das Gefühl, sie wären die einzig beiden existierenden Wesen auf dieser Welt. „Ich weiß“, antwortete er. „Und falls das nicht ohnehin schon offensichtlich gewesen ist: Die Antwort lautet Ja.“ „Bei dir ist fast nie etwas offensichtlich, Cedric“, brachte sie gerade noch so hervor, ehe sich ihre Lippen zu einem breiten Lächeln verzogen und sie ihn mit aller Inbrunst küsste, die sie in diesem Moment aufbringen konnte. Seine Hände legten sich auf die warme Haut ihres unteren Rückens und hielten sie fest, während er den Kuss erwiderte. Gegen Carinas Willen brannten plötzlich heiße Tränen in ihren Augen. Genau hier gehörte sie hin, hier an seine Seite. „Ich will hoffen, dass das Freudentränen sind“, hauchte er gegen ihre Lippen und wischte zärtlich die beiden einzelnen Tränen weg, die sich einen Weg über ihre Wangen gebahnt hatten. Sie lachte erstickt auf und legte nun ihrerseits ihre Hände an seine Wangen, strich sanft mit dem linken Daumen über seine Narbe. „Gott, ich liebe dich so sehr, Cedric…“ Erneut fanden sich ihre Lippen und mit ziemlicher Sicherheit wäre zum zweiten Mal an diesem Tag mehr daraus geworden, hätte sich nicht genau in dieser Sekunde ihre gemeinsame Tochter zu Wort gemeldet. Die beiden Todesgötter lösten sich voneinander, als das leise Weinen hinter der Tür zu ihnen durchdrang. Bevor Carina sich erheben konnte, war der Mann neben ihr bereits auf den Beinen und zog sich seine Unterwäsche an. „Lass nur, ich mach das schon“, sagte er und war bereits auf dem halben Weg zur Tür, als die junge Mutter ihm antwortete. „Du kannst Lily direkt mitbringen. Sie wird Hunger haben.“ „Hehe, Mutterinstinkte sind doch immer wieder erstaunlich“, kicherte er. Und Carina sollte tatsächlich Recht behalten. Als Cedric nicht einmal eine Minute später mit ihrem gemeinsamen Baby zurückkehrte und sie der 19-Jährigen in die Arme legte, dauerte es keine 5 Sekunden und das Mädchen fand ihre linke Brustwarze. Kurz zuckte Carina zusammen, was dem Bestatter nicht verborgen blieb. Er runzelte die Stirn. „Tut es sehr weh?“ „Nicht direkt, aber wie ich dir gerade eben bereits sagte, sie sind empfindlich. Es ist ein wenig unangenehm, aber auszuhalten.“ Liebevoll streichelte sie über den silbernen Haarschopf ihrer Tochter und der Todesgott spürte erneut jähe Zuneigung in sich aufflackern. Carina schaffte es einfach immer wieder ihn zu faszinieren. Ganz zu Anfang lediglich als Mensch, anschließend als Kämpferin und Todesgöttin, dann als seine Geliebte. Und jetzt war es einfach so viel mehr als das… Eine Stunde später saßen die beiden Shinigami am Frühstückstisch, gewaschen und vollständig angezogen. Lily befand sich auf Carinas linkem Arm und spielte mit einer der etwas längeren blonden Haarsträhnen ihrer Mutter, während diese sich mit einer Gabel in ihrer rechten Hand Rührei in den Mund schob. Gott, sie war am Verhungern. „Kein Wunder, bei den sportlichen Aktivitäten vor und nach dem Schlafengehen“, dachte sie amüsiert und konnte ihren Blick kaum von Cedric abwenden, der gerade seinen Terminkalender für heute durchging. „Die nächste Beerdigung findet erst morgen statt. Wir können also den lieben langen Tag machen, was wir wollen“, grinste er und wackelte einmal spielerisch mit beiden Augenbrauen. Carina hingegen hob daraufhin nur ihre linke. „Vergiss es“, antwortete sie und trank einen Schluck Tee. „Ich fühle mich mittlerweile ohnehin schon ein wenig wund, da mache ich doch nicht direkt weiter.“ „Aber wir müssen doch so vieles nachholen“, erwiderte er in einem kindlich weinerlichen Ton, der Carina wieder einmal an seinem Alter zweifeln ließ. „Das letzte Mal ist gerade eine Stunde her, Cedric“, entgegnete sie trocken, doch ihre Augen strahlten Belustigung aus. „Außerdem wird Grell heute noch kommen und ich habe nicht das geringste Interesse daran, dass er genau dann ins Zimmer geplatzt kommt, wenn wir gerade miteinander zugange sind.“ „Wobei sein entsetzter und peinlich berührter Gesichtsausdruck das schon fast wieder Wert wäre, hehe~“, gackerte der Bestatter und klappte das kleine Buch zu. „Von wegen peinlich berührt“, murmelte sie und rollte einmal mit den Augen. „Wie ich Grell kenne, würde er zuerst himmelhochjauchzend durchs Schlafzimmer hüpfen und sich wahrscheinlich noch nicht einmal groß darum scheren, dass wir nackt auf dem Bett liegen. Erst, wenn die erste Freude nachgelassen hat, dann fängt bei ihm das Schämen an. Was im Übrigen nicht zu vergleichen wäre mit der Scham, die ich bei dem Ganzen empfinden würde.“ „Ich konnte noch nie wirklich nachvollziehen, warum Menschen sich für so viele Dinge schämen. Gerade, wenn es um Sex geht. Keiner traut sich darüber zu sprechen, dabei passiert es hinter fast jeder verschlossenen Tür. Das ist das Natürlichste auf der Welt, warum also nicht offen darüber reden?“ Carina lächelte schief. „Was das angeht, wird die Menschheit tatsächlich schlauer. Im 21. Jahrhundert wird über solche Themen definitiv wesentlich mehr gesprochen, als zur jetzigen Zeit. Was allerdings auch nicht sonderlich schwer ist, bedenkt man den heutigen Stand der Dinge.“ „Interessant“, murmelte er und warf ihr in der gleichen Sekunde einen fragenden Blick zu. „Dafür, dass du so aufgewachsen bist, hast du dich aber auch am Anfang reichlich geziert“, neckte er sie. Carina schnaubte und kratzte sich kurz verlegen am Kopf. „Tja, was soll ich sagen, so war ich eben. Aber da es in deiner Gegenwart tödlich wäre sich auf Dauer für jede Kleinigkeit zu schämen, habe ich diese Charaktereigenschaft wohl auf ein Minimum reduziert.“ „Gut gekontert“, lachte er und erhob sich von seinem Platz, um das Geschirr wegzuräumen. „Danke“, erwiderte sie nonchalant und hob lächelnd den Kopf, als der Bestatter ihr einen sanften Kuss auf den Mund drückte. Genau in diesem Moment erklang das Läuten der Türklingel, als jemand das Institut betrat. „Undertaker, bist du da?“, erklang die unverkennbare Stimme von Ciel Phantomhive und Carina bekam sogleich eine Art Déjà-Vu. Damals, als sie ihm hier zum allerersten Mal begegnet war, hatte er genau die gleichen Worte benutzt. „Earl~“, rief der Undertaker beinahe erfreut aus und ging begleitet von seinem allseits bekannten Kichern in den vorderen Teil des Ladens, Carina dicht auf seinen Versen. Ciel stand bereits mitten im Raum, Sebastian wie immer dicht hinter sich. Scheinbar hatte Elizabeth mit ihrer Aussage Recht behalten, dass die Todesgötter ihren Verlobten nun häufiger zu Gesicht bekommen würden. Etwas, wovon Carina noch nicht recht wusste, ob es ihr wirklich gefallen sollte. „Was verschafft mit denn die Ehre Eures Besuches?“, fuhr Cedric fort und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. Die 19-Jährige hingegen blieb stehen und lehnte sich neben ihm gegen das hölzerne Möbelstück. Der Adelige hatte schon halb den Mund geöffnet, als sein Blick auf die einzige Frau im Zimmer fiel. Kurz schien er mit sich selbst zu hadern. Schließlich trat er dicht an den Schreibtisch heran, seine marineblauen Augen auf Carina gerichtet. „Ich muss mich bei dir bedanken. Elizabeth hat mir erzählt, was du in diesem Bunker alles für sie getan hast. Dass du ihr zur Flucht verholfen hast.“ Er neigte leicht den Kopf. „Vielen Dank, dass du meiner Verlobten geholfen hast.“ Carina stand die Überraschung ob dieser Worte klar und deutlich ins Gesicht geschrieben. Damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. „Gern geschehen“, entschloss sie sich schließlich zu sagen, weil ihr nichts Besseres darauf einfiel. Immerhin war sie ja auch irgendwie der Grund gewesen, warum Elizabeth überhaupt erst in diese Lage gekommen war. Crow hätte die Midford niemals entführt, wenn sie nicht die Vorfahrin der Todesgöttin wäre. „Eure Verlobte ist ein guter Mensch. Ich würde es jederzeit wieder so machen.“ Der junge Phantomhive schien von ihrer Antwort ebenso überrascht zu sein, wie Carina zuvor von seinen Worten. Unbeholfen nickte er, gab sich mit ihrer Aussage zufrieden. Sein Blick huschte kurz zu Lily, die mittlerweile wieder friedlich in den Armen ihrer Mutter schlief. Erneut zögerte er kurz, dann wandte er sich an den Bestatter. „Gratuliere. Zur Vaterschaft“, murmelte er, ganz offensichtlich peinlich berührt von dieser Situation. Der Undertaker schmunzelte. „Danke, Earl“, sagte er ehrlich und ohne jegliches Verstellen seiner Stimme. „Also, wie kann ich Euch helfen?“ Ciel schaute zu seinem Butler und dieser begann sofort zu sprechen. „Es dürfte Euch interessieren, dass in den letzten Tagen vermehrt dämonische Aktivitäten in und um London herum stattgefunden haben.“ Carina und Cedric wechselten einen schnellen Blick. „…Ein Anzeichen auf die Anwesenheit deines Vaters?“, fragte die Schnitterin angespannt und der Schwarzhaarige nickte. „Vermutlich. Er kann seine Präsenz verbergen, daher kann ich es nicht mit Sicherheit sagen. Aber es ist zumindest möglich, dass ein direkter Zusammenhang besteht.“ „Großartig“, seufzte sie und rieb sich nervös über die Stirn. Samael hatte schneller reagiert, als sie erwartet hatten. „Eine Sache würde mich interessieren, Dämon“, erwiderte der Bestatter und strich sich die silbernen Haare zurück, sodass seine Augen klar und deutlich zu sehen waren. „Mir ist klar, dass du uns hilfst, weil dein Meister es dir befohlen hat. Aber selbst wenn nicht, hättest du scheinbar keine großen Probleme damit deinen eigenen Vater zu töten. Warum?“ „Ich glaube nicht, dass Euch das etwas angeht, Shinigami“, entgegnete Sebastian kühl. Seine roten Seelenspiegel glommen einmal kurz auf, zeigten eine stumme Botschaft, nämlich das Thema nicht weiter zu vertiefen. „Die viel dringlichere Frage ist doch wohl, wie es jetzt weiter gehen soll“, warf Carina ein und ließ ausnahmsweise ihre Abneigung gegen Sebastian außen vor. „Kann man Samael mit einer Death Scythe töten?“ Angesprochener legte eine seiner behandschuhten Hände überlegend ans Kinn. „Ich vermute es. Undertakers Sense hat auf der Campania schweren Schaden an meinem Körper angerichtet.“ An dieser Stelle funkelte er den Shinigami gefährlich an, dieser quittierte die Geste allerdings nur mit einem entspannten Grinsen. „Ich gehe stark davon aus, dass es meinen Vater töten könnte.“ „Das ist immerhin schon mal ein Anfang“, seufzte sie. „Das klärt aber leider noch nicht die Frage, wie wir ihn aufspüren sollen. Oder was er überhaupt plant“, sagte der Bestatter ernst. Eine gewisse Anspannung hatte von ihm Besitz ergriffen. Wenn er sich in die Sicht des gefallenen Erzengels hineinversetzte, dann wäre selbst in seinen Augen Carina diejenige, die hauptverantwortlich war für das Scheitern seines Planes, die Shinigami vollständig unter seine Kontrolle zu bekommen. „Er ist hinter dir her, Carina“, meinte er leise und erhob sich von seinem Stuhl, um auf die junge Frau hinabzusehen. Sie erwiderte seinen Blick, einen weicher werdenden Ausdruck in den blauen Augen. Natürlich machte sie sich selbst auch Sorgen, aber die Tatsache, dass er sie mit so einer besorgten Miene betrachtete, machte sie seltsamerweise ziemlich glücklich. „Du bist doch bei mir. Was kann da schon großartig passieren?“, meinte sie und hatte vollkommen vergessen, dass Ciel und Sebastian immer noch im Raum waren. Der 14-Jährige errötete stark und räusperte sich einmal deutlich, woraufhin die beiden Todesgötter wieder zu ihm sahen. Sebastian lächelte lediglich aufgrund der peinlichen Berührtheit seines Meisters. „Momentan scheinen wir noch nicht wirklich etwas unternehmen zu können. Daher wäre es mein Vorschlag vorerst die Füße still zu halten und abzuwarten, wie sich die Lage entwickelt.“ „Wir scheinen keine andere Wahl zu haben“, gab Carina zu. Auch Cedric verdeutlichte seine Zustimmung durch ein Nicken. Ciel wirkte zufrieden. „In Ordnung. Undertaker, bis das wir näheres herausfinden, erwarte ich von dir, dass du dich wieder deinen alten Pflichten widmest und Augen und Ohren in der Unterwelt offen hältst.“ „Sehr wohl, Earl~“, quakte er, was ihm sogleich ein genervtes Schnauben des Adeligen einbrachte. Sebastian reichte ihm stillschweigend Zylinder und Mantel und keine Minute später hatten die beiden das Bestattungsinstitut bereits wieder verlassen. „Das… lief tatsächlich besser ab, als ich vermutet hatte“, sagte Carina erstaunt und schaute den Vater ihrer Tochter mit gerunzelter Stirn an. „Wie ich dir sagte, der Earl ist nicht dumm. Er weiß ziemlich genau, wen er sich besser nicht zum Feind macht. Noch dazu kommt, dass wir einen gemeinsamen Gegner haben, das verbindet nun einmal.“ „Glaubst du, er ahnt etwas?“, flüsterte sie, obwohl sie alleine waren. „Dass seine Großmutter und du…“ Sie ließ den Satz unbeendet, aber ihre Andeutung hätte nicht deutlicher sein können. Ganz gewiss war der Junge nicht dumm, sonst hätte er es nie so weit gebracht. Und er wusste, dass sich der Name seiner Großmutter in einem der Medaillons des Undertakers verbarg. Wenn er jetzt nur noch ein bisschen über den Tellerrand hinausschauen würde, dann… „Ich weiß es nicht“, unterbrach der Totengräber ihre Gedanken. „Falls er etwas ahnen sollte, dann hat er es bis jetzt unausgesprochen gelassen. Etwas, was vielleicht auf für die Zukunft besser wäre.“ „Ja, vermutlich“, murmelte sie. Im nächsten Moment erklang die Türklingel zum zweiten Mal am heutigen Tage und Grell kam herein, freudestrahlend und überschwänglich wie immer. „Hallöchen, meine Lieben, habt ihr mich schon vermisst?“, trällerte er in seiner üblichen Tonlage, was alle Anwesenden sofort grinsen ließ. „Hallo Grell“, erwiderte die Schnitterin gut gelaunt, woraufhin Grell irritiert eine Augenbraue hob. „Ich hätte nicht gedacht, dass du so gut gelaunt bist, Carina. Ich habe die Kutsche des kleinen Phantomhives gerade noch wegfahren sehen. Und mich – nebenbei bemerkt – beinahe zu Tode geärgert, dass ich Sebas-chan so knapp verpasst habe. Aber zurück zum Thema, was gab es denn so wichtiges zu besprechen?“ Carina erläuterte ihrem besten Freund kurz das Geschehene und als sie mit den Erklärungen fertig war, konnte sie auf seinem Gesicht die gleiche Anspannung erkennen, wie zuvor bei Cedric. „Du musst vorsichtig sein, Liebes. Der Kerl hat es ganz klar auf dich abgesehen. Und wer weiß, wozu er alles fähig ist.“ „Ich bin mir der Gefahr durchaus bewusst, danke“, antwortete sie ihm, nun fast schon ein bisschen gereizt. „Aber es nützt absolut nichts, wenn ich mich jetzt 24 Stunden am Tag verrückt mache und hinter jeder Ecke einen Feind vermute. Das zermürbt mir lediglich das Hirn. Keine Sorge, ich werde mich von nun an nur noch dort aufhalten, wo viele Menschen sind. Oder in eurer Nähe. Beruhigt euch das?“ „Ja, allerdings“, erwiderten die beiden Todesgötter unisono. Carina seufzte. Herrgott, die schützende Ader der beiden war süß und furchtbar zugleich… „Schön. Jetzt, wo wir das geklärt haben“, fuhr Grell fort und schaute seinen Schützling interessiert an, „gab es sonst noch etwas Neues, was ich wissen sollte?“ „…Och“, begann Carina langsam und warf einen flüchtigen Blick zu Cedric, der sofort verstand und mit einem breiter werdenden Grinsen zu ihr trat. „Ich bringe Lily nach oben, dann könnt ihr in Ruhe sprechen“, sagte er und drückte ihr einen festen Kuss auf den Mund, bevor sie es verhindern konnte. Überrumpelt erwiderte sie den kurzen Kontakt und ließ sich dann das schlafende Baby abnehmen. Leise summend verschwand er nach oben und Carina drehte sich mit einem seltsamen Gefühl im Magen wieder zurück in Grells Richtung. Gleich darauf musste sie sich ein Kichern verkneifen. Grells Mund war so weit aufgeklappt, wie es der menschliche Kiefer überhaupt zuließ. Die Brille saß ihm ein wenig schief auf der Nase und seine Augen waren groß geworden wie Untertassen. „Ähehe“, gab sie unbeholfen von sich und kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Ja, da gibt es tatsächlich etwas, was du wissen solltest.“ Kapitel 79: Ein Unglück kommt selten allein ------------------------------------------- „Was soll das heißen, ihr seid jetzt zusammen?“, fragte Grell fassungslos und starrte seine beste Freundin ununterbrochen an, während diese gerade in dem schmalen Hinterhof, der an das Bestattungsinstitut angrenzte, die Wäsche zum Trocknen aufhing. Seit er mit eigenen Augen gesehen hatte, dass sie und der Silberhaarige sich geküsst hatten, waren gerade einmal 5 Minuten vergangen, aber seine Aufregung hatte sich zu keiner Sekunde gelegt. Vor allen Dingen, da Carina die Sache mal wieder abtat, als wäre es nichts Weltbewegendes. „Nun ja, du weißt schon“, sagte sie wage und befestigte nebenbei ein weißes Bettlacken mit zwei Wäscheklammern, „ein Paar… Lebensgefährten… zusammen halt“, endete sie lahm und griff nach einem von Cedrics weißen Hemden, um es ebenfalls aufzuhängen. „Vergiss es“, erwiderte der Rothaarige, ergriff mit seiner rechten Hand ihr Kinn und drehte ihren Kopf so, dass sie ihm direkt ins Gesicht sehen musste. „Ich will alles wissen, einfach alles! Bis ins kleinste Detail, verstanden? Das bist du mir einfach schuldig, nachdem, was ich schon alles mit euch beiden mitmachen musste.“ Sein Tonfall wurde gegen Ende hin fast schon ein wenig weinerlich und sorgte unweigerlich dafür, dass Carina aufseufzen musste. Na toll, jetzt hatte sie doch gar keine andere Wahl mehr… „Also gut“, meinte sie schließlich, nahm den nun leeren Wäschekorb hoch und kehrte wieder in die Küche zurück, Grell dicht auf ihren Versen. Genau in diesem Moment betrat auch Cedric wieder den Raum und warf den beiden anderen Todesgöttern ein Grinsen zu, das Carina Böses ahnen ließ. Und so kam es dann schließlich auch. „Na?“, fragte er und strich sie die langen, silbernen Haare aus der Stirn. „Hast du ihm schon berichtet, was für großartigen Sex wir gestern und heute hatten?“ Grell machte hinter ihr ein ersticktes Geräusch, als hätte er sich an seiner eigenen Spucke verschluckt. Carina hingegen spürte pulsierende Hitze in ihre Wangen steigen und warf dem Vater ihrer Tochter einen Blick zu, der deutlich aussagte, dass das gerade wirklich nicht hätte sein müssen. „Nein, habe ich noch nicht“, antwortete sie ebenso genervt, wie sie peinlich berührt war, und packte den rothaarigen Shinigami am Oberarm, um ihn hinter sich herzuziehen, genau an Cedric vorbei. „Wir gehen spazieren. Pass bitte auf Lily auf, ja?“, meinte sie und zog sich an der Haustür ihren Mantel an. „Gerne“, kicherte der Bestatter und wackelte gleichzeitig warnend mit einem Finger. „Aber stell bloß keinen Unsinn da draußen an.“ „Als ob ich jedes Mal Unsinn anstellen würde, sobald ich das Haus verlasse“, erwiderte sie schnippisch, schloss den letzten Knopf und verließ das Haus in die Februarkälte hinein, Grell immer noch hinter sich herziehend. Erst, als sie sich ein paar Meter vom Bestattungsinstitut entfernt hatten, ließ die Blondine ihren Begleiter los und der verschwendete keine Zeit, um seine Rede von vorhin wieder aufzunehmen. „Jetzt will ich erst recht wissen, was passiert ist“, schnaubte er und verschränkte die Arme beleidigt vor der Brust. Carina seufzte erneut. „Eigentlich gibt es da nicht wirklich viel zu erzählen“, meinte sie. „Nachdem du weg warst, haben wir zusammen gegessen und dann bin ich nach oben gegangen, um noch einmal nach Lily zu sehen. Als ich mich dann anschließend im Schlafzimmer umziehen wollte, ist mir aufgefallen, dass mein Nachthemd noch im Badezimmer liegt, also bin ich kurz rüber, um es zu holen. Ich wusste, dass er im Badezimmer war, also habe ich angeklopft und ihn um Erlaubnis gefragt eintreten zu dürfen.“ Grell grinste verschmitzt. „Lass mich raten. Er hat Ja gesagt und stand dann vollkommen nackt mitten im Raum?“ Carina schluckte kaum vernehmbar. „… in der Badewanne“, nuschelte sie schließlich, was dem Rothaarigen sofort ein Kichern entlockte. „Das kann ich mir bei ihm durchaus vorstellen“, erwiderte er, was Carina eine Augenbrauen heben ließ. „Ich würde es bevorzugen, wenn du dir meinen Freund nicht nackt vorstellst“, entgegnete sie trocken. Grell rollte mit den Augen. „Keine Angst, Süße, ich hab nicht das geringste Interesse. Aber ehrlich, Freund? Verlobter oder Ehemann würde sich wesentlich besser anhören, wenn du mich fragst.“ Die 19-Jährige errötete schwach, ließ seine Aussage allerdings unkommentiert. Ihrem besten Freund entging dies keinesfalls, doch auch er ließ das Thema sogleich fallen. „Und weiter?“, fragte er und bog mit ihr in einen der kleineren Parks in London ein. „Wie hast du reagiert?“ „Äußerlich so gut wie gar nicht. Ich schätze, genau das war es, was ihn schlussendlich genug verunsichert hat, um mich gleich darauf im Schlafzimmer darauf anzusprechen“, antwortete sie und erinnerte sich mit einem schiefen Lächeln an seine ernste Miene am gestrigen Abend zurück. „Er meinte, dass ich es ihm sagen muss, wenn ich kein Interesse mehr an ihm habe. Erst da habe ich gemerkt, wie meine Reaktion auf ihn gewirkt haben muss. Ich Idiotin.“ „Und dann?“, fragte Grell und hörte sich dabei fast wie ein kleines Kind an, das ungeduldig wissen wollte, wie die Gute-Nacht-Geschichte ausging. „Ich habe ihm gesagt, dass sich an meinen Gefühlen für ihn nicht das Geringste geändert hat“, sagte sie leise und konnte fast schon hören, wie in den gelbgrünen Augen ihres Mentors die Herzchen aufploppten. „Aww, das ist ja so süß“, quietschte er und legte sich beide Hände an die Wangen, während er leicht mit dem ganzen Körper hin und her tänzelte. Eine Reaktion, die Carina nicht sonderlich überraschte. „Ja“, hauchte sie und ein ehrliches Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus. Das war sicherlich ein Moment in ihrem Leben gewesen, den sie niemals vergessen würde. Egal, wie lange sie noch leben würde, ob einen Monat, ein Jahr oder ein Jahrhundert… Daran würde sie sich immer zurückerinnern. „Und dann habt ihr euch geküsst, richtig?“, frohlockte der Reaper und automatisch schossen Carina bestimmte Bilder durch den Kopf. „Ja… das auch“, meinte sie kurz angebunden und dachte daran, wie Cedric sie anschließend auf das Bett gedrückt hatte, ihre Beine gespreizt und sie genommen hatte. Hart. Und ihr hatte jede Sekunde davon gefallen. Selbst der Schmerz hatte etwas für sich gehabt. „Wann zur Hölle bin ich bitte zu einer Masochistin geworden?“ Grell hob eine Augenbraue. „Dank der Aussage deines Lovers von vorhin kann ich mir sehr gut vorstellen, was danach passiert ist“, sagte er trocken, zwinkerte ihr im nächsten Moment allerdings wieder bereits neckend zu. Carina schnaubte. „Ja, sein loses Mundwerk ist leider etwas, was ich in Kauf nehmen muss, wenn ich mit ihm zusammenbleibe.“ Sie warf ihrem besten Freund einen fragenden Blick zu. „Muss ich jetzt noch Details ausführen oder reicht dir die Aussage, dass es großartig war und ich mittlerweile wund bin?“ Grells Gesicht leuchtete auf wie eine rote Ampel. „Ich weiß gar nicht, was du hast“, murmelte er und verschränkte etwas beschämt die Arme vor der Brust. „Dein Mundwerk steht seinem nun wirklich in nichts nach.“ „Du hast ja keine Ahnung“, grinste sie. Sie plauderten weiter, während sie den Park durchquerten und schließlich gingen sie durch eine kleine Allee, die – wie Carina wusste – in 10 Minuten in ein Wohngebiet übergehen würde. „Ehrlich? So schlimm?“ „Ja“, seufzte Grell und massierte sich die Stirn. „Momentan herrscht in unserer Abteilung einfach das absolute Chaos. Seit ich im Dispatch arbeite, waren wir noch nie so unterbesetzt. Seelensammler scheint nicht mehr der bevorzugte Berufswunsch der Neulinge zu sein.“ „Niemand hat gesagt, dass der Job leicht ist“, antwortete Carina, fügte allerdings gleich darauf hinzu: „Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, was an den anderen Abteilungen so toll sein soll. Ich hätte mich da zu Tode gelangweilt. Na ja, vielleicht wollen welche in die Forensik wechseln oder so…“ „Bloß nicht“, stöhnte Grell. „Ich hab dir doch schon mal erzählt, dass dort nur Wahnsinnige arbeiten. Da muss man sich doch nur Othello ansehen, das sagt einem doch bereits alles, was man wissen muss.“ Die Blondine runzelte die Stirn. „Und wer soll dieser Othello nun wieder sein?“ „Einer der größten Freaks, der mir je über den Weg gelaufen ist“, maulte Grell und Carina konnte nicht anders, sie lachte. „Und das ausgerechnet aus deinem Mund“, schmunzelte sie, was unweigerlich dazu führte, dass ihr Mentor empört die Wangen aufplusterte. „Na, hör mal. Ich bin vielleicht speziell, aber ganz sicher kein Freak. Das ist ja wohl was vollkommen anderes!“ „Sei froh, dass ich dein Gesprächspartner bin und nicht William. Sonst könntest du dich spätestens jetzt auf eine ellenlange Diskussion einstellen“, lautete ihre Antwort. Grell verdrehte hinter seinen roten Brillengläsern genervt die Augen. „Pff, William. Hör mir bloß auf mit William.“ Carina starrte ihn daraufhin mehr als nur irritiert an. Was war denn jetzt los? „Ich liebe es ja eigentlich, wenn er so unterkühlt drauf ist, das weißt du. Aber in letzter Zeit benimmt er sich einfach nur noch unmöglich. Er schreit jeden an, der sein Büro betritt und niemand, absolut niemand, kann es ihm zurzeit recht machen. Dabei versuchen wir doch schon alles, um die fehlenden Leute auszugleichen und alle Seelen fristgerecht einzusammeln. Ich zum Beispiel lasse mir die Überstunden schon gar nicht mehr aufschreiben, weil ich sie eh niemals nehmen kann. Doch Mister Gutaussehend hat noch nicht mal dafür ein lobendes Wort übrig.“ „Was hast du erwartet? William hat ja nun wirklich noch nie zu der Sorte Mann gehört, die mit Komplimenten um sich schmeißt“, meinte Carina und begutachtete nebenbei interessiert den Baustil der kleinen, englischen Häuser, an denen sie nun vorbeigingen. „Wo du Recht hast“, seufzte er und zupfte sich die schwarzen Handschuhe von den Fingern, um anschließend seine leuchtend roten Fingernägel zu begutachten. „Ich glaube das Verschwinden von Crow hat ihm den letzten Rest Selbstbeherrschung geraubt. Kein Wunder, in letzter Zeit sind zu viele Shinigami verschwunden. Du, Crow und natürlich…“ Er ließ den Satz unbeendet, doch Carina wusste, dass er von Alice sprach. „Dann noch die Vorfälle mit Undertaker und die Tatsache, dass unser Dispatch auf der letzten Konferenz ziemlich durch den Dreck gezogen wurde… Und im Gegensatz zu uns beiden hat William keine Ahnung, was die Hintergründe sind und was überhaupt vor sich geht. Ich fürchte wirklich, dass ihm das alles mehr zusetzt, als er jemals zugeben würde.“ Auf eine seltsame Art und Weise bekam Carina plötzlich ein schlechtes Gewissen. Irgendwie ging fast alles von den genannten Punkten auf ihr Konto, obwohl sie natürlich absolut nichts dafür konnte. Dennoch, irgendwie wünschte sie sich, sie könne helfen. „Wenn ich euch helfen könnte, dann würde ich es tun“, sagte sie nun auch genau das, was sie dachte. „Aber wir wissen beide, dass meine Tage als Schnitterin gezählt sind. Nicht, dass ich es unendlich vermisse, aber irgendwie war ich doch ganz gut in dem, was ich tat.“ „Ganz gut?“, grinste Grell und verpasste der 19-Jährigen einen sanften Klaps auf den Hinterkopf. „Du warst die Beste in deinem Jahrgang. Stell dein Licht nicht immer so unter den Scheffel.“ Gerade, als Carina ein scherzhaftes „Ja, Sir“ entgegnen wollte, ertönte einige Häuser von ihnen entfernt ein lauter Schrei, der die friedliche Mittagsstille durchbrach. Beide Todesgötter zuckten vor Schreck zusammen und wandten gleichzeitig den Kopf nach vorne. Eine junge Frau, sicherlich nicht älter als Anfang 20, taumelte keuchend aus einem der Häuser heraus. Ihr rotbraunes Haar war ein wenig zerzaust, als wäre sie soeben erst aufgestanden, ihre grauen Augen blickten panisch von links nach rechts. Und sie war eindeutig schwanger, denn ein kleiner Babybauch zeichnete sich bereits unter dem dünnen Stoff des grünen Kleides ab, das sie trug. „Was zum Teufel…“, murmelte Grell verwirrt, während Carina stumm die werdende Mutter betrachtete, die vollkommen hektisch und willkürlich Menschen auf der Straße ansprach, nur um dann direkt zu den nächsten Spaziergängern weiter zu hechten. Die ehemalige Schnitterin spürte Wut in sich aufsteigen. Die Frau schien Hilfe zu brauchen, aber scheinbar interessiert das in diesem Viertel niemanden, denn alle Leute wandten sich sofort von ihr ab, ohne ihr überhaupt großartig zuzuhören. Bevor Grell sie in irgendeiner Weise aufhalten konnte, setzte sie sich bereits in Bewegung. „Carina, warte“, rief er ihr sofort hinterher, holte sie aber erst dann ein, als sie die junge Frau beinahe erreicht hatte. „Entschuldigen Sie“, begann die 19-Jährige und ergriff die Schwangere sanft an der Schulter. „Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Brauchen Sie vielleicht einen Arzt?“, fügte sie hinzu, als sie nun in das Gesicht der Fremden schauen konnte. Sie war kreidebleich. „Oh Gott sei Dank“, stammelte die junge Frau, erleichtert darüber, dass ihr endlich jemand zuhörte. „B-bitte helfen Sie mir, i-ich w-weiß einfach nicht, was ich machen soll.“ Sie brach in Tränen aus und ohne auch nur einen Blick auf Grell zu werfen wusste Carina, dass er das hier für eine äußerst schlechte Idee hielt. Shinigami sollten sich nicht in die Angelegenheiten von Menschen einmischen. Aber erstens war sie strenggenommen gar nicht mehr im Dienst und zweitens konnte sie doch nicht einfach an jemandem vorbeigehen, der so offensichtlich um Hilfe bat. Nein, so war sie nicht erzogen worden und so würde sie sich auch nicht verhalten. Das konnten die meisten anderen Menschen um sie herum schon ganz gut. „Was ist passiert?“, flüsterte sie leise, aber mit fester Stimme. „Wurden Sie überfallen? Ist noch jemand in Ihrem Haus?“ Nach wie vor war das ein rotes Tuch für Carina. Sollte ihre Vermutung tatsächlich zutreffen, dann konnte sich der Mann auf etwas gefasst machen. „Nein, es geht um meinen Mann“, rief die Schwangere verzweifelt und packte nun ihrerseits Carina an den Schultern, scheinbar nun mit neuem Selbstbewusstsein. „Bitte, Sie müssen mir helfen die Tür zum Badezimmer aufzubekommen. Er hat sich dort eingeschlossen und ich habe Angst, dass er sich etwas antun will.“ Die beiden Todesgötter erstarrten. Vollkommen fassungslos starrte Carina die Frau an und hoffte für einen unendlich langen Moment einfach, dass sie sich gerade verhört hatte. Aber ein Blick in Grells Gesicht sagte ihr, dass die Realität anders aussah. Was war es nur für eine traurige Ironie, dass ausgerechnet ihnen das passieren musste? „Okay“, beschloss die Blondine schließlich, nachdem sie einmal tief durchgeatmet hatte, „Grell, wir gehen da rein.“ „Wir tun was?“, fragte Angesprochener geschockt, während die Dame vor ihnen erneut anfing zu weinen und immer wieder Worte des Dankes hervorstotterte. „Wir gehen da rein“, wiederholte die Schnitterin, obwohl sie wusste, dass Grell sie auch schon beim ersten Mal verstanden hatte. „Wo ist das Badezimmer?“ „I-im zweiten Stock. Warten Sie, ich werde es Ihnen zeigen“, sagte die besorgte Ehefrau, kam aber keinen Schritt weit. „Nein, Sie bleiben schön hier“, erwiderte die 19-Jährige in einem Befehlston, der sie selbst überraschte. „Aber“, begann die Betroffene zu diskutieren und schaute die Fremde vor sich aus geweiteten grauen Augen an, „es geht hier um meinen Mann“, hauchte sie schließlich mit gebrochener Stimme. Mitleid wallte in Carina auf. Natürlich konnte sie das nachvollziehen. Sie selbst würde sicherlich nicht anders handeln wollen, wenn es hier um Cedric gehen würde. „Wie heißen Sie?“, fragte sie, nun wieder in einer sanfteren Tonlage. „…Emma“, schniefte ihre Gegenüber und nahm fast wie in Trance das rote Taschentuch entgegen, das Grell ihr reichte. „E-Emma Sterling.“ „Gut, Emma, hör mir zu“, ergriff Carina erneut das Wort und ging kommentarlos zum Du über. „Ich kann verstehen, dass du wieder in euer Haus gehen willst, um deinem Mann zu helfen. Das kann ich wirklich. Aber bedenke, was du dort möglicherweise zu sehen bekommst. Im schlimmsten Falle.“ Emma erbleichte noch mehr, was die Todesgöttin dazu veranlasste ihre Hände zu ergreifen. „Denk an dein Baby. Die ganze Aufregung ist ohnehin schon nicht gut für euch beide. Ich möchte nicht riskieren, dass es noch schlimmer wird, verstehst du?“ Die Hand der jungen Frau legte sich sogleich auf ihren Bauch und Carina wusste automatisch, dass sie dies eher unbewusst tat. Auch sie hatte dies in der Schwangerschaft oft gemacht. Sie spürte Sympathie in sich aufsteigen. „Ich weiß, wir kennen uns nicht, aber vertrau mir und bleib hier. Mein bester Freund und ich werden jetzt in euer Haus gehen und nach deinem Mann schauen. Sobald wir mehr wissen, komme ich dich holen, in Ordnung?“ Die werdende Mutter schien einzusehen, dass Carina Recht hatte, denn sie nickte einmal schwach und lehnte sich dann zitternd gegen einen Laternenpfahl, der direkt vor besagtem Haus aus dem Beton ragte. Carina verlor keine weitere wertvolle Zeit und stürmte sofort die Treppen zur Haustür hoch. In solch einem Fall konnte jede Sekunde von entscheidender Bedeutung sein, das wusste sie. Jegliche Fragen, die ihr bezüglich der Vermutung Emmas, ihr Mann wolle sich etwas antun, auf der Zunge lagen, stellte sie daher vorerst hinten an. „Carina, ich halte das für gar keine gute Idee“, sagte Grell hinter ihr und folgte ihr nun auch noch die Treppe in den zweiten Stock nach oben. „Das ist mir bewusst, aber ich kann die Arme doch nicht einfach auf der Straße stehen lassen. Und mal abgesehen davon… wenn ich jemanden vor dem Schicksal bewahren kann ein Shinigami zu werden, dann werde ich das auch tun.“ „Ich verstehe dich ja“, gab der Rothaarige zu. „Aber wir müssen vorsichtig sein. Was, wenn er bereits tot ist oder gleich stirbt? Dann wäre jetzt gerade ein Shinigami bei ihm, um nach seinem Selbstmord sein Mentor zu werden. Und wenn wir entdeckt werden, insbesondere du, dann haben wir ein Problem.“ „Glaubst du, der Gedanke ist mir noch nicht gekommen? Ich unterdrücke bereits seit einigen Minuten meine Energiesignatur. Außerdem spüre ich hier niemand anderen. Du?“ „Nein, ich auch nicht“, seufzte Grell und fand sich damit ab, dass sie das Risiko scheinbar eingehen mussten. „Steht er denn auf der Liste?“ „Guter Vorschlag“, erwiderte er und zog das kleine Buch hervor. Auf diese Idee hätte er auch eigentlich selbst kommen können. „Sterling…Sterling… nein, steht er nicht.“ „Gut“, antworte Carina daraufhin nur und wandte sich dann wieder besagtem Zimmer zu. Die Tatsache, dass er nicht auf der Liste stand, ließ nur zwei Schlussfolgerungen zu. Entweder er hatte nie versucht sich etwas anzutun oder aber er hatte, würde aber nicht daran sterben. Eigentlich beides positive Aussichten, aber man konnte sich mit dieser blöden Liste nie zu 100 % sicher sein. Es konnten immer Fehler passieren… „Also los“, murmelte sie und klopfte fest gegen die verschlossene Badezimmertür. „Mr. Sterling?“, rief sie laut und horchte. Kein Geräusch ertönte hinter der Tür, nicht mal mit ihrem übermenschlichen Gehörsinn nahm sie die kleinste Regung wahr. Etwas, was überhaupt nicht zu ihrer Beruhigung beitrug. „Schön, dann eben mit Gewalt“, seufzte sie. Grell nickte ihr zu und eine Sekunde später traten die beiden synchron gegen die Tür. Das Holz splitterte, als sie aufflog und schief in den Angeln hängen blieb, doch das interessierte niemanden. Denn der Anblick, der sich ihnen jetzt bot, war weitaus schlimmer. „Oh Gott“, hauchte Carina und kniete im nächsten Moment bereits neben dem jungen Mann, der leblos gegen den Rand der Badewanne gelehnt dasaß. Auf den ersten Blick sah die Situation eigentlich nicht lebensbedrohlich aus. Folgte man aber dem rechten Arm, den er in der Badewanne platziert hatte, und dem Blut, das sich bereits in einer mittelgroßen Pfütze am Boden eben dieser angesammelt hatte und aus dem tiefen Schnitt am Handgelenk auch weiterhin in rauen Mengen austrat, dann sah die Lage schon ganz anders aus. Einige seiner wenigen tiefschwarzen Stirnfransen hingen ihm verschwitzt im Gesicht und betonten die abnormale Blässe seiner Haut nur noch, zweifelsohne herbeigerufen durch den hohen Blutverlust. Scheiße, das war sicherlich schon mehr als ein Liter… Carina zögerte etwa 2 Sekunden, um den Anblick für sich selbst zu verarbeiten, dann reagierte sie. Mit einem Satz stand sie auf und riss das erstbeste kleine Schränkchen im Raum auf. Nach weiteren 10 Sekunden wurde sie fündig. „Schnell, Grell, gib mir eins von deinen Taschentüchern“, sagte sie hektisch, kniete sich erneut neben den Bewusstlosen und legte die zwei Verbandsröllchen neben sich. Ihr Mentor reagierte nicht. „Grell, wir haben keine Zeit, um-“ Die Blondine brach ab, als sie in das kränklich bleiche Gesicht des rothaarigen Reapers schaute. Erst jetzt dämmerte es ihr. Auch er hatte damals diese Methode gewählt, um sich das Leben zu nehmen und jetzt wurde er auf besonders schmerzhafte Art wieder daran erinnert. „Grell, reiß dich zusammen“, rief sie laut, was ihren Freund wieder in die Gegenwart zurückholte. Er zuckte kurz zusammen, griff dann aber in seine Jackentasche und holte das gewünschte Tuch heraus. Carina riss es ihm aus der Hand, faltete es einmal in der Mitte und presste es sogleich als Wundauflage gegen die geöffnete Pulsader. Die nächsten Schritte sprulte sie einfach nur wie einen Film herunter. Sie wickelte einen der Verbände zweimal um die Wunde herum, dann legte sie die andere Verbandsrolle als Druckpolster auf die Wunde und benutzte abschließend den Rest des ersten Verbandes. „Okay“, sagte sie, um sich selbst zu beruhigen. „Druckverband ist angelegt, was kommt jetzt? Hochlagern“, beantwortete sie sich ihre eigene Frage, legte den Körper des Mannes vorsichtig auf den Boden und hielt den verletzten Arm nach oben. „Er muss in ein Krankenhaus. Er hat zwar noch nicht die Menge an Blut verloren, die zwingend lebensbedrohlich ist, aber die Wunde muss dringend genäht werden“, brachte Grell hervor und schluckte gleich darauf, um sich die ausgetrocknete Kehle zu befeuchten. Carina zögerte. Sie wusste, dass Grell Recht hatte, aber die Vorstellung behagte ihr dennoch nicht sonderlich. Abgesehen davon, dass zum jetzigen Zeitpunkt gerade einmal jede zweite Bluttransfusion erfolgreich verlief, weil die einzelnen Blutgruppen noch nicht erforscht worden waren, würden die Ärzte sofort erkennen, dass es sich hier um einen Selbstmordversuch handelte. Die Folge wäre mit ziemlicher Sicherheit die Einweisung in eine Anstalt und der Gedanke gefiel Carina überhaupt nicht. Jedenfalls nicht im jetzigen Jahrhundert. „Wir sollten seine Frau dazuholen. Sie muss entscheiden, was mit ihm geschehen soll“, sagte sie schließlich und Grell stand mit einem Nicken auf. „Gut, ich werde sie holen“, erwiderte er und Carina wusste, dass er mehr als nur froh war endlich diesem Raum verlassen zu können. Ihre Augen wanderten über das nach wie vor bleiche Gesicht des Bewusstlosen. Auch er war noch sehr jung, vielleicht nur ein paar Jahre älter als Emma. „Wäre er nicht so blass und hätte das halbe Badezimmer vollgeblutet, dann wäre er sicherlich ziemlich hübsch.“ Ja, seine Gesichtszüge sagten das in aller Deutlichkeit. Emma hatte sicherlich deutliche Konkurrenz gehabt. Trotzdem war sie bereits jetzt gespannt darauf zu erfahren, warum der junge Mann sich hatte umbringen wollen. „Seine Frau ist schwanger, verdammt“, dachte sie verärgert. Wären Grell und sie nicht vorbeigekommen, dann hätte das Kind seinen Vater niemals kennengelernt. Gut, er hatte nicht auf der Liste gestanden, also hätte der werdenden Mutter vermutlich doch noch irgendjemand auf der Straße geholfen, aber das war nicht der Punkt. „Hätte sie ihn so zu Gesicht bekommen…“ Das Ausmaß wollte Carina sich nicht einmal vorstellen. Geistesgegenwärtig sorgte sie schnell dafür, dass sich kein Blut mehr in der Badewanne befand. Auch diesen Anblick wollte sie der jungen Frau ersparen. Und sie war keine Sekunde zu früh damit dran, denn nur wenige Augenblicke später tauchte die Betroffene im Türrahmen auf. „Um Gottes Willen“, hauchte sie und sank gleich darauf neben ihrem Mann zu Boden, erneut in Tränen aufgelöst. Carina konnte es ihr nicht verdenken. „Er lebt, keine Sorge“, sagte sie, obwohl Grell ihr das sicherlich auch schon erklärt hatte. „Die Frage ist, ob sie möchten, dass er in ein Krankenhaus kommt.“ Die grauen Augen wurden ein wenig klarer, als Emma nachdachte. Scheinbar verstand sie, wie ernst die Lage war und was Carina mit ihrer Frage suggerierte. „Nein“, entschied sie sich relativ schnell und obwohl sie am ganzen Leib zitterte, war ihre Stimme nun fest. „Ich bin ausgebildete Hebamme, ich kann seine Wunde nähen.“ Carina atmete erleichtert aus. So kamen sie immerhin drum herum Cedric um Hilfe zu bitten, den sie bereits als Notfallplan im Hinterkopf gehabt hatte. Der Bestatter konnte immerhin mit Nadel und Faden umgehen wie kein Zweiter und- „Ach du Scheiße… Cedric“, fiel es ihr auf einmal siedendheiß wieder ein. „Aber stell bloß keinen Unsinn da draußen an.“ Sie schluckte. Streng genommen fiel einem Menschen das Leben zu retten sicherlich nicht in die Kategorie „Unsinn anstellen“, aber irgendwie bezweifelte sie, dass der Silberhaarige das genauso sah. Dabei konnte sie dieses Mal nun wirklich nichts dafür. „Da hab ich mich mal wieder in eine Scheiße hineinmanövriert. Großartig“, dachte sie mit einer gehörigen Portion Sarkasmus, während sie gleichzeitig stillschweigend dabei zusah, wie Emma mit geübten Handgriffen die Wunde ihres Mannes reinigte und anschließend mit einer sterilen Nadel verschloss. Scheinbar hatte die junge Frau sich wieder beruhigt, denn ihre Finger zitterten beim Nähen nicht ein einziges Mal, trotz der Tatsache, dass natürlich erneut eine beachtliche Menge Blut austrat. War Cedric auch so ruhig geblieben, als er die Schnittwunde an ihrem Rücken genäht hatte? Vermutlich, so wie sie ihn kannte. Emma desinfizierte das Handgelenk nach erledigter Arbeit erneut und legte abschließend einen neuen Verband an. Erst als auch das erledigt war, erlaubte sie es sich selbst den Schweiß von der Stirn abzuwischen und ein wenig in sich zusammenzusacken. „Du Idiot“, wisperte sie leise und legte ihre rechte Hand an seine linke Wange. „Charlie, du gottverdammter Idiot. Warum hast du das getan?“ Grell runzelte die Stirn. „Ich habe gedacht, dass du den Grund wüsstest. Sonst hättest du doch kaum so schnell etwas unternommen, als er sich im Badezimmer eingeschlossen hat oder nicht?“ „Nein“, erwiderte sie und zwei dicke Tränen rollten ihre Wangen hinab, die von den salzigen Spuren schon ganz gereizt waren. „Aber er benimmt sich schon seit Tagen so seltsam. Als ich ihm vor 3 Monaten gesagt habe, dass ich in der achten Woche schwanger bin, da hat er sich noch so gefreut. Doch seit vorletzter Woche ist er plötzlich wie ausgewechselt. Er lächelt nicht mehr, guckt mir nicht mehr in die Augen und jedes Mal, wenn ich ihn darauf angesprochen habe, dann hat er alles abgestritten und das Thema abrupt gewechselt. Aber ich wusste, dass ich mir das nicht nur einbilde. Wir kennen uns seit wir Kinder waren und ich erkenne, wenn ihn etwas bedrückt. Bisher konnten wir auch immer über alles reden, aber wie aus heiterem Himmel hat er mich auf einmal ausgeschlossen, einfach so! Und als ich dann gerade eben die verschlossene Badezimmertür bemerkt habe und er auf mein Klopfen und Rufen nicht mehr reagierte… da habe ich Panik bekommen“, schluchzte sie leise. Carina strich ihr beruhigend über den Rücken. „Ganz ruhig. Er lebt. Er ist am Leben, hörst du?“ Emma nickte und hickste einmal. „Grell, kannst du ihn in das Schlafzimmer tragen? Ich schätze bei der Menge an Blut, die er verloren hat, wird er sicherlich nicht vor morgen Mittag erwachen. Er sollte schlafen, damit sein Körper das verlorene Blut nachbilden kann. Und sorg bitte dafür, dass er auch im Bett bleiben wird, ja?“ Der Rothaarige nickte und hob den Bewusstlosen vorsichtig hoch, um anschließend aus dem Badezimmer zu verschwinden. „Komm Emma, ich setze dir einen Tee auf“, fuhr Carina sanft fort, nahm die aufgelöste Frau an den Schultern und verfrachtete sie im unteren Stockwerk auf ein gemütlich aussehendes Sofa. Schnell hatte sie auch die Küche gefunden und bereits 5 Minuten später stellte sie eine Tasse mit Kamillentee auf den kleinen Tisch vor der Sitzgelegenheit. „Er muss noch etwas ziehen, aber sollte helfen deine Nerven ein wenig zu beruhigen. Ich weiß, es ist schwer, aber-“ „Danke“, wurde sie mitten im Wort unterbrochen. Carina schaute mit größer werdenden Augen dabei zu, wie die Hebamme sich aufrichtete und dann das Haupt tief senkte, um sich vor ihr zu verbeugen. „Danke, dass ihr mir geholfen habt. Ich weiß nicht, wie ich das je wieder gutmachen kann. Mein Mann verdankt euch sein Leben und ich… ich weiß nicht, was ich sagen soll“, krächzte Emma leise und stammelte dann erneut ein leises Dankeschön. Die Schnitterin lächelte, wenn auch ein wenig betrübt. „Ich wünschte, ich könnte jetzt sagen, dass das selbstverständlich war, aber leider ist das nicht der Fall, wie wir vorher auf der Straße bedauerlicherweise feststellen mussten.“ Manche Menschen waren einfach nur auf ihr eigenes Wohl fixiert. Der Gedanke machte Carina krank. „Daher sage ich nur so viel: Gern geschehen. Ich bin froh, dass es deinem Mann gut geht. Kein Kind sollte ohne Vater aufwachsen.“ Emma lächelte nun ebenfalls leicht und strich sich über den gewölbten Unterleib. „Ja, das stimmt“, hauchte sie. „Ich danke dir, Carina. Das war doch dein Name, oder?“ Angesprochene nickte und wurde gleich darauf wieder eine Spur ernster. „Hör mal, Emma. Da gibt es etwas, was ich dir noch sagen muss. Ich habe keine Ahnung, wie es um die Psyche deines Mannes bestellt sein wird, wenn er morgen wieder zu sich kommen wird. Grell wird ihn in eurem Bett fixieren, damit er nicht weglaufen oder sich noch einmal etwas antun kann.“ Die Schwangere schluckte, gab aber mit einem Absenken ihres Kinns die stumme Zusage zu besagtem Vorgehen. „Das hört sich jetzt vielleicht seltsam an, aber ich würde gerne morgen noch einmal wiederkommen, um mit Charlie zu sprechen. Vielleicht bekomme ich ja etwas aus ihm heraus. Ich… kenne mich ein wenig mit suizidgefährdeten Menschen aus.“ „In Anbetracht der Tatsache, dass ich an meinen eigenen Ehemann wohl nicht mehr rankomme“, entgegnete Emma niedergeschlagen und wischte sich mit Grells Taschentuch abermals das Gesicht trocken, „rede mit ihm, wenn du das möchtest. Wenn… wenn du das wirklich möchtest und ich nicht zu aufdringlich bin und es nicht zu viel verlangt ist.“ Carina grinste. Emma Sterling schien eine sehr einfühlsame Person zu sein und erinnerte sie automatisch ein wenig an Alice. Auch die schwarzhaarige Shinigami hatte sich immer viel zu sehr um die Meinung und Gefühle der Menschen um sich herum gesorgt. „Ich möchte es“, bestätigte sie der besorgten Frau ein weiteres Mal und erhob sich langsam vom Sofa, als Grell die Treppe hinunterkam. Er nickte einmal zum Zeichen dafür, dass oben alles in Ordnung war und wandte sich dann seinerseits auch noch einmal an Emma. „Lass ihn am besten vorerst nicht mehr aus den Augen.“ „Das werde ich. Vielen, vielen Dank“, verbeugte sie sich jetzt auch vor Grell, der dies mit einem wirschen Handgefuchtel abtat und das Gesicht – scheinbar genervt – abwandte. Carina jedoch durchschaute seine Fassade und erkannte den leichten Rotschimmer auf seinen Wangenknochen. Sie wechselten noch ein paar abschließende Worte mit der Brünetten und verließen 5 Minuten später schließlich das kleine Häuschen. Es war, als würden sie in eine gänzlich andere Welt eintreten. Hier draußen ahnte niemand, was hinter diesen Türen heute beinahe passiert wäre. Dass eine Familie heute beinahe vollkommen auseinandergebrochen wäre… Die Welt war hart und grausam. Eine Lektion, die Carina während ihrer Zeit im Dispatch auf die harte Tour hatte lernen müssen. Und eine Erkenntnis, die sie leider immer wieder einholte. „Carina, das war keine gute Idee“, wiederholte Grell noch einmal das, was er ihr ganz zu Anfang schon einmal gesagt hatte. Die Blondine sah ihn ein wenig genervt an, während sie den Weg durch den Park zurücknahmen, den sie zuvor bereits gwählt hatten. „Wenigstens von dir hätte ich mir ein wenig mehr Verständnis erhofft, Grell. Es reicht mir schon, dass ich mir von Cedric nachher wieder was anhören darf.“ „Womit er nicht ganz Unrecht hätte“, sagte er, verschränkte die Arme vor der Brust und rümpfte kurz die Nase, wie es sonst nur tadelnde Mütter taten. „Es ist uns aus gutem Grund verboten sich in die Angelegenheiten der Menschen einzumischen. Was, wenn unser Eingreifen Folgen hat? Was, wenn dieser Mann eigentlich sterben sollte und unseretwegen nun weiterlebt?“ „Grell, dass er nicht auf der Liste stand, kann tausend Ursachen haben. Vielleicht hätte ihn jemand anders geretten oder seine Frau hätte doch noch einen Weg gefunden, die Tür alleine zu öffnen. Oder er wäre vielleicht noch rechtzeitig zu sich gekommen und hätte es sich anders überlegt, um mit letzter Kraft die Tür aufzuschließen. Oder-“ „Oder er sollte sterben und die Verwaltung hat einen Fehler gemacht“, unterbrach Grell sie und grummelte noch ein leises „Wäre ja nicht das erste Mal“ hinterher. Carina hob eine Augenbraue. „Komm schon Grell, wie wahrscheinlich ist das bitte? Die Wahrscheinlichkeit liegt laut unserer Statistik unter 2 %. Wenn man jetzt noch darüber Bescheid weiß, dass Zeitreisende, die Selbstmord begangen haben, diese Statistik verfälschen, dann liegt der Prozentsatz wahrscheinlich sogar noch unter 1.“ Spöttisch hob sie nun auch noch die andere Augenbraue. „Oder willst du mir vielleicht jetzt auch noch sagen, dass es ja gut sein könnte, dass er ein Zeitreisender ist?“ „Nein, natürlich nicht“, antwortete der Rothaarige und plusterte ein wenig beleidigt die Wangen auf. „Ich glaube nicht an Klischees und das wäre es wohl, wenn ausgerechnet wir beide mal eben auf einen weiteren Zeitreisenden stoßen sollten.“ „Das wäre auch unmöglich. Emma meinte doch, dass sie sich seit ihrer Kindheit kennen. Falls er also nicht gerade als kleines Kind durch die Zeit gereist sein sollte, dann können wir das mit ziemlicher Sicherheit ausschließen. Mit Sicherheit hätte Crow es mir gegenüber erwähnt, wenn es solch einen Fall schon einmal gegeben hätte. Der wäre doch auch nicht davor zurückgeschreckt ein Kind zu foltern…“ „Stimmt, stimmt, da hast du schon Recht“, beeilte sich Grell zu sagen, als er den seltsamen Unterton seiner besten Freundin im letzten Satz vernahm. Sie sollte jetzt bitte nicht an ihre eigene Folter zurückdenken! Carina atmete einmal tief durch. „Fakt ist jedenfalls, dass er nicht auf der Liste stand und auch kein Shinigami aufgetaucht ist, um ihn bei seinem Tod – der sicherlich nicht mehr lange auf sich hätte warten lassen – in Empfang zu nehmen. Also mach dir bitte keinen Kopf, Grell. Ich bin mir sehr sicher, dass wir nichts ausgelöst haben, was für uns Folgen haben könnte.“ Der Shinigami wirkte nun tatsächlich ruhiger als zuvor. Carina schaffte es sowieso immer ihn in irgendeiner Art und Weise zu beruhigen und wenn sie dann auch noch mit so einer nicht zu leugnenden Logik um die Ecke kam, dann musste er erst recht einsehen, dass er wohl ein wenig überreagiert hatte. „Trotzdem solltest gerade du dich nicht zu sehr in die Angelegenheiten von Menschen einmischen“, grummelte er leise, immer noch die Arme vor der Brust verschränkt. „Du darfst nicht vergessen, dass du immer noch auf der Flucht bist, Carina.“ Angesprochene grinste. „Keine Sorge. Die größten Regelverstoße überlasse ich weiterhin gerne dir“, gluckste sie, was jetzt sogar Grell ein Kichern entlockte. „Genau, ich kann das nämlich viel besser als du“, sagte er und entblößte dabei seine spitzen Zähne. „Das steht wohl außer Frage“, erwiderte sie trocken. „Aber mittlerweile stehen wir uns bei Regelverstößen glaube ich in Nichts mehr nach. Ich kann Williams Stimme quasi in meinem Kopf hören.“ Die Blondine ahmte Williams Art vortrefflich nach, indem sie einen finsteren Gesichtsausdruck aufsetzte und die Stimme tadelnd tiefer verstellte. „Sutcliff, das ist alles nur Ihre Schuld. Als Mentor haben Sie eine Verantwortung Ihren Schülern gegenüber. Mir war von Anfang an klar, dass Sie einer solchen Vorbildsfunktion nicht gerecht werden können.“ Grell starrte sie monoton an. „… es ist gruselig, dass du ihn so gut nachmachen kannst, nur dass du es weißt.“ Sie lachten beide und die Anspannung, die in der Luft gelegen hatte, löste sich etwas. Das hielt bei Carina allerdings nicht sonderlich lange an, denn bei Grells nächsten Worten versteifte sie sich abrupt. „Jetzt musst du es nur noch Undy sagen.“ Die 19-Jährige stöhnte und massierte sich mit Daumen und Zeigefinger den Nasenrücken. „Das wird Ärger geben. Scheiße, was rede ich da. Das wird verdammt großen Ärger geben“, fluchte sie und raufte sich die Haare. „Ich will nicht sagen, dass du nicht in diese Situation gekommen wärst, wenn du auf mich gehört hättest, aber“, begann Grell und grinste sie breit an, „du wärst nicht in diese Situation gekommen, wenn du auf mich gehört hättest.“ Carina zog eine Schnute. „Jaja“, gab sie genervt zurück und kratzte sich etwas ratlos an der Stirn. „Was soll’s. Ich bin froh, dass ich einen Menschen davor bewahren konnte das gleiche Schicksal wie wir zu erleiden, also ist es schon gut so.“ „Wobei er vielleicht ein wenig dazu beigetragen hätte unser Personalproblem zu lösen“, seufzte der Rothaarige. „Grell“, stieß die 19-Jährige entrüstet hervor und starrte ihren besten Freund tadelnd an. „War ein Scherz, war ein Scherz“, fügte er schnell hinzu und hob abwehrend beide Hände. „Mein Gott, du verstehst heute ja auch wirklich gar keinen Spaß mehr.“ „Wundert dich das etwa?“, entgegnete sie trocken und rieb sich erneut über die Stirn. Nur zu gerne hätte sie den Shinigami jetzt auf seine Reaktion angesprochen, die er vorhin auf die aufgeschnittene Pulsader des jungen Mannes gezeigt hatte, aber sie war klug genug das nicht zu tun. Wenn Grell darüber sprechen wollte, dann würde er dies schon von selbst tun. Und egal, wann dieser Zeitpunkt sein würde: Wenn er käme, dann wäre Carina für ihn da. „Sieh es doch mal positiv. Noch schlimmer kann der Tag gar nicht mehr werden“, versuchte Grell sie aufzumuntern und lachte leise, was ihre Laune tatsächlich besserte. „Ja, allerdings“, lächelte sie nun auch und ließ ihre Augen über den Ausgang des Parks gleiten, der nun in Sichtweite rückte. „Und das ist auch gut so. Die eine dumme Aktion reicht schon. Eine weitere würde mir Cedric wohl kaum verzeihen.“ „Carina?“ Die Blondine stutzte und blieb abrupt stehen. Die Stimme, die gerade ungläubig ihren Namen ausgesprochen hatte, war nicht Grells gewesen. Alles in ihr erstarrte zu Stein, als sie plötzlich eine unverkennbare Aura hinter sich wahrnahm. Grell und sie drehten sich beide gleichzeitig um und beide verloren sie ebenso synchron alle Farbe im Gesicht. Doch während Grell nur hilflos die Augen weiten konnte, fand Carina dann doch noch ihre eigene Stimme wieder. „R…Ronald?“ Scheiße. Cedric würde sie sowas von umbringen… Kapitel 80: Gedanken und Gespräche ---------------------------------- Ronald hatte sich kein Stück verändert. Er trug seine Haare immer noch genauso wie am ersten Tag ihrer Ausbildung, trug seinen Anzug noch genauso wie auf der Campania und schleppte immer noch diesen äußerst unhandlichen Rasenmäher mit sich herum. Nur sein Gesichtsausdruck hatte sich drastisch verändert, denn Carina konnte sich nicht daran erinnern, dass er sie in der Vergangenheit schon einmal derartig entsetzt angestarrt hatte. Warum zur Hölle hatte sie ihn nicht bemerkt? Hatte sie nicht aufgepasst? War sie so in ihre Unterhaltung mit Grell vertieft gewesen, dass sie nicht auf die Signaturen in ihrer unmittelbaren Umgebung geachtet hatte? Nein, das konnte nicht sein. Auch Grell war von dem Auftauchen des jungen Todesgottes mehr als nur überrascht worden. Zumindest er hätte ihn doch spüren müssen. Es sei denn… Carina fluchte innerlich. Natürlich. Ronald musste sich einfach direkt in diesem Park materialisiert haben. Nichts Ungewöhnliches, Carina hatte das während ihrer Schichten auch öfters mal gemacht. Parks wie dieser hier lagen oft sehr zentral, eigentlich also die perfekte Lösung um schnellstmöglich das gewünschte Ziel zu erreichen. „Warum ausgerechnet Ronald? Warum nicht ein Shinigami, der mich nicht kennt und nur für eine Begleitung von Grell gehalten hätte?“ Aber es nützte nichts, sich die Frage „Was wäre gewesen, wenn…“ zu stellen. Jetzt war das Kind in den Brunnen gefallen. Ronald hatte sie gesehen und natürlich sofort erkannt. Immerhin hatte sie weder die Zeit gehabt abzuhauen, noch sich vielleicht ein anderes Aussehen zu verpassen. Lediglich die blauen Augen mussten ihm unbekannt sein, aber das war auch schon alles. „Was hat Grell gerade eben noch gesagt? Schlimmer kann der Tag eh nicht mehr werden? Weit gefehlt, mein Lieber!“ Noch schlimmer hätte es sie wirklich nur treffen können, wenn William persönlich hier aufgetaucht wäre… Ronalds fassungsloser Blick glitt von Carina zu Grell und wieder zurück. Die 19-Jährige konnte es in seinem Kopf quasi rattern sehen, als er versuchte sich einen Reim auf diese ganze Sache zu machen, aber zu keinem endgültigen Ergebnis kam. Fakt war, dass sie seit Monaten verschwunden war. Vermutlich mittlerweile als tot galt. Fakt war aber leider genauso, dass er sie gerade dabei erwischt hatte, wie sie seelenruhig mit Grell durch einen Park in London geschlendert war. „Verfluchte Scheiße!“ „Carina?“, sprach Ronald nochmals ihren Namen aus, nicht minder ungläubig klingend als beim ersten Mal. Angesprochene biss sich auf die Unterlippe. „… Hallo Ronald“, brachte sie schließlich hilflos hervor. Ihre Gedanken fuhren Achterbahn. Tausend mögliche Szenarien, wie diese Situation weiter verlaufen könnte, spielten sich nahezu gleichzeitig in ihrem Kopf ab. Sie hatte absolut keine Ahnung, was sie jetzt tun sollte. Ronald scheinbar auch nicht. Einer jedoch schien bereits ganz genau zu wissen, was jetzt zu tun war. Bevor einer der beiden jungen Todesgötter reagieren konnte, stand Grell plötzlich genau vor seinem Kollegen und schlug ihm den Griff seiner Death Scythe – Carina hatte nicht einmal mitbekommen, dass er sie gezogen hatte – mit voller Wucht seitlich gegen den Schädel. „Was zum-“, rief die 19-Jährige schockiert, als Ronald sofort wie ein Stein zu Boden fiel. Offensichtlich bewusstlos und mit einer stark blutenden Platzwunde am Kopf. „Grell, was sollte das?“ „Was das sollte? Ich habe ihn vorübergehend außer Gefecht gesetzt, was sonst?“ „Das sehe ich. Aber war das wirklich notwendig? Wir hätten doch auch mit ihm reden-“ „Damit er mittendrin abhaut und alles William steckt? Vergiss es, das Risiko gehe ich nicht ein“, unterbrach er sie, kniete sich neben Ronalds erschlafften Körper und warf ihn sich über die Schulter. „Nimm du seine Death Scythe mit. Wir bringen ihn vorerst ins Bestattungsinstitut, dann sehen wir weiter.“ Carina gehorchte, stöhnte aber trotzdem missbilligend auf. „Cedric wird mich umbringen“, gab sie von sich und folgte Grell schnellen Schrittes über die Straße. „Das, meine Liebe, hast du dir selbst zuzuschreiben.“ „Wer hätte denn auch ahnen können, dass er sich zufällig genau dann in den Park teleportiert, wenn wir dort durchgehen? Die Wahrscheinlichkeit war relativ gering.“ „Tja, aber sie war da und bei deinem Pech, was du ja immer wie magisch anziehst, hat das scheinbar schon ausgereicht.“ „Aber das ist höhere Gewalt“, protestierte sie schwach und hätte am liebsten die Arme vor der Brust verschränkt, wenn dieser dämliche Rasenmäher nicht wäre. „Jetzt müssen wir uns erstmal um andere Dinge Sorgen machen.“ „Du meinst abgesehen davon, dass ich morgen mit einem Mann sprechen werde, der versucht hat sich umzubringen, und der Tatsache, dass ein ehemaliger Erzengel hinter mir her ist?“, fragte sie sarkastisch nach und gab ihrem Mentor damit deutlich zu verstehen, dass Ronald gerade wirklich nicht ihre größte Sorge darstellte. Wobei sie auch nicht wirklich wusste, ob Samael ihre größte Sorge war, wenn sie an das bevorstehende Gespräch mit Cedric dachte… Nach nur wenigen Minuten kam ihr neues Zuhause in Sichtweite und Carina wurde von Sekunde zu Sekunde angespannter. Zu ihrer Erleichterung stellte sie jedoch direkt nach Betreten fest, dass sich der Bestatter zurzeit im Keller aufhielt und somit nicht direkt Ronald zu Gesicht bekam. Wenigstens eine gute Sache, denn so konnte sie ihn vielleicht schonend darauf vorbereiten. „Falls das denn überhaupt noch möglich ist.“ „Warte hier“, sagte sie zu Grell und ging mit einem flauen Gefühl im Magen langsam die Treppenstufen hinunter. Cedric bemerkte sie sofort, als sie sich wortlos gegen den Türrahmen lehnte, sah aber dennoch nicht von seiner Arbeit in Form einer älteren Männerleiche auf. Ein breites Grinsen zierte sein Gesicht. „Musstest du Grell jedes kleinste Detail erläutern oder warum wart ihr so lange weg?“ Er amüsierte sich sichtlich. Zu schade, dass sich das gleich schlagartig ändern würde, dachte Carina. Der Silberhaarige hob gleich darauf verwundert den Kopf, als die Mutter seiner Tochter immer noch keinen Ton von sich gab. Das Grinsen wich ihm langsam von den Lippen, als er ihren Gesichtsausdruck bemerkte. Carina schluckte. „Ähm“, begann sie vorsichtig, räusperte sich einmal und zwang sich ein Lächeln auf die Lippen, das Cedric ihr keine Sekunde lang abkaufte, „es gibt da etwas, was ich dir sagen muss…“ William massierte sich mit seiner linken Hand die Stirn, um die stechenden Kopfschmerzen in seinen Schläfen zumindest ein wenig abzumildern, während seine gelbgrünen Augen mit finsterem Blick das Papier in seiner rechten Hand taxierten. „Das darf ja wohl nicht wahr sein“, ging es ihm durch den Kopf, als er immer und immer wieder die Überstundenaufstellung seiner Mitarbeiter durchging. Allein beim Anblick der Zahlen sank seine schlechte Laune auf den Tiefpunkt, immerhin hatten sie die erlaubte Anzahl längst überschritten. Und er, William T. Spears, konnte nicht einmal etwas dagegen sagen, denn auch er selbst lag schon weit über dem erlaubten Rahmen, schrieb sich die Stunden nicht einmal mehr richtig auf. Wie hatte ausgerechnet ihm das nur passieren können? Ein schweres Seufzen drang über seine Lippen. Damit seine Leute diese ganzen Überstunden irgendwann einmal abbauen konnten, müssten mindestens 5 neue Todesgötter in ihrer Abteilung anfangen und momentan sah es diesbezüglich eher mager aus. Wäre er noch ein Mensch und würde ein normales Unternehmen leiten, dann wäre die Sache schon deutlich leichter. Aber leider konnte er als Todesgott ja schlecht eine Stellenausschreibung in Auftrag geben, das wäre dann wohl wirklich doch zu viel des Guten. „Zum ersten Mal in meinem Leben wünschte ich mir, es würden mehr Menschen Selbstmord begehen…“ Sogleich verabscheute er sich für seine eigenen Gedanken. Nur, weil er selbst vor langer Zeit so irrational gehandelt hatte, hieß das noch lange nicht, dass anderen so etwas ebenfalls widerfahren sollte. Es passierte schon oft genug. William würde es nie zugeben und sich anmerken lassen erst recht nicht, aber es traf ihn dennoch jedes Mal, wenn ein Neuling in ihre Reihen kam. Bei manchen war es nur Mitgefühl, bei anderen stellte er sich unweigerlich die Frage nach dem Warum. Wenn er beispielsweise an Ronald Knox oder sogar an Grells Schülerin zurückdachte, dann kam er einfach nicht drumherum sich zu fragen, was den beiden in ihrem Leben widerfahren sein musste, dass sie es sich bereits so früh genommen hatten. Nicht, dass es ihn etwas angehen würde. Nein, er selbst war immer schon der Meinung gewesen, dass jeder Shinigami sein früherer menschliches Leben besser für sich behalten sollte. Denn so belastete es wenigstens nur einen selbst und nicht auch noch andere Todesgötter, die ohnehin schon ihre eigene Bürde zu tragen hatten. „Wenn ich jetzt schon über so etwas nachdenke, raubt mir die Arbeit wirklich langsam den Verstand.“ Und das war ja noch nicht alles. Momentan liefen hier einige Dinge eindeutig verkehrt. Denn der eigentliche Grund, warum sie alle viel zu viel arbeiten mussten, war ja bis zum heutigen Tage nicht geklärt worden. Mit dem Verschwinden von Grells Schülerin hatte es angefangen. Ein paar Monate danach war eine der Mitarbeiterinnen hinter der Rezeption ebenfalls spurlos verschwunden und jetzt hatte es scheinbar auch noch Mr. Crow – einen Lehrer, den er wirklich sehr schätzte – erwischt. Das alle paar Jahre mal ein Shinigami spurlos verschwand: in Ordnung. Nun ja, nicht in Ordnung, aber nachvollziehbar, wenn man an das ganze dämonische Ungeziefer dachte, was draußen rumlief. Aber gleich drei Todesgötter in einem Jahr? Nein, irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht. Und William wäre verdammt, wenn er nicht herausfinden würde, was! „Wenn das Dämonen waren, die einen großangelegten Angriff planen, dann gnade ihnen Gott“, dachte er und meinte das durchaus wörtlich. Es wäre immerhin nicht das erste Mal, dass sich Shinigami und Engel verbünden würden, um eine Invasion durch die Hölle abzuwehren. Zwischen ihnen herrschte so etwas ähnliches wie ein stilles Friedensabkommen. Beide Parteien ließen sich gegenseitig in Ruhe und unterstützten sich im Ernstfall. Etwas, was William sogar ganz recht war. Engel waren mächtig und die Anzahl der Dämonen überstieg leider die der Shinigami… Während er die Überstundenaufstellung auf einen seiner unzähligen Stapel legte, kam ihm plötzlich Grell in den Sinn, den er – zu seiner eigenen größten Überraschung – kaum noch zu Gesicht bekam. Was ihn allerdings noch viel mehr überraschte war die Tatsache, dass er sich gar nicht wirklich darüber freuen konnte, obwohl der rothaarige Todesgott ihm sonst doch immer so auf die Nerven gegangen war. „Der Tod seiner Schülerin muss ihm schwer zugesetzt haben.“ Kein Wunder. Soweit er wusste, hatten Carina und Grell sich hervorragend verstanden und das war bei dem… nun ja… “speziellem“ Verhalten des Rothaarigen wahrlich nicht oft der Fall. Zudem hatte er wirklich viel Arbeit und Mühe in das Training der jungen Frau gesteckt, was William zum einen damals mehr als nur positiv überrascht hatte und zum anderen hatte die Blondine defintiv einen guten Job gemacht. 1120 Seelen in 5 Wochen war wirklich ein erstrebenswertes Ergebnis und dabei hatte sie nicht einmal viele Überstunden gemacht. Die Kritik, die er ihr bei der praktischen Prüfung mit auf den Weg gegeben hatte, hatte sie sich scheinbar tatsächlich zu Herzen genommen. Wie er gesagt hatte, mit ein wenig Übung hatte sie ihre Zeit deutlich verbessert. Wenn die Schnitterin noch hier wäre, dann hätte er sicherlich ein Problem weniger… „Seit sie verschwunden ist, ist Sutcliff praktisch ständig auf Achse. Ob er in seiner Freizeit immer noch nach ihr sucht?“ Übermäßige Besuche in die Menschenwelt außerhalb der Arbeitszeit waren natürlich streng verboten, aber William hatte bereits vor Jahrzehnten aufgehört Grell diesbezüglich belehren zu wollen. Es brachte ja ohnehin nichts. Und vielleicht war das sogar besser, als wenn der Reaper sich vor Kummer in seinem Zimmer einschließen würde. Er seufzte erneut und schüttelte dann den Kopf. „Konzentrier dich auf die Arbeit, William“, rügte er sich selbst, rückte die Brille auf der Nase zurecht und beugte sich erneut über seinen Schreibtisch. Mittlerweile war es immerhin später Nachmittag und er musste noch so einiges Liegengebliebenes aufarbeiten. Lösungsansätze konnte er auch noch suchen, wenn er heute Abend im Bett lag… „Dich kann man wirklich keine Sekunde allein lassen“, raunte der Bestatter wütend und schaute auf den immer noch bewusstlosen Todesgott hinab, der nun mit einem Verband um den Kopf in seiner Küche auf einem Stuhl saß – na ja, oder eher hing, wären da nicht die Stahlketten um seinen Oberkörper gewesen. „Ich habe das doch nicht mit Absicht gemacht“, erwiderte Carina kleinlaut, im Versuch einer Rechtfertigung. Gelbgrüne Augen funkelten sie an. „Glaub mir“, sagte er so leise, das die 19-Jährige eine Gänsehaut bekam. „Hättest du das mit Absicht gemacht, dann hätten wir beide ein Problem miteinander.“ Grell warf ihr einen so deutlichen Blick zu, dass sie seine unausgesprochenen Worte praktisch in ihrem Kopf widerhallen hörte. „Ich habe es dir ja gesagt.“ „Das mit Ronald war ein bedauerlicher Zufall und das andere… ich konnte ihn doch nicht einfach zu einem Shinigami werden lassen.“ Cedric legte sich fassungslos eine Hand an die Stirn. „Es ist nicht das erste Mal, dass ich es dir sage, aber deine Menschlichkeit und der damit einhergehende Helferkomplex sind faszinierend. Faszinierend und schrecklich nervtötend.“ Carina verschränkte die Arme in einer klaren Abwehrhaltung. „Ich habe keinen Helferkomplex.“ Der Silberhaarige hob seine rechte Hand und hielt ihr den Daumen entgegen. „Das Mädchen damals auf dem Ball im Weston College“, begann er seine Aufzählung und hob unmittelbar danach den Zeigefinger, „Elizabeth Midford“, schließlich folgte der Mittelfinger, „und jetzt auch noch diesen Sterling.“ Sie wurde rot. „Das waren alles Situationen, in die ich versehentlich reingeschlittert bin.“ „Natürlich“, antwortete der Undertaker sarkastisch. „Und als würde diese Aktion nicht schon reichen, schleppst du mir jetzt auch noch diesen Bengel ins Haus.“ Sein Blick verdunkelte sich, als die Schnitterin daraufhin doch tatsächlich die Dreistigkeit besaß mit den Augen zu rollen. Das würde noch ein Nachspiel haben, so viel stand fest. Scheinbar musste er der jungen Frau ein paar Manieren beibringen… „Was uns wieder zu der Frage zurückbringt, was wir jetzt mit ihm machen“, sagte Grell. Die drei Shinigami schauten den Vierten im Bunde schweigend an, mehrere lange Sekunden herrschte angespannte Stille. Dann öffnete der Bestatter den Mund. „Wir müssen ihn umbringen.“ „Wie werden ihnen nicht umbringen“, sagten Grell und Carina wie aus einem Munde, während letztere dem Vater ihrer Tochter einen teils schockierten, teils ungläubigen Blick zuwarf. Das konnte doch wohl nicht sein Ernst sein. Aber scheinbar doch, denn er erwiderte ihren Blick ernst und ohne die Spur eines Grinsens. „Vergiss nicht, wozu er fähig ist“, flüsterte ihr Unterbewusstsein ihr zu und sie schluckte. Ja, sie würde sich in dieser Beziehung auf jeden Fall noch beweisen müssen. Der Gedanke erfüllte sie allerdings nicht mit Furcht, nein. Vielmehr verspürte sie Aufregung. Es würde definitiv nicht langweilig mit Cedric werden! „Du kannst nicht einfach jeden umbringen, der vielleicht Probleme verursachen könnte. Du bist nicht Sebastian“, sagte sie scharf. „Und was schlägst du stattdessen vor? Ihn laufen lassen?“ Carina zögerte. „Wie sollten zuerst mit ihm sprechen und dann entscheiden, wie wir weiter vorgehen. Das ist nicht die beste Lösung, aber die einzige, mit der ich leben kann.“ „Ich stimme Carina zu“, sagte Grell mit vor der Brust verschränkten Armen. „Wir können ihn nicht einfach umbringen, während er hilf- und wehrlos hier auf dem Stuhl sitzt. Zudem würde William wohl einen Nervenzusammenbruch bekommen, wenn noch jemand verschwinden würde. Und ich habe wirklich keine Lust noch mehr Überstunden zu machen.“ Carina hob eine Augenbraue. „Das sind die Gründe, warum du ihn nicht töten willst? Ernsthaft?“, fragte sie mit einem trockenen Unterton, woraufhin Grell lediglich mit den Schultern zuckte. „Ich mag Ronald, keine Frage. Aber wenn ich mich zwischen seinem Kopf und deinem entscheiden muss, dann dürfte es wohl klar sein, auf welchen meine Wahl fällt.“ „Endlich mal jemand, der ähnlich denkt wie ich“, murmelte Cedric. Grell grinste ihn an, doch das bekam Carina schon gar nicht mehr mit. Ihr Augenmerk hatte sich auf Ronald gerichtet, der sich nun langsam regte und schließlich mit einem leisen Stöhnen zu sich kam. Seine Augen flatterten zweimal, dann schlug er sie auf und starrte mit verklärten Pupillen genau in ihr Gesicht. Wäre er kein Shinigami, hätte er sicherlich eine Gehirnerschütterung davongetragen, wenn nicht sogar einen Schädelbruch. Je klarer die gelbgrünen Pupillen jedoch wurden, desto größer wurden Ronalds Augen. Etwas, was Cedric äußerst amüsant fand. „Willkommen zurück“, meinte er und sofort wandte sich der Blick ihres ehemaligen Klassenkameraden ihm zu. Jetzt wurden seine Seelenspiegel groß wie Untertassen. Carina konnte es ihm nicht verdenken. „Was zur Hölle…“, keuchte der junge Todesgott und stemmte sich automatisch gegen die Fesseln, die ihn an Ort und Stelle hielten. Für einen kurzen Moment huschte offenkundige Panik über sein Gesicht, die die Schnitterin zusammenzucken ließ. Sie wusste ziemlich genau, wie sich das anfühlte und jetzt selber diejenige zu sein, die am anderen Ende stand, gefiel ihr ganz und gar nicht. Wie hatte Crow das nur genießen können? „Bleib ruhig“, begann Carina vorsichtig. „Wir wollen nur reden.“ Ronald schaute sie wütend an. „Und dafür schlagt ihr mich nieder?“ „Das war nicht meine Idee“, antwortete sie mit einem Seufzen in Grells Richtung. „Ich wünchte, ich hätte es nicht tun müssen, aber ich konnte nicht riskieren, dass du sofort zu William rennst“, erwiderte Grell ernst. Jetzt wirkte Ronald beleidigt. „Für wen hältst du mich eigentlich? Wenn hier einer von uns beiden immer direkt zu William rennt, dann ja wohl du.“ Carina grinste. „Wo er Recht hat…“, sagte sie und hörte ihren besten Freund gleich darauf laut schnauben. „Aber lieb von dir, dass du für mich immer eine Ausnahme gemacht hast“, fügte sie schnell hinzu und der Rothaarige wirkte sogleich ein wenig besänftigt. „Würde mir jetzt endlich mal jemand erklären, was hier überhaupt los ist?“, warf Ronald aufgebracht in den Raum und starrte wieder Carina an. „Du lebst ganz offensichtlich. Warum bist du einfach so abgehauen? Und was macht der Tattergreis hier?“ „Vorsicht, Bürschchen“, entgegnete der Bestatter warnend und warf seiner Partnerin einen erbosten Blick zu, als diese leise kicherte. Die Blondine biss sich auf die Wangeninnenseite, konnte sich das Grinsen aber nicht ganz verkneifen. Damals auf der Campania hatte Ronald den Undertaker ebenfalls so genannt. Der Ausdruck war unpassend, keine Frage, aber rein theoretisch zutreffend. „Es tut mir wirklich leid, dass du in diese Situation gekommen bist, Ronald. Das ist meine Schuld.“ Bedauern stand ihr ins Gesicht geschrieben und das erkannte auch der gefesselte Shinigami. Die Wut wich ein wenig aus seinen Zügen. „Erklär mir einfach endlich, was hier vor sich geht.“ Carina öffnete gerade den Mund, als ein protestierendes Weinen an ihre Ohren drang. Während Ronald irritiert blinzelte, wandte sie sich an den Totengräber. „Könntest du vielleicht-“, fing sie an, doch da nickte Cedric bereits und verschwand lautlos nach oben. „Was zur Hölle…“, sagte der junge Mann nun schon zum zweiten Mal und wirkte von Sekunde zu Sekunde verwirrter. Die 19-Jährige seufzte und wechselte mit Grell einen kurzen Blick, der zustimmend nickte. „Das war Lily“, sagte sie und zögerte kurz. „Meine Tochter.“ Ronalds Augen schienen aus ihren Höhlen hervorzuquellen, so weit riss er sie auf. „Deine… deine was???“ „Meine Tochter“, wiederholte Carina und schluckte. „Sie ist jetzt fast einen Monat alt.“ Ronald glotzte sie fassungslos an. „Du hast dich schwängern lassen? Von wem?“ Carina runzelte irritiert die Stirn. „Du scheinst nicht überrascht zu sein. Also weißt du, dass Shinigami fruchtbar sind?“ Er nickte, was der Schnitterin irgendwie überhaupt nicht passte. „Na toll“, entgegnete sie genervt. „Und woher bitteschön? Im Unterricht wurde das nicht mit einem Wort erwähnt.“ „Nun ja“, sagte er und lächelte charmant, „ich habe da so einige Frauenbekanntschaften im Dispatch und bekomme dadurch so einiges mit.“ „Warum wundert mich das jetzt nicht?“, fragte sie trocken in die Runde, ohne überhaupt eine Antwort zu erwarten. „Du hast meine Frage von vorhin nicht beantwortet. Wer ist der Vater?“ Grell und Carina schwiegen eine Sekunde zu lang und prompt breitete sich Entsetzen auf der Miene des Shinigami aus, als die Erkenntnis ihn traf. „Nicht dein Ernst? Der verdammte Deserteur?“ „Wenigstens nennt er ihn nicht mehr Tattergreis“, dachte Carina, während sie sich auf die Unterlippe biss. Das wäre dann doch arg seltsam gewesen. „Glaub mir, Ronald, ich war auch überrascht“, erwiderte Grell trocken. „Nicht hilfreich, Grell“, stellte seine beste Freundin genervt fest. „Wie konntest du mit ihm ins Bett gehen? Nachdem, was er alles auf der Campania getan hat? Nachdem er dich sogar entführt hat?“ „Das… ist alles nicht so schnell erklärt“, begann sie unsicher und wurde gleich darauf von Ronalds sarkastischem Schnauben unterbrochen. „So wie ich das sehe hast du alle Zeit der Welt, um es mir zu erklären. Ist ja nicht so, als könnte ich weglaufen.“ Grell lachte und sogar Carina musste kurz schmunzeln. „Na schön“, sagte sie und setzte sich nun ebenfalls auf einen der Küchenstühle. „Dann fange ich am besten ganz von vorne an.“ Und das tat sie tatsächlich. Sie erzählte ihrem ehemaligen Klassenkameraden von ihrer Zeitreise, wie der Bestatter sie aufgenommen hatte und wie sie schließlich Selbstmord begangen hatte. Sie deckte auf, was wirklich während der Zeit ihrer “Entführung“ geschehen war, wie sie anschließend herausgefunden hatte, dass sie schwanger war und deswegen dem Dispatch den Rücken gekehrt hatte. Wie Grell und Alice ihr beigestanden hatten und nach den langen Monaten endlich Lily zur Welt kam. Ronalds Augen wurden von Minute zu Minute größer und als sie dann endlich zu dem Teil mit ihrem gemeinsamen Lehrer kam, verlor sein Gesicht alle Farbe. „Mr. Crow hat das alles wirklich getan?“, fragte er krächzend und sah bestürtzt die Narbe auf Carinas Rücken an, die sie ihm bereitwillig zeigte. „Ja, hat er. Ich war dabei“, sagte Grell wütend und knöpfte das schlichte Kleid der 19-Jährigen wieder zu. Er hatte immer noch das Gefühl innerlich zu explodieren, sobald er an dieses widerwärtige Schwein dachte. Ronald schluckte. „Jetzt kapiere ich es“, sagte er langsam und Carina runzelte irritiert die Stirn. „Was meinst du?“, fragte sie. „Na ja… Obwohl wir Shinigami nach Abschluss unserer Ausbildung körperlich nicht mehr älter werden, hast du dich doch sehr verändert. Der Ausdruck in deinen Augen, dein ganzes Auftreten… ist einfach viel erwachsener als damals.“ Er zuckte kurz mit den Schultern. „Kein Wunder, wenn man bedenkt, was du alles durchgemacht hast.“ Carina schwieg. Was sollte sie dazu auch sagen? Es stimmte, was der Todesgott sagte. Manchmal fühlte sie sich viel älter, als sie eigentlich war. „Und das mit der Zeitreise erklärt auch so einiges“, stöhnte er und ließ seinen Hinterkopf gegen die Stuhllehne fallen, als es ihm klar wurde. „Dass du dich gar nicht über die Existenz meines Rasenmähers gewundert hast. Oder dass du gesagt hast, ich solle gegenüber Grells Verhalten mehr Toleranz zeigen, weil so etwas in einem Jahrhundert normal sein wird.“ Die 19-Jährige nickte. „Ja, im Jahr 2015 ist es tatsächlich so.“ „2015… ich fasse es einfach nicht“, sagte Ronald, während Grell ein „Was freue ich mich schon darauf“ von sich gab. „Jetzt verstehst du vielleicht, warum Grell so reagiert hat. Er wollte dafür sorgen, dass der Dispatch weiterhin nichts von meinem Verbleib erfährt.“ Sie schaute ihn ernst an, aber auch ein wenig flehentlich. „Alles, was ich momentan will, ist hier in Frieden zu leben. Meine Tochter aufwachsen zu sehen und mit dem Mann zusammenzubleiben, den ich liebe. Kannst du das nicht verstehen?“ Die gelbgrünen Augen des jungen Mannes nahmen plötzlich einen seltsam bitteren Ausdruck an. „Doch“, sagte er und schaute zu Boden. „Das kann ich. Mehr, als du dir vielleicht vorstellen kannst.“ Für einen unglaublich kurzen Moment lag Carina die Frage auf der Zunge, was vor seinem Selbstmord passiert war, dass er bei diesem Thema so seltsam guckte. Aber sie verkniff es sich. Nichts davon ging sie etwas an. Eine ganze Minute herrschte angespanntes Schweigen, dann sagte Ronald schließlich: „Nur, dass ihr es wisst: Ich bin immer noch sauer, dass ihr gedacht habt ich würde gleich zu William rennen.“ Er seufzte. „Ihr könnt die Fesseln abmachen. Ich werde niemandem etwas verraten, versprochen.“ Carina und Grell wechselten einen ernsten Blick miteinander. Die Blondine beugte sich ein Stück vor, sodass ihr Gesicht dicht vor Ronald schwebte. „Können wir dir vertrauen?“, fragte sie leise und der junge Mann tat das, was er oft tat. Er lächelte charmant, wenn auch ein wenig zurückhaltender als früher. „Ich weiß nicht, ob es dir schon aufgefallen ist, Carina, aber es hatte einen Grund warum ich dich immer wieder nach einem Date gefragt habe. Ich mag dich.“ Er blickte ihr stur in die Augen. „Ich habe keinerlei Interesse daran, dass du in Schwierigkeiten kommst. Wirklich nicht.“ Die Schnitterin hatte ihm während seinem Vortrag ununterbrochen in die Augen gesehen und nicht eine einzige Lüge darin entdeckt. Ein erleichterter Laut entfuhr ihren Lippen. „Gut“, antwortete sie leise und lächelte. Ein kurzer Blick zu Grell genügte und er zückte den Schlüssel, um die Ketten zu lösen. Ronald stöhnte im wahrsten Sinne des Wortes befreit auf, als er seine Arme wieder vollständig bewegen konnte. „Ich mag dich auch, Ronald. Nicht im Sinne von Liebe, aber als Kamerad. Bitte lass mich diese Entscheidung nicht bereuen.“ Der junge Todesgott lächelte ebenfalls und ergriff die ihm dargebotene Hand. „Keine Sorge, ich kann meinen Mund halten. Außerdem war ich schon immer der Meinung, dass Regeln dazu da sind, um auch mal gebrochen zu werden. Dem Dispatch ein wenig auf der Nase herumzutanzen kann ganz gewiss nicht schaden.“ Grell brach in Gelächter aus. „Der Meinung bin ich seit fast einem Jahrhundert, Schätzchen“, sagte er. Ihr neuer Verbündeter schaute seine ehemalige Kollegin mit erhobener Augenbraue an. „Und den hast du wirklich zum Patenonkel deiner Tochter gemacht? Sicher, dass das eine kluge Entscheidung war?“ „Vorsicht, Bürchschen“, wiederholte sie Cedrics Worte von vorhin, jedoch mehr in einem amüsierten Tonfall. „Allerdings gibt es da immer noch ein klitzekleines Problem“, warf Ronald plötzlich in den Raum, ohne auf Carinas Worte einzugehen. „Wie soll ich William diese Platzwunde an meinem Kopf erklären? Sie wird zwar bis spätestens morgen verheilt sein, aber so lange kann ich mit meiner Berichterstattung nicht warten.“ „Stimmt, das würde nur unnötigen Verdacht erregen“, murmelte Carina. „Und nachdem, was Grell mir alles erzählt hat, ist William momentan sowieso nicht in bester Stimmung, richtig?“ „Du hast ja keine Ahnung“, stöhnte Ronald. „Jetzt macht euch mal locker“, sagte Grell ruhig und zuckte einmal abtuend mit den Schultern. „Ich sage ihm einfach, dass es meine Schuld war, das reicht William doch meistens schon aus. Ich habe dir bei einer besonders hartnäckigen Seele geholfen und habe dich dann einfach aus Versehen am Kopf erwischt.“ Carina runzelte die Stirn. „Und das ist in Ordnung für dich? William wird ganz sicherlich nicht begeistert sein.“ Grell lächelte müde und zuckte nochmals mit den Schultern. „Ich bin es ja inzwischen gewohnt.“ „Na, wenn das so ist“, meinte Ronald und grinste, nun wieder bestens gelaunt. „Dann mach ich mich mal auf den Weg. Du solltest dich dann aber vielleicht für später bereit halten, werter Kollege“, sprach er Grell an. „William wird sicherlich mit dir sprechen wollen.“ Grell grinste nun auch und zwinkerte dem Jüngeren einmal spielerisch zu. „Wenigstens etwas Gutes an der ganzen Sache.“ Der junge Schnitter verdrehte kurz die Augen und wandte sich der Tür zu, blieb dann aber noch einmal stehen, um sich gleich darauf noch ein letztes Mal Carina zuzuwenden. „Darf ich… dich denn vielleicht ab und zu besuchen? Um zumindest in Kontakt zu bleiben?“ Die 19-Jährige blinzelte einmal, dann breitete sich ein Lächeln auf ihren Lippen aus. „Das würde mich freuen, Ronald.“ Angesprochener lächelte nun ebenfalls, zwinkerte ihr kurz zu und verschwand im nächsten Moment durch die Tür. Wenige Sekunden später verkündete die Türglocke sein Verlassen des Bestattungsinstituts. Sofort stieß Grell ein lautes, erleichtertes Seufzen hervor. „Großer Gott, da haben wir noch einmal Glück gehabt.“ „Du sagst es“, erwiderte Carina und schloss erschöpft die Augen. Dieses Gespräch hatte sie deutlich mehr Nerven gekostet als der Mist, der davor passiert war. „Wir können wirklich froh sein, dass es Ronald war und nicht William. Grell, es tut mir wirklich leid, dass du jetzt dafür den Kopf hinhalten musst.“ Der Rothaarige winkte ab. „Mach dir darüber mal keine Sorgen. Das macht mir wirklich nichts aus. Ich würde wirklich alles tun, um dich und mein Patenkind zu schützen.“ Die junge Mutter lächelte gerührt und wollte sich gerade vom Stuhl erheben, als Cedric in die Küche kam. Seine Augen richteten sich sofort auf den nun leeren Platz, wo bis vor kurzem noch Ronald gesessen hatte, und nahmen einen finsteren Ausdruck an. „Ihr habt ihn gehen lassen?“, stieß er wütend hervor und funkelte die anderen beiden Shinigami im Raum abwechseln an. „Ja, haben wir“, erwiderte Carina, die sich von den Blicken des Silberhaarigen nicht mehr einschüchtern ließ. Er würde sich daran gewöhnen müssen, dass sie nicht immer nach seiner Pfeife tanzte. „Und mit welcher Begründung bitteschön?“, fragte er gefährlich leise, woraufhin sich auf Grells Stirn ein dünner Schweißfilm bildete. Carina jedoch zuckte nicht mit der Wimper, kam lediglich innerlich ein wenig ins Schwitzen. „Weil er uns nicht verraten wird“, antwortete sie ruhig. „Und bevor du fragst: Ja, ich bin mir sicher. Ich kenne Ronald, er wird uns nicht ans Messer liefern.“ „Wie kannst du dir da so sicher sein?“ „Ich möchte ihm vertrauen.“ „Du möchtest ihm also vertrauen, ja? Das bedeutet im Umkehrschluss, dass du es noch nicht zu hundert Prozent tust?“ Carina zögerte kurz, doch das reichte dem Bestatter bereits. „Ich hoffe, du kannst es verantworten, wenn heute noch ein ganzes Dutzend Shinigami hier auftaucht“, schleuderte er ihr entgegen. Trotz regte sich in der jungen Frau. „Das wird nicht passieren. Und weißt du auch warum? Weil weder ich, noch Ronald jemanden direkt über die Klinge springen lassen.“ Grells Blick wechselte von Satz zu Satz zwischen den beiden Streitenden hin und her. Herrje, und diese beiden waren wirklich seit heute morgen ein Paar? Offiziell zumindest, denn eigentlich gehörten sie inoffiziell schon viel länger zueinander. Na ja, aber wie hieß es so schön? Gegensätze zogen sich scheinbar wirklich an. Und es gab ja immer noch so etwas wie Versöhnungssex. „Jetzt beruhigt euch doch mal. Undy, Carina hat Recht. Ronald wird uns nicht verraten, dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Niemals könnte der Junge so überzeugend lügen.“ Doch der Undertaker ignorierte Grell eiskalt. „Hat der Bursche dir schöne Augen gemacht oder warum bist du so von ihm überzeugt?“, knurrte er, woraufhin Carina ihn mit erhobenen Augenbrauen ansah. Ohne, dass sie es verhindern konnte, entwich ihr ein Lachen. „Kann es sein, dass du eifersüchtig bist, Cedric?“ Sie lachte erneut, doch jeglicher weitere Laut blieb ihr abrupt im Hals stecken, als der Vater ihrer Tochter sie am Oberarm packte und sie näher an sich zog, sodass sie nun zu ihm hinauf sehen musste. „Überspann den Bogen nicht, Carina.“ Eine deutliche Warnung lag in seiner Stimme. „Okay“, sagte Grell langsam, „ich glaube, ich gehe dann mal besser. Bis morgen, Carina.“ Angesprochene brummte einmal zustimmend, wandte ihren Blick aber zu keiner Sekunde von dem Silberhaarigen ab. Erst, als auch ihr bester Freund das Institut verlassen hatte, wandte sie sich von Cedric ab und machte Anstalten die Treppe nach oben hinaufzugehen. „Wo willst du hin?“, fragte er und Carina konnte seinen verblüfften Blick auf sich spüren. „Ich gehe Lily stillen. Und nein, diese kindische Diskussion werde ich nicht fortführen.“ „Ach, ich bin kindisch? Weil ich mir Sorgen um unsere Sicherheit mache?“ „Nein“, fauchte die Blondine und drehte sich auf der Treppe um, die Wut stand ihr nun klar und deutlich ins Gesicht geschrieben, „deine Eifersucht auf jemanden, den ich bestimmt an die hundert Mal abgewiesen habe, ist kindisch. Genauso wie die Tatsache, dass du meinem Urteilsvermögen anscheinend kein Stück vertraust.“ Jetzt explodierte sie richtig. „Ich mag jung sein, viel jünger als du, das stimmt. Aber jung ist nicht gleich dumm. Und glaubst du nicht vielleicht, dass dieses ganze Dutzend Shinigami, von dem du eben gesprochen hast, schon längst hier wäre, wenn Ronald uns verraten hätte?“ „Ich habe nie gesagt, dass du dumm bist, ganz im Gegenteil“, erwiderte der Bestatter, dessen Augen sich etwas geweitet hatten, aufgrund dieses plötzlichen Wutausbruchs. „Nur unvorsichtig.“ „Ist das in diesem Fall nicht dasselbe?“, schnaubte sie und ging jetzt tatsächlich nach oben. Musste Cedric ihr denn immer wieder vor Augen führen, dass er alles so viel besser konnte als sie? In einer Beziehung sollte man doch auf einer gemeinsamen Ebene stehen. Aber seit sie in das Bestattungsinstitut zurückgekehrt war, kam sich die Blondine von Tag zu Tag nutzloser vor. Natürlich, sie kümmerte sich um Lily und den Haushalt, aber das war nie in ihrem gesamten Leben ihr Ziel gewesen. „Ich wollte immer eine Familie, ja. Aber eine einfache Hausfrau werden wollte ich ganz sicher nicht.“ Sobald die Sache mit Samael überstanden war und Lily ein wenig älter sein würde, würde sie sich um einen neuen Job bemühen. Sie hatte zwar noch überhaupt keine Vorstellung davon in welche Richtung das Ganze gehen sollte, aber irgendetwas würde sich schon finden lassen. „Und es ist mir wirklich scheißegal, was Cedric davon hält“, dachte sie zornig. Dieser stand immer noch in der Küche, an genau der gleichen Stelle wo Carina ihn zurückgelassen hatte. Mittlerweile tat ihm seine letzte Reaktion ein wenig leid. Sicherlich, die junge Frau hatte für die beiden Aktionen von heute Mittag definitiv eine kleine Strafe verdient, aber dass er ihre Entscheidung nicht respektiert und sie im Zuge dessen nicht ernst genommen hatte, war im Nachhinein betrachtet deutlich sein Fehler gewesen. Außerdem hatte sie Recht gehabt. Hätte der Grünschnabel sie verraten, dann wäre längst eine halbe Armee an Todesgöttern hier aufgetaucht, um ihn und Carina festzunehmen. Ein kleines Lächeln bildete sich auf seinen Lippen. Carina und er waren nun einmal beide Sturköpfe, solche Streitigkeiten würden also immer wieder mal vorkommen. Nicht, dass ihn das großartig störte, denn so wurde es zumindest niemals langweilig. Zudem war er es selbst einfach nicht gewohnt, dass man sich über seine Meinung hinwegsetzte. Immerhin konnte er sehr deutlich werden, wie es die Kämpfe auf der Campania bereits bewiesen hatten. „Ich sollte mich nachher bei ihr entschuldigen, wenn sie wieder runter kommt“, dachte er und räumte ein wenig in der Küche auf, bevor er sich an den Tisch setzte und ein paar neue Einträge in sein Notizbuch vornahm. Carina kam allerdings nicht runter. Nach gut einer Stunde – es war inzwischen 20 Uhr – begann der Bestatter sich Sorgen zu machen. Gut, sie war wütend gewesen, aber gleich so wütend? „Carina?“, rief er fragend nach oben, erhielt jedoch keine Antwort. Jetzt verwandelte sich die Sorge in Panik. Automatisch fragte er sich ob es möglich war, dass Samael sich hier Zutritt verschaffte, ohne dass er selbst es mitbekam. „Nein, so mächtig ist nicht einmal er“, dachte Cedric, ging aber dennoch mit schnellen Schritten die Treppe hoch. Doch als er einen Blick ins Schlafzimmer warf, lösten sich all seine Sorgen in Luft auf. Ein sanfter Ausdruck huschte über sein Gesicht, als er Carina tief und fest schlafend auf dem Bett vorfand, in ihren herabgesunkenen Händen ein aufgeschlagenes Buch. Nicht einmal umgezogen hatte sie sich. Der Tag schien sie mehr geschafft zu haben, als er vermutet hatte… Mit einem leises Lachen trat er an das Bett heran und nahm ihr das Buch ab, um es auf dem kleinen Nachttischen abzulegen. Dann rüttelte er sanft an ihrer Schulter. „Carina, zieh dich wenigstens noch um. Du willst doch nicht die ganze Nacht in diesen Sachen schlafen, oder?“, sagte er zu der jungen Frau, die nun blinzelnd und vollkommen desorintiert aufwachte. Sie brummte etwas Unverständliches, erhob sich vom Bett und zog sich mit unkoordinierten Bewegungen – immer noch im Halbschlaf – um. Der Silberhaarige schlug die Bettdecke zurück, sodass sie eine Minute später ohne Probleme darunter schlüpfen konnte. „Es tut mir leid, was ich gerade eben gesagt habe. Ich habe ein wenig überreagiert.“ „Schon gut“, murmelte sie und schloss wieder die Augen, grub sich gleichzeitig tiefer in die Decke ein. „War ja auch nicht ganz unschuldig daran…“ „Ja, allerdings“, erwiderte er und grinste, denn die Blondine schlief bereits wieder tief und fest. Er drückte ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn und verließ auf leisen Sohlen das Schlafzimmer. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, dass Carina heute so früh ins Bett gegangen war, dachte der Undertaker und sein Grinsen wurde eine Spur breiter. Sie würde ihre Kraft für morgen definitiv brauchen… Carina erwachte bereits sehr früh am nächsten Morgen. Kein Wunder, sie hatte so viel geschlafen wie schon lange nicht mehr. Dunkel erinnerte sie sich daran, dass Cedric sich bei ihr entschuldigt hatte und dass er die beiden Male, als Lily in der Nacht aufgewacht war, zu ihr gesagt hatte, dass sie liegen bleiben und das Baby ihm überlassen sollte. Sie lächelte und schaute auf den Mann an ihrer Seite hinab, der nach wie vor schlief. Vorsichtig gab sie ihm einen Kuss auf die Schläfe und erhob sich dann lautlos, um schon ein paar Sachen zu erledigen. Heute Mittag würde sie immerhin keine Zeit dazu haben, denn dann würde sie erst einmal mit Grell zusammen zurückgehen und die Sache mit Emmas Ehemann klären. Sie war ja schon gespannt darauf zu erfahren, was hinter seinem Selbstmordversuch steckte. Grundsätzlich konnte sie sich viele Sachen vorstellen, aber fast jedes Problem ließ sich doch irgendwie lösen. „Es sei denn, er hat eine unheilbare Krankheit oder so…“ Das wäre wohl wirklich das Worst Case Szenario und im Sinne von Emma und ihrem ungeborenen Kind hoffte Carina, dass das nicht zutraf. In Gedanken über die möglichen Ausgänge der Situation versunken, erledigte Carina nach und nach die Aufgaben, die sie sich für heute vorgenommen hatte. Sie wusch die Wäsche, hängte die alte ab – um anschließend gleich neue aufzuhängen – putzte kurz durch den Eingangsbereich, in dem sich bereits wieder eine beachtliche Menge an Staub angesammelt hatte und ging anschließend kurz nach oben, um zuerst sich und dann Lily zu baden. Nachdem das kleine Mädchen sauber, satt und wieder tief schlafend in ihrer Wiege lag, ging die 19-Jährige auf direktem Weg in die Küche, um das Frühstück fertig zu machen. Cedric würde sicherlich nicht mehr lange auf sich warten lassen und ein wenig sollte es auch Wiedergutmachung für den gestrigen Tag sein. „Er macht ja schon einiges mit mir mit“, dachte sie sich und deckte in aller Seelenruhe den Esstisch. Gerade als sie die letzte Zutat ablegte, schlangen sich zwei Arme um ihren Bauch und zogen sie nach hinten, gegen einen harten Oberkörper. „Guten Morgen“, wisperte Cedric ihr mit rauer Stimme ins Ohr und eine Gänsehaut breitete sich in ihrem Nacken aus. Leicht wandte sie den Kopf und erkannte, dass der Bestatter nichts weiter trug als seine Unterwäsche. Augenblicklich wurde ihr Hals eine Spur trockener. Hmmm, das war doch mal ein genüßlicher Anblick so früh am Tag… „Guten Morgen“, antwortete sie und nahm gerne den Kuss in Empfang, den der Silberhaarige ihr auf den Mund drückte. „Möchtest du frühstücken? Ich bin gerade fertig geworden.“ Seine gelbgrünen Augen schweiften kurz über den Tisch und wanderten dann wieder zurück zu der jungen Frau, die sich nun in seinen Armen herumdrehte, um sich nicht den Nacken verrenken zu müssen. „Ehrlich gesagt habe ich gerade Hunger auf etwas ganz anderes“, raunte er ihr leise ins Ohr und küsste sie erneut auf den Mund, dieses Mal allerdings wesentlich fester und besitzergreifender. Carina keuchte leise in seinen Mund hinein und klammerte sich an seinen Oberarmen fest, während sein Körper sie dichter gegen die Tischkante drängte. Verlangen und Begierde stand beiden Todesgöttern nun überdeutlich ins Gesicht geschrieben. Sie warf ihm einen wissenden Blick zu und stieß ihre Hüfte nach vorne, direkt gegen seine wachsende Erektion. Ein leises Grollen entwich daraufhin seinen Lippen, während er die Geste erwiderte und sich an ihr rieb. Auf der Stelle fühlte die Schnitterin, wie sie feucht wurde. „Nicht“, keuchte sie und löste sich schwer atmend von dem Silberhaarigen, „nicht hier, Cedric.“ „Sag das doch gleich“, raunte er ihr ins Ohr, denn bei ihrem ersten Wort hatte er fast schon befürchtet, dass sie dieses nette Spielchen nicht weiterführen wollte. In einer fließenden Bewegung packte er mit beiden Händen ihren Po und hob sie hoch. Sogleich schlang sie haltesuchend ihre Beine um ihn und stöhnte, als seine Hände begannen das feste Fleich ihres Hinterns zu kneten. „Schlafzimmer. Jetzt“, zischte sie in sein Ohr und atmete erleichtert auf, als er keine Sekunde zögerte und mit ihr auf den Armen begann die Treppe nach oben hochzugehen. Zufrieden vergrub sie ihr Gesicht in seinem Nacken und sog den unvergleichlichen Duft ein, der Cedric anhaftete. Dabei übersah sie allerdings auch leider das diebische Grinsen auf seinem Gesicht. Oh, sie hatte ja keine Ahnung, was er heute noch alles mit ihr anstellen würde… Kapitel 81: Bestrafung ---------------------- Carinas Rücken krachte mit Nachdruck gegen eine der Wände im Flur, während Cedric und sie sich immer noch eng umschlungen küssten. Ihre Lippen und Zungen streichelten einander, suchten die Nähe zu ihrem Gegenstück. Gott, wenn das so weiterging, dann würden sie es doch nicht mehr bis ins Schlafzimmer schaffen… Blind begann sie mit ihrer Hand nach links zu tasten, irgendwo hier musste doch der verdammte Türknauf sein! Nach wenigen, aber dafür ungeduldigen Sekunden ergriffen ihre Finger endlich den gesuchten Gegenstand und drehten ihn sogleich in die gewünschte Richtung. Es quietschte leicht, als die Tür aufsprang, aber keiner der beiden störte sich daran. „Cedric“, flüsterte sie ihm heiser ins Ohr und spürte gleich darauf, wie sich sein Griff um sie verfestigte. Im nächsten Augenblick hob er sie von der Wand weg und stolperte – mehr schlecht als recht – mit ihr durch die Schlafzimmertür, die er bereits beim nächsten Schritt nach vorne mit einer geschickten Bewegung seines anderen Fußes hinter ihnen schloss. „Oho“, grinste Carina und hauchte ihm ihren Atem neckend in die Halsbeuge, „da hat jemand ungeahnte Talente.“ Ein spitzbübisches Grinsen empfing sie, als sie ihm kurz darauf wieder ins Gesicht sah. „Ich habe viele Talente“, entgegnete er und durchquerte mit langsamen Schritten den Raum, „und ich verspreche dir, ich werde sie dir nach und nach alle zeigen“, gab er ihr das verheißungsvolle Versprechen und ließ sie noch in derselben Sekunde los, sodass sie rückwärts aufs Bett fiel. Die 19-Jährige schaute zu dem Bestatter auf, der mit seinen vor Lust verdunkelten gelbgrünen Augen auf sie hinab sah. Aufgeregte Nervosität ergriff Besitz von ihr. Wobei es eigentlich keine wirkliche Nervosität war. Viel mehr so eine Art Nervenkitzel, der ihr Herz vorfreudig flattern ließ und ihr sehr eindringlich vor Augen führte, dass sie dieses kleine Spielchen mit ihm bis in die letzte Faser genoss. Ihre eigenen Augen glitten langsam an seinem muskulösen Oberkörper hinab, um schließlich die schwarze Unterhose zu fixieren, unter deren Stoff sich bereits sehr deutlich seine Erektion abzeichnete. Sie kreuzte ihren Blick erneut mit dem seinen und biss sich sanft auf die Unterlippe, weil sie ganz genau wusste, dass ihm das gefiel. Die phosphoreszierenden Pupillen wurden, wenn möglich, noch dunkler. „Zieh dich aus“, raunte er und der Befehlston in seiner Stimme war so energisch, dass Carina nicht eine Millisekunde darüber nachdachte seiner Aufforderung nicht Folge zu leisten. In einer flüssigen Bewegung zog sie sich das Kleid über den Kopf und ließ es neben dem Bett zu Boden sinken. Nur noch mit ihrer Unterwäsche und einem dünnen Unterhemd bekleidet, setzte sie sich auf dem Bettlaken auf und warf dem Undertaker einen leicht provokanten Augenaufschlag zu. Zeitgleich fand das Unterhemd ebenfalls den Weg auf den Boden. So schnell sie den Großteil ihrer Bekleidung losgeworden war, desto betont langsamer öffnete sie nun ihren BH und streifte ihn von den Schultern. Dabei entging ihr keinesfalls das kurze Zucken seiner Fingerspitzen. Scheinbar musste der Silberhaarige stark an sich halten, um ihr beim Ausziehen nicht behilflich zu sein. Ein leises Lachen rollte über ihre Lippen. „Das auch“, sagte er und deutete auf ihren Slip, während er nun selbst das letzte Stück Stoff herunterzog, das seinen Körper noch bedeckte. Sein steifes Glied sprang sofort hervor und Carina unterdrückte erfolgreich das Bedürfnis sich über die Lippen zu lecken. Lasziv legte sie sich wieder auf den Rücken und hob die Hüfte an, um sich die hellblaue Unterhose von den Beinen zu streifen – natürlich ebenso langsam wie bereits zuvor ihre restlichen Kleidungsstücke. „Schon seltsam“, dachte sie kurz und warf den Slip ebenfalls über den Bettrand. Wenn sie daran dachte, wie nervös und angespannt sie noch vor einem Jahr beim Sex gewesen war, dann hatte sie sich in dieser Hinsicht wirklich weiterentwickelt. Die Nacktheit in seiner Gegenwart war zu so etwas Natürlichem für sie geworden, dass sie gar nicht mehr weiter darüber nachdachte. Die Schnitterin blickte wieder auf und was sie da sah, schickte ihr sofort eine heftige Hitzewelle über den gesamten Körper. Der Silberhaarige hatte seine rechte Hand um seine Erektion gelegt und rieb sich selbst. Mit harten und schnellen Bewegungen glitten seine Finger über seinen Schaft, während bereits die ersten Spermaspuren an seiner Spitze zu sehen waren. Oh Gott, sie hatte noch nie in ihrem Leben so etwas Heißes gesehen… Augenblicklich fühlte Carina, wie es zwischen ihren nackten Schenkeln nass wurde. Unruhig presste sie sie daraufhin zusammen, was Cedric allerdings nicht verborgen blieb. „Fass dich an“, knurrte er mit kehliger Stimme und die 19-Jährige spürte, wie sie rot wurde. Sich ohne Scham nackt auszuziehen war eine Sache, aber sich vor ihm selbstzubefriedigen… Sie zögerte und das fiel auch dem Mann vor ihr auf. „Jetzt“, zischte er mit Nachdruck und warf ihr einen Blick zu, dessen Aussage nicht deutlicher hätte sein können. Zwing mich nicht dazu, zu dir runterzukommen. Nicht, dass Carina das an sich großartig gestört hätte. Bisher hatte sie es jedes Mal genossen, wenn der Todesgott auf ihr gewesen war. Oder in ihr. Aber sie wusste, dass er sie jetzt zappeln lassen würde, sollte sie seinem Befehl nicht nachkommen. Denn das war es. Keine Bitte, kein gutgemeinter Ratschlag. Ein Befehl. Und Carina, die im normalen Alltag niemals einen Befehl von ihm entgegengenommen hätte, spreizte die Beine und legte zaghaft die rechte Hand auf ihre Mitte. Mit dem linken Ellbogen stützte sie sich auf dem Bett ab, sodass ihr Oberkörper leicht angehoben war und sie den Totengräber besser ansehen konnte. Tastend strich sie über ihre Weiblichkeit und versenkte gleich darauf langsam einen Finger in der pochenden Hitze. Ihre Augen verließen dabei keine Sekunde seine Hand, die immer noch im stetigen Rhythmus sein Glied pumpte, und kurz stellte sie sich vor, dass es seine Finger waren, die gerade in sie eindrangen. Mit einem leisen Stöhnen stieß sie den zweiten Finger in sich hinein. Cedric musste sich schwer zusammenreißen, um nicht einfach doch zu ihr auf das Bett zu klettern und sich das zu nehmen, was allein ihm zustand. Der Anblick, wie Carina es sich selbst besorgte, war das Erregendste, was er jemals gesehen hatte. Sein Penis war mittlerweile so hart, dass es schmerzte. Aber er würde sich in Geduld üben. Am Ende dieses ganzen Spielchens würde es das wert gewesen sein, das wusste er. Es war schon lange her, dass sie sich selbst angefasst hatte, daher hatte Carina beinahe vergessen, wie gut sich das anfühlen konnte. Nicht mit dem zu vergleichen, was Cedric mit ihr tat, aber dennoch äußerst befriedigend. Ihre Augen schlossen sich automatisch, als sie die beiden Finger tiefer gleiten ließ und erneut biss sie sich auf die Lippe. Wollte Cedric, dass sie das länger tat? Denn wirklich lange würde sie das definitiv nicht mehr durchhalten. „Mach die Augen auf. Sieh mich an.“ Erneut gehorchte sie. „Du bist heute recht bestimmend, kann das sein?“, murrte sie leise. Im Leben würde sie nicht zugeben, dass sie das schon ein wenig anmachte – jedenfalls, was den Sex anging. Der Bestatter grinste. „Ich kann noch viel bestimmender werden“, antwortete er und stellte die Bewegungen seiner rechten Hand ein, um kurz darauf ihr Handgelenk zu ergreifen, sodass sie ebenfalls gezwungen war ihre Aktivitäten einzustellen. Er beugte sich vor und drückte ihr einen harten Kuss auf die Lippen, den die 19-Jährige umgehend erwiderte. Neckend biss sie ihm in die Unterlippe, um gleich darauf entschuldigend daran zu saugen. Cedric stöhnte verlangend in den Kuss hinein, was eine Art Vibration durch ihren Mund sandte. Der Druck in ihrem Unterleib wurde nun beinahe schmerzhaft. Scheinbar war auch Cedric langsam am Ende seiner Geduld angelangt. „Dreh dich um“, murmelte er ihr leise ins Ohr und sofort musste Carina an das Weston College und den Schreibtisch des Direktors denken. Auch, wenn es sie damals gestört hatte, dass sie nicht in sein Gesicht hatte gucken können, hatte es ihr dennoch sehr gefallen. Es konnte ja nicht schaden die Erinnerung daran ein wenig aufzufrischen… Sie rutschte ein wenig nach oben, sodass der Todesgott sich vor sie auf das Bett knien konnte, und drehte sich dann herum. Jetzt, auf Händen und Knien, fiel ihr abrupt wieder ein, was ihr an dieser Position zusätzlich nicht sonderlich gefallen hatte. In dieser Stellung war sie dem Mann, der sich nun über sie beugte, beinahe schon hilflos ausgeliefert. Es brachte eine gewisse Unsicherheit mit sich und sie gab die Kontrolle über die Situation vollständig an ihn ab. Etwas, was ihr eigentlich ganz und gar nicht behagte. Seine silbernen Haare fielen über ihren Rücken und ihre Schultern, als er sie sanft im Nacken küsste. Eine Gänsehaut kroch über ihren Körper und es wurde noch schlimmer, als er begann sich langsam an der langen Narbe hinabzuarbeiten, die ihren Rücken nun zierte. Gleichzeitig fuhren seine Hände kurz zu ihren Brüsten, berührten sie federleicht und mit aller Vorsicht. Scharf zog sie die Luft ein, entspannte sich dann aber schnell und genoss die zärtlichen Berührungen seiner Finger, die anschließend nach unten wanderten und immer wieder über ihre Hüften fuhren, kleine Kreise zogen und ab und zu spielerisch in das empfindliche Fleisch zwickten. Carina drückte sich seinen Kuss- und Streicheleinheiten entgegen und als sie dabei mit ihrem Hintern seine Erektion streifte, packte er mit beiden Händen fest ihre Hüfte, sodass sie sich nicht mehr vom Fleck rühren konnte. „Cedric, bitte“, keuchte sie ungeduldig. „Bitte was?“, fragte er zurück und sie konnte das Grinsen in seiner Stimme praktisch hören. „Fick mich“, schoss es ihr durch den Kopf, aber das würde sie niemals laut aussprechen. So viel Stolz hatte sie noch. „Du weißt genau was“, erwiderte sie stattdessen und keuchte erneut auf, als sie plötzlich sein Glied spürte, das an ihrer feuchten Mitte entlang rieb und sie damit fast in den Wahnsinn trieb. „Du bist dir sicher, dass ich weitermachen soll?“ „Ja, verdammt“, presste sie hervor und hörte ihn gleich darauf leise hinter sich lachen. „Gut, wie du willst.“ Sie schloss die Augen, in freudiger Erwartung auf das Gefühl, was sich einstellen würde, wenn er jetzt gleich in sie eindrang. Stattdessen aber fühlte sie einen schwachen Luftzug auf ihrer erhitzten Haut, gefolgt von einem seltsam klatschenden Geräusch. Kurzzeitig verwirrt runzelte sie die Stirn, doch als sich dann plötzlich ein brennender Schmerz auf ihrer rechten Kehrseite ausbreitete, verstand auch Carina was da gerade passiert war. Sie riss die Augen wieder auf. „Was zum…“, rief sie und wollte sich aufrichten, doch der Undertaker ließ sie gar nicht erst so weit kommen. Seine linke Hand drückte sich mit einem Mal erbarmungslos in ihr Kreuz und beförderte sie nach unten aufs Bett, sodass ihr Oberkörper nun flach auf dem Laken lag, sie aber immer noch kniete und ihr Po somit halb in der Luft hing. Ehe Carina auch nur ein weiteres Wort sagen konnte, traf seine flache Hand sie erneut, dieses Mal allerdings auf die linke Seite. Ein erschrockener Schmerzenslaut entfuhr ihr. „Hör sofort auf damit“, protestierte sie laut, mit unüberhörbarer Wut in der Stimme. Abermals wollte sie sich aufrichten, aber der Bestatter ließ seine Hand in ihrem Rücken liegen und auch der Druck wurde zu keiner Sekunde weniger. Selbstständig würde sie sich nicht aus dieser Position befreien können. „Na na“, tadelte er sie leicht und beugte sich zum wiederholten Male am heutigen Tag dicht über sie. „Hast du etwa schon vergessen, was ich dir in diesem Bunker gesagt habe?“, raunte er ihr mit seiner dunklen, tiefen Stimme ins Ohr und Carina erstarrte, als sie sich an eine ganz bestimmte Situation zurückerinnerte. „Dafür… versohle ich dir den Hintern.“ Die junge Frau spürte, wie ihr Gesicht alle Farbe verlor. „Das wagst du nicht“, zischte sie und kassierte dafür sofort den nächsten Klaps. „Au“, entkam es ihr instinktiv und fassungslos krallte sie ihre Fingernägel in das Bettlaken unter sich. „Glaubst du, du bist gerade in der richtigen Position, um so etwas zu sagen?“, meinte er belustigt und streichelte langsam über die gerötete Haut ihres Hinterns, während seine Erektion nun wieder über ihre Mitte und somit auch über ihre Klitoris hinweg glitt. Der Schmerz auf ihrer Kehrseite vermischte sich mit der Lust zwischen ihren Schenkeln. „Ich habe mich dafür entschuldigt“, krächzte sie schnell, um einem erneuten Hieb zuvorzukommen. „Trotzdem halte ich immer meine Versprechen“, wisperte er an ihrem Hals, „und das war definitiv eines.“ Triezend biss er ihr in die Halsbeuge und nahm gleich darauf wahr, wie sie unter ihm erzitterte. „Außerdem“, fuhr er fort und richtete sich wieder ein wenig auf, um ihren Körper besser im Blick zu haben, „hast du mit deinem Verhalten am gestrigen Tag nicht wirklich dazu beigetragen, dass ich die ganze Angelegenheit vergesse. Eine kleine Tracht Prügel kann also sicherlich nicht schaden, um dir ein paar Manieren beizubringen.“ Carinas Wangen verfärbten sich rot, einerseits vor Scham und andererseits ganz eindeutig vor Wut. Er wollte sie also wirklich maßregeln wie ein kleines Kind? Wenn er sie demütigen wollte: das hatte er geschafft! Und obwohl Carina es eigentlich besser wissen müsste, konnte sie dennoch nicht den Mund halten. „Du Mistkerl“, knurrte sie in seine Richtung und presste im nächsten Moment in Erwartung eines weiteren Schlages die Lippen zusammen, der auch prompt kam. Zur selben Zeit rieb er sie wieder mit seinem Glied zwischen den Schenkeln, was den brennenden Schmerz zwar abmilderte, aber nicht überdeckte. Die Haut fühlte sich heiß an, sicherlich erstrahlte ihr Po mittlerweile in verschiedenen Rottönen. Sie konnte sich bildlich vorstellen, wie Cedric hinter ihr zufrieden grinste. „Was habe ich dir gerade über Manieren gesagt?“, fragte er und beobachtete fasziniert, wie der Körper der Schnitterin vor lauter Reizüberflutung bebte. Die Feuchtigkeit ihrer Weiblichkeit befand sich mittlerweile auf seinem Schaft und die Hitze, die von ihrem Geschlecht ausging, ließ zu keiner Sekunde nach. „Also hatte ich doch Recht“, dachte er und lächelte süffisant. Schmerz tat dem Verlangen der Blondine keinerlei Abbruch. Es machte das Ganze für sie viel eher noch intensiver. Ohne weiter zu zögern, hob er nunmehr zum fünften Mal die Hand und schlug zu – weiterhin nicht mit voller Kraft, aber dennoch so, dass es einen bleibenden Eindruck bei ihr hinterlassen würde. Sicherlich würde sie heute und auch morgen nicht richtig sitzen können… Eine Mischung aus einem Keuchen und Wimmern drang über ihre Lippen und sorgte dafür, dass sein ohnehin schon dünner Geduldsfaden endgültig riss. Er nahm seine linke Hand weg von ihrem Rücken, um sie im nächsten Augenblick zusammen mit seiner rechten beherzt an ihre Hüfte zu legen. Ohne weitere Vorwarnung drang er mit einem einzigen, harten Stoß in sie ein, füllte sie komplett aus und sein Stöhnen vermischte sich sogleich mit dem ihren. Die junge Frau krallte ihre Finger so fest ins Bett, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Obwohl sie wütend auf ihn war, konnte sie trotzdem den Drang nicht unterdrücken, ihr Becken dichter an seines zu drängen, um ihn noch tiefer in sich zu spüren. Scheiße, sie war mittlerweile so erregt, dass sie kaum noch klar denken konnte. Daher sah sie seine nächste Aktion ebenso wenig kommen, wie schon zuvor den ersten Schlag gegen ihre Kehrseite. „Glaub ja nicht, dass ich schon mit dir fertig bin“, ertönte es über ihr, unverwechselbar amüsiert. „Hngh“, entfuhr es Carina gequält, als eine seiner Hände ein weiteres Mal hinabfuhr und auf die empfindliche Haut ihres Hinterns traf. Cedric – der sich bisher nicht in ihr bewegt hatte – stöhnte erneut verlangend auf, als sie sich unter ihm verkrampfte und ihre Wände sich dadurch automatisch enger um sein Glied schlossen. „Du bist verdammt eng“, presste er hervor und begann nun endlich mit langsamen Bewegungen in sie zu stoßen. „Kann es sein, dass dir das hier vielleicht sogar gefällt?“ „Nein, es gefällt mir nicht“, erwiderte sie heftig keuchend und vergrub ihr Gesicht halb im Bettlaken, während er sich wieder und wieder in ihr versenkte. „Lügen ist eine Sünde, Carina“, raunte der Bestatter und landete in rascher Folge zwei weitere Schläge auf ihr Gesäß, jeweils einen für jede Seite. Die 19-Jährige wusste gar nicht, wie ihr geschah. Die Impulse aus Lust und Schmerz, die ihr Körper nun im stetigen Wechsel erhielt, vermischten sich zu einem Ganzen und sorgten dafür, dass ihre Nerven auf die kleinste Berührung reagierten. Ihre Sinne spielten vollkommen verrückt! Fest biss sie sich auf die Lippe, um nicht das Betteln nach mehr anzufangen. Doch scheinbar konnte auch der Shinigami hinter ihr sich nicht mehr zurückhalten. Seine Hände ließen endlich von ihrem Hintern ab und legten sich nun endgültig um ihre Hüfte, um sie zu stabilisieren. Und das musst er auch, denn unmittelbar danach fing er an hart und ohne Rücksicht in sie einzudringen. Besinnungslos stöhnte die junge Frau auf. Ihr Kopf sank endgültig auf das Bett hinab, genau zwischen ihre aufgestützten Unterarme und ihre Hände ballten sich zu Fäusten. „Cedric, ich… o-oh Gott…“ Japsend schnappte sie nach Luft, als er einen besonders empfindlichen Punkt in ihrem Inneren traf. „I-ich komme gleich.“ „Noch nicht“, knurrte er und beschleunigte sein Tempo erneut, packte ihre Hüften dabei so fest, dass sich rote Abdrücke auf ihrer Haut bildeten. Carina biss die Zähne hart zusammen. Einerseits, um sich selbst unter Kontrolle zu behalten und andererseits, um nicht die ganze Nachbarschaft und vor allem Lily auf ihre morgendlichen Aktivitäten aufmerksam zu machen. „Cedric, bitte“, flehte sie nun doch und drückte sich seiner Erektion entgegen, denn es war ihr in diesem Moment wirklich mehr als nur scheißegal. Jede Faser ihres Körpers schrie nach der wohlverdienten Erlösung, jeder Muskel war bis zum Bersten angespannt. Und sie wusste, dass es dem Silberhaarigen nicht anders damit ging, als er sich in diesem Augenblick so tief über sie beugte, dass sein muskulöser Oberkörper ihren Rücken berührte. „Dann komm“, flüsterte er heiser und das war die einzige Aufforderung, die Carina noch gebraucht hatte. Seine Worte rissen sie augenblicklich über die Klippe. Ihr gesamter Unterleib verkrampfte sich und hätte sie nicht bereits gekniet, hätten die rhythmischen Zuckungen sie unter Garantie in die Knie gezwungen. Sie keuchte immer wieder zwischen ihren kurzen, japsenden Atemzügen auf und als der heftige Orgasmus endlich nachließ, waren es lediglich Cedrics Hände, die ihre Hüfte noch oben hielten. Nach wie vor stieß er sich fest in sie hinein, doch auch er erreichte nun aufgrund ihrer anhaltenden, pulsierenden Enge sein Limit. Carina konnte spüren, wie sein Glied weiter in ihr anschwoll und bei seinem nächsten tiefen Stoß verharrte er keuchend über ihr, als er schließlich zuckend zu seinem eigenen Höhepunkt kam. Der Todesgott stöhnte leise auf und einige lange Sekunden verharrten sie beide in dieser Haltung. Schließlich jedoch ließ er ihre Hüfte los, um sich mit beiden Armen neben ihren Schultern am Bett abzustützen, wollte er sie doch nicht mit seinem gesamten Körpergewicht belasten. Einen sanften Kuss auf ihren Nacken hauchend erhob er sich behutsam, zog sich aus ihr zurück und ließ sich neben sie auf das Bett fallen. Die 19-Jährige hatte unterdessen die Augen geschlossen und rang darum, ihre Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen. Warum hatte sie sich gerade eben überhaupt gewaschen? Das konnte sie jetzt definitiv wiederholen, so viel stand fest! Allmählich schlug ihr heftig pochendes Herz wieder langsamer und auch ihre Lunge bekam wieder genügend Luft. Doch je weiter sich ihr Körper beruhigte, desto deutlicher wurde sie sich des pulsierenden Schmerzes bewusst, der von ihrem Hintern ausging. Und je weiter sie ihren Verstand wieder zurückgewann, desto zorniger wurde sie. Mit immer noch wackligen Knien erhob sie sich langsam vom Bett und zuckte kurz darauf zusammen, als sich die Haut an ihrem Po straffte. Doch bevor sie ganz aufstehen konnte, ergriff der Undertaker ihren Unterarm und zog sie näher an sich ran, um sie gleich darauf innig auf den Mund zu küssen. „Willst du etwa schon gehen?“, hauchte er ihr ins Ohr und rieb seine Nase kurz an der ihren. „Ich dachte, wir könnten noch ein wenig liegen bleiben und möglicherweise eine zweite-“ „Danke, kein Bedarf“, unterbrach sie ihn schroff und rückte ein Stückchen von ihm weg, ohne ihm dabei in die Augen zu sehen. Gott, ihr war das alles so unsagbar peinlich… Cedric grinste sie beinahe schon unverschämt breit an. „Zierst du dich jetzt etwa?“ Er lachte erheitert, als sie ihm auf diese Aussage hin einen wütenden Blick zuwarf. „Jetzt sei nicht sauer. Es hat dir doch auch gefallen.“ „Nein, es hat mir nicht gefallen“, zischte sie. Ein belustigtes Funkeln trat in seine Augen und er zog sie erneut näher, sodass sein Gesicht nun direkt vor ihrem schwebte. „Dein Körper hat mir da aber etwas gänzlich anderes gesagt“, wisperte er leise. Carina spürte, wie sie rot wurde. Natürlich, seine bestimmende Art und Weise hatte ihr definitiv zugesagt, aber doch ganz sicher nicht, dass er sie geschlagen hatte… Das leise, gedanklich geflüsterte „oder?“, das ihr Verstand an den Satz dranhängte, ignorierte sie gekonnt. Dank der anhaltenden Hitze, die von ihrem geschundenen Hintern ausging, gelang ihr das auch ganz gut. „Es hat mir nicht gefallen“, sagte sie ein weiteres Mal und schaute ihm dabei stur in die Augen. Der Ausdruck in den phosphoreszierenden Seelenspiegeln wurde eine Spur herausfordernder. „Soll ich dich nochmal übers Knie legen oder warum lügst du mich schon wieder an?“, fragte er amüsiert, aber dennoch bestimmt nach und Carinas Reaktion folgte prompt, indem sie sich von seinem Griff losriss und so schnell zum anderen Ende des Bettes wegrutschte, dass sie beinahe über die Kante gefallen wäre. Sie fühlte genau, dass ihr bei seinen Worten das Blut noch weiter in die Wangen geschossen war. Für einen ganz kurzen Moment war sie tatsächlich sprachlos. Doch die Schnitterin war keine Frau, die nicht schnell ihre Stimme wiederfand. „Du… du hast mich nicht übers Knie gelegt“, schleuderte sie ihm entgegen – halb fauchend, halb stotternd. Schon wieder erschien daraufhin ein glühendes Funkeln in seinen Augen. Carina gefiel es von Sekunde zu Sekunde weniger. „Etymologisch betrachtet vielleicht nicht, aber das Ergebnis bleibt dasselbe.“ Der Gesichtsausdruck der jungen Frau verfinsterte sich. „Das war das erste und letzte Mal, dass du so etwas mit mir machst“, knurrte sie und erhob sich nun endgültig vom Bett, um ihre Sachen vom Boden aufzuheben. „Hehe~, ach ja?“, erwiderte er fragend und betrachtete zufrieden ihren Po, als sie ihm den Rücken zudrehte. „Lass uns doch eine Regel aufstellen. Jedes Mal, wenn du mich anlügst, wiederholen wir diese nette Geschichte von vorhin.“ „Spreche ich vielleicht eine andere Sprache?“, entgegnete Carina genervt und wandte sich ihm wieder zu, die Arme vor der nackten Brust verschränkt. „Vergiss es!“ Eine seiner schmalen Augenbrauen hob sich. „Wenn du mich doch nicht mehr anlügen wirst, dürfte diese Vereinbarung doch kein Problem für dich darstellen, richtig? Oder nimmst du es mit der Ehrlichkeit vielleicht doch nicht so ganz genau?“ Carina biss sich auf die Lippe. Das war jetzt wirklich unfair von ihm, sie in eine solche Zwickmühle zu bringen. Da war zum Beispiel immer noch die Sache mit der Verbindung zwischen ihr und Elizabeth, die sie ihm bis heute nicht erklärt hatte. Aber streng genommen log sie ihn nicht an. Sie sagte ihm nur nicht die Wahrheit. Ein beleidigtes Schnauben entfuhr ihrer Kehle. „Tch. Ist doch egal, was ich dazu sage, oder? Du machst doch ohnehin immer das, was du willst“, antwortete sie schnippisch und jetzt waren es ihre Augen, die gefährlich aufblitzten. „Aber lass dir eines gesagt sein, Cedric. Das wird noch Konsequenzen haben.“ Er brach in Gelächter aus. „Oh Carina“, begann er und machte eine kurze Pause, um sein Kichern wieder unter Kontrolle zu bekommen, „ich möchte dein Selbstbild ja nicht zerstören, aber was möchtest du bitteschön gegen mich ausrichten? Ich kann mir keine Situation vorstellen, in der ich mich vor irgendwelchen sogenannten „Konsequenzen“ von dir fürchten sollte.“ „Warte es ab“, gab sie ruhig von sich und nahm die Herausforderung innerlich an. Wäre doch gelacht, wenn sie nicht irgendeinen Weg finden würde, um sich dafür an ihm zu rächen. Und die Rache würde süß sein! „Gerne“, raunte er ihr anzüglich entgegen und erhob sich nun ebenfalls vom Bett. Carina kam nicht umhin ihn anzusehen. Egal, wie unmöglich er sich auch benahm, sein Körper gehörte einfach in Stein gemeißelt. „Soll ich Pitt holen, damit er ein Foto von mir machen kann?“, grinste der Undertaker, ohne sein weibliches Gegenstück dabei anzusehen, spürte er ihre Blicke doch überdeutlich. „Ich musste mich nur gerade noch einmal daran erinnern, warum ich dich liebe. Jetzt weiß ich es wieder, dein Körper gleicht deinen gemeinen Charakter gerade so aus.“ „Freches Ding.“ Er schaute sie verheißungsvoll an und Carina wechselte schnell das Thema, bevor er noch auf weitere dumme Ideen kommen konnte. „Und wer ist eigentlich dieser Pitt? Den Namen höre ich heute zum ersten Mal.“ „Pitt arbeitet als freiberuflicher Reporter und ist genauso wie ich ein Aristokrat des Bösen.“ Carina runzelte die Stirn. Irgendwas klingelte bei ihr, wenn sie „Aristokrat des Bösen“ hörte, aber sie konnte sich nicht mehr so recht daran erinnern. „Die Aristokraten des Bösen“, begann der Undertaker, als hätte er Carinas Gedanken gelesen, „bilden eine geheime Organisation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat den jeweiligen Wachhund der Königin bei seiner Arbeit zu unterstützen. Vorrangig durch unsere Arbeit, unseren Einfluss oder aber auch unsere Kontakte zur Unterwelt. Diederich zum Beispiel gehört auch dazu.“ „So so“, sagte Carina argwöhnisch. „Und du gehörst dazu, weil du der Hauptinformant bist, wenn es um Todesfälle jeglicher Art geht?“ „So ist es“, grinste er. „Und dieser Pitt hat dort welche Aufgabe? Ich meine… was will ein freiberuflicher Reporter bei solch einer Organisation? Ist das nicht eher kontraproduktiv für euch?“ „Ganz im Gegenteil sogar. Sagen wir es mal so, Pitt ist immer genau dann zur richtigen Stelle, wenn es darum geht gewisse Skandale fotografisch festzuhalten.“ „Aha“, sagte Carina mit hochgezogenen Augenbrauen und schüttelte kurz den Kopf. „Ich kann mir vorstellen, wie toll Ciel das finden muss.“ „Es hat sich schon oft als ziemlich nützlich erwiesen, das stimmt wohl“, gluckste er vergnügt und ging zum Schrank, um sich seine Kleidung für den heutigen Tag herauszusuchen. Mit einem Seufzen ging die 19-Jährige ins Badezimmer und wusch sich erneut. Mehr als einmal musste sie die Zähne zusammenbeißen, als sie ihre Kehrseite berührte und als sie sich schließlich dazu überwand den Kopf so weit über ihre Schulter zu drehen, dass sie ihren Hintern im Spiegel betrachten konnte, entglitten ihr glatt die Gesichtszüge. Sie spürte die Wut erneut in sich aufsteigen. „Na warte, Freundchen“, dachte sie und cremte sich die knallrote Haut mit Ringelblumensalbe ein, „das wird noch ein Nachspiel haben, so wahr ich hier stehe.“ Während sie ins Schlafzimmer zurückkehrte und sich zum zweiten Mal am heutigen Tage anzog, verschwand Cedric im Badezimmer um sich ebenfalls fertig zu machen. 15 Minuten später saßen sie beide am Frühstückstisch, über den Carina sich jetzt im Nachhinein ärgerte. Sie hatte sich wirklich Mühe mit dem Eindecken gegeben und was hatte sie nun davon? Einen pulsierenden Schmerz in ihrem Gesäß, der beim Sitzen nur noch unangenehmer zur Geltung kam. Cedric grinste sie wissend an, als sie sich mit einer sehr vorsichtigen Bewegung auf dem Stuhl niederließ. „Kein Wort“, knurrte sie und nahm sich ein Brötchen aus dem Brotkorb, um es sich anschließend mit Butter und Marmelade zu beschmieren. „Ich doch nicht“, grinste er schelmisch zurück, was die Blondine genervt die Augen verdrehen ließ. „Ich treffe mich dann nachher am Parkeingang mit Grell, damit wir zu den Sterlings gehen können“, warf sie in den Raum und konnte sofort beobachten, wie der Blick des Silberhaarigen ernster wurde. „Bist du dir sicher, dass das eine gute Idee ist?“, fragte er und nahm einen Schluck von seinem Tee. „Cedric, der Mann hat versucht sich umzubringen. Ich kann nicht einfach so tun, als wäre nichts passiert und damit riskieren, dass er es nochmal versucht. Seine Frau ist schwanger.“ „Und du bist dir sicher, dass es keine Falle ist?“ Sie zögerte kurz. „Ganz sicher kann man sich nie sein“, gab sie zu. „Aber wenn es eine Falle wäre, dann hätte Samael mich genauso gut gestern an Ort und Stelle töten können. Grell hatte für ein paar Minuten sogar das Haus verlassen und ich war mit diesem Charlie ganz allein im Badezimmer. Es wäre der perfekte Zeitpunkt gewesen, aber es ist nichts passiert.“ Diese einfache Tatsache schien sogar Cedric zu beruhigen. „In Ordnung“, meinte er, doch seine gelbgrünen Augen fixierten sie immer noch ernst. „Aber bleibt auf der Hut. Man kann nie wissen. Und er ist ein Dämon, die lassen sich immer gerne etwas einfallen, um ihre zukünftigen Opfer fertig zu machen, bevor sie sie verschlingen.“ „Keine Sorge, so leicht werde ich es ihm nicht machen“, antwortete sie, nun ebenso ernst wie er. Uriel hatte ihnen immerhin ziemlich genau erklärt, wie er Crow für seine Zwecke benutzt hatte. Ihr würde das nicht passieren! Eine Stunde später zog Carina sich gerade ihren schwarzen Mantel an, als Cedric aus dem Keller hochkam, um sie zu verabschieden. Ehe sie auch nur in irgendeiner Form reagieren konnte, hatte der größere Mann sie bereits an sich gezogen und seine Arme um ihre Taille geschlungen. „Pass auf dich auf“, flüsterte er ihr leise ins Ohr und küsste sie sanft auf die Wange. Die 19-Jährige spürte eine altbekannte Wärme in ihrer Brust aufsteigen und lächelte. „Das werde ich“, murmelte sie ebenso leise zurück und gab ihm einen langen Kuss auf den Mund. „Wenn du in zwei Stunden nicht zurück bist, komme ich dich suchen“, sagte er und Carina nickte, hörte neben seiner Sorge auch die Warnung aus seiner Stimme mit heraus. Sie sollte ihn nicht zu lange warten lassen. „Ich beeile mich“, versprach sie, küsste ihn erneut und verließ das Bestattungsinstitut, nachdem Cedric sie aus der Umarmung entlassen hatte. „Da bist du ja endlich“, meinte Grell 5 Minuten später, als Carina in Sichtweite kam. „Entschuldige, aber ein gewisser Bestatter wollte mich nicht ganz wortlos gehen lassen“, erwiderte sie, was den Rothaarigen abrupt zum Grinsen brachte. „Deinen Worten entnehme ich, dass ihr euch gestern doch nicht mehr die Köpfe eingeschlagen habt?“ Sie schnaubte. „Ich habe ihm klar und deutlich gesagt, was ich von seinem Vertrauen mir gegenüber halte und er hat sich im Nachhinein dafür entschuldigt.“ „Siehst du, dann ist doch alles wieder gut.“ Sie schnaubte ein weiteres Mal. „Nein, nicht ganz, aber das hebe ich mir für einen späteren Zeitpunkt auf.“ Grell runzelte verwirrt die Stirn. „Wovon sprichst du? Hat er noch etwas gemacht?“ Carina wurde rot, wenn sie auch nur daran dachte. Mit schnellen Schritten setzte sie sich in Bewegung und betrat den Park. „Ja, aber das behalte ich für mich.“ Jetzt wirkte der Reaper beleidigt. „Wieso das denn?“, brauste er auf. „Ich bin dein bester Freund, wenn es einer erfahren sollte, dann doch wohl ich!“ „Wenn es dich tröstet Grell… Ich werde auch mit keinem anderen jemals darüber sprechen.“ „Häh?“, gab der Todesgott nur verwirrt von sich und schloss zu ihr auf. „Das heißt nicht häh, sondern wie bitte“, korrigierte sie ihn ganz automatisch, denn diesen Spruch hatte er ihr in der Vergangenheit auch das ein oder Mal reingedrückt. „Na schön, dann eben: Wie bitte?“ „Meine Antwort bleibt die Gleiche“, sagte sie amüsiert. „Och, komm schon, bitte! Du weißt doch ganz genau, wie neugierig ich bin.“ „Eben“, lautete ihre Antwort darauf. „Es kann dir nicht schaden mal nicht alles zu wissen, was in meinem Privatleben passiert. Ich erzähle dir ohnehin schon viel zu viele peinliche Sachen.“ „Aha, also war es etwas Peinliches?“, triumphierte Grell und sofort verfinsterte sich Carinas Gesichtsausdruck aufgrund ihres Ausrutschers. „Dafür haben wir jetzt keine Zeit“, sagte sie genervt und das stimmte tatsächlich, denn das Haus von Emma und ihrem Mann war bereits in Sichtweite. „Glaub ja nicht, dass du mir so leicht davon kommst“, drohte Grell ihr spielerisch, meinte es aber durchaus ernst. Er würde schon noch herausfinden, was zwischen den beiden Turteltauben vorgefallen war. Emma öffnete ihnen bereits nach wenigen Sekunden die Tür. Ihr rotbraunes Haar hing strähnig hinab, ihre grauen Augen waren blutunterlaufen. Mit einer gewissen Besorgnis beäugte Carina die Blässe im Gesicht der schwangeren Frau. Aber schwer verwunderlich war es eigentlich nicht. Wenn sie gestern beinahe ihre große Liebe verloren hätte, dann sähe sie wohl kaum besser aus… „Hallo Emma“, erwiderte sie freundlich und schenkte der jungen Frau ein kleines Lächeln, was diese zumindest versuchte zu erwidern. „Hallo“, antwortete sie leise und beide Shinigami konnten deutlich hören, dass ihre Stimme vom vielen Weinen ganz rau geworden war. „Dürfen wir rein kommen?“, fragte Carina und ihr Gegenüber nickte leicht, trat weiter weg ins Innere des Hauses, um ihnen Platz zu machen. Grell warf seiner selbsternannten kleinen Schwester einen kurzen Blick zu, den diese erwiderte. Trotz dem Gefühl, dass es sich hier nicht um eine Falle handelte, würden sie dennoch vorsichtig sein und all ihre Sinne nach etwas ausstrecken, was möglicherweise nicht innerhalb der Norm lag. „Möchtet ihr einen Tee?“, fragte die werdende Mutter zögerlich und die 19-Jährige merkte ihr klar und deutlich an, dass sie verunsichert war. Dass sie absolut keine Ahnung hatte, wie sie mit der Situation umgehen sollte. „Gerne“, gab sie daher zurück und auch Grell nickte, zeigte ihr dabei seine spitzen Zähne, was wohl eine beruhigende Geste darstellen sollte. Natürlich bewirkte es so ziemlich das genaue Gegenteil. Emma wurde, wenn es denn überhaupt noch möglich war, sogar noch eine Spur bleicher und drehte sich schnell von ihnen weg, um in die Küche zu gehen. Carina stieß Grell ihren Ellbogen heftig in die Seite und warf ihm einen warnenden Blick zu, den der Rothaarige mit einem geflüsterten „Was denn“ und einem verwirrten Blick quittierte. „Setzt euch doch“, murmelte Emma ohne sie anzusehen und Grell kam dem Angebot auch sogleich nach, schlug noch im selben Augenblick seine langen, schlanken Beine übereinander. Carina hingegen zögerte deutlich länger und als sie schließlich vor dem Sofa stand, ließ sie sich nur ganz langsam auf das Polster sinken. Grell entging ihre verkrampfte Miene dabei keineswegs. „Alles in Ordnung?“, flüsterte er verwundert und blinzelte, als ihm daraufhin der schwache Rotschimmer auf den Wangen seiner Sitznachbarin auffiel. Carina nickte lediglich, biss sich aber zeitgleich auf die Wangeninnenseite, denn ihr schmerzender Hintern ließ sich kaum ignorieren. Cedric würde dafür so was von büßen… „Ist er schon aufgewacht?“, fragte Carina, als Emma wenige Minuten später mit einem Tablett zurückkam, auf dem sich drei dampfende Tassen befanden. Angesprochene nickte und ließ sich nun ebenfalls in dem Sessel nieder, der dem Sofa genau gegenüber stand. „Ja, vor 2 Stunden. Aber er scheint nicht wirklich bei Sinnen zu sein… Er möchte jedenfalls nicht mit mir reden und ich…“ Sie stockte kurz und schluckte, als sich Tränen in ihren Augen sammelten, …ich weiß nicht, was ich ihm sagen soll.“ Carina war für einen Moment schier sprachlos, doch hier schaltete sich Grell ein. „Es ist schon mal ein gutes Zeichen, dass er nicht versucht hat sich von den Fesseln zu befreien und sich erneut etwas anzutun. Manche Menschen verlieren nach einem Selbstmordversuch vollkommen den Verstand und versuchen sich in der Not sogar die Zunge abzubeißen. Wir sollten froh sein, dass es bei deinem Mann scheinbar noch nicht so weit gekommen ist.“ Die beiden Frauen starrten den Rothaarigen verblüfft an. Carina allerdings mehr durch den Aspekt, dass er sie gerade äußerst beeindruckt hatte. Wie oft vergaß sie einfach, dass er wesentlich älter war und seine Erfahrung dadurch viel weiter reichte, als ihre eigene? Das hatte er auf jeden Fall gerade unter Beweis gestellt. An der Stelle, wo ihr die Worte gefehlt hatten, hatte er eingegriffen und scheinbar genau das Richtige gesagt, denn Emmas Miene entspannte sich ein wenig. „Ihr beide scheint euch in diesem Gebiet wirklich ziemlich gut auszukennen“, merkte sie an und sogleich versteifte sich Carina. „…Könnte man so sagen“, gab sie schließlich zu, suggerierte aber gleichzeitig mit ihren Unterton, dass die Frau besser nicht genauer nachhacken sollte. Emma verstand die stumme Aufforderung und die nächsten paar Minuten nippten alle drei nur stillschweigend an ihrem Tee. Doch natürlich ließ sich der unangenehme Moment nicht viel länger herausschieben, in dem Carina und Grell sich erheben mussten. „Also, wollen wir?“, sagte Grell an seine Partnerin gewandt und diese nickte. Er kannte sie mittlerweile gut genug, um ihr die Nervosität ansehen zu können. Es war mal wieder so typisch, dachte er sich und lächelte mild. Es war Carinas Vorschlag gewesen heute noch einmal wieder zu kommen und mit diesem Charlie zu sprechen. Dennoch – und das konnte er ihr ebenfalls ganz genau ansehen – hatte sie überhaupt keinen Plan, wie dieses Gespräch verlaufen sollte. „Keine Sorge, wir machen das schon“, flüsterte er ihr zu, als sie die Treppe nach oben hinaufgingen. „Ich hoffe, du hast Recht“, murmelte sie zurück, warf ihm aber dennoch ein dankbares Lächeln zu. Was würde sie nur ohne ihren besten Freund tun? Das Schlafzimmer des Ehepaars war abgedunkelt, als die beiden Todesgötter mit Emma zusammen eintraten. Charlie lag auf der rechten Seite des Doppelbettes, seine Hände waren immer noch so festgebunden, dass er sich selbst nichts antun konnte, gleichzeitig aber auch nicht so fest, dass er sich die Wunden in seinem Unterarm wieder aufreißen konnte. Sein kurzes, schwarzes Haar wirkte durcheinander, ebenso wie er selbst. Seine braunen Augen glitten unruhig hin und her und als Emma zum Sprechen ansetzte, zuckte er vor Schreck zusammen. „Charlie, das sind die beiden, von denen ich dir erzählt habe. Sie haben dir das Leben gerettet und würden jetzt gerne mit dir sprechen.“ Ihre Worte wirkten gefasst, aber Carina konnte das Zittern ihrer Hände sehen, als sie sie im Stoff ihres Kleides vergrub. „Hallo Charlie“, begann sie vorsichtig und setzte sich mit etwas Abstand zu ihm aufs Bett, Grell immer dicht hinter sich. „Mein Name ist Carina und das hinter mir ist Grell. Wir…“, sie schluckte kurz, wog jedes einzelne Wort nachdenklich in ihrem Kopf ab, „wir wollten mit dir darüber sprechen, was gestern passiert ist.“ Der Schwarzhaarige begann sachte zu zittern und wenn sein Gesicht nicht schon so bleich gewesen wäre, dann wäre sicherlich auch noch der letzte Rest an Farbe daraus entwischen. Carina hatte nicht erwartet, dass er mit ihnen sprechen würde. Umso mehr überraschte es sie daher, dass er nun langsam den Mund öffnete und stotternd die Stimme erhob. Wäre sie nicht so getränkt gewesen von Verzweiflung und Selbsthass, dann hätte sie einen schönen Klang haben können. „Warum habt ihr das getan?“, brachte er bebend hervor und starrte die für ihn fremde Frau mit einem vorwurfsvollen Gesichtsausdruck an. „…Ich verstehe nicht“, begann die Todesgöttin verwirrt, wurde aber sogleich von ihm unterbrochen. „Warum habt ihr mich gerettet? Warum habt ihr mich nicht sterben lassen?“, rief er verzweifelt aus, während nun dicke Tränen seine Wangen hinabkullerten. Carina spürte, wie sich Grell hinter ihr versteifte und wie Emma sich entsetzt die Hände vor den Mund schlug. Ein paar Sekunden herrschte angespannte Stille, dann ergriff Carina erneut das Wort. „Ist das nicht offensichtlich?“, fragte sie ruhig und blickte dem jungen Mann dabei direkt in die Augen. „Ich weiß nicht, wie andere Menschen das sehen, aber ich zumindest glaube, dass man keinen Grund braucht, um jemandem das Leben zu retten.“ „Ich wollte aber nicht gerettet werden“, wisperte Charlie und seine Augen wurden immer größer. „Ich will, dass das endlich aufhört.“ „Das was aufhört?“, fragte Grell und bereute seine Frage sofort, als er die entsprechende Antwort darauf hörte. „Diese Stimme… ich will diese Stimme in meinem Kopf nicht mehr hören.“ Emma brach in leises Schluchzen aus und Carina wusste ganz genau, was sie dachte. Ihr selbst ging es ja schließlich nicht anders. „Eine Stimme?“, hackte sie nach und spürte Beklemmung in sich aufsteigen. Sollte Charlie wirklich Stimmen hören, dann konnte sie nichts für ihn tun. Dann musste er wirklich in ein Krankenhaus. „Gerade ist sie zum ersten Mal seit letzter Woche nicht mehr da, aber ansonsten lässt sie mich nicht mehr in Ruhe. Ich kann nicht schlafen, ich kann nicht essen und ständig redet sie mir ein, dass das alles erst vorbei ist, wenn ich mich umbringe.“ Er schluchzte nun im Gleichklang mit seiner Frau. Carina biss sich auf die Unterlippe. Jetzt wusste sie wirklich nicht mehr, was sie noch sagen sollte. Und wie schlimm musste es erst Emma gerade gehen? Sie erwartete doch ein Kind… „Und wenn ich dann mal Schlaf finde, weil mein Körper einfach nicht mehr kann“, weinte der Schwarzhaarige weiter, „dann erscheint dieses Monster in meinen Träumen und spricht mit eben dieser Stimme, die ich die ganze Zeit in meinem Kopf höre.“ „Ein Monster?“, hörte Carina Grell fragen und etwas an seinem Ton sagte ihr, dass ihm plötzlich ein Gedanke gekommen sein musste, der nichts mit einer Geisteskrankheit zu tun hatte. Sie warf ihm einen kurzen, fragenden Blick zu, doch der Schnitter konzentrierte sich einzig und allein auf den gefesselten Mann vor sich. „Ein Mann“, krächzte Charlie und wiegte sich langsam auf dem Bett vor und zurück. Seine nächsten Worte zogen Carina den Boden unter den Füßen weg. „Mit langen, schwarzen Haaren und blutroten Augen. Mit schwarzen Schwingen auf dem Rücken.“ Die Todesgöttin spürte, wie nun sie diejenige war, die erbleichte. Nein, das konnte nicht sein… Kapitel 82: Bestrafung *zensiert* --------------------------------- Carinas Rücken krachte mit Nachdruck gegen eine der Wände im Flur, während Cedric und sie sich immer noch eng umschlungen küssten. Ihre Lippen und Zungen streichelten einander, suchten die Nähe zu ihrem Gegenstück. Gott, wenn das so weiterging, dann würden sie es doch nicht mehr bis ins Schlafzimmer schaffen… Blind begann sie mit ihrer Hand nach links zu tasten, irgendwo hier musste doch der verdammte Türknauf sein! Nach wenigen, aber dafür ungeduldigen Sekunden ergriffen ihre Finger endlich den gesuchten Gegenstand und drehten ihn sogleich in die gewünschte Richtung. Es quietschte leicht, als die Tür aufsprang, aber keiner der beiden störte sich daran. „Cedric“, flüsterte sie ihm heiser ins Ohr und spürte gleich darauf, wie sich sein Griff um sie verfestigte. Im nächsten Augenblick hob er sie von der Wand weg und stolperte – mehr schlecht als recht – mit ihr durch die Schlafzimmertür, die er bereits beim nächsten Schritt nach vorne mit einer geschickten Bewegung seines anderen Fußes hinter ihnen schloss. „Oho“, grinste Carina und hauchte ihm ihren Atem neckend in die Halsbeuge, „da hat jemand ungeahnte Talente.“ Ein spitzbübisches Grinsen empfing sie, als sie ihm kurz darauf wieder ins Gesicht sah. „Ich habe viele Talente“, entgegnete er und durchquerte mit langsamen Schritten den Raum, „und ich verspreche dir, ich werde sie dir nach und nach alle zeigen“, gab er ihr das verheißungsvolle Versprechen und ließ sie noch in derselben Sekunde los, sodass sie rückwärts aufs Bett fiel. Die 19-Jährige schaute zu dem Bestatter auf, der mit seinen vor Lust verdunkelten gelbgrünen Augen auf sie hinab sah. Aufgeregte Nervosität ergriff Besitz von ihr. Wobei es eigentlich keine wirkliche Nervosität war. Viel mehr so eine Art Nervenkitzel, der ihr Herz vorfreudig flattern ließ und ihr sehr eindringlich vor Augen führte, dass sie dieses kleine Spielchen mit ihm bis in die letzte Faser genoss. Ihre eigenen Augen glitten langsam an seinem muskulösen Oberkörper hinab, um schließlich die schwarze Unterhose zu fixieren, unter deren Stoff sich bereits sehr deutlich seine Erektion abzeichnete. Sie kreuzte ihren Blick erneut mit dem seinen und biss sich sanft auf die Unterlippe, weil sie ganz genau wusste, dass ihm das gefiel. Die phosphoreszierenden Pupillen wurden, wenn möglich, noch dunkler. „Zieh dich aus“, raunte er und der Befehlston in seiner Stimme war so energisch, dass Carina nicht eine Millisekunde darüber nachdachte seiner Aufforderung nicht Folge zu leisten... [...] Die 19-Jährige hatte die Augen geschlossen und rang darum, ihre Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen. Warum hatte sie sich gerade eben überhaupt gewaschen? Das konnte sie jetzt definitiv wiederholen, so viel stand fest! Allmählich schlug ihr heftig pochendes Herz wieder langsamer und auch ihre Lunge bekam wieder genügend Luft. Doch je weiter sich ihr Körper beruhigte, desto deutlicher wurde sie sich des pulsierenden Schmerzes bewusst, der von ihrem Hintern ausging. Und je weiter sie ihren Verstand wieder zurückgewann, desto zorniger wurde sie. Mit immer noch wackligen Knien erhob sie sich langsam vom Bett und zuckte kurz darauf zusammen, als sich die Haut an ihrem Po straffte. Doch bevor sie ganz aufstehen konnte, ergriff der Undertaker ihren Unterarm und zog sie näher an sich ran, um sie gleich darauf innig auf den Mund zu küssen. „Willst du etwa schon gehen?“, hauchte er ihr ins Ohr und rieb seine Nase kurz an der ihren. „Ich dachte, wir könnten noch ein wenig liegen bleiben und möglicherweise eine zweite-“ „Danke, kein Bedarf“, unterbrach sie ihn schroff und rückte ein Stückchen von ihm weg, ohne ihm dabei in die Augen zu sehen. Gott, ihr war das alles so unsagbar peinlich… Cedric grinste sie beinahe schon unverschämt breit an. „Zierst du dich jetzt etwa?“ Er lachte erheitert, als sie ihm auf diese Aussage hin einen wütenden Blick zuwarf. „Jetzt sei nicht sauer. Es hat dir doch auch gefallen.“ „Nein, es hat mir nicht gefallen“, zischte sie. Ein belustigtes Funkeln trat in seine Augen und er zog sie erneut näher, sodass sein Gesicht nun direkt vor ihrem schwebte. „Dein Körper hat mir da aber etwas gänzlich anderes gesagt“, wisperte er leise. Carina spürte, wie sie rot wurde. Natürlich, seine bestimmende Art und Weise hatte ihr definitiv zugesagt, aber doch ganz sicher nicht, dass er sie geschlagen hatte… Das leise, gedanklich geflüsterte „oder?“, das ihr Verstand an den Satz dranhängte, ignorierte sie gekonnt. Dank der anhaltenden Hitze, die von ihrem geschundenen Hintern ausging, gelang ihr das auch ganz gut. „Es hat mir nicht gefallen“, sagte sie ein weiteres Mal und schaute ihm dabei stur in die Augen. Der Ausdruck in den phosphoreszierenden Seelenspiegeln wurde eine Spur herausfordernder. „Soll ich dich nochmal übers Knie legen oder warum lügst du mich schon wieder an?“, fragte er amüsiert, aber dennoch bestimmt nach und Carinas Reaktion folgte prompt, indem sie sich von seinem Griff losriss und so schnell zum anderen Ende des Bettes wegrutschte, dass sie beinahe über die Kante gefallen wäre. Sie fühlte genau, dass ihr bei seinen Worten das Blut noch weiter in die Wangen geschossen war. Für einen ganz kurzen Moment war sie tatsächlich sprachlos. Doch die Schnitterin war keine Frau, die nicht schnell ihre Stimme wiederfand. „Du… du hast mich nicht übers Knie gelegt“, schleuderte sie ihm entgegen – halb fauchend, halb stotternd. Schon wieder erschien daraufhin ein glühendes Funkeln in seinen Augen. Carina gefiel es von Sekunde zu Sekunde weniger. „Etymologisch betrachtet vielleicht nicht, aber das Ergebnis bleibt dasselbe.“ Der Gesichtsausdruck der jungen Frau verfinsterte sich. „Das war das erste und letzte Mal, dass du so etwas mit mir machst“, knurrte sie und erhob sich nun endgültig vom Bett, um ihre Sachen vom Boden aufzuheben. „Hehe~, ach ja?“, erwiderte er fragend und betrachtete zufrieden ihren Po, als sie ihm den Rücken zudrehte. „Lass uns doch eine Regel aufstellen. Jedes Mal, wenn du mich anlügst, wiederholen wir diese nette Geschichte von vorhin.“ „Spreche ich vielleicht eine andere Sprache?“, entgegnete Carina genervt und wandte sich ihm wieder zu, die Arme vor der nackten Brust verschränkt. „Vergiss es!“ Eine seiner schmalen Augenbrauen hob sich. „Wenn du mich doch nicht mehr anlügen wirst, dürfte diese Vereinbarung doch kein Problem für dich darstellen, richtig? Oder nimmst du es mit der Ehrlichkeit vielleicht doch nicht so ganz genau?“ Carina biss sich auf die Lippe. Das war jetzt wirklich unfair von ihm, sie in eine solche Zwickmühle zu bringen. Da war zum Beispiel immer noch die Sache mit der Verbindung zwischen ihr und Elizabeth, die sie ihm bis heute nicht erklärt hatte. Aber streng genommen log sie ihn nicht an. Sie sagte ihm nur nicht die Wahrheit. Ein beleidigtes Schnauben entfuhr ihrer Kehle. „Tch. Ist doch egal, was ich dazu sage, oder? Du machst doch ohnehin immer das, was du willst“, antwortete sie schnippisch und jetzt waren es ihre Augen, die gefährlich aufblitzten. „Aber lass dir eines gesagt sein, Cedric. Das wird noch Konsequenzen haben.“ Er brach in Gelächter aus. „Oh Carina“, begann er und machte eine kurze Pause, um sein Kichern wieder unter Kontrolle zu bekommen, „ich möchte dein Selbstbild ja nicht zerstören, aber was möchtest du bitteschön gegen mich ausrichten? Ich kann mir keine Situation vorstellen, in der ich mich vor irgendwelchen sogenannten „Konsequenzen“ von dir fürchten sollte.“ „Warte es ab“, gab sie ruhig von sich und nahm die Herausforderung innerlich an. Wäre doch gelacht, wenn sie nicht irgendeinen Weg finden würde, um sich dafür an ihm zu rächen. Und die Rache würde süß sein! „Gerne“, raunte er ihr anzüglich entgegen und erhob sich nun ebenfalls vom Bett. Carina kam nicht umhin ihn anzusehen. Egal, wie unmöglich er sich auch benahm, sein Körper gehörte einfach in Stein gemeißelt. „Soll ich Pitt holen, damit er ein Foto von mir machen kann?“, grinste der Undertaker, ohne sein weibliches Gegenstück dabei anzusehen, spürte er ihre Blicke doch überdeutlich. „Ich musste mich nur gerade noch einmal daran erinnern, warum ich dich liebe. Jetzt weiß ich es wieder, dein Körper gleicht deinen gemeinen Charakter gerade so aus.“ „Freches Ding.“ Er schaute sie verheißungsvoll an und Carina wechselte schnell das Thema, bevor er noch auf weitere dumme Ideen kommen konnte. „Und wer ist eigentlich dieser Pitt? Den Namen höre ich heute zum ersten Mal.“ „Pitt arbeitet als freiberuflicher Reporter und ist genauso wie ich ein Aristokrat des Bösen.“ Carina runzelte die Stirn. Irgendwas klingelte bei ihr, wenn sie „Aristokrat des Bösen“ hörte, aber sie konnte sich nicht mehr so recht daran erinnern. „Die Aristokraten des Bösen“, begann der Undertaker, als hätte er Carinas Gedanken gelesen, „bilden eine geheime Organisation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat den jeweiligen Wachhund der Königin bei seiner Arbeit zu unterstützen. Vorrangig durch unsere Arbeit, unseren Einfluss oder aber auch unsere Kontakte zur Unterwelt. Diederich zum Beispiel gehört auch dazu.“ „So so“, sagte Carina argwöhnisch. „Und du gehörst dazu, weil du der Hauptinformant bist, wenn es um Todesfälle jeglicher Art geht?“ „So ist es“, grinste er. „Und dieser Pitt hat dort welche Aufgabe? Ich meine… was will ein freiberuflicher Reporter bei solch einer Organisation? Ist das nicht eher kontraproduktiv für euch?“ „Ganz im Gegenteil sogar. Sagen wir es mal so, Pitt ist immer genau dann zur richtigen Stelle, wenn es darum geht gewisse Skandale fotografisch festzuhalten.“ „Aha“, sagte Carina mit hochgezogenen Augenbrauen und schüttelte kurz den Kopf. „Ich kann mir vorstellen, wie toll Ciel das finden muss.“ „Es hat sich schon oft als ziemlich nützlich erwiesen, das stimmt wohl“, gluckste er vergnügt und ging zum Schrank, um sich seine Kleidung für den heutigen Tag herauszusuchen. Mit einem Seufzen ging die 19-Jährige ins Badezimmer und wusch sich erneut. Mehr als einmal musste sie die Zähne zusammenbeißen, als sie ihre Kehrseite berührte und als sie sich schließlich dazu überwand den Kopf so weit über ihre Schulter zu drehen, dass sie ihren Hintern im Spiegel betrachten konnte, entglitten ihr glatt die Gesichtszüge. Sie spürte die Wut erneut in sich aufsteigen. „Na warte, Freundchen“, dachte sie und cremte sich die knallrote Haut mit Ringelblumensalbe ein, „das wird noch ein Nachspiel haben, so wahr ich hier stehe.“ Während sie ins Schlafzimmer zurückkehrte und sich zum zweiten Mal am heutigen Tage anzog, verschwand Cedric im Badezimmer um sich ebenfalls fertig zu machen. 15 Minuten später saßen sie beide am Frühstückstisch, über den Carina sich jetzt im Nachhinein ärgerte. Sie hatte sich wirklich Mühe mit dem Eindecken gegeben und was hatte sie nun davon? Einen pulsierenden Schmerz in ihrem Gesäß, der beim Sitzen nur noch unangenehmer zur Geltung kam. Cedric grinste sie wissend an, als sie sich mit einer sehr vorsichtigen Bewegung auf dem Stuhl niederließ. „Kein Wort“, knurrte sie und nahm sich ein Brötchen aus dem Brotkorb, um es sich anschließend mit Butter und Marmelade zu beschmieren. „Ich doch nicht“, grinste er schelmisch zurück, was die Blondine genervt die Augen verdrehen ließ. „Ich treffe mich dann nachher am Parkeingang mit Grell, damit wir zu den Sterlings gehen können“, warf sie in den Raum und konnte sofort beobachten, wie der Blick des Silberhaarigen ernster wurde. „Bist du dir sicher, dass das eine gute Idee ist?“, fragte er und nahm einen Schluck von seinem Tee. „Cedric, der Mann hat versucht sich umzubringen. Ich kann nicht einfach so tun, als wäre nichts passiert und damit riskieren, dass er es nochmal versucht. Seine Frau ist schwanger.“ „Und du bist dir sicher, dass es keine Falle ist?“ Sie zögerte kurz. „Ganz sicher kann man sich nie sein“, gab sie zu. „Aber wenn es eine Falle wäre, dann hätte Samael mich genauso gut gestern an Ort und Stelle töten können. Grell hatte für ein paar Minuten sogar das Haus verlassen und ich war mit diesem Charlie ganz allein im Badezimmer. Es wäre der perfekte Zeitpunkt gewesen, aber es ist nichts passiert.“ Diese einfache Tatsache schien sogar Cedric zu beruhigen. „In Ordnung“, meinte er, doch seine gelbgrünen Augen fixierten sie immer noch ernst. „Aber bleibt auf der Hut. Man kann nie wissen. Und er ist ein Dämon, die lassen sich immer gerne etwas einfallen, um ihre zukünftigen Opfer fertig zu machen, bevor sie sie verschlingen.“ „Keine Sorge, so leicht werde ich es ihm nicht machen“, antwortete sie, nun ebenso ernst wie er. Uriel hatte ihnen immerhin ziemlich genau erklärt, wie er Crow für seine Zwecke benutzt hatte. Ihr würde das nicht passieren! Eine Stunde später zog Carina sich gerade ihren schwarzen Mantel an, als Cedric aus dem Keller hochkam, um sie zu verabschieden. Ehe sie auch nur in irgendeiner Form reagieren konnte, hatte der größere Mann sie bereits an sich gezogen und seine Arme um ihre Taille geschlungen. „Pass auf dich auf“, flüsterte er ihr leise ins Ohr und küsste sie sanft auf die Wange. Die 19-Jährige spürte eine altbekannte Wärme in ihrer Brust aufsteigen und lächelte. „Das werde ich“, murmelte sie ebenso leise zurück und gab ihm einen langen Kuss auf den Mund. „Wenn du in zwei Stunden nicht zurück bist, komme ich dich suchen“, sagte er und Carina nickte, hörte neben seiner Sorge auch die Warnung aus seiner Stimme mit heraus. Sie sollte ihn nicht zu lange warten lassen. „Ich beeile mich“, versprach sie, küsste ihn erneut und verließ das Bestattungsinstitut, nachdem Cedric sie aus der Umarmung entlassen hatte. „Da bist du ja endlich“, meinte Grell 5 Minuten später, als Carina in Sichtweite kam. „Entschuldige, aber ein gewisser Bestatter wollte mich nicht ganz wortlos gehen lassen“, erwiderte sie, was den Rothaarigen abrupt zum Grinsen brachte. „Deinen Worten entnehme ich, dass ihr euch gestern doch nicht mehr die Köpfe eingeschlagen habt?“ Sie schnaubte. „Ich habe ihm klar und deutlich gesagt, was ich von seinem Vertrauen mir gegenüber halte und er hat sich im Nachhinein dafür entschuldigt.“ „Siehst du, dann ist doch alles wieder gut.“ Sie schnaubte ein weiteres Mal. „Nein, nicht ganz, aber das hebe ich mir für einen späteren Zeitpunkt auf.“ Grell runzelte verwirrt die Stirn. „Wovon sprichst du? Hat er noch etwas gemacht?“ Carina wurde rot, wenn sie auch nur daran dachte. Mit schnellen Schritten setzte sie sich in Bewegung und betrat den Park. „Ja, aber das behalte ich für mich.“ Jetzt wirkte der Reaper beleidigt. „Wieso das denn?“, brauste er auf. „Ich bin dein bester Freund, wenn es einer erfahren sollte, dann doch wohl ich!“ „Wenn es dich tröstet Grell… Ich werde auch mit keinem anderen jemals darüber sprechen.“ „Häh?“, gab der Todesgott nur verwirrt von sich und schloss zu ihr auf. „Das heißt nicht häh, sondern wie bitte“, korrigierte sie ihn ganz automatisch, denn diesen Spruch hatte er ihr in der Vergangenheit auch das ein oder Mal reingedrückt. „Na schön, dann eben: Wie bitte?“ „Meine Antwort bleibt die Gleiche“, sagte sie amüsiert. „Och, komm schon, bitte! Du weißt doch ganz genau, wie neugierig ich bin.“ „Eben“, lautete ihre Antwort darauf. „Es kann dir nicht schaden mal nicht alles zu wissen, was in meinem Privatleben passiert. Ich erzähle dir ohnehin schon viel zu viele peinliche Sachen.“ „Aha, also war es etwas Peinliches?“, triumphierte Grell und sofort verfinsterte sich Carinas Gesichtsausdruck aufgrund ihres Ausrutschers. „Dafür haben wir jetzt keine Zeit“, sagte sie genervt und das stimmte tatsächlich, denn das Haus von Emma und ihrem Mann war bereits in Sichtweite. „Glaub ja nicht, dass du mir so leicht davon kommst“, drohte Grell ihr spielerisch, meinte es aber durchaus ernst. Er würde schon noch herausfinden, was zwischen den beiden Turteltauben vorgefallen war. Emma öffnete ihnen bereits nach wenigen Sekunden die Tür. Ihr rotbraunes Haar hing strähnig hinab, ihre grauen Augen waren blutunterlaufen. Mit einer gewissen Besorgnis beäugte Carina die Blässe im Gesicht der schwangeren Frau. Aber schwer verwunderlich war es eigentlich nicht. Wenn sie gestern beinahe ihre große Liebe verloren hätte, dann sähe sie wohl kaum besser aus… „Hallo Emma“, erwiderte sie freundlich und schenkte der jungen Frau ein kleines Lächeln, was diese zumindest versuchte zu erwidern. „Hallo“, antwortete sie leise und beide Shinigami konnten deutlich hören, dass ihre Stimme vom vielen Weinen ganz rau geworden war. „Dürfen wir rein kommen?“, fragte Carina und ihr Gegenüber nickte leicht, trat weiter weg ins Innere des Hauses, um ihnen Platz zu machen. Grell warf seiner selbsternannten kleinen Schwester einen kurzen Blick zu, den diese erwiderte. Trotz dem Gefühl, dass es sich hier nicht um eine Falle handelte, würden sie dennoch vorsichtig sein und all ihre Sinne nach etwas ausstrecken, was möglicherweise nicht innerhalb der Norm lag. „Möchtet ihr einen Tee?“, fragte die werdende Mutter zögerlich und die 19-Jährige merkte ihr klar und deutlich an, dass sie verunsichert war. Dass sie absolut keine Ahnung hatte, wie sie mit der Situation umgehen sollte. „Gerne“, gab sie daher zurück und auch Grell nickte, zeigte ihr dabei seine spitzen Zähne, was wohl eine beruhigende Geste darstellen sollte. Natürlich bewirkte es so ziemlich das genaue Gegenteil. Emma wurde, wenn es denn überhaupt noch möglich war, sogar noch eine Spur bleicher und drehte sich schnell von ihnen weg, um in die Küche zu gehen. Carina stieß Grell ihren Ellbogen heftig in die Seite und warf ihm einen warnenden Blick zu, den der Rothaarige mit einem geflüsterten „Was denn“ und einem verwirrten Blick quittierte. „Setzt euch doch“, murmelte Emma ohne sie anzusehen und Grell kam dem Angebot auch sogleich nach, schlug noch im selben Augenblick seine langen, schlanken Beine übereinander. Carina hingegen zögerte deutlich länger und als sie schließlich vor dem Sofa stand, ließ sie sich nur ganz langsam auf das Polster sinken. Grell entging ihre verkrampfte Miene dabei keineswegs. „Alles in Ordnung?“, flüsterte er verwundert und blinzelte, als ihm daraufhin der schwache Rotschimmer auf den Wangen seiner Sitznachbarin auffiel. Carina nickte lediglich, biss sich aber zeitgleich auf die Wangeninnenseite, denn ihr schmerzender Hintern ließ sich kaum ignorieren. Cedric würde dafür so was von büßen… „Ist er schon aufgewacht?“, fragte Carina, als Emma wenige Minuten später mit einem Tablett zurückkam, auf dem sich drei dampfende Tassen befanden. Angesprochene nickte und ließ sich nun ebenfalls in dem Sessel nieder, der dem Sofa genau gegenüber stand. „Ja, vor 2 Stunden. Aber er scheint nicht wirklich bei Sinnen zu sein… Er möchte jedenfalls nicht mit mir reden und ich…“ Sie stockte kurz und schluckte, als sich Tränen in ihren Augen sammelten, …ich weiß nicht, was ich ihm sagen soll.“ Carina war für einen Moment schier sprachlos, doch hier schaltete sich Grell ein. „Es ist schon mal ein gutes Zeichen, dass er nicht versucht hat sich von den Fesseln zu befreien und sich erneut etwas anzutun. Manche Menschen verlieren nach einem Selbstmordversuch vollkommen den Verstand und versuchen sich in der Not sogar die Zunge abzubeißen. Wir sollten froh sein, dass es bei deinem Mann scheinbar noch nicht so weit gekommen ist.“ Die beiden Frauen starrten den Rothaarigen verblüfft an. Carina allerdings mehr durch den Aspekt, dass er sie gerade äußerst beeindruckt hatte. Wie oft vergaß sie einfach, dass er wesentlich älter war und seine Erfahrung dadurch viel weiter reichte, als ihre eigene? Das hatte er auf jeden Fall gerade unter Beweis gestellt. An der Stelle, wo ihr die Worte gefehlt hatten, hatte er eingegriffen und scheinbar genau das Richtige gesagt, denn Emmas Miene entspannte sich ein wenig. „Ihr beide scheint euch in diesem Gebiet wirklich ziemlich gut auszukennen“, merkte sie an und sogleich versteifte sich Carina. „…Könnte man so sagen“, gab sie schließlich zu, suggerierte aber gleichzeitig mit ihren Unterton, dass die Frau besser nicht genauer nachhacken sollte. Emma verstand die stumme Aufforderung und die nächsten paar Minuten nippten alle drei nur stillschweigend an ihrem Tee. Doch natürlich ließ sich der unangenehme Moment nicht viel länger herausschieben, in dem Carina und Grell sich erheben mussten. „Also, wollen wir?“, sagte Grell an seine Partnerin gewandt und diese nickte. Er kannte sie mittlerweile gut genug, um ihr die Nervosität ansehen zu können. Es war mal wieder so typisch, dachte er sich und lächelte mild. Es war Carinas Vorschlag gewesen heute noch einmal wieder zu kommen und mit diesem Charlie zu sprechen. Dennoch – und das konnte er ihr ebenfalls ganz genau ansehen – hatte sie überhaupt keinen Plan, wie dieses Gespräch verlaufen sollte. „Keine Sorge, wir machen das schon“, flüsterte er ihr zu, als sie die Treppe nach oben hinaufgingen. „Ich hoffe, du hast Recht“, murmelte sie zurück, warf ihm aber dennoch ein dankbares Lächeln zu. Was würde sie nur ohne ihren besten Freund tun? Das Schlafzimmer des Ehepaars war abgedunkelt, als die beiden Todesgötter mit Emma zusammen eintraten. Charlie lag auf der rechten Seite des Doppelbettes, seine Hände waren immer noch so festgebunden, dass er sich selbst nichts antun konnte, gleichzeitig aber auch nicht so fest, dass er sich die Wunden in seinem Unterarm wieder aufreißen konnte. Sein kurzes, schwarzes Haar wirkte durcheinander, ebenso wie er selbst. Seine braunen Augen glitten unruhig hin und her und als Emma zum Sprechen ansetzte, zuckte er vor Schreck zusammen. „Charlie, das sind die beiden, von denen ich dir erzählt habe. Sie haben dir das Leben gerettet und würden jetzt gerne mit dir sprechen.“ Ihre Worte wirkten gefasst, aber Carina konnte das Zittern ihrer Hände sehen, als sie sie im Stoff ihres Kleides vergrub. „Hallo Charlie“, begann sie vorsichtig und setzte sich mit etwas Abstand zu ihm aufs Bett, Grell immer dicht hinter sich. „Mein Name ist Carina und das hinter mir ist Grell. Wir…“, sie schluckte kurz, wog jedes einzelne Wort nachdenklich in ihrem Kopf ab, „wir wollten mit dir darüber sprechen, was gestern passiert ist.“ Der Schwarzhaarige begann sachte zu zittern und wenn sein Gesicht nicht schon so bleich gewesen wäre, dann wäre sicherlich auch noch der letzte Rest an Farbe daraus entwischen. Carina hatte nicht erwartet, dass er mit ihnen sprechen würde. Umso mehr überraschte es sie daher, dass er nun langsam den Mund öffnete und stotternd die Stimme erhob. Wäre sie nicht so getränkt gewesen von Verzweiflung und Selbsthass, dann hätte sie einen schönen Klang haben können. „Warum habt ihr das getan?“, brachte er bebend hervor und starrte die für ihn fremde Frau mit einem vorwurfsvollen Gesichtsausdruck an. „…Ich verstehe nicht“, begann die Todesgöttin verwirrt, wurde aber sogleich von ihm unterbrochen. „Warum habt ihr mich gerettet? Warum habt ihr mich nicht sterben lassen?“, rief er verzweifelt aus, während nun dicke Tränen seine Wangen hinabkullerten. Carina spürte, wie sich Grell hinter ihr versteifte und wie Emma sich entsetzt die Hände vor den Mund schlug. Ein paar Sekunden herrschte angespannte Stille, dann ergriff Carina erneut das Wort. „Ist das nicht offensichtlich?“, fragte sie ruhig und blickte dem jungen Mann dabei direkt in die Augen. „Ich weiß nicht, wie andere Menschen das sehen, aber ich zumindest glaube, dass man keinen Grund braucht, um jemandem das Leben zu retten.“ „Ich wollte aber nicht gerettet werden“, wisperte Charlie und seine Augen wurden immer größer. „Ich will, dass das endlich aufhört.“ „Das was aufhört?“, fragte Grell und bereute seine Frage sofort, als er die entsprechende Antwort darauf hörte. „Diese Stimme… ich will diese Stimme in meinem Kopf nicht mehr hören.“ Emma brach in leises Schluchzen aus und Carina wusste ganz genau, was sie dachte. Ihr selbst ging es ja schließlich nicht anders. „Eine Stimme?“, hackte sie nach und spürte Beklemmung in sich aufsteigen. Sollte Charlie wirklich Stimmen hören, dann konnte sie nichts für ihn tun. Dann musste er wirklich in ein Krankenhaus. „Gerade ist sie zum ersten Mal seit letzter Woche nicht mehr da, aber ansonsten lässt sie mich nicht mehr in Ruhe. Ich kann nicht schlafen, ich kann nicht essen und ständig redet sie mir ein, dass das alles erst vorbei ist, wenn ich mich umbringe.“ Er schluchzte nun im Gleichklang mit seiner Frau. Carina biss sich auf die Unterlippe. Jetzt wusste sie wirklich nicht mehr, was sie noch sagen sollte. Und wie schlimm musste es erst Emma gerade gehen? Sie erwartete doch ein Kind… „Und wenn ich dann mal Schlaf finde, weil mein Körper einfach nicht mehr kann“, weinte der Schwarzhaarige weiter, „dann erscheint dieses Monster in meinen Träumen und spricht mit eben dieser Stimme, die ich die ganze Zeit in meinem Kopf höre.“ „Ein Monster?“, hörte Carina Grell fragen und etwas an seinem Ton sagte ihr, dass ihm plötzlich ein Gedanke gekommen sein musste, der nichts mit einer Geisteskrankheit zu tun hatte. Sie warf ihm einen kurzen, fragenden Blick zu, doch der Schnitter konzentrierte sich einzig und allein auf den gefesselten Mann vor sich. „Ein Mann“, krächzte Charlie und wiegte sich langsam auf dem Bett vor und zurück. Seine nächsten Worte zogen Carina den Boden unter den Füßen weg. „Mit langen, schwarzen Haaren und blutroten Augen. Mit schwarzen Schwingen auf dem Rücken.“ Die Todesgöttin spürte, wie nun sie diejenige war, die erbleichte. Nein, das konnte nicht sein… Kapitel 83: Sorge und Schuld ---------------------------- Charlie und Emma starrten sie beide an, als hätte sie plötzlich ihren Verstand verloren, aber das war Carina vollkommen gleichgültig. Ihr wurde gerade so einiges klar und eine Tatsache, die sie nicht leugnen konnte, fraß sich unwiderruflich in ihren Verstand. Das hier… diese ganze Situation… das ist allein meine Schuld! Samael hatte das hier geplant, von Anfang an und von langer Hand. Carina hatte keine Ahnung, wie er hatte vorhersehen können, dass sie genau zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort sein und diese Situation am gestrigen Tage miterleben würde, aber er hatte es irgendwie vorhergesehen. Sein Plan war vollkommen aufgegangen. Und Carina war darauf hereingefallen. „Er wusste es. Er hat ganz genau gewusst, dass ich niemals jemanden im Stich lassen würde, der Suizid begehen will.“ Was natürlich nicht wirklich verwunderlich war. Solange sie lebte, würde ihr dieses Thema immer nahe gehen. Immerhin war es das Ereignis in ihrem Leben gewesen, was sie auf ewig geprägt hatte; sie zu dem gemacht hatte, was sie heute war. „Cedric hat mich doch noch gewarnt. Er hat mich davor gewarnt, dass Dämonen mit ihren zukünftigen Opfern Spielchen spielen. Und ich Idiotin dachte wirklich, ich wäre schlau genug, um auf so etwas nicht reinzufallen.“ Sie fühlte sich dumm und gedemütigt. Aber das war in diesem Moment nicht einmal das Schlimmste. Nein, das Schlimmste war das erdrückende Gefühl der Schuld, die mit einem Mal schwer auf ihren Schultern lastete. Charlie und Emma… Für Samael waren sie lediglich ein Kollateralschaden, so viel war klar. Es war ihm egal, was er den beiden werdenden Eltern mit seinem Handeln antat. Die ganze Terrorisation, die er diesem jungen Mann in den vergangenen Tagen angetan hatte, hatte lediglich einem Ziel gedient. Und das war sie gewesen. Um ihr eins reinzuwürgen und ihr ziemlich deutlich vor Augen zu führen, wer hier am längeren Hebel saß. Er war ein noch größeres Schwein als Sebastian. „Das ist alles nur meine Schuld“, flüsterte sie und spürte ein scharfes Brennen in ihren Augenwinkeln. „Carina, du kannst nichts dafür“, erwiderte Grell und legte ihr von hinten beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Dämonen wollen, dass andere sich wegen ihrer Taten schuldig fühlen, das ist nun einmal ihre Natur. Glaube mir, wenn ich dir sage, dass es hier nur einen Schuldigen gibt. Und das ist dieser dämliche Samael!“ „Könnte uns vielleicht mal jemand erklären, was hier gerade vor sich geht?“, fragte Emma und eine gewisse Spur von Zorn lag in ihrer Stimme. Nicht, dass Carina es ihr verübeln konnte. Sie selbst wäre auch nicht gerade begeistert, wenn sie an der Stelle der Schwangeren wäre. Der Schwangeren… Ein bitteres Lachen stieg in ihrer Kehle auf. Natürlich. Auch das spielte in Samaels Entscheidung mit rein, ausgerechnet die Sterlings für seine Pläne auszuwählen. Weil er gewusst hatte, dass es sie persönlich treffen würde, wenn eine werdende Mutter betroffen war. Sie fühlte sich von Minute zu Minute dümmer. Ihre blauen Augen richteten sich auf die grauen Emmas und auch dort konnte sie Wut und Unverständnis sehen. Carina seufzte gut vernehmlich. Scheinbar blieb ihr nun wirklich keine andere Wahl mehr, als mit der Sprache herauszurücken. „Na schön“, sagte sie. „Carina“, zischte Grell hinter ihr empört, doch die 19-Jährige drehte sich lediglich zu ihm um und schaute ihn ernst an. „Grell, ob nun schuldig oder nicht, aber ich habe das Ganze zu verantworten. Die beiden haben die Wahrheit verdient.“ „Du hast dich schon des Verrats strafbar gemacht, musst du denn jetzt wirklich noch weitere Regeln brechen?“ „Ich glaube kaum, dass das jetzt noch einen Unterschied macht“, entgegnete sie trocken. „Vor allen Dingen bist du nun wirklich der Letzte, der mich bezüglich der Regeln zurechtweisen sollte.“ „Undy wird das ebenfalls nicht gefallen“, warnte er sie und fuhr sich einmal seufzend durch die langen, roten Haare. „Noch einer, der so klein mit Hut sein sollte, wenn es um Regelverstöße geht“, antwortete sie kühl und spürte erneut eine gewisse Wut in sich aufsteigen. Cedric konnte ihr so oft den Hintern versohlen wie er wollte, niemals würde sie sich von ihm ihr Leben bestimmen lassen! „Na gut, wie du meinst. Aber wenn das am Ende schief gehen sollte, dann war es zumindest nicht meine Idee“, sagte Grell und hob abwehrend beide Hände. „Was zum Teufel ist hier eigentlich los?“, rief Charlie in diesem Moment verzweifelt aus und sah zwischen den beiden Fremden hin und her. Die junge Frau seufzte. „Teufel trifft es schon mal ganz gut“, sagte sie und der schwarzhaarige Mann konnte einfach nicht anders, er blinzelte. „Wie bitte?“ „Vielleicht solltest du dich besser setzen“, wandte sich Carina zuerst an Emma, die diesen Ratschlag auch tatsächlich befolgte und sich neben ihren Mann auf dem Bett niederließ. „Okay“, begann die Schnitterin zögerlich und atmete einmal tief ein. „Ich weiß, das klingt jetzt erst einmal unglaubwürdig, aber es gibt einen ganz bestimmten Grund, warum Grell und ich uns mit Selbstmord auskennen.“ Carina schaute ihren besten Freund bittend an, der alles andere als begeistert aussah, aber schließlich doch den Ärmel seines roten Mantels hochschob. Seinen schwarzen Handschuh zog er ein Stück hinunter, sodass die schmalen, verblassten Narben auf seinem Handgelenk deutlich zu sehen waren. Während Charlie langsam der Mund aufklappte, wurde Emma bleich. „Meine Narbe befindet sich hier“, fügte Carina erklärend hinzu und deutete auf ihr Herz. Sie konnte deutlich hören, wie die Brünette vor ihr schluckte. „Ihr… ihr habt ebenfalls versucht euch das Leben zu nehmen?“ Carina biss sich auf die Lippe. „Um ganz ehrlich zu sein, ist es nicht nur bei dem Versuch geblieben“, sagte sie schließlich leise und hoffte, dass die Schwangere verstand, was sie ihr damit sagen wollte. Emma verstand sie sogar scheinbar ziemlich gut, denn bereits zwei Sekunden später presste sie sich mit ihrem ganzen Körper gegen das Bettgestell und starrte ihre Gegenüber an, als wären sie die Pest höchstpersönlich. „W…wer oder was seid ihr?“, stammelte sie schließlich und begann in kürzeren Abständen zu atmen. „Emi, beruhige dich“, meinte Charlie in diesem Moment und wirkte in dieser Sekunde, in der er seiner Frau seine gesamte Aufmerksamkeit schenkte, zum allerersten Mal richtig klar im Kopf. Anscheinend hatte er sich gerade endlich daran erinnert, dass seine Frau schwanger war und sich nicht allzu sehr aufregen dürfte. „Wir sind die Wesen, die das Ergebnis eines erfolgreichen Selbstmordes sind“, sagte Grell und lächelte zur Abwechslung tatsächlich nicht, machte nicht einmal seine „Death“ Pose. „Wir sind Todesgötter.“ Die beiden Menschen vor ihnen erbleichten, wenn möglich, nur noch mehr. „Unmöglich“, wisperte Emma und starrte sie beide verstört an. „Ich wünschte, es wäre so“, entgegnete Carina trocken. Sie zog ihr Kleid so weit es ging hinunter und enthüllte somit den Ansatz ihrer Narbe. „Ich habe mir ein Messer ins Herz gerammt. Wie hätte ich so etwas überleben sollen?“ Sie konnte Emma an der Nasenspitze ansehen, dass sie sich den Kopf nach einer logischen Antwort zermarterte, aber immer wieder zum gleichen Ergebnis kam. Seufzend ließ Carina nun zusätzlich ihre Tarnung fallen, sodass sich ihre Augen gut sichtbar von dem tiefen Blau in das auffallend leuchtende Gelbgrün verwandelten. Charlie starrte sie fassungslos an, während Emma der Mund aufklappte und sie entsetzt nach Luft schnappte. Carina konnte jede Menge Sympathie für die junge Frau aufbringen, aber momentan hatte sie dennoch nicht die Geduld dafür übrig, ihr großartig viel Zeit zum Nachdenken zu überlassen. Das konnte sie tun, wenn die beiden Shinigami das Haus wieder verlassen hatten. „Fakt ist“, fuhr sie daher unerbittlich fort und schaute abwechselnd von Charlie zu Emma, „dass ich vor nicht allzu langer Zeit einen Dämon verärgert habe und es dieser Dämon nun auf mich abgesehen hat.“ Sie erwähnte weder, dass besagter Dämon ein Erzengel war, noch seinen Namen. Das wäre vielleicht auch ein wenig zu viel des Guten gewesen. „Und was haben wir bitteschön damit zu tun?“, fragte Emma verärgert. „Nichts, das ist ja das Problem“, antwortete Carina mit einem bitteren Unterton und schloss die Augen, um sich zu beruhigen. Um das pochende Gefühl der Schuld zurückzudrängen. „Wisst ihr“, begann Grell und Carina konnte an seiner Stimme hören, dass er momentan sehr ernst war, „all die Legenden… all die Geschichten, die man sich über Dämonen erzählt, sind wahr. Ich wünschte, es würde sich lediglich um eine bloße Übertreibung der Menschen handeln, die dazu da ist, dass die Kinder früh zu Bett gehen, aber so ist es leider nicht. Dämonen brauchen keinen Grund, um jemandem etwas anzutun oder zu schaden. Wie ich vorhin bereits sagte, das liegt in ihrer Natur. Genauso wie es in der Natur der Shinigami liegt die Seelen der Verstorbenen einzusammeln oder in der Natur der Engel, das himmlische Reich zu beschützen.“ „Dennoch lässt sich schwerlich leugnen, dass euch das alles vermutlich erspart geblieben wäre, wenn ich gewisse Entscheidungen nicht getroffen hätte. Und das es dann ausgerechnet eine Familie trifft, die bald zu dritt sein wird, ist auch noch mal ein subtiler Hinweis von diesem dämlichen Teufel.“ „Ich verstehe nicht“, meinte Emma und wollte gerade weitersprechen, doch die 19-Jährige kam ihr zuvor. „Wie es der Zufall will, habe ich vor ein paar Wochen ebenfalls ein Kind zur Welt gebracht.“ Sie fluchte. „Dieser dämliche Bastard wusste ganz genau, dass er mich damit kriegen würde. Und ich Idiotin habe es nicht gemerkt.“ „Das heißt“, begann Charlie, dessen Stimme nun kühl und distanziert wurde, „dass ich überhaupt nicht verrückt bin, sondern ein Dämon von mir Besitz ergriffen hat, um mich – und unterbrich mich, falls ich mich irre – in den Selbstmord zu treiben und sich somit an dir zu rächen? Weil er wusste, dass das ein rotes Tuch für dich sein würde?“ Carina wünschte, er hätte es nicht so treffend zusammengefasst, aber… „Ja“, presste sie hervor. „Ich hätte mich beinahe… dabei war ich nie… Ich hätte beinahe Emma und das Kleine alleine gelassen.“ Wut schwang nun ganz eindeutig in seiner Stimme mit und Carina konnte es ihm nicht verübeln. „Es tut mir leid“, flüsterte sie. „Bitte glaubt mir, dass ich so etwas nie gewollt habe.“ Grell warf den beiden Menschen einen bösen Blick zu. Mit ihrem Verhalten sorgten sie nicht gerade dafür, dass sich die Schuldgefühle seiner besten Freundin dezimierten. Natürlich konnte er es irgendwo nachvollziehen, er war schließlich kein Idiot. Dennoch, gefallen musste es ihm deswegen noch lange nicht. „Es tut mir leid, Emi“, stieß der dunkelhaarige Mann auf dem Bett leise hervor und wandte den Kopf gen Boden, während er einmal leise aufschluchzte. Stumme Tränen tropften auf die Bettdecke. „Es tut mir so leid“, weinte er und auch die werdende Mutter begann nun zu schluchzen, als sie ihren Mann fest in die Arme schloss und sich an ihm schmiegte. Ihn zu trösten versuchte. Carina konnte den Anblick kaum ertragen. Was Samael diesem Mann angetan hatte und das nur, weil er es einfach konnte und um ihr zu schaden, ihr ganz allein… Die Schnitterin erhob sich so ruckartig, dass Grell hinter ihr erschrocken zusammenzuckte. „Wenn noch einmal irgendetwas passieren sollte, was euch komisch vorkommt… oder ihr generell Hilfe braucht, bei was auch immer… kommt in das Bestattungsinstitut auf der anderen Seite des Parks. Dort werdet ihr mich finden.“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und verließ das Schlafzimmer ohne noch einen einzigen Blick zurückzuwerfen. Grell richtete sich ebenfalls hastig auf und folgte ihr wortlos. Carina trat aus dem Haus hinaus und nahm einen tiefen, kontrollierten Atemzug. Und dann noch einen und noch einen, bis sie sich wieder halbwegs unter Kontrolle hatte. Ihre Beine trugen sie währenddessen jedoch weiter. Weg von dem Haus, weg von Charlie und Emma, sogar weg von Grell. Einzig und allein das drückende Gefühl in ihrer Brust, davor konnte sie nicht weglaufen. Mitten im Park ließ sie sich auf die nächstbeste Bank fallen, stützte sich mit ihren Ellbogen auf den Knien ab und vergrub das Gesicht tief in den Händen. Der Schmerz, der bei dieser Aktion ihr Hinterteil durchfuhr, ignorierte sie gekonnt. Es war anders als in der Nacht, in der sie sich in Cedrics Armen ausgeweint hatte. Damals hatte ihr Körper gezittert und vor Schluchzern gebebt. Jetzt jedoch kullerten ihr die Tränen stumm über das Gesicht, um gleich darauf in ihren Handflächen zu versickern. Es machte die Situation kein Stück besser, aber zumindest der Druck in ihrer Brust ließ ein wenig nach. Carina war dieser Prozess nicht unbekannt. Sie war noch nie jemand gewesen, der schnell zu heulen anfing, aber wenn es dann erst einmal so weit war, dann hatten sich bereits so viele unterdrückte Gefühle angestaut, dass die Tränen dann einer Art Befreiungsschlag glichen. So auch jetzt. Die Parkbank knarzte, als sich jemand neben ihr niederließ. Carina musste nicht aufsehen um zu wissen, dass es sich dabei um Grell handelte. Spätestens, als sie eine Sekunde später eine Hand auf ihrem Rücken spürte, die gutmütig darüber streichelte, war die Sache klar. „Carina, mach dich nicht so fertig deswegen. Es ist doch nichts passiert. Er lebt noch, das ist die Hauptsache.“ „Er hätte aber genauso gut tot sein können“, antwortete sie mit zittriger Stimme, doch davon wollte der Rothaarige nichts hören. „Ist er aber verdammt nochmal nicht, weil du es verhindern konntest. Bin ich denn der Einzige, dem das noch im Gedächtnis geblieben ist?“ Er schnaubte genervt. „Also ehrlich, ich sage dir jetzt mal was. Wenn ich allein dort gewesen wäre, ich wäre nicht in das Haus gegangen und hätte geholfen. Das war ganz allein deine Entscheidung. Nur wegen dir lebt er noch. Und dabei ist es scheißegal, aus welchen Gründen auch immer Samael das getan hat, denn zu diesem Zeitpunkt wusstest du davon noch überhaupt nichts. Ich kenne wirklich keinen Shinigami, der so selbstlos ist wie du. Und das sage ich nicht, damit du dich besser fühlst, sondern weil es wirklich so ist. Glaube mir das bitte.“ Carina schaute mit geröteten Augen auf, ihre Wangen nahmen nun dieselbe Farbe an. „… ich bin nicht selbstlos“, murmelte sie, ganz eindeutig peinlich berührt und Grell grinste. Er legte ihr eine Hand auf den Kopf und wuschelte einmal durch ihre blonde Mähne. „Doch, bist du. Und jetzt wich dir die Tränen weg, denn Undy wird sicherlich nicht begeistert sein, wenn du in einem solchen Zustand ins Bestattungsinstitut zurückkommst.“ Jetzt war sie an der Reihe zu schnauben. „Das wird er so oder so nicht sein. Du hast es doch gerade eben selbst gesagt, oder? Er wird absolut sauer sein, wenn er erfährt, dass ich zwei Menschen die Wahrheit über uns gesagt habe.“ „Ich habe dich gewarnt“, erinnerte er sie. „Das sollte auch kein Vorwurf sein“, entgegnete Carina und zuckte einmal mit den Schultern. „Was soll’s. Er muss endlich mal lernen, dass ich mich von ihm nicht in meine Schranken weisen lasse. Nicht nach der Aktion heute morgen.“ Sogleich biss sie sich hart auf die Lippe, als Grell sie eindringlich musterte. „Jetzt sag es mir endlich, ich platze vor Neugier“, stöhnte er. „Entschuldige, ich wollte dich nicht daran erinnern, wirklich nicht. Aber ich bleibe bei meiner Meinung, ich werde darüber nicht sprechen“, sagte sie entschieden und wandte den Blick ab, die Wangen immer noch schwach gerötet. Grell lehnte sich zu ihr herüber. „War es… etwas Sexuelles?“ „Vergiss es einfach, Grell.“ „Ich will es aber wissen!“ „Das hier ist aber kein Wunschkonzert“, gab sie nonchalant zurück und erhob sich nun langsam von der Bank, was ihre Kehrseite ihr stumm dankte, indem der ziehende Schmerz sofort nachließ. „Aber jetzt etwas anderes. Du musst mir einen Gefallen tun, Grell.“ Der Reaper stöhnte erneut. „Das letzte Mal, als du mich um einen Gefallen gebeten hast, ist das nicht gut ausgegangen“, erwiderte er und erinnerte sich daran, wie er für die Schnitterin das Stammbuch der Familie Phantomhive besorgt hatte. „Keine Sorge, es ist nichts Weltbewegendes. Ich muss mit Sebastian und Ciel Phantomhive sprechen. Und ich will nicht, dass er sich Sorgen macht und denkt, mir wäre etwas passiert, sollte es länger dauern. Könntest du ihm also bitte Bescheid sagen was passiert ist und dass ich etwas später nach Hause komme?“ Ganz kurz spürte sie Verwirrung über sich selbst in sich aufsteigen. Nach Hause… Wärme breitete sich in ihrer Brust aus. So schnell war das also gegangen… „Und das hat natürlich gar nichts damit zu tun, dass du nicht diejenige sein willst, die ihm die großartigen Neuigkeiten verkündet, richtig?“ Sie lächelte schief. „Na ja, vielleicht ein bisschen“, gab sie zu und ihr Mentor seufzte. „Na, von mir aus. Ich hab sowieso noch ein wenig Zeit, bis meine nächste Schicht beginnt.“ „Danke, Grell. Apropos Schicht… Was hat William eigentlich dazu gesagt, dass du Ronald angeblich verletzt hast?“ Erst jetzt war ihr wieder eingefallen, dass sie ihn noch gar nicht danach gefragt hatte. Sie musste dringend daran denken, dass sie nicht die Einzige war, die Probleme in ihrem Leben hatte. „Ach das…“, begann Grell und seufzte. „Du kennst William ja. Begeisterung sah wahrlich anders aus.“ Eine andere Art von schlechtem Gewissen ergriff Carina nun. „Er hat dich also angeschrien?“ „Ja, das hat er wohl. Aber ich bin es ja gewohnt, kein Grund sich deswegen aufzuregen.“ Carina jedoch kannte ihren besten Freund gut genug, um die unterschwellige Enttäuschung in seinen Worten zu hören. Sie seufzte. „Es tut mir wirklich leid, dass du schon wieder den Kopf für mich hinhalten musstest“, murmelte sie, weitete aber im nächsten Moment die Augen, als er ihr mit einer Hand sanft durch die Haare wuschelte. „Ich sagte doch schon, es ist in Ordnung“, lächelte der Rothaarige ehrlich und zwinkerte ihr einmal zu. „Vergiss nicht, dass ich das alles aus purem Eigennutz mache. Auch ich habe immerhin etwas davon, wenn es dir und Lily gut geht.“ Carina erwiderte sein Lächeln. „Natürlich“, sagte sie leicht dahin und beendete das Thema, was wohl genau das war, was Grell wollte. „Also kann ich mich auf dich verlassen?“ „Na, immer doch“, grinste er, zwinkerte ihr hinter seinen roten Brillengläsern erneut zu und wandte sich dann zum Gehen. „Bestell Sebas-chan schöne Grüße von mir, okay?“ „Die will er mit Sicherheit hören“, erwiderte die junge Frau sarkastisch, doch Grell schien ihr gar nicht mehr richtig zugehört zu haben, schlenderte er doch bereits leise pfeifend in Richtung Bestattungsinstitut. Carina schüttelte darüber lediglich den Kopf. Manchmal war ihr bester Freund einfach eine Marke für sich… und manchmal öfters, als ihr persönlich lieb war. Seufzend konzentrierte sie ihre Sinne auf ihre übernatürlichen Fähigkeiten und bereits wenige Sekunden später rannte sie mit federnden Schritten über die Dächer Londons, unsichtbar für ihre Mitmenschen. Es fühlte sich unglaublich gut an, ihre Muskeln wieder ein wenig zu belasten. Den Wind auf der Haut zu spüren. Sich ihrer Kraft wieder bewusst zu werden. Es erstaunte sie selbst, aber sie hatte die Vorteile, die das Dasein als Shinigami mit sich brachte, tatsächlich vermisst. „Ich sollte Grell bei nächster Gelegenheit fragen, ob er wieder anfängt mit mir zu trainieren. Gerade in unserer derzeitigen Situation kann das nicht von Nachteil sein“, dachte sie, während sich die eng aneinandergereihten Häuser langsam auflösten und immer mehr Wiesen und Felder in den Fokus rückten. Die dichten Bäume am Wegesrand gaben ihr eine gute Fortbewegungsmöglichkeit und so dauerte es nicht einmal 10 Minuten, bis vor ihr das riesige Anwesen der Familie Phantomhive aufragte. Die Deutsche kam nicht umhin beeindruckt zu sein. Solche Bauten sah man immerhin nicht alle Tage, nicht einmal im 21. Jahrhundert. Alles hier sprach von Perfektion und trug eindeutig Sebastians Handschrift. Der Dämon konnte sagen, was er wollte, aber er litt definitiv an einem ausgeprägten Drang zum Perfektionismus… Lautlos ging sie auf die breite Eingangstür zu, die genau in jenem Moment geöffnet wurde, als sie die strahlend weißen Stufen davor betrat. „Sie wünschen, Miss?“, wurde sie von einem gepflegten, älteren Mann empfangen, der die gleiche Uniform trug wie Sebastian. Seine Augen lagen eine Sekunde zu lang auf den ihren, die immer noch ihre gelbgrüne Farbe aufwiesen. Carina lächelte. Er wusste also Bescheid. „Eine Audienz bei Lord Ciel Phantomhive, wenn Ihr so frei seid.“ Der Mann beäugte sie noch einen Moment länger, besah sich ihr Gesicht ganz genau und lächelte schließlich. „Ich werde Lord Phantomhive von Ihrem Gesuch informieren. Bitte gedulden Sie sich noch einen kurzen Augenblick.“ Carina neigte den Kopf und die Tür schloss sich wieder mit einem leisen Klicken. Kurz fragte sie sich, ob sie dem Butler vielleicht ihren Namen hätte mitteilen sollen, doch diese Sorge blieb unbegründet. Denn bereits 3 Minuten später öffnete sich die Tür erneut und der ältere Mann lächelte ihr freundlich zu, während er zur Seite wegtrat. „Lord Phantomhive erwartet Sie.“ „Wo ist Carina?“, lautete die erste Frage des Undertakers, als Grell den Laden allein betrat. „Beruhige dich, es geht ihr gut. Nun ja… den Umständen entsprechend gut zumindest.“ Der Silberhaarige hob eine seiner schmalen Augenbrauen. Das hörte sich alles andere als gut an… „Was ist passiert?“, fragte er, als ihn ein ungutes Gefühl ergriff. Und dieses Gefühl verstärkte sich nur noch, als Grell ihm berichtete, was in dem Haus der Familie Sterling geschehen war und vor allem was sie dort herausgefunden hatten. Der Bestatter fluchte. „Mir kam die ganze Angelegenheit von Anfang an seltsam vor. Es war einfach des Zufalls zu viel.“ „Das lässt sich leicht sagen, wenn man nicht dabei war. Natürlich kam es uns auch nicht ganz sauber vor, aber wir haben gespürt, dass die Angst und Panik von Emma echt war. War sie ja auch, wie hätte sie denn ahnen können, was wirklich hinter dem Selbstmordversuch ihres Mannes steckt? Glaub mir, sie war am allermeisten schockiert, als Carina ihr die Wahrheit erzählt ha-“ „Carina hat was?“, unterbrach der Todesgott seinen Gegenüber harsch und als Grell daraufhin nur müde mit den Schultern zuckte, fluchte er erneut. Dieses Weib kann man keine fünf Minuten allein lassen! „Ich dachte mir schon, dass du davon nicht begeistert wärst und das habe ich Carina auch so gesagt. Es war ihr egal“, grinste der Rothaarige schwach. „Wird langsam gruselig, dass ich deine Reaktionen so gut vorausahnen kann.“ „Lenk nicht vom Thema ab, Rotschopf. Was hat sie ihnen gesagt?“ „Kein Grund gleich persönlich zu werden“, echauffierte sich Grell und verschränkte die Arme vor der Brust. „Nur das Nötigste. Das wir Todesgötter sind und Samael es momentan auf uns abgesehen hat. Und natürlich“, er seufzte, „denkt sie mal wieder, dass das ihre Schuld ist. Vollkommener Schwachsinn, wenn du mich fragst. Nicht einmal der Zorn dieses Dämons ist wirklich gerechtfertigt. Wäre er nicht so größenwahnsinnig, dann wären wir ihm immerhin niemals in die Quere gekommen.“ Cedric konnte vor seinem geistigen Auge sehen, wie Carina sich dafür die Schuld gab. Natürlich ließ es sich nicht abstreiten, dass es einen indirekten Zusammenhang gab, aber hier von irgendeiner Art von Schuld zu sprechen… Nein, das stimmte nun wirklich nicht! „Und wo ist sie jetzt?“, fragte er und wusste beinahe noch im selben Augenblick, dass ihm die Antwort nicht gefallen würde. Und er behielt Recht. „Sie wollte zu dem kleinen Phantomhive. Meinte, sie hätte etwas mit ihm und Sebas-chan zu besprechen.“ „Hatten wir nicht jüngst erst eine Diskussion, in der selbst sie zu dem Schluss kam, dass sie vorerst nur noch in unserer Begleitung nach draußen gehen sollte?“, fragte Cedric kalt, obwohl es eigentlich keine Frage war. Eher eine Feststellung. „Stimmt, da war ja was“, fiel es Grell jetzt auch wieder ein. Allerdings schien er sich nicht großartig darum zu kümmern, denn seine Reaktion bestand in einem einzigen Schulterzucken. „Carina ist schon ein großes Mädchen und bis zum Anwesen der Phantomhives ist es nicht sonderlich weit, wenn man ein Shinigami ist. Und eigentlich kann sie ja ziemlich gut auf sich allein aufpassen, das weißt du genau so gut wie ich, Undy. Wir können sie nicht in einen goldenen Käfig sperren, das würde nur schief gehen.“ Cedric schnaubte. Sicherlich wusste er das. Aber Samael war nun einmal eine ganz andere Kategorie von Gegner. Selbst er würde Schwierigkeiten in einem solchen Kampf bekommen und ohne dabei arrogant klingen zu wollen: er war definitiv stärker als die 19-Jährige. „Übrigens war Carina heute gar nicht gut auf dich zu sprechen. Was hast du heute morgen bitte angestellt?“, fragte Grell ganz nebenbei und erhoffte sich endlich eine Antwort auf seine Frage. Carina würde es gar nicht gefallen, dass er einfach den Silberhaarigen gefragt hatte, aber was hatte er denn für eine Wahl? Aus ihr war ja immerhin nichts rauszukriegen… Der Bestatter grinste süffisant. „Oh, das kann ich mir vorstellen“, kicherte er dunkel. Grell hob eine Augenbraue. „Okay, jetzt musst du es mir einfach sagen. Ich platze schon den ganzen Tag fast vor Neugier und Carina wollte es mir einfach nicht sagen, dabei sagt sie mir sonst immer alles. Gemeinheit, ausgerechnet jetzt mit Geheimnissen anzufangen.“ „Es ist ihr peinlich, deswegen sagt sie es dir nicht“, lachte er schadenfroh, ging zur Tür und drehte das Schild um, sodass Außenstehende wussten, dass die Tür für den Rest des Tages verschlossen bleiben würde. „Ach komm, was könnte bitteschön so peinlich sein? Ich bin in Liebesdingen vielleicht nicht der mit der meisten Erfahrung, aber schocken kann mich in dieser Beziehung schon lange nichts mehr.“ „Ach ja?“, grinste der Silberhaarige provokant und verschränkte die Arme locker vor der Brust. „Ist dir an Carina heute vielleicht etwas aufgefallen? Das sie sich zum Beispiel sehr langsam hingesetzt hat oder so etwas in der Art?“ Mehr würde der Totengräber nicht sagen, das musste einfach als Hinweis genügen. Er konnte es sprichwörtlich in Grells Gehirn rattern hören, als er die Aussage seines Gegenübers zur Kenntnis nahm, verarbeitete und daraus logische Schlüsse zog. Die gelbgrünen Augen weiteten sich schockiert. „Das hast du nicht getan“, meinte er fassungslos und ein erneutes Kichern bahnte sich den Weg über die Lippen des Bestatters. „Hehe, doch. Habe ich.“ Der Rothaarige schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. „Du… du hast…“, stammelte er, während er verzweifelt nach Worten suchte und sein Gesicht dabei die Farbe seiner Haare annahm. Cedric konnte sich nicht daran erinnern, ihn jemals so sprachlos gesehen zu haben. Und es amüsierte ihn königlich. „Du hast sie gezüchtigt?“, brachte der Todesgott schließlich hervor, nach wie vor vollkommen entsetzt. „Korrekt“, erwiderte der Ältere locker, als würden sie gerade über das Wetter reden. „Ich fasse es nicht“, antwortete der Reaper mit weit geöffnetem Mund und blinzelte. „Ich weiß gerade nicht einmal, ob ich wütend auf dich sein soll.“ Der Undertaker lachte. „Nicht mal Carina ist wirklich wütend auf mich, keine Sorge. Wie gesagt, es ist ihr nur peinlich. Peinlich, dass es ihr gefallen hat.“ Grells Wangen wurden noch eine Spur dunkler. Carina sollte das… gefallen haben? „Möchtest du noch mehr Details hören, oder…?“ „Nein, danke“, schnaubte Grell und ärgerte sich gerade darüber, dass er hingegen seiner eigenen Aussage nun doch schockiert darüber war, was bei seiner besten Freundin scheinbar so alles im Schlafzimmer passierte. Nein, von dem Bestatter wollte er definitiv keine Details erfahren. Von Carina allerdings dafür umso mehr! „Gut. Dann kannst du dich direkt einmal nützlich machen und auf dein Patenkind aufpassen. Ich muss kurz weg.“ Der aktive Shinigami blinzelte irritiert. „Wie, jetzt?“, fragte er und sah dem Undertaker dabei zu, wie er sich seinen schwarzen Mantel zurechtzupfte. „Ja“, entgegnete der Silberhaarige entschieden. „Keine Sorge, es wird nicht lange dauern. Ehe deine nächste Schicht beginnt, bin ich wieder da.“ Ohne eine wirkliche Antwort von dem Patenonkel seiner Tochter abzuwarten, verließ der Todesgott in der nächsten Sekunde bereits den Laden und ließ einen ungläubig dreinblickenden Grell zurück, der nun beleidigt die Arme vor der Brust verschränkte. In letzter Zeit tat er das viel zu häufig. „Unverschämtheit“, murmelte er schnippisch. Na ja, wenigstens konnte er so ein wenig mehr Zeit mit Lily verbringen. Und endlich mal schauen, wie groß sie schon war, um ihr schon bald neue süße Kleidchen kaufen zu können… „Was verschafft mir die Ehre Eures Besuches, Lady Carina?“, wurde sie von Ciel Phantomhive in dem Moment begrüßt, als sie sein Arbeitszimmer betrat. Er saß hinter einem massiven Schreibtisch, der in Carinas Augen viel zu groß für seinen kleinen Körper war. Seine Ellbogen stützte der Junge auf der glatten Oberfläche ab, seine Hände waren locker ineinander verschränkt. Dicht hinter ihm stand Sebastian, sein allseits bekanntes Lächeln auf den Lippen, doch einen ernsten Ausdruck in den Augen. Die Botschaft war unmissverständlich. Sollte sie versuchen seinem Meister in irgendeiner Art und Weise zu schaden, würde sie dafür bluten. Carina jedoch blieb die Ruhe in Person. Immerhin hatte sie keineswegs vor einen Streit vom Zaun zu brechen. Daher befasste sie sich auch nicht näher damit ihm zu sagen, dass sie keine Lady war, sondern kam lieber sofort zum Punkt. „Euer Vater“, wandte sie sich also direkt an den Dämon, „hat scheinbar seine ersten Schritte gegen mich eingeleitet.“ Die blauen Augen des Jungen weiteten sich, während sich die seines Butlers verengten. Einige lange Sekunden herrschte angespannte Stille im Raum, dann deutete Ciel mit seiner Hand in die linke Ecke des Raumes, wo sich neben einer Couch und einem Sessel ein niedriger Tisch befand. „Bitte“, forderte er sie auf und die Schnitterin kam seinem Angebot nach. Sie ließ sich langsam auf die Couch sinken, während Ciel sich von seinem Platz am Schreibtisch erhob und Sebastian fixierte. „Sebastian, bring uns Tee.“ „Sehr wohl, Mylord“, erwiderte der Schwarzhaarige verbeugend, warf Carina erneut diesen eindeutigen Blick zu und verließ dann das Zimmer mit raschen Schritten. Der 14-Jährige setzte sich in den Sessel und schlug die Beine übereinander, bedachte sie mit einem kühlen Ausdruck der Analyse im Gesicht. Die junge Frau schmunzelte. „Wollt ihr nicht auf euer kleines Hündchen warten, bevor ich fortfahren soll?“ „Das werde ich auch“, antwortete der Junge ruhig und ohne auf ihre Beleidigung einzugehen. „Aber vorerst würde ich gerne noch etwas anderes wissen.“ Die Blondine hob fragend eine Augenbraue. „Ach ja? Und was, bitteschön?“ „Kann ich Undertaker wirklich vertrauen?“ Carina zog nun auch noch ihre andere Augenbraue nach oben. „Das fragt Ihr ausgerechnet mich? Euch ist aber schon bewusst, dass er mein…“, sie stockte kurz, als ihr mit erschreckender Klarheit bewusst wurde, dass sie gerade beinahe mein Ehemann gesagt hätte. Und zwar mit einer Selbstverständlichkeit, die sie selbst schockierte. „… dass wir uns nahe stehen. Ich bin ganz offensichtlich befangen, wieso solltet Ihr also auf das vertrauen, was ich Euch antworten werde?“, korrigierte sie sich und ignorierte Ciels Schmunzeln, das ziemlich deutlich zeigte, dass er ganz genau wusste, was sie eben hatte sagen wollen. „Weil du mich auf seltsame Art und Weise an Lizzy erinnerst“, antwortete er ihr so ehrlich und plötzlich persönlich, dass es Carina vollkommen aus der Bahn warf. Ihre Augen, die immer noch gelbgrün waren, weiteten sich. „Wie bitte?“, brachte sie hervor und schluckte einmal. Niemand außer ihr und Uriel kannte die Wahrheit über ihre Verbindung zu Elizabeth Midford, aber dennoch war es Ciel scheinbar nicht entgangen, dass es gewisse Ähnlichkeiten gab. „Natürlich könnte ich mich irren“, fuhr der junge Aristokrat fort und begutachtete abschätzend seine akkurat geschnittenen Fingernägel, „aber ich habe über die letzten Jahre eine gute Menschenkenntnis entwickelt, die mich nur äußerst selten im Stich lässt. Falls ich also richtig liege, wärst du niemals mit jemandem liiert, der solche Aktionen weiterhin verfolgt, wie Undertaker es auf der Campania getan hat. Und vergiss nicht, dass ich auch dich damals gesehen habe. Du warst ebenso wie Sutcliff und dieser Knox absolut nicht begeistert von diesen bizarren Puppen.“ „Korrekt“, antwortete sie sehr ruhig, aber doch mit einer gewissen Härte in der Stimme. Sie glaubte – und war sich in dieser Hinsicht auch ziemlich sicher – dass niemand die Bizarre Dolls mehr hasste als sie. „Zudem würdest du wohl kaum zulassen, dass deine Tochter in die Nähe von jemandem kommt, der solche Experimente durchführt. Vater hin oder her.“ „… Ebenfalls korrekt“, erwiderte sie und musste sich ein amüsiertes Grinsen verkneifen. Der Bengel war gut, das musste sie ihm lassen. „Also…“, begann er von neuem und hielt ihren Blick mit seinem fest, „kann ich Undertaker wirklich vertrauen? Oder kann ich es nicht?“ „Das könnt Ihr“, lautete ihre unmittelbare Antwort, über die sie keine Sekunde nachdenken musste. „Ich weiß, es mag seltsam klingen, aber all die Dinge, die er in der Vergangenheit getan hat…“, sie seufzte, „nichts davon hatte die Intention, Euch Schaden zuzufügen. Ihr seid Euch in die Quere gekommen, ja. Aber er würde niemals etwas tun, dass Euch direkt schaden würde. Fragt mich nicht wieso – denn den Grund werde ich Euch nicht nennen – aber es ist die Wahrheit.“ Sie hielt dem Blick des Wachhundes der Königin stand und als er sich leicht in seinem Sessel zurücklehnte, wusste sie, dass er ihr glaubte. „Und wie steht es mit dir?“, fragte er. „Kann ich dir vertrauen, Carina?“ Es war das erste Mal, dass er ihren Namen so ungezwungen aussprach, aber es störte die 19-Jährige nicht. Viel mehr befand sie, dass ihn das um einiges nahbarer machte. Ihr zeigte, dass er nach wie vor ein Mensch war, ein 14-jähriger Junge. Sie lächelte. „Es ist kein Geheimnis, dass ich nicht der größte Fan Eures Butlers bin“, sagte sie und kurz blitzte ein gefährliches Funkeln in ihren Augen auf, „aber Undertaker ist der Mann, mit dem ich für den Rest meines Lebens zusammen bleiben will. Solange Ihr nichts unternehmen werdet, was diesem Vorhaben schadet, schließe ich mich seiner Meinung über Euch an und werde mich mit der Situation arrangieren.“ „Wann ist die Hochzeit?“, lautete Ciels mehr als trockene Antwort, doch Carina spürte, dass er mit ihrer Aussage zufrieden war. Die junge Frau war ebenfalls zufrieden, als genau in diesem Moment Sebastian mit dem Tee wiederkam und sie daher auf die unverschämte Frage ihres Gegenübers nicht antworten musste. „So“, begann Sebastian, nachdem er zuerst seinem Herrn und anschließend der Shinigami Tee eingeschenkt hatte, „wie hat mein Vater sich bemerkbar gemacht?“ Carina schnaubte. „Bemerkbar gemacht… ich schätze, so kann man es wohl auch ausdrücken“, murmelte sie genervt. Mit kurzen, aber prägnanten Worten erklärte sie den beiden die Situation. „Hört sich das für dich nach etwas an, was dein Vater tun würde?“, fragte sie den Butler, der nicht lange über seine Antwort nachdenken musste. „Ja, das passt zu ihm. Er hat sich schon immer einen Spaß daraus gemacht mit seiner Beute zu spielen, bevor er sie sich holt“, meinte er und hatte nachdenklich eine seiner weiß behandschuhten Hände ans Kinn gelegt. „Etwas, was dir bestimmt vollkommen fremd ist, nicht wahr?“, erwiderte sie sarkastisch und als sie das Zucken in Ciels Mundwinkel sah, wusste sie, dass er genau dasselbe gedacht hatte. Sebastian lächelte charmant. „Nun, ich kann mich sicherlich nicht vollständig davon freisprechen, aber wenn es sich bei meinen Gegnern um übernatürliche Wesen handelt, dann bevorzuge ich doch eher die direkte Konfrontation.“ „Toll und wenn es Menschen sind, ist das natürlich kein Problem für ihn“, dachte sie angewidert, kommentierte seine Aussage aber nicht weiter. „Die Frage ist doch jetzt viel eher, was wir unternehmen sollen“, seufzte sie und strich sich einmal müde über die Stirn. Dieser Tag dauerte gefühlt schon eine Ewigkeit an… „Glaubst du, dass Samael die Sterlings noch einmal aufsuchen wird?“ „Schwer vorstellbar“, bemerkte Sebastian ruhig und Carina spürte, wie ihr ein Stein vom Herzen fiel. „Abgesehen davon, dass dieser Charlie nun die Wahrheit kennt und somit nicht mehr so leicht auf ihn hereinfallen würde, hält mein Vater nichts davon den gleichen Trick zweimal zu benutzen. Viel eher wird er dieses Spielchen weitertreiben und erneut versuchen dich dort zu treffen, wo es richtig wehtut.“ Seine rötlichen Augen sahen sie ernst an und nun spannte sich die Todesgöttin wieder an. Ganz nebenbei fiel ihr auf, dass Sebastian sie mittlerweile duzte. Scheinbar sah er keinen Sinn mehr daran diese gesellschaftliche Distanz beizubehalten, saßen sie doch nun immerhin alle in ein und demselben Boot. Es machte ihr nicht wirklich etwas aus, Formalien jeglicher Art waren hier sowieso vollkommen unnötig. „Du hast einen Teufel mit den Kräften eines Erzengels verärgert. Wenn du einen ehrlich gemeinten Ratschlag von mir möchtest: Bereite dich auf das Schlimmste vor.“ Carina schluckte, bevor sie es verhindern konnte. Eine erdrückende Stille breitete sich in dem Arbeitszimmer aus, keiner der Anwesenden schien so richtig zu wissen, was jetzt gesagt werden sollte. Zum ersten Mal seit einer langen, langen Zeit fühlte sich die junge Frau angreifbar. Verletzlich. „So eine verfluchte Scheiße“, schoss es ihr durch den Kopf. Sie war ein Shinigami, verdammt nochmal! Nicht mehr ein unwissender Mensch, nicht mehr das schwache, kleine Mädchen von damals! Vor ihrem inneren Auge ließ sie Revue passieren, was sie seit ihrem Selbstmord alles erlebt hatte. Überlebt hatte. Die Ausbildung. Die Prüfungen. Die Campania. Das Weston College. Die Schwangerschaft und die Geburt. Crow! Sie ballte ihre Hände zu Fäusten, als neue Zuversicht in ihr aufstieg. „Soll er nur kommen“, sagte sie grimmig und schaute Sebastian und Ciel ernst an. „Ich werde es ihm nicht leicht machen.“ Etwas blitzte in den Augen ihrer beiden Gegenüber auf. Anerkennung? Das plötzliche Knarzen der Tür riss die drei Anwesenden abrupt aus ihrer Unterhaltung heraus. Ciel öffnete bereits empört den Mund, um denjenigen zurechtzuweisen, der ungefragt und ohne Anzuklopfen sein Büro betreten hatte, stockte dann aber. „Das ist wirklich gemein von Euch, Earl~“, erklang es von der Tür aus und nun wirbelt auch Carinas Kopf herum. Cedric stand mit einer Schulter gegen den Türrahmen gelehnt da und das leichte Grinsen auf seinen Lippen ließ Carina sich fragen, ob er nun wütend oder doch eher amüsiert war über diesen Anblick, der sich ihm bot. Sein nächster Satz ließ jedoch eher auf Letzteres schließen. Und führte dazu, dass die 19-Jährige sich nur schwer ein Schnauben verkneifen konnte. „Ihr veranstaltet eine Teeparty und ich bin nicht dazu eingeladen?“ Kapitel 84: Vertrauen und Misstrauen ------------------------------------ Carina konnte sich bei dem Auftauchen ihres Partners zwar das Schnauben verkneifen, aber das Rollen ihrer Augen war für alle Anwesenden deutlich sichtbar. „Was für eine Überraschung“, murmelte sie genervt und sah dabei zu, wie der Bestatter sich langsam vom Türrahmen löste und in das Arbeitszimmer hineinschlenderte. Seine gelbgrünen Augen lagen dabei auf ihr und die 19-Jährige hatte kein sonderlich großes Problem damit, seinen Blick gereizt zu erwidern. Konnte er sie denn nicht einmal etwas alleine erledigen lassen? Diese ständige Bevormundung ging ihr sowas von auf die Nerven! „Undertaker“, erwiderte Ciel und verschränkte in kindlich genervter Manier die Arme vor der Brust. „Sieht das hier für dich in irgendeiner Art und Weise nach einer Teeparty aus? Falls ja, dann solltest du dringend mal einen Arzt bezüglich deiner Augen aufsuchen.“ „Shinigami sind von Natur aus kurzsichtig, Mylord“, erinnerte Sebastian ihn mit einem falsch aufgesetzten Grinsen und der kleine Phantomhive reagierte sofort mit der gleichen falschen Freundlichkeit. „Ach ja, ich vergaß“, log er so dreist, dass selbst Carina leise hüsteln musste, um ihr kurzes Auflachen zu verbergen. „So? Wenn das hier keine Teeparty ist, was ist es denn dann?“, fragte der Silberhaarige grinsend nach und machte sich gar nicht erst die Mühe, seinen neugierigen Unterton zu verbergen. „Ich habe die beiden auf den neuesten Stand der Dinge gebracht“, antwortete Carina und erhob sich aus dem Sessel. „Ich denke, wir sind hier fertig?“, fragte sie an Ciel gewandt und der Junge nickte. „Haltet mich auch weiterhin auf dem Laufenden“, erwiderte er. „Solange das ebenfalls für Euch gilt, wird das das kleinste Problem sein“, entgegnete die junge Frau und lächelte zufrieden, als Ciel ihr ein zustimmendes Nicken schenkte. Ohne ein weiteres Wort schritt sie auf Cedric zu und gleich darauf an ihm vorbei. Wie sie es erwartet hatte, wandte sich auch der Shinigami sogleich um und schloss sich ihr an, nicht jedoch ohne noch ein fröhliches „Bis bald, Earl Phantomhive~“ in den Raum zu werfen. Er kicherte leise, als ein deutlich genervtes Seufzen die Antwort des jungen Phantomhives darstellte und schloss die Tür hinter sich. Die beiden Todesgötter gingen Seite an Seite und verließen das Haus stillschweigend. Sobald sie jedoch außer Sichtweite waren, warf Carina dem Vater ihrer Tochter einen mehr als nur dunklen Blick zu. „Kannst du mich nicht ein einziges Mal etwas alleine tun lassen?“, sprach sie ihre vorherigen Gedanken aus und beschleunigte vor lauter Wut ihre Schritte. Cedric passte sich ihr ohne zu zögern an. „Nicht, wenn es dein Leben in Gefahr bringt.“ „Och bitte“, stöhnte sie auf, „ich bin nicht ganz so hilflos, wie du es immer darstellst. Ich kann mich verteidigen und ich dachte eigentlich, dass dir das nach dem Kampf gegen Crow klar geworden sein dürfte. Und ja, ich wurde verletzt, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass ich ihn schlussendlich dennoch getötet habe und das ganz ohne deine Hilfe.“ „Dürfte ich jetzt auch einmal etwas dazu sagen?“, fragte er ruhig, als ihre aufgebrachte Stimme endlich verstummt war. „Sicher“, erwiderte Carina sarkastisch und deutete ihm mit einer Handbewegung an fortzufahren. So, wie sie den Mann neben ihr kannte, konnte sie sich jetzt wieder Vorträge darüber anhören, wie naiv sie war und- „Ich verspreche, dass ich dich in Zukunft alles eigenständig erledigen lasse.“ Carinas Kopf fuhr herum, als sie ihn fassungslos anstarrte. Was hatte er da gerade gesagt? „Das muss ein Traum sein“, dachte sie, denn seine Worte waren beinahe zu schön, um wahr zu sein. Der Undertaker grinste sie an und hob einen Zeigefinger. „Allerdings nur unter einer Bedingung.“ „Na, das klingt doch jetzt schon viel eher nach ihm.“ „Und welcher?“, fragte sie misstrauisch nach und blieb mitten auf dem Weg stehen, um ihn ganz genau beobachten zu können. „Ich werde dich machen lassen, was du willst. Wenn…“, sein Grinsen wurde breiter, „wenn du es schaffst mich in einem Kampf zu Boden zu ringen.“ Amüsiert beobachtete er, wie sich ihre Augen weiteten. „Soll das ein Scherz sein?“, brachte sie schließlich hervor und starrte ihn ungläubig an. „Keineswegs“, meinte er und setzte seinen Weg fort, Carina sogleich dicht neben sich. „Sobald ich am Boden liege oder von mir aus auch nur knie, halte ich mein Versprechen und du darfst draußen rumspazieren, wann und wie du möchtest.“ Die 19-Jährige schluckte. Sie hatte noch nie gegen Cedric gekämpft. Nicht wirklich jedenfalls, denn die kurze Konfrontation auf der Campania und die Rangelei im Weston College, die in ihrem zweiten gemeinsamen Kuss geendet hatte, konnte man wohl kaum wirklich als Kampf bezeichnen. Und Carina war nicht dumm. Sie wusste, dass der Totengräber stärker war als sie. Aber sie musste ihn ja nicht besiegen, sondern nur zu Boden bringen. Das musste doch machbar sein! „Na schön“, sagte sie schließlich. Ihr entging das kurze Aufblitzen in seinen Augen nicht und mittlerweile kannte sie ihn gut genug, um genau zu wissen was er gerade dachte. „Das hättest du wohl nicht gedacht, hmm? Das ich tatsächlich den Mumm dazu aufbringe gegen dich zu kämpfen. Geschweige denn einen Sieg in Erwägung zu ziehen.“ „Trifft sich sogar ganz gut, ich wollte ohnehin in den nächsten Tagen ein wenig mit Grell trainieren, um nach meiner Verletzung wieder in Form zu kommen. Was hältst du von heute in einer Woche?“ Sie sagte es ganz lässig, dabei machte sich bereits jetzt eine gewisse Nervosität in ihrem Inneren breit. Cedric im alltäglichen Leben oder sogar im Bett zu begegnen war eine Sache. Im Kampf jedoch konnte er durchaus auch eine andere Seite von sich zeigen. Carina hatte es bereits gesehen und eigentlich war sie nicht sonderlich scharf darauf, dass er sie mit dieser Seite an sich konfrontierte. Andererseits waren sie jetzt ein Paar. Sie wollte alle Seiten von ihm ergründen, auch die weniger guten. Und würde er in einem Kampf mit ihr nicht umgänglicher sein, als beispielsweise mit Sebastian? „Einverstanden“, meinte er. „Wenn Grell auf Lily aufpassen kann, dürfte das kein Problem sein.“ „Ja“, antwortete sie und schaute wieder geradeaus. Gerade spazierten sie durch den Wald, der das Phantomhive Anwesen von der Innenstadt Londons trennte. „Möglicherweise könnten wir auch noch Ronald um seine Hilfe bitten. Ich würde mich wohler fühlen, wenn zwei Männer auf sie aufpassen. Wer weiß, was Samael als nächstes plant.“ „Wenn der Grünschnabel sich einverstanden erklärt“, sagte Cedric in einem wenig begeisterten Tonfall und warf ihr einen kurzen Blick zu. „Du weißt aber schon, dass nichts davon, was Samael getan hat, deine Schuld ist, oder?“ „Spielt das eine Rolle?“, stellte sie bitter eine Gegenfrage und sah weiterhin stur nach vorne. „Es kommt auf das Gleiche hinaus.“ „Das mag stimmen, aber es macht immer noch einen ganz gewaltigen Unterschied. In der einen Variante machst du dir Vorwürfe und hast ein schlechtes Gewissen, in der anderen nicht.“ Er ergriff ihr Kinn und zwang sie ihn anzusehen, sodass sie beide stehen bleiben mussten. „Und ich bin definitiv für Variante Zwei“, endete er ernst und die gelbgrünen Augen der jungen Frau glänzten kurz, als sie sich seine Worte zu Herzen nahm. Sowohl Grell, als auch Cedric hatten ihr gesagt, dass sie nicht die Verantwortliche für diesen Vorfall war. Nicht einmal Ciel oder Sebastian hatten etwas anderes gesagt und das sollte schon etwas heißen. Bisher war tatsächlich sie die Einzige gewesen, die sich mit aller Macht eingeredet hatte, dass die alleinige Schuld sie traf. „Danke“, murmelte sie leise und lächelte leicht, als sie seine Aussage anerkannte. Er hatte Recht. Sie dürfte sich von diesem Mistkerl von einem Erzengel nicht so beeinflussen lassen. Denn das war genau das, was er wollte. Er lächelte nun ebenfalls und es war dieses eine fürsorgliche Lächeln von ihm, das ihr auf der Stelle Herzflattern bescherte. „Und jetzt ändere wieder deine Augenfarbe. Deine Haare sind nicht lang genug, um sie zu verstecken und außerdem mag ich deine blauen Seelenspiegel wesentlich lieber.“ Die Deutsche grinste und kam seiner Bitte schweigend nach. „Weißt du eigentlich, dass du der Einzige bist, der mir jemals solche Komplimente gemacht hat?“, fragte sie sanft und spürte gleich darauf seinen Daumen, der federleicht über ihren linken Wangenknochen strich. „Eine Schande“, erwiderte er und neigte den Kopf nach unten, um gleich darauf ihre Lippen mit den seinen einzufangen. Der Kuss währte nur kurz, war dafür aber umso intensiver. „Lass uns nach Hause gehen“, wisperte sie, nachdem sie sich voneinander gelöst hatten und der Undertaker nickte, verschränkte ihre Hände ineinander. „Ja.“ „Das ging ja schnell“, meinte Grell und schaute von seinem schlafenden Patenkind auf, als die Eltern des kleinen Mädchens das Kinderzimmer betraten. „Ich habe doch gesagt, dass ich nur kurz etwas mit ihnen besprechen will. Aber ein gewisser Bestatter konnte es wohl keine Sekunde länger aushalten, mich allein in der großen weiten Welt umherschlendern zu lassen“, lautete ihre sarkastische Antwort, woraufhin Cedric zu kichern begann. „Schau mal, steht Lily dieses rote Halstuch nicht hervorragend?“, meinte Grell in diesem Moment und Carina rollte zum zweiten Mal am heutigen Tage mit den Augen. „Herzallerliebst“, gab sie zurück und konnte sich das Lachen nicht mehr verkneifen, als sie Grells missmutige Schnute sah. „Es sieht gut aus, Grell“, korrigierte sie sich und meinte es sogar ehrlich. Wobei sie auch befangen war. Ihrer Meinung nach sah Lily immer wunderschön aus, egal was sie trug. „Was hast du denn jetzt überhaupt mit dem Bengel und Sebas-chan besprochen?“, wollte ihr Mentor wissen und sofort wandte sich auch Cedric wieder dem Geschehen zu. „Das würde ich allerdings auch gerne wissen“, klinkte er sich in das Gespräch mit ein. „Ich habe ihnen Samaels ersten Zug mitgeteilt und Sebastian gefragt, ob sich das nach seinem Vater anhört.“ Sie schnaubte. „Scheinbar passt das ganz hervorragend zu ihm“, fuhr sie fort. Gleich darauf sah sie Cedric an. „Er hat mich außerdem gefragt, ob er dir vertrauen kann. Und mir.“ Der Silberhaarige zeigte keinerlei Reaktion außer einer hochgeschobenen Augenbraue. „Und?“, fragte er, was Carina die Augen verdrehen ließ. „Glaubst du, er hätte uns einfach so gehen lassen, wenn meine Antwort nicht zufriedenstellend ausgefallen wäre?“, stellte sie eine mürrische Gegenfrage und deutete den beiden Männern an das Kinderzimmer zu verlassen, um das schlafende Baby nicht aufzuwecken. Die Mundwinkel des Undertakers zuckten kurz. „Offensichtlich“, antwortete er amüsiert und wollte erneut etwas sagen, als unten die Türglocke ertönte. „Entschuldigt mich kurz“, sagte er und eilte mit seinem altbekannten Grinsen nach unten, um seine neue Kundschaft zu begrüßen. Carina betrat das gemeinsame Schlafzimmer und setzte sich seufzend auf das Bett, während sie sich müde über die Augen rieb. Die letzten Stunden hatten ihren Tribut gefordert und gefühlt konnte sie bereits wieder ins Bett gehen, dabei hatten sie gerade einmal 17 Uhr. „Du siehst müde aus“, sagte nun auch Grell, der ihr ins Schlafzimmer gefolgt war und die Tür hinter sich geschlossen hatte. „Ich bin einfach nichts mehr gewohnt“, antwortete sie ihm. „Und das bringt mich auch gleich zum nächsten Punkt. Hast du in den nächsten Tagen Zeit, Grell? Ich muss mein Training dringend fortsetzen.“ „Hast du dich denn schon wieder von dem Kampf gegen Crow erholt?“, fragte der Rothaarige zweifelnd, woraufhin Carina ihn genervt ansah und auf sich selbst deutete. „Hallo? Shinigami?“ Grell schnaubte, konnte sich ein kurzes Auflachen aber nicht verkneifen. „Das ist mir schon klar, aber was ist mit deiner Narbe?“ „Der geht’s gut. Sie behindert mich nicht mehr in meinen Bewegungen, ist lediglich noch ein ungewohnter Anblick im Spiegel.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich muss dringend wieder mit dem Training anfangen. Nicht nur wegen Samael, sondern auch wegen dem Kampf nächste Woche.“ Grell hob eine seiner perfekt gezupften Augenbrauen. „Welcher Kampf bitteschön?“, fragte er verwirrt und die 19-Jährige erklärte ihm in knappen Worten, welchen Deal Cedric ihr vorgeschlagen hatte und dass sie darauf eingegangen war. „Ich fürchte“, begann er zweifelnd, nachdem sie geendet hatte, „das war eine deiner weniger guten Ideen, Carina.“ Angesprochene biss sich auf die Unterlippe. „Das fürchte ich leider auch“, gab sie zu und knetete nervös die Finger. „Halt mich für bescheuert, aber ich habe in seiner Gegenwart ständig das Gefühl mich beweisen zu müssen. Ich… ich schätze, ich will ihm einfach zeigen, dass ich nicht so hilflos bin, wie er glaubt.“ Sie seufzte schwer und fügte dann noch kleinlaut hinzu: „Ich will’s ihm einfach zeigen!“ Grell lächelte. „Morgen um 10 Uhr in Yorkshire?“ Carinas Augen leuchteten vorfreudig auf und sie schenkte ihrem Mentor ein breites Lächeln. „Um 10 Uhr“, bestätigte sie ihm und ließ sich mit dem Rücken voran auf das Bett fallen. „Was würde ich nur ohne dich machen, Grell?“ Der Todesgott hüstelte kurz. „Nun, ein paar Schläge einstecken, habe ich gehört?“, fragte er ganz unverbindlich und beobachtete gleich darauf, wie seine selbsternannte kleine Schwester irritiert die Stirn runzelte. „Schläge? Was für Schl-“, sie unterbrach sich selbst, als sie Grells neckendes Grinsen und seine wackelnden Augenbrauen sah. Einen Moment brauchte es noch, doch dann kam die Andeutung in vollem Umfang in ihrem Gehirn an. Sofort wurde sie knallrot, presste die Lippen zu einem weißen Strich zusammen und grollte laut. „Was hat er dir gesagt?“ „Och, eigentlich nicht viel“, begann er schadenfroh. „Nur, dass es dir gefallen hat.“ „Es hat mir nicht gefallen“, zischte sie sofort zurück und verschränkte die Arme in einer klaren Abwehrhaltung vor der Brust. „Jetzt verstehe ich zumindest, warum du so sauer warst“, seufzte Grell und schüttelte kurz mit dem Kopf. „Wenn er dein Ehemann wäre – und das ist er ja sozusagen fast schon – hätte er sogar jedes Recht dazu dich zu züchtigen.“ Carina starrte ihn mit einem finsteren Blick nieder. „Züchtigen“, wiederholte sie wütend. „Wenn ich das Wort allein schon höre! Dieses Jahrhundert ist wirklich das Allerletzte, das stelle ich immer häufiger fest. Solange es dieses Gesetz gibt, werde ich definitiv nicht heiraten, auf gar keinen Fall.“ Grell rollte mit den Augen. „Ach komm schon, Carina. Es ist ja nicht so, als könntest du dich im allerschlimmsten Fall nicht zur Wehr setzen. Und hättest du dich wirklich dagegen gewehrt, hätte er mit Sicherheit aufgehört.“ Erneut wurden ihre Wangen heiß. „Ich habe mich gewehrt“, murmelte sie und Grell warf ihr einen recht eindeutigen Blick zu. „Scheinbar nicht ernsthaft genug“, gluckste er, woraufhin die Blondine beschloss, dass sie ab diesem Zeitpunkt besser schweigen sollte. Bei dieser Unterhaltung konnte sie wohl nur verlieren… Also tat sie das, was sie schon immer gut gekonnt hatte: Sie wechselte abrupt das Thema. „Also, du hast gesagt, William hat dich angeschrien? Wie war das denn genau?“ Grell seufzte schwer. Das war nun eine Unterhaltung, bei der wiederum nur er verlieren konnte. Das Gespräch mit William lag gerade einmal einen Tag zurück und doch wünschte er sich bereits jetzt, dass er diese unangenehme Situation restlos aus seiner Erinnerung streichen könnte. Aber schließlich hatte Carina auch ihm immer die unschöneren Dinge anvertraut, die in ihrem Leben passiert waren. Wenn er es ihr nicht erzählen konnte, wem dann? „Na schön“, meinte er schließlich und seufzte erneut, dieses Mal theatralisch. „Alles fing damit an, dass ich in sein Büro kam und ihm den angeblichen Unfall mit Ronald geschildert habe…“ „Was zur Hölle ist in letzter Zeit nur los mit Ihnen, Sutcliff?“, keifte der schwarzhaarige Abteilungsleiter seinen rothaarigen Untergebenen an, der unter seinem strengen Blick tatsächlich sichtbar kleiner geworden war. „Es war doch nur ein klitzekleiner Unfall, Will“, begann Grell weinerlich. „Und ich habe mich doch sofort bei Ronald entschuldigt. Er war nicht halb so wütend, wie du es jetzt bist…“ „Weil er nicht einmal die Hälfte davon mitbekommt, was Sie ständig falsch machen, Sutcliff“, regte sein Gegenüber sich auf und schob sich in seiner Wut die Brille so heftig auf der Nase zurecht, dass das Gestell unsanft mit seiner Haut kollidierte. „Falsch? Was habe ich denn in letzter Zeit bitteschön falsch gemacht?“, begann nun auch der feminine Reaper lauter zu werden und verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust. „Wollen Sie die gesamte Liste?“, fragte William trocken, gab Grell aber keine Gelegenheit sich darüber zu wundern, dass der Schwarzhaarige gerade tatsächlich so etwas wie einen Witz gemacht hatte. „Mal ganz abgesehen von der Tatsache, dass ich keine Ahnung habe, wo Sie sich außerhalb Ihrer Schichten ständig herumtreiben, sind Sie auch gedanklich ständig abwesend. Sie hören mir nicht richtig zu, geben Ihre Berichte nie pünktlich ab und wenn ich sie dann endlich mal auf den Tisch bekomme, sind sie unvollständig oder völlig wirsch zusammengeschrieben. Und jetzt auch noch diese Sache mit Knox, was vollkommen untypisch für Sie ist!“ Er atmete einmal tief durch und rückte sich die Brille erneut zurecht. „Zurück also zu meiner anfänglichen Frage: Was zur Hölle ist los mit Ihnen, Sutcliff?“ Grell presste die Lippen zusammen und schwieg. Verdammt, was hatte er sich bloß gedacht? Natürlich hatte es William mit der Zeit auffallen müssen. William war der aufmerksamste Mensch bzw. Todesgott, den er kannte. Und damit meinte er leider nicht aufmerksam im Sinne von höflich und zuvorkommend, sondern wirklich darauf bezogen, dass dem Schwarzhaarigen so gut wie nichts entging. William, der während seines gesamten Vortrages gestanden hatte, ließ sich nun mit einem genervten Seufzen auf seinen Schreibtischstuhl sinken und verschränkte die Finger ineinander. Für einen kurzen Augenblick wirkte er furchtbar müde. „Grell“, begann er erneut und Angesprochener weitete schockiert die Augen, als er seinen Vornamen aus dem Mund des Mannes hörte, den er schon seit Jahrzehnten anbetete. Er konnte die Situationen, in denen William ihn in den letzten 10 Jahren mit seinem Vornamen angesprochen hatte, an einer Hand abzählen – das letzte Mal beispielsweise, als er ihm mitgeteilt hatte, dass die Suche nach Carina eingestellt werden würde. In jeder dieser Situationen war es um ernste Themen gegangen. So auch jetzt. „Es geht immer noch um deine Schülerin, richtig?“ Der Rotschopf zuckte zusammen und William fasste es als Bestätigung auf. „Das habe ich mir bereits gedacht.“ Er seufzte erneut. „Grell, das muss aufhören.“ „Ich weiß nicht, wovon du sprichst“, stellte Grell sich dumm, merkte aber selbst, dass er dabei keine besonders gute Figur machte. „Du musst endlich einsehen, dass sie tot ist. Und dass du an ihrem Tod keine Schuld trägst. Ich kann mir vorstellen, dass es schwierig für dich sein muss, aber-“ „Nichts kannst du“, unterbrach Grell ihn und war nun tatsächlich ehrlich zornig. William und Verständnis? Das er nicht lachte! Dem Schwarzhaarigen ging es doch nur um eines, nämlich dass er funktionierte. Er interessierte sich doch nur für seine Position als Schnitter. Grell selbst, er als Person, juckte ihn doch kein Stück. Und genau das würde er diesem Idioten auch jetzt sagen! „Wie solltest du das bitteschön verstehen? Soweit ich weiß, müsstest du dafür dazu in der Lage sein Gefühle nachvollziehen zu können oder sie überhaupt erst einmal zu besitzen. Ich kann nicht behaupten, dass du auch nur zu einem der beiden fähig bist. Solange in deiner Abteilung alles glatt läuft und du dich mit uns profilieren kannst, ist alles gut, aber sobald auch nur mal einer aus der Reihe tanzt, ist der ganze Friede Freude Eierkuchen Mist doch sofort vorbei. Ehrlich Will, ich mag ein Shinigami sein, aber ich bin keine Maschine. Ich bin immer noch ein fühlendes Wesen, verdammt nochmal! Ich habe keinerlei Probleme damit mir von dir etwas vorschreiben zu lassen, wenn es um meinen Job geht, aber bitte erspare mir doch diese Heuchelei, dass du wüsstest wie ich mich fühle. Denn das tust du nicht!“ Mit schwer gehendem Atem verstummte Grell schließlich und starrte den schwarzhaarigen Mann vor sich zornig an. Kein Muskel hatte sich während seines gesamten Vortrages in dem regungslosen Gesicht des Abteilungsleiters bewegt und doch hatte Grell irgendwie das Gefühl, dass eine der schmalen Augenbrauen kurz gezuckt hatte und so etwas wie ein verletzter Ausdruck durch diese dunklen gelbgrünen Augen gehuscht war. Aber das konnte nur eine Einbildung seinerseits gewesen sein. Unmöglich hatte er William mit diesen Worten verletzen können. Denn dazu hätte der Todesgott ihm gegenüber so etwas wie positive Gefühle besitzen müssen. Sicherlich, auch von Menschen, die einem egal waren, konnte man verletzt werden, aber William war nicht der Typ dafür sich solche Dinge anmerken zu lassen. Und erst Recht nicht vor ihm. Und obwohl er sich sicher war, sich die Anzeichen nur eingebildet zu haben, ergriff ihn doch sogleich ein schlechtes Gewissen. Und er hatte mehr als jemals zuvor das Gefühl, eine unsichtbare Linie übertreten zu haben. „Ungeachtet der Tatsache, dass ich dich nun berechtigterweise erneut zu einem Hausarrest verurteilen könnte – was ich mir bei unserem derzeitigen Fachkräftemangel leider nicht leisten kann – sage ich es dir noch einmal“, sprach William in vollkommen ruhigem Ton, was Grell beinahe noch zorniger machte, „Vergiss deine Schülerin endlich und konzentriere dich auf deine verdammte Arbeit! Damit wäre uns wirklich allen geholfen. Sobald sich die Situation wieder gebessert hat, hast du von mir aus noch die gesamte Unendlichkeit Zeit, um in angemessenem Maß um sie zu trauern.“ Grell klappte vor lauter Fassungslosigkeit der Mund auf. Das, was William ihm gerade gesagt hatte, bestätigte doch genau das, was er dem Schwarzhaarigen soeben selbst an den Kopf geklatscht hatte. „Ich geb’s auf“, dachte er. Bei diesem Gefühlslegastheniker waren doch wirklich Hopfen und Malz verloren. „Verstanden“, presste er also zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, drehte sich mit fliegendem Umhang um und verließ wütenden Schrittes das Büro. Von nun an würde er darauf achten seine Berichte pünktlich und vollständig abzugeben. Von nun an würde er seine Anzahl von Seelen pro Schicht noch steigern, sodass ein gewisser Jemand nichts an seiner Produktivität aussetzen konnte. Von nun an würde er genau darauf achten, was William zu ihm sagte und er würde sich wie der kleine vorbildliche Arbeiter benehmen, den der Schwarzhaarige sich so sehr wünschte. Aber, und das war in Grells Gedanken ein sehr großes Aber, von nun an würde er auch kein schlechtes Gewissen William gegenüber mehr haben. Er würde ihn weiterhin anlügen, er würde weiterhin dafür sorgen, dass Carina und ihre kleine Familie sicher und unerkannt blieben. Und es würde ihm nicht eine weitere verdammte Sekunde lang leid tun! Carina schaute ihn mit großen Augen an. „Jetzt schau nicht so“, murrte Grell und starrte zu Boden. „Ich hab dir doch schon gesagt, dass ich es gewohnt bin von ihm so behandelt zu werden. Es ist alles g- Carina?“ Er unterbrach sich selbst, als die 19-Jährige im nächsten Moment abrupt ihre Arme um seinen Körper schlang und ihn fest umarmte. „Danke, Grell“, flüsterte sie leise an seinem Ohr und legte ihre Stirn an seine Schulter. „Es tut mir so leid. Ich weiß ganz genau, wie schwer es dir fällt ihn zu belügen. Glaub mir, das weiß ich wirklich.“ „Das mit Undy und dir ist aber etwas anderes“, murmelte Grell, der die Anspielung verstanden hatte. „Ihr seid füreinander bestimmt. Das mit William und mir… das ist nur eine lächerliche Wunschvorstellung von mir.“ Carina lachte leise und löste sich von ihrem besten Freund, um ihm direkt in die Augen zu sehen. Ihre rechte Hand lag dabei beruhigend auf seiner Wange. „Das habe ich damals auch gedacht. Wenn du mir vor einem Monat erzählt hättest, dass alles so kommen würde, wie es schlussendlich gekommen ist… ich hätte dir nicht ein einziges Wort geglaubt.“ Sie tätschelte ihm sanft die Wange. „Gib den Glauben nicht auf, Grell. Vielleicht steckt mehr hinter Williams Fassade, als du glaubst. Und falls nicht“, sie zuckte kurz mit den Schultern und grinste ihn aufmunternd an, „andere Mütter haben auch schöne Söhne.“ Der Rothaarige konnte nicht anders, er kicherte leise und funkelte die Blondine amüsiert an. „Du bist echt ein Sonderfall, weißt du das?“ Ein schelmisches Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus. „21. Jahrhundert, schon vergessen?“ Es war bereits kurz vor Mitternacht, als Cedric endlich zu ihr ins Bett kam. Carina selbst hatte bereits vor 4 Stunden schlafen wollen, wurde allerdings in geringen Abständen von ihrer Tochter auf Trab gehalten. Scheinbar hatte das kleine Mädchen heute nicht vor, sie besonders viel schlafen zu lassen. „Alles erledigt?“, fragte sie ihn und spielte dabei auf seine Arbeit als Bestatter an. Er nickte und hob die Bettdecke hoch, um anschließend darunter zu schlüpfen. Mit dem Gesicht dem ihren zugewandt legte er sich seitlich hin. „Und du? Grell war noch recht lange hier, richtig?“ „Ja, wir haben noch über einige Dinge gesprochen“, sagte sie und schloss müde die Augen. „Kannst du die nächsten Tage vormittags ein paar Stunden auf Lily aufpassen? Grell und ich wollten wieder mit dem Training anfangen.“ Sie hörte ihn leise lachen. „Ja, das ist kein Problem. Aber das wird dir im Kampf gegen mich auch nicht weiterhelfen.“ Genervt öffnete sie ein Auge und starrte ihn damit böse an. „Nur zu deiner Information, ich wollte so oder so wieder mit dem Training anfangen. Das hat grundsätzlich gar nichts mit unserem kleinen Deal zu tun.“ „Aber du versprichst dir doch trotzdem etwas davon, oder etwa nicht?“ „Und wenn schon“, antwortete sie und verkniff sich den Zusatz, dass er sie bloß nicht unterschätzen sollte. Das sollte er nach all der Zeit, in der er sie mittlerweile bereits kannte, eigentlich selbst wissen. Beleidigt drehte sie ihm den Rücken zu und spürte gleich darauf, wie er näher an sie heranrutschte. „Das reicht“, sagte sie, als nur noch wenige Millimeter zwischen sie passten. „Nach der Aktion von heute morgen kannst du froh sein, dass ich dich überhaupt in dieses Bett lasse.“ Hinter ihr ertönte ein ausgelassenes Kichern und die Matratze wackelte leicht durch das amüsierte Zittern seines Körpers. „Du bist immer so nachtragend~“, schmollte er, was Carina leise schnauben ließ. „Gewöhn dich lieber dran“, entgegnete sie und begann gedanklich bereits ihre Rache zu planen, denn die hatte sie keineswegs vergessen. Ein kleines, vorfreudiges Grinsen breitete sich ungesehen auf ihren Lippen aus. Oh ja, Cedric würde noch früh genug bemerken, wie nachtragend sie wirklich sein konnte… William lag mit weit geöffneten Augen in seinem Bett und starrte seit mindestens einer halben Stunde ununterbrochen die weiße Decke seines Schlafzimmers an. Was war nur los mit ihm? Normalerweise hatte er nie Probleme einzuschlafen. Seit Jahrzehnten nicht. Heute hatte er sogar eine Stunde früher seinen Arbeitsplatz verlassen, obwohl er wahrlich noch genug Berichte und Akten auf seinem Schreibtisch liegen hatte, die dringend bearbeitet werden mussten. Das war ihm in seinem gesamten Arbeitsleben wahrlich noch nie passiert! Aber er hatte sich auf Teufel komm raus nicht konzentrieren können. Und daran war allein Grell Schuld! Seit der Rothaarige ihm am gestrigen Tage diese verfluchten Worte an den Kopf geschleudert hatte, drehten sich seine Gedanken einzig und allein nur noch darum. Nicht einmal seinen Kaffee hatte er in Ruhe trinken können, ohne die ganze Zeit die Stimme des aufgedrehten Reapers im Ohr zu haben. Soweit ich weiß, müsstest du dafür dazu in der Lage sein Gefühle nachvollziehen zu können oder sie überhaupt erst einmal zu besitzen. William konnte es so lange leugnen, wie er wollte, aber dieser Satz hatte etwas in seinem Inneren ausgelöst, was er längst vergessen geglaubt hatte. Und Grells abschließender Satz hatte das Ganze nicht besser gemacht. Aber bitte erspare mir doch diese Heuchelei, dass du wüsstest wie ich mich fühle. Denn das tust du nicht! Es hatte wehgetan. Es hatte wirklich wehgetan! Er biss die Zähne so fest zusammen, dass ein Knirschen in der Stille des Raumes widerhallte. Grell Sutcliff hatte ihn schon Nerven gekostet, seitdem sie sich kannten und William hatte sich auf seltsame Art und Weise sogar daran gewöhnt, aber noch nie, wirklich noch nie hatte der Rotschopf es geschafft… ihn zu verletzen. Allein die Tatsache, dass er dieses Wort denken musste, traf ihn hart. Verletzt… Ja, er war verletzt. Und es machte ihn wahnsinnig! Aber gleichzeitig stimmte es ihn auch überaus nachdenklich. Grell war oft aufbrausend, das stimmte. Aber noch nie hatte er sich so aufgeführt, jedenfalls nicht ihm gegenüber. Natürlich hatte es im Laufe der Jahre immer mal wieder Situationen gegeben, in denen er auch mal wütend geworden war, aber so weit gegangen, dass er seinen Vorgesetzten praktisch beleidigt hatte, war er bisher noch nicht. „Irgendetwas stimmt hier nicht“, murmelte der Schwarzhaarige in die Dunkelheit hinein und musste das Bedürfnis unterdrücken sich die Brille auf der Nase zurechtzurücken, die momentan aber ja auf seinem Nachttisch lag. Das letzte Mal, das er ebenfalls solche Vermutungen angestellt hatte, war gerade einmal etwas länger als ein Jahr her. Damals hatte Grell sich mit einer gewissen Angelina Dalles zusammengetan und sterbliche Frauen ermordet, die gar nicht auf der Liste gestanden hatten und deren Zeit somit eigentlich noch nicht gekommen gewesen war. Ein Regelverstoß, den William auf keiner Ebene tolerieren konnte, geschweige denn wollte. Zu der Zeit war er Grell gefolgt und hatte mit seinem Gefühl schließlich absolut richtig gelegen. „Und genauso wird es jetzt auch sein.“ Etwas war faul, das spürte er nur allzu deutlich. „Wenn Sutcliff wieder irgendwelche Regelverstöße ausheckt oder gar schon begangen hat, dann gnade ihm Gott“, dachte er zähneknirschend und schloss in der Hoffnung, dass doch bald der Schlaf kommen würde, genervt die Augen. Sobald er sich arbeitstechnisch ein wenig Zeit freigeschaufelt hatte, würde er der Sache auf den Grund gehen und zwar persönlich. Scheinbar war er in diesem Laden ja der Einzige, auf den man sich wirklich verlassen konnte. Die nächsten Tage vergingen wie im Fluge, was aber auch größtenteils daran lag, dass Carina alle Hände voll zu tun hatte ihren Alltag zu stemmen. Neben dem täglichen Training mit Grell, das definitiv viel ihrer körperlichen und auch geistigen Kraft forderte, erledigte sie den Haushalt und kümmerte sich um Lily, wenn der Totengräber seiner Berufung nachging. Die Arbeit als „Hausfrau“ war zwar nicht besonders erfüllend für sie persönlich, aber sie war dennoch anstrengend. Mehr als einmal kam Carina der Gedanke, dass sie ihrer Mutter viel zu wenig dafür gedankt hatte, dass sie immer so viel für sie getan hatte. Etwas, was sie gedanklich auf die Liste der Dinge packte, die sie ihr sagen würde, sollten sie sich jemals wiedersehen. Natürlich war es bei ihrem streng durchtaktetem Tagesablauf keine große Überraschung, dass sie abends todmüde ins Bett fiel und zumeist erst wieder am nächsten Morgen aufwachte. Unnötig zu erwähnen, dass für Zärtlichkeiten jeglicher Art auch nicht sonderlich viel Zeit zur Verfügung stand. Cedric beschwerte sich zwar nicht, aber anhand seiner eindringlichen Küsse, die sie immer mal wieder zwischendurch miteinander teilten, bemerkte Carina dennoch, dass er sich mehr erhoffte. Ab und zu konnte sich sie nicht anders, als eine gewisse Schadenfreude darüber zu empfinden. Es war nicht so, dass sie Sexentzug als Strafe für ihn geplant hatte – nein, da war ihr bereits eine viel bessere Idee in den Sinn gekommen – aber es konnte ihm sicherlich nicht schaden. Sollte er doch denken, dass das ihre Rache war. Umso weniger würde er kommen sehen, was sie wirklich für ihn geplant hatte. Am liebsten würde sie ihren Plan sofort in die Tat umsetzen, aber ein wenig würde sie ihn noch schmoren lassen. Ein Grinsen umspielte ihre Mundwinkel. „Meine Geduld wird sich am Ende auszahlen.“ Doch einen entscheidenden Nachteil hatte ihr vielbeschäftigter Alltag dann doch: die Zeit raste. Plötzlich war eine ganze Woche vergangen und als Carina eines Morgens die Augen aufschlug wurde ihr klar, dass sie bereits in wenigen Stunden Cedric gegenüber stehen würde. In ihr machte sich eine merkwürdige Nervosität breit, die sie in der Form eigentlich nur von ihrer Abschlussprüfung her kannte. Auch damals hatte ihr Magen unentwegt Purzelbäume geschlagen. Ein tiefes Seufzen verließ ihre Kehle. „Warum hab ich mich darauf nochmal eingelassen?“, fragte sie sich gedanklich selbst und verfluchte sich in diesem Moment tausendfach selbst für diese Entscheidung, es ihm zeigen zu wollen. „Ruhig Blut“, murmelte sie. „Was kann schlimmstenfalls denn schon passieren? Ich verliere. Nein, ich mache mich komplett lächerlich.“ Sie seufzte erneut. Das waren ja großartige Aussichten… Dabei hatte sogar Grell gestern noch zu ihr gesagt, dass sie sich mit ihren Kampfkünsten definitiv vor niemandem verstecken musste. Ihr Körper hatte sich schnell wieder an das Training erinnert, was sie knapp nach Lilys Geburt durchgeführt hatte und dementsprechend zügig waren auch erste Erfolge sichtbar geworden. „Ich muss ihn nur auf seine Knie zwingen. Das kann nicht so schwer sein. Das schaffe ich.“ Mit neuer Zuversicht stand sie auf und begab sich für das morgendliche Frischmachen ins Badezimmer. Ihre übernatürlichen Sinne verrieten ihr, dass Cedric sich bereits im Keller befand, um sich mit ein paar seiner Gäste zu beschäftigen. Immerhin musste auch er sich die Zeit nehmen, um die Arbeit für ein paar Stunden ruhen zu lassen und das war in den letzten Tagen selten der Fall gewesen. Seit sich in London herumgesprochen hatte, dass das Bestattungsinstitut wieder geöffnet hatte, hatten sich die Aufträge beinahe verdoppelt. Etwas, was dem Undertaker laut eigener Aussage nicht unbekannt war, denn seine ursprüngliche monatliche Auftragszahl hatte er noch nicht wieder erreicht. Es war also durchaus noch Luft nach oben frei. „Allerdings kann es gerne so bleiben, wie es jetzt ist. So habe ich mehr Zeit für die Familie“, hatte er vor zwei Tagen zu ihr gesagt und damit einen Rotschimmer auf die Wangen der 19-Jährigen getrieben. Familie… Es war schön das aus seinem Mund zu hören. Zudem würden es ihm die anderen Bestattungsunternehmen, die sich ebenfalls zentral in London befanden, sicherlich danken, wenn er den einen oder anderen Auftrag ablehnte und ihnen somit etwas Arbeit übrig ließ. Die nächste halbe Stunde nutzte sie, um sich um ihre Tochter zu kümmern und gleichzeitig eine Kleinigkeit zu frühstücken. Zurück im Schlafzimmer öffnete sie beide Schranktüren und überlegte kurz, welche Kleidung für die heutigen Gegebenheiten am besten geeignet wäre. Nach wenigen Sekunden entschied sie sich für das Outfit, indem sie die meisten ihrer Kämpfe ausgefochten hatte. Die schwarze, eng anliegende Hose passte ihr immer noch wie angegossen, ebenso wie die weiße Bluse, deren obersten Knopf sie offen stehen ließ. Mit wenigen Handgriffen schnürte sie ihre schwarzen Stiefel, sodass sie fest an den Beinen anlagen und putzte sich im letzten Schritt noch ihre Brillengläser. Nicht, dass ihr ein störender Fleck in der Sicht noch zum Verhängnis wurde. Ihr Blick schweifte als nächstes zu ihrem Katana. Die Klinge ihrer Death Scythe glänzte, als sie sie kurz aus der Scheide zog und betrachtete. Beim letzten Mal, als sie ihre Waffe benutzt hatte, hatte sie damit Crow getötet. „Lass mich auch heute nicht im Stich“, flüsterte sie leise, schob das Schwert japanischen Ursprungs wieder zurück in seine Hülle und band es sich anschließend an der Hüfte fest. Kurz besah sie sich in dem großen Spiegel, der in der linken Seite der Schranktür eingelassen war. Sie lächelte ihrem Spiegelbild zu. „Los geht’s“, sagte sie in die Stille des Raumes hinein, drehte sich um und machte sich auf den Weg nach unten, wo Cedric schon auf sie warten würde. Bereit für den Kampf, dem sie beide entgegenfieberten. Und den keiner der beiden verlieren wollte. Kapitel 85: Das Lernen auf die harte Tour ----------------------------------------- Als Carina die Treppe herunterkam, erblickte sie als allererstes Grell und Ronald. Während ihr bester Freund und Mentor mittig im Raum stand, hatte Ronald es sich auf einem der Särge bequem gemacht und schaute sich interessiert um. Ein Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus. Als sie Grell darum gebeten hatte ihren ehemaligen Klassenkameraden zu fragen, ob er ebenfalls herkommen konnte, hätte sie nicht erwartet, dass der junge Frauenaufreißer tatsächlich kommen würde. „Hallo ihr beiden“, sagte sie und spürte gleich darauf zwei Augenpaare auf sich. „Hey Carina“, grinste Ronald und sprang mit reichlich Schwung von seiner Sitzgelegenheit herunter. „Jetzt siehst du fast wieder so aus, wie ich dich kenne.“ „Ja, stimmt“, lachte sie und sah den jungen Mann jetzt direkt an. „Vielen Dank, dass du gekommen bist, Ronald. Das bedeutet mir wirklich viel.“ „Genug, um mit mir endlich auszugehen?“, zwinkerte er kess und kassierte dafür sofort einen Klaps auf den Hinterkopf seitens Grell. „Lass das bloß Undy nicht hören, sonst ergeht es dir nochmal so wie auf der Campania.“ „Ich hab viel trainiert“, protestierte Ronald, was die 19-Jährige mit dem Kopf schütteln ließ. „Vergiss es, gegen ihn kommst du nicht an.“ Sie grinste erneut. „Wenn du ja noch nicht einmal gegen mich gewinnen kannst.“ „War das eine Herausforderung, Mylady?“, fragte Angesprochener und wackelte spielerisch mit den Augenbrauen. Das Grinsen auf dem Gesicht der jungen Frau wurde breiter. Irgendwie hatte sie es doch vermisst mit Gleichaltrigen zu sprechen. Und Ronald verhielt sich auch noch wie ein Junge aus dem 21. Jahrhundert, was es ihr noch leichter machte Gespräche mit ihm zu führen. „Kannst du gerne haben. Aber nicht heute. Heute habe ich schon einen Gegner, den ich schlagen muss.“ „Ich wollte Grell zuerst nicht glauben, als er es mir erzählt hat“, gab der junge Mann zu. „Ich meine… Ernsthaft? Hast du schon vergessen, was auf der Campania passiert ist? Der Typ hat uns fertig gemacht und da haben Grell, dieser Sebastian und ich gleichzeitig gegen ihn gekämpft. Und jetzt kämpfst du freiwillig ganz allein gegen ihn? Keine gute Idee, wenn du mich fragst.“ „Lass das mal meine Sorge sein, ich komm schon klar.“ „Wenn du meinst. Aber“, begann er und zwinkerte ihr ein weiteres Mal zu, „darf ich dann wenigstens deine Wunden versorgen, wenn du wieder kommst?“ „Du solltest solche Sprüche sein lassen, wenn du auf Dauer deinen Kopf behalten willst“, erklang hinter ihnen eine genervte Stimme und alle Köpfe drehten sich zu Cedric um, der mit verschränkten Armen am Empfangstresen lehnte. Carina spürte, wie Ronald neben ihr zusammenzuckte und abwehrend beide Hände hob, um den Bestatter zu beschwichtigen. „Nur ein Scherz, nur ein Scherz“, beeilte er sich zu sagen, was Carina aufschnauben ließ. So viel zu seiner sonst immer so großen Klappe… Die junge Frau schritt auf den Totengräber zu, bis sie genau vor ihm stand. Ein leicht provozierendes Lächeln legte sich auf ihre Lippen und als er daraufhin fragend eine Augenbraue hob, flüsterte sie so leise, dass nur er es hören konnte: „Eifersüchtig?“ Sofort verdunkelte sich die gelbgrüne Färbung seiner Augen um eine Nuance und Carina wusste, dass sie den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. „Auf den Frischling? Mach dich nicht lächerlich“, murmelte er eben so leise zurück und schaute gleich darauf zu den beiden Todesgöttern auf, um der Mutter seiner Tochter keine Gelegenheit zu einer Antwort zu geben. Die er mit ziemlicher Sicherheit ohnehin nicht hören wollte. „Ich muss euch ja wohl nicht sagen, dass ihr meine Tochter notfalls mit eurem Leben verteidigen werdet?“ Grell grinste breit, während Ronald erbleichte. Er schien wirklich eine ganze Menge Respekt vor dem desertierten Shinigami zu haben. „Natürlich, Undy. Du kannst dich auf uns verlassen. Lily wird nicht ein Haar gekrümmt, solange ich hier bin.“ Er zwinkerte einmal und Carina spürte, dass sich der Mann an ihrer Seite deutlich entspannte. Unbemerkt schenkte sie ihm einen liebevollen Blick. Es war doch einfach zu süß, wie er sich um sein kleines Mädchen sorgte. Mit Sicherheit würde das in ein paar Jahren noch zu reichlich Diskussionen führen. Ganz zu schweigen von Lilys Pubertät… „Gut“, antwortete der Bestatter und wandte sich nun wieder mit seinem altbekannten Grinsen Carina zu. „Wollen wir dann?“ Die 19-Jährige nickte und ergriff seine ausgestreckte Hand. Über Cedrics Schulter hinweg tauschte sie einen bedeutungsschweren Blick mit Grell, der ihr bestimmt zunickte und wieder einmal unter Beweis stellte, dass sie sich auch ohne Worte bestens verstanden. Zeig es ihm. Denk an unser Training und daran, was wir besprochen haben. Du schaffst das! Sie nickte ebenso bestimmt zurück und spürte gleich darauf das unangenehm prickelnde Gefühl in ihrem Magen, das mit dem Vorgang der Teleportation einherging und sie immer ein wenig an den Druck erinnerte, den man in einem herabfahrenden Fahrstuhl verspürte. Die Umgebung löste sich vor ihren Augen auf, um im nächsten Moment kontinuierlich wieder Gestalt anzunehmen, was sie automatisch dazu zwang zu blinzeln. Kurz drückte sie Cedrics Hand eine Spur fester, um sich zu vergewissern, dass er noch immer an ihrer Seite war. Er übte leichten Gegendruck aus und bereits im nächsten Augenblick spürte sie wieder festen Boden unter ihren Füßen und eine klare Umgebung erstreckte sich vor ihren Augen. Sie standen direkt vor dem kleinen Häuschen, das einmal Grells Eltern gehört hatte. Der Anblick war ihr inzwischen so vertraut, dass sofort ein warmes Gefühl in ihrer Brust aufstieg. Cedric ließ ihre Hand los und schaute sie, grinsend wie eh und je, an. „Wir sollten in das Waldstück gehen. Nicht, dass hier noch irgendetwas beschädigt wird.“ „Sehe ich auch so“, bestätigte sie ihm und marschierte noch im gleichen Augenblick los. Die Schnitterin war froh, dass sie genau hier die letzten Tage mit Grell trainiert hatte. Es mochte nur ein kleiner Vorteil ihm gegenüber sein, aber zumindest kannte sie dieses Gelände mittlerweile wie ihre Westentasche. Und jeder noch so kleine Vorteil würde sich am heutigen Tag bezahlt machen, so viel stand fest. Die junge Frau atmete tief ein und ignorierte das aufgeregte Flattern in ihrem Magen, während sie zusammen tiefer in den Wald gingen. Längst konnten sie weit und breit nur noch Bäume um sich herum sehen. „Behalt einen klaren Kopf“, dachte sie und dieser Gedanke half ihr tatsächlich dabei sich zu konzentrieren. Was ihr Glück war. Wäre sie auch nur eine Sekunde lang unaufmerksam gewesen, wäre ihr mit Sicherheit das zischende Geräusch entgangen, das mit einem Mal direkt hinter ihr ertönte. Sofort übernahmen ihre geübten Reflexe die Kontrolle über ihren Körper. Im allerletzten Moment und ohne wirklich darüber nachgedacht zu haben, duckte sie sich nach unten hin weg, spürte sogleich einen kalten Lufthauch über sich hinweg gleiten, als das lange Schneideblatt einer bekannten Sense sie nur um Haaresbreite verfehlte. Mit einem Sprung brachte sie Abstand zwischen sie und starrte ihn anschließend fassungslos an. „Sag mal, spinnst du?“, fragte sie und eine Zornesfalte bildete sich auf ihrer Stirn. Der Silberhaarige grinste sie an, doch sie konnte ein gefährliches Funkeln in seinen Augen sehen, das ihr ganz und gar nicht gefiel. „Der gefallene Engel wird dich auch nicht vorwarnen, bevor er dich angreift“, gab er nonchalant zurück und hielt seine Death Scythe locker vor sich; bereit, jederzeit wieder zuzuschlagen. Carinas Mund verzog sich zu einer schmalen Linie. Wortlos zog sie ihre eigene Death Scythe aus der Scheide und hielt die Klinge in Verteidigungshaltung vor ihren Körper. „Dann komm, wenn du dich traust“, meinte sie ernst und spannte bereits jetzt jeden einzelnen Muskel an, um für den kommenden Angriff gewappnet zu sein. Der Undertaker lachte leise und strich sich ein paar seiner langen Haarsträhnen aus der Stirn. „Erinnerst du dich noch daran, als ich auf der Campania sagte, dass ich mich frage wer bei dieser Hasenjagd hier der Hase ist?“ Carina rührte sich nicht, obwohl er sie jetzt mit einem Ausdruck im Gesicht ansah, der einen zum Weglaufen bewegen konnte. Und es wurde bei seinen nächsten Worten nicht besser. „Jetzt“, fuhr er nämlich fort, „ist die Situation eine andere.“ Sein Grinsen wurde breiter. „Jetzt weiß ich ganz genau, wer hier der Hase ist.“ Es war wie eine Art Startschuss. Kaum hatte die letzte Silbe seine Lippen verlassen, stürzte er sich in ihre Richtung. Doch Carina war bereit, hatte ihn erwartet und musste sich dementsprechend lediglich erneut unter seiner todbringenden Waffe wegducken. Dass das auf Dauer keine Lösung war, war ihr bewusst. Dennoch, Beobachtungen anstellen konnte nicht schaden. In den nächsten zwei Minuten gab sie ihrem Körper und ihrem Gehirn die Zeit sich an seine Bewegungen zu gewöhnen, bestimmte Muster in seinen Angriffen zu erkennen. Das war jedoch schwerer, als sie es sich zu Anfang vorgestellt hatte. Cedric war clever, benutzte nie den gleichen Trick zweimal und obwohl er nicht einmal eine Brille trug, konnte er mit Leichtigkeit ihre eigenen Aktionen vorausahnen. Sie stand hier einem Mann gegenüber, der jahrhundertelange Erfahrung im Kämpfen hatte und das zeigte sich jetzt sehr deutlich. Nach einem erneuten Schlag seiner Sense, dem sie erfolgreich ausgewichen war, blieb der Bestatter stehen und besah sich kurz ein paar der Bäume, die seiner Todessense zum Opfer gefallen waren und nun entzwei geschnitten am Boden lagen. „Wie lange willst du noch vor mir davonlaufen, Carina?“, fragte er und die Überlegenheit, die er in genau diesem Moment ausstrahlte, gefiel der Angesprochenen gar nicht. „Ich laufe nicht davon“, erwiderte sie ruhig, doch in ihrem Inneren kochte es. Was der Shinigami sicherlich auch mit seiner Frage beabsichtigt hatte. „So? Wie würdest du denn dieses Tänzchen nennen, was du bisher aufgeführt hast?“ Er kicherte über seinen eigenen Witz und es trieb die 19-Jährige nur noch mehr zur Weißglut. „Warte es nur ab“, dachte sie und verstärkte den Griff um das dunkelrote Band ihres japanischen Schwertes. Seine Sense war um ein vielfaches größer, als ihre eigene Death Scythe und in jeder Hinsicht stärker, aber sie hatte auch einen ganz entscheidenden Schwachpunkt. Ihre enorm große Reichweite. Ja, Sebastian hatte es damals auf der Campania ganz treffend erkannt. Die große Klinge mochte viel Schaden anrichten, aber dafür brauchte der Totengräber auch viel Platz. Wenn sie nah genug an ihn heran kam, irgendwie in den Kreis zwischen ihn und seiner Klinge gelangte, dann sollten zumindest die Grundvoraussetzungen für einen erfolgreichen Angriffsversuch gesetzt sein. Sie bemerkte, dass er sein Gewicht auf seinen rechten Fuß verlagerte und reagierte sofort. Die Sense befand sich erst halb in der Luft, als die Deutsche hinter den dichten Bäumen abtauchte. Ein Krachen ertönte, als die Stämme unmittelbar hinter ihr zerteilt wurden und das Holz schwer auf die Erde fiel. Carina bewegte sich fließend zwischen den fallenden Hindernissen hin und her, während immer mehr der massiven Pflanzen zum Opfer der Death Scythe wurden. „Mach dir deine Umgebung zunutze“, hallten Grells Worte in ihrem Kopf wieder, weil es genau das war, was sie gerade tat. Allerdings musste sie sich beeilen. Wenn diese Situation noch länger so weiterging, würde Cedric vermutlich noch den ganzen Wald abholzen. Dem Bestatter blieb es nicht verborgen, dass die herabfallenden Baumstämme ihm die Sicht auf Carina deutlich erschwerten. Und er war sich ziemlich sicher, dass es genauso von ihr gewollt gewesen war. „Kleines Schlitzohr“, murmelte er und grinste amüsiert. Er wusste ganz genau, was sie damit bezweckte. Daher war es für ihn auch keine sonderlich große Überraschung, als sie plötzlich wie aus heiterem Himmel dicht hinter ihm auftauchte, ihre Todessense bereit zum Zuschlagen. Die 19-Jährige war zu nah an ihm dran, als das er ihren Schlag noch mit seiner Sense hätte parieren können, also entschied er sich für die andere Variante, die nicht das einfache Ausweichen beinhaltete. Er packte ihr rechtes Handgelenk und stoppte die gefährliche Waffe knapp vor seiner Brust. „Verflucht“, schoss es Carina unwillkürlich durch den Kopf, als sie zuerst auf seine linke Hand schaute – mit der er sie in einem festen Griff gepackt hielt – und dann auf seine rechte, in der er nun in aller Ruhe seine Sense so manövrierte, dass sie genau auf sie hinab zeigte. Ihre Augen weiteten sich, als die Waffe in einer Rekordgeschwindigkeit auf sie zuraste, ihr Herz setzte sogar eine Sekunde lang gänzlich aus. Adrenalin durchdrang ihren gesamten Körper in der pursten Form und sorgte dafür, dass ihr Gehirn den Verlauf der Klinge trotz der abnormen Geschwindigkeit beinahe wie in Zeitlupe sehen konnte. Ohne wirklich darüber nachzudenken hob sie ihren Fuß und trat ihm mit aller Kraft gegen das Schienbein. Carina konnte nicht wirklich sagen, ob es ihn großartig geschmerzt hatte, aber reflexartig zuckten seine Finger um ihr Handgelenk und das reichte bereits aus, dass sich sein Griff lockerte. Sie riss sich von ihm los und wich in wirklich allerletzter Sekunde nach hinten zurück. Es genügte, um zu verhindern, dass sie in zwei Teile gespalten wurde; jedoch nicht, um ganz unbeschadet aus der Sache herauszukommen. Die scharfe Spitze der Sense fuhr über ihr rechtes Schlüsselbein, zerteilte sowohl den Stoff als auch die Haut darunter. Die junge Frau sah beinahe verwundert dabei zu, wie Blut aus dem Schnitt spritzte und erst dann nahm sie den brennenden Schmerz wahr, der von der Wunde ausging. Sie wich weiter vor ihm zurück und konnte nicht ganz den geschockten Ausdruck verstecken, der sich nun in ihren Blick schlich. Noch vor wenigen Sekunden war sie der festen Überzeugung gewesen, dass er gegen sie einen anderen Kampf ausfechten würde, als gegen Sebastian. Jetzt war sie sich da allerdings nicht mehr so sicher. Sie schluckte, um ihren plötzlich furchtbar trockenen Hals zu befeuchten und versuchte gleichzeitig mit aller Macht das Blut zu ignorieren, das den Stoff ihrer weißen Bluse nach und nach rot verfärbte. Eine Mischung aus Angst und Aufregung pulsierte durch ihre Adern. Cedric meinte es todernst, das konnte sie deutlich an seinem Gesichtsausdruck erkennen. Kein Lächeln, kein Grinsen, nicht mal die Mundwinkel hatte er angehoben. Er starrte sie lediglich abwartend, gar berechnend an, als plante er bereits seine nächsten Schritte gegen sie. Und mit einem Mal stellte Carina sich die Frage, ob es hier überhaupt noch darum ging, dass sie ihn zu Boden bringen sollte. Vielleicht sollte sie sich viel eher Sorgen darum machen, ob sie lebend aus dieser Sache herauskam. Langsam und bewusst stieß sie ihren angehaltenen Atem aus. Sie konnte beinahe Grells Stimme in ihrem Kopf hören, dass sie gefälligst ein bisschen mehr Selbstbewusstsein an den Tag legen sollte. Kühl erwiderte sie daher Cedrics Blick, gab ihm stumm zu verstehen, dass das Versteckspiel jetzt vorbei war. Von nun an würde sie ihn direkt angreifen und noch im gleichen Augenblick setzte sie ihren Gedanken auch in die Tat um. Ihre Wadenmuskulatur spannte sich leicht an, als sie nach vorne sprintete und ihm frontal entgegentrat, ihre Death Scythe bereits auf richtiger Höhe erhoben. Ein metallenes Knirschen ertönte, als die beiden Klingen aufeinander trafen und kurz ereilte Carina ein Déjà-vu. Auch auf der Campania waren sie sich mit ihren Todessensen so begegnet. Aber es gab einen entscheidenden Unterschied. Nun konnte sie dem Druck seiner Waffe standhalten. Zwar nicht ganz mühelos, aber es ging und das zeigte ihr, dass sie sich seit damals weiterentwickelt hatte. Eine Tatsache, die ihr mehr Zuversicht gab, als es ihr irgendjemand mit Worten hätte einreden können. „Traust du dich also doch“, stellte der Undertaker fest und lächelte sie erneut auf eine Art und Weise an, die ihr durch Mark und Bein ging. Carina erwiderte seinen Blick und Cedrics Augen wurden minimal schmaler, als er die Ernsthaftigkeit und Entschlossenheit in den blauen Tiefen ausmachte. Und da war sogar noch etwas anderes. Eine Art von Wildheit; etwas, dass ihm sagte, dass das hier kein Spaß mehr war, sondern bitterer Ernst. „Unterschätz mich nicht“, zischte sie ihm in diesem Moment gefährlich leise entgegen und gleich darauf spürte er, wie sie das Gewicht ihres Körpers auf ein Bein verlagerte, um das andere vom Boden anheben zu können. Ihr Fuß traf ihn hart gegen den linken Beckenknochen und schleuderte ihn ein Stück weit nach hinten, sodass sich ihre Klingen voneinander trennten. Die junge Frau stürmte erneut auf ihn los, nutzte es aus, dass er nach ihrem Tritt kurz strauchelte. Ihr Katana schoss hervor und sie zielte auf seine rechte Schulter, doch damit schien der Shinigami bereits gerechnet zu haben. Seine linke Hand langte unter seinen schwarzen Mantel und keine Sekunde später krachte eine Sotoba hart und schmerzhaft gegen die Innenseite ihres Ellbogens. Der Hieb riss ihren Arm – zusammen mit der Death Scythe – nach hinten und das einzig nicht Negative daran war, dass sie das Schwert nicht fallen ließ. Dennoch erkannte sie mit einem Mal den Fehler, den sie begangen hatte. Durch ihren vorherigen Tritt hatte sie wieder Abstand zwischen sie beide gebracht. Genügend Abstand, dass Cedric die volle Reichweite seiner Sense wieder nutzen konnte. Und genau den gleichen Gedanken schien der Silberhaarige ebenfalls gehabt zu haben, denn er nutzte seine Chance sofort. Die Augen der 19-Jährigen weiteten sich, als sie realisierte, dass er bereits halb mit der riesigen, gebogenen Klinge ausgeholt hatte. Nein, niemals wäre sie schnell genug, um aus diesem Kreis, den die Waffe beschreiben würde, noch rechtzeitig raus zu kommen. „Dann halt anders!“ Ihr Rücken protestierte, als sie sich nach hinten wegbog und ihre Hände den Boden berührten, sodass ihr Körper eine perfekte Brücke beschrieb. Gleich darauf spürte sie den heftigen Luftzug, als seine Sense knapp über ihrem Bauchnabel hinweg glitt. „Verdammt, er meint es wirklich ernst“, dachte sie erneut und spürte zum zweiten Mal diese unterschwellige Angst in sich aufsteigen. Sie wollte sich gar nicht vorstellen was passiert wäre, wenn sie nicht rechtzeitig hätte ausweichen können. Und Cedric hätte nicht mitten im Angriff aufgehört, so viel war ihnen beiden klar. Das Gewicht nun komplett auf ihre Handflächen und Arme verlagernd, stemmte die junge Frau sich nach hinten weg und versuchte dabei erneut ihn mit einem Tritt ihrer Beine zu treffen. Der Bestatter wich mit einer Eleganz aus, die Carina zornig machte. Dabei war es eigentlich keine sonderlich große Überraschung. Dieser Mann hatte ihr Jahrhunderte an Erfahrung voraus. „Aber das hat Grell auch und bei ihm fühle ich mich nicht so klein und schwach dabei“, flüsterte eine leise Stimme in ihrem Kopf und Carina musste sich eingestehen, dass das stimmte. Bei ihrem Mentor störte es sie tatsächlich nicht. Cedric hingegen… „War das etwa schon alles?“, fragte der Totengräber nun beinahe gelangweilt und beschaute sich seine schwarzen Fingernägel. „Ich hatte mehr von dir erwartet.“ Seine gelbgrünen Pupillen wanderten gerade noch rechtzeitig wieder nach oben, um den wütenden Ausdruck über Carinas Gesicht huschen zu sehen. Äußerlich ließ sie sich zwar kaum etwas anmerken, aber Cedric wusste, dass sie innerlich vor Wut beinahe platzte. Immerhin war genau das seine Absicht gewesen. Und ebenso hatte er vorausgesehen, dass sie nun wieder auf ihn losgehen würde. Ein schmales Lächeln kräuselte seine Lippen, als er seine Death Scythe erneut leicht anhob. Die nächsten 20 Minuten gingen beinahe wie im Fluge an ihnen vorbei. Jedes Mal, wenn Carina dachte - oder zumindest das Gefühl verspürte - sie könnte ihn gleich soweit haben, machte er ihr einen Strich durch die Rechnung. Jedes Mal, wenn sie glaubte ihn erfolgreich getäuscht zu haben, was ihre Bewegungen anging, belehrte er sie gleich darauf eines Besseren. Es war frustrierend und unglaublich, unglaublich nervtötend! Mittlerweile spürte sie durchaus auch die körperlichen Auswirkungen, die dieser Kampf auf sie hatte. Ihre Arme und Beine fühlten sich schwer an, ihre Lunge von den schnelleren Atemzügen ausgelaugt. Schweiß klebte ihr auf der Stirn und am Rücken, doch das war gerade noch ihre geringste Sorge. Die Wunde an ihrem Schlüsselbein pochte munter vor sich hin, während sich auf ihrer linken Wange ein kleiner Schnitt dazugesellt hatte, der wie Feuer brannte. Auch auf ihrem rechten Rippenbogen hatte seine Death Scythe einen Schnitt hinterlassen, doch dieser war tiefer und blutete auch dementsprechend. Ihre Bluse war mittlerweile mehr rot als weiß und obwohl sie wusste, dass das Grells Lieblingsfarbe war, bezweifelte sie doch stark, dass der Reaper erfreut sein würde, sie in solch einem Zustand zu Gesicht zu bekommen. Cedric hingegen sah noch aus wie zu Anfang des Kampfes, wenn man von seinen ebenfalls nun leicht beschleunigten Atemzügen mal absah. Er hatte zwar ein paar Tritte von ihr einstecken müssen, aber die blauen Flecken, die sich dadurch möglicherweise gebildet hatten, befanden sich unter seiner Kleidung und waren somit nicht sichtbar. Aber das alles interessierte Carina nicht. Viel schockierter war sie über die bloße Tatsache, dass seine Knie nicht einmal in die Nähe des Bodens gekommen waren, geschweige denn der Rest seines Körpers. Und so langsam gingen ihr wirklich die Ideen aus. Unwillkürlich musste sie daran zurückdenken, was Grell und sie in ihrem gemeinsamen Training besprochen hatten. Einen Plan, der ihr eigentlich ganz und gar nicht gefiel, weil er absolut nicht zu ihren Vorstellungen eines richtigen Kampfes passte… Keuchend ließ sich die Schnitterin in das weiche Gras fallen und lehnte ihren Rücken erschöpft gegen die raue Rinde eines Baumes. Die Grasflecken, die sich dadurch auf ihrer Hose bildeten, waren ihr in diesem Moment egal, immerhin hatte das Kleidungsstück durch das Training ohnehin schon gelitten. Grell hingegen blieb stehen und schaute grinsend auf seine Schülerin hinunter. „Du bist wirklich stark geworden, Carina“, sagte er und der Stolz in seiner Stimme trieb der Angesprochenen die Röte in die Wangen und ein verlegenes Lächeln auf die Lippen. „Danke, Grell“, antwortete sie und lehnte ihren Hinterkopf nun ebenfalls am Baum an, während sie die Augen schloss. „Aber ohne dich hätte ich das sicherlich nicht geschafft. Herrgott, ohne dich hätte ich wahrscheinlich nicht einmal die Abschlussprüfung geschafft. Ich meine… kannst du dich noch daran erinnern, was für eine Niete ich am Anfang der Ausbildung war?“ „Natürlich kann ich mich daran erinnern. Aber das lag nicht daran, dass du kein Talent gehabt hättest, denn das hast du zweifelsohne. Es fehlte dir lediglich an Selbstbewusstsein und ein bisschen Erfahrung. Und jetzt, wo du beides hast, ist ein kein Wunder, dass du dich stetig verbesserst.“ „Ja, schon“, begann sie zögerlich und seufzte einmal, bevor sie ihre Augen wieder öffnete, „aber glaubst du wirklich, dass es dafür reicht, um ihn zu Fall zu bringen? In diesem Fall sogar wortwörtlich?“ Der Todesgott strich sich einmal durch seine langen, roten Haare und überlegte kurz. „Nun ja, wenn wir ehrlich sind, wissen wir beide, dass keiner von uns Undy wirklich bezwingen kann. Aber darum geht es hier ja auch nicht. In diesem Kampf musst du nicht stärker sein als er. Du musst nur schlauer sein.“ Carina runzelte die Stirn. „Wie meinst du das?“, fragte sie und der Rothaarige zuckte mit den Schultern. „Nehmen wir doch deinen Kampf mit Crow als Beispiel. Er war stärker als du und trotzdem hast du es am Ende geschafft ihn zu töten. Und warum? Weil du den besseren Plan hattest.“ „Stimmt“, flüsterte die junge Frau leise und erinnerte sich an die unschöne Konfrontation zurück. „Und hier machst du es einfach ganz genau so.“ „Du vergisst da etwas, Grell“, widersprach sie ihm und schaute zu ihm auf. „Es lag nur ein schmaler Grat zwischen der Stärke von Crow und der meinen. Zwischen Cedric und mir hingegen liegt mindestens eine kilometerhohe Klippe. Noch dazu kennt er mich wesentlich besser und wird meine Bewegungen und Pläne viel eher erahnen können.“ Sie seufzte. „Und er ist so verdammt schlau. Eine Eigenschaft an ihm, die ich in jeder anderen Situation äußerst attraktiv finde, nur nicht in dieser.“ „Du magst mit allem, was du sagst, Recht haben. Aber gerade die Tatsache, dass er dich so gut einschätzen kann, ist auch ein Schwachpunkt.“ Carina runzelte irritiert die Stirn und Grell lieferte ihr sogleich eine Erklärung. „Du sagst, dass er dich gut kennt und deswegen deine Pläne vorausahnen wird. Gut, dann musst du einfach etwas tun, was so überhaupt nicht zu dir passt. Etwas, was du unter normalen Umständen niemals tun würdest, weil es deinem ganzen Wesen widerspricht.“ Die 19-Jährige starrte ihn an und Grell konnte beinahe hören, wie sich die Rädchen in ihrem Kopf drehten, während sie seine Worte verarbeitete. „Denk nach, Carina. Was würde er niemals von dir erwarten? Mit welcher Aktion kannst du ihn so überrumpeln, dass er den Kopf verliert, sei es auch nur für eine Sekunde?“ Ihre Antwort kam bereits eine Sekunde später und war rein instinktiv; dennoch wusste Carina sofort, dass sie stimmte. „Schwäche zeigen“, murmelte sie und richtete sich langsam auf, während sie Grells Blick hielt, erstaunt über ihre eigene Erkenntnis. „All die Zeit, die wir uns jetzt schon kennen, habe ich immer versucht stark zu sein. Und das war nicht nur bei ihm so. Auch bei meinen Mitschülern, Ronald, Ciel und Sebastian, selbst bei dir… ich wollte immer allen beweisen, dass ich nicht schwach bin. Sei es im Kampf oder auf emotionaler Ebene.“ Realisierend schüttelte sie langsam den Kopf. „Cedric würde niemals vermuten, dass ich etwas tue, was mich freiwillig schwach aussehen lässt.“ Grell grinste und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Dann schlage ich vor, dass du genau da ansetzt.“ Carina schluckte. Sie hatte bis zuletzt gehofft, dass es nicht so weit kommen würde. Dass sie nicht auf diesen Plan zurückgreifen musste. Jetzt schien es jedoch die einzige Möglichkeit zu sein, um doch noch ihren Willen zu bekommen. Aber sie wollte es nicht. Sie wollte es wirklich nicht. Denn auch sie kannte Cedric inzwischen sehr gut. Sie würde ihm damit wehtun. Nicht körperlich, sondern seelisch. Wenn sie ihn richtig einschätzte, würde sie ihn damit verletzen. Und jede Faser ihres Körpers sträubte sich gegen diese Vorstellung. „Gib auf, Carina“, erklang mit einem Mal seine Stimme und die Todesgöttin starrte ihn daraufhin mit geweiteten Augen an. „Wie bitte?“ „Gib auf. Wir wissen beide, dass du keine Chance gegen mich hast. Sieh es ein und gib auf, damit machst du es uns beiden leichter. Denn wenn nicht…“, warnte er sie und schaute sie plötzlich mit so einem kalten Gesichtsausdruck an, dass Carina dieses Mal tatsächlich zurückzuckte, „werde ich diesen Kampf auf die harte Tour beenden. Ich liebe dich, Carina, aber wenn ich nur auf diesem Wege bewirken kann, dass du in Zukunft nicht einfach machen kannst was du willst und dich dabei in Gefahr begibst, dann werde ich dich windelweich prügeln. Auch, wenn es mir nicht gefällt.“ Jetzt hatte er es geschafft. Jetzt hatte sie wirklich Angst vor ihm. Denn jedes einzelne Wort war ernst gemeint, daran zweifelte die Schnitterin nicht eine Sekunde. Sie ballte ihre Hände so fest zu Fäusten, dass es schmerzte. Innerlich brach ihr der Schweiß aus. „So eine verdammte Scheiße“, ging es ihr durch den Kopf und am liebsten hätte sie verzweifelt aufgelacht, als ihr klar wurde, dass es auf diese Warnung von ihm nur eine einzige Antwort von ihr geben konnte. Nur eine, mit der sie sich selbst identifizieren konnte. „Ich gebe nicht auf“, wisperte sie mit bebender Stimme und die Worte brannten wie Säure in ihrer Kehle. „Niemals.“ „Du Idiotin“, dachte sie sogleich, als sich seine Augen unheilvoll verengten. „Du unglaubliche Idiotin.“ Aber zumindest hatte er ihr bei der Entscheidung geholfen. Wie hatte er es noch ausgedrückt? Auch, wenn es ihm nicht gefallen würde? Nun, ihr gefiel ihr eigener Plan auch nicht. Aber nach dieser Ansprache von ihm würde sie es dennoch versuchen. „Gut, aber vergiss nicht. Ich habe dich gewarnt“, erwiderte er und beugte sich leicht nach vorne, ehe er mit voller Geschwindigkeit auf sie zu rannte. Carina stellte sich ihm entgegen, einen neuen entschlossen Ausdruck in den Augen. Ihre Klingen trafen erneut aufeinander, lieferten sich einen kurzen Schlagabtausch. Die Blondine duckte sich unter dem vierten Schlag hinweg, huschte unter seinem erhobenen rechten Arm hinweg und trat ihm sogleich von hinten ins Kreuz. Cedric riss es bedauerlicherweise nicht von den Füßen, aber das hatte sie auch nicht erwartet. Er taumelte lediglich einen Schritt nach vorne und genau in diesem Moment fasste die Schnitterin den Entschluss, ihren Plan jetzt in die Tat umzusetzen. Sie sprang auf ihn zu und ließ mit voller Absicht eine Lücke in ihrem Angriff; in dem Wissen, dass der Silberhaarige sich in der nächsten Sekunde zu ihr zurückdrehen würde und ihre Waffe mit der seinen blocken würde. Und genau so kam es auch. Seine Sense schnitt ihrem Katana auf halber Strecke den Weg ab und Carina machte sich gedanklich bereits auf den kommenden Schmerz bereit. Cedric enttäuschte sie in dieser Hinsicht nicht. Seine geballte Faust flog geradewegs durch ihre Lücke hindurch und traf sie hart gegen die rechte Wange. Carina spürte, wie ihre Lippe aufplatzte und ihr ganzer Kiefer ordentlich durchgeschüttelt wurde. Die Wucht seines Angriffes riss sie nach hinten und es kam genau so, wie die Todesgöttin es geplant hatte. Ihr Rücken krachte wenige Sekunde später gegen einen der umliegenden Bäume, dicht gefolgt von ihrem Kopf. Schmerz explodierte mittig in ihrem Schädel und es benötigte all ihre Willenskraft, sich darauf zu konzentrieren, auf die gewünschte Weise auf dem Boden aufzuschlagen – mit dem Bauch voran, sodass er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Gleich darauf stand sie vor der nächsten Herausforderung. Zum einen musste sie mit aller Macht das Bedürfnis unterdrücken ein schmerzerfülltes Wimmern von sich zu geben und gleichzeitig die blutende Platzwunde zu ignorieren, die nun seitlich an ihrer Stirn prangte. Zum anderen zwang sie ihren gesamten Körper dazu sich zu entkrampfen und die Muskeln erschlaffen zu lassen. Wenn sie Cedric schon vorgaukeln musste, dass sie das Bewusstsein verloren hatte, dann musste es glaubhaft aussehen. Dass die Platzwunde eine größer werdende Blutlache unter ihrem Kopf hinterließ, die sich über den Boden ausbreitete, half dabei ganz erheblich. Eine gespenstische Stille legte sich mit einem Mal über die Lichtung und Carina war froh, dass sie das Gesicht des Undertakers nicht sehen musste. Sie konnte geradezu spüren, wie er sich anspannte und ihm eine Sekunde das Herz in der Brust stockte. „Carina?“ Seine Stimme klang auf einmal gar nicht mehr so selbstbewusst und bestimmend, wie noch wenige Augenblicke zuvor. Jetzt war sie eher fragend, verunsichert. Die 19-Jährige musste sich dazu zwingen still liegen zu bleiben, obwohl es ihr innerlich das Herz brach ihm Angst einzujagen und sei es auch nur für wenige Sekunden. Sie verwehrte ihm jegliches Lebenszeichen und es dauerte daher nicht einmal zwei Wimpernschläge, bis seine Schritte auf dem Waldboden ertönten. Er kam näher und das zügig. „Noch nicht“, sagte sie sich bei jedem einzelnen Schritt und selbst dann noch, als er genau vor ihr stehen blieb. „Noch nicht. Noch nicht.“ Erst, als sie spürte, wie er sich zu ihr herabbeugte, seine Hände nach ihr ausstreckte und vorsichtig ihren Kopf umfasste, witterte sie ihre Chance. Ihre einzige Chance. Ihre marineblauen Augen flogen auf und sie spannte sogleich alle Muskeln in ihrem Körper wieder bis zum Maximum an. Ihre rechte Hand schoss hervor, ehe Cedric überhaupt realisieren konnte, was gerade passierte, und schloss sich mit festem Griff um seinen Fußknöchel. Die gelbgrünen Augen des Bestatters weiteten sich eine Spur breit, Entsetzen und Überraschung flammten in seinem Blick auf. Doch dieses Mal war nicht einmal er schnell genug, um ihren Plan zu verhindern. Mit all ihrer verbliebenen Kraft riss sie ihre Hand ruckartig wieder nach vorne und zog sein komplettes Bein mit sich. Der Schwung ließ ihn den Boden unter den Füßen verlieren, aber Carina wusste, dass diese Aktion allein nicht ausreichte, um ihn gänzlich zu Fall zu bringen. Noch während sich sein Körper in der Luft befand und in Richtung Boden fiel, stemmte sie sich mit einem Knie nach oben und warf sich ihm entgegen, die geöffnete Hand halb nach seinem Brustkorb ausgestreckt, um ihn zu Boden zu drücken. „Jetzt habe ich dich“, dachte sie. Im Nachhinein fragte sich Carina, ob es nicht vielleicht genau dieser Gedanke gewesen war, der ihr schlussendlich das Genick gebrochen hatte. Aus den Augenwinkeln nahm sie verschwommen wahr, wie sich seine gelbgrünen Pupillen gefährlich verengten. Es benötigte nicht mehr, um ihr zu sagen, dass sie den Bogen nun weit überspannt hatte. Aber für einen Rückzieher war es längst zu spät und Carina würde auch keinen machen, wenn sie es noch könnte. Sie hatte sich dazu entschieden, sie würde das jetzt auch durchziehen. Gleich würden ihre Fingerspitzen ihr Ziel erreichen und dann brauchte es nur noch einen kleinen Stoß ihrerseits, dann hatte sie gewonnen. Nur noch wenige Millimeter… Fassungslosigkeit war nicht das passende Wort, um ihren Gesichtsausdruck zu beschreiben, als ihre ausgestreckte Hand ins Leere glitt. Pures Entsetzen breitete sich in ihrem tiefsten Inneren aus, als ihr Verstand eine gefühlte Ewigkeit nicht begreifen konnte, was gerade passiert war. Dabei handelte es sich in der Realität gerade einmal um eine verdammte Sekunde, die sich unaufhaltbar in die Länge zog. Ihr Blick huschte in seine Richtung und richtete sich schlagartig auf seine linke Hand, die den Boden berührte. Mit durchgedrücktem Arm stützte er sich auf der grasbedeckten Erde ab und es war allein dieser eine Arm, der seinen gesamten Körper in der Luft hielt. Die dazugehörige Schulter war leicht zur Seite geneigt. Scheinbar hatte er den Halt am Boden dazu genutzt, um sich im allerletzten Moment noch ein Stück weit zur Seite wegzuziehen. Es handelte sich nur um wenige Zentimeter, aber es hatte seinen Dienst getan. Carinas Hand glitt knapp an seinem Körper vorbei, verfehlte ihr Ziel. Ihre einzige Chance auf einen Sieg löste sich vom einen auf den anderen Moment komplett in Luft auf. Aber Cedric ließ es nicht dabei bewenden. Ehe Carina auch nur die Möglichkeit hatte zu blinzeln, verlagerte er sein gesamtes Gewicht weiter auf den stützenden Arm und ließ noch im gleichen Augenblick sein rechtes Bein nach vorne schnellen. Sein schwarzer, signifikanter Mantel bauschte sich leicht auf, als sein Knie sie hart und unerbittlich im Magen traf. Eine Mischung aus einem Ächzen und Keuchen entwich ihren Lippen, während die Schwerkraft ihren Körper wieder in die Richtung zurückriss, aus der sie gekommen war. Erneut schlug die 19-Jährige auf dem Boden auf, doch dieses Mal war keine von ihren nachfolgenden Reaktionen geschauspielert. Sie krümmte sich ganz automatisch zusammen, machte sich kleiner und versuchte verzweifelt, ihrer Sinne wieder Herr zu werden. Geschockt unternahm sie den Versuch wieder Sauerstoff in ihre Lunge zu bekommen, doch obwohl sie tief einatmete, kam nichts in besagtem Organ an. Am Rande registrierte sie, dass ihr Speichel den Mundwinkel hinabrann, aber es hätte ihr in dieser Situation nicht gleichgültiger sein können. Erst nach zweimaligem Luftschnappen strömte die lebensnotwendige Substanz endlich wieder zurück in ihren Körper und dann… ja, dann kam der Schmerz. Der Tritt war heftig gewesen und ohne Rücksicht – mit Sicherheit hatte er ihr mindestens eine Rippe gebrochen, denn jeder weitere Atemzug schmerzte wie die verdammte Hölle. Tränen schossen ihr in die Augenwinkel, blieben aber Gott sei Dank wo sie waren. Das hätte ihr gerade wirklich noch gefehlt, dass sie aufgrund von körperlichen Schmerzen anfing loszuheulen! Sie hatte mit allem gerechnet, wirklich mit allem – nur nicht damit, dass er es schaffen würde auszuweichen. Hatte sie ihm nicht vorhin noch selbst gesagt, dass er sie nicht unterschätzen sollte? Das hatte sie nicht nur so aus Wut gesagt. Carina war schon immer der Meinung gewesen, dass ein grundlegender Fehler war seinen Gegner vorschnell zu beurteilen. Und jetzt hatte sie genau diesen Fehler selbst gemacht. Nicht, dass sie ihn selbst unterschätzt hatte – nein, lediglich seine enorme Geschwindigkeit. Ganz klar, sie war schnell gewesen… aber er war schneller! Schwer atmend stemmte sie sich auf ihre Knie und Ellbogen hoch und zuckte zusammen, als sie seine näherkommenden Schritte hörte. Unter Schmerzen richtete sie ihren Oberkörper leicht auf, ließ ihren Blick aber stur zu Boden gerichtet. Sie wollte nicht zu ihm aufsehen wie einen Hund, den man getreten hatte. Denn genau so würde sie aussehen, da machte sie sich keine Illusionen. Doch Cedric ließ ihr diesbezüglich keine Wahl. Die Spitze seiner Sense glitt mit der flachen Seite unter ihr Kinn und mit leichtem Druck zwang er ihren Kopf nach oben. Die Kälte der Klinge sorgte dafür, dass sich eine Gänsehaut auf ihren Armen ausbreitete und das wurde auch nicht besser, als sie seinem unterkühlten, ernsten Blick begegnete. Sie schluckte und war sich der Death Scythe an ihrer Kehle plötzlich unangenehm bewusst, als das Schneideblatt durch die Bewegung ihres Kehlkopfes gegen die dortige empfindliche Haut kratzte. Kurz flackerte ihr Blick unsicher zur Seite, doch dann besann sie sich. „Nein, ich werde jetzt nicht kneifen“, bestärkte sie sich gedanklich selbst und ließ ihre glasigen Pupillen wieder in seine Richtung gleiten, einen nun schon beinahe trotzigen Ausdruck im Gesicht. Der Bestatter zog die angespannte Stille noch eine halbe Minute in die Länge, ganz offensichtlich um Carina weiter zu verunsichern – was funktionierte – und er endlich zu sprechen begann, war seine Stimme neutral und fest. „Ich muss ehrlich zugeben, damit hatte ich nicht gerechnet. Oder eher, das hätte ich dir nicht zugetraut. Solch schmutzige Tricks zu benutzen.“ Carina presste ihre Lippen zu einer weißen Linie zusammen und brachte keinen einzigen Ton hervor. Sie hatte gewusst, dass ihn diese Aktion verletzen und gleichzeitig verärgern würde. Man musste kein Hellseher sein, um zu wissen warum. Claudia war eines nicht natürlichen Todes gestorben und er hatte sich damals ihrer Leiche angenommen. Der Anblick musste grauenhaft für ihn gewesen sein. Und auch Carina hatte er schon zweimal in einem ziemlich übel zugerichteten Zustand sehen müssen. Er liebte sie und das implizierte nun einmal auch, dass er sich um sie sorgte. Dieser Anblick von gerade eben, wie sie regungslos am Boden gelegen hatte und sich unter ihrem Kopf eine Blutlache ansammelte… das musste schrecklich gewesen sein. Und dieses Mal hatte er selbst diesen Zustand hervorgerufen. Carina hatte absichtlich mit seiner Sorge um sie gespielt. Sie wusste das und er wusste es ebenso. Das schlechte Gewissen drohte die Schnitterin zu ersticken, doch dafür war jetzt gerade keine Zeit. Jetzt musste sie zuerst das ernten, was sie gesät hatte! „Ich habe dich gewarnt, Carina“, sagte er und blickte auf sie herab, als wäre sie tatsächlich seine Feindin. „Ich habe dich gewarnt, dass das hier passieren wird, wenn du nicht aufgibst. Wenn du dir das Offensichtliche nicht eingestehst.“ „Das Offensichtliche?“ Carina runzelte irritiert die Stirn. Was meinte er? Dass er stärker war als sie? Das war nichts, was sie sich erst eingestehen musste, das war ihr von Anfang an klar gewesen. Was also meinte er bitteschön? „Du hast keine Ahnung, was ich meine, oder?“, las er ihren Gesichtsausdruck richtig und fuhr sogleich mit seiner Ansprache fort. „Ich spreche davon, dass es immer jemanden gibt, der stärker oder schneller oder einfach besser als man selbst ist. Es ist eine gute Charaktereigenschaft mutig zu sein und sich einem solchen jemand dennoch entgegenzustellen. Aber es ist unglaublich dumm, wenn man dann nicht einsehen kann, wann die Zeit gekommen ist besser aufzuhören. So etwas kann dich dein Leben kosten, Carina. Und das ist etwas, was ich unter allen Umständen verhindern will. Genau deswegen wollte ich das hier. Das hier ist nicht nur ein Kampf, sondern auch eine Lektion.“ Er seufzte tief. „Ich gebe dir eine letzte Chance, Carina. Gib auf und ich lasse es gut sein. Erkenne, dass es in unserer momentanen Situation einfach besser ist, wenn ich dich nicht einfach machen lasse, was du willst.“ Seine phosphoreszierenden Augen bohrten sich tief in die ihren und die Todesgöttin wusste, dass er keine Spielchen mit ihr spielte. Das hier war bitterer Ernst. Ihr Kinn begann leicht zu beben und sie spürte bereits diese ekelhafte Hitze in ihrem Hals, die sie immer kurz vor einem richtigen Heulkrampf bekam. „Oder lass es sein. Aber dann, und das schwöre ich dir, werde ich meine vorherigen Worte wahr machen und dich wirklich grün und blau schlagen. Und das ist keine leere Drohung.“ Carina hätte niemals gedacht, dass es eine Situation geben könnte, in der sie ihren Stolz so schnell herunterschlucken würde, doch genau das tat sie jetzt. „Ich gebe auf“, hauchte, nein, krächzte sie eher und noch im gleichen Augenblick begannen die Tränen aus ihren Augen zu fallen. Der Ausdruck in Cedrics Gesicht wurde auf der Stelle weicher und ohne zu zögern nahm er seine Death Scythe unter ihrem Kinn weg, sodass sie wieder freier atmen konnte. Carina wusste nicht, was in diesem Moment schlimmer wehtat. Die Wunden an ihrem Körper oder die unterschiedlichsten Gefühle, die jetzt auf sie eindrangen. Wahrscheinlich letzteres, aber auch hier war sie sich nicht sicher, welches Gefühl schlussendlich überwiegte. Die Scham? Oder doch eher die Wut? Der Silberhaarige sank vor ihr auf die Knie legte sanft eine Hand an ihre linke Wange, doch die Schnitterin drehte den Kopf zur Seite weg. Sie wollte jetzt nicht von ihm getröstet werden. Er sollte sie allein lassen! Sie hörte, wie er erneut leise seufzte. „Bist du wütend auf mich?“, fragte er beinahe vorsichtig nach, woraufhin sie nur stumm den Kopf schüttelte. „Nein, auf mich“, flüsterte sie schließlich nach ein paar weiteren Sekunden des Schweigens, schaute ihn dabei aber immer noch nicht an. „Wieso? Die Einsicht, dass man einen Kampf nicht gewinnen kann, ist keine Schwäche, Carina.“ Das Wort Schwäche ließ irgendeinen dünnen Geduldsfaden in ihrem Inneren reißen. Sie wandte ihm das Gesicht wieder zu, während jetzt noch mehr Tränen über ihre Wangen kullerten. „Ich hab die Schnauze voll davon, mich immer und immer wieder hilflos zu fühlen, jedes Mal aufs Neue. Jedes verfluchte Mal, wenn ich denke, dass ich stärker geworden bin und nicht mehr beschützt werden muss, passieren Dinge, die mir wieder deutlich vor Augen führen wie schwach ich eigentlich bin. Mein Selbstmord, die Campania, Alice‘ Tod, jetzt die Sache mit Samael… Es läuft immer wieder auf das Gleiche hinaus. Und ich bin es leid! Ich will mich verdammt nochmal nicht mehr schwach und hilflos fühlen, verstehst du das denn nicht?“ Ihre Stimme brach und als sie das Gesicht erneut von ihm abwenden wollte, ergriff er mit beiden Händen ihre Wangen und zwang sie mit sanftem Druck ihn weiterhin anzusehen. Mit seinen Daumen strich er ihr zärtlich die Tränen weg und als er den Mund wieder öffnete, betonte er jedes einzelne Wort. „Du bist nicht schwach, Carina“, sagte er und machte hinter jedem Wort eine kleine Kunstpause, um ihr die Bedeutung dahinter ganz klar aufzuzeigen. „Ich habe in meinem langen Leben gegen viele Todesgötter gekämpft. Und bei nur ganz wenigen habe ich so viel Potenzial gesehen, wie bei dir. Und lass dir gesagt sein, dass diese Personen allesamt wesentlich älter waren als du. Du stehst quasi noch ganz am Anfang und hast dennoch schon so viel erreicht. Das magst du momentan noch nicht so empfinden, aber es ist so.“ Sie schniefte einmal leise und ein leichtes Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus. „Außerdem gibt es im Leben immer wieder Momente, in denen man sich unglaublich hilflos und schwach fühlt; ganz unabhängig davon, wie stark man ist. Das hört nie ganz auf, glaub es mir. Selbst mir passiert das noch und ich würde mich jetzt nicht als schwach bezeichnen.“ „Du? Wieso solltest du dich so fühlen?“, murmelte Carina überrascht und blinzelte die letzten Tränen aus ihren Augenwinkeln. Cedric? Schwach und hilflos? Das passte so überhaupt nicht zusammen. „Das letzte Mal warst du daran schuld“, lächelte er schief und streichelte mit seinen Fingern sanft über ihre Wangen. „Dein Kampf gegen Crow, du erinnerst dich? Als ich gezwungen war nur zuzusehen und nicht zu dir konnte?“ Sie nickte zaghaft. „In diesem Augenblick hab ich mich genauso gefühlt. Ich konnte dir nicht helfen und der Gedanke daran, dich vielleicht zu verlieren, hat mich komplett wahnsinnig gemacht. Das war im Übrigen auch der Moment, wo ich mir endlich selbst eingestehen konnte, dass ich dich liebe.“ Die Augen der Blondinen weiteten sich überrascht. Das hatte sie nicht gewusst. „Ängste gehören nun einmal zum Leben dazu, so funktioniert das ganze Spiel“, grinste er und Carina musste schwer an sich halten, um nicht mit den Augen zu rollen. Das Leben als eine Art Spiel zu bezeichnen war etwas, was so verrückt, unpassend und dennoch passend zugleich war, dass es auch nur vom Undertaker kommen konnte. Aber irgendwie hatte er mit allem, was er gesagt hatte, Recht und das war einfach etwas, was sie anerkennen musste. „Ich verstehe“, antwortete sie daher, denn das tat sie wirklich. Und diese Erkenntnis musste Cedric ihr angesehen haben, denn jetzt lächelte er sie zufrieden an. Aber da gab es noch etwas, was sie ihm unbedingt sagen musste. „Es tut mir leid, dass ich dir vorhin Angst gemacht habe“, sagte sie mit einer Spur Bitterkeit in der Stimme und jetzt lachte der Bestatter kurz auf. Ein tiefes Lachen. Er beugte sich leicht vor und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Schon in Ordnung“, erwiderte er und ließ ihre Wangen langsam los. „Es hat funktioniert, oder etwa nicht? Du hast meinen Schwachpunkt erkannt und bist über deinen eigenen Schatten gesprungen, um das gegen mich zu verwenden. Zwei Dinge, die auch in allen anderen Kämpfen von Vorteil sein werden, die noch auf dich zukommen könnten.“ „Wenn du es so sagst, dann hört es sich nicht ganz so schrecklich an“, meinte sie und grinste schief. Obwohl sie den Kampf verloren hatte, fühlte sie sich seltsamerweise zufrieden. Der Todesgott wusste einfach, welche Knöpfe er bei ihr drücken musste. „Lass uns das wiederholen“, sagte sie plötzlich und schaute Cedric direkt an, der fragend eine seiner schmalen Augenbrauen hob. „Lass uns von jetzt an öfter gegeneinander kämpfen. Ich möchte noch viel, viel stärker werden.“ „Bist du dir da sicher? Ich werde dich auch in Zukunft nicht mit Samthandschuhen anfassen, so viel muss dir klar sein.“ Das Grinsen auf ihren Lippen wurde eine Spur breiter, gewitzter. „Ich würde es auch gar nicht anders wollen.“ „Wow, die Kleine ist ja wirklich süß“, meinte Ronald und schaute fasziniert in die Wiege, in der Lily friedlich vor sich hin schlummerte. „Natürlich ist sie das, sie ist ja auch meine Patentochter.“ Zweifelnd sah der junge Mann den rothaarigen Reaper an. „Ich glaube kaum, dass das daran liegt“, antwortete er und wartete in weiser Voraussicht nicht einmal die Antwort seines Kollegen ab, bevor er das Kinderzimmer wieder verließ. Grell kam ihm allerdings schleunigst hinterher. „Du bist immer noch genauso frech, wie damals auf der Campania“, sagte er beleidigt und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich kann verstehen, warum Carina nie so wirklich wusste, was sie von dir denken sollte.“ „Hey, das ist nicht fair“, brummte Ronald, setzte sich auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch im vorderen Teil des Ladens und legte seine Füße übereinandergeschlagen hoch. „In unserer Ausbildung musste ich mich mit Carina messen und ich bin immer noch der Meinung, dass das für uns beide eine Motivationshilfe war.“ „Ja, das ist wohl wahr“, stimmte Grell ihm zu. Wie oft hatte Carina sich bei ihrem gemeinsamen Training darüber ausgelassen, dass sie es Ronald mal so richtig zeigen wollte und wie stolz war sie auf sich selbst gewesen, als sie es dann endlich getan hatte? „Außerdem sagen Taten doch wohl mehr als Worte. Ich hab euch alle nicht verpfiffen und bin gerade hier, um auf ihre Tochter aufzupassen. Was sagt dir das?“, grinste er und jetzt musste auch der Rotschopf grinsen. „Nun gut, Grünschnabel, ich nehme alles zurück“, gab er sich geschlagen und hob verteidigend beide Hände. Jetzt verzog der junge Todesgott beleidigt das Gesicht. „Warum nennen mich eigentlich immer alle Grünschnabel?“, maulte er und verschränkte nun seinerseits die Arme vor der Brust. „Erst der Deserteur, jetzt du. Zu Carina habt ihr sowas bestimmt noch nie gesagt.“ „Weil Carina kein Grünschnabel ist“, zwinkerte der ältere Shinigami amüsiert und konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen, als Ronald genervt aufstöhnte. Ihre Rumalbereien wurden allerdings abrupt unterbrochen, als die Türklingel einen Besucher ankündigte. Ronald verstummte sofort und Grell seufzte leise. Was verstanden manche Menschen an einem „Geschlossen“ Schild eigentlich nicht? „Entschuldigung, aber wir haben ge-“, begann er und drehte sich halb rum, erstarrte aber noch im gleichen Moment zur Salzsäule. Während sein Magen hinab sackte, schnellte sein Puls in die Höhe und eine Kälte ergriff Besitz von seinem Herzen, als stünde er plötzlich am Nordpol. Für einen kurzen Moment wusste er nicht, was er sagen sollte, aber sein Mund wusste es scheinbar sehr genau. „W-William“, stotterte er und schaute seinen Vorgesetzten voller Entsetzen an, unfähig auch nur ein weiteres Wort zu sagen. „Mr. Spears“, hörte er Ronald hinter sich leise stammeln und das machte die momentane Situation für ihn nur noch realer. „Scheiße, das darf nicht wahr sein…“ William starrte seine beiden Untergebenen quasi nieder und war so zornig, dass seine rechte Hand gefährlich zitterte, als er sich damit die Brille zu Recht rückte. „Sutcliff! Knox!“, sagte er ruhig, aber das beruhigte die beiden Todesgötter kein Stück. Sie wussten beide, dass der Schwarzhaarige vor Wut kochte. Und das wurde bereits im nächsten Augenblick sehr deutlich, als der Ranghöhere zu toben begann. „Was zur Hölle machen Sie beide hier?“ Grell zuckte aufgrund der lauten und scharfen Stimme zusammen. So hatte er William noch nie erlebt. „Ähm, wir können das erklären“, kam von Ronald der wohl dümmste Satz, den man in solch einer Situation sagen konnte. „Nicht wahr, Kollege?“ Hilfesuchend sah er Grell an, doch dieser war immer noch viel zu schockiert über die plötzliche Entwicklung der Ereignisse. William ignorierte Ronald, denn sein Blick war allein auf Grell gerichtet. Dieser erwiderte seinen Blick, wenn auch unbehaglich. Früher war es der Traum seiner schlaflosen Nächte gewesen, dass er und William sich einmal so tief in die Augen sahen. Jetzt wünschte er sich einfach nur noch, dass William den Blick von ihm abwenden würde. „Oder dass er mich nicht umbringen wird, wenn das Ganze hier vorbei ist.“ „Sutcliff“, begann der Beamte ein weiteres Mal, nun mit einer klaren Drohung in der Stimme. „Wenn es jemals einen perfekten Zeitpunkt für Sie gäbe, um ausnahmsweise in meiner Nähe den Mund öffnen zu dürfen, dann ist dieser jetzt gekommen. Reden Sie und zwar auf der Stelle.“ „William, ich-“ „Auf der Stelle, hören Sie nicht?“, brüllte der Aufsichtsbeamte und dann passierte etwas, was alle drei Männer auf der Stelle innehalten ließ. Ein protestierendes, leises Weinen aus dem oberen Stockwerk drang an ihre Ohren. Grell hätte am liebsten mitgeweint. „Sutcliff“, grollte der Schwarzhaarige erneut und Angesprochener konnte gar nicht so schnell schauen, da war William bereits halb an ihm vorbei. Doch genau an dieser Stelle kam der Reaper wieder zur Besinnung. Sein Beschützerinstinkt setzte so plötzlich ein, dass er noch in der gleichen Sekunde herumwirbelte und seinem Vorgesetzten eilig die Treppe hinauffolgte. Auf keinen Fall würde er es zulassen, dass er Lily erreichte und wenn er sich dafür mit ihm prügeln musste! Nicht, dass er sich diesbezüglich großartige Sorgen zu machen brauchte. Grell war sich darüber im Klaren, dass er stärker war als William. Es stimmte, zumeist war er derjenige, der von dem strengen Shinigami eins übergebraten bekam, aber er hatte sich ja auch niemals ernsthaft dagegen gewehrt. Trotzdem würde er diese Art von Gewalt in Zusammenhang mit dem Mann, in den er verliebt war, dann doch lieber vermeiden. „William, bleib sofort stehen“, rief er, doch natürlich hörte sein Schwarm ihm nicht zu. Moment war dieser nämlich viel zu schockiert darüber, dass er gerade an der Türschwelle zu einem Kinderzimmer stand und von weitem in eine Wiege schaute, in der ein Baby lag und wegen der abrupten Lautstärke im Haus weinte. „Was zum Teufel…“, murmelte der Beamte fassungslos und setzte einen einzigen Schritt in den Raum hinein. Weiter sollte er jedoch niemals kommen. Ein Luftzug wehte vor ihm durch das Zimmer und im nächsten Augenblick lief ihm ein eiskalter Schauer die komplette Wirbelsäule hinunter, als er plötzlich eine ebenso kalte und vor allem scharfe Klinge direkt an seiner Kehle spürte. Ohne den Kopf auch nur um einen Millimeter zu senken, richtete William seinen Blick nach unten und konnte für einen Moment nicht fassen, was er da sah. Seine gelbgrünen Augen weiteten sich schockiert, als er die junge Frau erkannte, die wie aus heiterem Himmel plötzlich vor ihm hockte und ein Katana direkt an seinen Hals gepresst hielt. Sie starrte ihn ebenfalls an und ihr Blick war hart wie Stahl. Und als Carina endlich zu sprechen begann, durchschnitt ihre Stimme genauso hart die schwere Stille. „Einen weiteren Schritt in Richtung meiner Tochter und ich schneide Ihnen die Kehle durch!“ Kapitel 86: Wortgefechte ------------------------ Man konnte es Carina vielleicht nicht ansehen, aber noch während sie in einer fließenden Bewegung ihre Death Scythe zog und sie William anschließend an den Hals hielt, pochte ihr das Herz so schnell, dass sie den Puls in ihren Schläfen hämmern spürte. Dennoch meinte sie jedes einzelne Wort ernst, dass sie zu ihrem ehemaligen Vorgesetzten gesagt hatte. Sollte er auch nur die leiseste Intention zeigen sich ihrer Tochter weiter zu nähern, dann würde sie den Großteil seines Blutes in diesem Raum verteilen! William traute seinen Augen nicht. War er jetzt schon dermaßen überarbeitet, dass er anfing zu halluzinieren? Er blinzelte zweimal, aber der Anblick direkt vor seiner Nase änderte sich nicht. Vor ihm stand noch immer die junge Schnitterin, die Grell ausgebildet hatte, und hielt ihm ihre Death Scythe unters Kinn. Fahrig nahm der Aufsichtsbeamte ihre blutende Lippe und die Platzwunde an ihrer Stirn wahr, sowie die kaputte und blutdurchtränkte Bluse, die sie am Leib trug. Eindeutige Indizien, die auf einen kürzlich stattgefundenen Kampf hindeuteten. Doch das war gerade wirklich seine geringste Sorge. „Will-“, ertönte hinter ihm Grells Stimme, als er ebenfalls im Türrahmen auftauchte. Sobald der Rothaarige jedoch seinen Schützling entdeckte, brach er mitten im Satz ab. Nicht etwa aus Schock, wie William im allerersten Moment dachte, denn sein ehemaliger Mitprüfling belehrte ihn diesbezüglich sofort eines Besseren. „Carina, wie siehst du denn aus?“, fragte er fassungslos und diese Aussage schockierte William fast noch mehr, als das überraschende Auftauchen der totgeglaubten Schnitterin. Denn es implizierte… es hieß… Grell hatte ihn… „Was hast du mit ihr gemacht?“, fauchte Grell plötzlich zu einer anderen Person, die scheinbar außerhalb von Williams Sichtfeld stand. Am liebsten hätte er den Kopf gedreht, doch er wollte nicht riskieren, dass die junge Frau dies womöglich falsch verstand. Man konnte vieles über ihn sagen, aber er hing an seinem Kopf! „Das, was nötig war“, erklang eine weitere tiefe Stimme. Eindeutig männlicher Natur, aber ihm selbst vollkommen unbekannt. „Hatte ich euch nicht gesagt, ihr sollt auf meine Tochter aufpassen?“ Das war der letzte Satz, den William hörte, denn gleich darauf traf ihn etwas hart am Hinterkopf. Schmerz explodierte an besagter Stelle und mit einem erstickten Aufstöhnen sackte sein Körper nach vorne weg, während sich sein Bewusstsein in eine nichtssagende Schwärze flüchtete. Carina konnte gerade noch rechtzeitig ihre Klinge von Williams Kehle wegziehen, nachdem der Undertaker ihm mit der Seite seiner Todessense, an dem das beeindruckende Skelett hing, einen heftigen Schlag gegen den Kopf versetzt hatte. Der Beamte war bewusstlos, bevor er auf dem Boden aufschlug und jetzt entfuhr Grell ein entsetzter Schrei. Er kniete sich sogleich neben den Mann, für den sein Herz schlug, und umfasste vorsichtig seinen nun blutenden Kopf. Carina ergriff sogleich ein schlechtes Gewissen, aber sie wusste, dass Cedric die einzig mögliche Wahl getroffen hatte. Im Gegensatz zu Ronald hätte William sicherlich nicht so einfach mit sich reden lassen. Dazu mussten sie ihn schon zwingen. „Wird das so etwas wie ein Running Gag bei euch?“, fragte Ronald in diesem Moment und schaute mit halb geschockter, halb sarkastischer Miene auf seinen Chef hinab. „Dass ihr jeden zuerst einmal niederknüppelt, der hinter euer kleines Geheimnis kommt?“ „Du weißt ganz genau, dass es mir bei dir auch schon nicht gefallen hat“, verteidigte Carina sich und erhob sich langsam. „Und bei William hatten wir ja nun wirklich keine andere Wahl.“ „Stimmt“, pflichtete Cedric ihr in diesem Moment bei und schaute Ronald ernst an. „Und vergiss nicht, dass wir damit auch euch beiden den Arsch gerettet haben. Er hätte wohl kaum über eure Regelverstöße hinweggesehen.“ „Auch wieder wahr“, seufzte Ronald und kratzte sich leicht nervös am Hinterkopf. „Nur was machen wir jetzt mit ihm?“ „Das Gleiche, was wir auch bei dir gemacht haben“, erwiderte Carina und seufzte leise. „Grell?“, fragte sie bekümmert und kniete sich neben ihren besten Freund. „Es tut mir wirklich leid, dass es so weit gekommen ist und ich wünschte, wir hätten eine Wahl, aber-“ „Hör auf damit, Carina“, unterbrach Grell sie und atmete zittrig ein. „Mir war doch von Anfang an klar, dass es zu solch einer Situation irgendwann kommen könnte. Ich hatte zwar die Hoffnung, dass es nicht passieren würde, aber… sei es, wie es sei. Ich nehme meine Worte nicht zurück. Ich werde mich immer für deine und Lilys Sicherheit entscheiden, auch wenn es um William geht.“ „Trotzdem hasse ich es, dass ich dich in diese Lage gebracht habe“, murmelte sie und half Grell dabei den Schwarzhaarigen auf seinen Rücken zu drehen. „Bringen wir ihn nach unten in die Küche. Da können wir gleich seine Platzwunde versorgen.“ „Ja, und deine“, erinnerte Grell sich nun wieder und schaute sie noch einmal von oben bis unten an. Er warf dem Bestatter erneut einen zornigen Blick zu. „Ihr solltet miteinander kämpfen und nicht versuchen euch gegenseitig umzubringen.“ „Wenn er das ernsthaft versucht hätte, Grell, dann würde ich jetzt nicht hier stehen“, verteidigte die 19-Jährige den Vater ihrer Tochter mit trockener Stimme. „Ich schätze mal, du hast verloren?“, fragte Ronald interessiert nach und die Blondine seufzte einmal, ehe sie nickte. „Ja, das habe ich“, gab sie zu, stand erneut auf und ging jetzt endlich zu ihrer Tochter, die immer noch leise Klagelaute ausstieß. „Shh, Mäuschen. Es ist alles gut“, flüsterte sie sanft und nahm das Baby auf den Arm, drückte sie zärtlich gegen den Teil ihres Oberteils, der noch weiß war. Das kleine Mädchen reagierte sofort auf die Stimme ihrer Mutter und wurde ruhiger. „Kein Wunder, dass sie weint“, dachte Carina sich, während sie ihr Kind sanft hin und her wiegte. Bei dem ganzen Geschrei… 20 Minuten später hatte sich die ganze Situation im Bestattungsinstitut merklich beruhigt. Lily war, nachdem Carina sie gestillt hatte, wieder eingeschlafen und befand sich nun wieder in ihrer Wiege. Währenddessen hatte Grell den bewusstlosen William nach unten in die Küche getragen und auf einen der Stühle verfrachtet, wo Cedric ihn sogleich mit den dicken Stahlketten gefesselt hatte, die auch schon Ronald festgehalten hatten. Nun saßen sie alle zusammen in der Küche. Ronald und Grell hatten auf der länglichen Sitzbank Platz genommen, sodass sie nun genau gegenüber William saßen. Währenddessen hatte Carina am Kopfende Platz genommen und ließ sich von Cedric verarzten, der mit dem nötigen Verbandsmaterial vor ihr saß. Die Wunde an ihrem Rippenbogen hatte er zuvor oben in ihrem Schlafzimmer behandelt, als die 19-Jährige sich umgezogen und die zerrissenen, blutverschmierten Klamotten im Müll entsorgt hatte. Jetzt fehlte nur noch ihr Gesicht. Ein leises Zischen verließ ihren Mund, als der Bestatter gerade ihre aufgeplatzte Lippe mit einem Tupfer bearbeitete. Ein spitzbübisches Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln, als er sie ansah. „Im Kampf so ein taffes Biest, aber beim Verarzten dann doch wieder wie ein kleines Mädchen.“ „Ich geb‘ dir gleich taffes Biest“, antwortete Carina leise und versuchte ihn mit ihrem finsteren Blick niederzustarren. „Hehe~, gerne“, murmelte er ebenso leise zurück. Die Todesgöttin ließ seinen letzten Satz unkommentiert, freute sie sich doch schon viel zu sehr auf ihre ganz persönliche Rache, die sie ihm zuteil lassen würde. „Das muss Liebe sein“, grinste Ronald und besah sich die beiden voller Interesse. „Wenn du dich so von ihm zurichten lässt“, fügte er an Carina gewandt hinzu und grinste nur noch breiter, als er sie daraufhin laut schnauben hörte. „Ich weiß noch nicht, ob ich dich dafür nicht verprügeln sollte“, warf Grell in den Raum, woraufhin der Totengräber ihn breit angrinste. „Kannst es ja gerne versuchen“, entgegnete er in einer Art Sing-Sang Ton, was nun wiederum Grell schnauben ließ. „Lass es lieber sein, Grell“, warnte Carina ihn vor. „Du bist zwar der beste Shinigami des ganzen Dispatchs, aber glaube mir, wenn ich dir sage: Er ist besser.“ Sie verdrehte gleich darauf die Augen, als sie in Cedrics selbstgefällige Miene sah. „Und das sage ich, weil es stimmt. Kein Grund jetzt arrogant zu werden, Undy“, sagte sie an ihn gerichtet, mit besonderer Betonung auf dem letzten Wort. Angesprochener zog einen leichten Schmollmund, während er nun die Platzwunde an ihrer Stirn versorgte. „Du gönnst mir aber auch gar keinen Spaß“, beschwerte er sich und wechselte wieder einmal in diesen kindischen Modus, bei dem Carina nie genau wusste, wie sie reagieren sollte. Ronald scheinbar auch nicht, denn er warf ihr einen, mit erhobenen Augenbrauen gepaarten, Blick zu und stellte stumm die Frage „Und ihn hast du mir vorgezogen? Ernsthaft?“ Auch diesen stummen Satz ignorierte die junge Frau gekonnt. Denn gerade wurde ihr irgendwie klar, dass alle Bezugspersonen, die sie hatte, auf die ein oder andere Art unglaublich seltsam waren. Und seltsam war da noch das freundlichste Wort, das ihr einfiel. Herrgott, wie hatte das nur passieren können? „Ich muss mich dringend bei Gelegenheit noch einmal mit Elizabeth treffen. Sie ist die Einzige, die mir gerade einfällt, die wirklich noch halbwegs normal ist“, dachte sie und seufzte erleichtert auf, als Cedric endlich von ihren Wunden abließ und die Utensilien wieder zurück in den Verbandskasten räumte. „Nur, dass das klar ist, Carina: Das Thema ist noch nicht erledigt. Ich will alles wissen. Alles!“, sagte Grell und verschränkte die Arme vor der Brust. „Und ich werde dir alles erzählen. Aber nicht jetzt“, gab Carina unmissverständlich zurück. „Momentan haben wir weitaus größere Probleme oder siehst du das anders?“ Sie deutete auf William. Grell seufzte tief. „Ich fürchte nicht“, gab er niedergeschlagen von sich und sah überall anders hin, nur nicht zu dem bewusstlosen Todesgott. Es brach Carina beinahe das Herz ihren besten Freund so zu sehen, war er doch sonst immer das genaue Gegenteil - lebenslustig, laut und gut gelaunt. „Also, was machen wir mit ihm?“, fragte Ronald. Carina und Grell warfen Cedric gleichzeitig einen warnenden Blick zu, ganz nach dem Motto „Wehe, du sagst jetzt wieder sowas wie ‘Wir müssen ihn umbringen‘.“ Der Silberhaarige seufzte. „Wir werden ihm die Wahrheit sagen. Wenn es so funktioniert wie bei dir, dann ist es in Ordnung. Nicht unbedingt großartig, aber hinnehmbar. Falls nicht…“, er machte eine schwere Kunstpause, „…nun ja, das werden wir ausdiskutieren, wenn es soweit ist.“ „William wird mit ziemlicher Sicherheit nicht so locker reagieren, wie Ronald es getan hat“, murmelte Carina und seufzte. „Ich hatte zwar nicht ständig mit ihm zu tun, aber dass er kein Freund von Regelverstößen ist, das weiß selbst ich. Geschweige denn von Verrat und in seinen Augen wird das, was ich getan habe, nichts anderes sein.“ Sie rieb sich gedankenverloren die Stirn. „Ich will nicht, dass wir vor dem Dispatch fliehen müssen. Aber ich bin auch nicht bereit ihn einfach so umzubringen.“ Grell wurde bleich, als er ihre letzten Worte hörte. Er vergrub das Gesicht in den Händen und sagte kein Wort und Carina hatte auch nicht die geringste Ahnung, was sie noch sagen konnte, um ihn aufzuheitern. Eine schwere Stille senkte sich über die Anwesenden und genau diesen Moment suchte sich William aus, um leise stöhnend zu sich zu kommen. Die Stimmung kippte sofort deutlich, jedoch nicht ins Positive. Waren sie bisher alle angespannt gewesen, war das nichts im Vergleich zu der Spannung, die nun in der Luft lag. Die Augenlider des Schwarzhaarigen zuckten schwer und öffneten sich schließlich langsam. Die Pupillen wirkten verklärt, aber mit jeder weiteren Sekunde wurden sie klarer und als der Aufsichtsbeamte schließlich zweimal schnell hintereinander blinzelte, schien auch der letzte Rest seines Bewusstseins zurückgekehrt zu sein. Das Erste, was William auffiel, als er endlich wieder zu sich kam, waren die hämmernden Kopfschmerzen, die von einer Stelle auf seinem Hinterkopf ausgingen. Es war Ewigkeiten her, dass er gekämpft hatte und dementsprechend war es auch schon länger her, dass er verletzt worden war und sich mit Schmerzen hatte auseinandersetzen müssen. Als nächstes bemerkte er, dass seine Arme eng – gar fest – an seinem Körper lagen und er sich nicht einen Zentimeter bewegen konnte. Die Erinnerungen an das, was passiert war, kamen relativ schnell zurück, als er aufblickte und in gleich vier Gesichter schaute, deren Augenpaare alle auf ihn gerichtet waren. Der Todesgott war kein kategorischer Schwarzseher, aber eins war ihm klar – er saß in der Klemme und zwar ganz gewaltig. Dennoch war der erste Satz, der seinem Mund entfloh, alles andere als geschäftlicher Natur. Sondern persönlicher. „Du hast mich hintergangen“, sagte er und starrte Grell dabei mitten ins Gesicht. Er sah, wie dem ohnehin bereits blassen Rothaarigen der letzte Rest an Farbe aus dem Gesicht wich, aber es war ihm egal. Das hier übertraf alles, was Grell in seiner gesamten bisherigen Laufbahn zustande gebracht hatte. Dieser Vertrauensbruch ließ sich nicht mit den Regelverstößen vergleichen, die er in der Vergangenheit begangen hatte. Über das Töten von Menschen, die nicht auf der Liste standen oder das unerlaubte Modifizieren einer Death Scythe konnte William bis zu einem gewissen Grad hinwegsehen. Aber das hier… „Will, bitte“, begann Grell beinahe schon mit einem flehenden Unterton, doch der Schwarzhaarige wandte sich von ihm ab, wollte kein einziges Wort mehr von ihm hören. Stattdessen durchlöcherte er nun Carina mit seinem zornentbrannten Blick, die jedoch nicht mal mit der Wimper zuckte, sondern sogar vollkommen ausdruckslos seinen Blick erwiderte. Das Mädchen – nein, die junge Frau korrigierte er sich sofort – hatte sich eindeutig verändert. Ihre Haare waren kürzer, als er sie in Erinnerung hatte und ihre Augen befanden sich unter dem Schleier einer Tarnung, aber das meinte er damit nicht. Es war ihre Aura, ihre Haltung, ihr gesamtes Auftreten, das sich nicht mit ihrem bisherigen Eindruck vergleichen ließ, den sie bei ihm hinterlassen hatte. Körperlich war sie nicht gealtert, aber ihre Seele war gereift. Stärker. Selbstbewusster. „Ich hätte wissen müssen, dass mit Ihnen etwas nicht stimmt“, sagte er an sie gewandt und starrte sie weiterhin nieder. „Wenn nicht schon durch die Tatsache, dass sie Grells Schülerin waren, dann doch durch die merkwürdigen Vorfälle, die mit Ihnen in Verbindung standen.“ Es juckte den Beamten in den Fingern sich aus reiner Gewohnheit die Brille auf der Nase zurechtzurücken, doch leider blieb ihm diese und jegliche andere Bewegung weiterhin verwehrt. „Ach ja?“, fragte Carina und runzelte irritiert die Stirn. „Und von welchen merkwürdigen Vorfällen sprechen wir hier?“ „Wollen Sie die ganze Liste?“, fragte er trocken und entwickelte trotz seiner innerlichen Nervosität doch eine gewisse Standhaftigkeit, als er mit seiner Aufzählung begann. „1. Sie standen damals nicht auf der Liste der neuen Todesgötter. Jedenfalls gehe ich mittlerweile davon aus, damals habe ich ja noch Grells Lüge geglaubt, dass er einfach nur vergessen hat Bescheid zu sagen.“ Grell schluckte einmal kurz, versuchte aber nicht wieder das Wort zu ergreifen. „2. Ihre Entführung von der Campania und das plötzliche Wiederauftauchen nach mehreren Wochen. Im Nachhinein hätte mir klar sein müssen, dass Ihre Geschichte von dieser Entführung zusammengesponnener Schwachsinn war.“ Die Blondine zog daraufhin eine fast beleidigte Miene. Gut, ihre Geschichte war vielleicht nicht die beste Ausrede aller Zeiten gewesen, aber bis zum heutigen Tage hatte sie immerhin niemand in Frage gestellt. Selbst Grell hatte ihr damals geglaubt. „Und an 3. Stelle wäre da Ihr erneutes Verschwinden. Natürlich ist es nichts Ungewöhnliches, dass Todesgötter in ihrem Dienst verschwinden und in Ihrem Fall sind wir alle stark davon ausgegangen, dass es entweder wieder der Verräter war oder ein Dämon, der Sie erwischt hat. Ich hätte genauer nachforschen müssen, immerhin hatten Sie kurz zuvor erst hinreichend unter Beweis gestellt, wie gut Sie in Ihrem Job sind. So eine hohe Seelenstatistik erreicht nun einmal nicht jeder.“ Er seufzte. „Und dennoch habe ich mir damals nicht die richtigen Fragen gestellt. Vorzugsweise deswegen, weil ich alle Hände voll damit zu tun hatte Sutcliff zu beruhigen, der sich aufgeführt hat wie ein angeschossenes Reh. Mit voller Absicht, wie mir inzwischen klar geworden ist.“ Carina verspürte mit einem Mal den Anflug eines schlechten Gewissens. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, wie Grell sich dann erst fühlen musste. „Ich weiß, es macht nichts von dem besser, was passiert ist, aber glauben Sie mir bitte eins, Mr. Spears. Ich hatte nichts von alldem geplant.“ Sie zögerte kurz. „Nun ja, bis auf ihren drittgenannten Punkt. Das hatte ich tatsächlich geplant.“ „Sie haben Recht“, erwiderte William kühl. „Es macht nichts besser.“ „Ich hatte keine andere Wahl.“ „Weil Sie schwanger waren.“ Es war keine Frage, lediglich eine harte Feststellung. Für keinen der Anwesenden war es eine sonderlich große Überraschung, dass William diese Worte aussprach. Immerhin hatte Carina ihre Verbindung zu dem kleinen Mädchen mehr als deutlich gemacht. „Ja“, bestätigte sie vollkommen neutral. „Von ihm“, fuhr der Beamte anschließend fort und warf dem Deserteur einen vernichtenden Blick zu, den Cedric lediglich mit einem amüsierten Grinsen quittierte. „Ja“, sagte Carina erneut und wandte ihren Blick nicht eine Sekunde lang von William ab. „Und das war im Übrigen auch nicht geplant.“ „Das Ergebnis nicht, der Weg dorthin jedoch…“, begann der Silberhaarige, unterbrach sich allerdings selbst, als Carina ihm einen wütenden Blick zuwarf. Ronald kicherte neben ihm leise, als er die Anspielung verstand. William sah hingegen alles andere als begeistert aus. „Geben Sie mir wenigstens die Gelegenheit Ihnen die ganze Situation zu erklären“, fuhr die junge Todesgöttin bittend fort und ihr ehemaliger Boss schnaubte. „Habe ich denn eine andere Wahl?“, fragte er genervt, erwischte sich aber selbst dabei, wie er in der nachfolgenden halben Stunde wie gebannt an den Lippen der 19-Jährigen hing. „Und diesen Mist soll ich Ihnen glauben, ja?“, sagte er anschließend und belog sich damit selbst, denn seine fachkundige Meinung sagte ihm eindeutig, dass Grells Schülerin die Wahrheit sagte. Sie war weder verrückt, noch geisteskrank und welches Wesen, das noch bei klarem Verstand war, würde sich so eine irrsinnige Geschichte ausdenken, wenn sie nicht der Wahrheit entsprach? „Es ist alles wahr“, erwiderte Carina ernst. „Ich kann Ihnen gerne die Narbe auf meinem Rücken zeigen, wenn Sie möchten.“ „Gar nichts wirst du“, warf Cedric dazwischen und warf ihr einen mahnenden Blick zu. Ronald öffnete bereits den Mund, doch Grell reagierte rechtzeitig und trat ihm mit seinem spitzen Absatz fest auf den Fuß. Während der junge Todesgott sich auf die Lippe beißen musste, um nicht vor Schmerz aufzuheulen, wechselte der Rothaarige schnellstmöglich das Thema. „Verstehst du jetzt, warum ich das alles getan habe, Will?“ „Erwartest du etwa jetzt Verständnis von mir?“, zischte Angesprochener, mehr als nur erbost, und funkelte seinen Gegenüber zornig an. „Keine von ihren Erklärungen kauft dich von deiner Schuld frei. Du warst zu keiner Zeit gezwungen ihr bei auch nur irgendetwas zu helfen. Nichts von alldem hat dem Dispatch in irgendeiner Art und Weise geholfen. Ganz im Gegenteil, es hat ihm eher geschadet.“ „Aber ich wollte ihr helfen, William. Sie ist wie die kleine Schwester, die ich nie hatte. Ich hatte überhaupt keine andere Wahl!“ „Doch, die hattest du. Du wolltest sie nur nicht sehen“, fuhr William ihm über den Mund und jetzt mischte sich auch Carina in das Gespräch ein; machte sie die Art, wie Grell gerade behandelt wurde, doch nun auch wütend. „Ich mag den Dispatch zuerst hintergangen haben, das stimmt. Aber glauben Sie nicht, dass ich den entsprechenden Preis dafür schon längst bezahlt habe? Das, was Crow mir angetan hat-“ „-ist nicht die Schuld des Dispatchs. Davon distanziere ich mich ganz deutlich“, unterbrach der Aufsichtsbeamte sie rüde, doch Carina ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Aber der Dispatch hat auch nichts gegen ihn unternommen. Und warum? Weil keiner, nicht einmal der so erhabene Rat der Shinigami, etwas davon wusste. Weder von den geheimen Aufgaben der Ordnungsabteilung, noch von den wahren Absichten, die Crow in all seiner Zeit dort hegte. Haben Sie eigentlich eine Ahnung, neben was für einem Monster Sie bei meiner praktischen Prüfung gesessen haben?“ William schwieg. Diese Tatsachen über seinen langjährigen Kollegen zu hören, hatte ihn schwer erschüttert. Er wusste, dass seine Menschenkenntnis oft nicht die beste war, aber er hatte wirklich geglaubt den Mann zu kennen. Noch nie hatte er sich in jemandem so sehr getäuscht. „Dieser Mistkerl hat Unmengen an Menschen und auch Todesgöttern auf dem Gewissen. Von der vorherigen Folter ganz zu schweigen. Denken Sie nicht, dass ich dem Dispatch einen großen Dienst erwiesen habe, als ich ihn umgebracht habe?“ Cedric lächelte stolz. Da war er wieder. Dieser Funke in seiner Brust, der jedes Mal auf die Größe eines Flächenbrandes anschwoll, wenn Carina ihren Intellekt unter Beweis stellte. „Wie darf ich das verstehen?“ „Nun, wenn ich seinen Plan nicht vereitelt hätte, dann wäre Samaels Plan vermutlich aufgegangen und er hätte schon längst die Kontrolle über den gesamten Dispatch und somit auch über alle Shinigami an sich gerissen. Sie können mir nicht erzählen, dass Sie gerne unwissentlich für einen Dämon der übelsten Sorte gearbeitet hätten, oder etwa doch?“ William knirschte mit den Zähnen. Die Kleine war clever, das musste er ihr lassen. Mit ihren Worten hatte sie direkt ins Schwarze getroffen. „Ich muss gestehen, dass Sie in diesem Punkt möglicherweise Recht haben. Aber das ändert überhaupt nichts“, entgegnete er und unterdrückte erneut den unbändigen Drang seine Brille zurechtrücken zu wollen. „Sie mögen den Dispatch in diesem Fall vor größerem Schaden bewahrt haben, aber das ist schließlich auch ihre Aufgabe als Shinigami. Wir sind dazu verpflichtet dem Dispatch zu dienen, bis wir für unseren Selbstmord gesühnt haben. Sie hingegen haben gegen so viele Regeln verstoßen, dass es mich Stunden kosten würde, um sie alle aufzuzählen. Das werde ich nicht akzeptieren! Und nichts, was Sie vorbringen, wird mich vom Gegenteil überzeugen können.“ Grell schloss geschockt die Augen und Carina biss sich leicht in die Wangeninnenseite, während Ronald einen tiefen Seufzer ausstieß. „Ich schätze, jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, an dem wir ausdiskutieren, was wir mit ihm machen“, warf Cedric trocken in den Raum hinein. Er zuckte mit den Schultern und sah seine Gefährtin an. „Bist du immer noch der Meinung, dass wir ihn am Leben lassen sollten?“ Und dann tat Carina etwas, was Grell beinahe das Herz brach. Sie zögerte. Entsetzt starrte er die Blondine an. „Du denkst doch wohl nicht ernsthaft darüber nach?“, fragte er sie fassungslos, woraufhin sie sich ihm zuwandte. „Was erwartest du denn von mir, Grell?“, fragte sie ihn ruhig. „Er leugnet nicht einmal, dass er uns in der Sekunde verraten wird, in der er die Gelegenheit dazu bekommt. Ich will ihn nicht umbringen, ganz gewiss nicht, aber er lässt uns nicht wirklich eine Alternative. Wenn es hier nur um uns beide gehen würde“, sagte sie und deutete dabei auf sich und den Bestatter, „dann wäre es mir ja noch egal. Aber hier steht auch Lilys Leben auf dem Spiel und das werde ich auf gar keinen Fall in Gefahr bringen. Nur über meine Leiche.“ Sie machte eine kurze Pause, um die Worte auf alle Anwesenden wirken zu lassen. „Oder hast du eine andere Idee, wie wir ihn gleichzeitig zum Schweigen bringen können ohne ihn zu töten?“ Grell schluckte schwer und wandte sich dann William zu. „Sie meint das vollkommen ernst, William“, begann er, nun schon beinahe ein wenig hysterisch. „Das weiß ich, Sutcliff“, knurrte der Schwarzhaarige und sah Angesprochenem dabei genau in die Augen. „Aber lieber sterbe ich für das, an was ich glaube, als mit dem weiterzuleben, an das ich nicht glaube.“ Carinas Augen weiteten sich minimal. Scheiße, dieser Spruch hätte auch von ihr selbst kommen können. Und ob sie es wollte oder nicht: Sie bewunderte William für seine Einstellung. Aber er stellte sie unweigerlich an einen Wendepunkt. Der Wendepunkt, an dem sie herausfinden würde, wie weit sie bereit war zu gehen, wenn es um die Sicherheit ihrer Familie ging. Doch eigentlich belog sie sich in diesem Punkt selbst, das wurde ihr gerade klar. Eigentlich brauchte sie es nicht erst herauszufinden. Carina wusste es schon. Nur das Ergebnis gefiel ihr nicht sonderlich. „William, bitte“, flüsterte Grell flehend, doch der Beamte blieb eisern. „Bringen wir es hinter uns“, sagte er und schaute an Carina vorbei zu Cedric, der sich nun langsam von seinem Stuhl erhob. Die junge Schnitterin wandte sich zu ihm um. „Cedric, du musst nicht-“, begann sie, doch der Totengräber unterbrach sie. „Doch, ich muss“, sagte er, denn diese Bürde würde er ihr auf gar keinen Fall auferlegen. Er würde niemals zulassen, dass Carina tötete, wenn sie es nicht unbedingt selbst tun musste. Dafür war sie einfach nicht gemacht. Seine Hand glitt unter seinen Mantel und ertastete den Griff seiner Sense. „Und ich werde!“ „Heute wird hier niemand sterben.“ Die Köpfe der fünf Todesgötter wirbelten aufgrund der plötzlich ertönenden Stimme herum und während Ronald und William keine Ahnung hatten, wer sich dort vor ihnen befand, erkannten dir restlichen drei ihn sofort. „Uriel“, stieß Carina irritiert hervor und starrte den Erzengel überrascht an. Ronald klappte der Mund auf und selbst der sonst so verschlossene William konnte seine Fassungslosigkeit nicht hinter einer Maske aus Gleichgültigkeit verstecken. „Was soll das heißen?“, gab Cedric sich als einziger in der Runde unbeeindruckt und schaute den Engel fragend an. „Es wird nicht notwendig sein ihn umzubringen, nachdem ich mit ihm gesprochen habe“, entgegnete der Mann mit den schneeweißen Flügeln sachlich, was den Bestatter nun erst recht irritierte. „Ich dachte, Engel dürfen sich nicht in die Angelegenheiten von Menschen und Todesgöttern einmischen.“ „Das ist richtig. Aber Versprechen dürfen sie halten.“ Seine goldenen Augen wanderten zu Carina. „Ich habe dir bei unserer letzten Begegnung versprochen, dass ich euch so gut es geht unterstützen werde und das habe ich ernst gemeint. Einen weiteren unnötigen Mord zu verhindern ist da eine Kleinigkeit.“ Carina musste Cedric und Grell nicht erst ansehen um zu wissen, dass sie nun von beiden angestarrt wurde. Noch ein unangenehmes Gespräch, was sie heute wohl endlich würde führen müssen. Dieser Tag wurde aber auch immer besser und besser… „Heißt das, du hast ein Argument, das ihn überzeugen wird?“, lenkte sie vom Thema ab und schaute den blonden Mann zweifelnd an. Dieser nickte leicht und wandte sich nun direkt an William, auf dessen Stirn sich mittlerweile tiefe Falten gebildet hatten. „Mr. Spears, ich respektiere ihre Einstellung. Auch bei meiner Rasse werden Regelverstöße nicht toleriert und das ist auch gut so. Ohne gewisse feststehende Regeln kann keine Gesellschaft lange überdauern.“ William wirkte von der Ansprache positiv überrascht. „Wenn Sie es verstehen, dann wissen Sie auch, dass ich mich nicht umstimmen lasse werde“, erwiderte er neutral. „Auch dann nicht, wenn der Bestand des Dispatchs auf dem Spiel steht?“ Williams Falten vertieften sich. „Was meinen Sie damit?“ „Seit mehreren Jahrhunderten besteht zwischen den Engeln und dem Dispatch ein Pakt, das wissen Sie sicherlich.“ „Natürlich“, bestätigte William und rollte gleich darauf mit den Augen, als er Ronalds verständnislose Miene sah. „Haben Sie im Unterricht eigentlich einmal aufgepasst, Knox? Der Pakt regelt den Frieden zwischen uns und den Engeln. In ihm wurden alle Regeln festgelegt. Unter anderem auch, dass sie sich nicht in unsere Angelegenheiten einmischen. Wir erwidern dies im Umkehrschluss.“ „Eine dämliche Regel, wenn man diesen Einzelfall hier bedenkt“, murmelte Carina leise und fing sich daraufhin von William einen bösen Blick ein, was sie allerdings nicht sonderlich störte. „Es gibt viele Engel, die mittlerweile der Meinung sind, dass die Zuständigkeitsgebiete der Todesgötter viel zu weit gehen und einige Verfahrensweisen eigentlich wieder in unserer Hand liegen sollten.“ Der Himmelswächter sagte dies ohne jegliche Wertung, aber bei seinen nächsten Worten schlich sich ein leicht provokanter Unterton in seine Stimme. „Wenn ich eine Abstimmung in unserem Rat anregen würde, der genau diese Meinung wieder zum Thema macht… Was glauben Sie, was dann passiert?“ Carina konnte nicht verhindern, dass sich auf ihren Lippen ein langsam breiter werdendes Grinsen ausbreitete, als sie in Williams geschockte Miene sah. Uriel: 1 William: 0 Der Engel wusste, wie man spielte, das musste sie ihm eindeutig zugestehen. „Das können Sie nicht machen“, hauchte William. „Ich kann. Und ich werde“, entgegnete Uriel ruhig. „Vergessen Sie eines nicht, Mr. Spears. Sie legen sich gerade mit einem Erzengel an. Carina und ihre Familie stehen unter meinem persönlichen Schutz. Das ist das Mindeste, was ich nach allen Geschehnissen für sie tun kann. Und Sie wollen nicht herausfinden, wie weit ich gehen würde, um drohendes Unheil von ihnen fernzuhalten und gleichzeitig Samael Einhalt zu gebieten.“ Eine ungläubige Stille machte sich im Raum breit. „Ich wusste doch, dass ich ihn mag“, dachte Carina sich und warf einen kurzen Seitenblick zu Cedric. Dieser hatte mittlerweile wieder die Hand von seiner Sense genommen und schaute den Engel mit einem Ausdruck im Gesicht an, der die 19-Jährige davon überzeugte, dass auch er begann Uriel zu akzeptieren. Gleich darauf glitt ihr Blick wieder zurück zu William. Dem Schwarzhaarigen war deutlich anzusehen, dass er innerlich mit sich haderte. Sicherlich wog er gerade die Vor- und Nachteile gegeneinander ab, stellte vielleicht sogar Analysen und Wahrscheinlichkeitsrechnungen an. Carina stellte sich Williams Gehirn generell wie einen Computer vor, der immer jegliche Daten, die er erhielt, sofort entsprechend verarbeiten konnte. Wenn sie nur wüsste, wie Recht sie damit hatte. In William Kopf lief es gerade auf Hochtouren. Er war ein Mann, der guten Gewissens behaupten konnte, dass er immer nach seinem Verstand handelte. Aber gerade passierte es ihm zum ersten Mal, dass sich sein Verstand einen ernsthaften Kampf mit seinem Herzen liefern musste. Sein Verstand sagte ihm ganz deutlich, dass der Erzengel keine leere Drohung aussprach und es wirklich ernst meinte. Nach dem Abwägen aller relevanten Belange war er zu dem Ergebnis gekommen, dass es die Ahndung der Regelverstöße tatsächlich nicht wert wäre, die Sicherheit des gesamten Dispatchs aufs Spiel zu setzen. Aber sein Herz sagte ihm ganz klar und deutlich, dass er die Todesgötter für ihr Verhalten nicht einfach so ungestraft davonkommen lassen konnte. Allein wenn er an Grell dachte, kochte in ihm wieder die Wut und – was wesentlich schlimmer war – die Enttäuschung hoch. Nein, er konnte sie nicht nur nicht damit davon kommen lassen, er wollte es auch nicht! Nach mehreren langen Minuten, in denen alle Anwesenden dem Aufsichtsbeamten die Zeit gaben, die er für seine Überlegungen brauchte, ergriff William dann endlich wieder das Wort. Allerdings wirkte er nach wie vor wenig erfreut. „Ich unterbreite Ihnen einen Vorschlag“, sagte er langsam und schaute dabei Carina an, denn mit Ihr wollte er die Verhandlungen führen. „Ich höre“, sagte sie und meinte es ganz neutral interessiert, nicht aber unfreundlich. „Ich werde Stillschweigen über die ganze Angelegenheit behalten und Sie sogar dabei unterstützen, diesen Samael zu besiegen. Einen Dämon mit solchen Kräften darf man nicht einfach frei herumlaufen lassen.“ „Das wäre tatsächlich äußerst hilfreich“, meinte die Schnitterin. „Aber wir wissen beide, dass zu einem Deal mehr gehört. Also: Was schwebt Euch als Gegenleistung vor?“ „Ich habe drei Bedingungen.“ Carinas Augenbrauen wanderten ein wenig nach unten, als sie die Augen leicht verengte. „Die da wären?“ „Erstens“, begann William und schaute nun Grell und Ronald an, „werde ich die beiden nach meinem Ermessen bestrafen dürfen und keiner der hier Anwesenden wird etwas dagegen sagen.“ Carinas Blick huschte ebenfalls kurz zu ihren beiden Freunden. Beide waren eine Spur blasser im Gesicht geworden. „…So lange es ihre Sicherheit und Gesundheit nicht gefährdet“, sagte sie langsam und als William ihr kurz zunickte, wartete sie auf ein kurzes Zeichen von Grell und Ronald. Beide nickten ihr ebenfalls unmerklich zu, sodass die junge Frau sich wieder guten Gewissens dem gefesselten Todesgott zuwenden konnte. „In Ordnung.“ „Zweitens“, fuhr der Schwarzhaarige fort, „werden Sie mir hier und jetzt versprechen, dass solche Vorkommnisse wie auf der Campania nie wieder geschehen werden. Keine wandelnden Leichen mehr, nie wieder.“ „Das verspreche ich Ihnen“, erwiderte Carina wie aus der Pistole geschossen und musste dazu nicht einmal Cedric ansehen. Das war immerhin eine Sache, die sie untereinander bereits geklärt hatten. William warf einen flüchtigen Seitenblick auf den Bestatter, der ebenso flüchtig nickte. „Gut“, meinte er und wirkte bereits merklich besänftigter als zu Anfang des Gespräches. „Und drittens?“, fragte Carina nun und wirkte dabei beinahe neugierig. Meistens waren die dritten Bedingungen diejenigen, die sich am schwersten erfüllen ließen und auf die der Fordernde am meisten pochte. Die phosphoreszierenden Augen ihres Gegenübers leuchteten kurz auf, als er sie jetzt mit einem eindringlichen Blick musterte. „Sie werden wieder für mich arbeiten.“ Carina blinzelte. „Was?“, fragte sie verblüfft und war sich im ersten Moment nicht sicher, ob sie den Beamten wirklich richtig verstanden hatte. „Natürlich nicht offiziell. Niemand im Dispatch wird etwas davon erfahren. Sie werden Grells Partnerin und werden mit Ihm zusammen die Schichten absolvieren. Anschließend schreiben Sie die Berichte und Grell wird sie unter seinem Namen einreichen. Somit kann ich auf Nummer Sicher gehen, dass Sie zum einen darauf achten, dass er keinen Unsinn anstellt und zum anderen bekomme ich die Berichte pünktlich, die er immer viel zu spät einreicht. Außerdem wissen Sie sicherlich von unserem Personalproblem. Ich brauche dringend fähige Schnitter in meiner Abteilung, die wissen, wie sie ihren Job zu erledigen haben. Und bei Ihnen weiß ich, woran ich bin. Also. Was sagen Sie?“ „Einverstanden“, hörte Carina sich selbst sagen, bevor sie überhaupt wirklich darüber nachgedacht hatte. Sie sah aus den Augenwinkeln, wie die Köpfe von Grell und Ronald zu ihr herumwirbelten. Aber viel schlimmer war das empörte „Wie bitte?“, das von Cedric kam. Für den Moment ignorierte sie es. „Ich werde wieder für Sie arbeiten, Mr. Spears. Vorerst aber mit reduziertem Stundenumfang, bis die Sache mit Samael geklärt und meine Tochter ein wenig älter ist.“ „Das ist akzeptabel“, erwiderte William und wirkte nun wirklich vollauf zufrieden. Himmel, wenn Carina gewusst hätte, dass sie mit ihm bloß eine bürokratische Diskussion führen musste, hätte sie sich weitaus weniger Sorgen gemacht. Auch Uriel wirkte recht zufrieden. Mit einem Schnipsen seiner Finger – wie zur Hölle machte er das bloß? – fielen die Ketten, die William auf dem Stuhl festhielten zu Boden. Der Schwarzhaarige erhob sich langsam, bewegte kurz seine steifen Glieder und rückte sich dann in alter Manier die Brille auf der Nase zurecht. „Dann haben wir einen Deal“, sagte Carina und streckte ihm ihre geöffnete Handfläche entgegen. Ihr neuer/alter Chef sah sie noch einmal kurz prüfend an und besiegelte ihre Verhandlung dann mit einem festen Händedruck. „Ich hoffe, wir kommen gut miteinander aus“, sagte er vollkommen neutral. Carina konnte nicht anders, sie lächelte süffisant. „Sie wissen, was für mich auf dem Spiel steht, Mr. Spears. Glauben Sie mir, ich werde persönlich dafür sorgen, dass wir gut miteinander auskommen.“ William rückte sich erneut die Brille zurecht, sodass sich das Licht in seinen Gläsern spiegelte. „Zumindest eine Person in diesem Raum, die scheinbar versteht, was ich will“, sagte er und warf dabei einen kalten Blick zu Grell, der spürbar zusammenzuckte. „Dann werde ich mich jetzt verabschieden. Knox, Sutcliff… Sie beide erwarte ich in einer Stunde in meinem Büro.“ Ronald schluckte, nickte aber gehorsam. Grell hingegen schien zur Salzsäule erstarrt zu sein, denn er gab überhaupt kein Lebenszeichen mehr von sich. Wahrscheinlich war er mit seinen Gedanken längst ganz woanders. „Ich werde ebenfalls gehen. Ich hab noch ein paar Menschen auf meiner Liste stehen“, sagte Ronald schnell, denn er wollte William auf keinen Fall noch weiter verärgern. Mit einem Grinsen auf den Lippen zwinkerte er Carina kurz zu und hob die schwarz behandschuhte Hand. „Bis dann, Kollegin.“ Besagte Kollegin lächelte und zwinkerte ihm zum allerersten Mal in ihrem Leben zurück. „Bis dann“, sagte sie und sah dabei zu, wie sich zuerst William und dann Ronald in Luft auflösten. Schwer seufzend wandte sie sich anschließend an den Himmelswächter. „Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll, Uriel“, meinte sie und der Engel lächelte ehrlich. „Wie ich bereits sagte: Ich halte meine Versprechen. Aber auch ich muss mich jetzt verabschieden, meine Zeit in der Menschenwelt ist begrenzt. Sollte ich etwas von Bedeutung herausfinden, lasse ich es euch wissen.“ „Danke“, antwortete die 19-Jährige und der Erzengel verschwand ebenso schnell wie die letzten beiden Male, innerhalb eines einzigen Wimpernschlages. Nun waren nur noch Carina, Cedric und Grell in der Küche. Letzterer schwieg immer noch eisern und Erstgenannte ließ sich lediglich müde auf einen Stuhl fallen. „Kann eigentlich auch mal ein Tag vergehen, an dem ich nicht um unser aller Leben fürchten muss?“, fragte sie erschöpft in die Runde und als sie daraufhin mit Schweigen gestraft wurde, drehte sie sich zu Cedric um. Der Totengräber hatte beide Arme vor der Brust verschränkt und bedachte sie mit einem Blick, der Carina ganz genau sagte, dass dieser Tag noch lange nicht zu Ende war. Erst jetzt fiel der Deutschen wieder ein, dass sie noch einige Dinge zu erklären hatte. Sie biss sich auf die Unterlippe. „Sei bitte nicht sauer“, versuchte sie die Anspannung ein bisschen zu lösen, doch dieser Versuch ging nach hinten los. „Sauer? Wieso sollte ich denn sauer sein?“, entgegnete er ironisch und machte dabei von seiner besten Unschuldsstimme Gebrauch. „Cedric“, stöhnte sie bittend, doch das erweichte den Bestatter kein bisschen. „Wann wolltest du mir bitteschön mitteilen, dass du dich noch ein weiteres Mal mit Uriel getroffen hast?“ „Ich wollte es dir ja sagen, aber irgendwie hab ich nie den richtigen Zeitpunkt erwischt und dann schien es mir nicht mehr so wichtig zu sein-“ „Schwachsinn“, unterbrach Cedric sie rüde und stand nun von seinem Stuhl auf, sodass sie zu ihm hoch schauen musste. „Du verschweigst mir etwas und ich will jetzt sofort wissen, was es ist.“ Carina stockte und das ließ Cedrics ohnehin schon dünnen Geduldsfaden endgültig reißen. „Sofort, hörst du nicht?“ Seine laute Stimme ließ Carina erschrocken zusammenzucken. Grell hingegen wurde bleich, denn William hatte heute genau die gleichen Worte benutzt. „Reden Sie und zwar auf der Stelle.“ „William, ich-“ „Auf der Stelle, hören Sie nicht?“ Er hasste es, von William angebrüllt zu werden. Dennoch waren die leise gesprochenen Worte, die William nach seinem Aufwachen zu ihm gesagt hatte, tausend Mal schlimmer gewesen. „Du hast mich hintergangen.“ Ja, das hatte er. Und er hatte keine Ahnung, wie er das je wieder gutmachen sollte… Carina konnte ihn nicht mehr ansehen. Ihr Blick ging stur zu Boden, als sie ihre nächsten Worte sprach. „Ich weiß nicht, wie du darauf reagieren wirst“, gab sie zu und verschränkte ihre Finger fest ineinander. „Schlimmer als Williams Reaktion am heutigen Tage wird es nicht sein“, mischte Grell sich trocken ein und richtete seine gesamte Aufmerksamkeit auf seine beste Freundin. Vielleicht konnte er sich so von der Vorstellung ablenken, dass William ihn bis zu seinem Lebensende hassen würde. „Du wirst es nie herausfinden, wenn du es mir nicht sagst“, antwortete der Totengräber ruhig und setzte sich nun doch wieder. Was aufgrund der Informationen, die er gleich erhalten würde, vermutlich auch besser war. „Ihr erinnert euch noch daran, dass ihr mich nach der Entführung gefragt habt, warum Crow eigentlich auch Elizabeth Midford entführt hat?“ Die beiden Männer nickten. „Damals habe ich euch gesagt, dass ich darüber gerne ein anderes Mal sprechen würde.“ „Stimmt“, erinnerte sich Grell. Das hatte er bereits komplett vergessen und scheinbar war es dem Undertaker damit nicht anders ergangen. Immerhin hatten sie auch genug andere Probleme, um die sie sich Gedanken machen mussten. „Also hat Elizabeth Midford etwas mit dem Gespräch zu tun, das du mit Uriel geführt hast?“, fragte der Rothaarige und erntete ein Nicken seiner Schülerin. „Ja, das kann man so sagen. Es war an dem Tag, als ich mit Lily spazieren war und dabei zufällig Elisabeth getroffen habe. Nachdem sie gegangen war, konnte ich einfach nicht anders. Ich musste Uriel einfach fragen, was in Zukunft mit ihr passieren wird.“ Cedric runzelte die Stirn. „Dein Interesse für die Verlobte des Earls in allen Ehren, aber wieso interessierst du dich so für ihre Zukunft und was hat das Ganze mit Crow zu tun? Es gibt keine sichtbare Verbindung zwischen den beiden und ein Engel, der sich so akribisch an die Regeln hält, wird dir wohl kaum etwas verraten haben, dessen Weitergabe ganz eindeutig verboten ist.“ Carina schluckte, als ihr Mund plötzlich staubtrocken wurde. „Augen zu und durch“, dachte sie sich und begann den beiden Todesgöttern die Angelegenheit zu erklären. „Als Crow damals überprüfen wollte, ob ich eine Zeitreisende bin, hat er im Zuge dessen die Geburtsbücher überprüft. Dabei dachte er sich, dass es vielleicht nützlich sein könnte eine DNA Probe von mir zu haben. Da in den Geburtsbüchern der jeweilige DNA Schlüssel genauestens verzeichnet ist, wollte er diesen mit meinem Namen abgleichen. So hätte er zu 100 Prozent sicher gehen können, dass es sich dabei auch wirklich um mich handelt.“ „Klingt logisch“, gab Grell zu. „Der DNA Schlüssel ist die sicherste Methode, um die frühere Identität eines Shinigami festzustellen.“ „Richtig“, erwiderte Carina und seufzte erneut. „Er meinte, dass er meine DNA schlussendlich nicht gebraucht hätte, weil sich seine Theorie ja bewahrheitet hatte und ich wirklich aus der Zukunft kam. Aber bei der ganzen Sucherei ist ihm dann doch etwas Interessantes ins Auge gefallen. Nämlich, dass es ein paar Datensätze gab, die meinem Schlüssel ein wenig ähnlich waren. Jedoch gab es zusätzlich noch andere Datensätze, die dem meinen verdammt ähnlich waren, sogar nahezu identisch. Also hat er ein wenig nachgeforscht und herausgefunden, dass es für diese Übereinstimmung nur eine Erklärung geben kann.“ Carina konnte beinahe sehen, wie sich die Puzzlestückchen in Cedrics Kopf langsam zu einem Bild formten, als er die einzelnen Informationen miteinander verknüpfte. Im Gegensatz zu Grell, der scheinbar die Schnauze voll hatte für heute. „Schön, und die wäre?“ „Elisabeth Midford ist meine Vorfahrin. Wir sind miteinander verwandt. Daher konnte ich Uriel nach ihr fragen.“ Grell klappte der Mund auf und selbst Cedrics Augen weiteten sich ein wenig, als die 19-Jährige es aussprach und die Fakten somit offen auf den Tisch legte. „M-moment“, stotterte Grell und schaute von ihr zu Cedric. „Heißt das, ihr seid-“ „Nein, sind wir nicht“, unterbrach Carina ihn schleunigst, um jegliche Missverständnisse aus dem Weg zu räumen. „Ciel und Elizabeth bekommen keine gemeinsamen Kinder. Und Elisabeths Mutter hatte einen anderen Vater als Vincent, ihr Halbbruder. Wir sich also nicht miteinander verwandt, keine Sorge.“ „Warum hast du es mir dann nicht einfach gesagt?“, fragte der Silberhaarige neutral nach und jetzt schaute Carina ihn zum ersten Mal wieder richtig an. Man musste sie nicht besonders gut kennen, um die Verletzlichkeit in ihren Augen sehen zu können. „Du weißt wieso“, murmelte sie zurückhaltend und die gelbgrünen Augen des Undertakers wurden eine Spur sanfter. „Claudia“, sagte er und die Schnitterin nickte. „Ja“, hauchte sie und schluckte schwer. „Du musst das verstehen. Zum damaligen Zeitpunkt wusste ich doch nicht, woran ich bei dir bin. Ich habe gedacht… ich habe gedacht, dass du dann möglicherweise nur bei mir bleiben würdest, weil ich mit ihr verwandt bin. Und das wollte ich unter allen Umständen verhindern. Deswegen habe ich nichts gesagt.“ Hitze sammelte sich in ihren Wangen, als sie weitersprach. „Ich gebe es nur ungern zu, aber diese Frau ist einfach ein rotes Tuch für mich.“ Sie zuckte ein wenig hilflos mit den Schultern, wie um zu sagen „Ich kann doch nichts dafür.“ Grell, wie immer der verständnisvollste Mann auf dem gesamten Planeten, stand auf und klopfte ihr sachte auf die Schulter. „Das ist doch ganz natürlich, Carina“, sagte er. Die Todesgöttin konnte in seinen Augen ablesen, dass er gerne noch mehr zu diesem Thema gesagt hätte, dies aber lieber nicht vor Cedric tun wollte. Scheinbar Dinge, die laut Grell unter “Mädels“ geklärt werden sollten. Auch der Vater ihrer Tochter schien momentan nichts im Beisein des rothaarigen Reapers sagen zu wollen. Jedenfalls hakte er das Thema vorerst kommentarlos ab. Was aber nicht hieß, dass er nicht etwas anderes ansprach, was ihm auf der Seele brannte. „Und was sollte das gerade eben mit dem Jobangebot, das du einfach mal so angenommen hast?“ Er wirkte überhaupt nicht erfreut und stellte mit der Einstellung das genaue Gegenteil von Grell dar, denn dieser wirkte geradezu euphorisch bei der Vorstellung, wieder mit seiner Schülerin zusammenzuarbeiten. „Streng genommen war es kein Jobangebot. Es war mehr eine Aufforderung und noch dazu Teil des Deals.“ „Den du hättest ausschlagen können“, meinte der Bestatter streng, doch Carina rückte nicht von ihrer Meinung ab. „Den ich aber nicht ausschlagen wollte.“ Cedric blinzelte; etwas, was er nur tat, wenn er wahrhaft irritiert war. „Wie bitte?“, fragte er zum zweiten Mal am heutigen Tag und Carina konnte sich nur mit allergrößter Mühe ein schelmisches Grinsen verkneifen. Der ach so weise Cedric K. Rosewell war von ihrer Antwort überfordert? Diesen Tag musste sie sich rot im Kalender markieren! „Ich habe schon länger darüber nachgedacht mir wieder eine Arbeit zu suchen, wenn Lily etwas älter ist. Ich hatte bisher einfach nur keine Ahnung, was ich machen wollte. Aber im Seelen sammeln bin ich gut. Wirklich gut sogar. Und es war gleichzeitig Williams Bedingung, also ist es schon in Ordnung so.“ „Hast du eigentlich eine Ahnung, worauf du dich da einlässt?“, entgegnete Cedric und verschränkte anklagend die Arme vor der Brust. „Wer für den Dispatch arbeitet, befindet sich in einer Einbahnstraße. William wird dich nie wieder freiwillig gehen lassen, wenn du einmal angefangen hast wieder für ihn zu arbeiten.“ „Es hat ja auch niemand etwas von freiwillig gesagt“, antwortete sie und grinste ihn spitzbübig an. „Du hast ihn doch gehört. Nichts von alldem wird offiziell sein. Ich muss also auch keinen Vertrag oder ähnliches unterschreiben. Und wenn ich irgendwann wieder aufhören möchte, dann mache ich das auch.“ „Aber dann ist der Deal hinfällig“, warf Grell besorgt ein. „Ja, schon. Aber in diesem Fall können wir immer noch vor dem Dispatch davon laufen, denn ich werde nicht mit der Arbeit aufhören, bis Lily aus dem Gröbsten raus ist. Ich habe aber das Gefühl, dass wir uns selbst dann keine großartigen Sorgen machen müssen. William würde sich ins eigene Fleisch schneiden, wenn er vor den Oberen zugibt, dass er die ganze Zeit von unserem Aufenthaltsort gewusst und keinen Ton gesagt hat.“ Nun begann auch Cedric zu grinsen. „Hehe… Du kleines Schlitzohr“, meinte er belustigt und tippte sich mit seinem Zeigefinger gegen das eigene Kinn. „Was meinst du?“, fragte Grell verwirrt. „Selbst, wenn William mit dem Argument kommen würde, dass er nur geschwiegen hat, um einen Krieg zwischen den Engeln und den Shinigami zu verhindern, wird das nichts bringen. Ich kenne den Rat. Denen sind Beweggründe egal. In ihren Augen hat er den Dispatch hintergangen und das ist alles, was dann für sie zählen wird.“ „Und du hast das gewusst?“, fragte Grell und schaute dabei Carina an, die mit den Schultern zuckte. „Ich habe es vermutet. Und alles, was ich bisher über den Rat gehört habe, deutet auch daraufhin. Sicherlich wird sich William dessen auch bewusst sein. Es ist also für beide Seiten von Vorteil, wenn wir gut miteinander auskommen.“ „Du hättest mich trotzdem zuerst einmal nach meiner Meinung fragen müssen“, sagte der Undertaker. Er war nicht wirklich zornig, wirkte aber immer noch beleidigt. „Müssen? Das war nicht deine Entscheidung, Cedric, sondern meine. Und darf ich dich daran erinnern, dass wir nicht verheiratet sind und ich auch somit keinerlei Erlaubnis von dir brauche?“ Sie schnaubte. „Und selbst dann würde ich immer noch machen, was ich verdammt nochmal will!“ „Hatten wir die Diskussion heute nicht schon einmal?“, fragte der Silberhaarige trocken und spielte damit auf das direkte Gespräch nach ihrem gemeinsamen Kampf an. Carina hielt es an dieser Stelle für schlauer zu schweigen und drehte sich stattdessen zu Grell. „Grell, das alles tut mir wirklich, wirklich leid. Ich weiß, wie schlimm das alles gerade eben für dich gewesen sein muss. Und wenn ich irgendwas tun kann, um es wieder gut zu machen, dann-“ „Das hatten wir doch gerade eben schon, Carina. Es ist nicht deine Schuld. Ich wusste die ganze Zeit, worauf ich mich einlasse. Es war meine Entscheidung und jetzt muss ich eben damit leben, dass William vermutlich den Rest unserer Unsterblichkeit sauer auf mich sein wird.“ „Das glaube ich kaum“, murmelte Carina leise, doch der Rothaarige hatte es dennoch gehört. „Was meinst du damit?“, fragte er auch sogleich nach, doch die Todesgöttin schüttelte den Kopf. „Nichts, schon gut. Kann ja auch sein, dass ich mich irre.“ „Häh?“, machte Grell ganz unladylike und jetzt war es Cedric, der das Wort beinahe schon genervt ergriff. „Herrgott, das kann sich ja keiner mit ansehen.“ Er schaute den anderen Mann im Raum eindringlich an. „Sie meint, dass William sich wohl kaum so sehr über deinen Verrat aufgeregt hätte, wenn du ihm vollkommen egal wärst.“ Grells Augen wurden groß wie Untertassen und um Bestätigung suchend fixierte er Carina, die nickte und somit die Aussage ihres Gefährten bestätigte. „Aber… aber das heißt gar nichts! William würde sich bei jedem so aufregen, das liegt in seinem Charakter. Er verachtet Regelverstöße nun einmal.“ „Mag sein, aber Ronald hat er nicht halb so schlimm behandelt, wie dich gerade eben. Nicht einmal mich und ich bin die Übeltäterin des Ganzen. Na ja, wenn wir mal von ihm absehen“, sagte sie und deutete auf den Silberhaarigen, der daraufhin eine Schnute zog. „Meine Flucht ist bereits 50 Jahre her, das sollte eigentlich niemanden mehr kümmern.“ „Wenn du den Mist mit der Campania nicht abgezogen hättest, würde es das auch nicht“, antworteten Grell und Carina synchron. „Na ja, jedenfalls bist du ihm nicht egal, Grell, da bin ich sicher“, fuhr Carina fort. „Ich meine… die ersten Worte, die er nach seiner Ohnmacht in den Mund genommen hat, bezogen sich darauf, dass du ihn hintergangen hast. Nicht den Dispatch, sondern ihn.“ Grell zog eine säuerliche Miene. „Kann es sein, dass du da etwas zu viel rein interpretierst?“ „Da weißt du mal, wie ich mich ständig gefühlt habe, wenn du mir mal wieder wegen meiner nicht vorhandenen Beziehung in den Ohren gelegen hast.“ „Ja, aber jetzt hast du immerhin eine Beziehung, oder etwa nicht?“, konterte Grell grinsend, doch das war genau die Antwort, auf die Carina gebaut hatte. Ihr Grinsen war daher um einiges breiter als Grells. „Eben. Deswegen sag ich’s ja. Hör also auf mich und vielleicht gibt das ja doch noch was mit euch beiden.“ Der Bestatter konnte nicht anders, er musste bei Grells überrumpelten Gesichtsausdruck einfach anfangen zu lachen. Carina hatte ihn gerade nach allen Regeln der Kunst ausgespielt. „Touché“, grummelte der Rothaarige und seine Schülerin zwinkerte ihm kurz zu. Ihr Plan war aufgegangen. Grell war bereits wesentlich besser gelaunt als zu Anfang des Gespräches. „Na ja, ich schätze, ich sollte mich langsam auf den Weg machen. Vielleicht werde ich Ronald noch schnell erklären, was er gleich bei dem Treffen auf gar keinen Fall sagen sollte. William ist auch so schon auf 180“, seufzte der Schnitter und umarmte seine Freundin fest. „Lass dich bloß nicht unterkriegen“, flüsterte sie ihm ins Ohr und der Reaper nickte, ehe sich sein Körper dematerialisierte und er die beiden Bewohner des Bestattungsinstitutes somit allein in der Küche zurückließ. Carina schloss die Augen und rieb sich müde über die Stirn, während sie darüber nachdachte, was sie jetzt als erstes machen sollte. Eigentlich wollte sie nur noch etwas kochen, sich nach dem Essen baden und dann todmüde ins Bett fallen. Im nächsten Moment zuckte sie jedoch erschrocken zusammen, als Cedric eine Hand an ihre Wange legte. Sie schlug die Augen wieder auf und schaute ihn fragend an. Kam jetzt etwa das, was er vorhin in Grells Anwesenheit nicht hatte sagen wollen? „Wegen Claudia…“, begann er und bestätigte somit Carinas Verdacht, „du musst nicht eifersüchtig sein.“ „Bin ich nicht“, gab sie von sich und erntete dafür sofort einen wissenden Blick. „Nun gut, vielleicht ein kleines bisschen…“, murmelte sie und schaute kurz zur Seite weg. Der Bestatter ergriff jedoch sogleich ihr Kinn und zwang sie mit sanftem Druck ihn wieder anzusehen. „Wie gesagt: Du musst dir keine Sorgen mehr machen. Ich habe mich für dich entschieden, Carina. Und das werde ich auch immer wieder tun.“ Er hauchte ihr einen Kuss auf die Wange und streifte dann mit seinen Lippen ihr Ohr. „Ich liebe dich“, flüsterte er leise, obwohl sie ganz allein im Raum waren und ihn sowieso niemand sonst hätte hören können. Carina errötete, lächelte aber gerührt. „Ich liebe dich auch“, wisperte sie ebenso leise zurück und schlang gleich darauf fest ihre Arme um ihn. Der Todesgott erwiderte die Umarmung und einige lange Sekunden standen sie lediglich schweigend dar, genossen die Zweisamkeit und die Nähe des jeweils anderen. „Aber“, sagte der Silberhaarige plötzlich und die junge Mutter konnte sofort den schelmischen Unterton in seiner Stimme hören, „du hast mich schon wieder angelogen, dieses Mal wegen deinem Treffen mit Uriel. Hast du schon vergessen, was ich dir letzte Woche gesagt habe?“ „Jedes Mal, wenn du mich anlügst, wiederholen wir diese nette Geschichte von vorhin.“ Carina verdrehte die Augen und löste sich wieder von ihm, trat jedoch keinen einzigen Schritt zurück. „Also erstens habe ich dieser Regel nie zugestimmt. Zweitens war das Treffen mit Uriel weit vor dieser Geschichte und würde, wenn überhaupt, gar nicht in diese Regelung mit rein fallen. Und drittens“, sagte sie und schaute ihn besserwisserisch an, denn jetzt würde sie ihn genauso austricksen, wie zuvor bereits Grell, „habe ich dich nicht angelogen. Ich habe dir nur nicht die Wahrheit gesagt.“ „Das ist das Gleiche“, ging Cedric auch prompt darauf ein, was die Deutsche nur dazu veranlasste ihn unverschämt breit anzugrinsen. „Etymologisch betrachtet nicht.“ Der Totengräber lachte, als er die Anspielung verstand. Immerhin war er selbst es gewesen, der ähnliche Worte an sie gerichtet hatte, als es darum ging, dass er sie nicht übers Knie gelegt hatte. „Heute bist du sehr wortgewandt, kann das sein?“, murmelte er und drückte ihr einen leichten Kuss auf den Mund. „Du stehst doch drauf, gib es zu“, raunte sie ihm entgegen und beobachtete mit Freude, wie sich seine gelbgrünen Augen verdunkelten. „Oh ja, allerdings“, erwiderte er und wollte sie erneut an sich ziehen, doch Carina entfernte sich genau in diesem Moment wieder von ihm. Nicht, dass sie keine Lust gehabt hätte. Die hatte sie, ohne Frage. Allerdings war sie zum einen wirklich todmüde und zum anderen war da immer noch ihre Rache, die nicht halb so gut werden würde, wenn sie ihrem Verlangen jetzt nachgeben würde. „Nimm es mir nicht übel, aber ich bin total fertig. Meine Rippen schmerzen immer noch und ich will eigentlich nur noch etwas essen und dann schlafen.“ Der Undertaker nickte verständnisvoll, wenn jedoch auch leicht enttäuscht. „Ich helfe dir, dann sind wir schneller fertig und du kannst dich früher hinlegen“, meinte er lediglich und die Blondine nickte erfreut. Während sie sich in Richtung der Schränke bewegte, blickte Cedric ihr nach und seufzte innerlich. Das letzte Mal, dass sie miteinander intim geworden waren, war jetzt schon über eine Woche her und er verspürte mittlerweile wirklich Sehnsucht. Vielleicht würde sie ihn ja morgen von seinen Qualen erlösen… Grells Herz raste. Ein dünner Schweißfilm bedeckte seine Stirn und seine Hände zitterten unablässig in den dünnen schwarzen Handschuhen. Nicht einmal damals vor seiner theoretischen Prüfung hatte er sich so aufgeregt und verrückt gemacht. Dazu hatte es immerhin schlichtweg keinen Grund gegeben. Jetzt allerdings sah die Sache bereits ganz anders aus… „Jetzt beruhige dich doch mal, Kollege“, meinte Ronald, der bisher stillschweigend neben ihm hergegangen war und zusammen mit ihm nun genau vor Williams Bürotür stehen blieb. „Er wird nichts tun, was unsere Sicherheit oder Gesundheit gefährden wird, das war immerhin Teil des Deals mit Carina.“ „Das weiß ich, aber darum geht es hier auch nicht“, erwiderte Grell und schluckte, weil seine Kehle mittlerweile der Sandwüste Sahara große Konkurrenz machte. Er hatte keine Angst vor körperlichen Konsequenzen. Vielmehr fürchtete er sich vor dem seelischen Zustand, in dem er sich befinden würde, wenn sie dieses Büro wieder verlassen würden. „Das wird schon“, sagte Ronald. Der junge Todesgott fuhr sich einmal durch seine perfekt gestylten Haare, schien sich zu straffen und klopfte dann fest gegen die Tür. Grell schluckte, als er das gedämpfte „Herein“ vernahm. Auch er straffte sich innerlich, seufzte einmal tief und betrat dann dicht hinter Ronald das Büro ihres gemeinsamen Vorgesetzten. Oder wohl eher die Höhle des Löwen… Kapitel 87: Konsequenzen ------------------------ Das Erste, was Grell auffiel, als er zusammen mit Ronald Williams Büro betrat, war dessen strenge Miene. Diese setzte der Aufsichtsbeamte immer nur dann auf, wenn es im nächsten Moment ein richtiges Donnerwetter geben würde. Aber Grell hatte es auch nicht anders erwartet. „Schließen Sie die Tür“, sagte der Schwarzhaarige ruhig, aber mit Nachdruck und Ronald kam seinem Befehl umgehend nach, wirkte jetzt jedoch ebenfalls wesentlich weniger selbstsicher, als noch beim Betreten des Büros. „Setzen“, kam sogleich die nächste „Aufforderung“ seitens Williams und erneut widersprach keiner der beiden Todesgötter. Gehorsam setzten sie sich auf die beiden Stühle, die direkt vor dem Schreibtisch platziert waren und im gleichen Moment erhob sich ihr Chef, sodass er sie einerseits überragte und andererseits auf sie hinab schauen konnte. Sicherlich war das auch Sinn und Zweck der Sache gewesen. Grell schluckte mit einem flauen Gefühl im Magen und zählte innerlich bereits runter: „3…2…1…“ „Sie sind eine Schande für den Dispatch“, wurden sie im nächsten Moment auch schon angebrüllt. Ronald neben ihm zuckte zusammen, Grell jedoch zuckte nicht mal mit der Wimper, was ihn selbst ein wenig wunderte. Vermutlich war er mittlerweile bereits so mitgenommen, dass er gar nicht mehr richtig spüren konnte, wenn es noch schlimmer wurde. Es war beinahe ein wenig wie früher. Damals, als er noch ein Mensch gewesen war, hatte er immer eine Mauer um sein Innerstes gezogen, um die niederschmetternden Worte seines Vaters möglichst an sich abprallen zu lassen. Auch jetzt spürte er, wie sich etwas in ihm gegen die negativen Gefühle absperrte, die Williams Verhalten mit sich brachte. „Ich glaube, ich habe meinen Standpunkt bereits vor einer Stunde mehr als deutlich gemacht, daher werde ich das nicht noch einmal wiederholen. Aber Sie beide werden nicht einfach so ungeschoren davonkommen, ist das klar?“ Sie nickten beide und Grell war froh, dass William keine verbale Zustimmung von ihnen erzwang. Er war sich nicht sicher, ob er momentan auch nur einen Ton herausbekommen würde. „Nun gut“, atmete William langsam und kontrolliert aus, „und jetzt zu ihrer Bestrafung.“ Er setzte sich wieder auf seinen Stuhl und verschränkte die auf den Tisch gelegten Hände ineinander. „Sie beide werden das nächste halbe Jahr unbezahlte Überstunden machen und zwar so viele, wie ich für notwendig erachte. Sobald unsere Rückstände, die durch den Personalmangel hervorgerufen wurden, aufgearbeitet sind, werde ich Sie bezüglich eines erfundenen Regelverstoßes im Rahmen eines Disziplinarverfahrens degradieren. Heißt, Sie werden die darauffolgenden drei Monate die Jobs machen, die niemand erledigen will und Ihre Death Scythes werden für diesen Zeitraum einbehalten.“ Wäre das hier eine normale Situation, hätte Grell mit Sicherheit aufgestöhnt. Das hieß, er musste wieder mit diesen grässlichen kleinen Scheren arbeiten… „Zudem werden Sie beide eine Woche lang unter Hausarrest gestellt. Ob Sie diese Strafe vor oder nach den drei Monaten antreten möchten, ist Ihnen selbst überlassen.“ „Hausarrest?“, fragte Ronald ganz entsetzt und schaute ungläubig in Williams Richtung. „Soll das heißen, wir dürfen unsere Wohnung eine ganze Woche lang nicht verlassen? Wie bei einer Gefängnisstrafe?“ „Ganz genau“, lautete Williams kühle Antwort. „Und seien Sie froh, Knox, dass ich so gnädig bin und Ihnen diese Strafe innerhalb Ihrer eigenen vier Wände auferlege. Denn so wahr mir Gott helfe, ich hatte auch über einen Kerkeraufenthalt nachgedacht.“ Ronalds Mund schloss sich lautlos wieder und es schien auch nicht so, als hätte er vor noch etwas zu sagen. „Ich vermute, es gibt keine Einwände?“, fragte William rein rhetorisch nach und erntete von seinen Untergebenen sogleich ein synchrones Kopfschütteln. „Sehr schön, dann wäre das geklärt. Knox, Sie fangen mit Ihrer nächsten Schicht genau jetzt an. Ich muss Ihnen ja wohl nicht erklären, dass ich den Bericht gleich im Anschluss darauf erwarte.“ Ronald nickte und erhob sich zusammen mit Grell, doch dieser erstarrte bei den nächsten Worten des Beamten zur Salzsäule. „Sutcliff, Sie bleiben hier!“ Carinas ehemaliger Klassenkamerad warf ihm einen mitleidigen Blick zu und formte mit seinem Mund stumm die Worte „Viel Glück“, ehe er mit eiligen Schritten den Raum verließ und die Tür mit einem Klicken ins Schloss fiel, das sich in Grells Ohren wesentlich lauter anhörte, als es eigentlich war. „Setzen Sie sich wieder.“ Doch das tat Grell nicht. Wie festgewachsen blieb der Rothaarige stehen und obwohl sich ihm innerlich der Magen rumdrehte, fand er endlich seine Stimme wieder. Sie klang leise und zerbrechlich, aber dennoch bestimmt. „Wenn du mich nur länger hierbehalten willst, um mich weiter zu demütigen, dann lass es“, flüsterte er. Eine von Williams Augenbrauen wanderte nach oben. „Wie war das gerade?“, fragte er, ein gefährlicher Unterton in der Stimme. Der Rothaarige jedoch ließ sich dieses Mal nicht einschüchtern. Im Gegenteil, Williams abweisendes Verhalten bestärkte ihn gerade darin nicht klein beizugeben. „Ich fühle mich auch schon ohne deine ständigen Sticheleien schlecht genug, das kannst du mir glauben. Glaubst du nicht, dass ich es dir die ganze Zeit sagen wollte? Wahrscheinlich nicht, aber so ist es.“ Seine Stimme wurde lauter. „Aber das Problem mit dir ist, dass du immer so heftig reagierst, wenn jemand gegen die Regeln verstößt. Ich wusste doch, dass du uns alle verraten würdest, sobald ich dir was sage.“ „Verraten?“, wurde nun auch William lauter. „Du hast mich verraten, Grell, nicht umgekehrt.“ „Nein, das habe ich nicht. Ich habe den Dispatch verraten“, verteidigte sich der Rothaarige und dachte dabei an das, was Carina zu ihm gesagt hatte. „Das ist das Gleiche“, widersprach ihm der Beamte, doch Grell hatte jetzt endgültig genug. „Nein, das ist es nicht! Nicht einmal annähernd. Und ich kapiere einfach nicht, warum du dich für den Dispatch so aufopferst. Es in Ordnung seine Arbeit zu schätzen und zu würdigen und es ist auch in Ordnung seinen Job gut zu machen. Aber hat der Dispatch irgendwann einmal etwas für uns getan? Nein, hat er nicht. Wir mögen Selbstmörder sein, die für ihre Taten sühnen müssen, aber wir haben trotzdem noch Gefühle und müssen uns verdammt nochmal nicht alles gefallen lassen.“ Er zeigte mit seinem Finger auf William. „Nimm dich zum Beispiel. Du arbeitest dich krumm für den Dispatch, Tag für Tag. Wurde es dir jemals gedankt? Nein, natürlich nicht. Aber sobald auch nur einmal der kleinste Fehler passiert, dann wirst du dafür in Grund und Boden gestampft, obwohl du nicht einmal etwas dafür kannst. Ich nenne dir da nur mal die Sache mit der Campania. Das ging allein auf Undys Konto und trotzdem musstest du deinen Kopf dafür hinhalten. Findest du das etwa gerecht?“ William wirkte zum ersten Mal, seit Grell ihn kannte, sprachlos. Und das nutzte der Reaper auch sogleich für sich aus, denn er war noch lange nicht fertig. „Der Dispatch und du sind für mich noch lange nicht das Gleiche, William. Denn Ersterer geht mir gewaltig auf die Nerven und Letzteren li-… mag ich“, korrigierte sich Grell schnell und wurde leicht rot im Gesicht. Schnell sprach er weiter, um diesen unangenehmen Moment zu überbrücken. „Ich arbeite nicht für dich, weil ich es dem Dispatch schuldig bin. Sondern, weil ich für dich arbeiten will. Kapierst du das denn nicht? Herrgott, ich konnte dich anfangs nicht einmal leiden, falls du dich erinnerst.“ Daran erinnerte sich William allerdings. „Du meinst, als du dich damals für wesentlich besser gehalten hast?“, fragte er kühl nach und Grell stöhnte. „Klar, dass dir nur das im Gedächtnis geblieben ist. Weißt du, woran ich mich erinnere? An einen Shinigami, der alles getan hat, um die richtige Entscheidung bezüglich der Seele von Thomas Wallis zu treffen. Während ich ihn direkt als nutzlos abgestempelt hatte, hast du dir die Zeit und Mühe gemacht zu überprüfen, ob wir mit seinem Tod auch wirklich die richtige Entscheidung treffen. Am Ende hast du es sogar geschafft mich zu besiegen, weil… ist ja auch egal. Aber Fakt ist, dass ich ab dem Zeitpunkt wusste, dass ich bei dir bleiben möchte.“ „Und das sagst du mir, weil…?“ „Weil du mich damals auf deine ganz eigene Art und Weise respektiert hast. Du kannst es zugeben oder es auch lassen, aber wir waren ein wirklich gutes Team. Aber seit du befördert wurdest, hast du dich verändert. Ich meine… du wolltest noch vor einer Stunde lieber sterben, als einmal über die Regeln hinwegzusehen. Hast du denn noch nie einen Fehler gemacht?“ Grell merkte noch in dem Moment, in dem er den letzten Satz sagte, dass diese Worte etwas in William auslösten. Sein linkes Auge zuckte einmal heftig und seine Augenbrauen zogen sich tief über seinen gelbgrünen Seelenspiegeln zusammen. Sein Mund blieb geschlossen, aber Grell konnte anhand seines Kiefers sehen, dass er die Zähne fest aufeinander biss. „Einem Fehler meinerseits verdanke ich es, dass ich überhaupt hier bin“, zischte der Schwarzhaarige und ballte unter seinem Schreibtisch die Hände zu Fäusten. Grells Augen weiteten sich merklich. Er starrte William beinahe fassungslos an. Hatte… hatte der Bürokrat gerade etwas aus seiner Vergangenheit preisgegeben? Aus seinem Leben vor dem Dispatch? „Was meinst du damit?“, fragte Grell, bevor er sich selbst daran hindern konnte. „Das geht dich absolut nichts an“, entgegnete William reserviert und erhob sich nun wieder von seinem Stuhl, legte beide Handflächen fest auf dem Schreibtisch ab. „Und jetzt raus. Mir reicht es für heute. Außerdem habe ich noch jede Menge Arbeit zu erledigen.“ Grell schluckte. „Und warum wolltest du mich noch länger hierbehalten als Ronald?“ „Um dich zurechtzustutzen“, dachte William. Aber aus irgendeinem Grund konnte er das jetzt nicht mehr. Nicht nach der Ansprache, die Grell gerade gehalten hatte und die er – auch aus irgendeinem Grund – nicht einzuordnen wusste. „Bringen Sie mir morgen um 11 Uhr Ihre Schülerin vorbei, Sutcliff. Ich habe noch ein paar Formalitäten mit ihr zu klären“, sagte er stattdessen und benutzte jetzt wieder die förmlichere Ansprache. Der Rothaarige nickte, seufzte jedoch innerlich. Einerseits war er erleichtert, dass er jetzt nicht noch mehr Ärger bekommen würde. Andererseits wünschte er sich, dass William auf seinen Vortrag anders reagiert hätte. Während sich der Aufsichtsbeamte wieder setzte, ging Grell zur Tür und öffnete sie. Er trat hinaus und drehte sich herum, um sie wieder zu schließen. Zögerlich sah er dabei zu William und konnte sich ein paar letzte Schlussworte für dieses Gespräch nicht verkneifen. „Ich würde dich niemals verraten, Will. Ich hoffe, das weißt du.“ Der Schwarzhaarige sah mit größer werdenden Augen auf, doch da hatte Grell bereits die Tür geschlossen. Lediglich das Klackern seiner hohen Absätze war noch zu hören, als er sich mit schnellen Schritten von dem Büro entfernte. Hingegen seiner Aussage, dass er noch viel Arbeit zu erledigen hatte, starrte William noch ganze 5 Minuten auf die geschlossene Tür. Und er dachte dabei nur über eine Sache nach: Eigentlich hasste er Spitznamen. Warum also machte es ihm seit mehr als 200 Jahren gar nichts aus, dass Grell ihn Will nannte? „Carina, wach auf.“ Die leise Stimme des Bestatters drang an ihre Ohren, als die 19-Jährige langsam aus ihrem Tiefschlaf erwachte. „Hmm“, murrte sie, immer noch nicht richtig wach, und kuschelte sich tiefer in die warme, weiche Decke um sich herum. Ein leises Lachen ertönte über ihr und gleich darauf spürte sie seinen Mund, der ihr einen sanften Kuss auf die Wange hauchte. „Ich würde dich ja auch noch länger schlafen lassen, aber Grell war gestern Abend noch kurz hier. Du sollst heute Vormittag zu William ins Büro kommen. Er möchte noch irgendwelche Einzelheiten mit dir klären.“ Carina stöhnte genervt auf. „Dieser elende Bürokrat“, murmelte und schlug langsam blinzelnd die Augen auf. „Wie spät ist es denn?“ „Gleich halb Zehn. Ich habe Lily gerade eben angezogen und ich denke, sie hat-“ „Hunger“, vollendete die Blondine seinen Satz und gähnte. „Schon gut, ich steh auf. Außerdem kann ich dann noch frühstücken, bevor ich los muss.“ Sie schlug die Decke zurück und beugte sich zum Bestatter vor, um ihm einen sanften Kuss auf die Lippen zu drücken. „Hmm, vielleicht hätte ich dich noch etwas früher wecken sollen“, brummte er und vertiefte den Kuss. „Später“, raunte sie ihm entgegen, lächelte spitzbübisch und kletterte aus dem Bett, um zu ihrer Tochter zu gehen und sich anschließend selbst im Bad frisch zu machen. „Hat Grell sonst noch irgendetwas gesagt?“, fragte sie Cedric 30 Minuten später, als sie am Esstisch saß und frühstückte. Der Silberhaarige hingegen saß nebenan am Empfangstresen und schien seine Bücher zu vervollständigen. „Nicht viel. Er hat noch ein paar Aufträge zu erledigen und will dich dann um viertel vor Elf im Park treffen. Er wirkte recht kurz angebunden.“ „Das kann ich mir vorstellen. Das Gespräch mit William wird sicherlich alles andere als schön für ihn gewesen sein.“ Sie biss von ihrem Sandwich ab und nahm sich fest vor, Grell gleich danach zu fragen und ihm den nötigen Beistand zu leisten. Immerhin war das alles irgendwie ihre Schuld, denn für sie hatte Grell immerhin die Regeln überhaupt erst gebrochen, um die es hier ging. „Er hat noch gelebt, oder? Da kann es nicht so schlimm gewesen sein“, entgegnete Cedric trocken, was Carina mit den Augen rollen ließ. „Du hast das Einfühlungsvermögen eines Steins, weißt du das eigentlich?“, gab sie ein wenig genervt von sich und stopfte sich anschließend den letzten Rest Brot in den Mund. „Ich?“, hörte sie ihn mit einem ungläubigen Unterton sagen, als wäre diese Mitteilung eine völlige Neuigkeit für ihn. „Ja, du“, antwortete sie neckend und lehnte nun mit der rechten Schulter und verschränkten Armen im Türrahmen, sodass der Silberhaarige sie ansehen konnte. „Das ist nicht sehr nett“, grinste er und klappte das Buch zu, das aufgeschlagen vor ihm auf dem Tresen gelegen hatte. „Aber die volle Wahrheit“, flötete sie und ging auf ihn zu, um sich im Anschluss auf seinen linken Oberschenkel zu setzen. Sogleich schlang er seine langen Arme um ihre Hüften und zog sie ein Stück näher an sich heran. Carina fiel auf, dass er sie selbst in dieser Position noch um ein paar Zentimeter überragte. „Weißt du“, begann sie langsam und funkelte ihn mit einem Ausdruck im Gesicht an, der ihn an ein verspieltes Kätzchen erinnerte, „wir haben noch fast 30 Minuten Zeit, bis ich los muss. Vielleicht könnten wir die Zeit bis dahin ja sinnvoll nutzen, was meinst du?“ Die Anspielung in ihrer Aussage ließ sein Blut augenblicklich gen Süden schießen. „… Und was schwebt dir da so vor?“, fragte er mit rauer Stimme, während seine Hände von ihrer Hüfte abließen und hinab wanderten, bis er ihren Po umfassen konnte. „Hmm“, meinte sie lasziv und strich einmal kurz mit ihren Fingernägeln über seinen Hals, „mir würden da schon so ein paar Sachen einfallen.“ Er zog sie nun gänzlich auf seinen Schoß, sodass sie seine bereits beachtliche Beule an ihrer Mitte spüren konnte. „Woher der plötzliche Sinneswandel?“, murmelte der Bestatter und drückte sie mit den Händen näher an seine pochende Erektion heran. „Du hast es dir verdient“, wisperte sie ihm sanft ins Ohr und meinte das auch tatsächlich so. Nur war ihre Interpretation dieses Satzes eine gänzlich andere als die seine… Carina spürte, wie seine Finger von ihrem Po weiter nach vorne wanderten, um sich anschließend an dem Knopf ihrer Hose zu schaffen zu machen, aber so weit ließ sie es erst gar nicht kommen. Cedric blinzelte irritiert, als beide seiner Hände von ihren Fingern umschlossen wurden und ihn am Weitermachen hinderten. „Du hast es dir verdient“, wiederholte sie ihre Worte von vorhin und rutschte nun langsam von seinen Beinen herunter, um vor ihm auf dem Boden auf die Knie zu gehen, „also lass mich nur machen.“ Seine Kehle wurde staubtrocken, als er sich augenblicklich einige Szenarien vorstellte, die Carinas Position zur Folge haben könnten. Wie sie da so vor ihm kniete… Er schluckte hart. Die 19-Jährige schluckte ebenfalls leicht. Sie konnte nicht leugnen, dass sie ein wenig nervös und unsicher war, immerhin hatte sie das Folgende noch nie gemacht. Angst hatte sie jedoch keine. Cedric hatte ihr in der Vergangenheit immer wieder eindrucksvoll bewiesen, dass sie beim Sex mit ihm keine Angst vor auch nur irgendetwas haben musste. Mit zwei geschickten Handgriffen öffnete sie die Knöpfe seiner schwarzen, engen Hose und ehe der Mann auf dem Stuhl auch nur blinzeln konnte, stahl sich ihre rechte Hand bereits unter den dünnen Stoff seiner Unterwäsche und umfasste das pulsierende Organ darunter. Cedric zuckte unter der kalten Berührung ihrer Finger kurz zusammen und stieß dann ein leises Zischen aus, die gelbgrünen Augen unentwegt auf die Frau vor sich gerichtet. Quälend langsam begann sie ihre Hand zu bewegen, streichelte und neckte ihn und es dauerte nicht lange, bis der Todesgott begann hörbar schneller zu atmen. „Das ist nicht sehr nett, weißt du?“, murmelte er atemlos und drückte sich ihren Fingern automatisch entgegen. Durch die Tatenlosigkeit der letzten Woche war er praktisch völlig ausgehungert. „Ich weiß“, grinste sie und drückte mit einem Mal etwas fester zu. Ihr Name entfuhr seinen Lippen, Warnung und Bitte in einem, und Carina konnte nicht verhindern, dass es zwischen ihren Schenkeln wärmer wurde. Es stimmte, sie liebte es, wenn er beim Sex die Oberhand hatte und ihr das gab, was sie brauchte. Allerdings liebte sie es ebenso sehr, wenn sie ausnahmsweise einmal die Kontrolle inne hatte und mit machen konnte, was sie wollte. „Ich möchte etwas ausprobieren, Cedric“, raunte sie ihm geradeheraus zu, während ihr Daumen über die empfindliche Öffnung strich, aus der bereits etwas Sperma hervortrat. Gott, diese Frau machte ihn wahnsinnig! Dieser bestimmende Ton, den sie gerade anschlug… als ob er nur ein unbeteiligter Zuschauer bei der ganzen Sache wäre und sie ihn netterweise über ihre nächsten Schritte informieren wollte. Die Schnitterin wartete seine Antwort nicht ab, wollte wohl auch gar keine hören und wenn er ehrlich zu sich selbst war, hätte er auch gar keine gehabt. Viel zu sehr war er damit beschäftigt ihr dabei zuzusehen, wie sie sich genau in diesem Moment langsam – gewollt langsam – über seinen Schoß beugte und sich ihr Kopf ein Stück herabsenkte. Im Bruchteil einer Sekunde wusste er, was sie vorhatte. Dennoch war es tatsächlich ein Schock für ihn, als sich ihre Lippen sanft um seine Erektion schlossen und sie ihn in den Mund nahm. Sein ganzer Körper vibrierte, als er rau aufstöhnte und seine Hände fest um die Armlehnen des Stuhls klammerte. Mit aller Macht versuchte er dadurch den Drang zu unterdrücken, seine Finger stattdessen in ihren Haaren zu vergraben und ihren Kopf weiter nach unten zu drücken. Oder sich generell irgendwie zu bewegen. Der Silberhaarige wusste, dass sie das hier zuvor noch nie getan hatte. Er konnte sich vorstellen, dass sie nervös war und er würde den Teufel tun, sie nun in irgendeiner Art und Weise zu verunsichern. Allerdings machte sie es ihm wirklich nicht leicht, denn in diesem Zustand noch klar denken zu können war wirklich alles andere als einfach. Carina tastete sich langsam an die Sache heran, wie sie es bisher mit allen neuen Dingen getan hatte, die in ihrem Leben passiert waren. Das Gefühl und der Geschmack auf ihrer Zunge waren ungewohnt, allerdings nicht unangenehm. Vorsichtig begann sie an ihm zu saugen, streckte ihre Zunge gleichzeitig ein wenig hervor und umspielte seine Eichel mit leichtem Druck. Sie nahm ihn probeweise bis zu dem Punkt in sich auf, an dem ihr Würgereflex einsetzte und verharrte anschließend, den Rest seines Gliedes mit der linken Hand umschließend. Während sie ihn mit ihren Fingern leicht pumpte, glitt sie mit ihrer Zunge vor und zurück, reizte verschiedene Stellen und beobachtete genau, wie er auf ihre Berührungen reagierte. Scheinbar machte sie irgendetwas richtig, denn sein leicht in den Nacken gelegter Kopf und die genießerisch geschlossenen Augen sprachen ihre ganz eigene Sprache. Sie ließ von ihm ab, um direkt im Anschluss einmal mit ihrer Zunge über seine komplette Länge zu fahren. „Mache ich das gut so?“, fragte sie ganz unschuldig nach, obwohl sie glaubte die Antwort auf diese Frage bereits zu kennen. Der Bestatter öffnete die Augen und brauchte einige Sekunden, um zu antworten. „Oh ja, allerdings“, keuchte er, als ihre linke Hand genau in diesem Moment sein Skrotum berührte und es leicht massierte. Ein Lächeln kräuselte ihre Lippen. Sie fühlte sich seltsam zufrieden. „Was möchtest du von mir, Cedric?“, hauchte sie provokant gegen seine Härte und berührte ihn weiterhin lediglich mit ihren Fingern. „Mach weiter“, antwortete er so ruhig wie möglich und starrte sie aus verdunkelten gelbgrünen Augen an. Carina hob eine Augenbraue. „Ich hab doch gar nicht aufgehört“, stellte sie sich dumm und erhöhte wieder den Druck auf die empfindliche Haut seines Gliedes. Er zischte leise. „Du weißt, was ich meine“, knurrte er mit kehliger Stimme und legte nun doch eine Hand auf ihren Hinterkopf, um sie wieder in Richtung seiner Spitze zu schieben. Amüsiert ließ Carina es zu und drückte ihm einen kurzen Kuss auf, ehe sie bereitwillig die Lippen öffnete und ihn erneut in den Mund nahm, dieses Mal ein wenig selbstsicherer und tiefer. „Ja, genau so“, raunte er und ließ wieder von ihren Haaren ab, um sich am Stuhl festzuhalten. Die Wangen der 19-Jährigen röteten sich, als sie die Mischung aus schnellerem Atmen und Stöhnen hörte, die nun seine Lippen verließ. Automatisch presste sie die Beine ein wenig mehr zusammen, um dem störenden Pochen entgegenzuwirken, das sich nun bei ihr zu Wort meldete. Sie hatte zwar erwartet, dass sie das Ganze hier nicht kalt lassen würde, aber mit so einer heftigen Reaktion ihres eigenen Körpers hatte sie dann doch nicht gerechnet. Rhythmisch bewegte sie ihren Kopf vor und zurück, schluckte zwischendurch reflexartig einige seiner Lusttropfen herunter, wodurch sich ihre Kehle enger um sein Glied schloss. „Verdammt, Carina“, stieß er hervor und zuckte mit seinen Hüften ein wenig nach oben, tiefer in die feuchte Hitze ihres Mundes hinein. Die Blondine wich instinktiv ein Stückchen zurück, traute sich dann aber wieder vor, während sie tief durch die Nase einatmete. Sie spürte bereits, wie seine Männlichkeit weiter anschwoll und mehr in ihrem Mund zuckte als zuvor. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis er soweit sein dürfte. Wenn sie gekonnt hätte, hätte sie wahrscheinlich gelächelt. Sie liebte es, wenn ein Plan funktionierte. Cedric unterdessen bekam von den Gedanken der jungen Frau nichts mit. Zu sehr konzentrierte er sich auf das Gefühl ihres Mundes um ihn herum und ihre Zunge, die ihn immer wieder umkreiste und genau gegen die besonders empfindsamen Stellen strich. Herrgott, warum hatte sie das nicht schon früher einmal versucht? Gerade jedenfalls erwies sie sich als gottverdammtes Naturtalent. Sobald er wieder klar denken konnte, würde er Carina sagen, dass sie das in Zukunft definitiv noch einmal wiederholen könnte. Ihre Zunge streifte in diesem Moment erneut seine Öffnung, was ihm ein weiteres Stöhnen entlockte. Der Druck in seinen Lenden nahm unaufhaltsam zu und er wusste, dass er das keine weitere Minute am Stück mehr aushalten würde. „Carina“, sagte er ihren Namen als Vorwarnung und schloss erneut die Augen, voller Vorfreude auf seinen Höhepunkt, der ihm in den letzten Tagen verwehrt worden war. Würden sie im Anschluss noch genug Zeit haben, dass er sie auf dem Tresen nehmen konnte oder- Tief in Gedanken und seiner Lust versunken, bemerkte der Silberhaarige erst nach einigen Sekunden, dass der warme Druck um sein Glied bedeutend nachgelassen hatte. Er schlug die Augen wieder auf und konnte gerade noch sehen, wie Carina einen Schritt nach hinten trat, nun außerhalb seiner Reichweite. „Was zum-“, entfuhr es ihm verwirrt, während er – immer noch vollkommen vernebelt - zu ihr hochstarrte. Carinas schwach gerötete Lippen hatten sich zu einem süffisanten Lächeln verzogen und sie sah recht selbstzufrieden aus. Cedric bekam mit einem Mal das Gefühl, dass er irgendetwas verpasst hatte. „Weißt du“, begann sie plötzlich mit etwas heiserer Stimme zu sprechen – was ihm bei seiner Erregung nicht gerade behilflich war – und schaute ihn mit einem Blick an, den er nur in die Kategorie „Pure Überlegenheit“ einordnen konnte, „ich glaube, ich mache mich schon mal auf den Weg. Ein bisschen frische Luft, bevor ich mich mit Grell treffe, wird mir sicherlich guttun.“ „W… Wie bitte?“, krächzte er fassungslos und setzte sich weiter auf dem Stuhl auf. Seine Erektion pochte mittlerweile so schmerzhaft, dass ihm jede weitere Sekunde ohne Erlösung wie eine Strafe vorkam. Ihr Lächeln wurde breiter. „Ich hatte dich gewarnt, Cedric. Ich hatte dir gesagt, dass deine Taten Konsequenzen haben würden.“ Zur gleichen Zeit, in der sie sprach, ging sie mit bedächtigen Schritten zum Kleiderständer und zog sich ihren Mantel vom Haken. Es dauerte einige Sekunden bis der Undertaker begriff, worauf sie anspielte und dass sie ihre Worte tatsächlich ernst meinte. „D… Das kann nicht dein Ernst sein!“ „Oh doch. Mein voller“, gab sie amüsiert zurück und schloss den letzten Knopf des wärmenden Kleidungsstücks. „Wie war das noch? Ich könnte nichts gegen dich ausrichten? Es gibt keine Situation, in der du dich vor irgendwelchen sogenannten “Konsequenzen“ von mir fürchten müsstest? Tja…“, sagte sie voller Schadenfreude und ging zur Tür, um diese direkt halb zu öffnen, „scheint so, als hättest du mich diesbezüglich schwer unterschätzt.“ Dadurch, dass Cedric hinter dem Tresen saß, konnte sie von ihrer neuen Position aus seinen entblößten Unterleib nicht mehr sehen, aber sie war sich recht sicher, dass er nach wie vor seinen Mann stand. Im wahrsten Sinne des Wortes. „Carina“, begann er mit einem nun beinahe drohenden Unterton, doch Angesprochene ließ ihn gar nicht erst aussprechen. „Ich schlage vor, du nimmst entweder ein kaltes Bad oder legst selbst Hand an, ganz wie es dir lieber ist“, sagte sie trocken, warf ihm einen herausfordernden Blick zu und ging dann rückwärts ins Freie, hielt seinen Blick die ganze Zeit lang, bis sie die Tür vor sich schloss. Ein Kichern, das schon seit ein paar Minuten in ihrer Kehle steckte, bahnte sich endlich einen Weg über ihre Lippen. Also, wenn das keine süße Rache gewesen war, dann wusste sie aber auch nicht. „Warum zum Teufel siehst du so gut gelaunt aus?“, fragte Grell sie 10 Minuten später, als er etwas früher am vereinbarten Treffpunkt auftauchte als vereinbart und seine Schülerin ansah, die mit einem beinahe schon unverschämt breiten Grinsen auf einer der Parkbänke saß. „Ich bin mir nicht sicher, ob du das wirklich wissen willst“, gab sie fröhlich zurück und erhob sich mit einer schwungvollen Bewegung. Grell seufzte genervt. „Klar will ich wissen, warum du so ekelhaft fröhlich bist. Während mein Leben gerade den Bach herunter geht.“ Der Rothaarige fluchte, als Carinas Lächeln daraufhin sofort erstarb. „Nein, entschuldige, das… so meinte ich das nicht“, stöhnte er und hatte das Bedürfnis sich selbst zu schlagen. „Nein, du hast ja Recht“, sagte sie und man konnte das schlechte Gewissen deutlich in ihrer Stimme hören. „Ich sollte mich ein wenig zurückhalten, weil ich doch ganz genau weiß, dass das Gespräch mit William nicht schön gewesen sein kann.“ „War es nicht, aber deswegen musst du nicht auch miese Laune haben“, erwiderte er. „Nach allem, was du in den letzten Wochen durchgemacht hast, freue ich mich über jedes Lächeln, das ich auf deinem Gesicht sehe. Wirklich.“ „Danke, Grell“, antwortete sie und lächelte nun doch wieder. „Also“, sagte sie und schaute ihn neugierig an. „Wie schlimm war es?“ Er atmete tief aus. „Es hätte vermutlich schlimmer sein können“, gab er zögerlich, aber trotzdem alles andere als glücklich zu. „Ronald und ich müssen das nächste halbe Jahr unbezahlte Überstunden leisten, ganz nach Williams Ermessen. Sobald die Rückstände aufgearbeitet sind, haben wir ein Disziplinarverfahren am Hals. Heißt, die darauffolgenden drei Monate werden noch viel schlimmer, weil wir die Jobs machen müssen, auf die ohnehin keiner Lust hat. Und das dann auch noch ohne unsere Death Scythes!“ Carina schaute ihn mitleidig an. „Also wieder zurück zu den kleinen Scheren, was?“, fragte sie, woraufhin der Rothaarige deprimiert nickte. „Ja, aber weil dem guten William das immer noch nicht gereicht hat, bekommen wir auch noch beide eine Woche Hausarrest.“ Er stöhnte. „Er hat es nicht gesagt, aber wahrscheinlich dient das dazu, dass wir genug Zeit haben, um über unsere Taten nachzudenken. Wie kleine Kinder, die etwas falsch gemacht haben.“ „Ach herrje“, murmelte sie ungläubig und schüttelte den Kopf. „Versteh mich nicht falsch, ich will mich nicht beschweren“, warf Grell ein und verschränkte die Arme vor der Brust. „Es hätte noch viel schlimmer kommen können und wenn die Sache damit erledigt ist, dann soll es so sein. Weißt du aber, was mich viel mehr aufregt? Das Gespräch, dass ich danach mit William geführt habe, nachdem er Ronald bereits herausgebeten hatte.“ „Er hat mit dir gesprochen? Allein?“, fragte Carina verblüfft nach und als ihr bester Freund nickte, konnte sie sich eine angehobene Augenbraue nicht verkneifen. „Was wollte er denn?“ „Ich habe ihm sofort gesagt, wenn er mich nur länger hierbehalten will, um mich weiter zu demütigen, dann könne er es sich sparen.“ „Das hast du zu ihm gesagt?“, meinte die junge Frau belustigt und fand die bloße Vorstellung mehr als nur amüsant. „Ja, hab ich“, erwiderte Grell trotzig, „denn irgendwann habe ich auch mal die Schnauze voll.“ „Ich bin stolz auf dich“, sagte sie ganz begeistert, was ihr einen irritierten Blick des Reapers einbrachte. „Wieso das denn?“ „Weil du endlich auch einmal vor William den Mund aufmachst.“ Grell wusste nicht so recht, was er dazu sagen sollte. Er entschloss sich daher, einfach über den weiteren Verlauf des Gespräches zu berichten. „Er hat mir vorgeworfen, dass ich ihn verraten hätte. In dem Moment ist mir wieder eingefallen, was du gesagt hast und das habe ich ihm auch genauso gesagt. Dass ich den Dispatch verraten habe und nicht ihn. Dummerweise ist das für ihn scheinbar genau das Gleiche.“ Er warf die Hände in die Luft. „Woraufhin ich ihm ziemlich deutlich zu verstehen gegeben habe, dass das für mich absolut nicht das Gleiche ist.“ „Und dann?“, fragte sie neugierig nach, während sie nebenbei bereits begann ihr Äußeres zu verändern, um nachher nicht von irgendeinem Shinigami erkannt zu werden. „Ach, keine Ahnung, wenn ich ehrlich bin. Wir haben kurz über vergangene Tage gesprochen und wie sehr er sich seitdem verändert hat. Und dann bin ich einfach komplett ins Fettnäpfchen getreten.“ „Wie das?“ „Ich hab ihn gefragt, ob er in seinem Leben denn noch nie einen Fehler gemacht hat. Und das war anscheinend die wohl ungünstigste Frage überhaupt, denn seine Antwort darauf war, dass er nur wegen eines Fehlers überhaupt hier ist.“ Carina runzelte die Stirn. „Sind wir das strenggenommen nicht alle? Wegen eines Fehlers Todesgötter geworden, meine ich.“ „Ja, schon“, murmelte Grell und verschränkte die Arme vor der Brust, „aber da muss noch mehr dahinter stecken. Er hat das so seltsam betont und … seinen Gesichtsausdruck hättest du mal sehen sollen.“ „Wundert mich ehrlich gesagt, dass er überhaupt etwas in die Richtung gesagt hat. So verschlossen, wie er normalerweise immer ist.“ „Ja, ganz genau das war auch mein Gedanke“, stimmte der Rothaarige ihr sofort zu und schaute unterdessen auf seine Uhr. „Wir müssen los, Carina.“ Die nun schwarzhaarige Frau mittleren Alters mit einem kleinen Muttermal über der Oberlippe nickte und schloss gleich darauf ihre gelbgrünen Augen. Was sie zu Anfang ihrer Ausbildung noch viel Konzentration gekostet hatte, funktionierte mittlerweile so natürlich wie das Ein- und Ausatmen. Innerhalb weniger Sekunden manifestierte sich ihr Körper wieder und als sie die Augen wieder aufschlug, wurde sie mit dem Anblick konfrontiert, den sie für sich selbst eigentlich vor vielen Monaten abgehakt hatte. Der Dispatch hatte sich im Gegensatz zu ihr kein Stück verändert und dennoch war es für die 19-Jährige im ersten Augenblick doch sehr ungewohnt wieder hier zu sein. „Wollen wir?“, meinte Grell neben ihr und sogleich begann sie sich neben ihm in Bewegung zu setzen. Die junge Frau konnte sich ein schwaches Grinsen nicht verkneifen. „Hast du gerade auch ein Déjà-Vu?“ Der Reaper grinste breit zurück. „Allerdings. Damals, als du das allererste Mal hier warst, hab ich mit dir genau denselben Weg beschritten.“ „Genau“, erinnerte sich Carina zurück und lachte leise. „Damals hab ich dich gefragt, ob wir hier im Himmel sind. Gott, ich hätte wirklich nicht weiter daneben liegen können.“ „Deswegen fand ich es ja damals auch so witzig“, antwortete ihr Mentor. „Stimmt und mir war das alles furchtbar peinlich“, lachte sie nun lauter und auch Grells Stimmung hellte sich merklich auf. Woraufhin ihm wieder etwas einfiel. „Weswegen warst du denn jetzt eigentlich vorhin so gut gelaunt? Du hast mir keine Antwort gegeben, als ich gefragt habe.“ Carina schmunzelte. „Weil ich immer noch nicht weiß, ob du das wirklich wissen willst.“ „Würde ich sonst fragen?“ „Na schön, wie du meinst“, gab sie zurück und schaute weiterhin auf den Weg vor sich. „Erinnerst du dich noch an die Bestrafung, die Cedric mir zuteilwerden ließ?“ Grell nickte. „Sowas vergisst man nicht so schnell“, antwortete er, wirkte dabei sogar ein wenig verlegen. „Absolut richtig. Ich habe das nämlich auch nicht vergessen. Und ich hatte ihn gewarnt, dass das noch Konsequenzen für ihn haben würde.“ Ihr Schmunzeln wuchs erneut zu einem Grinsen. „Und diese Konsequenzen hat er vorhin zu spüren bekommen. Daher meine gute Laune.“ Grell hob fragend eine Augenbraue. „Was hast du getan? Muss ich mir Sorgen machen?“ „Nein, nein, mit ihm ist alles in Ordnung. Nur sein männlicher Stolz dürfte etwas in Mitleidenschaft gezogen worden sein“, antwortete sie schadenfroh. „Okay, das heißt es hat etwas mit Sex zu tun, nicht wahr?“, wackelte der Schnitter offensichtlich mit den Augenbrauen und konnte sich nun ebenfalls ein Grinsen nicht mehr verkneifen. „Anscheinend seid ihr euch doch ähnlicher, als du denkst.“ Er stupste sie mit der Schulter an. „Na komm schon, sag’s mir. Ich bin doch so neugierig.“ „Dessen bin ich mir bewusst“, gab Carina zurück und hielt bei ihren nächsten Worten den Blick starr auf die Straße vor sich gerichtet. „Sagen wir mal so: Meine Knie schmerzen ein wenig und morgen werde ich sicherlich Muskelkater im Kiefer haben.“ Hingegen ihrer Erwartung brauchte Grell keine 5 Sekunden, um Besagtes zu verarbeiten. Sie hörte ihn laut nach Luft schnappen und als sie ihn daraufhin ansah, waren seine Wangen schwach gerötet. „Du hast ihm… meine Güte, Carina!“ „Was denn?“, fragte Angesprochene ganz unschuldig. „ Hast du mir das etwa nicht zugetraut?“ „Ehrlich gesagt nein, aber vielleicht sollte mich in Bezug auf euer Sexualleben einfach nichts mehr wundern.“ „Tja, was soll ich sagen? Ich bin meiner Zeit eben voraus“, lachte sie. „Aber warte mal. Wieso soll das denn bitteschön eine Bestrafung gewesen sein?“ Die Blondine grinste. „Ich hab’s nicht beendet.“ „Wie bitte?“ „Ich bin mittendrin aufgestanden und gegangen.“ „Du Teufelin“, prustete Grell und hielt sich damenhaft eine Hand vor den Mund, um sein lautes Lachen etwas zu dämpfen. „Jetzt hab ich Mitleid mit dem armen Kerl.“ „Ich nicht, er hatte es verdient“, entgegnete sie ehrlich und schaute auf, als der weiße Gebäudekomplex in Sichtweite kam, den sie früher tagtäglich aufgesucht hatte. „Du bist dir aber schon im Klaren darüber, dass das sicherlich noch ein Nachspiel haben wird, oder?“, fragte Grell und hielt ihr die Tür zum Hauptgebäude des Dispatchs auf. „Ich lass mich überraschen.“ Die 19-Jährige trat ein und automatisch fiel ihr Blick auf den Empfangsbereich, an dem eine ihr unbekannte Frau saß. Das Herz wurde ich schwer in der Brust. Für einen ganz kurzen Moment sah sie Alice an diesem Platz sitzen, fröhlich winkend und ihr ein Lächeln zuwerfend. Dann verblasste das Bild und machte der traurigen Realität wieder Platz. Grell, der Carinas traurigen Blick richtig deutete, legte ihr sanft eine Hand auf den oberen Rücken und schob sie weiter nach vorne. „Komm“, sagte er leise und erinnerte sie somit daran, dass sie sich nicht allzu auffällig verhalten dürfte. „Entschuldige“, murmelte sie ebenso leise, doch der Rothaarige schüttelte nur den Kopf. „Nicht dafür“, sagte er. Der Weg zu Williams Büro zog sich in die Länge und als sie endlich vor besagter Tür standen, wechselten beide Schnitter einen Blick miteinander. „Bereit?“, fragte Grell und Carina nickte. „Bereit“, sagte sie, woraufhin ihr neuer Partner zweimal fest gegen das massive Holz klopfte. „Herein“, ertönte es wie bereits am vorherigen Tag und die beiden Todesgötter traten synchron ein. William wirkte auf den ersten Blick wie immer, doch als Grell ihm genau in die Augen sah bemerkte er die tiefen Schatten darunter, die nur halb von der Brille verdeckt wurden. „Ich habe dir Carina mitgebracht, wie du es wolltest“, meinte Grell so leise wie möglich, falls genau in diesen paar Sekunden ein Shinigami den Flur entlang kommen sollte. „Gut“, erwiderte der Schwarzhaarige und klang zu Grells großer Erleichterung nicht mehr wütend oder kühl, sondern einfach nur wieder so furchtbar neutral wie immer. „Sie können dann jetzt gehen, Sutcliff. Dieses Gespräch wird unter 4 Augen stattfinden.“ Der Rothaarige nickte, hatte sich das schon fast gedacht. „Ich mache dann mit meiner Schicht weiter“, informierte er sowohl Carina, als auch William. Erstere nickte ihm einmal aufmunternd zu und schloss, sobald er das Büro verlassen hatte, die Tür hinter ihm zu. William hob eine Augenbraue, doch Carina ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. „Ich denke mal nicht, dass Sie mit mir zusammen entdeckt werden wollen, oder etwa doch?“, fragte sie, während sie die Tarnung fallen ließ und wieder ihr wahres Erscheinungsbild annahm. „Nichts würde mir mehr missfallen“, entgegnete er ihr trocken und sah der jungen Frau dabei zu, wie sie sich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch setzte und die Beine übereinanderschlug. „Oh, da würden mir sicherlich noch ein paar Dinge einfallen, die sie noch weniger mögen würden, aber lassen wir das einfach mal so stehen.“ Sie warf ihm einen herausfordernden Blick zu. „Also, aus welchem Grund bin ich hier?“ „Ehrlich gesagt gibt es keinen.“ Carina blinzelte. „Bitte?“, fragte sie vorsichtshalber nach, weil sie im ersten Moment glaubte sich verhört zu haben. „Entschuldigung, aber ich habe Sie gerade sagen hören, dass ich vollkommen grundlos hier bin.“ „Korrekt“, erwiderte William und obwohl er mit seinem altbekannten Brillenrücken versuchte sie abzulenken, konnte die Schnitterin dennoch sehen, dass er ein wenig verlegen war. Sie hob beide Augenbrauen. „Ich schätze, ich darf auf eine Erklärung hoffen?“ „Sutcliff wollte wissen, warum ich ihn länger als Knox dabehalten habe und da ist mir auf die Schnelle kein anderer Grund eingefallen. Ich entschuldige mich für Ihre Umstände.“ Jetzt war Carina noch verwirrter als zuvor. „Schon in Ordnung, aber warum haben Sie ihm nicht einfach die Wahrheit gesagt?“ „Weil ich ihn tatsächlich länger dabehalten wollte, um ihn – wie er es ausgedrückt hat – weiter zu demütigen. Und dann hat er all diese Sachen gesagt und da konnte ich ihm nicht sagen, dass er Recht gehabt hatte.“ Genervt schob er sich die Brille erneut zurecht. „Dabei bin ich hier sicherlich der Letzte, der sich in irgendeiner Art und Weise für sein Verhalten rechtfertigen müsste.“ Die junge Mutter musste schwer an sich halten, um nicht die Augen zu verdrehen. Auf Williams selbstgerechtes Gehabe konnte sie nun gut und gerne verzichten. „Schön, wenn das alles war“, meinte sie und begann sie vom Stuhl zu erheben, „dann werde ich jetzt wieder gehen und-“ „Ich verstehe ihn einfach nicht“, fiel der Aufsichtsbeamte ihr mitten im Satz ins Wort und starrte sie nun beinahe energisch an. Carina blinzelte erneut. „Wie bitte?“, fragte sie verdutzt und setzte sich wieder hin. „Grell! Ich verstehe ihn einfach nicht“, wiederholte William und wirkte plötzlich frustriert. „Sein Verhalten, seine Worte mir gegenüber… ich habe keine Ahnung, was ich von all dem halten soll. Sie sind diejenige, die ihm am nächsten steht. Vielleicht können Sie es mir erklären.“ „Um Gottes Willen, das kann einfach nicht Ihr Ernst sein“, entfuhr es der Schnitterin, während sie ihn ein wenig aus der Fassung gebracht anstarrte. „Das können Sie mich gerade nicht ernsthaft gefragt haben.“ Der Schwarzhaarige räusperte sich einmal. „Nun… doch“, gab er schließlich als Antwort und Carina konnte nicht anders, sie klatschte sich eine Hand gegen die Stirn. „Ich kann nicht fassen, dass ich diejenige bin, die Ihnen das sagen muss“, murmelte sie und erhob sich jetzt ganz vom Stuhl, sodass der Aufsichtsbeamte zu ihr hoch schauen musste. „Er liebt Sie, William“, sagte sie ernst und beobachtete fasziniert, wie der Mann vor ihr beinahe genauso reagierte, wie Cedric es damals bei ihr getan hatte. Seine Augen wurden hinter den Brillengläsern nahezu gigantisch groß und sein Mund klappte leicht auf, obwohl er das Atmen scheinbar eingestellt hatte. „Ich kann’s nicht nachvollziehen, denn ganz offensichtlich sind Sie ein Idiot“, meinte sie trocken und ignorierte die Augen ihres Gegenübers, die sie nun böse anfunkelten. „Aber ich weiß am besten, dass man sich seine Gefühle nun einmal nicht aussuchen kann“, fuhr sie seufzend fort und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wollen Sie einen Rat von mir? Reden Sie mit ihm! Aber ich schwöre Ihnen eins: Wenn Sie ihn in irgendeiner Form verletzen, dann werde ich Ihnen wehtun! Und das ist keine leere Drohung.“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und blieb erst wieder stehen, als sie die Bürotür erreicht hatte. Ihr Aussehen veränderte sich erneut und während sie den Schlüssel im Schloss wieder herumdrehte, wandte sie ihren Kopf noch ein letztes Mal in die Richtung Ihres alten bzw. neuen Vorgesetzten zurück. „Einen schönen Tag noch“, lauteten ihre Abschiedsworte und schloss im nächsten Moment bereits die Tür hinter sich. William starrte, wie bereits den Tag zuvor, noch mehrere Minuten die Tür an und wiederholte in seinem Kopf noch einmal die Worte, die er im Zusammenhang mit Carina schon häufiger gedacht hatte. Sie war genauso unverschämt wie ihr Mentor… Kapitel 88: Konsequenzen *zensiert* ----------------------------------- Das Erste, was Grell auffiel, als er zusammen mit Ronald Williams Büro betrat, war dessen strenge Miene. Diese setzte der Aufsichtsbeamte immer nur dann auf, wenn es im nächsten Moment ein richtiges Donnerwetter geben würde. Aber Grell hatte es auch nicht anders erwartet. „Schließen Sie die Tür“, sagte der Schwarzhaarige ruhig, aber mit Nachdruck und Ronald kam seinem Befehl umgehend nach, wirkte jetzt jedoch ebenfalls wesentlich weniger selbstsicher, als noch beim Betreten des Büros. „Setzen“, kam sogleich die nächste „Aufforderung“ seitens Williams und erneut widersprach keiner der beiden Todesgötter. Gehorsam setzten sie sich auf die beiden Stühle, die direkt vor dem Schreibtisch platziert waren und im gleichen Moment erhob sich ihr Chef, sodass er sie einerseits überragte und andererseits auf sie hinab schauen konnte. Sicherlich war das auch Sinn und Zweck der Sache gewesen. Grell schluckte mit einem flauen Gefühl im Magen und zählte innerlich bereits runter: „3…2…1…“ „Sie sind eine Schande für den Dispatch“, wurden sie im nächsten Moment auch schon angebrüllt. Ronald neben ihm zuckte zusammen, Grell jedoch zuckte nicht mal mit der Wimper, was ihn selbst ein wenig wunderte. Vermutlich war er mittlerweile bereits so mitgenommen, dass er gar nicht mehr richtig spüren konnte, wenn es noch schlimmer wurde. Es war beinahe ein wenig wie früher. Damals, als er noch ein Mensch gewesen war, hatte er immer eine Mauer um sein Innerstes gezogen, um die niederschmetternden Worte seines Vaters möglichst an sich abprallen zu lassen. Auch jetzt spürte er, wie sich etwas in ihm gegen die negativen Gefühle absperrte, die Williams Verhalten mit sich brachte. „Ich glaube, ich habe meinen Standpunkt bereits vor einer Stunde mehr als deutlich gemacht, daher werde ich das nicht noch einmal wiederholen. Aber Sie beide werden nicht einfach so ungeschoren davonkommen, ist das klar?“ Sie nickten beide und Grell war froh, dass William keine verbale Zustimmung von ihnen erzwang. Er war sich nicht sicher, ob er momentan auch nur einen Ton herausbekommen würde. „Nun gut“, atmete William langsam und kontrolliert aus, „und jetzt zu ihrer Bestrafung.“ Er setzte sich wieder auf seinen Stuhl und verschränkte die auf den Tisch gelegten Hände ineinander. „Sie beide werden das nächste halbe Jahr unbezahlte Überstunden machen und zwar so viele, wie ich für notwendig erachte. Sobald unsere Rückstände, die durch den Personalmangel hervorgerufen wurden, aufgearbeitet sind, werde ich Sie bezüglich eines erfundenen Regelverstoßes im Rahmen eines Disziplinarverfahrens degradieren. Heißt, Sie werden die darauffolgenden drei Monate die Jobs machen, die niemand erledigen will und Ihre Death Scythes werden für diesen Zeitraum einbehalten.“ Wäre das hier eine normale Situation, hätte Grell mit Sicherheit aufgestöhnt. Das hieß, er musste wieder mit diesen grässlichen kleinen Scheren arbeiten… „Zudem werden Sie beide eine Woche lang unter Hausarrest gestellt. Ob Sie diese Strafe vor oder nach den drei Monaten antreten möchten, ist Ihnen selbst überlassen.“ „Hausarrest?“, fragte Ronald ganz entsetzt und schaute ungläubig in Williams Richtung. „Soll das heißen, wir dürfen unsere Wohnung eine ganze Woche lang nicht verlassen? Wie bei einer Gefängnisstrafe?“ „Ganz genau“, lautete Williams kühle Antwort. „Und seien Sie froh, Knox, dass ich so gnädig bin und Ihnen diese Strafe innerhalb Ihrer eigenen vier Wände auferlege. Denn so wahr mir Gott helfe, ich hatte auch über einen Kerkeraufenthalt nachgedacht.“ Ronalds Mund schloss sich lautlos wieder und es schien auch nicht so, als hätte er vor noch etwas zu sagen. „Ich vermute, es gibt keine Einwände?“, fragte William rein rhetorisch nach und erntete von seinen Untergebenen sogleich ein synchrones Kopfschütteln. „Sehr schön, dann wäre das geklärt. Knox, Sie fangen mit Ihrer nächsten Schicht genau jetzt an. Ich muss Ihnen ja wohl nicht erklären, dass ich den Bericht gleich im Anschluss darauf erwarte.“ Ronald nickte und erhob sich zusammen mit Grell, doch dieser erstarrte bei den nächsten Worten des Beamten zur Salzsäule. „Sutcliff, Sie bleiben hier!“ Carinas ehemaliger Klassenkamerad warf ihm einen mitleidigen Blick zu und formte mit seinem Mund stumm die Worte „Viel Glück“, ehe er mit eiligen Schritten den Raum verließ und die Tür mit einem Klicken ins Schloss fiel, das sich in Grells Ohren wesentlich lauter anhörte, als es eigentlich war. „Setzen Sie sich wieder.“ Doch das tat Grell nicht. Wie festgewachsen blieb der Rothaarige stehen und obwohl sich ihm innerlich der Magen rumdrehte, fand er endlich seine Stimme wieder. Sie klang leise und zerbrechlich, aber dennoch bestimmt. „Wenn du mich nur länger hierbehalten willst, um mich weiter zu demütigen, dann lass es“, flüsterte er. Eine von Williams Augenbrauen wanderte nach oben. „Wie war das gerade?“, fragte er, ein gefährlicher Unterton in der Stimme. Der Rothaarige jedoch ließ sich dieses Mal nicht einschüchtern. Im Gegenteil, Williams abweisendes Verhalten bestärkte ihn gerade darin nicht klein beizugeben. „Ich fühle mich auch schon ohne deine ständigen Sticheleien schlecht genug, das kannst du mir glauben. Glaubst du nicht, dass ich es dir die ganze Zeit sagen wollte? Wahrscheinlich nicht, aber so ist es.“ Seine Stimme wurde lauter. „Aber das Problem mit dir ist, dass du immer so heftig reagierst, wenn jemand gegen die Regeln verstößt. Ich wusste doch, dass du uns alle verraten würdest, sobald ich dir was sage.“ „Verraten?“, wurde nun auch William lauter. „Du hast mich verraten, Grell, nicht umgekehrt.“ „Nein, das habe ich nicht. Ich habe den Dispatch verraten“, verteidigte sich der Rothaarige und dachte dabei an das, was Carina zu ihm gesagt hatte. „Das ist das Gleiche“, widersprach ihm der Beamte, doch Grell hatte jetzt endgültig genug. „Nein, das ist es nicht! Nicht einmal annähernd. Und ich kapiere einfach nicht, warum du dich für den Dispatch so aufopferst. Es in Ordnung seine Arbeit zu schätzen und zu würdigen und es ist auch in Ordnung seinen Job gut zu machen. Aber hat der Dispatch irgendwann einmal etwas für uns getan? Nein, hat er nicht. Wir mögen Selbstmörder sein, die für ihre Taten sühnen müssen, aber wir haben trotzdem noch Gefühle und müssen uns verdammt nochmal nicht alles gefallen lassen.“ Er zeigte mit seinem Finger auf William. „Nimm dich zum Beispiel. Du arbeitest dich krumm für den Dispatch, Tag für Tag. Wurde es dir jemals gedankt? Nein, natürlich nicht. Aber sobald auch nur einmal der kleinste Fehler passiert, dann wirst du dafür in Grund und Boden gestampft, obwohl du nicht einmal etwas dafür kannst. Ich nenne dir da nur mal die Sache mit der Campania. Das ging allein auf Undys Konto und trotzdem musstest du deinen Kopf dafür hinhalten. Findest du das etwa gerecht?“ William wirkte zum ersten Mal, seit Grell ihn kannte, sprachlos. Und das nutzte der Reaper auch sogleich für sich aus, denn er war noch lange nicht fertig. „Der Dispatch und du sind für mich noch lange nicht das Gleiche, William. Denn Ersterer geht mir gewaltig auf die Nerven und Letzteren li-… mag ich“, korrigierte sich Grell schnell und wurde leicht rot im Gesicht. Schnell sprach er weiter, um diesen unangenehmen Moment zu überbrücken. „Ich arbeite nicht für dich, weil ich es dem Dispatch schuldig bin. Sondern, weil ich für dich arbeiten will. Kapierst du das denn nicht? Herrgott, ich konnte dich anfangs nicht einmal leiden, falls du dich erinnerst.“ Daran erinnerte sich William allerdings. „Du meinst, als du dich damals für wesentlich besser gehalten hast?“, fragte er kühl nach und Grell stöhnte. „Klar, dass dir nur das im Gedächtnis geblieben ist. Weißt du, woran ich mich erinnere? An einen Shinigami, der alles getan hat, um die richtige Entscheidung bezüglich der Seele von Thomas Wallis zu treffen. Während ich ihn direkt als nutzlos abgestempelt hatte, hast du dir die Zeit und Mühe gemacht zu überprüfen, ob wir mit seinem Tod auch wirklich die richtige Entscheidung treffen. Am Ende hast du es sogar geschafft mich zu besiegen, weil… ist ja auch egal. Aber Fakt ist, dass ich ab dem Zeitpunkt wusste, dass ich bei dir bleiben möchte.“ „Und das sagst du mir, weil…?“ „Weil du mich damals auf deine ganz eigene Art und Weise respektiert hast. Du kannst es zugeben oder es auch lassen, aber wir waren ein wirklich gutes Team. Aber seit du befördert wurdest, hast du dich verändert. Ich meine… du wolltest noch vor einer Stunde lieber sterben, als einmal über die Regeln hinwegzusehen. Hast du denn noch nie einen Fehler gemacht?“ Grell merkte noch in dem Moment, in dem er den letzten Satz sagte, dass diese Worte etwas in William auslösten. Sein linkes Auge zuckte einmal heftig und seine Augenbrauen zogen sich tief über seinen gelbgrünen Seelenspiegeln zusammen. Sein Mund blieb geschlossen, aber Grell konnte anhand seines Kiefers sehen, dass er die Zähne fest aufeinander biss. „Einem Fehler meinerseits verdanke ich es, dass ich überhaupt hier bin“, zischte der Schwarzhaarige und ballte unter seinem Schreibtisch die Hände zu Fäusten. Grells Augen weiteten sich merklich. Er starrte William beinahe fassungslos an. Hatte… hatte der Bürokrat gerade etwas aus seiner Vergangenheit preisgegeben? Aus seinem Leben vor dem Dispatch? „Was meinst du damit?“, fragte Grell, bevor er sich selbst daran hindern konnte. „Das geht dich absolut nichts an“, entgegnete William reserviert und erhob sich nun wieder von seinem Stuhl, legte beide Handflächen fest auf dem Schreibtisch ab. „Und jetzt raus. Mir reicht es für heute. Außerdem habe ich noch jede Menge Arbeit zu erledigen.“ Grell schluckte. „Und warum wolltest du mich noch länger hierbehalten als Ronald?“ „Um dich zurechtzustutzen“, dachte William. Aber aus irgendeinem Grund konnte er das jetzt nicht mehr. Nicht nach der Ansprache, die Grell gerade gehalten hatte und die er – auch aus irgendeinem Grund – nicht einzuordnen wusste. „Bringen Sie mir morgen um 11 Uhr Ihre Schülerin vorbei, Sutcliff. Ich habe noch ein paar Formalitäten mit ihr zu klären“, sagte er stattdessen und benutzte jetzt wieder die förmlichere Ansprache. Der Rothaarige nickte, seufzte jedoch innerlich. Einerseits war er erleichtert, dass er jetzt nicht noch mehr Ärger bekommen würde. Andererseits wünschte er sich, dass William auf seinen Vortrag anders reagiert hätte. Während sich der Aufsichtsbeamte wieder setzte, ging Grell zur Tür und öffnete sie. Er trat hinaus und drehte sich herum, um sie wieder zu schließen. Zögerlich sah er dabei zu William und konnte sich ein paar letzte Schlussworte für dieses Gespräch nicht verkneifen. „Ich würde dich niemals verraten, Will. Ich hoffe, das weißt du.“ Der Schwarzhaarige sah mit größer werdenden Augen auf, doch da hatte Grell bereits die Tür geschlossen. Lediglich das Klackern seiner hohen Absätze war noch zu hören, als er sich mit schnellen Schritten von dem Büro entfernte. Hingegen seiner Aussage, dass er noch viel Arbeit zu erledigen hatte, starrte William noch ganze 5 Minuten auf die geschlossene Tür. Und er dachte dabei nur über eine Sache nach: Eigentlich hasste er Spitznamen. Warum also machte es ihm seit mehr als 200 Jahren gar nichts aus, dass Grell ihn Will nannte? „Carina, wach auf.“ Die leise Stimme des Bestatters drang an ihre Ohren, als die 19-Jährige langsam aus ihrem Tiefschlaf erwachte. „Hmm“, murrte sie, immer noch nicht richtig wach, und kuschelte sich tiefer in die warme, weiche Decke um sich herum. Ein leises Lachen ertönte über ihr und gleich darauf spürte sie seinen Mund, der ihr einen sanften Kuss auf die Wange hauchte. „Ich würde dich ja auch noch länger schlafen lassen, aber Grell war gestern Abend noch kurz hier. Du sollst heute Vormittag zu William ins Büro kommen. Er möchte noch irgendwelche Einzelheiten mit dir klären.“ Carina stöhnte genervt auf. „Dieser elende Bürokrat“, murmelte und schlug langsam blinzelnd die Augen auf. „Wie spät ist es denn?“ „Gleich halb Zehn. Ich habe Lily gerade eben angezogen und ich denke, sie hat-“ „Hunger“, vollendete die Blondine seinen Satz und gähnte. „Schon gut, ich steh auf. Außerdem kann ich dann noch frühstücken, bevor ich los muss.“ Sie schlug die Decke zurück und beugte sich zum Bestatter vor, um ihm einen sanften Kuss auf die Lippen zu drücken. „Hmm, vielleicht hätte ich dich noch etwas früher wecken sollen“, brummte er und vertiefte den Kuss. „Später“, raunte sie ihm entgegen, lächelte spitzbübisch und kletterte aus dem Bett, um zu ihrer Tochter zu gehen und sich anschließend selbst im Bad frisch zu machen. „Hat Grell sonst noch irgendetwas gesagt?“, fragte sie Cedric 30 Minuten später, als sie am Esstisch saß und frühstückte. Der Silberhaarige hingegen saß nebenan am Empfangstresen und schien seine Bücher zu vervollständigen. „Nicht viel. Er hat noch ein paar Aufträge zu erledigen und will dich dann um viertel vor Elf im Park treffen. Er wirkte recht kurz angebunden.“ „Das kann ich mir vorstellen. Das Gespräch mit William wird sicherlich alles andere als schön für ihn gewesen sein.“ Sie biss von ihrem Sandwich ab und nahm sich fest vor, Grell gleich danach zu fragen und ihm den nötigen Beistand zu leisten. Immerhin war das alles irgendwie ihre Schuld, denn für sie hatte Grell immerhin die Regeln überhaupt erst gebrochen, um die es hier ging. „Er hat noch gelebt, oder? Da kann es nicht so schlimm gewesen sein“, entgegnete Cedric trocken, was Carina mit den Augen rollen ließ. „Du hast das Einfühlungsvermögen eines Steins, weißt du das eigentlich?“, gab sie ein wenig genervt von sich und stopfte sich anschließend den letzten Rest Brot in den Mund. „Ich?“, hörte sie ihn mit einem ungläubigen Unterton sagen, als wäre diese Mitteilung eine völlige Neuigkeit für ihn. „Ja, du“, antwortete sie neckend und lehnte nun mit der rechten Schulter und verschränkten Armen im Türrahmen, sodass der Silberhaarige sie ansehen konnte. „Das ist nicht sehr nett“, grinste er und klappte das Buch zu, das aufgeschlagen vor ihm auf dem Tresen gelegen hatte. „Aber die volle Wahrheit“, flötete sie und ging auf ihn zu, um sich im Anschluss auf seinen linken Oberschenkel zu setzen. Sogleich schlang er seine langen Arme um ihre Hüften und zog sie ein Stück näher an sich heran. Carina fiel auf, dass er sie selbst in dieser Position noch um ein paar Zentimeter überragte. „Weißt du“, begann sie langsam und funkelte ihn mit einem Ausdruck im Gesicht an, der ihn an ein verspieltes Kätzchen erinnerte, „wir haben noch fast 30 Minuten Zeit, bis ich los muss. Vielleicht könnten wir die Zeit bis dahin ja sinnvoll nutzen, was meinst du?“ Die Anspielung in ihrer Aussage ließ sein Blut augenblicklich gen Süden schießen. „… Und was schwebt dir da so vor?“, fragte er mit rauer Stimme, während seine Hände von ihrer Hüfte abließen und hinab wanderten, bis er ihren Po umfassen konnte. „Hmm“, meinte sie lasziv und strich einmal kurz mit ihren Fingernägeln über seinen Hals, „mir würden da schon so ein paar Sachen einfallen.“ Er zog sie nun gänzlich auf seinen Schoß, sodass sie seine bereits beachtliche Beule an ihrer Mitte spüren konnte. „Woher der plötzliche Sinneswandel?“, murmelte der Bestatter und drückte sie mit den Händen näher an seine pochende Erektion heran. „Du hast es dir verdient“, wisperte sie ihm sanft ins Ohr und meinte das auch tatsächlich so. Nur war ihre Interpretation dieses Satzes eine gänzlich andere als die seine… Carina spürte, wie seine Finger von ihrem Po weiter nach vorne wanderten, um sich anschließend an dem Knopf ihrer Hose zu schaffen zu machen, aber so weit ließ sie es erst gar nicht kommen. Cedric blinzelte irritiert, als beide seiner Hände von ihren Fingern umschlossen wurden und ihn am Weitermachen hinderten. „Du hast es dir verdient“, wiederholte sie ihre Worte von vorhin und rutschte nun langsam von seinen Beinen herunter, um vor ihm auf dem Boden auf die Knie zu gehen, „also lass mich nur machen.“ Seine Kehle wurde staubtrocken, als er sich augenblicklich einige Szenarien vorstellte, die Carinas Position zur Folge haben könnten. Wie sie da so vor ihm kniete… Er schluckte hart. Die 19-Jährige schluckte ebenfalls leicht. Sie konnte nicht leugnen, dass sie ein wenig nervös und unsicher war, immerhin hatte sie das Folgende noch nie gemacht. Angst hatte sie jedoch keine. Cedric hatte ihr in der Vergangenheit immer wieder eindrucksvoll bewiesen, dass sie beim Sex mit ihm keine Angst vor auch nur irgendetwas haben musste. [...] Tief in Gedanken und seiner Lust versunken, bemerkte der Silberhaarige erst nach einigen Sekunden, dass der warme Druck um sein Glied bedeutend nachgelassen hatte. Er schlug die Augen wieder auf und konnte gerade noch sehen, wie Carina einen Schritt nach hinten trat, nun außerhalb seiner Reichweite. „Was zum-“, entfuhr es ihm verwirrt, während er – immer noch vollkommen vernebelt - zu ihr hochstarrte. Carinas schwach gerötete Lippen hatten sich zu einem süffisanten Lächeln verzogen und sie sah recht selbstzufrieden aus. Cedric bekam mit einem Mal das Gefühl, dass er irgendetwas verpasst hatte. „Weißt du“, begann sie plötzlich mit etwas heiserer Stimme zu sprechen – was ihm bei seiner Erregung nicht gerade behilflich war – und schaute ihn mit einem Blick an, den er nur in die Kategorie „Pure Überlegenheit“ einordnen konnte, „ich glaube, ich mache mich schon mal auf den Weg. Ein bisschen frische Luft, bevor ich mich mit Grell treffe, wird mir sicherlich guttun.“ „W… Wie bitte?“, krächzte er fassungslos und setzte sich weiter auf dem Stuhl auf. Seine Erektion pochte mittlerweile so schmerzhaft, dass ihm jede weitere Sekunde ohne Erlösung wie eine Strafe vorkam. Ihr Lächeln wurde breiter. „Ich hatte dich gewarnt, Cedric. Ich hatte dir gesagt, dass deine Taten Konsequenzen haben würden.“ Zur gleichen Zeit, in der sie sprach, ging sie mit bedächtigen Schritten zum Kleiderständer und zog sich ihren Mantel vom Haken. Es dauerte einige Sekunden bis der Undertaker begriff, worauf sie anspielte und dass sie ihre Worte tatsächlich ernst meinte. „D… Das kann nicht dein Ernst sein!“ „Oh doch. Mein voller“, gab sie amüsiert zurück und schloss den letzten Knopf des wärmenden Kleidungsstücks. „Wie war das noch? Ich könnte nichts gegen dich ausrichten? Es gibt keine Situation, in der du dich vor irgendwelchen sogenannten “Konsequenzen“ von mir fürchten müsstest? Tja…“, sagte sie voller Schadenfreude und ging zur Tür, um diese direkt halb zu öffnen, „scheint so, als hättest du mich diesbezüglich schwer unterschätzt.“ Dadurch, dass Cedric hinter dem Tresen saß, konnte sie von ihrer neuen Position aus seinen entblößten Unterleib nicht mehr sehen, aber sie war sich recht sicher, dass er nach wie vor seinen Mann stand. Im wahrsten Sinne des Wortes. „Carina“, begann er mit einem nun beinahe drohenden Unterton, doch Angesprochene ließ ihn gar nicht erst aussprechen. „Ich schlage vor, du nimmst entweder ein kaltes Bad oder legst selbst Hand an, ganz wie es dir lieber ist“, sagte sie trocken, warf ihm einen herausfordernden Blick zu und ging dann rückwärts ins Freie, hielt seinen Blick die ganze Zeit lang, bis sie die Tür vor sich schloss. Ein Kichern, das schon seit ein paar Minuten in ihrer Kehle steckte, bahnte sich endlich einen Weg über ihre Lippen. Also, wenn das keine süße Rache gewesen war, dann wusste sie aber auch nicht. „Warum zum Teufel siehst du so gut gelaunt aus?“, fragte Grell sie 10 Minuten später, als er etwas früher am vereinbarten Treffpunkt auftauchte als vereinbart und seine Schülerin ansah, die mit einem beinahe schon unverschämt breiten Grinsen auf einer der Parkbänke saß. „Ich bin mir nicht sicher, ob du das wirklich wissen willst“, gab sie fröhlich zurück und erhob sich mit einer schwungvollen Bewegung. Grell seufzte genervt. „Klar will ich wissen, warum du so ekelhaft fröhlich bist. Während mein Leben gerade den Bach herunter geht.“ Der Rothaarige fluchte, als Carinas Lächeln daraufhin sofort erstarb. „Nein, entschuldige, das… so meinte ich das nicht“, stöhnte er und hatte das Bedürfnis sich selbst zu schlagen. „Nein, du hast ja Recht“, sagte sie und man konnte das schlechte Gewissen deutlich in ihrer Stimme hören. „Ich sollte mich ein wenig zurückhalten, weil ich doch ganz genau weiß, dass das Gespräch mit William nicht schön gewesen sein kann.“ „War es nicht, aber deswegen musst du nicht auch miese Laune haben“, erwiderte er. „Nach allem, was du in den letzten Wochen durchgemacht hast, freue ich mich über jedes Lächeln, das ich auf deinem Gesicht sehe. Wirklich.“ „Danke, Grell“, antwortete sie und lächelte nun doch wieder. „Also“, sagte sie und schaute ihn neugierig an. „Wie schlimm war es?“ Er atmete tief aus. „Es hätte vermutlich schlimmer sein können“, gab er zögerlich, aber trotzdem alles andere als glücklich zu. „Ronald und ich müssen das nächste halbe Jahr unbezahlte Überstunden leisten, ganz nach Williams Ermessen. Sobald die Rückstände aufgearbeitet sind, haben wir ein Disziplinarverfahren am Hals. Heißt, die darauffolgenden drei Monate werden noch viel schlimmer, weil wir die Jobs machen müssen, auf die ohnehin keiner Lust hat. Und das dann auch noch ohne unsere Death Scythes!“ Carina schaute ihn mitleidig an. „Also wieder zurück zu den kleinen Scheren, was?“, fragte sie, woraufhin der Rothaarige deprimiert nickte. „Ja, aber weil dem guten William das immer noch nicht gereicht hat, bekommen wir auch noch beide eine Woche Hausarrest.“ Er stöhnte. „Er hat es nicht gesagt, aber wahrscheinlich dient das dazu, dass wir genug Zeit haben, um über unsere Taten nachzudenken. Wie kleine Kinder, die etwas falsch gemacht haben.“ „Ach herrje“, murmelte sie ungläubig und schüttelte den Kopf. „Versteh mich nicht falsch, ich will mich nicht beschweren“, warf Grell ein und verschränkte die Arme vor der Brust. „Es hätte noch viel schlimmer kommen können und wenn die Sache damit erledigt ist, dann soll es so sein. Weißt du aber, was mich viel mehr aufregt? Das Gespräch, dass ich danach mit William geführt habe, nachdem er Ronald bereits herausgebeten hatte.“ „Er hat mit dir gesprochen? Allein?“, fragte Carina verblüfft nach und als ihr bester Freund nickte, konnte sie sich eine angehobene Augenbraue nicht verkneifen. „Was wollte er denn?“ „Ich habe ihm sofort gesagt, wenn er mich nur länger hierbehalten will, um mich weiter zu demütigen, dann könne er es sich sparen.“ „Das hast du zu ihm gesagt?“, meinte die junge Frau belustigt und fand die bloße Vorstellung mehr als nur amüsant. „Ja, hab ich“, erwiderte Grell trotzig, „denn irgendwann habe ich auch mal die Schnauze voll.“ „Ich bin stolz auf dich“, sagte sie ganz begeistert, was ihr einen irritierten Blick des Reapers einbrachte. „Wieso das denn?“ „Weil du endlich auch einmal vor William den Mund aufmachst.“ Grell wusste nicht so recht, was er dazu sagen sollte. Er entschloss sich daher, einfach über den weiteren Verlauf des Gespräches zu berichten. „Er hat mir vorgeworfen, dass ich ihn verraten hätte. In dem Moment ist mir wieder eingefallen, was du gesagt hast und das habe ich ihm auch genauso gesagt. Dass ich den Dispatch verraten habe und nicht ihn. Dummerweise ist das für ihn scheinbar genau das Gleiche.“ Er warf die Hände in die Luft. „Woraufhin ich ihm ziemlich deutlich zu verstehen gegeben habe, dass das für mich absolut nicht das Gleiche ist.“ „Und dann?“, fragte sie neugierig nach, während sie nebenbei bereits begann ihr Äußeres zu verändern, um nachher nicht von irgendeinem Shinigami erkannt zu werden. „Ach, keine Ahnung, wenn ich ehrlich bin. Wir haben kurz über vergangene Tage gesprochen und wie sehr er sich seitdem verändert hat. Und dann bin ich einfach komplett ins Fettnäpfchen getreten.“ „Wie das?“ „Ich hab ihn gefragt, ob er in seinem Leben denn noch nie einen Fehler gemacht hat. Und das war anscheinend die wohl ungünstigste Frage überhaupt, denn seine Antwort darauf war, dass er nur wegen eines Fehlers überhaupt hier ist.“ Carina runzelte die Stirn. „Sind wir das strenggenommen nicht alle? Wegen eines Fehlers Todesgötter geworden, meine ich.“ „Ja, schon“, murmelte Grell und verschränkte die Arme vor der Brust, „aber da muss noch mehr dahinter stecken. Er hat das so seltsam betont und … seinen Gesichtsausdruck hättest du mal sehen sollen.“ „Wundert mich ehrlich gesagt, dass er überhaupt etwas in die Richtung gesagt hat. So verschlossen, wie er normalerweise immer ist.“ „Ja, ganz genau das war auch mein Gedanke“, stimmte der Rothaarige ihr sofort zu und schaute unterdessen auf seine Uhr. „Wir müssen los, Carina.“ Die nun schwarzhaarige Frau mittleren Alters mit einem kleinen Muttermal über der Oberlippe nickte und schloss gleich darauf ihre gelbgrünen Augen. Was sie zu Anfang ihrer Ausbildung noch viel Konzentration gekostet hatte, funktionierte mittlerweile so natürlich wie das Ein- und Ausatmen. Innerhalb weniger Sekunden manifestierte sich ihr Körper wieder und als sie die Augen wieder aufschlug, wurde sie mit dem Anblick konfrontiert, den sie für sich selbst eigentlich vor vielen Monaten abgehakt hatte. Der Dispatch hatte sich im Gegensatz zu ihr kein Stück verändert und dennoch war es für die 19-Jährige im ersten Augenblick doch sehr ungewohnt wieder hier zu sein. „Wollen wir?“, meinte Grell neben ihr und sogleich begann sie sich neben ihm in Bewegung zu setzen. Die junge Frau konnte sich ein schwaches Grinsen nicht verkneifen. „Hast du gerade auch ein Déjà-Vu?“ Der Reaper grinste breit zurück. „Allerdings. Damals, als du das allererste Mal hier warst, hab ich mit dir genau denselben Weg beschritten.“ „Genau“, erinnerte sich Carina zurück und lachte leise. „Damals hab ich dich gefragt, ob wir hier im Himmel sind. Gott, ich hätte wirklich nicht weiter daneben liegen können.“ „Deswegen fand ich es ja damals auch so witzig“, antwortete ihr Mentor. „Stimmt und mir war das alles furchtbar peinlich“, lachte sie nun lauter und auch Grells Stimmung hellte sich merklich auf. Woraufhin ihm wieder etwas einfiel. „Weswegen warst du denn jetzt eigentlich vorhin so gut gelaunt? Du hast mir keine Antwort gegeben, als ich gefragt habe.“ Carina schmunzelte. „Weil ich immer noch nicht weiß, ob du das wirklich wissen willst.“ „Würde ich sonst fragen?“ „Na schön, wie du meinst“, gab sie zurück und schaute weiterhin auf den Weg vor sich. „Erinnerst du dich noch an die Bestrafung, die Cedric mir zuteilwerden ließ?“ Grell nickte. „Sowas vergisst man nicht so schnell“, antwortete er, wirkte dabei sogar ein wenig verlegen. „Absolut richtig. Ich habe das nämlich auch nicht vergessen. Und ich hatte ihn gewarnt, dass das noch Konsequenzen für ihn haben würde.“ Ihr Schmunzeln wuchs erneut zu einem Grinsen. „Und diese Konsequenzen hat er vorhin zu spüren bekommen. Daher meine gute Laune.“ Grell hob fragend eine Augenbraue. „Was hast du getan? Muss ich mir Sorgen machen?“ „Nein, nein, mit ihm ist alles in Ordnung. Nur sein männlicher Stolz dürfte etwas in Mitleidenschaft gezogen worden sein“, antwortete sie schadenfroh. „Okay, das heißt es hat etwas mit Sex zu tun, nicht wahr?“, wackelte der Schnitter offensichtlich mit den Augenbrauen und konnte sich nun ebenfalls ein Grinsen nicht mehr verkneifen. „Anscheinend seid ihr euch doch ähnlicher, als du denkst.“ Er stupste sie mit der Schulter an. „Na komm schon, sag’s mir. Ich bin doch so neugierig.“ „Dessen bin ich mir bewusst“, gab Carina zurück und hielt bei ihren nächsten Worten den Blick starr auf die Straße vor sich gerichtet. „Sagen wir mal so: Meine Knie schmerzen ein wenig und morgen werde ich sicherlich Muskelkater im Kiefer haben.“ Hingegen ihrer Erwartung brauchte Grell keine 5 Sekunden, um Besagtes zu verarbeiten. Sie hörte ihn laut nach Luft schnappen und als sie ihn daraufhin ansah, waren seine Wangen schwach gerötet. „Du hast ihm… meine Güte, Carina!“ „Was denn?“, fragte Angesprochene ganz unschuldig. „ Hast du mir das etwa nicht zugetraut?“ „Ehrlich gesagt nein, aber vielleicht sollte mich in Bezug auf euer Sexualleben einfach nichts mehr wundern.“ „Tja, was soll ich sagen? Ich bin meiner Zeit eben voraus“, lachte sie. „Aber warte mal. Wieso soll das denn bitteschön eine Bestrafung gewesen sein?“ Die Blondine grinste. „Ich hab’s nicht beendet.“ „Wie bitte?“ „Ich bin mittendrin aufgestanden und gegangen.“ „Du Teufelin“, prustete Grell und hielt sich damenhaft eine Hand vor den Mund, um sein lautes Lachen etwas zu dämpfen. „Jetzt hab ich Mitleid mit dem armen Kerl.“ „Ich nicht, er hatte es verdient“, entgegnete sie ehrlich und schaute auf, als der weiße Gebäudekomplex in Sichtweite kam, den sie früher tagtäglich aufgesucht hatte. „Du bist dir aber schon im Klaren darüber, dass das sicherlich noch ein Nachspiel haben wird, oder?“, fragte Grell und hielt ihr die Tür zum Hauptgebäude des Dispatchs auf. „Ich lass mich überraschen.“ Die 19-Jährige trat ein und automatisch fiel ihr Blick auf den Empfangsbereich, an dem eine ihr unbekannte Frau saß. Das Herz wurde ich schwer in der Brust. Für einen ganz kurzen Moment sah sie Alice an diesem Platz sitzen, fröhlich winkend und ihr ein Lächeln zuwerfend. Dann verblasste das Bild und machte der traurigen Realität wieder Platz. Grell, der Carinas traurigen Blick richtig deutete, legte ihr sanft eine Hand auf den oberen Rücken und schob sie weiter nach vorne. „Komm“, sagte er leise und erinnerte sie somit daran, dass sie sich nicht allzu auffällig verhalten dürfte. „Entschuldige“, murmelte sie ebenso leise, doch der Rothaarige schüttelte nur den Kopf. „Nicht dafür“, sagte er. Der Weg zu Williams Büro zog sich in die Länge und als sie endlich vor besagter Tür standen, wechselten beide Schnitter einen Blick miteinander. „Bereit?“, fragte Grell und Carina nickte. „Bereit“, sagte sie, woraufhin ihr neuer Partner zweimal fest gegen das massive Holz klopfte. „Herein“, ertönte es wie bereits am vorherigen Tag und die beiden Todesgötter traten synchron ein. William wirkte auf den ersten Blick wie immer, doch als Grell ihm genau in die Augen sah bemerkte er die tiefen Schatten darunter, die nur halb von der Brille verdeckt wurden. „Ich habe dir Carina mitgebracht, wie du es wolltest“, meinte Grell so leise wie möglich, falls genau in diesen paar Sekunden ein Shinigami den Flur entlang kommen sollte. „Gut“, erwiderte der Schwarzhaarige und klang zu Grells großer Erleichterung nicht mehr wütend oder kühl, sondern einfach nur wieder so furchtbar neutral wie immer. „Sie können dann jetzt gehen, Sutcliff. Dieses Gespräch wird unter 4 Augen stattfinden.“ Der Rothaarige nickte, hatte sich das schon fast gedacht. „Ich mache dann mit meiner Schicht weiter“, informierte er sowohl Carina, als auch William. Erstere nickte ihm einmal aufmunternd zu und schloss, sobald er das Büro verlassen hatte, die Tür hinter ihm zu. William hob eine Augenbraue, doch Carina ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. „Ich denke mal nicht, dass Sie mit mir zusammen entdeckt werden wollen, oder etwa doch?“, fragte sie, während sie die Tarnung fallen ließ und wieder ihr wahres Erscheinungsbild annahm. „Nichts würde mir mehr missfallen“, entgegnete er ihr trocken und sah der jungen Frau dabei zu, wie sie sich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch setzte und die Beine übereinanderschlug. „Oh, da würden mir sicherlich noch ein paar Dinge einfallen, die sie noch weniger mögen würden, aber lassen wir das einfach mal so stehen.“ Sie warf ihm einen herausfordernden Blick zu. „Also, aus welchem Grund bin ich hier?“ „Ehrlich gesagt gibt es keinen.“ Carina blinzelte. „Bitte?“, fragte sie vorsichtshalber nach, weil sie im ersten Moment glaubte sich verhört zu haben. „Entschuldigung, aber ich habe Sie gerade sagen hören, dass ich vollkommen grundlos hier bin.“ „Korrekt“, erwiderte William und obwohl er mit seinem altbekannten Brillenrücken versuchte sie abzulenken, konnte die Schnitterin dennoch sehen, dass er ein wenig verlegen war. Sie hob beide Augenbrauen. „Ich schätze, ich darf auf eine Erklärung hoffen?“ „Sutcliff wollte wissen, warum ich ihn länger als Knox dabehalten habe und da ist mir auf die Schnelle kein anderer Grund eingefallen. Ich entschuldige mich für Ihre Umstände.“ Jetzt war Carina noch verwirrter als zuvor. „Schon in Ordnung, aber warum haben Sie ihm nicht einfach die Wahrheit gesagt?“ „Weil ich ihn tatsächlich länger dabehalten wollte, um ihn – wie er es ausgedrückt hat – weiter zu demütigen. Und dann hat er all diese Sachen gesagt und da konnte ich ihm nicht sagen, dass er Recht gehabt hatte.“ Genervt schob er sich die Brille erneut zurecht. „Dabei bin ich hier sicherlich der Letzte, der sich in irgendeiner Art und Weise für sein Verhalten rechtfertigen müsste.“ Die junge Mutter musste schwer an sich halten, um nicht die Augen zu verdrehen. Auf Williams selbstgerechtes Gehabe konnte sie nun gut und gerne verzichten. „Schön, wenn das alles war“, meinte sie und begann sie vom Stuhl zu erheben, „dann werde ich jetzt wieder gehen und-“ „Ich verstehe ihn einfach nicht“, fiel der Aufsichtsbeamte ihr mitten im Satz ins Wort und starrte sie nun beinahe energisch an. Carina blinzelte erneut. „Wie bitte?“, fragte sie verdutzt und setzte sich wieder hin. „Grell! Ich verstehe ihn einfach nicht“, wiederholte William und wirkte plötzlich frustriert. „Sein Verhalten, seine Worte mir gegenüber… ich habe keine Ahnung, was ich von all dem halten soll. Sie sind diejenige, die ihm am nächsten steht. Vielleicht können Sie es mir erklären.“ „Um Gottes Willen, das kann einfach nicht Ihr Ernst sein“, entfuhr es der Schnitterin, während sie ihn ein wenig aus der Fassung gebracht anstarrte. „Das können Sie mich gerade nicht ernsthaft gefragt haben.“ Der Schwarzhaarige räusperte sich einmal. „Nun… doch“, gab er schließlich als Antwort und Carina konnte nicht anders, sie klatschte sich eine Hand gegen die Stirn. „Ich kann nicht fassen, dass ich diejenige bin, die Ihnen das sagen muss“, murmelte sie und erhob sich jetzt ganz vom Stuhl, sodass der Aufsichtsbeamte zu ihr hoch schauen musste. „Er liebt Sie, William“, sagte sie ernst und beobachtete fasziniert, wie der Mann vor ihr beinahe genauso reagierte, wie Cedric es damals bei ihr getan hatte. Seine Augen wurden hinter den Brillengläsern nahezu gigantisch groß und sein Mund klappte leicht auf, obwohl er das Atmen scheinbar eingestellt hatte. „Ich kann’s nicht nachvollziehen, denn ganz offensichtlich sind Sie ein Idiot“, meinte sie trocken und ignorierte die Augen ihres Gegenübers, die sie nun böse anfunkelten. „Aber ich weiß am besten, dass man sich seine Gefühle nun einmal nicht aussuchen kann“, fuhr sie seufzend fort und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wollen Sie einen Rat von mir? Reden Sie mit ihm! Aber ich schwöre Ihnen eins: Wenn Sie ihn in irgendeiner Form verletzen, dann werde ich Ihnen wehtun! Und das ist keine leere Drohung.“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und blieb erst wieder stehen, als sie die Bürotür erreicht hatte. Ihr Aussehen veränderte sich erneut und während sie den Schlüssel im Schloss wieder herumdrehte, wandte sie ihren Kopf noch ein letztes Mal in die Richtung Ihres alten bzw. neuen Vorgesetzten zurück. „Einen schönen Tag noch“, lauteten ihre Abschiedsworte und schloss im nächsten Moment bereits die Tür hinter sich. William starrte, wie bereits den Tag zuvor, noch mehrere Minuten die Tür an und wiederholte in seinem Kopf noch einmal die Worte, die er im Zusammenhang mit Carina schon häufiger gedacht hatte. Sie war genauso unverschämt wie ihr Mentor… Kapitel 89: Das Nachspiel ------------------------- Carina bekam noch in dem Moment, als sie Williams Bürotür hinter sich schloss, ein schlechtes Gewissen. „Scheiße“, schoss es ihr durch den Kopf, während sie den langen, schmalen Gang entlangschritt, „das hätte ich nicht tun dürfen!“ Sie hatte William erzählt, was Grell für ihn empfand. Sie hatte William tatsächlich erzählt, was Grell für ihn empfand! „Fuck“, fluchte sie und fing sich dafür ein paar irritierte Blicke der Todesgötter um sich herum ein, was ihr in diesem Moment aber wirklich komplett egal war. Wenn Grell das jemals erfahren sollte, würde er sie dafür lynchen. Natürlich, er hatte auch schon zu Cedric gesagt, dass sie ihn liebte, aber das war nachdem sie es ihm als allererstes gesagt hatte. „Wie soll er es schon herausfinden?“, flüsterte eine kleine Stimme in ihrem Kopf. „William wird es ihm ja wohl kaum unter die Nase reiben, dieser Gefühlslegastheniker.“ Der Gedanke beruhigte Carina irgendwie, aber es gefiel ihr trotz alledem überhaupt nicht, ihrem besten Freund diesbezüglich nicht die Wahrheit zu sagen. Aber als William ihr klar gemacht hatte, dass er das Offensichtliche – das, was wirklich jeder außer ihm wusste – nicht sah, da hatte Carina einfach nicht anders gekonnt, als ihm reinen Wein einzuschenken. Dieser Mann wäre vermutlich nicht einmal von selbst darauf gekommen, wenn man es ihm auf die Stirn geschrieben hätte. Ehrlich, wie konnte man nur so blind sein? „Nun ja, um fair zu sein, Cedric hätte wahrscheinlich auch noch bedeutend länger gebraucht, wenn ich es ihm nicht gesagt hätte“, dachte sie und öffnete die Tür, um das Hauptgebäude des Dispatchs wieder zu verlassen. Cedric… Er würde sicherlich alles andere als gute Laune haben, wenn sie gleich nach Hause kommen würde. Nicht, dass sie es nicht nachvollziehen konnte. Auch ihr war es in den ersten Minuten nach ihrem Gehen schwer gefallen, das ziehende Pochen zwischen ihren Schenkeln zu ignorieren. Wobei sie sich darüber im Klaren war, dass es für Männer sicherlich noch eine ganze Ecke unangenehmer war ihren Körper wieder unter Kontrolle zu bekommen. „Tja, das hätte er sich vorher überlegen sollen. Bevor er mich geschlagen hat“, flüsterte sie. Carina wusste, dass sich dieser Satz eher danach anhörte, als hätte er ihre eine Ohrfeige verpasst, aber nie im Leben würden ihr die Worte „versohlen“ oder – noch schlimmer – „übers Knie legen“ oder – am allerschlimmsten! – „gezüchtigt“ über die Lippen kommen. Konzentriert schloss sie die Augen und befand sich bereits wenige Sekunden später wieder in London. Ein genervter Seufzer entfuhr ihren Lippen, als sie sogleich von dem leichten Nieselregen erfasst wurde, der momentan über der englischen Hauptstadt niederging. „Na super“, murmelte sie, während ihre Schritte sogleich größer und schneller wurden. Als sie 5 Minuten später das Bestattungsinstitut erreichte, war sie zwar nicht komplett durchnässt, aber ihre Kleidung fühlte sich kalt und klamm auf ihrer Haut an. Allerdings war dieses Gefühl sofort vergessen, als sie die Tür öffnete und Grell auf einem der Särge sitzen sah. Der Shinigami trug Lily auf dem Arm und das Baby war anscheinend ganz fasziniert von seinen langen roten Strähnen, die vor ihrem Kopf hin und her baumelten, als sich der Rothaarige halb über sie beugte. „Grell“, meinte Carina überrascht und schloss die Tür hinter sich, „was machst du denn hier? Hattest du nicht noch Aufträge zu erledigen?“ „Hab ich schon gemacht“, stöhnte Grell und ließ einmal seinen Nacken knacken. „Hab mich extra beeilt, damit ich ein wenig Zeit hier verbringen kann, bevor mich William direkt zur nächsten Schicht verdonnert.“ „Das verstehe ich“, antwortete sie und hoffte, dass Grell das Zucken in ihrer Mimik nicht gesehen hatte, als er Williams Namen erwähnt hatte. „Und? Wie war dein Gespräch mit William?“ „Och, wie soll es schon gewesen sein?“, erwiderte sie ganz beiläufig und nahm ihrem besten Freund das kleine Mädchen ab, das ein wenig mit den Beinchen strampelte. Etwas, was sie erst seit wenigen Tagen tat, aber Carina war es sofort aufgefallen. Lily entwickelte sich wirklich schnell und die 19-Jährige wusste, dass es sicherlich gefühlt gar nicht lange dauern würde, bis sie ihrer Tochter hinterherlaufen musste, wenn diese durch das Institut krabbelte. Gott, sie mussten diesen Ort hier dringend kindersicher machen… „Was wollte er denn?“ „Eigentlich nur noch einmal alles wiederholen, was wir bereits besprochen hatten. Um auf Nummer Sicher zu gehen, dass wir uns auch richtig verstehen.“ Carina hasste es ihn anzulügen, aber das war wirklich nur zu seinem eigenen Besten. Grell sah ohnehin schon komplett niedergeschlagen aus wegen der ganzen Sache. Wenn er jetzt auch noch wüsste, was sie William über ihn erzählt hatte, dann würde er sich nur unnötig aufregen. Wobei sie wirklich hoffte, dass der Begriff „unnötig“ hier zutraf… „Typisch Will“, seufzte Grell und besah sich seine frisch lackierten Fingernägel. „Sag mal, wo ist eigentlich-“ „Undy?“, unterbrach er sie und als Carina nickte, fuhr er sogleich fort. „Als ich hier ankam, war er ziemlich mies gelaunt.“ Er warf ihr einen bedeutenden Blick zu, der beim besten Willen nicht falsch zu verstehen war. „Ich war nicht sonderlich verwundert darüber, nur mal so nebenbei bemerkt. Aber bevor ich auch nur ein Wort sagen konnte, meinte er und ich zitiere an dieser Stelle: Pass bitte auf Lily auf, ich muss zum Trainingsplatz. Und falls Carina sich traut, kann sie ja gerne nachkommen oder es auch lassen.“ „Oh ha“, meinte die Schnitterin und kämpfte mit widersprüchlichen Gefühlen. Einerseits fragte sie sich, ob sie es vielleicht dieses Mal doch ein wenig zu weit getrieben hatte – bzw. nicht getrieben, darum ging es ja. Doch andererseits zuckten ihre Mundwinkel und sie konnte sich nur schwerlich ein zufriedenes Grinsen verkneifen. Wenn Cedric sich nach ihrer Aktion erst einmal abreagieren musste, dann hatte sie scheinbar genau das erreicht, was sie auch hatte erreichen wollen. Sie war immerhin auch den ganzen Tag und auch den darauffolgenden mit Wut im Bauch herumgelaufen, bis sie sich die Rache für ihn ausgedacht hatte. „Ich hab dir gesagt, dass das noch ein Nachspiel haben wird“, meinte Grell, woraufhin die Blondine jedoch lediglich mit den Schultern zuckte. „Na und? Wäre ja nicht das erste Mal. Aber soll ich dir mal was verraten, Grell? Das ist genau das, was unsere Beziehung so spannend macht. Alles andere wäre doch langweilig.“ Sie grinste. „Daher werde ich seine Herausforderung auch annehmen. Also, falls du noch etwas Zeit hast und auf Lily aufpassen könntest, wäre das hervorragend. Wobei sie jetzt erst einmal ein paar Stunden schlafen wird, du hättest also ohnehin deine Ruhe.“ „Herausforderung? Welche Herausforderung?“, fragte Grell irritiert und Carina rollte mit den Augen. Mit den Fingern machte sie imaginäre Gänsefüßchen in die Luft. „Wenn ich mich traue? Also, wenn das keine Herausforderung war, dann weiß ich aber auch nicht.“ „Hast du mal darüber nachgedacht, dass es vielleicht genau das ist, was er will?“, erwiderte er trocken und das Grinsen auf ihrem Gesicht wurde breiter. „Aber ja. Es wird auf einen Kampf hinauslaufen, so viel ist klar. Aber ich habe ihn gestern ja noch darum gebeten, dass wir das öfters tun sollten. So werde ich stärker.“ „Ich halte das für keine gute Idee. Deine Verletzungen sind zwar schon verheilt, aber deine Rippen müssen doch noch wehtun.“ Die 19-Jährige griff sich reflexartig an die Seite. „Wehtun ist vielleicht zu viel gesagt… Sie sind noch ein wenig empfindlich“, gab sie zu und zuckte dann mit den Schultern. „Wenn es nicht mehr geht, dann höre ich auf. Versprochen.“ „Als ob ich dich von irgendetwas abhalten könnte“, seufzte Grell, grinste dann jedoch plötzlich breit und kniff seiner Schülerin ohne Vorwarnung in die Nase. „Seit du mit der Ausbildung fertig bist, wirst du von Tag zu Tag resistenter gegen Ratschläge und Befehle, du Frechdachs.“ „Sagt der Richtige“, lächelte sie zurück und zwinkerte einmal. „Wie oft hast du schon gegen die Regeln des Dispatchs verstoßen? Und damit meine ich lediglich die Verstöße, die vor meiner Zeit waren.“ „Ich stehe hier gerade nicht zur Diskussion“, gab der Rothaarige direkt ganz ungeniert von sich und zwinkerte nun ebenfalls einmal, woraufhin beide Todesgötter zu lachen anfingen. Es war einfach schön, dass sich – egal welcher Mist auch immer in ihrem Alltag passierte – die Freundschaft zwischen ihnen niemals änderte. „Ich habe mein Selbstbewusstsein einfach gefunden. Na ja, streng genommen hatte ich es die ganze Zeit, aber ich hab einfach nicht den Mund aufgekriegt.“ „Ja, das ist wohl wahr“, entgegnete Grell und hob theatralisch eine Hand an die Stirn. „Vorbei sind die Zeiten, in denen ich dir noch sagen konnte, wo es langgeht.“ „Würde ich so nicht sagen“, meinte sie, gab Grell das nun tief schlafende Baby zurück und begab sich anschließend wieder in Richtung Tür. „Wenn du gute Ratschläge gibst, dann werde ich die Letzte sein, die sie nicht befolgt.“ „Na, das ist ja endlich eine gute Aussage von… Moment mal, soll das etwa heißen, ich gebe auch schlechte Ratschläge???“ „Bis später, Grell“, lachte sie und schloss im nächsten Augenblick bereits die Tür hinter sich. Jedoch nicht schnell genug, um Grells aufgeplusterte Wangen und sein gut vernehmliches „Wie unhöflich“ zu verpassen. Carina landete lautlos auf einem der oberen Stämme eines Baumes und lauschte mit ihrem übersinnlichen Gehör in die vermeintliche Stille hinein. Sie blendete die Geräusche des Waldes komplett aus, ebenso wie das stetige, leise Plätschern des Nieselregens. Erst dann nahm sie die Laute wahr, die ihr genau verrieten, wo Cedric derzeit trainierte. Einzelne Schritte auf dem Waldboden. Das Surren seiner Sense. Ruhige, aber dennoch etwas beschleunigte Atemzüge. Und nicht zuletzt das lautere Rauschen der Blätter, die immer dann aufgewirbelt wurden, wenn er mit seiner Death Scythe ausholte und die Wucht seines Schlages die Bäume traf. „Wenigstens hat er nicht wieder angefangen Bäume abzuholzen…“ Ebenso lautlos, wie sie erschienen war, erhob Carina sich in eine stehende Position. Wenn sie Glück hatte, dann hatte der Bestatter durch sein Training bereits ein wenig seiner Ausdauer eingebüßt. Und vielleicht war auch seine Wut ein wenig geschrumpft. Wobei… „Wohl eher nicht“, dachte sie grinsend und erinnerte sich an seinen warnenden Gesichtsausdruck, als sie rückwärts durch die Tür gegangen war. Ihn fassungslos zu sehen war doch jedes Mal ein wahres Erlebnis. Sie konnte gar nicht genug davon bekommen, denn jemanden zu überraschen, der bereits mehrere Jahrhunderte auf dem Buckel hatte, war äußerst schwierig. Und der Undertaker stand noch mal eine Stufe darüber, so viel stand fest. Bedacht näherte sie sich der Geräuschkulisse, ging so nah dran wie sie konnte und hockte sich schließlich unbemerkt hinter ein paar Sträucher, um ihm zuzusehen. Der Regen hatte seine Kleidung ebenso durchnässt wie ihre, doch das schien den Todesgott überhaupt nicht zu stören. Um sich besser bewegen zu können, war er nicht in seiner ganzen Montur aus dem Institut gegangen. Stattdessen trug er lediglich seine enge, schwarze Lederhose, die altbekannten hohen Stiefel und ein weißes Hemd, dessen Ärmel er bis kurz vor die Ellbogen hochgekrempelt hatte. Der weiße Stoff klebte nass an seinem Oberkörper und ließ wirklich keinen Spielraum für Fantasie, was Carina verzückt zur Kenntnis nahm. Hey, sie war auch nur eine Frau und im Gegensatz zu vielen anderen hatte sie kein Problem damit zuzugeben, dass sie gerne sah, was ein Mann zu bieten hatte. Und wenn sie sich dann auch noch ins Gedächtnis rief, dass besagter Mann zu ihr gehörte, ihr gehörte, dann war das wie ein Feuerwerk, das in ihrem Körper losging. Angetan biss sie sich auf die Lippe. Der Bestatter spürte, wie die Muskeln in seinen Armen langsam schwerer wurden, als er erneut mit seiner Sense ausholte. Es war lange her, dass er sich gezielt verausgabt hatte, aber es tat unglaublich gut. Er hatte beinahe vergessen wie gut Sport gegen Stress half, wobei „Stress“ an dieser Stelle möglicherweise der falsche Begriff war. Druck traf es wohl eher. Carina sollte sich besser warm anziehen, denn wenn er das nächste Mal mit ihr allein sein würde- Seine Augen weiteten sich, als er unmittelbar hinter sich ein Geräusch vernahm. Reflexartig fuhr er herum und spürte in der nächsten Sekunde bereits einen brennenden Schmerz auf der Wange, als eine Klinge seine Haut hauchdünn streifte. Mit einem Satz nach hinten brachte er Abstand zwischen sich und seinen Gegenüber und staunte nicht schlecht, als er in Carinas grinsendes Gesicht sah. „Du hast nicht aufgepasst“, flötete sie zufrieden und besah sich das dünne Rinnsal Blut, das an seiner rechten Wangen herablief. Der Silberhaarige hingegen ignorierte die kleine Schnittwunde vollkommen, brauchte sogar ein paar Sekunden, um ihr überhaupt zu antworten. „Ich hab deine Aura gar nicht-“ „-wahrgenommen? Ich weiß“, unterbrach sie ihn gut gelaunt und lehnte sich auf den Griff ihres Katanas, das sie senkrecht im Boden versenkt hatte. „Auch ich lerne dazu. Es ist noch nicht ganz perfekt, aber wenn sogar du mich nicht bemerkt hast…“ „Ich war in Gedanken“, meinte er, nun eine Spur missmutiger, und schaute sie mit einem Blick an, der seine Laune ziemlich klar zum Ausdruck brachte. „Ach ja?“ Das Grinsen auf dem Gesicht der 19-Jährigen wurde breiter. „Worüber hast du denn nachgedacht? Wie du es mir heimzahlen kannst?“ „Was wollte William?“, erwiderte Cedric gereizt, um von der Tatsache abzulenken, dass Carina den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Was eigentlich unnötig war, da sie sich dessen bereits bewusst war. „Ehrliche Antwort? Er wollte gar nichts.“ Kurz berichtete sie dem Todesgott vom vorangegangen Gespräch. „Also hat er einfach behauptet, dass er mich sehen will, um vor Grell nicht zugeben zu müssen, dass er mit seiner Annahme richtig lag.“ Sie warf ihm einen provokanten Blick zu und fügte ganz süffisant hinzu: „Da kenne ich übrigens noch jemanden.“ „Lass es, Carina“, warnte er sie und schulterte in einer fließenden Bewegung seine Sense. „Du hast den Bogen für heute schon weit überspannt, mach es nicht noch schlimmer.“ „Du hattest es dir verdient“, wiederholte sie ihre Worte vom heutigen Morgen und gluckste leise, was ihr einen wütenden Blick seinerseits einbrachte. Sich keiner Schuld bewusst, hob sie fragend die Schultern. „Was denn? Sonst magst du es doch so, wenn ich lache, oder nicht?“ Cedric konnte nicht fassen, dass sie gerade irgendwie seine Eigenart annahm andere Leute in den Wahnsinn zu treiben. Etwas, was ihm selbst immer größtes Vergnügen bereitete. Und jetzt? Jetzt kotzte es ihn an! „Aber nicht, wenn das Ganze auf meine Kosten geht“, sagte er wider besseren Wissens und bekam natürlich sofort die Quittung. „Kommt dir das vielleicht bekannt vor?“ Er schnaubte. „Gut, ich gebe es zu. Ich habe dich unterschätzt. Trotzdem solltest du jetzt besser verschwinden oder zumindest den Mund halten. Du willst nicht, dass wir das hier ausdiskutieren, glaub mir.“ Der Regen wurde nun eine Spur stärker und ging vom Nieseln in einen mäßigen Sprühregen über. Carina spürte, dass er seine Worte ernst meinte, aber irgendwie… irgendwie reizte sie das nur noch mehr. Gott, sie liebt es einfach ihn zu ärgern. „Will ich nicht?“, fragte sie ganz unschuldig und konnte beinahe spüren, wie sich sein Geduldsfaden gefährlich spannte. Wenn sie ihn verärgern wollte, schön; das konnte er ebenso gut. Seine gelbgrünen Augen verdunkelten sich, als er sie nun ein weiteres Mal drohend ansah. Das hier war definitiv die letzte Chance, die er ihr gab. „Ich warne dich, Weib. Gieß weiter Öl ins Feuer und ich-“ „Weißt du, was mich wirklich brennend interessieren würde?“, unterbrach sie ihn ein weiteres Mal und ihm entging das Blitzen in ihren Augen nicht, das sich bei dem Wort Weib dort eingenistet hatte. „Hast du jetzt eigentlich selbst Hand angelegt oder…?“ Das reichte! Carina konnte gar nicht so schnell gucken, da stand der Silberhaarige bereits direkt vor ihr. Seine linke Hand, die die Sense über der Schulter hielt, bewegte sich und rein aus Reflex wich die 19-Jährige zurück, doch das war eigentlich gar nicht nötig. Der Todesgott warf seine Death Scythe lediglich wie ein lästiges Anhängsel beiseite und stieß noch im gleichen Moment in einer lässigen Bewegung ihr Katana mit seinem Fuß zur Seite. Carina hatte eine ganze Millisekunde, um ihn für seine Schnelligkeit zu bewundern, ehe er sie hart am Arm packte und nach vorne riss, direkt in einen groben Kuss hinein. Die junge Frau blinzelte einmal und öffnete protestierend den Mund, aber das spielte eher ihrem Gegenüber in die Karten. Ein Keuchen entwich ihr, als sich seine Zunge zwischen ihren Lippen hindurchschob und eine seiner Hände gleichzeitig in ihrem Nacken verschwand, um sie in der gleichen Position zu halten. Sein Körper drängte sie rückwärts und in der nächsten Sekunde kollidierte ihr Rücken unangenehm mit der harten Rinde eines der umstehenden Bäume. Der Bestatter ignorierte ihre Hände, die sich abwehrend gegen seinen Brustkorb drückten und schob stattdessen seine Mitte fest gegen ihre Hüfte, sodass sie seine Erektion trotz der Stoffschichten spüren könnte. Erst, als sie beide nach Luft schnappen mussten, löste er ihre Lippen voneinander, blieb jedoch weiterhin ganz dicht vor ihrem Gesicht. „Beantwortet das deine Frage?“, knurrte er und stieß erneut seine Hüften nach vorne gegen ihren Körper. „Durchaus“, keuchte sie und schob zum zweiten Mal ihre Hände gegen seine Brust. Er rührte sich keinen Millimeter. Sie schluckte. „Cedric, wir können nicht-“ „Was? Hier Sex haben?“, unterbrach er sie mit rauer Stimme, die ihr ganz automatisch eine Gänsehaut bescherte. „Ich habe dich gewarnt, Carina. Ich habe dir gesagt, dass du das nicht hier mit mir ausdiskutieren willst. Wer nicht hören will, muss eben fühlen.“ „Das nennst du ausdiskutieren?“, brachte sie erschrocken hervor, als ihr klar wurde, dass er es ernst meinte. Sie spürte, wie sich ihre Wangen abrupt röteten, als ihr das Blut in den Kopf schoss. Der Undertaker umfing ihr Kinn mit seinen Fingern und zwang ihren Kopf ein Stück weit nach oben, sodass sie ihn ansehen musste. Seine gelbgrünen Augen funkelten ihr dunkel entgegen. „Und jetzt halt verdammt nochmal einfach den Mund.“ Erneut pressten sich seine Lippen auf die ihren und seine Hände huschten zur Knopfleiste ihrer Hose, wo jeder einzelne präzise genau geöffnet wurde. Ehe sie sich versah spürte sie bereits, wie der Stoff an ihrer Hüfte an Halt verlor und ein wenig nach unten rutschte. Er zog sie weiter nach unten und sogleich fühlte sie den kalten Regen auf der nackten Haut ihrer Oberschenkel. Seine Küsse wanderten in ihren Nacken und hinterließen auf dem Weg dorthin eine brennende Spur, die die Schnitterin erneut aufkeuchen ließ. „Cedric“, versuchte sie es noch einmal, lehnte aber gleichzeitig ihren Kopf weiter nach hinten gegen den Baum, um ihm einen größeren Spielraum zu geben. „Was, wenn jemand kommt?“ „Hier ist weit und breit keine Menschenseele“, raunte er leise gegen ihren Hals und biss sanft in die weiche Haut. „Und selbst wenn, wäre es mir egal.“ „Mir aber nicht“, protestierte sie und bemerkte, wie die Röte sich nun bis in ihre Ohren ausbreitete. Erschrocken zog sie gleich darauf die Luft ein, als sich seine Zähne mit einem Mal deutlich fester in ihre Halsbeuge bohrten. Das Gefühl des Schmerzes wurde jedoch innerhalb weniger Sekunden vom Aufflammen der Lust zwischen ihren Schenkeln überdeckt, als seine eiskalten Finger den Weg unter ihren Slip fanden und sich auf ihre Weiblichkeit legten. Ein Schauer überlief ihren gesamten Körper. „Ich sagte doch, du sollst still sein“, befahl er ihr mit leiser Stimme und sie konnte das selbstzufriedene Lächeln auf seinen Lippen erahnen, als er noch im selben Moment mit zwei Fingern in sie eindrang und begann sie ungeduldig zu dehnen. Ihre heißen Wände schlossen sich sofort eng um ihn zusammen und die Hitze brannte auf seiner kalten Haut wie Feuer. Carina reagierte ganz instinktiv und schob ihm ihr Becken entgegen, wodurch ihr Rücken heftig an der Rinde des Baumes entlang rieb. Ein schmerzhaftes Zischen entfuhr ihr. „Verdammt, Cedric, so…ngh… geht das nicht“, beschwerte sie sich. Sie hatten ja noch nicht einmal richtig angefangen und die junge Mutter wollte sich gar nicht vorstellen, wie ihr Rücken morgen aussehen würde, wenn sie so weitermachten. „Ach nein?“, fragte er, nun in einem ebenso unschuldigen Ton wie sie zuvor und drang ohne Vorwarnung tiefer in sie, sodass sie ein Stöhnen nicht mehr unterdrücken konnte. „Gut, dann eben anders.“ Sie fiepte erschrocken auf, als sie urplötzlich den Halt des Baumes hinter sich verlor und gleichzeitig auch den Boden unter ihren Füßen nicht mehr spüren konnte. Dann krachte ihre Rückseite auf das nasse Gras und sie fand sich auf dem Waldboden wieder, ihn dicht über sich kniend. Schwer atmend starrte sie ihn. Sein Körper hielt den Regen größtenteils von ihr fern, sodass sie ihn jetzt klar und deutlich sehen konnte. Sein silbernes Haar hing dank der Nässe schwer von seinem Kopf herunter und streifte ihre Wangen, während sein weißes Hemd nun vollkommen durchnässt an ihm klebte und bereits kleine Wasserperlen absonderte, die wiederum auf ihrem eigenen Hemd landeten. Unnötig zu erwähnen, dass auch sie von Kopf bis Fuß klitschnass war. Zu Anfang hatte sie noch bemerkt, wie die Kälte langsam in ihre Knochen gekrochen war, aber davon konnte jetzt kaum noch die Rede sein. Statt der eigentlich unangenehmen Regennässe spürte sie nur noch Hitze unter ihrer Haut, als würde seine bloße Anwesenheit das Blut in ihrem Körper zum Kochen bringen. Er küsste sie erneut und dieses Mal streckte sie sich ihm entgegen und schlang die Arme um seinen Nacken. Seine langen, schwarzen Nägel kratzten leicht über ihre Haut, als er nach und nach ihre Bluse öffnete und sie anschließend lediglich ein wenig zur Seite wegschob, denn in dem nassen Zustand hätte es vermutlich eine halbe Ewigkeit gedauert das Kleidungsstück gänzlich auszuziehen. Ihr BH wurde ebenfalls in aller Schnelle nach oben geschoben und Carina stöhnte, als der Regen auf ihre Brustwarzen traf, die sich beinahe sofort aufrichteten und hart wurden. Der Todesgott beugte sich dichter über sie, strich mit seinen Lippen sanft über die Narbe auf ihrer Brust und wanderte dann langsam tiefer. Die 19-Jährige zuckte erschrocken zusammen, als sich seine Zähne und Finger kurz ein wenig fester um ihre ohnehin schon so empfindlichen Brustwarzen schlossen, doch im gleichen Moment fand seine verbliebene Hand wieder den Weg zwischen ihre Schenkel und berührte sie. Nicht sanft und auch nicht grob, aber voller Ungeduld. Ächzend fuhr sie mit ihren eigenen Fingern nach unten und ertastete nach kurzem Suchen den Verschluss seiner Hose, die ebenfalls fest an seinem Körper klebte. Mittlerweile geübt öffnete sie die Knöpfe und zog den Stoff darunter beiseite, um seine Erektion freizulegen. Er fühlte sich heiß in ihrer Handfläche an und unglaublich hart, pochend vor unterdrücktem Verlangen. Sie hörte ihn dicht an ihrem Herzen knurren und als er sich langsam aufrichtete – mit dieser Eleganz, wie nur er es konnte – fixierten sie wieder diese unglaublichen gelbgrünen Augen, die ihr durch die Dunkelheit des Unwetters entgegenleuchteten. Schwer atmend erwiderte sie seinen Blick, erlaubte sich darin zu versinken. Dann flüsterte sie seinen Namen und es gab kein Halten mehr. Der harte Boden unter ihr grub sich beinahe schmerzhaft in ihr Kreuz, als sein gesamtes Gewicht mit einem Mal auf ihr lastete. Sie strampelte die nun mehr als lästige Hose von ihren Waden herunter, während er ihren Slip in die gleiche Richtung schob und im Anschluss ihre Beine spreizte. Wie in Trance umschlang sie seine immer noch bekleidete Hüfte und zog ihn näher an sich heran, sodass sich seine Erektion gegen ihr Zentrum drückte. Seltsam, schoss es ihr einen Moment lang durch den Kopf. Gerade eben noch hatte sie sich gesorgt, dass sie vielleicht erwischt werden könnten und jetzt war es ihr auf einmal scheißeg- Ohne Vorwarnung drang er bis zum Anschlag in sie hinein, dehnte sie bis zur Schmerzgrenze und darüber hinaus und jegliche Gedanken verschwanden sofort restlos aus ihrem Kopf. Carina rang nach Luft und biss sich gleich darauf auf die Lippe, um einen Aufschrei zu unterdrücken, den vermutlich nicht einmal der Regen übertönt hätte. „Endlich“, knurrte Cedric ihr äußerst zufrieden entgegen und versenkte sich sogleich ein weiteres Mal tief in ihr; eine Hand fordernd an ihrer Hüfte, die andere neben ihrem Gesicht abgestützt. Carina stöhnte verlangend und schob ihm ihr Becken entgegen, doch der Silberhaarige ließ ihr dieses eine Mal keinen Freiraum für einen eigenen Rhythmus, was wahrscheinlich immer noch an seinem verletzten Stolz vom heutigen Morgen lag. Die Hand an ihrer Hüfte packte sie fester und mit einem etwas gröberen Stoß verwies er sie auf den Platz zurück, den er ihr in diesem Spiel zugewiesen hatte. Da war sie wieder – seine dominante Art, die sie gleichzeitig liebte und verfluchte. Ihre Finger suchten Halt in seinem Hemd, das nach wie vor nass und überaus durchsichtig an seiner Brust klebte und gleichzeitig schlossen sich ihre Augen vor Lust. Sie gab sich ihm hin. Stellte fest, dass es für sie im gegenwärtigen Augenblick in Ordnung war die Kontrolle an ihn abzutreten und ihm die Genugtuung zu geben, dass er mit ihr hier und jetzt machen konnte, was er wollte. Seine Lippen fanden erneut ihren Hals und saugten sich an der empfindsamen Haut fest, während er mit seinem Glied beinahe zur Gänze aus ihr herausglitt, nur um eine Sekunde später wieder mit seiner gesamten Länge zuzustoßen. Carina vergaß, wo sie sich befand und lehnte genießend den Kopf in den Nacken, um ihm mehr Bewegungsfreiheit zu geben. „Au, verflucht“, zischte sie, als der Boden sie sogleich daran erinnerte, dass sie hier nicht in einem weichen Bett lag. Der Mann über ihr lachte leise und streckte eine Sekunde später eine Hand nach besagter schmerzender Stelle aus. Zuerst strichen seine Finger sanft über die bereits anschwellende Beule, linderten kurzweilig das unangenehme Pochen in ihrem Schädel und Carina seufzte wohlig auf. Einen Moment später jedoch verfestigte sich sein Griff um ihre Haare und jetzt zischte die Schnitterin protestierend, als er ihren Kopf weiter nach oben zog und ihr Gesicht direkt vor seines brachte. Sein Mund glitt knapp an dem ihren vorbei, strich über ihre rechte Wange und legte sich dann an ihr Ohr. Eine Gänsehaut bildete sich auf ihrem gesamten Körper, als sie die sacht gehauchten Luftzüge gegen ihre Ohrmuschel spürte. „Du wirst so etwas nie wieder mit mir machen“, raunte er und Carina brauchte nicht viel Verstand, um zu wissen worauf er anspielte. Ihr Körper reagierte anders auf seine Drohung, als es jedes andere normale Wesen vermutlich getan hätte. Sie bekam keinen rasenden Puls und auch keine Todesangst. Stattdessen schossen seine Worte wie kleine Blitze zwischen ihre Schenkel. Automatisch zog sie sich enger um ihn zusammen und der stetige Atem an ihrem Ohr stockte einen Herzschlag lang. Der Griff um ihre Haare wurde fester und jetzt tauchten seine gelbgrünen Augen wieder in ihrem Blickfeld auf, durchdringend und dunkel. „Ich erwarte eine Antwort“, murmelte er und schob seine Hüfte träge vor, was bei der jungen Frau lediglich Ungeduld entfachte. Sie wollte dieses Spiel nicht länger spielen. Sie wollte kommen. Carina schaute ihn an und auch ihre blauen Augen nahmen nun einen leicht dunkleren Ton an, während sich ihr linker Mundwinkel anhob. Sie beugte sich in Richtung seines Mundes und ignorierte dabei das Brennen in ihren Haarwurzeln, da er sie immer noch fest gepackt hielt. „Mal sehen“, hauchte sie frech gegen seine Lippen und spürte gleich darauf ganz genau, wie er in ihr zuckte und weiter anschwoll. Auch er schien das Spielchen für heute satt zu haben. „Du bist unmöglich“, wisperte er, ehe er ihre Münder grob miteinander verschloss und ihren Kopf wieder losließ, um mit seiner Hand an ihre Hüfte zurückzukehren. „Und das ausgerechnet von dir“, flüsterte sie ebenso leise zurück, als er ihr kurz Luft zum Atmen gab. Sein nächster Stoß traf sie tief und genau im richtigen Winkel. Sie japste leise und kreuzte ihren Blick mit seinem – auch er atmete jetzt schwer. „Jetzt sei verdammt nochmal einfach still“, waren die letzten Worte, die er sagte und dieses Mal gehorchte Carina. Sie erwiderte den Kontakt ihrer beiden Lippen und stöhnte, als er sich von neuem in sie schob, ohne Rücksicht. Ihre Hände wanderten von seiner Brust zu den breiten Schultern und beinahe hilflos krallte sie sich dort fest, denn jetzt stand ihr ganzer Körper in Flammen. Sein Glied schob sich in sie, immer und immer wieder. Das Klatschen nasser Haut an Haut halte durch die Stille des Waldes, doch das nahmen beide Todesgötter bereits gar nicht mehr wahr. Stattdessen packte der Bestatter die Frau unter sich schließlich am Hintern und hob ihren unteren Rücken an, dichter an seinen Unterleib heran, während die Intensität seiner Stöße zu keinem Zeitpunkt abnahm. Carina stöhnte vor Begierde und dass Cedric es ihr gleichtat, verstärkte die geballte Erregung nur noch, die zwischen ihren Schenkeln pochte. Fast unbewusst glitt ihre rechte Hand nach unten und legte sich auf ihren Lustpunkt, rieb ihn mit beinahe lästiger Ungeduld. Sofort konnte sie sehen, dass ihm ihre Bewegung nicht verborgen geblieben war. Doch entgegen ihrer Annahme hielt er sie nicht davon ab, sondern beschleunigte stattdessen sein Tempo, scheinbar genauso ungeduldig wie sie selbst. Sein Blick fiel zum wiederholten Mal auf ihr Gesicht und als er sie daraufhin küsste, verspürte Carina für einen kurzen Moment die gleichen Gefühle wie damals, als er sie zum allerersten Mal geküsst hatte. Unter Wasser, direkt nach dem Untergang der Campania. Ihr Kopf war ebenso wie damals komplett leer gefegt. Keine Gedanken an Samael oder das große Chaos, in dem sie momentan steckten. Da gab es nur sie und Cedric und dieses Gefühl, das nur er ihr geben konnte. Der Orgasmus traf sie vollkommen unerwartet und ohne vorherige Ankündigung. Ihr hohes Keuchen wurde von seinem Mund eingefangen, ebenso wie ihr zitternder Körper, der immer noch von seinem bedeckt wurde. Auch Cedric stöhnte in den Kuss hinein, da sich ihre Weiblichkeit eng um ihn legte und der Druck in seinen Lenden nun wirklich schmerzlich unangenehm wurde. Schwer nach Atem ringend ließ Carina ihren Kopf zu Boden sinken und schaute mit heftig bebendem Brustkorb dabei zu, wie der Todesgott sich weiter in ihr versenkte. Sie hätte ihm ewig dabei zusehen können… Mit staubtrockener Kehle krächzte sie seinen Namen, sah seine daraufhin kleiner werdenden Pupillen und spürte noch im selben Moment seine Erektion heftig in sich pulsieren. Der Silberhaarige vergrub seinen Kopf in ihrer Schulterbeuge und knurrte mehr als befriedigt, als er endlich seinen eigenen Höhepunkt erreichte und sich tief in ihrem Schoß ergoss. Ein zufriedenes Seufzen entfuhr ihm, als der unerträgliche Druck von ihm abfiel und er wieder klar denken konnte. Schon öfters hatte er gedacht, dass Carina ihn eines Tages um seinen Verstand bringen würde und das war vermutlich nicht einmal weit hergeholt, wenn er jetzt genauer darüber nachdachte. Auch Carinas Gedanken klärten sich langsam wieder. Nach und nach nahm sie wieder den prasselnden Regen auf ihrem Körper wahr, die dadurch verursachte Kälte und die unglaublichen Rückenschmerzen, die sie dem harten Boden verdankte und die sich sogar noch bis zu ihrer Kehrseite hinunterzogen. „Fertig mit ausdiskutieren?“, fragte sie müde und versuchte das Bild zu verdrängen, dass sie beide hier gerade abgeben mussten. Halbnackt mitten im Wald, vollkommen durchnässt und aufeinander liegend. Ein leises Lachen erklang dicht an ihrem Hals und dann spürte sie sanfte Küsse an eben jener Stelle. „Vorerst“, murmelte er und stemmte sich mit beiden Armen so weit hoch, dass er mit einem trägen Grinsen auf sie hinabsehen konnte. Sie verdrehte die Augen. „In dieser Hinsicht bist du genauso einfach gestrickt wie jeder andere Mann auch“, murrte sie und zuckte im nächsten Augenblick zusammen, als er sich aus ihr zurückzog und ein kurzweiliges Gefühl der Leere hinterließ. „Kaum hast du das bekommen was du willst, schon bist du direkt in Hochstimmung.“ „Das hat damit nichts zu tun“, kicherte er und half ihr langsam auf die Beine. „Ich bin immer in Hochstimmung, nachdem wir das getan haben.“ Sein Grinsen wurde breiter, als sich ihre Wangen infolgedessen leicht röteten. „Spinner“, murmelte sie und zog sich ihre Kleidung wieder zurecht, was durch den vollkommen nassen Stoff aber überhaupt nicht einfach war. Dem Undertaker blieb es nicht verborgen, dass ihr Körper unter der anhaltenden Kälte anfing zu zittern. Auch ihm war mittlerweile recht kühl zumute. „Komm“, meinte er und schloss den letzten Knopf seiner Hose, „lass uns nach Hause gehen. Auch unsere Spezies kann sich unterkühlen, wenn wir es übertreiben.“ „Ja“, antwortete sie und lächelte, als sie seine ausgestreckte Hand ergriff, „gehen wir nach Hause.“ „Wie seht ihr beiden denn aus?“, stieß Grell hervor und starrte die Todesgötter, die wie zwei begossene Pudel vor ihm standen, mit großen Augen an. „Undy, was ist mit deiner Wange passiert? Und Carina, warum sind auf deiner Bluse überall Grasflecken? Und die wohl wichtigste Frage: Warum seid ihr beide patschnass?“ „Es hat geregnet“, beantwortete Carina mit einem schiefen Lächeln lediglich seine letzte Frage, doch natürlich ließ der Rothaarige sich so leicht nicht ablenken. „Lasst mich raten. Ihr habt wieder gegeneinander gekämpft und euch dabei nichts geschenkt, richtig?“ Carina und Cedric wechselten einen raschen Blick miteinander und sagten synchron und wie in einem Atemzug: „Richtig.“ „Wusste ich es doch“, meinte Grell und schaute seine Schülerin tadelnd an. „Ich hab dir ja gesagt, dass das passieren wird. Sag mir bitte wenigstens, dass es deinen Rippen gut geht.“ „Es geht meinen Rippen hervorragend, Grell, keine Sorge“, beruhigte sie ihn und das war die Wahrheit. Ihre Rippen taten ihr tatsächlich nicht weg. Lediglich der ganze Rest ihres Körpers. „Und? Wie war das Training?“ „Och“, erwiderte der Undertaker und konnte sich ein schelmisches Grinsen nicht verkneifen. „Sehr erfolgreich, so viel steht fest.“ Die Blondine warf ihm einen warnenden Blick zu, den Grell allerdings übersah. „Das sehe ich. Du hast ihn geschnitten, Carina. Sehr gut gemacht.“ „Dankeschön“, antwortete sie süffisant und grinste nun ebenfalls, als sie an Cedrics fassungslosen Gesichtsausdruck zurückdachte. Ehe der Vater ihrer Tochter jedoch einen weiteren zweideutigen Kommentar von sich geben konnte, wechselte sie abrupt das Thema. „Ist alles gut gewesen mit Lily?“ „Ja, sie hat die ganze Zeit geschlafen, wie du gesagt hast.“ „Sehr schön. Danke Grell, dass du auf sie aufgepasst hast. Ich weiß gar nicht, was ich-“ „Ohne dich machen würde“, vollendete der Reaper lachend ihren Satz und zwinkerte einmal. „Weiß ich doch, weiß ich doch. Und was wäre ich denn für ein Patenonkel, wenn ich mich nicht um jede Minute mit der süßen Kleinen reißen würde?“ Die Eltern des besagten Mädchens lachten nun beide, während Grell einen raschen Blick auf seine Uhr warf und seufzte. „Tja, alles Schöne geht mal vorbei. Ich muss leider los, die nächste Schicht ruft. Ich denke, morgen werde ich es nicht schaffen vorbeizukommen, aber übermorgen sollte gehen.“ „Alles klar. Vielleicht können wir ja dann schon mal besprechen, ab wann ich wieder mitkomme und dir ein wenig unter die Arme greife, was meinst du?“ „Das wäre großartig“, stöhnte Grell erleichtert auf und zog seine beste Freundin in eine erdrückende Umarmung, die ihr deutlich vor Augen führte, dass der Arme vollkommen überarbeitet war. „Wir sehen uns.“ „Ja, mach’s gut“, erwiderte sie und sah Grell hinterher, wie er die Tür des Bestattungsinstitutes leise hinter sich schloss. „Das wird langsam gruselig mit deinem Mutterinstinkt, weißt du?“, sagte der Bestatter hinter ihr plötzlich und setzte sich auf einen seiner selbstgemachten Särge, seine langen Beine übereinandergeschlagen. Carina drehte sich um und hob eine Augenbraue. „Glaub mir, in 15 Jahren wirst du über diesen Instinkt mehr als froh sein.“ „Oh, das bin ich jetzt schon“, entgegnete er grinsend. „Das wird es mit Sicherheit einfacher machen, die Kinder im Griff zu behalten.“ Er stutzte, als sich Carinas Augen auf einmal merklich weiteten. „Was ist?“, fragte er verwirrt und sah die junge Frau langsam schlucken. „Du… hast gerade Kinder gesagt“, meinte sie und ihre eigene Verwirrung war klar und deutlich zu hören. „Kinder. Die Mehrzahl von Kind.“ „Ja. Und?“, fragte er, immer noch so verwirrt wie vor 5 Sekunden. „Ich meine… wir haben nie darüber gesprochen… aber“, stammelte sie und kam sich dabei reichlich dämlich vor. „Also… ich hätte nicht gedacht, dass du vielleicht…“ Bei ihm fiel der Groschen. Er sprang vom Sarg herunter und zog sie an den Hüften zu sich heran, ein leichtes Lächeln auf den Lippen. „Dass ich vielleicht noch mehr Kinder will?“ Sie nickte und schaute mit einer wagen Hoffnung zu ihm hinauf. „Willst du?“, fragte sie vorsichtig nach, weil sie die Antwort auf diese Frage tatsächlich nicht kannte. „Ich will ehrlich zu dir sein. Ich habe mich in meinem Leben nie als Vater gesehen. Weder vor Vincent, noch vor Lily“, begann er und legte ihr eine Hand an die Wange. „Aber ich habe es beide Male nicht bereut, das ist die pure Wahrheit. Und mit dir kann ich mir alles vorstellen, Carina. Außerdem“, er zuckte mit beiden Schultern, „ich war nie ein Fan von Einzelkindern.“ Sie lächelte gerührt. „Ich auch nicht“, gab sie zu. „Ich habe mir immer ein Geschwisterchen gewünscht. Und… das würde ich mir für Lily auch wünschen. Natürlich nicht jetzt, aber irgendwann schon.“ Ihr Gesicht rötete sich verlegen und dennoch brach das Lächeln auf ihren Lippen keine Sekunde lang ab. „Gut“, meinte er leise und drückte ihr einen innigen Kuss auf den Mund, den sie sofort erwiderte. Aus ihr unerfindlichen Gründen pochte ihr Herz plötzlich ganz schnell in ihrer Brust. Bilder tauchten plötzlich in ihrem Kopf auf. Wie er ihren Babybauch streichelte. Wie er die Nabelschnur durchschnitt. Wie er ihr gemeinsames Zweitgeborenes nach der Geburt im Arm hielt. Und sie spürte es ganz deutlich. Diese Vorstellungen machten sie glücklicher, als irgendetwas sonst auf dieser Welt. „Was meinst du?“, murmelte sie und gab ihm einen weiteren Kuss auf die Lippen. „Sollen wir uns ein Bad einlassen und schon mal mit Üben anfangen?“ „Das musst du mir nicht zweimal sagen“, raunte er grinsend gegen ihren Mund, hob sie mit einer einfachen Armbewegung hoch und trug sie die Treppe nach oben. Carina konnte sich ein Kichern nicht verkneifen, als er mit ihr ins Badezimmer ging und sie gerade noch Zeit hatte die Tür hinter ihnen beiden zu schließen. Denn eines stand fest, so schnell würden sie erst einmal nicht wieder dort herauskommen… Kapitel 90: Das Nachspiel *zensiert* ------------------------------------ Carina bekam noch in dem Moment, als sie Williams Bürotür hinter sich schloss, ein schlechtes Gewissen. „Scheiße“, schoss es ihr durch den Kopf, während sie den langen, schmalen Gang entlangschritt, „das hätte ich nicht tun dürfen!“ Sie hatte William erzählt, was Grell für ihn empfand. Sie hatte William tatsächlich erzählt, was Grell für ihn empfand! „Fuck“, fluchte sie und fing sich dafür ein paar irritierte Blicke der Todesgötter um sich herum ein, was ihr in diesem Moment aber wirklich komplett egal war. Wenn Grell das jemals erfahren sollte, würde er sie dafür lynchen. Natürlich, er hatte auch schon zu Cedric gesagt, dass sie ihn liebte, aber das war nachdem sie es ihm als allererstes gesagt hatte. „Wie soll er es schon herausfinden?“, flüsterte eine kleine Stimme in ihrem Kopf. „William wird es ihm ja wohl kaum unter die Nase reiben, dieser Gefühlslegastheniker.“ Der Gedanke beruhigte Carina irgendwie, aber es gefiel ihr trotz alledem überhaupt nicht, ihrem besten Freund diesbezüglich nicht die Wahrheit zu sagen. Aber als William ihr klar gemacht hatte, dass er das Offensichtliche – das, was wirklich jeder außer ihm wusste – nicht sah, da hatte Carina einfach nicht anders gekonnt, als ihm reinen Wein einzuschenken. Dieser Mann wäre vermutlich nicht einmal von selbst darauf gekommen, wenn man es ihm auf die Stirn geschrieben hätte. Ehrlich, wie konnte man nur so blind sein? „Nun ja, um fair zu sein, Cedric hätte wahrscheinlich auch noch bedeutend länger gebraucht, wenn ich es ihm nicht gesagt hätte“, dachte sie und öffnete die Tür, um das Hauptgebäude des Dispatchs wieder zu verlassen. Cedric… Er würde sicherlich alles andere als gute Laune haben, wenn sie gleich nach Hause kommen würde. Nicht, dass sie es nicht nachvollziehen konnte. Auch ihr war es in den ersten Minuten nach ihrem Gehen schwer gefallen, das ziehende Pochen zwischen ihren Schenkeln zu ignorieren. Wobei sie sich darüber im Klaren war, dass es für Männer sicherlich noch eine ganze Ecke unangenehmer war ihren Körper wieder unter Kontrolle zu bekommen. „Tja, das hätte er sich vorher überlegen sollen. Bevor er mich geschlagen hat“, flüsterte sie. Carina wusste, dass sich dieser Satz eher danach anhörte, als hätte er ihre eine Ohrfeige verpasst, aber nie im Leben würden ihr die Worte „versohlen“ oder – noch schlimmer – „übers Knie legen“ oder – am allerschlimmsten! – „gezüchtigt“ über die Lippen kommen. Konzentriert schloss sie die Augen und befand sich bereits wenige Sekunden später wieder in London. Ein genervter Seufzer entfuhr ihren Lippen, als sie sogleich von dem leichten Nieselregen erfasst wurde, der momentan über der englischen Hauptstadt niederging. „Na super“, murmelte sie, während ihre Schritte sogleich größer und schneller wurden. Als sie 5 Minuten später das Bestattungsinstitut erreichte, war sie zwar nicht komplett durchnässt, aber ihre Kleidung fühlte sich kalt und klamm auf ihrer Haut an. Allerdings war dieses Gefühl sofort vergessen, als sie die Tür öffnete und Grell auf einem der Särge sitzen sah. Der Shinigami trug Lily auf dem Arm und das Baby war anscheinend ganz fasziniert von seinen langen roten Strähnen, die vor ihrem Kopf hin und her baumelten, als sich der Rothaarige halb über sie beugte. „Grell“, meinte Carina überrascht und schloss die Tür hinter sich, „was machst du denn hier? Hattest du nicht noch Aufträge zu erledigen?“ „Hab ich schon gemacht“, stöhnte Grell und ließ einmal seinen Nacken knacken. „Hab mich extra beeilt, damit ich ein wenig Zeit hier verbringen kann, bevor mich William direkt zur nächsten Schicht verdonnert.“ „Das verstehe ich“, antwortete sie und hoffte, dass Grell das Zucken in ihrer Mimik nicht gesehen hatte, als er Williams Namen erwähnt hatte. „Und? Wie war dein Gespräch mit William?“ „Och, wie soll es schon gewesen sein?“, erwiderte sie ganz beiläufig und nahm ihrem besten Freund das kleine Mädchen ab, das ein wenig mit den Beinchen strampelte. Etwas, was sie erst seit wenigen Tagen tat, aber Carina war es sofort aufgefallen. Lily entwickelte sich wirklich schnell und die 19-Jährige wusste, dass es sicherlich gefühlt gar nicht lange dauern würde, bis sie ihrer Tochter hinterherlaufen musste, wenn diese durch das Institut krabbelte. Gott, sie mussten diesen Ort hier dringend kindersicher machen… „Was wollte er denn?“ „Eigentlich nur noch einmal alles wiederholen, was wir bereits besprochen hatten. Um auf Nummer Sicher zu gehen, dass wir uns auch richtig verstehen.“ Carina hasste es ihn anzulügen, aber das war wirklich nur zu seinem eigenen Besten. Grell sah ohnehin schon komplett niedergeschlagen aus wegen der ganzen Sache. Wenn er jetzt auch noch wüsste, was sie William über ihn erzählt hatte, dann würde er sich nur unnötig aufregen. Wobei sie wirklich hoffte, dass der Begriff „unnötig“ hier zutraf… „Typisch Will“, seufzte Grell und besah sich seine frisch lackierten Fingernägel. „Sag mal, wo ist eigentlich-“ „Undy?“, unterbrach er sie und als Carina nickte, fuhr er sogleich fort. „Als ich hier ankam, war er ziemlich mies gelaunt.“ Er warf ihr einen bedeutenden Blick zu, der beim besten Willen nicht falsch zu verstehen war. „Ich war nicht sonderlich verwundert darüber, nur mal so nebenbei bemerkt. Aber bevor ich auch nur ein Wort sagen konnte, meinte er und ich zitiere an dieser Stelle: Pass bitte auf Lily auf, ich muss zum Trainingsplatz. Und falls Carina sich traut, kann sie ja gerne nachkommen oder es auch lassen.“ „Oh ha“, meinte die Schnitterin und kämpfte mit widersprüchlichen Gefühlen. Einerseits fragte sie sich, ob sie es vielleicht dieses Mal doch ein wenig zu weit getrieben hatte – bzw. nicht getrieben, darum ging es ja. Doch andererseits zuckten ihre Mundwinkel und sie konnte sich nur schwerlich ein zufriedenes Grinsen verkneifen. Wenn Cedric sich nach ihrer Aktion erst einmal abreagieren musste, dann hatte sie scheinbar genau das erreicht, was sie auch hatte erreichen wollen. Sie war immerhin auch den ganzen Tag und auch den darauffolgenden mit Wut im Bauch herumgelaufen, bis sie sich die Rache für ihn ausgedacht hatte. „Ich hab dir gesagt, dass das noch ein Nachspiel haben wird“, meinte Grell, woraufhin die Blondine jedoch lediglich mit den Schultern zuckte. „Na und? Wäre ja nicht das erste Mal. Aber soll ich dir mal was verraten, Grell? Das ist genau das, was unsere Beziehung so spannend macht. Alles andere wäre doch langweilig.“ Sie grinste. „Daher werde ich seine Herausforderung auch annehmen. Also, falls du noch etwas Zeit hast und auf Lily aufpassen könntest, wäre das hervorragend. Wobei sie jetzt erst einmal ein paar Stunden schlafen wird, du hättest also ohnehin deine Ruhe.“ „Herausforderung? Welche Herausforderung?“, fragte Grell irritiert und Carina rollte mit den Augen. Mit den Fingern machte sie imaginäre Gänsefüßchen in die Luft. „Wenn ich mich traue? Also, wenn das keine Herausforderung war, dann weiß ich aber auch nicht.“ „Hast du mal darüber nachgedacht, dass es vielleicht genau das ist, was er will?“, erwiderte er trocken und das Grinsen auf ihrem Gesicht wurde breiter. „Aber ja. Es wird auf einen Kampf hinauslaufen, so viel ist klar. Aber ich habe ihn gestern ja noch darum gebeten, dass wir das öfters tun sollten. So werde ich stärker.“ „Ich halte das für keine gute Idee. Deine Verletzungen sind zwar schon verheilt, aber deine Rippen müssen doch noch wehtun.“ Die 19-Jährige griff sich reflexartig an die Seite. „Wehtun ist vielleicht zu viel gesagt… Sie sind noch ein wenig empfindlich“, gab sie zu und zuckte dann mit den Schultern. „Wenn es nicht mehr geht, dann höre ich auf. Versprochen.“ „Als ob ich dich von irgendetwas abhalten könnte“, seufzte Grell, grinste dann jedoch plötzlich breit und kniff seiner Schülerin ohne Vorwarnung in die Nase. „Seit du mit der Ausbildung fertig bist, wirst du von Tag zu Tag resistenter gegen Ratschläge und Befehle, du Frechdachs.“ „Sagt der Richtige“, lächelte sie zurück und zwinkerte einmal. „Wie oft hast du schon gegen die Regeln des Dispatchs verstoßen? Und damit meine ich lediglich die Verstöße, die vor meiner Zeit waren.“ „Ich stehe hier gerade nicht zur Diskussion“, gab der Rothaarige direkt ganz ungeniert von sich und zwinkerte nun ebenfalls einmal, woraufhin beide Todesgötter zu lachen anfingen. Es war einfach schön, dass sich – egal welcher Mist auch immer in ihrem Alltag passierte – die Freundschaft zwischen ihnen niemals änderte. „Ich habe mein Selbstbewusstsein einfach gefunden. Na ja, streng genommen hatte ich es die ganze Zeit, aber ich hab einfach nicht den Mund aufgekriegt.“ „Ja, das ist wohl wahr“, entgegnete Grell und hob theatralisch eine Hand an die Stirn. „Vorbei sind die Zeiten, in denen ich dir noch sagen konnte, wo es langgeht.“ „Würde ich so nicht sagen“, meinte sie, gab Grell das nun tief schlafende Baby zurück und begab sich anschließend wieder in Richtung Tür. „Wenn du gute Ratschläge gibst, dann werde ich die Letzte sein, die sie nicht befolgt.“ „Na, das ist ja endlich eine gute Aussage von… Moment mal, soll das etwa heißen, ich gebe auch schlechte Ratschläge???“ „Bis später, Grell“, lachte sie und schloss im nächsten Augenblick bereits die Tür hinter sich. Jedoch nicht schnell genug, um Grells aufgeplusterte Wangen und sein gut vernehmliches „Wie unhöflich“ zu verpassen. Carina landete lautlos auf einem der oberen Stämme eines Baumes und lauschte mit ihrem übersinnlichen Gehör in die vermeintliche Stille hinein. Sie blendete die Geräusche des Waldes komplett aus, ebenso wie das stetige, leise Plätschern des Nieselregens. Erst dann nahm sie die Laute wahr, die ihr genau verrieten, wo Cedric derzeit trainierte. Einzelne Schritte auf dem Waldboden. Das Surren seiner Sense. Ruhige, aber dennoch etwas beschleunigte Atemzüge. Und nicht zuletzt das lautere Rauschen der Blätter, die immer dann aufgewirbelt wurden, wenn er mit seiner Death Scythe ausholte und die Wucht seines Schlages die Bäume traf. „Wenigstens hat er nicht wieder angefangen Bäume abzuholzen…“ Ebenso lautlos, wie sie erschienen war, erhob Carina sich in eine stehende Position. Wenn sie Glück hatte, dann hatte der Bestatter durch sein Training bereits ein wenig seiner Ausdauer eingebüßt. Und vielleicht war auch seine Wut ein wenig geschrumpft. Wobei… „Wohl eher nicht“, dachte sie grinsend und erinnerte sich an seinen warnenden Gesichtsausdruck, als sie rückwärts durch die Tür gegangen war. Ihn fassungslos zu sehen war doch jedes Mal ein wahres Erlebnis. Sie konnte gar nicht genug davon bekommen, denn jemanden zu überraschen, der bereits mehrere Jahrhunderte auf dem Buckel hatte, war äußerst schwierig. Und der Undertaker stand noch mal eine Stufe darüber, so viel stand fest. Bedacht näherte sie sich der Geräuschkulisse, ging so nah dran wie sie konnte und hockte sich schließlich unbemerkt hinter ein paar Sträucher, um ihm zuzusehen. Der Regen hatte seine Kleidung ebenso durchnässt wie ihre, doch das schien den Todesgott überhaupt nicht zu stören. Um sich besser bewegen zu können, war er nicht in seiner ganzen Montur aus dem Institut gegangen. Stattdessen trug er lediglich seine enge, schwarze Lederhose, die altbekannten hohen Stiefel und ein weißes Hemd, dessen Ärmel er bis kurz vor die Ellbogen hochgekrempelt hatte. Der weiße Stoff klebte nass an seinem Oberkörper und ließ wirklich keinen Spielraum für Fantasie, was Carina verzückt zur Kenntnis nahm. Hey, sie war auch nur eine Frau und im Gegensatz zu vielen anderen hatte sie kein Problem damit zuzugeben, dass sie gerne sah, was ein Mann zu bieten hatte. Und wenn sie sich dann auch noch ins Gedächtnis rief, dass besagter Mann zu ihr gehörte, ihr gehörte, dann war das wie ein Feuerwerk, das in ihrem Körper losging. Angetan biss sie sich auf die Lippe. Der Bestatter spürte, wie die Muskeln in seinen Armen langsam schwerer wurden, als er erneut mit seiner Sense ausholte. Es war lange her, dass er sich gezielt verausgabt hatte, aber es tat unglaublich gut. Er hatte beinahe vergessen wie gut Sport gegen Stress half, wobei „Stress“ an dieser Stelle möglicherweise der falsche Begriff war. Druck traf es wohl eher. Carina sollte sich besser warm anziehen, denn wenn er das nächste Mal mit ihr allein sein würde- Seine Augen weiteten sich, als er unmittelbar hinter sich ein Geräusch vernahm. Reflexartig fuhr er herum und spürte in der nächsten Sekunde bereits einen brennenden Schmerz auf der Wange, als eine Klinge seine Haut hauchdünn streifte. Mit einem Satz nach hinten brachte er Abstand zwischen sich und seinen Gegenüber und staunte nicht schlecht, als er in Carinas grinsendes Gesicht sah. „Du hast nicht aufgepasst“, flötete sie zufrieden und besah sich das dünne Rinnsal Blut, das an seiner rechten Wangen herablief. Der Silberhaarige hingegen ignorierte die kleine Schnittwunde vollkommen, brauchte sogar ein paar Sekunden, um ihr überhaupt zu antworten. „Ich hab deine Aura gar nicht-“ „-wahrgenommen? Ich weiß“, unterbrach sie ihn gut gelaunt und lehnte sich auf den Griff ihres Katanas, das sie senkrecht im Boden versenkt hatte. „Auch ich lerne dazu. Es ist noch nicht ganz perfekt, aber wenn sogar du mich nicht bemerkt hast…“ „Ich war in Gedanken“, meinte er, nun eine Spur missmutiger, und schaute sie mit einem Blick an, der seine Laune ziemlich klar zum Ausdruck brachte. „Ach ja?“ Das Grinsen auf dem Gesicht der 19-Jährigen wurde breiter. „Worüber hast du denn nachgedacht? Wie du es mir heimzahlen kannst?“ „Was wollte William?“, erwiderte Cedric gereizt, um von der Tatsache abzulenken, dass Carina den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Was eigentlich unnötig war, da sie sich dessen bereits bewusst war. „Ehrliche Antwort? Er wollte gar nichts.“ Kurz berichtete sie dem Todesgott vom vorangegangen Gespräch. „Also hat er einfach behauptet, dass er mich sehen will, um vor Grell nicht zugeben zu müssen, dass er mit seiner Annahme richtig lag.“ Sie warf ihm einen provokanten Blick zu und fügte ganz süffisant hinzu: „Da kenne ich übrigens noch jemanden.“ „Lass es, Carina“, warnte er sie und schulterte in einer fließenden Bewegung seine Sense. „Du hast den Bogen für heute schon weit überspannt, mach es nicht noch schlimmer.“ „Du hattest es dir verdient“, wiederholte sie ihre Worte vom heutigen Morgen und gluckste leise, was ihr einen wütenden Blick seinerseits einbrachte. Sich keiner Schuld bewusst, hob sie fragend die Schultern. „Was denn? Sonst magst du es doch so, wenn ich lache, oder nicht?“ Cedric konnte nicht fassen, dass sie gerade irgendwie seine Eigenart annahm andere Leute in den Wahnsinn zu treiben. Etwas, was ihm selbst immer größtes Vergnügen bereitete. Und jetzt? Jetzt kotzte es ihn an! „Aber nicht, wenn das Ganze auf meine Kosten geht“, sagte er wider besseren Wissens und bekam natürlich sofort die Quittung. „Kommt dir das vielleicht bekannt vor?“ Er schnaubte. „Gut, ich gebe es zu. Ich habe dich unterschätzt. Trotzdem solltest du jetzt besser verschwinden oder zumindest den Mund halten. Du willst nicht, dass wir das hier ausdiskutieren, glaub mir.“ Der Regen wurde nun eine Spur stärker und ging vom Nieseln in einen mäßigen Sprühregen über. Carina spürte, dass er seine Worte ernst meinte, aber irgendwie… irgendwie reizte sie das nur noch mehr. Gott, sie liebt es einfach ihn zu ärgern. „Will ich nicht?“, fragte sie ganz unschuldig und konnte beinahe spüren, wie sich sein Geduldsfaden gefährlich spannte. Wenn sie ihn verärgern wollte, schön; das konnte er ebenso gut. Seine gelbgrünen Augen verdunkelten sich, als er sie nun ein weiteres Mal drohend ansah. Das hier war definitiv die letzte Chance, die er ihr gab. „Ich warne dich, Weib. Gieß weiter Öl ins Feuer und ich-“ „Weißt du, was mich wirklich brennend interessieren würde?“, unterbrach sie ihn ein weiteres Mal und ihm entging das Blitzen in ihren Augen nicht, das sich bei dem Wort Weib dort eingenistet hatte. „Hast du jetzt eigentlich selbst Hand angelegt oder…?“ Das reichte! Carina konnte gar nicht so schnell gucken, da stand der Silberhaarige bereits direkt vor ihr. Seine linke Hand, die die Sense über der Schulter hielt, bewegte sich und rein aus Reflex wich die 19-Jährige zurück, doch das war eigentlich gar nicht nötig. Der Todesgott warf seine Death Scythe lediglich wie ein lästiges Anhängsel beiseite und stieß noch im gleichen Moment in einer lässigen Bewegung ihr Katana mit seinem Fuß zur Seite. Carina hatte eine ganze Millisekunde, um ihn für seine Schnelligkeit zu bewundern, ehe er sie hart am Arm packte und nach vorne riss, direkt in einen groben Kuss hinein. Die junge Frau blinzelte einmal und öffnete protestierend den Mund, aber das spielte eher ihrem Gegenüber in die Karten. Ein Keuchen entwich ihr, als sich seine Zunge zwischen ihren Lippen hindurchschob und eine seiner Hände gleichzeitig in ihrem Nacken verschwand, um sie in der gleichen Position zu halten. Sein Körper drängte sie rückwärts und in der nächsten Sekunde kollidierte ihr Rücken unangenehm mit der harten Rinde eines der umstehenden Bäume. Der Bestatter ignorierte ihre Hände, die sich abwehrend gegen seinen Brustkorb drückten und schob stattdessen seine Mitte fest gegen ihre Hüfte, sodass sie seine Erektion trotz der Stoffschichten spüren könnte. Erst, als sie beide nach Luft schnappen mussten, löste er ihre Lippen voneinander, blieb jedoch weiterhin ganz dicht vor ihrem Gesicht. „Beantwortet das deine Frage?“, knurrte er und stieß erneut seine Hüften nach vorne gegen ihren Körper. „Durchaus“, keuchte sie und schob zum zweiten Mal ihre Hände gegen seine Brust. Er rührte sich keinen Millimeter. Sie schluckte. „Cedric, wir können nicht-“ „Was? Hier Sex haben?“, unterbrach er sie mit rauer Stimme, die ihr ganz automatisch eine Gänsehaut bescherte. „Ich habe dich gewarnt, Carina. Ich habe dir gesagt, dass du das nicht hier mit mir ausdiskutieren willst. Wer nicht hören will, muss eben fühlen.“ „Das nennst du ausdiskutieren?“, brachte sie erschrocken hervor, als ihr klar wurde, dass er es ernst meinte. Sie spürte, wie sich ihre Wangen abrupt röteten, als ihr das Blut in den Kopf schoss. Der Undertaker umfing ihr Kinn mit seinen Fingern und zwang ihren Kopf ein Stück weit nach oben, sodass sie ihn ansehen musste. Seine gelbgrünen Augen funkelten ihr dunkel entgegen. „Und jetzt halt verdammt nochmal einfach den Mund.“ [...] Ein zufriedenes Seufzen entfuhr ihm, als der unerträgliche Druck von ihm abfiel und er wieder klar denken konnte. Schon öfters hatte er gedacht, dass Carina ihn eines Tages um seinen Verstand bringen würde und das war vermutlich nicht einmal weit hergeholt, wenn er jetzt genauer darüber nachdachte. Auch Carinas Gedanken klärten sich langsam wieder. Nach und nach nahm sie wieder den prasselnden Regen auf ihrem Körper wahr, die dadurch verursachte Kälte und die unglaublichen Rückenschmerzen, die sie dem harten Boden verdankte und die sich sogar noch bis zu ihrer Kehrseite hinunterzogen. „Fertig mit ausdiskutieren?“, fragte sie müde und versuchte das Bild zu verdrängen, dass sie beide hier gerade abgeben mussten. Halbnackt mitten im Wald, vollkommen durchnässt und aufeinander liegend. Ein leises Lachen erklang dicht an ihrem Hals und dann spürte sie sanfte Küsse an eben jener Stelle. „Vorerst“, murmelte er und stemmte sich mit beiden Armen so weit hoch, dass er mit einem trägen Grinsen auf sie hinabsehen konnte. Sie verdrehte die Augen. „In dieser Hinsicht bist du genauso einfach gestrickt wie jeder andere Mann auch“, murrte sie und zuckte im nächsten Augenblick zusammen, als er sich aus ihr zurückzog und ein kurzweiliges Gefühl der Leere hinterließ. „Kaum hast du das bekommen was du willst, schon bist du direkt in Hochstimmung.“ „Das hat damit nichts zu tun“, kicherte er und half ihr langsam auf die Beine. „Ich bin immer in Hochstimmung, nachdem wir das getan haben.“ Sein Grinsen wurde breiter, als sich ihre Wangen infolgedessen leicht röteten. „Spinner“, murmelte sie und zog sich ihre Kleidung wieder zurecht, was durch den vollkommen nassen Stoff aber überhaupt nicht einfach war. Dem Undertaker blieb es nicht verborgen, dass ihr Körper unter der anhaltenden Kälte anfing zu zittern. Auch ihm war mittlerweile recht kühl zumute. „Komm“, meinte er und schloss den letzten Knopf seiner Hose, „lass uns nach Hause gehen. Auch unsere Spezies kann sich unterkühlen, wenn wir es übertreiben.“ „Ja“, antwortete sie und lächelte, als sie seine ausgestreckte Hand ergriff, „gehen wir nach Hause.“ „Wie seht ihr beiden denn aus?“, stieß Grell hervor und starrte die Todesgötter, die wie zwei begossene Pudel vor ihm standen, mit großen Augen an. „Undy, was ist mit deiner Wange passiert? Und Carina, warum sind auf deiner Bluse überall Grasflecken? Und die wohl wichtigste Frage: Warum seid ihr beide patschnass?“ „Es hat geregnet“, beantwortete Carina mit einem schiefen Lächeln lediglich seine letzte Frage, doch natürlich ließ der Rothaarige sich so leicht nicht ablenken. „Lasst mich raten. Ihr habt wieder gegeneinander gekämpft und euch dabei nichts geschenkt, richtig?“ Carina und Cedric wechselten einen raschen Blick miteinander und sagten synchron und wie in einem Atemzug: „Richtig.“ „Wusste ich es doch“, meinte Grell und schaute seine Schülerin tadelnd an. „Ich hab dir ja gesagt, dass das passieren wird. Sag mir bitte wenigstens, dass es deinen Rippen gut geht.“ „Es geht meinen Rippen hervorragend, Grell, keine Sorge“, beruhigte sie ihn und das war die Wahrheit. Ihre Rippen taten ihr tatsächlich nicht weg. Lediglich der ganze Rest ihres Körpers. „Und? Wie war das Training?“ „Och“, erwiderte der Undertaker und konnte sich ein schelmisches Grinsen nicht verkneifen. „Sehr erfolgreich, so viel steht fest.“ Die Blondine warf ihm einen warnenden Blick zu, den Grell allerdings übersah. „Das sehe ich. Du hast ihn geschnitten, Carina. Sehr gut gemacht.“ „Dankeschön“, antwortete sie süffisant und grinste nun ebenfalls, als sie an Cedrics fassungslosen Gesichtsausdruck zurückdachte. Ehe der Vater ihrer Tochter jedoch einen weiteren zweideutigen Kommentar von sich geben konnte, wechselte sie abrupt das Thema. „Ist alles gut gewesen mit Lily?“ „Ja, sie hat die ganze Zeit geschlafen, wie du gesagt hast.“ „Sehr schön. Danke Grell, dass du auf sie aufgepasst hast. Ich weiß gar nicht, was ich-“ „Ohne dich machen würde“, vollendete der Reaper lachend ihren Satz und zwinkerte einmal. „Weiß ich doch, weiß ich doch. Und was wäre ich denn für ein Patenonkel, wenn ich mich nicht um jede Minute mit der süßen Kleinen reißen würde?“ Die Eltern des besagten Mädchens lachten nun beide, während Grell einen raschen Blick auf seine Uhr warf und seufzte. „Tja, alles Schöne geht mal vorbei. Ich muss leider los, die nächste Schicht ruft. Ich denke, morgen werde ich es nicht schaffen vorbeizukommen, aber übermorgen sollte gehen.“ „Alles klar. Vielleicht können wir ja dann schon mal besprechen, ab wann ich wieder mitkomme und dir ein wenig unter die Arme greife, was meinst du?“ „Das wäre großartig“, stöhnte Grell erleichtert auf und zog seine beste Freundin in eine erdrückende Umarmung, die ihr deutlich vor Augen führte, dass der Arme vollkommen überarbeitet war. „Wir sehen uns.“ „Ja, mach’s gut“, erwiderte sie und sah Grell hinterher, wie er die Tür des Bestattungsinstitutes leise hinter sich schloss. „Das wird langsam gruselig mit deinem Mutterinstinkt, weißt du?“, sagte der Bestatter hinter ihr plötzlich und setzte sich auf einen seiner selbstgemachten Särge, seine langen Beine übereinandergeschlagen. Carina drehte sich um und hob eine Augenbraue. „Glaub mir, in 15 Jahren wirst du über diesen Instinkt mehr als froh sein.“ „Oh, das bin ich jetzt schon“, entgegnete er grinsend. „Das wird es mit Sicherheit einfacher machen, die Kinder im Griff zu behalten.“ Er stutzte, als sich Carinas Augen auf einmal merklich weiteten. „Was ist?“, fragte er verwirrt und sah die junge Frau langsam schlucken. „Du… hast gerade Kinder gesagt“, meinte sie und ihre eigene Verwirrung war klar und deutlich zu hören. „Kinder. Die Mehrzahl von Kind.“ „Ja. Und?“, fragte er, immer noch so verwirrt wie vor 5 Sekunden. „Ich meine… wir haben nie darüber gesprochen… aber“, stammelte sie und kam sich dabei reichlich dämlich vor. „Also… ich hätte nicht gedacht, dass du vielleicht…“ Bei ihm fiel der Groschen. Er sprang vom Sarg herunter und zog sie an den Hüften zu sich heran, ein leichtes Lächeln auf den Lippen. „Dass ich vielleicht noch mehr Kinder will?“ Sie nickte und schaute mit einer wagen Hoffnung zu ihm hinauf. „Willst du?“, fragte sie vorsichtig nach, weil sie die Antwort auf diese Frage tatsächlich nicht kannte. „Ich will ehrlich zu dir sein. Ich habe mich in meinem Leben nie als Vater gesehen. Weder vor Vincent, noch vor Lily“, begann er und legte ihr eine Hand an die Wange. „Aber ich habe es beide Male nicht bereut, das ist die pure Wahrheit. Und mit dir kann ich mir alles vorstellen, Carina. Außerdem“, er zuckte mit beiden Schultern, „ich war nie ein Fan von Einzelkindern.“ Sie lächelte gerührt. „Ich auch nicht“, gab sie zu. „Ich habe mir immer ein Geschwisterchen gewünscht. Und… das würde ich mir für Lily auch wünschen. Natürlich nicht jetzt, aber irgendwann schon.“ Ihr Gesicht rötete sich verlegen und dennoch brach das Lächeln auf ihren Lippen keine Sekunde lang ab. „Gut“, meinte er leise und drückte ihr einen innigen Kuss auf den Mund, den sie sofort erwiderte. Aus ihr unerfindlichen Gründen pochte ihr Herz plötzlich ganz schnell in ihrer Brust. Bilder tauchten plötzlich in ihrem Kopf auf. Wie er ihren Babybauch streichelte. Wie er die Nabelschnur durchschnitt. Wie er ihr gemeinsames Zweitgeborenes nach der Geburt im Arm hielt. Und sie spürte es ganz deutlich. Diese Vorstellungen machten sie glücklicher, als irgendetwas sonst auf dieser Welt. „Was meinst du?“, murmelte sie und gab ihm einen weiteren Kuss auf die Lippen. „Sollen wir uns ein Bad einlassen und schon mal mit Üben anfangen?“ „Das musst du mir nicht zweimal sagen“, raunte er grinsend gegen ihren Mund, hob sie mit einer einfachen Armbewegung hoch und trug sie die Treppe nach oben. Carina konnte sich ein Kichern nicht verkneifen, als er mit ihr ins Badezimmer ging und sie gerade noch Zeit hatte die Tür hinter ihnen beiden zu schließen. Denn eines stand fest, so schnell würden sie erst einmal nicht wieder dort herauskommen… Kapitel 91: Da, wo es wehtut ---------------------------- Als Carina am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie sich das erste Mal – ihren Selbstmord mal ausgenommen – mehr tot als lebendig. Bleierne Müdigkeit machte ihr die Augenlider schwer und sie hatte wirkliche Schwierigkeiten wach zu bleiben, während sie die Spiegeleier für das Frühstück in der Pfanne wendete. Noch schlimmer war allerdings das Ziehen in jedem Muskel ihres Körpers und das wunde Gefühl zwischen ihren Oberschenkeln. „Beides kein Wunder nach dem gestrigen Tag“, dachte sie und schlug ein neues Ei am Rand der Pfanne auf. „Ich habe es ja quasi drauf angelegt.“ Nach dem – doch recht heftigen – Sex auf dem harten Boden des Waldes, hätte sie eigentlich einen Schlussstrich ziehen müssen. Stattdessen hatten Cedric und sie ihr Liebesspiel in der Badewanne fortgesetzt und obwohl das warme Wasser dabei eine wahre Wohltat gewesen war, hatte sie doch bereits an dieser Stelle schon die ersten Anzeichen ermüdeter Muskeln verspürt. Aber selbst da hatte die 19-Jährige die eindeutigen Signale ignoriert, die ihr ihr Körper gesendet hatte. Wider besseren Wissens war auch nach dem warmen Bad noch nicht Schluss gewesen. Sie hatten sich gegenseitig abgetrocknet und was sollte Carina sagen? Es hatte seine Wirkung definitiv nicht verfehlt… „Aller guten Dinge sind eben doch nicht drei“, murmelte sie und erinnerte sich an die langsamen, zärtlichen Bewegungen zurück, mit der er sie gestern Abend in ihrem gemeinsamen Bett genommen hatte. Wenn jemand sie fragen würde, sie wüsste nicht, was sie lieber mochte. Den unbändigen und oft doch mehr harten Sex mit ihm? Oder doch eher, wenn er sich in Geduld übte und sich Zeit für jede einzelne Stelle ihres Körpers nahm? „Keine Ahnung, aber eins steht fest. Er treibt mich mit beiden Varianten in den Wahnsinn.“ Und das durchaus im positiven Sinne… „Wenn du dein Spiegelei nicht schwarz magst, dann solltest du es jetzt vielleicht wenden“, ertönte eine Stimme direkt hinter ihr und riss die Schnitterin abrupt aus ihrer erneuten Müdigkeitstrance heraus. Erschrocken schaute sie nach unten und bemerkte sogleich den krustigen, braunen Rand, der sich bereits rund um das Ei gebildet hatte. Schnell befolgte sie seinen Ratschlag und seufzte anschließend ein erschöpftes Danke. Er drückte einen Kuss auf ihren Scheitel und an ihrer Kopfhaut konnte sie sein Grinsen spüren. „Erschöpft?“, fragte er mehr als zufrieden nach und Carina drehte den Kopf, um ihm einen genervten Blick zuzuwerfen. „Dir auch einen guten Morgen“, murmelte sie anstelle einer Antwort und verfrachtete das Spiegelei ohne Hinzusehen auf ihren Teller, der direkt neben der Pfanne stand. „Willst du auch?“ Er nickte, woraufhin sie ein zweites Ei aufschlug. „Irgendetwas geplant für heute?“, fragte sie 5 Minuten später, als sie beide am Frühstückstisch saßen. „Nicht viel, bis auf eine Beerdigung heute Nachmittag“, antwortete er und nahm einen Schluck Tee. Er bedachte sie mit einem ernsten Blick. „Ich überlege, dich und Lily mitzunehmen. Mir gefällt der Gedanke nicht, euch beide hier allein zu lassen.“ Die Schnitterin verdrehte die Augen. „Jetzt übertreib mal nicht. Der Friedhof ist nicht weit von hier entfernt, du kannst jederzeit meine Energiesignatur spüren. Sollte etwas passieren, wärst du bei deiner Geschwindigkeit innerhalb von vielleicht 3 Minuten hier. Und solange würde ich auch allein überleben, keine Sorge.“ Er hielt den Blickkontakt noch weitere 10 Sekunden aufrecht, ehe er schließlich nachgab. „In Ordnung.“ Zufrieden nickte sie und schob sich den letzten Rest ihres Frühstücks in den Mund. Jetzt, wo sie genauer darüber nachdachte, beunruhigte es sie, dass sie seit dem Vorfall mit Charlie nichts mehr von dem ehemaligen Erzengel gehört hatten. Natürlich, sie war nicht scharf darauf, dass er wieder irgendetwas versuchte, aber diese Ungewissheit und dieser vorgetäuschte Zustand des Friedens waren viel schlimmer. Jede Sekunde konnte er erneut zuschlagen und sie konnten momentan nichts weiter tun außer darauf zu warten. Hoffentlich würden sie bald einen Weg finden ihn aufzuspüren. Oder vielleicht würde ja auch er das Versteckspiel endlich satt haben und zum offenen Kampf übergehen. Alles war jedenfalls besser, als dieser momentane Zustand der Untätigkeit… „Und du?“ Cedrics Frage riss sie kurzzeitig aus ihren Gedanken, doch dann schüttelte sie leicht den Kopf. „Bis auf ein paar Hausarbeiten eigentlich nichts.“ „Genieß es. Morgen wolltest du doch mit Grell besprechen, wie du wieder mit in die Arbeit einsteigst. Und sobald du einmal wieder damit angefangen hast, wird William sicherlich nicht sehr zugänglich sein, wenn es um Urlaub geht.“ Carina schnaubte. „Als hätte er eine großartige Wahl. Und als würde ich ihn vorher fragen. Aber natürlich würde dieser Idiot sowas direkt mitbekommen, im Gegensatz zu allen anderen Sachen außerhalb seiner Arbeit…“ Cedric runzelte die Stirn. „Wovon sprichst du?“ Die 19-Jährige zögerte einen Moment, dann seufzte sie schwer. „William hat zu mir gesagt, dass er Grell nicht versteht und ob ich ihm nicht dabei helfen könnte. Und irgendwie… ach, ich weiß auch nicht. Es hat mich einfach wütend gemacht und da-“ „-war dein Mund wieder schneller als dein Kopf“, vollendete der Bestatter ihren Satz und gluckste leise, als er ihre betroffene Miene sah. „Was kannst du schon so Schlimmes gesagt haben?“ „Ich hab ihm gesagt, dass Grell ihn liebt“, gab sie voller Schuldgefühle zu und biss sich auf die Unterlippe. Der Silberhaarige schaute sie an und Carina konnte sogleich sehen, dass er das Problem an der Sache nicht verstand. „Und? Es stimmt doch“, sagte er und bestätigte damit ihre Vermutung. „Natürlich stimmt das, aber darum geht es auch nicht. Wie glaubst du denn hätte ich reagiert, wenn ich erfahre, dass Grell zu dir gegangen wäre und dir von meinen Gefühlen für dich erzählt hätte, bevor ich es hätte selbst tun können?“ „Vermutlich nicht besonders gut“, antwortete er, jetzt scheinbar doch ein wenig verständnisvoller. Sie schnaubte. „Von wegen. Nicht besonders gut ist die Untertreibung des Jahrhunderts. Ich wäre richtig sauer gewesen. Zu Recht.“ Sie warf die Arme in die Luft. „Und jetzt mal die Gegenfrage: Wie hättest du dich gefühlt, wenn du es von Grell und nicht von mir erfahren hättest?“ „Wahrscheinlich genauso, wie ich mich auch gefühlt habe, als du es mir entgegen geschrien hast. Wie der letzte Vollidiot.“ Er gluckste und selbst Carina konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Mach dir keine allzu großen Sorgen. Du hast es ja nur gut gemeint.“ Er ergriff ihre Hand und streichelte sanft über ihren Handrücken. Sie erwiderte den angenehmen Druck seiner Finger und seufzte. Erneut. „Ich bezweifele, dass Grell das genauso sehen würde. Warum kann ich auch nie meine Klappe halten?“ „Glaub mir, das frage ich mich schon länger“, grinste er und lachte, als er ihren gespielt beleidigten Blick sah. „Lass mich dir eine Weisheit mitteilen, die ich im Laufe meines langen Lebens gelernt habe. Rege dich nie über Sachen auf, die du nicht mehr ändern kannst.“ „Wie den Tod zum Beispiel?“, gab sie süffisant zurück, woraufhin jetzt der Bestatter derjenige war, der einen Seufzer ausstieß. „Das werde ich mir wohl in 100 Jahren auch noch anhören dürfen, was?“ „Worauf du dich verlassen kannst“, grinste sie und erhob sich vom Stuhl, um den Tisch abzuräumen. „Und du bist dir sicher, dass du nicht mitkommen willst?“ „Cedric, die Diskussion hatten wir heute Morgen schon. Ich komme klar“, erwiderte Carina genervt und schaute dem Silberhaarigen dabei zu, wie er die Schaufel schulterte. „Außerdem bin ich jetzt nicht so ein Fan von Beerdigungen. Ich bezweifele sogar, dass außer dir überhaupt irgendwer gerne zu Beerdigungen geht.“ „Hehe, da könnte was dran sein~“, amüsierte er sich und wollte gerade erneut zum Sprechen ansetzen, als die Türklingel ihn unterbrach. Beide Todesgötter wandten sich um und entdeckten eine junge Frau, die den Raum nur halb betreten hatte, scheinbar komplett verunsichert. Doch im Gegensatz zum Undertaker, erkannte Carina sie. „Emma“, stieß sie überrascht hervor und beobachtete Angesprochene dabei, wie sie nervös an ihren rotbraunen Haaren herumnästelte. Bei dem Namen schien auch Cedric zu begreifen wer die fremde Frau war. Er warf Carina einen kurzen Blick zu, den die Schnitterin jedoch nur am Rande bemerkte, denn ihr eigenes Augenmerk lag weiterhin fest auf der Schwangeren. „H-hallo“, stammelte sie und beäugte den silberhaarigen Bestatter, dessen Anblick sie scheinbar noch mehr verunsicherte. Kein Wunder, dachte Carina. Cedric wirkte auf Fremde meist einschüchternd. Und Emma wirkte auf sie jetzt auch nicht wie eine Frau, die vor Selbstbewusstsein nur so strotzte. „Komm doch rein“, meinte die Blondine freundlich und warf dem Mann neben sich einen eindeutigen Blick zu. Geh, ich regel das. Er nickte einmal und schob sich stillschweigend an der werdenden Mutter vorbei, die nun ein wenig weiter in das Institut eingetreten war. Emma zuckte kurz zusammen, als hinter ihr die Tür zuging, fand jetzt aber ihre Stimme wieder. „Was das dein Ehemann?“, fragte sie interessiert nach und Carina nickte. „Ja“, antwortete sie, weil die Wahrheit einfach viel zu kompliziert war. Und es ihr irgendwie gar nichts mehr ausmachte als seine Frau gesehen zu werden. „Und… du fühlst dich hier wirklich wohl?“, fragte Emma zweifelnd und schaute dabei ganz gezielt auf die Särge, die den Raum an allen Ecken und Enden zierten. Die 19-Jährige gluckste. „Es ist nicht so schlimm, wie es auf den ersten Blick aussieht, glaub mir.“ Sie sprach aus Erfahrung, denn als sie das allererste Mal einen Fuß hier reingesetzt hatte – oder eher rein gestolpert war – hatte sie sich auch äußerst unwohl gefühlt. „Aber ehrlich gesagt wundert es mich dich hier zu sehen. Nach unserer letzten Begegnung hatte ich nicht wirklich den Eindruck, dass du mich jemals wieder sehen wolltest. Und das zu Recht, so viel sei gesagt.“ Emmas graue Augen nahmen einen weichen Zug an. „Du hast Charlie das Leben gerettet, das habe ich nicht vergessen“, murmelte sie. „Und auch, wenn du der Grund gewesen bist, warum dieser… dieser Dämon ihn überhaupt besessen hat, dann ist es trotzdem nicht deine Schuld, weil du das alles niemals gewollt hast. Oder?“ „Nein“, erwiderte Carina und schluckte schwer. „Nein, das wollte ich alles nicht.“ „Dann… dann habe ich auch keinen Grund wütend auf dich zu sein.“ Ein Lächeln bildete sich auf den Lippen beider Frauen und der Todesgöttin fiel ein Stein vom Herzen. Die Schuldgefühle waren die ganze Zeit über da gewesen, auch, wenn sie versucht hatte sie in den letzten Winkel ihres Gedächtnisses zu schieben. Jetzt fühlte sie sich jedenfalls schlagartig besser. „Wollen wir uns in die Küche setzen? Ich kann Tee aufsetzen.“ „Gerne“, sagte Emma und folgte der Deutschen in den angrenzenden Raum, wo sie sich sogleich auf einem der Stühle niederließ. Hier fühlte sie doch bereits erheblich wohler als im Empfangsraum. Keiner der beiden sprach, bis zwei dampfende Teetassen auf dem Tisch standen und Carina sich nun selbst hinsetzte. Es war keine unangenehme Stille, aber eine gewisse Anspannung lag dennoch in der Luft. Die Shinigami war diejenige, die die Stille schließlich brach. „Wie geht es Charlie?“ Emma nahm einen Schluck des fruchtig schmeckenden Heißgetränks. „Besser“, sagte sie schließlich, nachdem sie die Tasse wieder abgesetzt hatte. „Er ist immer noch nicht ganz der Alte und… na ja… noch etwas verschlossen, aber es geht bergauf. Nächste Woche wollte er vielleicht schon wieder anfangen zu arbeiten.“ „Kein Wunder, solch eine Sache vergisst man nicht. Hat er denn wenigstens einen Beruf, der körperlich nicht ganz so fordernd ist? Sein Blut hat sich inzwischen zwar nachgebildet, aber er sollte es ja nicht gleich übertreiben, oder?“ Die Brünette nickte. „Er ist Arzt. Kinderarzt, um genau zu sein. Das ist zwar auch kein unanstrengender Beruf, aber er kann auch in seinem Büro arbeiten, falls es ihm am Anfang noch zu viel sein sollte.“ Carina lächelte unwillkürlich. „Ein Kinderarzt und eine Hebamme… na, da haben sich ja zwei gefunden. Und ihr kennt euch schon seit eurer Kindheit, sagtest du?“ Die junge Frau wurde leicht rot, nickte dann aber erneut. „Ja, unsere Eltern haben nebeneinander gewohnt.“ Carina hätte gerne noch weiter gefragt, aber sie spürte, dass Emma so weit noch nicht wahr. Sie hatten sich immerhin gerade erst kennengelernt. Wieder herrschte für einige Sekunden Stille. Die Schnitterin wollte gerade den Mund öffnen, um zu fragen, was denn jetzt der eigentliche Grund dieses unerwarteten Besuches gewesen war, da klang vom oberen Stockwerk ein leises Weinen nach unten. Sie erhob sich. „Entschuldige mich kurz, ich bin sofort wieder da.“ Eine Minute später war sie bereits wieder da, eine hellwache Lily auf dem Arm, die aber aufgrund der Aufmerksamkeit ihrer Mutter das Weinen sofort wieder eingestellt hatte. Emmas Gesicht erhellte sich sofort, als ihr Blick auf das Baby fiel. Selbst jeder, der ihren Beruf nicht kannte, konnte sofort sehen, dass das ein Gebiet war, indem sie sich bestens auskannte und auch wohl fühlte. „Du sagtest zwar, dass du ein Kind hast, aber dass es noch so klein ist…“ Carina lächelte. „Das ist Lily, meine Tochter. Morgen ist sie 4 Wochen alt.“ „Sie ist süß“, hauchte Emma verzückt und die Schnitterin sah dies durchaus als Kompliment, immerhin musste die Brünette in ihrem Job schon recht viele Babys gesehen haben. „Möchtest du sie halten?“ „Darf ich denn?“, fragte sie verwundert und Carina zuckte mit den Schultern. „Warum denn nicht? Du kennst dich doch aus.“ Vorsichtig legte sie den Säugling in die Arme der werdenden Mutter und wie sie es sich schon gedacht hatte, konnte man sofort sehen, dass es bei weitem nicht die erste Situation für Emma war, in der sie ein Baby hielt. Auch Lily schien der Wechsel nicht sonderlich viel auszumachen, denn sie blieb ruhig und schaute lediglich mit ihren blauen Augen fragend – jedenfalls sah es ein bisschen danach aus - in das bisher unbekannte Gesicht. „Ich hab deinen Mann zwar nur eine Sekunde gesehen“, begann Emma und wiegte das kleine Geschöpf sanft hin und her, „aber eure Tochter scheint sehr nach ihm zu kommen. Bis auf die Augen, die kommen von dir. Wobei…“ Fragend schaute sie Carina an. „Du hast doch eigentlich diese komisch leuchtenden Augen, oder etwa nicht?“ Die Schnitterin gluckste. „Das sind die Augen, die alle Shinigami haben. Die blauen Augen hatte ich, als ich noch ein Mensch war und sie sind deswegen noch in meiner DNS. Daher konnte Lily sie auch erben.“ Emma nickte, wirkte aber nach wie vor ein wenig verwirrt. „Diese Todesgott Geschichte scheint kompliziert zu sein.“ „Du hast ja keine Ahnung“, seufzte Carina zustimmend und nahm einen tiefen Schluck ihres Tees, der mittlerweile nicht mehr ganz so heiß war. „So, aber zurück zum Wesentlichen.“ Sie wurde wieder ein wenig ernster. „Was ist der eigentliche Grund deines Besuches? Du wirst ja wohl kaum hierhergekommen sein, nur, um mit mir aus Spaß an der Freude ein Tässchen Tee zu trinken.“ Die junge Frau errötete schwach, brachte sie die Offenheit der fast Gleichaltrigen doch immer mehr aus dem Konzept. „Entschuldige, aber ich spreche gerne aus, was ich denke“, grinste Carina, als sie den Grund für die Irritation auf Emmas Gesicht erkannte. Mittlerweile war sie das gewohnt, denn die Menschen in diesem Zeitalter tickten einfach anders. Sie passte sich so weit an, dass sie nicht allzu sehr auffiel, aber auch kein Stück mehr. „Nein, das bin ich tatsächlich nicht“, antwortete die Hebamme schließlich und gab Lily wieder an ihre Mutter zurück. „Eigentlich wollte ich, dass Charlie auch mitkommt, aber er… er war noch nicht bereit dazu.“ Sie schluckte schwer und auch Carina spürte Betroffenheit in sich aufsteigen. Was Samael dem jungen Mann angetan hatte, war unerträglich mitanzusehen. Sie selbst hatte in ihrem Leben bereits viel Leid erfahren müssen, aber das Meiste davon hatte auch mit ihr selbst zu tun gehabt. Charlie hingegen war rein zufällig in die Sache mit hineingezogen worden, weil ein Dämon ihn ausgesucht hatte wie einen Apfel im Supermarkt. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, was ein solches Wissen mit einem Menschen machte, der bisher ein ganz normales Leben geführt hatte. Ein glückliches Leben, in dem er alles hatte. Eine Frau, ein Haus und bald sogar noch ein Kind… „Bisher war ich im Glauben, dass es so etwas wie Todesgötter nicht gibt. Die Kirche lehrt uns zwar, dass es übernatürliche Wesen gibt, aber bisher… nun ja… war ich nicht sonderlich überzeugt davon“, gab sie zu. „Bis zu dem Zeitpunkt, als es mich selbst plötzlich betroffen hat, habe ich auch nicht daran geglaubt“, erwiderte Carina. Emma holte tief Luft, als müsse sie sich für die Worte wappnen, die gleich ihren Mund verlassen würden. „Ich frage mich einfach die ganze Zeit was passiert wäre, wenn Charlie tatsächlich gestorben wäre. Ich meine… ich weiß, dass er dann scheinbar zu einem Todesgott geworden wäre, aber was noch? Was wäre anschließend mit ihm passiert? Es ist total blöd, aber ich kann einfach nicht aufhören darüber nachzudenken, was die Konsequenzen gewesen wären, hätte der Plan des Dämons funktioniert.“ „Ich bin mir nicht mal sicher, ob das überhaupt sein Plan war. So hart es auch klingt, ich denke Charlies Leben war ihm relativ gleichgültig. Ob er nun lebt oder vielleicht gestorben wäre, kümmert dieses Monstrum nicht.“ Emmas Gesicht verlor sofort einen Großteil seiner Farbe. Unruhig rutschte sie auf dem Stuhl hin und her. „Aber zu deiner anderen Frage“, begann Carina und schlug die Beine übereinander. „Nach seinem Selbstmord hätte ihn ein Shinigami abgeholt, der dann für den Zeitraum seiner Ausbildung sein Mentor geworden wäre. Auch in der Welt der Todesgötter gibt es verschiedene Berufswege, die man einschlagen kann. Nach der jeweiligen Ausbildung kann man dort bleiben oder auch in spezifischere Abteilungen wechseln. Charlie ist Arzt, vielleicht wäre die Forensik etwas für ihn gewesen.“ Die Blondine zuckte mit den Schultern. „Tja, und so geht das dann halt immer weiter.“ Die Brünette wirkte entsetzt. „Bis in alle Ewigkeit?“, fragte sie schockiert, was Carina erneut die Schultern zucken ließ. „Nun ja, laut Aussagen des Dispatchs eigentlich nur so lange, bis man die Schuld für seinen Selbstmord gesühnt hat. Aber mir ist kein lebender Fall bekannt, bei dem das passiert ist.“ Genauer gesagt war ihr nur ein einziger Fall bekannt und zwar Alice. Aber wie gesagt, das hatte sich auch erst bei ihrem Tod herausgestellt… „Und er wäre niemals… hierher zurückgekehrt?“ „Nur, wenn er ein Seelensammler geworden wäre. Diese Shinigami sammeln, wie der Name schon sagt, die Seelen der Verstorbenen ein. Aber selbst wenn er einer geworden wäre, hätte er dich oder das Kind niemals sehen dürfen. Todesgötter dürfen keine Familie haben oder irdische Bindungen.“ Emmas Augen wirkten glasig, als sie das nächste Mal aufsah und Carina anschaute, jetzt mit einer gewissen Neugier. Die 19-Jährige wusste, welche Frage nun kommen würde. „Ich… also… wie… warum hast du dich… ich meine…“ Die Schnitterin lächelte träge. „Warum ich mich umgebracht habe?“, fragte sie und die Angesprochene nickte zaghaft, scheinbar nicht sicher, ob es ihr erlaubt war solch eine Frage zu stellen. Scheinbar war sie also um eine ganze Ecke emphatischer als Carina selbst, die Grell diese Frage damals einfach so um die Ohren gehauen hatte. „Du wirkst einfach nicht wie jemand, der… ich weiß auch nicht“, gestand Emma und lächelte hilflos, während sie es nun der Todesgöttin nachmachte und mit den Schultern zuckte. „Ich war nicht depressiv, falls du das meinst“, lachte Carina leise. „Aber selbst wenn, hättest du es vermutlich nicht gemerkt. Grell zum Beispiel war es und das könnte man sich heutzutage kaum noch vorstellen, oder?“ „Nein, nicht wirklich“, stimmte Emma ihr zu. „Vor ein paar Jahren gab es eine Mordserie hier in London. Frauen wurden nachts überfallen, vergewaltigt und anschließend umgebracht, indem ihnen jemand die Kehle durchgeschnitten hat.“ „Daran erinnere ich mich“, murmelte die Brünette und erschauderte leicht. „Eines der Opfer war im gleichen Alter wie ich, sie war die Tochter von Bekannten meiner Eltern.“ „Ja, die besagten Frauen waren alle recht jung“, entgegnete Carina und seufzte. Sie erinnerte sich nur ungern an die besagte Nacht zurück. Egal, wie stark sie noch werden oder wie lange sie noch leben würde, diese Nacht würde sie niemals vergessen. Sie würde immer Angst vor diesen Bildern in ihrem Gedächtnis haben. „Ich wäre beinahe eines ihrer nächsten Opfer geworden“, machte sie die ganze Sache kurz und sogleich zog Emma scharf die Luft ein, während sie sich eine Hand vor den Mund schlug. Carina lächelte schwach. „Nun, ich war schon immer ein Sturkopf“, fuhr sie fort. „Ich dachte mir, wenn ich ohnehin schon sterben muss, dann gebe ich diesen Mistkerlen zumindest nicht noch das, was sie von mir wollten. Und was ich absolut nicht zu geben bereit war.“ Sie versuchte lässig zu klingen, aber selbst jemand wie Emma, die sie ja kaum kannte, konnte die unterschwellige Furcht in ihren Worten hören. „Das tut mir so leid“, flüsterte die junge Frau betroffen und senkte den Blick auf die Oberfläche des Tischs hinab. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, was für eine Angst die Todesgöttin gehabt haben musste, als sie sich in besagter Situation befunden hatte. Sie persönlich befand, dass es mit die schlimmste Situation war, in die eine Frau überhaupt geraten konnte. Und dennoch wusste sie nicht, ob sie selbst den Mut hätte aufbringen können, um sich tatsächlich ein Messer in die Brust zu jagen. Der Anblick der Narbe, die Carina Charlie und ihr gezeigt hatte, hatte sie jedenfalls aufs Tiefste schockiert. „Hat es… hat es sehr wehgetan?“, fragte Emma zögerlich und schlug sich noch im gleichen Moment innerlich selbst. „Entschuldige, das war eine dumme Frage, ich hätte nicht-“ „Schon gut“, unterbrach Angesprochene sie, denn sie selbst fand die Frage überhaupt nicht dumm. Trotzdem dachte sie noch einen kurzen Moment über ihre Antwort nach, ehe sie sie der verunsicherten Hebamme gab. „Es gibt schlimmere Schmerzen, das habe ich inzwischen gelernt. Aber ja, es hat wehgetan. Wenn auch nicht so, wie man sich das vorstellt.“ Ihre Mundwinkel zuckten, als sie Emmas deutlich verwirrte Miene sah. Sie überlegte kurz, ob ihre Gegenüber die Wahrheit vertragen konnte, entschied sich dann aber relativ zügig dafür. Als Hebamme hatte man sicherlich auch schon einige Dinge gesehen oder miterlebt, die alles andere als schön waren. „Nun ja, am Anfang habe ich überhaupt keinen Schmerz gefühlt. Das ganze Adrenalin in meinem Körper hat mich in eine Art Rausch versetzt, ich stand unter Schock. Meine Gliedmaßen fühlten sich taub an, beinahe nicht mehr wie meine eigenen. Ich hab bis heute keine Ahnung, wie ich es geschafft habe anschließend noch das Messer aus der Wunde herauszuziehen, um die ganze Sache zu beschleunigen.“ Carina konnte sich nicht daran erinnern, dass sie jemals auf diese Weise über ihren Selbstmord gesprochen hatte. Natürlich, sie hatte mit Grell und Cedric und auch Alice darüber gesprochen und vor wenigen Tagen erst mit Ronald und William. Aber sie hatte immer nur darüber geredet was eigentlich passiert war. Nicht, wie sich der Tod oder die Schmerzen an sich angefühlt hatten. Nicht einmal Cedric hatte sie danach gefragt, obwohl es bei ihm wahrscheinlich vielmehr daran lag, dass er es sich aufgrund seiner Erfahrungen in diesem Bereich selbst ganz gut vorstellen konnte. „Erst mit dem Entfernen der Klinge kam der Schmerz. Wie gesagt, es war bei weitem nicht der schlimmste Schmerz, den ich mir vorstellen kann, aber als sich meine Lunge mit Blut gefüllt hat… nun ja, ich schätze du kannst dir vorstellen, dass das nicht schön war.“ Emma nickte, mittlerweile eine Spur blasser als zuvor, aber dennoch gefasst wirkend. „Der Rest ging schneller, als ich dachte. Es wird kalt, man kann kaum noch etwas sehen und dann… dann ist es eigentlich fast wie Einschlafen.“ „Nur mit dem Unterschied, dass man nie wieder aufwacht“, murmelte Emma und lachte im darauffolgenden Moment recht trocken auf. „Na ja, im Normalfall jedenfalls.“ Carina konnte nicht anders, sie grinste. „Du sagst es. Das Wort „Normal“ kommt in meinem Wortschatz mittlerweile so gut wie gar nicht mehr vor.“ Auch Emmas Mundwinkel zuckten nun kurz in die Höhe, doch genauso schnell wurde sie auch wieder ernst. „Warum erzählst du mir das alles? Die Erinnerungen müssen doch schrecklich für dich sein.“ Carina schaute sie ganz offen an. „Ja, das sind sie. Aber wären meine Handlungen in der Vergangenheit nicht gewesen, dann wäre dir und deinem Mann einiges erspart geblieben. Wenn die Beantwortung deiner Fragen also dazu beiträgt, dass du mit dem was passiert ist besser leben kannst, dann werde ich genau das tun.“ Das ehrliche Lächeln, das sich daraufhin auf Emmas Lippen ausbreitete, sagte Carina, dass das letzte Gefühl des Unwohlseins nun überstanden war. Sie erwiderte die Geste. „Jetzt aber genug von mir. Ich bin neugierig. Was gibt es denn so über dich zu wissen?“ In der folgenden Stunde erfuhr Carina allerhand Sachen über das Leben der werdenden Mutter. Unter anderem, dass sie im August Geburtstag hatte, in diesem Jahr 21 werden würde und mit diesem Alter die Letzte in ihrem Jahrgang war, die Mutter wurde. Charlie und sie hatten bereits unter enormem Druck gestanden und wahrscheinlich war genau das der Grund gewesen, warum es so lange gedauert hatte, bis sie schwanger geworden war. Carina bekam kurzzeitig schon fast so etwas wie ein schlechtes Gewissen, weil es bei ihr so schnell geklappt hatte und dabei hatte sie das alles überhaupt nicht geplant bzw. es war ihr noch nicht einmal bewusst gewesen, dass die Möglichkeit überhaupt bestand. Emma erzählte zudem, dass bereits ihre Mutter Hebamme gewesen war und sie schon als kleines Kind immer in ihre Fußstapfen hatte treten wollen, was ihr ja schließlich auch gelungen war. Während Charlies Eltern inzwischen auf einem kleinen Bauerhof außerhalb von London lebten, war ihr eigener Vater auch nach dem Tod ihrer Mutter vor wenigen Jahren in dem Haus geblieben, in dem sie aufgewachsen war. „Und wie ist das Verhältnis zu deinen Eltern?“ Bei dieser Frage kam Carina dann doch leicht ins Schwitzen. „Wir haben ein gutes Verhältnis. Sie… ähm… leben einfach nur außerhalb meiner Reichweite.“ Das, befand Carina, war dann doch noch die netteste – und wenigstens ehrliche – Umschreibung ihrer derzeitigen Situation, die ihr gerade einfiel. Schnell fügte sie noch hinzu: „Ich komme ursprünglich aus Deutschland, musst du wissen. Außerdem habe ich sie seit meinem Selbstmord nicht mehr gesehen und… es ist einfach kompliziert.“ Emma nickte und verstand die unterschwellige Bitte der 19-Jährigen, nicht weiter nachzufragen. „Hmm… da gibt es noch eine Sache, die ich… also… gerne fragen würde“, begann sie zögerlich und Carina lächelte, weil sie diese Schüchternheit irgendwie an ihr altes Ich erinnerte. „Ja?“, fragte sie und war schon gespannt darauf, was Emma nun wissen wollte. „Dein Mann…“ Die Schnitterin musste die Lippen ein wenig mehr aufeinander pressen, um nicht laut loszulachen. Es war doch immer wieder das Gleiche. Jeder Mensch zögerte, wenn er etwas über Cedric erfahren wollte. Der Silberhaarige wirkte einfach zu einschüchternd, dabei war das eigentlich nicht mal seine wirkliche Intention. Emma schaffte es schließlich doch noch ihre Frage zu beenden. „Ist er auch ein… ein Todesgott?“ Carina nickte. „Ja, ist er. Aber seine Geschichte ist noch wesentlich verworrener als meine, also werde ich darüber Schweigen bewahren.“ „Das heißt, Lily ist auch-“ „Nein, Lily ist ein Mensch“, beeilte sich die Deutsche zu sagen. „Shinigami werden nicht geboren, sondern aus einem Menschen heraus erschaffen. Es hat etwas mit Sünde und Schuld zu tun, von daher ist Lily durch und durch menschlich. Nur mit einer etwas anderen Aura behaftet, die aber auch nur übernatürlichen Wesen auffallen dürfte.“ „Klingt ebenfalls ziemlich kompliziert“, meinte Emma lächelnd und nun konnte die Todesgöttin nicht mehr anders, sie lachte. „Ich sagte ja, dass das Wort „Normal“ in meinem Leben keinen großen Stellenwert mehr hat und das ist leider die traurige Wahrheit. Aber ich glaube, ich würde es trotzdem für nichts in der Welt eintauschen wollen.“ Es war vielleicht ein aufregendes und seltsames Leben, aber es war ihr Leben. Und das wollte sie in vollen Zügen auskosten. Das helle Klingeln der Türglocke riss beide Frauen aus der Unterhaltung und sie wandten sich zeitgleich der Küchentür zu, in der wenige Sekunden später der Bestatter erschien. Der silberhaarige Mann grinste und schaute seine Gefährtin direkt an. „Ich hatte es befürchtet. Sobald du mit anderen Frauen alleine bist, wirst du zu einer Tratschtante.“ Carina hob wortlos eine Augenbraue und jetzt wurde Cedrics Grinsen noch eine Spur breiter. „Bist eben doch mehr Frau, als ich dachte.“ Jetzt huschte ein offener Ausdruck des Missfallens über das Gesicht der 19-Jährigen, während Emma anscheinend überhaupt nicht wusste, was sie von dieser Art eines Gesprächs halten sollte. Doch im nächsten Moment errötete sie bereits, als sie Carinas Antwort vernahm. „So? Ich dachte eigentlich, dass ich dir gestern ausreichend gezeigt hätte, wie viel Frau ich bin.“ Ihr Ton war sarkastisch und neckend zugleich. Cedric begann zu lachen und Carina fiel erst jetzt Emmas knallrotes Gesicht auf. „Verdammt“, dachte sie und war nun ebenfalls irgendwie peinlich berührt. Sie hatte sich so daran gewöhnt vor Grell offen zu sprechen, dass sie manchmal einfach vergaß, dass die Menschen dieses Jahrhunderts – in diesem speziellen Fall Emma – einfach noch nicht so weit waren frei über Sex oder generell Intimitäten zu sprechen. „Entschuldige“, murmelte sie und kniff sich dabei in den Nasenrücken. „Ich sagte ja: Ich spreche gerne das aus, was ich denke. Und manchmal vergesse ich einfach mich zusammenzureißen.“ „Schon gut“, lächelte Emma schief, aber ihr Gesicht sah immer noch aus wie ein Feuerlöscher. „Ich… ich sollte auch jetzt langsam gehen, sonst macht Charlie sich noch Sorgen. Aber… vielleicht… also, wenn ich dürfte-“ „-kannst du jederzeit gerne wiederkommen“, vollendete Carina ihren Satz und stand auf, um die 20-Jährige nach draußen zu begleiten. Der Bestatter beobachtete die beiden Frauen stillschweigend und sprach erst wieder, als Carina eine Minute später allein mit Lily im Arm zurückkam. „Du scheinst sie zu mögen.“ Angesprochene zuckte einmal kurz mit den Schultern. „Sie ist nett. Und außerdem erfrischend normal, was ich von meinem restlichen Umfeld jetzt kaum behaupten kann.“ „Über was habt ihr denn gesprochen?“ Carinas Augen funkelten amüsiert auf. „Das verrät dir die Tratschtante nicht“, erwiderte sie grinsend und stellte sich auf ihre Zehenspitzen, um ihm einen Kuss auf den Mund zu hauchen. „Gemein wie immer“, meinte er und zog einen Schmollmund, nachdem sich ihre Lippen wieder voneinander gelöst hatten. Sie verdrehte die Augen. „Sie wollte wissen was passiert, nachdem man ein Shinigami wird. Ich habe es ihr erzählt.“ Cedric seufzte und Carina wusste auch sofort wieso. „Sie wusste doch ohnehin schon von uns, also warum ihr nicht auch noch den Rest erzählen? Außerdem“, sie grinste ein weiteres Mal, „sind Regeln doch dazu da, um gebrochen zu werden.“ „Klingt es seltsam, wenn ich jetzt sage, dass du das wohl von mir gelernt hast?“, fragte der Undertaker, musste nun aber nun ebenfalls leicht grinsen, wobei seine weißen Zähne aufblitzten. „Nein, weil es stimmt“, antwortete sie trocken und schaute auf ihre Tochter hinab, die mittlerweile wieder tief und fest schlief. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie die Gesichtszüge ihres Babys studierte, die Cedrics eigenen immer ähnlicher wurden. Natürlich fand jede Mutter ihr eigenes Kind süß, aber es öfters auch von anderen zu hören wie beispielsweise Emma heute, machte sie noch zusätzlich stolz. Sie war schon so gespannt zu sehen, zu was für einem Menschen Lily heranwachsen würde. „Ich bringe die Kleine nach oben“, meinte sie leise und der Bestatter nickte, während er sich nun ebenfalls auf den Weg machte, um seine Arbeitsutensilien in den Keller zu bringen und anschließend zu reinigen. Als sie langsam die Stufen nach oben hinaufstieg, begann das Mädchen ein wenig unruhig im Schlaf zu werden, doch sobald Carina begann eine leise Melodie zu summen beruhigte sich Lily wieder. Als sie ein paar Sekunden später von ihrer Mutter wieder zurück in ihre Wiege gelegt wurde, war bereits der friedliche Ausdruck in ihr Gesicht zurückgekehrt und sie ließ sich ohne jegliche Regung zudecken. Die 19-Jährige seufzte zufrieden, blieb noch wenige Minuten an der Wiege stehen und betrachtete mit einer inneren Glückseligkeit, die sie vor der Geburt ihrer Tochter gar nicht gekannt hatte, die kleine schlafende Gestalt. „Ich werde dafür sorgen, dass du unbeschwert aufwachsen kannst“, flüstere sie kaum hörbar. Und dazu mussten sie Samael aufhalten, egal wie! Auf Zehenspitzen verließ sie das Zimmer, schloss die Tür kaum hörbar hinter sich und ging anschließend wieder nach unten, mit dem festen Vorhaben jetzt endlich mal etwas für den Haushalt zu tun. Doch so weit kam sie erst gar nicht. Sobald ihre Füße den Boden der Küche berührten, erklang Cedrics Stimme aus dem Empfangsraum und sagte ihren Namen. „Wollte er nicht in den Keller gehen?“, dachte sie kurzzeitig verwirrt, aber diese Frage klärte sich in dem Moment, als sie das nächstgelegene Zimmer betrat. Ihr Blick fiel zuerst auf Ciel, der auf einem Sarg saß, und Sebastian, der – wie immer ganz der treue Butler – direkt danebenstand. Sie sahen sie beide mit einer Miene an, die sie nicht genau zu deuten wusste. Erst anschließend schaute sie Cedric an und die ernste Miene, mit der der Bestatter sie ansah, ließ sie nichts Gutes vermuten. „Was ist passiert?“, fragte sie, jetzt genauso ernst, und als Cedric daraufhin zögerte, sackte ihr Magen eine Etage tiefer. Cedric zögerte nie. Jedenfalls nicht, wenn es darum ging ihr etwas Wichtiges mitzuteilen. „Du solltest dich besser setzen“, erwiderte er schließlich, was die schlechte Vorahnung der jungen Frau nur noch verstärkte. „Was ist passiert?“, wiederholte sie, nun eindringlicher. „Carina-“ „Ich will mich nicht setzen, sag mir einfach nur was passiert ist, verdammt nochmal“, wurde sie eine Spur lauter und ballte die Hände zu Fäusten. Cedric presste die Lippen zusammen und die Schnitterin hielt die Ungewissheit nicht mehr länger aus. Sie wandte sich an Sebastian. „Da ihr beiden hier seid, schätze ich mal, dass es um deinen Vater geht?“ Der Teufel nickte. „Ja.“ „Sebastian hat am heutigen Morgen eine dämonische Spur in meinem Vorgarten wahrgenommen“, begann Ciel zu erklären und sah dabei alles andere als begeistert aus. „Scheinbar war Samael in der Nacht an meinem Anwesen und keiner von uns hat davon etwas mitbekommen.“ Sebastians Miene verzog sich und Carina konnte zum allerersten Mal sehen, dass er wirklich zornig war. Ihr war ja mittlerweile bekannt, dass er – aus was für Gründen auch immer – seinen Vater nicht leiden konnte, aber das dieser ihn jetzt auch noch vorführte, das war scheinbar der Höhepunkt des Ganzen. „Auf Befehl des jungen Herrn verfolgte ich seine Spur. Allerdings verlor sich diese in Yorkshire gänzlich, sodass ich meine Suche vorerst abbrechen musste.“ Carina zuckte kurz zusammen, während sich ihre Augen merklich weiteten. „… Sagtest du gerade Yorkshire?“, fragte sie nach, während ein eiskaltes Gefühl in ihren Bauch sickerte. Ihr wurde übel. Der Butler nickte und öffnete erneut den Mund, doch der Undertaker kam ihm zuvor. „Carina, vielleicht sollten wir das unter vier-“ „Nein, Cedric, ich muss das jetzt hören. Was hat er getan?“ Der Silberhaarige kniff sich mit Daumen und Zeigefinger in den Nasenrücken, während Sebastian jetzt endlich das aussprach, was der Todesgott scheinbar nicht über die Lippen brachte. „Das Grab deiner Freundin ist…“ Er beendete den Satz nicht, aber das musste er auch nicht. Die Bedeutung lag klar auf der Hand und sie konnte den Satz gedanklich selbst zu Ende führen. …Zerstört. …Geschändet. Carina spürte, wie ihre Knie weich wurden und wünschte sich jetzt, sie hätte den vorherigen Worten des Bestatters Folge geleistet. Ihre drei Gegenüber beobachteten, wie mit einem Mal alle Farbe aus ihrem Gesicht wich, sie aber ansonsten keinerlei Regung zeigte. Cedric konnte sich nicht entscheiden, welches Gefühl bei ihm überwog. Die Sorge um Carina und ihre Reaktion auf das eben Gesagte oder die Wut auf Samael und das daraus resultierende Bedürfnis ihn in Stücke zu reißen. Die 19-Jährige schloss für einen Moment die Augen und atmete einmal tief durch, um die Mischung aus Übelkeit und Panik zu bekämpfen, die sich in ihrem Körper ausgebreitet hatte. Alice… Er hatte Alice‘ letzte Ruhestätte einfach so… Unbändige, hilflose Wut stieg in ihr hoch. Dieser Mistkerl… Dieses abscheuliche Etwas, für das sie nicht einmal mehr Worte der Beleidigung fand! Hatte sie nicht noch heute Morgen darüber nachgedacht, dass es beunruhigend war so lange nichts mehr von dem gefallenen Engel gehört zu haben? Dass er jede Sekunde erneut zuschlagen konnte? „Ja“, dachte sie, jetzt hatte er zugeschlagen. Und es war ein Schlag, der sie genau da traf, wo es richtig wehtat. Die Aktion mit Emma und Charlie war schon schlimm genug gewesen, aber das hier, das mit Alice… das übertraf alles. Ihre beste Freundin hatte doch indirekt durch ihn bereits ihr Leben verloren. Konnte er sie nicht einmal im Tod in Ruhe lassen? Als sie ihre Augen wieder öffnete, begann sie gleichzeitig zu sprechen. „Gibt es irgendeine Möglichkeit dieses Versteckspiel zu beenden? Ich hab die Schnauze voll davon zu warten, bis der vornehme Herr sich endlich mal dazu bequemt uns von sich aus aufzusuchen.“ Ihre Stimme war erschreckend ruhig und alle drei Herren brachte dieser Umstand kurzweilig aus dem Konzept. Sebastian war der Erste, der sich wieder fasste. „Ich habe bereits darüber nachgedacht. Mit seinen Taten versucht er uns zu provozieren-“ „Was ganz hervorragend funktioniert“, sagten Carina und Ciel wie aus einem Munde und schauten sich gleich darauf irritiert an, was für ein Kichern seitens des Bestatters sorgte. „Mein Vater kann viele Dinge nicht ausstehen“, fuhr Sebastian fort. „Die Engel, Ungehorsam, wenn man ihm zuwider handelt… Die Liste lässt sich noch endlos fortsetzen, aber es gibt zwei Sachen, die er mehr als alles andere hasst.“ Er machte eine Kunstpause und schaute abwechselnd in die Runde. „Wenn man ihn ignoriert und wenn man ihn nicht ernst nimmt.“ Carina verzog die Miene. „Wie ein kleines Kind also“, antwortete sie spöttisch und seufzte schwer. „Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen“, erwiderte Cedric und grinste sie an. „Letzteres magst du ja wohl auch nicht sonderlich, oder?“ Die Schnitterin rollte mit den Augen und ließ Gesagtes unkommentiert. Aber auch Ciel wirkte nicht zufrieden. „Dieser Kerl erdreistet es sich uns vorzuführen. Das werde ich auf keinen Fall dulden, geschweige denn auf mir sitzen lassen. Was schlägst du also vor, Sebastian? Wir können ihn ja wohl kaum einfach ignorieren. Und ihn nicht ernst zu nehmen kommt einem Todesurteil gleich.“ Sebastian lächelte dieses eine Lächeln, das Carina immer ein ungutes Gefühl bescherte. Das Lächeln eines Heiligen und Raubtieres zugleich. „Wie wäre es mit folgendem Vorschlag, Mylord? Wir veranstalten einen Ball.“ „Bitte was?“, fragte Carina nach, in der Hoffnung sich verhört zu haben. Ciel runzelte ebenso wenig begeistert die Stirn. „Bist du dir sicher, dass das so eine gute Idee ist? Präsentieren wir uns damit nicht auf dem Silbertablett?“ „Vielleicht ist es genau das, was wir tun müssen“, brachte der Undertaker sich nun auch mit ins Gespräch ein und legte überlegend eine Hand ans Kinn. „Obwohl er versucht uns das Leben schwer zu machen, halten wir dennoch eine Festlichkeit ab und zeigen ihm somit, dass er uns nichts anhaben kann. Es ist genau das, was du eben meintest, Butler. So würden wir ihn gleichzeitig ignorieren und auch noch zu der Erwägung verleiten, dass wir ihn nicht ernst nehmen.“ Er kicherte. „Und wir laden ihn noch nicht einmal ein, hehe~“ „Ich glaube kaum, dass ihn die fehlende Einladung stören dürfte“, meinte Ciel trocken und Carina stimmte ihm zu. „Ja, er wird auch uneingeladen dort auftauchen“, murmelte sie und fasste sich an die Stirn. „So ungern ich es auch zugebe, aber dieser Plan könnte funktionieren.“ Sebastian lächelte selbstherrlich und deutete eine kurze Verbeugung an. „Ein Kompliment von Euch, Mylady? So etwas höre ich gern.“ Die 19-Jährige funkelte ihn zornig an. „Spar dir deinen Sch-“ „Na na“, verhinderte Cedric gerade noch das Schlimmste und packte seine Gefährtin am Arm, um sie wieder ein wenig ins Hier und Jetzt zurückzubefördern. „Wir wollen uns doch nicht streiten, immerhin sind wir jetzt Verbündete.“ Carina schnaubte. Mit diesem dämlichen Teufel würde sie sich erst wirklich verbünden, wenn die Hölle zufror. „Gut, dann werde ich sofort mit den Vorbereitungen beginnen“, sagte Ciel, wobei wahrscheinlich eher Sebastian die ganze Arbeit haben würde. „Für den Anlass werde ich mir schon etwas ausdenken, das dürfte nicht allzu schwer werden. Wichtig ist jedoch, dass wir tatsächlich alle Leute einladen, die mit uns in Verbindung stehen. So geben wir Samael keinen Freifahrtsschein jemanden in seine Finger zu bekommen, während wir uns auf dem Ball befinden.“ „Eine vortreffliche Idee, junger Herr“, antwortete Sebastian. „Es sähe meinem Vater nicht unähnlich seine Wut an jemand anderem auszulassen.“ „Schön, dann sollten Emma und Charlie auf jeden Fall kommen“, warf Carina ein, denn sie würde auf keinen Fall zulassen, dass dieser Mistkerl noch einmal versuchen würde die beiden anzugreifen, auf welche Art auch immer. „Und Grell, Ronald und William sage ich auch Bescheid. Es kann nicht schaden sie für den schlimmsten Fall dabei zu haben.“ Ciel nickte und erhob sich wieder von dem Sargdeckel. „Zeit und Ort werde ich euch zum frühestmöglichen Zeitpunkt mitteilen.“ „Dann bis bald, Earl~“, entgegnete der Bestatter, woraufhin Ciel augenverdrehend den Laden verließ, dicht gefolgt von Sebastian. Stille senkte sich sogleich auf die beiden verbliebenen Anwesenden nieder und jetzt war es Carina, die sich auf einen Sarg setzte und sich fest in den Nasenrücken kniff. Sogleich spürte sie Cedrics Präsenz, als er dicht vor sie trat. „Geht es dir gut?“, fragte er ernst und die Schnitterin schüttelte den Kopf. „Nein“, murmelte sie und spürte, wie ihre Augen zu brennen begannen. Kraftlos lies sie ihre Stirn gegen seine Brust fallen und spürte gleich darauf, wie sich einer seiner Arme um sie schlang, während sich der andere hob und seine Hand sanft über ihren Kopf streichelte. „Dafür wird er bezahlen“, zischte sie, während heiße Tränen der Wut ihre Wangen hinabtropften und in seinem Mantel versickerten. „Das wird er“, hörte sie den Silberhaarigen über sich sagen und kurz darauf drückten sich seine Lippen auf ihren Haarschopf. „Schlussendlich ist es nur ihre fleischliche Hülle, vergiss das nicht. Ihre Seele ist jetzt an einem besseren Ort, wie Uriel schon sagte.“ Den meisten Menschen wären diese Worte wohl herzlos erschienen, aber irgendwie spendeten sie Carina doch ein wenig Trost. Einige Minuten lang verharrten sie noch in dieser Pose, gaben sich der Stille und gegenseitigen Nähe hin, während Carina versuchte ihre Trauer und Wut für den Moment beiseite zu schieben. Schließlich wischte sie sich über die Augen und sah wieder hoch zu dem Bestatter. „Ich kann nur hoffen, dass dieser Ball ein gutes Ende nehmen wird.“ Auf Cedrics Lippen bildete sich ein breites Grinsen und die Blondine wusste sofort, dass seine nächsten Worte sie auf die Palme bringen würden. „Nun ja, auf deinem letzten Ball hast du deine Jungfräulichkeit verloren. Ein recht gutes Ende, wenn du mich fragst.“ Sie schnaubte laut auf. „Na, dann ist es ja gut, dass mir das nicht noch einmal passieren kann“, sagte sie mit allem Sarkasmus, den sie in diesem Moment aufbringen konnte. „Abgesehen davon gefällt mir deine Formulierung nicht.“ Er hob eine Augenbraue. „Wie meinen?“ „Ich habe sie nicht verloren“, meinte sie und machte beim letzten Wort imaginäre Gänsefüßchen in die Luft. „Ich habe sie dir geschenkt. Und es auch seitdem zu keinem Zeitpunkt bereut.“ Es war ihr weder peinlich, noch unangenehm das zuzugeben und dennoch war es für sie selbst eine doch recht intime Aussage. Dafür aber die volle Wahrheit. Die phosphoreszierenden Augen ihres Gegenübers verdunkelten sich merklich, als die nachfolgenden Worte rau über seine Lippen kamen. „Du weißt schon, dass du mit solchen Aussagen primitive Instinkte in mir weckst, oder?“ „Nein“, meinte sie voller sarkastischem Unglauben und machte gespielt große Augen. „Du und das Wort „Primitiv“ in einem Satz? Das passt doch nicht zusammen.“ Letzteres meinte sie tatsächlich ernst, aber das musste er ja nicht unbedingt wissen. „Freches Ding“, lachte er leise und beugte sich ein wenig nach unten, um seine Lippen auf die ihren zu drücken. Carina ließ sich auf den Kuss ein, seufzte leise in seinen Mund hinein und lehnte sich weiter zu ihm vor. Die Szene hätte friedlich sein können, wäre nicht in genau diesem Moment die Tür mit einem lauten Krachen aufgeflogen. Beide Shinigami zuckten zusammen und fuhren gleichzeitig herum, beinahe schon in der Erwartung eines Angriffes. Dieser kam allerdings nie. Stattdessen stürmte Grell in den Laden, hektisch und vollkommen außer Atem. „Grell“, stieß die Schnitterin verblüfft hervor und wandte sich ihrem besten Freund zu, der sich nun auf seinen Knien abstütze, um besser Luft zu bekommen. „Ist was passiert? Du wolltest doch erst Morgen wieder-“ Sie verstummte abrupt, als der Rothaarige sich aufrichtete und sie mit einem Blick ansah, den er im Zusammenhang mit ihr noch nie benutzt hatte. Instinktiv wusste die junge Frau sofort, um was es ging. Zum zweiten Mal am heutigen Tage bekam sie Bauchschmerzen. „Grell, lass mich erklären-“ „WAS ZUR HÖLLE HAST DU WILLIAM ERZÄHLT?!“ Kapitel 92: Aussprache ---------------------- Carina war im ersten Moment wie erstarrt, hatte ihr bester Freund und Mentor doch noch nie so mit ihr gesprochen, geschweige denn sie so voller Zorn angebrüllt. Nicht einmal damals, als sie ihm gebeichtet hatte, dass sie schwanger war und freiwillig mit Cedric geschlafen hatte. Sie öffnete den Mund, doch kein Wort kam ihr über die Lippen. Stattdessen stieg Angst in ihr hoch. Angst davor, dass Grell möglicherweise nie wieder ein Wort mit ihr reden würde, wenn dieses Gespräch vorbei war. Und das würde sie nicht ertragen. Nicht nach allem, was sie zusammen durchgestanden hatten. Nicht nachdem, was mit Alice passiert war. Überraschenderweise war es der Undertaker, der als erstes das Wort ergriff und seine Stimme klang merkwürdig kühl, während er den rothaarigen Shinigami mit seinem Blick fixierte. „Ich kann bis zu einem gewissen Grad verstehen, dass du aufgebracht bist, aber so wirst du nicht mit ihr sprechen. Nie wieder, verstanden?“ „Halt dich da raus“, brachte Grell zwischen zusammengepressten Lippen hervor, drosselte aber dennoch seine Lautstärke. Im nächsten Augenblick schob sich Carina blitzschnell zwischen die beiden Todesgötter, denn Cedrics Blick ließ sie Schlimmes erahnen. „Schon gut“, erwiderte sie leise und schaute den Silberhaarigen aus den Augenwinkeln an. „Ich kläre das.“ Der Bestatter sah nicht begeistert aus, zog sich dann aber doch zurück. „Wie du meinst“, antwortete er und warf Grell einen warnenden Blick zu, bevor er in den Keller verschwand, um seiner Arbeit nachzugehen. Carina schloss kurz die Augen, atmete einmal tief durch und öffnete sie dann wieder, um sich direkt im Anschluss Grell gänzlich zuzuwenden. „Bevor du mich weiter anschreist – vollkommen gerechtfertigt übrigens – darf ich dir eine Frage stellen?“ Der Rothaarige hob eine Augenbraue und verschränkte die Arme vor der Brust, während zu keiner Zeit der wütende Ausdruck aus seinem Gesicht wich. „Die da wäre?“, fragte er missmutig, aber erneut in Zimmerlautstärke, was Carina bereits ein wenig beruhigte. „Was ist passiert? Ich meine… was hat William zu dir gesagt?“ Grell schnaubte laut, setzte sich mit reichlich Schwung auf einen der Särge und starrte seine Schülerin nieder, während er ihre Frage wahrheitsgemäß beantwortete und ihm dabei die Bilder der letzten Stunde wie ein Cinematic Record durch den Kopf schossen. „William, ich möchte dich nur ganz kurz stören. Hier sind die Berichte, die du wolltest“, sagte Grell, als er die Bürotür des Abteilungsleiters hinter sich schloss und vorsichtig einen Schritt vortrat, allerdings auch keinen Millimeter weiter. Angesprochener schaute weder von seinen Unterlagen auf, noch zeigte er auf irgendeine andere Art und Weise, dass er Grells Anwesenheit zur Kenntnis nahm. Allerdings verwunderte den Reaper dieses Verhalten nicht großartig. William war mit Sicherheit noch sauer auf ihn wegen des letzten Gespräches, was sie an eben diesem Ort miteinander geführt hatten. Es hätte ihn viel mehr verwundert, wenn sein heimlicher Schwarm gut auf ihn zu sprechen gewesen wäre. „Legen Sie sie auf den Tisch“, sagte William schließlich doch noch, sah ihn dabei aber immer noch nicht an. Grell schluckte einmal und trat dann zaghaft bis zu besagtem Schreibtisch vor. Seine Augen huschten über Berge von Papier, Aktenordner, wild verstreute Klebezettel und einen Taschenrechner, der auch schon mal bessere Zeiten gesehen hatte, wenn man den leichten Sprung im Display berücksichtigte. Wo zur Hölle sollte er die Berichte ablegen? Er hatte keine Ahnung, ob William in diesem ganzen Chaos eine gewisse Ordnung hatte oder nicht und eine freie Stelle gab es auf diesem Tisch einfach nicht mehr. Was, wenn er die Unterlagen irgendwo ablegte, wo sie störten? Was, wenn er William noch wütender machte, als es ohnehin schon der Fall war? Ein genervtes Seufzen des Aufsichtsbeamten riss ihn aus seinen Gedanken. „Sutcliff, was haben Sie an meinen Worten nicht verstanden?“ „Entschuldige, ich… ähm, ich wollte einfach keine Unordnung machen“, seufzte nun auch Grell und ärgerte sich im gleichen Moment über seine eigene Aussage. Warum war er eigentlich immer noch so nett zu William? Eigentlich sollte er kein Wort mehr wechseln mit diesem… diesem… ach, er wusste es doch auch nicht! „Das wäre ja nicht das erste Mal“, erwiderte William kühl, doch irgendetwas an seinem Gesichtsausdruck verwirrte Grell. Der Blick seiner gelbgrünen Augen passte irgendwie so überhaupt nicht zu seinem gefühlskalten Ton. Erst jetzt viel dem Todesgott auf, was der Andere gerade zu ihm gesagt hatte. Er schnaubte. „Na, schönen Dank auch“, fauchte er und ließ die Berichte an Williams ausgestreckter Hand vorbei fallen, sodass sie quer auf dem Schreibtisch landeten und sich vollkommen ungeordnet darauf verteilten. „Dann will ich dich mal nicht länger mit meiner Anwesenheit belästigen“, meinte er beleidigt und drehte sich um, um schnurstracks wieder zur Tür zurück zu marschieren. „Grell!“ Der Rothaarige hielt mitten im Gehen inne. Er stöhnte irritiert auf und drehte sich wieder zu William herum, der ihn ernst ansah. „Kannst du dich vielleicht endlich mal entscheiden, ob du mich jetzt mit meinem Vor- oder Nachnamen ansprichst? Dieser Wechsel geht mir nämlich gehörig auf die Nerven!“ Jetzt schnaubte auch der Schwarzhaarige auf. „Dir geht das auf die Nerven? Was soll ich denn bitteschön sagen? Seit ich weiß, dass du in mich verliebt bist, hatte ich keine ruhige Minute mehr.“ Totenstille erfüllt den Raum. Grell konnte für einen Augenblick nicht glauben, was er da gerade gehört hatte. Er blinzelte einmal. Und dann ein zweites Mal, aber das Bild vor seinen Augen veränderte sich nicht. Da saß immer noch William, der ihn mit einer ernsten Miene anstarrte und scheinbar tatsächlich gerade zu ihm gesagt hatte, dass er von seinen Gefühlen Bescheid wusste. Aber… aber das konnte unmöglich stimmen! „Was… hast du da gerade gesagt?“, flüsterte er mit tauben Lippen und spürte, wie ihm langsam das ganze Blut aus dem Gesicht wich. Lediglich seine Wangen fühlten sich glühend heiß an. William schnaubte. „Da du nicht taub bist, dürftest du mich schon verstanden haben“, sagte er und verdrehte – zu Grells vollkommenem Unglauben – doch tatsächlich die Augen. „Du weißt genau, wie ich das meine“, fauchte Grell zum zweiten Mal am heutigen Tage, stellte sich genau vor Williams Schreibtisch und ließ seine Handflächen hart auf die Oberfläche krachen. „Was zum Teufel soll das heißen? Seit du weißt, dass ich angeblich in dich verliebt bin?“ Das hörte sich ja beinahe schon danach an, als hätte ihn jemand darauf gebracht oder es ihm gar erzählt. Aber so lebensmüde konnte doch niemand sein. Jeder im verdammten Dispatch wusste, wer Grell Sutcliff war und was er mit Leuten machte, die ihm in die Quere kamen. Und auch, wenn seine Verliebtheit in William für jeden anderen außer eben genannten mehr als offensichtlich war, hatte es doch bisher niemand gewagt diese Worte laut auszusprechen. Bis jetzt. William rückte seine Brille zurecht und schaute Grell beinahe genervt an. „Spiel jetzt nicht den Unschuldigen. Deine Schülerin wird mich ja wohl kaum angelogen haben. Wenn es jemanden gibt, der über dein komplexes Gefühlsleben Bescheid weiß, dann ja wohl sie!“ Wie vom Donner gerührt stand Grell dar und konnte weiterhin nichts anderes tun, außer William anzustarren. Carina? Carina hatte… nein, das konnte sie nicht getan haben. Wobei, sie war erst vor kurzem hier gewesen. War ihr etwas rausgerutscht? Aber in welchem Zusammenhang? Und warum hatte sie ihn nicht vorgewarnt? Hatte sie gedacht, dass William seinen Mund halten würde? Wo er doch von Einfühlungsvermögen überhaupt keine Ahnung hatte? Wie hatte sie ihm das antun können? Scham und Enttäuschung befielen seinen Körper und zum ersten Mal seit endlos langen Jahrzehnten fühlte er sich wieder wie der junge Mann, der sich damals das Skalpell seines Vaters genommen und anschließend seine Pulsadern damit aufgeschnitten hatte. William hatte ihn in den letzten Tagen traurig und wütend zugleich gemacht, aber das war nichts im Vergleich dazu, wie er sich jetzt dank Carina fühlte: Verraten. „Und wenn?“, hörte er sich plötzlich selbst mit monotoner Stimme sagen, ohne überhaupt über seine Worte nachgedacht zu haben. „Was ist, wenn sie die Wahrheit gesagt hat? Was ändert das?“ Williams Augen wurden ein Stückchen größer, als er Grell so reden hörte. In diesem Tonfall, den er selbst eigentlich immer benutzte, wenn er sprach. Kalt. Abweisend. Keine Nähe zulassend. Der Rothaarige stieß ein Geräusch hervor, das entfernt an ein Lachen erinnerte. „Ist dir eigentlich bewusst, dass sich dieser Tatsache jeder verdammte Shinigami bewusst war? Bis auf dich natürlich. Wie solltest du es auch von selbst erkannt haben? So etwas wie Gefühle sind ja unter deiner Würde, nicht wahr? Der Aufsichtsbeamte wusste nichts darauf zu erwidern. Es hatte ihm glatt die Sprache verschlagen. Die Ansprache der jungen Todesgöttin kam ihm wieder in den Sinn. „Um Gottes Willen, das kann einfach nicht Ihr Ernst sein. Das können Sie mich gerade nicht ernsthaft gefragt haben. Ich kann nicht fassen, dass ich diejenige bin, die Ihnen das sagen muss.“ Jetzt verstand er zumindest, was sie damit gemeint hatte. War es wirklich für jeden anderen so offensichtlich gewesen? War er der Einzige, der es einfach nicht hatte sehen können? Und… Wie sprach Sutcliff da eigentlich wieder mit ihm? In den letzten Tagen schon hatte er seine Grenzen deutlich überschritten und jetzt tat er es wieder. Warum, zum Teufel, konnte William es trotzdem nicht fertig bringen ihn dafür zur Rechenschaft zu ziehen? Warum konnte er Grell für seinen Verrat am Dispatch bestrafen, aber nicht für seine harten Worte ihm gegenüber? „…Ich habe dir nie irgendwelche Hoffnungen gemacht, Grell“, brachte er schließlich hervor, dieses eine Mal ganz klar in der Defensive. „Ich habe momentan absolut keine Lust, dieses Gespräch mit dir zu führen, William“, erwiderte der Rothaarige kühl und Angesprochener zuckte instinktiv zurück, als er zum ersten Mal seit ihrer Ausbildung seinen vollen Namen aus Grells Mund vernahm. „Wenn es nach mir geht, muss sich zwischen uns nichts ändern. Du kannst mit dieser Information gerne machen, was du willst.“ „Also stimmt es?“, hakte der Schwarzhaarige nach, worauf sein Gegenüber ihm allerdings keine Antwort mehr gab. „Du entschuldigst mich, ich habe noch eine Angelegenheit zu klären.“ „Und dann bin ich direkt hierhergekommen und ich stelle dir gerne noch einmal die gleiche Frage wie vorhin. Was zur Hölle hast du William erzählt?“, zischte Grell zornig und direkt in Carinas Gesicht hinein, das mit jedem seiner Worte aschfahler geworden war. Sie stolperte einen Schritt zurück und lehnte sich gegen den hölzernen Tresen, während sich ihre Lippen bebend öffneten. „Grell, das tut mir alles so leid. Ich schwöre dir, das war nicht geplant. Ich habe-“ „Na, das wäre ja auch noch schöner“, fauchte er wie eine Furie dazwischen und Carina beeilte sich weiter zu sprechen, bevor ihr Mentor vielleicht doch noch Reißaus nehmen würde. Oder noch schlimmer, seine Fäuste ins Spiel brachte. „William meinte doch zu dir, dass er noch etwas mit mir zu besprechen hätte, bezüglich unserer Vereinbarung. Das war gelogen. Er wollte einfach nur nicht vor dir zugeben, dass er dich nur länger in seinem Büro behalten wollte, um dich noch weiter zu demütigen.“ Grell schnaubte. Natürlich, das passte zu William. „Daraufhin wollte ich eigentlich sofort wieder gehen, aber dann hat sich sein ganzes Verhalten plötzlich verändert und er meinte zu mir, dass er dich einfach nicht versteht. Dein Verhalten und die Worte, die du zu ihm gesagt hast. Es war mehr als offensichtlich, dass er damit überfordert war. Dann sagte er, dass er keine Ahnung hat, was er von alldem halten soll und da ich ja deine Schülerin bin, müsste ich dich ja von allen am besten kennen. Und dann hat er mich plötzlich gefragt, ob ich ihm das erklären könnte“, sprudelte es wie ein Wasserfall aus ihr heraus, ehe Grell sie noch ein weiteres Mal unterbrechen konnte. „Ich war total genervt, habe ihn gefragt, ob er das wirklich ernst meint und als er dann tatsächlich zugegeben hat, dass er nicht die leistete Ahnung hat, da… da ist es mir einfach rausgerutscht.“ Sie schluckte und spürte gleichzeitig, wie sich das unangenehme Brennen in ihrer Kehle bemerkbar machte, das sie immer kurz vor einer Heulattacke hatte. „Ich hab’s noch in dem Augenblick bereut, in dem ich sein Büro wieder verlassen hatte, ich schwör’s. Es tut mir so leid, glaub mir das bitte.“ „Und warum hast du mich dann nicht vorgewarnt? Hast du gedacht, dass William schon seinen Mund halten wird und du so ganz einfach aus der Sache wieder rauskommst?“ Ertappt wie ein kleines Kind wurde Carina rot und schaute beschämt zu Boden. „Wenn ich ehrlich bin… ja“, flüsterte sie und schluckte. „Ich hab mich geschämt. Und ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen. Ich… ich wollte dich einfach nicht enttäuschen.“ Das Brennen breitete sich nun auch auf ihre Augenwinkel aus. Immer noch starrte sie stur zu Boden, unfähig ihrem besten Freund in die Augen zu sehen. Bleierne Stille senkte sich mehrere unendlich lange Sekunden über den Raum, dann drang ein schweres Seufzen an ihre Ohren. Vorsichtig hob sie ihren Blick und sah Grell an, der sich eine Hand an die Stirn gelegt hatte und ungläubig den Kopf schüttelte. „Weißt du, was mich an der ganzen Sache am meisten nervt? Dass ich mich damals wie der letzte Idiot an deine Regeln gehalten und Undy nicht viel früher von deinen Gefühlen oder gar der Schwangerschaft erzählt habe. Dann wären wir jetzt wenigstens quitt.“ Carina hatte keine Ahnung, was sie darauf erwidern sollte, also hielt sie den Mund. Auch fiel es ihr schwer einzuschätzen, ob Grell immer noch wirklich sauer auf sie war oder nicht. Erneut seufzte der Rothaarige. „Hast du ihm noch irgendetwas gesagt, dass ich vielleicht wissen sollte? Wenn ja, dann wäre jetzt der passende Moment, um es zu sagen.“ Die Deutsche presste die Lippen zusammen und dachte einen Augenblick lang angestrengt nach, ehe sie zögerlich erwiderte: „Ich hab ihm den Rat gegeben, dass er mit dir reden soll. Und…“, sie schluckte und fuhr kleinlaut fort: „Ich habe ihm geschworen, dass ich ihm wehtun würde, wenn er dir wehtut. Und dass das keine leere Drohung ist.“ Jetzt, wo sie diese Worte noch einmal für Grell wiederholen musste, kam sie sich plötzlich furchtbar dämlich vor. Sie biss sich auf die Lippe, als sie in Grells fassungsloses Gesicht sah. „Das… das hast du ernsthaft zu ihm gesagt?“, fragte der Todesgott und Carina nickte, immer noch unfähig ihm direkt in die Augen zu sehen. „Ach, ich weiß doch auch nicht“, platzte es mit einem Mal aus ihr heraus. „Ich meine, wirklich? Der Typ hatte absolut keine Ahnung, von gar nichts, und ich… ich musste es ihm einfach reindrücken. Allein sein Gesichtsausdruck war es wert, glaub mir. Und die Drohung… ich wollte ihm einfach klar machen, dass er so nicht mehr mit dir umgehen kann. Jedenfalls nicht mehr ohne Konsequenzen. Was weiß er denn schon über dich? Dass du ein aufgedrehter Kerl bist, der gerne mal über die Strenge schlägt und etwas seltsame Vorlieben hat?“ Grell zog eine empörte Schnute, doch Carina kümmerte sich nicht darum. „Das ist lediglich so ein winziger Teil von alldem, was dich ausmacht und ich wollte verdammt nochmal, dass er endlich lernt auch den Rest von dir zu würdigen. Es ist unfair, dass er dich und deine Gefühle nicht zu würdigen weiß, ist dir das eigentlich klar-“ Carina stoppte mitten im Satz und ihre Augen weiteten sich erschrocken, als sie sich plötzlich in einer Umarmung wiederfand. Irritiert sah sie ihren Mentor an, als dieser sich wieder von ihr löste und sie mit rollenden Augen ansah. „Also ehrlich. Dein Beschützerinstinkt geht zu den unmöglichsten Zeitpunkten mit dir durch, weißt du das eigentlich?“ „Hab es gelegentlich mal gehört…“, nuschelte sie und dachte dabei an Cedric, der es ihr bereits mehr als einmal gesagt hatte. „Hast du das ernsthaft genau so zu William gesagt?“ „Ich… fürchte schon“, antwortete sie ehrlich und wartete auf den großen Knall, der zwangsläufig kommen musste. Allerdings irrte sie sich dieses Mal gewaltig. Denn statt eines erneuten Wutausbruches, warf Grell lediglich den Kopf in den Nacken und begann schallend zu lachen. Carina starrte ihn an. Unwillkürlich musste sie sich fragen, ob sie mittendrin irgendwas verpasst hatte, denn jetzt kam sie eindeutig nicht mehr mit. „Warum lachst du denn jetzt?“, fragte sie verwirrt und traute sich jetzt wieder mehr den Mund aufzumachen. „Von deinen Stimmungsschwankungen bekommt man ja ein Schleudertrauma.“ „Und schon ist dein großes Mundwerk wieder da“, meinte Grell, packte sie an einem Ohr und zog sie dicht vor sein Gesicht. Der Todesgöttin entfuhr ein missbilligender Laut. „Glaub ja nicht, dass ich damit einverstanden bin, wie du die Situation gehandelt hast. Ich bin immer noch verdammt sauer. Obwohl die Vorstellung, wie William geguckt haben muss, als du ihm das alles um die Ohren gehauen hast…“, er lachte erneut, „schon ziemlich amüsant ist.“ Ein scharfer Schmerz schoss durch ihr Ohr, als Grell erneut an dem hochempfindlichen Organ zog. „Ich nehme deine Entschuldigung an. Aber solltest du noch einmal irgendwelche Dinge vor William ausplaudern, die ich dir im Vertrauen gesagt habe, dann wirst du mich kennenlernen.“ Es war ein dunkles Versprechen, das Carina automatisch schlucken ließ. Sie hatte absolut keine Lust Grells wahre Stärke in einem Kampf erleben zu müssen. Der Abstand von ihrer Kraft zu seiner war vielleicht nicht so gewaltig wie der zu Cedrics, aber sie wusste trotzdem, dass sie auch gegen ihn verlieren würde. Und zwar chancenlos. „Verstanden“, murmelte sie mit Ehrfurcht, aber dennoch erleichtert darüber, dass er ihr auf lange Sicht nicht böse sein würde. Sie konnte Grell einfach nicht verlieren. Nicht, nachdem sie schon Alice… Der Gedanke an ihre beste Freundin, deren Grab erst vor wenigen Stunden geschändet worden war und mit deren Leiche Samael wer weiß was getan hatte, trieb ihr wieder die Tränen in die Augen. Sie spürte, wie sich die Trauer und die Erleichterung miteinander vermischten und ihre Gefühlswelt für einen ganz kleinen Moment auf den Kopf stellten. „Was zum… Carina“, stammelte Grell entsetzt, als seiner besten Freundin plötzlich zwei dicke Tränen die Wangen hinunter kullerten. Sofort ließ er ihr Ohr los. „D-das ist doch kein Grund zu weinen. Ich verzeihe dir, wirklich. Und mein Auftritt gerade eben war vielleicht ein wenig übertrieben, aber ich war einfach so zornig, da-“ „Das ist es nicht“, unterbrach sie ihn mit zittriger Stimme. „Du hast jedes Recht darauf wütend auf mich zu sein und deine Reaktion war mehr als nur angebracht. Ich… ich bin heute einfach nicht so gut drauf.“ Weitere Tränen tropften zu Boden, doch ausnahmsweise kümmerte sie sich nicht darum. „Kurz, bevor du herkamst, waren Ciel und Sebastian hier. Sie haben mir erzählt, dass… dass…“, sie schnappte kurz nach Luft, doch immer noch war ihre sonst so kontrollierte Fassung unauffindbar. Man konnte viel über Grell sagen, aber dumm war er nicht. Er schaltete sofort. „Was hat er getan? Es geht doch um Samael, oder nicht?“ Sie alle hatten gewusst, dass nach der Aktion mit den Sterlings sicherlich noch weitere Provokationen folgen würden, doch wenn es so weit ging, dass sogar jemand wie Carina die Nerven verlor, dann musste es etwas Persönliches sein. Und er wurde nicht enttäuscht. „Er hat ihr Grab geschändet“, wisperte sie mit bebender Stimme und schaute Grell mit geröteten Augen an. „Alice…ihr Grab ist…“, sie sprach nicht weiter, als sie in dem Gesicht ihres Gegenübers die Erkenntnis aufflackern sah. Ebenso wie sie ca. eine Stunde zuvor erbleichte er, doch zeitgleich kam die Wut. „Das hat er nicht“, zischte Grell, obwohl er natürlich wusste, dass es stimmte. „Dieser abscheuliche Mistkerl!“ Ein Fauchen entfuhr seinen Lippen und rastlos tigerte er mit einem Mal im Raum umher, als ob es das Einzige wäre, das ihn momentan davon abhielt auf etwas einzuprügeln. „Ich wusste, dass es nicht leicht werden würde sich mit ihm anzulegen“, erwiderte Carina und wischte sich die Tränen von den Wangen, „aber mir war nicht bewusst, wie gut er darin sein würde einen genau da zu treffen, wo es so richtig wehtut.“ Sie lachte einmal trocken auf. „Jetzt wissen wir zumindest, von wem Sebastian all seine netten Eigenschaften hat…“ „Carina… das…“, mit einem Mal wurde ihm klar, dass er einfach ohne Rücksicht auf Verluste in den Laden gestürmt und sie angeschrien hatte. Und das, nachdem sie diese Hiobsbotschaft erhalten hatte. „Entschuldige dich jetzt bloß nicht bei mir“, kam sie ihm trocken zuvor und zuckte einmal mit den Schultern. „Ich sagte doch bereits, dass ich es nicht anders verdient hatte.“ Sie seufzte und versuchte das Thema zu wechseln. „Jedenfalls haben wir jetzt einen Plan gegen Samael ausgearbeitet, der vielleicht sogar funktionieren könnte.“ „Und wie sieht der aus?“, fragte Grell neugierig, setzte sich erneut auf einen Sarg und schlug die Beine übereinander. Sie lachte kurz auf, aber kein Amüsement lag in ihrer Stimme. „Dir wird er gefallen, da bin ich mir ganz sicher.“ „Heißt mit anderen Worten, dass er dir nicht gefällt?“ „Nicht sonderlich“, gab sie zu und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wir müssen zu einem Ball gehen.“ Grell quietschte – wie sollte es auch anders sein – erfreut auf. „Ehrlich? EHRLICH?“ Carina verdrehte die Augen. „Das war ja so klar“, murmelte sie, nickte aber notgedrungen. „Ja, Ciel wird einen veranstalten, um Samael aus der Reserve zu locken. Ronald und William werden ebenfalls eine Einladung bekommen und ich hoffe, dass sie beide zusagen. Wir sollten so viele Kämpfer wie möglich vor Ort haben.“ Die Augen des Rothaarigen begannen vor Freude zu funkeln. „Ich war seit meinem Selbstmord auf keinem Ball mehr. Oh mein Gott, das wird großartig.“ Carina versuchte gar nicht erst ihren besten Freund darauf hinzuweisen, dass sie das ganze Spektakel nicht zum Spaß machten, sondern ein Plan dahinter steckte, denn der Reaper würde ihr nicht zuhören, da kannte sie ihn gut genug. Und… er verdiente es nach dem heutigen Tag sich zu freuen. Sie würde alles dafür tun, um ihn bei dieser guten Laune zu halten. Egal, um was er sie in den nächsten Wochen bitten würde, sie würde zu allem Ja und Amen sagen. Das war sie ihm schuldig! „Und Lily? Wo soll sie währenddessen hin?“ „Darüber hab ich noch nicht nachgedacht“, gab Carina zu und überlegte. „Wenn wir sie fernab vom Geschehen lassen, wäre das wohl ziemlich vorhersehbar. Vermutlich wäre es auch hier die beste Lösung, wenn sie währenddessen im Anwesen der Phantomhives unterbringen könnten. Ich könnte Lizzy fragen, ob ihre Zofe noch einmal auf sie aufpassen könnte. Mir ist zwar nicht wohl bei dem Gedanken, dass dieser Mistkerl in ihre Nähe kommt, aber zumindest sind wir dann auch direkt vor Ort. Wenn wir sie irgendwo anders lassen und er sie in die Finger bekommt…“ Sie sprach nicht weiter, weil ihr allein bei dem Gedanken daran schlichtweg übel wurde. „Mir gefällt der Gedanke auch nicht, aber in unserer Situation ist das wohl noch die beste Lösung“, seufzte Grell. „Ich werde das noch mit Cedric absprechen. Wenn er keine andere Idee hat, dann werden wir es so machen“, erwiderte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. „Aber jetzt sollten wir wohl besser das machen, was wir ursprünglich im Sinn hatten. Unseren Schichtplan besprechen. Eigentlich wollten wir das ja erst morgen machen, aber wenn wir gerade schon mal Zeit haben…“ Grell hob eine Augenbraue. „Du willst jetzt noch über die Arbeit sprechen? Nach alldem, was heute passiert ist?“ „Das lenkt mich wenigstens ein bisschen ab“, seufzte sie und zuckte einmal mit den Schultern. „Was soll ich sonst machen? In Selbstmitleid versinken? Das bringt auch niemandem etwas, am allerwenigsten mir selbst. Und bis wir genaueres bezüglich des Balls planen können, muss Ciel das alles erst einmal organisieren. Also…wie steht’s mit der Todesliste?“ Die nächste Stunden verbrachten die beiden Todesgöttern mit der Organisation ihrer gemeinsamen Arbeitszeiten, sodass sie entweder Nachtschichten schoben oder die Zeiten tagsüber so legten, dass Cedric währenddessen nicht arbeiten musste und somit zu Hause bei Lily bleiben konnte. Außerdem bekam die 19-Jährige eine brandneue und aktualisierte Todesliste in die Hand gedrückt, die allerdings keine offizielle Registraturnummer beinhaltete. „Wie zum Teufel ist William da ran gekommen?“, fragte sie Grell verwundert, denn es verstieß gegen jegliche Regeln solch eine Liste zu benutzen. „Keine Ahnung, aber mit Sicherheit nicht auf legalem Wege. Wir können dich ja schlecht mit einer registrierten Liste herumlaufen lassen. Das würde viel zu viele Fragen aufwerfen. Stattdessen sind unsere Listen jetzt miteinander verbunden. Heißt, wenn ich einen Auftrag erledigt habe, verschwindet er von deiner Liste und umgekehrt genauso. So sind wir immer auf dem aktuellen Stand, ohne vorher in Kommunikation treten zu müssen.“ „Klingt gut“, warf die Deutsche ein und schob sich das kleine Buch in die Jackentasche ihres Mantels, der am Garderobenständer hing. „Also fangen wir morgen an?“ „Ich hole dich ab“, gab der Rothaarige nur zurück und erhob sich. „Alles klar. Könntest… könntest du vielleicht William und Ronald schon mal Bescheid sagen? Nur, wenn du willst natürlich, ansonsten könnte auch ich-“ „Ich mach das schon. Du müsstest dafür doch extra getarnt in den Dispatch kommen und setzt dich einem unnötigen Risiko aus, ich gehe sowieso wieder zurück. Und jetzt entschuldige dich nicht schon wieder, ich schaffe das“, fügte er noch hinzu, als er erneut in Carinas schuldbewusstes Gesicht sah. „Okay, wie du meinst“, antwortete sie zögerlich. „Wie gesagt, die Einzelheiten weiß ich noch nicht. Aber falls William irgendeinen Aufstand macht, kann er ja gerne hierher kommen und es mit mir ausdiskutieren.“ „Ich werde es ihm genau so ausrichten“, grinste Grell und zwinkerte ihr einmal spielerisch zu. „Mach das ruhig. Ich hab keine Angst vor William, Grell. Ganz im Gegenteil. Irgendwie sind diese Diskussionen mit ihm doch immer äußerst amüsant.“ Angesprochener seufzte. „Ich wünschte, ich hätte dein Selbstbewusstsein.“ „Soll das ein Witz sein? Du bist der selbstbewussteste Mensch, den ich kenne. Oder Todesgott, such dir was aus.“ „Aber nicht, was ihn angeht.“ „Weißt du, was ich glaube?“, begann sie, vorsichtig in ihrer Wortwahl, weil sie nicht wusste, ob Grell jetzt noch etwas in der Richtung von ihr hören wollte. Als ihr Mentor nickte, fuhr sie fort. „Ich glaube, dass William dich viel eher als denjenigen wahrnehmen würde, der du bist, wenn du ihm mehr Kontra geben würdest. Es behagt mir zwar nicht das zuzugeben“, sagte sie und grinste schief, „aber in manchen Bereichen sich Cedric und er sich ziemlich ähnlich. Und ich wäre Cedric wohl nie sonderlich aufgefallen, wenn ich immer mit allem einverstanden gewesen wäre, was er so sagt und macht.“ Grell runzelte die Stirn. „Du meinst, ich soll ihm öfter widersprechen?“ „Nein, nicht direkt. Ich meine damit, dass du ehrlich sein sollst. Und wenn das nun einmal beinhaltet, dass du ihm widersprichst, dann solltest du genau das tun.“ Sie warf ihm einen eindeutigen Blick zu. „Und ich weiß, dass du ihm häufig deine eigene Meinung mitteilen möchtest, dich aber zurückhältst, um ihn nicht unnötig zu verärgern.“ „Schon möglich“, murmelte der Reaper und strich sich einige wirre Haarsträhnen aus der Stirn. „Ich könnte es mir natürlich auch nur einbilden, aber ihr beide kennt euch schon so lange. Und niemals zuvor ist es vorgekommen, dass er zugegeben hat, dass er dein Verhalten nicht nachvollziehen kann, oder? Das kam erst, nachdem du zu ihm gesagt hast, dass er und der Dispatch für dich zwei völlig unterschiedliche Sachen sind. Da hast du ihm zum allerersten Mal vollkommen ungefiltert deine Gedanken mitgeteilt, oder etwa nicht?“ Grell hörte ihr aufmerksam zu. Irgendwie… wenn er so darüber nachdachte… dann machten ihre Worte auf seltsame Art und Weise Sinn. Dennoch konnte er sich einen kleinen Seitenhieb nicht ganz verkneifen. „Vielleicht sollte ich ihm auch sagen, dass ich ihm keine Rechenschaft schuldig bin, was meinst du?“ Carina errötete schwach, als sie die Andeutung sofort verstand. „Das werde ich mir wohl noch in 100 Jahren anhören dürfen, hmm?“, erwiderte sie und versuchte nicht daran zu denken, was für Konsequenzen ihr dieser eine Satz im Nachhinein eingebracht hatte. „Worauf du dich verlassen kannst“, antwortete Grell mit bester Laune und klopfte seiner besten Freundin einmal auf die Schulter. „Wir sehen uns morgen. Ich hol dich ab.“ Carina nickte und sah dem Rotschopf dabei zu, wie er sich langsam auflöste und somit in den Dispatch zurückkehrte. Sobald sie sich darüber bewusst wurde, dass sie endlich alleine war, spürte die Schnitterin plötzlich die geistige Erschöpfung der letzten paar Stunden. Es war nicht mit einer normalen Müdigkeit zu vergleichen, die einem die Augen zufallen ließ. Vielmehr fühlte es sich an, als hätte sich ein kleiner Abgrund in ihrem Inneren aufgetan. Hätte sie die Sache mit Grell vermasselt… sie wollte sich gar nicht erst vorstellen, wie viel schlechter es ihr dann jetzt erst gehen würde. Leise ging sie nach oben und schaute kurz nach Lily, die aber nach wie vor fest schlief. Seufzend machte sie sich endlich daran den Haushalt auf Vordermann zu bringen. Es stellte eine willkommene Ablenkung dar und als sie sich nach einer Stunde in die Küche begab, um mit den Vorbereitungen für das Abendessen anzufangen, fühlte sie sich wesentlich ausgeglichener als noch vor wenigen Stunden. Dennoch, ein kleiner Wutfunken in ihrem Bauch blieb. „Er hält sich wirklich für einen Gott“, dachte sie, während sie die Zwiebeln in feine Würfel schnitt. „Denkt, er kann sich alles erlauben und kommt damit durch. Aber nicht mit mir, du Bastard.“ Ein überraschtes Zischen entkam ihren Lippen, als sie vor lauter Wut ein wenig zu viel Druck auf das Messer ausübte und die Klinge nicht nur in die Zwiebel, sondern auch gleich noch in die Haut ihres Daumens schnitt. Ein derber Fluch verließ ihren Mund und sie nahm den Finger automatisch zwischen die Lippen, um das heraustropfende Blut abzufangen. Kurz brannte der Schnitt höllisch unangenehm, doch als sie ihren Finger wieder hervorzog, begann die Wunde bereits wieder zu verheilen. „Shinigami hin oder her“, dachte sie und erinnerte sich an die Zeit zurück, als sie Cedric gerade erst kennengelernt hatte, „ich bin immer noch genauso ein Tollpatsch wie damals.“ Ja… damals nach der ersten Begegnung mit Ciel und Sebastian hatte sie sich ebenfalls in den Finger geschnitten. Der einzige Unterschied zu jener Zeit war, dass ihre Wunde nun beinahe sofort heilte und sie kein Pflaster mehr brauchte, das der Undertaker ihr um den Finger legte. „Na ja… vielleicht nicht der einzige Unterschied“, schmunzelte sie. Ein wenig erwachsener war sie seitdem mit Sicherheit auch geworden, zumindest hoffte sie das für ihr eigenes Wohl. Wenn sie die Anfangszeit in diesem Jahrhundert rückblickend betrachtete, dann war sie doch reichlich naiv gewesen. Wobei genau diese Naivität auch dafür gesorgt hatte, dass sie jetzt genau da war, wo sie hingehörte. Es hatte reichlich Spielraum für sie gegeben sich weiterzuentwickeln und sie war sich sicher, dass das noch nicht das Ende war. „Wer weiß? Vielleicht denke ich in 100 Jahren, dass ich gerade in diesem Augenblick auch ziemlich naiv war.“ Nur mit Mühe konnte sie ein trockenes Lachen unterdrücken. „Vorausgesetzt, dass ich in einem Jahrhundert überhaupt noch am Leben bin.“ „Und, hat er sich wieder beruhigt?“, fragte Cedric sie eine Dreiviertelstunde später, als er zum Essen nach oben kam. „Ja, Gott sei Dank“, antwortete sie ihm und stellte die Teller auf den Tisch, während der Bestatter sich gründlich die Hände wusch. „Aber ich wiederhole es gerne noch einmal. Er hatte jedes Recht dazu sauer auf mich zu sein.“ „Trotzdem“, erwiderte der Silberhaarige und trocknete sich die Hände mit einem Geschirrtuch ab, ehe er sich zu ihr umdrehte, „ich dulde nicht, dass jemand so mit dir spricht. Weder er, noch sonst irgendjemand.“ „Aww“, meinte sie, grinste leicht und stellte sich so dicht vor ihn, dass sich ihre Oberkörper berührten. „Mein Ritter in schimmernder Rüstung“, neckte sie ihn und drückte ihm einen kurzen, liebevollen Kuss auf die Lippen. „Jederzeit“, grinste er zurück und drückte ihr ebenfalls einen Kuss auf den Mund, der aber deutlich länger ausfiel als der erste. Während sie beide aßen, herrschte die ersten paar Minuten eine angenehme Stille. Schließlich jedoch ergriff Carina erneut das Wort. „Grell holt mich morgen Mittag zu unserer ersten gemeinsamen Schicht ab.“ Bevor der Bestatter antworten konnte, fügte sie noch schnell hinzu: „Und er wird mich zu keiner Sekunde aus den Augen lassen. Keine Alleingänge, versprochen.“ „Gut“, gab er zurück und bedachte sie mit einem Blick, den die Schnitterin im ersten Moment nicht so richtig zu deuten wusste. Als sie seine nächsten Worte vernahm, wurde ihr jedoch klar, dass er sich nicht um ihre Sicherheit, sondern um sie selbst sorgte. „Bist du dir immer noch sicher, dass es das ist, was du willst? Ich habe dich auf der Campania gesehen. Wie du die Seele eines Kindes eingesammelt hast. Es hat dir nicht sonderlich gefallen.“ „Es wird mir auch jetzt nicht sonderlich gefallen. Die Seelen von Kindern einzusammeln ist immer schwer“, gab sie zu und seufzte. „Aber ich werde damit klar kommen. Die Situation damals war eine andere.“ „Inwiefern?“ Sie lächelte. „Damals war ich allein und in der Annahme, dass das auch mein ganzes weiteres Leben lang so bleiben würde. Dass das Einsammeln der Seelen der einzige Grund ist, warum ich überhaupt noch auf Erden wandele und ich diesen Umstand nun einmal hinnehmen muss. Jetzt ist das anders.“ Ihr Lächeln wurde breiter. „Jetzt habe ich dich und Lily. Eine Familie, die ich liebe. Eine Familie, zu der ich immer zurückkehren kann, egal wie scheiße meine Schicht auch war und was für schreckliche Todesfälle ich mir währenddessen ansehen musste. Für euch würde ich jedes Opfer dieser Welt bringen und hey, es gibt definitiv Schlimmeres, als wieder eine Todesliste abzuarbeiten. Ich freue mich darauf wieder eine Aufgabe zu haben, die nichts mit Hausarbeit zu tun hat.“ Cedrics Hand glitt über den Tisch und legte sich über ihre eigene. Sofort reagierte sie auf seine Geste und verschränkte ihre Finger mit seinen, genoss die von ihm ausgehende Wärme. „Ein Jammer, dass der Dispatch keine Ahnung hat, welche großartige Schnitterin ab morgen wieder im Dienst sein wird“, flüsterte er und Carina spürte, wie sich ihre Wangen aufgrund seines Kompliments leicht röteten. Aber der Undertaker war noch nicht fertig. „Dafür weiß aber ich immerhin ziemlich genau, welche großartige Frau ich abbekommen habe.“ „Cedric“, schluckte sie leise und versuchte das Brennen in ihren Wangen zu ignorieren. Ob Mensch oder auch Shinigami, sie konnte nach wie vor nicht sonderlich gut mit Komplimenten umgehen. Der Silberhaarige lachte leise. „Wir sollten besser schlafen gehen. Wenn ich noch länger in dein gerötetes Gesicht schaue, wirst du vor deiner allerersten Schicht viel zu wenig Schlaf bekommen.“ Hätte er diese Worte doch nicht in den Mund genommen! Carina bekam in dieser Nacht tatsächlich wenig bis gar keinen Schlaf, allerdings lag das nicht etwa daran, dass sie Sex hatten. Vielmehr schreckte die Deutsche mitten in der Nacht laut keuchend aus dem Schlaf, schweißgebadet und mit rasendem Puls. Ihre Augen huschten im ersten Augenblick unruhig hin und her, darauf bedacht sich zu orientieren und als ihr dann endlich aufging, dass alles nur ein Albtraum gewesen war, ließ sie sich erschöpft in die Kissen zurückfallen, sich dem feucht klebenden Nachthemd auf ihrem Körper unangenehm bewusst. Cedric war durch ihr Keuchen ebenfalls aus seinem Schlaf gerissen worden und schaute sie nun aus besorgten Augen an. „Alles okay?“, fragte er leise in die Stille des Raumes hinein, die lediglich durch ihre heftigen Atemzüge unterbrochen wurde. „Nein“, wisperte die 19-Jährige mit zittrigen Lippen zurück und legte sich eine Hand über die Augen, als ob sie sich so von den Bildern in ihrem Kopf abschirmen könnte. Ihr ganzer Körper fühlte sich trotz der Bettdecke plötzlich klamm an. „Möchtest du darüber reden?“ Ein paar Sekunden ließ Carina sich Zeit mit ihrer Antwort, dann sagte sie: „Es geht wieder um Alice. Die gleichen Albträume, nur, dass jetzt auch noch ihr geschändetes Grab eine Rolle darin spielt.“ Sie seufzte schwer und wischte sich einmal über die Stirn. „Ich hätte wissen müssen, dass mich die Sache so schnell nicht loslässt.“ „Und das erwartet auch niemand von dir“, antwortete er sanft und ergriff wie bereits beim Abendessen ihre Hand, um sie leicht zu drücken und ihr damit zu signalisieren, dass er bei ihr war. Sie lächelte leicht, doch im Gegensatz zum Abendessen war dieses hier wesentlich deprimierter. „Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe“, flüsterte sie. „Alles gut“, murmelte er und zog sie näher an sich heran, sodass sich ihre beiden Oberkörper aneinanderschmiegten und er die Arme um sie legen konnte. Carina wollte ihn eigentlich darauf hinweisen, dass er das nicht machen musste; erst recht nicht jetzt, wo sie ihre Kleidung voll geschwitzt hatte. Doch sie hatte bereits wieder müde die Augen geschlossen und genoss seine Nähe, seinen Geruch und die Sicherheit, die er ihr damit vermittelte. Dennoch wachte sie noch ganze drei Mal in dieser Nacht auf. Und jedes Mal stellte sie sich die Frage, ob sich Samael eigentlich darüber im Klaren war, dass er ihr Albträume bescherte, die nicht einmal mehr Cedric mit seiner Nähe fernhalten konnte. Kapitel 93: Jeder hat eine Vergangenheit ---------------------------------------- „Also, um diesen Mistkerl tut’s mir definitiv nicht leid“, grinste Carina und setzte einen Stempel auf ihre Todesliste. Es hatte eine Schießerei zwischen der Polizei und einem Mann gegeben, der vor einer Stunde seine Frau tot geprügelt hatte. Endergebnis: Carina und Grell hatten sowohl die Seele der Frau eingesammelt, als auch jetzt die des Mannes und eines der Polizisten, der den Vorfall leider nicht lebend überstanden hatte. „Um den hier schon eher“, meinte Grell und setzte unter dem Bild des Polizisten ebenfalls einen Stempel in sein Buch. Mittlerweile waren zwei Wochen vergangen, seit sie das erste Mal wieder zusammen mit Grell ihrem Dienst als Schnitterin nachgegangen war. Sie hätte es nicht für möglich gehalten, aber es fühlte sich gut an eine Aufgabe zu haben. So schrecklich die Tode mancher Menschen auch ab und zu sein mochten, irgendwie war es doch in den letzten Jahren ein Teil ihres Lebens geworden, den sie in ihrer Schwangerschaft und in der Zeit danach vermisst hatte. „War’s das für heute?“ „Jap“, lautete Grells Antwort und beide machten es sich auf dem Dach eines nahen Hauses gemütlich. „Schon was Neues von dem kleinen Phantomhive gehört?“ „Noch nicht. Aber so ein Ball plant sich auch nicht innerhalb von wenigen Tagen. Es soll doch alles perfekt werden.“ „Will ich doch schwer hoffen. Ich bin schon ganz aufgeregt. Außerdem kann ich mich einfach nicht entscheiden. Wie soll ich meine Haare tragen? Welche Schuhe? Und Gott, welche Farbkombination?“ Carina lachte. „Ich glaube, auf die letzte Frage wissen wir doch beide die Antwort“, erwiderte sie trocken und jetzt kicherte auch Grell. „Was soll ich sagen, Rot stand mir einfach immer schon am besten.“ „Eine andere Farbe kann ich mir an dir auch einfach nicht mehr vorstellen“, gab Carina zu. „Aber wie sieht es denn bei dir aus? Du brauchst doch auch noch ein Kleid, oder etwa nicht?“ Angesprochene stöhnte. „Erinnere mich bitte nicht daran. Ich hasse Ballkleider. Ich hasse einfach diese ganze Veranstaltung. Glaub mir, wenn ich die Wahl hätte, dann würde ich nicht mal hingehen.“ Grell seufzte und schüttelte den Kopf. „Was das angeht, werde ich dich wohl nie verstehen.“ Sie plauderten noch ein paar Minuten, dann machte Carina sich auf den Weg nach Hause. Die Schicht hatte 6 Stunden gedauert und bald würde die Sonne anfangen unterzugehen. Gekocht hatte sie bereits am Mittag und auch die übrigen Hausarbeiten waren erledigt, sodass sie zumindest jetzt ein paar ruhige Stunden mit Cedric und ihrer Tochter verbringen konnte. Das Klingeln der Türglocke kündigte ihr Eintreffen an und bevor sie auch nur ein Wort sagen konnte, hörte sie bereits Cedrics eilige Schritte auf der Treppe. Sie runzelte die Stirn. War etwas passiert oder warum hatte er es so eilig? „Du glaubst nicht, was passiert ist“, rief er ihr anstelle einer Begrüßung entgegen und grinste breit wie ein Honigkuchenpferd. Carina hob beide Augenbrauen. „Hallo Liebling, ich freue mich auch dich zu sehen“, gab sie mit einer Spur Sarkasmus zurück und lachte, als er daraufhin eine Schnute zog. Sie überwand die zwei Schritte zu ihm und drückte einen festen Kuss auf seine Lippen. „Was ist denn passiert, dass du dich so überschwänglich freust?“ „Ich habe unsere Tochter gerade eben ins Bett gebracht und als ich sie zugedeckt habe, hat sie mich angesehen“, sagte er und grinste jetzt wirklich so breit, dass Carina sich fragen musste, ob das nicht unangenehm in den Mundwinkeln ziehen musste. Aber Cedric war ja noch nicht fertig. „Und dann… dann hat sie mich einfach angelacht“, freute er sich wie ein kleines Kind und Carina konnte einfach nichts gegen das warme Gefühl tun, das bei diesem Anblick in ihrem Bauch aufstieg. Sie liebte es, wenn er sich so intensiv für etwas begeistern konnte. Und sie liebte es, dass er seine Tochter so liebte. „Wie hast du auf der Campania noch so schön gesagt? Wie traurig, dass es hier bald kein Gelächter mehr geben wird. Tja, davon kann in diesem Haushalt wohl keine Rede sein.“ „Dafür werde ich höchstpersönlich sorgen“, grinste er und gab ihr nun seinerseits einen kurzen Kuss. „Wie war deine Schicht?“ Die Blondine zuckte mit den Schultern. „Nichts Besonderes. Aber Grell dreht noch komplett durch, wenn nicht bald diese Einladungen kommen.“ Cedric lachte. „Er kann es wohl gar nicht mehr abwarten, was?“ „Da ist er aber auch der Einzige“, rollte sie mit den Augen und seufzte ein weiteres Mal. „Ich habe absolut keine Lust auf dieses ganze Spektakel. Wenn ich allein an die ganzen Adeligen denke, die mit ihren Champagner Gläsern dann wieder um uns herumscharwenzeln…“ Der Silberhaarige unterdrückte ein Auflachen. „Ich kann mir auch Schöneres vorstellen, aber wenn alles gut läuft, sind wir danach Samael los, also…“ „Ja, das ist mir auch klar. Es gefällt mir trotzdem nicht“, stellte sie noch ein weiteres Mal fest und zog sich ihren Mantel aus, um ihn anschließend am Kleiderständer aufzuhängen. Genau in diesem Moment öffnete sich überschwänglich die Eingangstür und nur ihren schnellen Reflexen verdankte Carina es, dass diese nicht auf unschöne Art und Weise mit ihrer Nase kollidierte. „Hallo allerseits“, rief in diesem Moment die Stimme eines jungen Mannes und im ersten Moment dachte die 19-Jährige, dass es sich um Ronald handelte, hatte dieser doch auch diese ungestüme Art an sich. Doch als ihre Augen auf den Inhaber der Stimme fielen, erkannte sie den Irrtum. Der junge Mann hatte kurzes, leicht gelocktes blondes Haar, das er unter einer flachen Schirmmütze trug. Auf seiner Nase und den Wangen waren ein paar vereinzelte Sommersprossen zu sehen und er hatte ein breites Grinsen aufgesetzt, das ihn jünger aussehen ließ, als er wahrscheinlich war. Wenn Carina sein Alter schätzen müsste… nun, er war mit Sicherheit nicht so viel älter als sie. Vielleicht 22 oder 23? „Ah, hallo Pitt“, sagte in diesem Moment der Bestatter und die Schnitterin horchte auf. Pitt? War das nicht dieser freiberufliche Reporter, der zudem den Aristokraten des Bösen angehörte? So hätte sie sich ihn eigentlich nicht vorgestellt. Irgendwie sah er so aus, als könnte er eigentlich kein Wässerchen trüben. Aber diesen Eindruck vermittelte manchmal auch Ciel und der hatte es faustdick hinter den Ohren, von daher… „Lange nicht mehr gesehen, Undertaker. Schön, dass du wieder auf unserer Seite bist.“ Cedric kicherte. „Hehe, theoretisch war ich nie auf der anderen Seite. Ein paar Aktionen meiner Wenigkeit haben dem lieben Earl einfach nur nicht sonderlich gefallen.“ „Und nicht nur ihm“, bemerkte Carina trocken am Rande und sorgte damit dafür, dass der Reporter sie ins Blickfeld nahm. Seine Augen wurden deutlich größer. „Ich habe es zwar schon gehört, wollte es aber nicht glauben. Du hast echt geheiratet?“ Der Bestatter grinste. „Schuldig“, meinte er und fing sich dafür sofort einen bösen Blick von Carina ein. Pitt hingegen lachte amüsiert auf und hielt der 19-Jährigen seine Hand entgegen. „Freut mich sehr, Teuerste. Mein Name ist Pitt und Sie müssen wirklich Nerven aus Stahl haben, wenn Sie es auf Dauer mit diesem verrückten Kerl hier aushalten.“ „Carina“, antwortete Angesprochene und ergriff seine dargebotene Hand mit einem festen Händedruck, „und ja, das können Sie wohl laut sagen.“ Der Silberhaarige zog eine beleidigte Schnute. „Wie gemein ihr zu mir seid.“ Die beiden blonden Personen im Raum ignorierten ihn. „Was machen Sie beruflich, Carina?“ „Ich arbeite halbtags für ein Dienstleistungsunternehmen im Büro. Allerdings derzeit nur nach Bedarf, weil ich mich um unsere Tochter kümmere, wenn er hier arbeitet.“ Sie nickte mit dem Kopf zu Cedric hinüber, der aufgrund ihrer schnellen Antwort beeindruckt eine Augenbraue hob. Pitt hingegen klappte der Mund auf. „Du bist auch noch Vater geworden? Meine Güte, Undertaker, das ist ja wirklich… Mir fehlen die Worte und das kommt mitnichten oft vor.“ Die Schnitterin ließ den jungen Mann zu keiner Sekunde aus den Augen. Sie war gerade noch mitten in ihrem Meinungsbildungsprozess von ihm und hatte sich noch nicht abschließend festgelegt. Allerdings sagte ihr ihre Menschenkenntnis, dass er auf seltsame Art und Weise in Ordnung war. Er war mehr als nur ein einfacher Reporter, das konnte sie auf den ersten Blick sehen. Und damit meinte sie nicht seine Mitgliedschaft bei den Aristokraten des Bösen, sondern seine beinahe zwanghaft unbekümmerte Art. Einen ähnlichen Eindruck hatte sie bisher nur bei Ciel gehabt. Mit ziemlicher Sicherheit hatte auch dieser Mann hier vor ihr keine leichte Vergangenheit vorzuweisen… „Was verschafft mir denn die Ehre deines Besuches, Pitt?“ „Der Earl hat momentan viel zu tun und bat mich euch beiden das hier vorzubringen, da ich sowieso nicht weit weg von euch wohne“, sagte Pitt und hielt ein teuer verpacktes Einladungsschreiben hoch. Carina stöhnte. „Der Ball“, meinte sie wenig begeistert und schnappte sich das Schreiben aus der Hand des verdattert dreinblickenden Reporters. „Hui, deine Frau scheint genau zu wissen, was sie will, Undertaker. Vielleicht sollten wir sie in den Club holen.“ Er wackelte zweimal mit den Augenbrauen, doch Carina durchschaute seine Aussage. Von wegen Club. „Nein danke, ich habe kein Interesse für den Earl zu arbeiten. Geschweige denn seine Drecksarbeit zu machen. Ganz abgesehen davon… Aristokraten des Bösen? Ist ihm kein besserer Name eingefallen?“ Erneut schenkte Pitt ihr einen überraschten Blick. „Moment mal, sie weiß alles?“, fragte er und Cedric zuckte mit den Schultern. „Ich habe keine Geheimnisse vor meiner Frau“, sagte er und nahm mit Freude zur Kenntnis, dass ein kurzes Lächeln über Carinas Lippen huschte. „Und Carina, der Name war nicht die Idee des Earls. Diese Gruppierung existiert bereits seit mehreren Generationen und bisher hat niemand darüber nachgedacht den Namen zu ändern.“ „Allerdings“, stimmte Pitt ihm zu und grinste fröhlich. „Ganz im Gegenteil. Mister Vince fand den Namen immer äußerst passend. Gott, wie oft hat er darüber immer mit Diederich diskutiert. Der fand die Bezeichnung auch immer schrecklich.“ Carina hob eine Augenbraue. „Moment mal“, sagte sie und schaute zwischen dem Undertaker und dem Reporter hin und her. „Sie kannten Vincent Phantomhive? Ist der nicht schon seit fast 5 Jahren tot?“ Kurz sah sie Cedric an, doch dieser ließ sich in keinster Form anmerken, dass ihm dieser Satz irgendwie wehgetan hatte. „Richtig. Ich bin aber schon lange vor seinem Tod für ihn tätig gewesen. Dieses Jahr müssten es 15 Jahre her sein.“ Carina blinzelte. „Okay, ich muss Sie das jetzt fragen. Wie alt sind Sie?“ Er grinste spitzbübisch. „Ich werde bald 29.“ Sie starrte ihn ungläubig an. Wow, er hatte sich wirklich gut gehalten, das musste sie zugeben. Aber… „Sie waren seit Ihrem 14. Lebensjahr für ihn tätig? Interessanter Werdegang, das muss ich schon sagen.“ Der Mann ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Ja, das kann man so sagen“, antwortete er ihr kess und Carina war klar, dass das Thema für ihn an dieser Stelle erledigt war. Er wandte sich wieder Cedric zu. „Sollte ich den Sinn hinter dieser Veranstaltung in Frage stellen?“ Der Silberhaarige lächelte. „Nichts, worüber du dir Gedanken machen müsstest“, lautete seine Antwort und Pitt seufzte. „Dachte ich mir“, murmelte er und zuckte einmal mit den Schultern. „Na ja, es wird schon alles gut gehen. Aber ich bin jetzt schon auf die Fotos gespannt, die ich an diesem Abend schießen werde“, grinste er und winkte einmal zum Abschied. „War nett Sie kennen zu lernen“, sagte er an Carina gewandt. „Wir sehen uns dann auf dem Ball.“ Carina sah ihm nach, als er das Bestattungsinstitut verließ und schaute dann Cedric an. „Scheint, als wären irgendwie nur komische Leute bei diesen Aristokraten des Bösen, was?“ „Kommt drauf an, wie du komisch definierst“, kicherte er. Sie warf ihm einen eindeutigen Blick zu. „Da würden mir jetzt einige Wörter zu einfallen, aber ich möchte keinen Streit mit dir anfangen.“ „Weil dir der letzte nicht sonderlich gut bekommen ist?“ Er grinste. Sie verdrehte die Augen. „Dir doch auch nicht“, spielte sie auf ihre anschließende kleine Racheaktion an und öffnete im gleichen Moment die Einladungskarten. „Ah, ich darf Botin spielen. Die Einladungen für Grell, Ronald und William sind auch dabei. Ebenso die für Emma und Charlie.“ „Glaubst du, sie werden alle kommen?“ „Ronald und Grell auf jeden Fall. William hat sich noch nicht entschieden und was Emma und Charlie angeht… die habe ich noch gar nicht gefragt. Das werde ich morgen nachholen. Bei ihnen weiß ich ehrlich gesagt am wenigsten, wie sie reagieren werden. Gerade für Charlie wird es schwer sein, er hat sich sicherlich immer noch nicht von alldem erholt, was passiert ist. Aber wenn ich ihm klar machen kann, dass das alles nur zu ihrem Schutz passiert, dann wird er hoffentlich einlenken. Es geht hier immerhin um Emma und sein ungeborenes Kind…“ Sie seufzte. Bei solchen Gelegenheiten sehnte sie sich die Zeit zurück, in der sie eine unwissende 16-Jährige gewesen war und ihre größte Sorge sich darum gedreht hatte, was für eine Note sie in der nächsten Klausur erzielen würde. „Das wird schon. Du kannst sehr überzeugend sein, das musste ich inzwischen einsehen.“ Sie warf ihm einen amüsierten Blick zu. „Stimmt, da hast du Recht. Aber kommen wir doch noch mal zurück auf Pitt. Ist er in Ordnung?“ Cedric verzog keine Miene. „Zuerst würde ich gerne wissen, was du über ihn denkst.“ „Ich denke“, begann Carina und setzte sich auf einen der Särge, „dass hinter ihm mehr steckt als nur ein freiberuflicher Reporter, der sich irgendwann dazu bereit erklärt hat für Vincent Phantomhive zu arbeiten und Skandale auf die Titelseiten zu bringen. Ich meine… ernsthaft? Vincent hat ihn aufgegabelt, als er 14 Jahre alt war und da war er sicherlich noch kein Reporter.“ Carina wusste nicht, ob sie sich auf dünnes Eis begab, wenn sie über Cedrics toten Sohn sprach, aber es fühlte sich irgendwie danach an. Der Silberhaarige jedoch schien es locker zu nehmen, sie entdeckte zumindest keine gegenteiligen Anzeichen. „Du hast Recht. Da war noch mehr.“ Er wirkte äußerst zufrieden darüber, dass Carina bereits nach diesem kurzen ersten Treffen die richtigen Schlüsse gezogen hatte. „Pitt war ein Mudlark.“ Carina runzelte die Stirn. Sie sprach Englisch mittlerweile genauso fließend wie ihre Muttersprache, aber dieses Wort kannte sie nicht. „Was bedeutet das?“ „Mudlark nennen wir diejenigen, die im Flussschlamm der Themse nach Wertgegenständen suchen, um diese dann zu verkaufen. In der Regel sind es Kinder und Jugendliche, die kein Geld haben und sich nicht anderweitig zu helfen wissen. Aber ich hätte vermutet, dass du sie bereits getroffen hast.“ Carina hob fragend eine Augenbraue, doch der Bestatter fuhr sofort mit der passenden Erklärung fort. „Die Arbeitsbedingungen dort sind verdammt schmutzig und unhygienisch. Wir wissen beide, was alles in der Themse rumschwimmt.“ Die 19-Jährige erschauderte bei dem Gedanken, dass es jemanden gab, der sich freiwillig in die Themse begab und sei es auch nur am Rande. In diesem Fluss gab es wirklich alles. Von Abfall und Kot, bis hin zu Leichen von Tieren und sogar Menschen war sicherlich alles dabei. „Oft verletzen sie sich an angespülten Glasscherben oder anderen scharfen Gegenständen. Und noch viel öfter passiert es in diesen Fällen, dass-“ „Schon klar“, unterbrach sie ihn verstehend. „Blutvergiftungen, richtig?“ Er nickte. „Hast du in deiner Zeit als Seelensammlerin nie die Seele von einem dieser Kinder eingesammelt?“ „Ein paar Leichen in der Themse waren schon dabei, aber die waren nicht unbedingt immer Kinder. Und die Todesursache war auch nicht immer Blutvergiftung“, überlegte sie laut. „Aber wenn ich so genau darüber nachdenke… Ich habe ab und zu schon ein paar Kinder am Rande des Flusses gesehen, mir aber nichts dabei gedacht. Tja, man lernt wohl nie aus.“ Aber jetzt hatte er ihr Interesse geweckt. „Pitt war also ein Mudlark. Und wie ist er dann Vincent Phantomhive ins Auge gefallen?“ „Vincent war in seiner Funktion als Wachhund der Königin mit einem Fall beschäftigt. Wenn ich mich richtig erinnere, ging es um eine Mordserie, in deren Verlauf die Opfer immer erst nach ein paar Tagen aus der Themse gefischt werden mussten.“ „Dann scheint der Täter nicht dumm gewesen zu sein. Das Problem mit Wasserleichen – das unschöne Aussehen mal außer Acht gelassen – ist, dass sich nach dieser langen Zeit im Wasser kaum noch verwertbare Beweise finden lassen. Jedenfalls nicht in diesem Jahrhundert.“ „Schlaues Mädchen“, grinste der Silberhaarige. „Ja, die Polizei kam in diesem Fall nicht weiter und daher wurde Vincent hinzugezogen. Seine genauen Ermittlungen kenne ich nicht, aber an irgendeinem Punkt hat er sich am Ufer der Themse umgesehen.“ Erkenntnis breitete sich auf Carinas Gesichtszügen aus. „Und ist dort auf Pitt getroffen.“ „Ganz genau.“ „Aber das war nicht alles, oder? Irgendetwas an dem Jungen hat seine Aufmerksamkeit erregt. Oder… er konnte ihm bezüglich des Täters weiterhelfen?“ Cedric lachte. „Beides, um ganz genau zu sein.“ Er lehnte sich gegen den Empfangstresen. „Als er auf Pitt traf, war dieser gerade dabei eine Leiche aus der Themse zu ziehen. Und wir sprechen hier nicht von einem Aristokraten des Bösen oder eines Polizisten oder gar einem Todesgott. Wir sprechen von einem 14-jährigen Jungen.“ „Das muss schlimm für ihn gewesen sein“, murmelte Carina und runzelte die Stirn, als der Todesgott daraufhin laut auflachte. „Und genau an diesem Punkt irrst du dich. Natürlich, die naheliegendste Reaktion wäre wohl Panik. Oder Angst. Oder von mir aus auch Kummer, aber genau das ist nicht passiert. Pitt hat die Leiche aus dem Fluss gezogen und anstelle einer der vorgenannten Reaktionen, hat er den Körper einfach neben sich ans Ufer geworfen und gleich darauf weiter nach irgendwelchen Wertgegenständen gesucht – als wäre nicht das Geringste passiert.“ Carina blinzelte. Sie versuchte sich das Ganze vorzustellen. Einen kleinen Jungen im Alter von Ciel Phantomhive am Ufer der Themse, über und über mit Schlamm und Dreck bedeckt. Wie er einen leblosen Körper aus dem Wasser zog und dann einfach beiseite warf. Wie ein Stück Abfall, das er leider nicht gewinnbringend verkaufen konnte. Sie lachte trocken auf, obwohl ihr nicht wirklich danach zumute war. „Natürlich musste das Vincents Interesse wecken, ich kann es mir vorstellen.“ Sie überlegte kurz und dachte an Ciel. „Wenn ein Junge in diesem Alter so gefühlskalt auf eine Leiche reagiert, dann muss er bereits vorher einiges durchgemacht haben.“ „Pitt war 10 Jahre alt, als seine Eltern bei einem Unfall ums Leben kamen. Er hatte keine Verwandten, die ihn hätten aufnehmen können und die Heime… nun, sagen wir, sie waren zu der Zeit nicht die beste Option. Also hat er auf der Straße gelebt und sich mit dem Geld über Wasser gehalten, dass er durch seine Tätigkeiten als Mudlark verdiente.“ „Ein Wunder, dass er so lange überlebt hat“, murmelte Carina. Als Shinigami hatte sie viele Kinder gesehen, die durch das Leben auf der Straße den Tod gefunden hatten. Die häufigste Todesursache war Erfrieren oder Verhungern, aber auch die unzähligen Krankheiten, denen man dort schutzlos ausgeliefert war, spielten eine tragende Rolle. Dieser Pitt konnte nicht dumm sein, wenn er ganze 4 Jahre auf sich allein gestellt überlebt hatte und das ohne irgendwelche körperlichen Schäden, die man ihm langfristig hätte ansehen müssen. Aber auch, wenn seine körperliche Verfassung in Ordnung war, seine Psyche musste es zwangsläufig beeinflusst haben. Vielleicht hatte Carina deswegen das Gefühl, dass hinter ihm mehr steckte. Weil er diese unterschwellige Aura ausstrahlte, die nur Menschen an sich hatten, die bereits mehrere Male durch die Hölle gegangen waren. „Jedenfalls hat Vincent Pitt davon überzeugen können für ihn Augen und Ohren offen zu halten. Tja, der Rest ist schnell erzählt. Zwei Tage später hatten sie den Täter und Pitt standen ab diesem Zeitpunkt alle Türen in ein besseres Leben offen. So schnell kann’s gehen.“ „So schnell kann’s gehen, wenn man einem Phantomhive hilft, meinst du wohl.“ Cedric zuckte mit den Schultern. „Man kann über diese Familie sagen, was man will, aber sie halten immer ihr Wort, wenn sie es denn wirklich ehrlich gegeben haben.“ Carina seufzte. „Das stimmt wohl, so ungern ich das auch zugebe.“ „Und das hat sich über die Jahrhunderte scheinbar nicht geändert“, grinste er, woraufhin sie ihm einen verwirrten Blick zuwarf. „Vergiss nicht, das Blut der Phantomhives fließt auch durch deine Adern.“ Sie stöhnte genervt auf. Ja, das war eine Tatsache, die sie die meiste Zeit liebend gern verdrängte. „Streng genommen bin ich aber keine Phantomhive, sondern eine Midford. Das macht die ganze Angelegenheit schon etwas erträglicher.“ „Schlussendlich kommt es auf dasselbe raus, aber wenn du dich damit besser fühlst“, grinste er weiter und beobachtete die Schnitterin, die nun einen nachdenklichen Ausdruck im Gesicht trug. „Wenn die ganze Sache mit Samael vorbei ist“, begann sie langsam, schaute ihn dabei fragend an, „und wir dann alle noch am Leben sind… glaubst du, dass wir den Waffenstillstand mit Ciel und Sebastian dauerhaft halten können?“ Der Bestatter ließ sich mit seiner Antwort Zeit. Endlich sagte er: „Das kommt drauf an.“ Carina runzelte die Stirn. „Worauf?“ „Darauf, von welcher Zeit wir hier sprechen. Wie lange Ciel am Leben bleiben wird.“ Carina rührte sich nicht, traute sich nicht einmal zu blinzeln. Sie kannte die Antwort auf diese Frage. Aber das konnte sie ihm nicht sagen. Cedric warf ihr einen wissenden Blick zu. „Ich weiß, dass du es weißt, Carina.“ Die junge Frau starrte ihn für eine Sekunde fassungslos an, dann schluckte sie einmal. „Woher-“ „Das war nicht schwer zu erraten“, unterbrach er sie. „Du hast mit Uriel über Elizabeth gesprochen. Über ihre Zukunft. Und ich kann mir nur recht wenige Szenarien vorstellen, die zur Folge haben, dass sie und Ciel keine Kinder miteinander bekommen werden.“ Carina senkte den Kopf und schwieg. Der Silberhaarige sagte ebenfalls kein Wort, sodass einige lange Sekunden eine angespannte Stille im Raum herrschte. Gerade, als Carina es nicht mehr länger aushielt und den Mund schon halb geöffnet hatte, kam Cedric ihr zuvor. „Wann?“ Die 19-Jährige atmete zittrig aus. „Wenige Wochen vor seinem 18. Geburtstag“, flüsterte sie schließlich. Seine Miene wirkte unergründlich, als er den Blick langsam von ihr abwandte und gegen einen Punkt an der Wand starrte. Es waren diese Augenblicke, in denen Carina wieder einmal bewusst wurde, wie viel älter als sie er eigentlich war. Sie konnte nicht genau einschätzen, was ihm gerade durch den Kopf ging. Aber das Grundlegendste konnte sie sich vorstellen. Also stand sie auf und ging mit leisen Schritten zu ihm herüber, um ihm gleich darauf eine Hand sanft auf den Unterarm zu legen. Es war einer dieser Momente, in denen man nichts sagen musste, in denen Worte nicht helfen würden. Alles, was sie gerade tun konnte, war für ihn da zu sein. Und sie hoffte, dass das reichte. Lange Minuten standen sie so da, gefühlt war die Zeit um sie beide herum stehen geblieben. Carina dachte daran, wie schön es wäre, wenn jetzt einfach Uriel hier auftauchen und ihr erklären würde, dass alles ein grausamer Scherz gewesen war und sie Cedric sagen konnte, dass er nach seiner ersten großen Liebe und seinem Sohn jetzt nicht auch noch seinen Enkel viel zu früh gehen lassen musste. Doch wie bereits so oft entpuppte sich die Realität nun einmal als grausam. Und als verdammt ungerecht. Sie spürte, wie Cedric den Blick wieder auf sie richtete und tat es ihm gleich, sah sofort den unterdrückten Schmerz in den gelbgrünen Pupillen. „Wie?“, lautete seine einfache Frage, doch die Antwort darauf war alles, aber bestimmt nicht einfach. „Cedric…“, murmelte sie und bat ihn stumm danach das Thema fallen zu lassen. Sie nicht dazu zu zwingen, ihm noch mehr Schmerz zuzufügen. „Wie?“, wiederholte er lediglich seine Frage, nicht dazu bereit jetzt nachzugeben. Die Blondine seufzte. „Du weißt wie“, antwortete sie und spürte gleich darauf unter ihrer Handfläche, wie sich seine Muskulatur verspannte. Ein Zischen entfuhr seinen Lippen. „Hätte ich es doch nur geschafft diesen verdammten Teufel umzubringen“, knurrte er voller Wut. „Das können wir doch immer noch“, entfuhr es ihr energisch. „Lass uns mit Uriel sprechen, vielleicht gibt es ja einen Weg das Ganze zu-“ „Nein“, unterbrach er sie so scharf, dass Carina ihn erschrocken anstarrte. „Wenn er stirbt und Ciel überlebt, dann wird Elizabeth niemals Kinder mit einem anderen Mann haben. Und was das für dich bedeutet, muss ich ja wohl nicht erst erläutern, oder?“ „Aber vielleicht ändert das ja gar nichts an dieser Realität. Vielleicht schaffen wir damit nur eine alternative Zukunft, wer kann das schon so genau wissen?“ „Exakt. Das kann niemand mit hundertprozentiger Sicherheit wissen und deswegen werde ich dieses Risiko nicht eingehen“, sagte er mit harter Stimme und legte im krassen Gegensatz dazu zärtlich eine Hand an ihre Wange. „Ich hätte dich beinahe schon einmal verloren. Das passiert mir kein zweites Mal. Nicht, wenn ich eine mögliche Gefahr dafür direkt im Keim ersticken kann.“ Carina spürte, wie ihre Augen feucht wurden. „Aber er ist dein Enkel. Die einzige noch lebende Erinnerung an Vincent und-“ „Ich weiß“, unterbrach er sie ein weiteres Mal, jetzt aber mit ganz leiser Stimme. „Aber er hat sich für diesen Weg entschieden. Er wusste, auf welchem Pfad er von dem Augenblick an wandeln würde, in dem er den Pakt mit einem Dämon geschlossen hat. Er hatte die Wahl und hat seine Entscheidung getroffen. Und jetzt… jetzt treffe ich meine.“ Die zwei Tränen ignorierend, die jetzt ihre Wangen hinab kullerten, lehnte die Todesgöttin sich vor und drückte ihm einen liebevollen Kuss auf die Lippen. „Bist du dir ganz sicher?“, wisperte sie und er nickte, hauchte ihr sogleich ein zweites Kuss entgegen. „Grell hat es dir vor einigen Wochen bereits gesagt und ich sage es dir gerne noch einmal: Du und Lily… ihr beide steht bei mir an erster Stelle und das wird sich auch niemals ändern. Nicht einmal für Ciel Phantomhive.“ Carina nickte, konnte in diesem Moment gar nicht in Worte fassen, was ihr dieses Zugeständnis seinerseits bedeutete. Aber sie war sich ziemlich sicher, dass er sich dessen bewusst war. Ein kurzer Blick nach draußen zeigte ihr, dass die Sonne nun endgültig untergegangen war und sich bereits die Stille der Nacht über London gesenkt hatte. „Ich bin todmüde“, murmelte sie und ließ einmal ihre Schultern kreisen, woraufhin es einmal unangenehm in ihrem Nacken knackte. „War ja auch ein langer Tag“, entgegnete er und verschloss die Eingangstür. „Möchtest du direkt schlafen gehen?“ „Ich werde mich noch schnell waschen, die Schicht war anstrengend. Und wie ich deine Tochter kenne, wird sie auch noch ein Wörtchen mit zu reden haben, wann ich ins Bett gehe.“ Cedric hob eine Augenbraue. „Ach, jetzt ist sie wieder meine Tochter?“ Carina grinste und zwinkerte ihm einmal schelmisch zu, ehe sie auf leisen Sohlen die Treppe hochging. Die Routine im Bad war schnell erledigt und als sie daraufhin auf direktem Wege ins Zimmer ihrer Tochter ging, konnte sie bereits das leise Brabbeln hören, das ihr jedes Mal automatisch ein Lächeln aufs Gesicht zauberte. „Na, Mäuschen?“, murmelte sie und hob Lily mit einem geübten Handgriff aus der Wiege hoch. „Ich hab gehört, du hast deinen Papa mal wieder um den kleinen Finger gewickelt?“ Große, blaue Augen starrten sie an, während das kleine Mädchen fröhlich weitere Geräusche von sich gab, die kein Mensch deuten konnte. Carina grinste, redete noch ein paar weitere Minuten mit ihr und stillte sie anschließend. Nach dem Bäuerchen legte sie ihr Baby wieder zurück in die Wiege und gerade, als sie die weiche Decke über sie legte, verzogen sich Lilys Mundwinkel nach oben und entblößten ihren zahnlosen Mund. Gleichzeitig stieß sie erneut ein Geräusch aus, das Carina dieses Mal allerdings ziemlich gut als ein Glucksen interpretieren konnte. Die 19-Jährige spürte, wie ihr Herz einen kurzen Hüpfer machte und sich ihre eigenen Lippen sofort zu einem breiten Lächeln verzogen. „Kein Wunder, dass dein Papa gerade eben so aufgeregt war. Diesem süßen Gesicht kann wohl niemand standhalten, er am allerwenigsten.“ „Du bist kein Stück besser, Liebling“, erklang daraufhin die Stimme des Bestatters, der im Türrahmen lehnte und sie frech angrinste. Die Blondine rollte mit den Augen und warf erneut einen Blick auf Lily, deren Augen mittlerweile wieder zugefallen waren, doch selbst im Schlaf konnte man noch die letzten Spuren des Lächelns auf ihrem Gesicht sehen. Carina betrachtete ihre kleine Tochter eingehend und ganz langsam spürte sie, wie ihre eigenen Mundwinkel nach unten sackten und ein unangenehmes Gefühl in ihrer Brust aufstieg. Der Gefühlsumschwung kam so plötzlich, dass es selbst den Undertaker verwirrte. „Was ist los?“, fragte er und schaute die Schnitterin ernst an, die sich nun mit einem Seufzen von der Wiege abwandte und an ihm vorbeiging. Cedric schloss leise die Tür hinter sich und folgte ihr sogleich ins Schlafzimmer, wo Carina sich bereits auf das Bett gesetzt hatte. „Es ist eigentlich nichts. Ich… ich dachte gerade nur daran…“, sie schluckte, holte einmal tief Luft und begann noch einmal von vorne. „Ich dachte gerade daran, dass meine Eltern sie nie kennenlernen werden.“ Bleierne Stille legte sich über sie beide. Es stimmte, Carina dachte nicht oft an ihre Eltern. Denn wenn sie es tat, dann tat es weh. Nicht körperlich, sondern auf einer rein emotionalen Ebene. Vor 3 Jahren, kurz nach ihrem Selbstmord und der Beginn ihrer Ausbildung, hatte es einen Zeitpunkt gegeben, in dem sie sich darüber bewusst geworden war, dass es kein Zurück mehr gab. Dass es keine weitere Zeitreise geben würde, die sie wieder zu ihren Eltern zurückbrachte. Und genau in diesem Moment hatte sie losgelassen. Ihre Vergangenheit, ihre Familie… Sie hatte es tun müssen! Ohne einen gewissen emotionalen Abstand hätte sie die folgenden Jahre nicht durchgestanden. Aber seitdem Lily bei ihr war… es ließ sich einfach nicht vermeiden, dass sie jetzt wieder öfter an ihre eigene Herkunft dachte. An ihre Eltern. „Erzähl mir von ihnen“, bat Cedric schließlich leise und ein paar Sekunden lang konnte man von ihrem Gesicht deutlich ablesen, dass sie sich erinnerte. Zurück an die Zeit, in der sie noch nicht an Dämonen und Engel und Shinigami geglaubt hatte, ganz zu schweigen von einer Zeitreise ins 19. Jahrhundert. Ein kurzes Lächeln huschte über ihre Lippen. „Ich habe es nie verstanden, wenn andere Kinder gesagt haben, dass sie sobald es geht zu Hause ausziehen wollen, weil sie es mit ihren Eltern einfach nicht mehr aushalten. Ich konnte es einfach nicht nachvollziehen, denn ich habe mich zu Hause immer geborgen gefühlt. Geliebt.“ Sie zuckte einmal mit den Schultern. „Versteh mich nicht falsch, klar haben wir uns auch mal gestritten. Das gehört nun einmal einfach dazu. Aber immer, wenn es darauf ankam, waren sie für mich da. Ohne Nachfrage, bedingungslos. Und ich kann nur hoffen, dass Lily sich bei uns ebenso sicher fühlen wird, wie ich es bei ihren Großeltern tat.“ Sie lachte kurz auf. „Und was für Großeltern sie gewesen wären, besonders mein Vater. Er würde Lily vergöttern, das weiß ich ganz genau. Er wäre der beste Opa, den man sich nur vorstellen kann.“ „Sieht so aus, als ob ich die beiden unbedingt mal kennenlernen sollte.“ Carina lachte leicht. „Ich glaube, sie wären erst einmal schockiert, aber dann würden sie dich mögen. Ganz sicher. Du darfst nur nicht von den Bizarre Dolls anfangen, das würde sie ziemlich verunsichern, befürchte ich.“ Nun lachte auch er. „Ja, das schreckt seltsamerweise die meisten Menschen ab. Keine Ahnung warum.“ Sie warf ihm einen gespielt genervten Blick zu und begann dann sich auszuziehen, um anschließend in ihr Nachthemd zu schlüpfen. „Das ist einer der Gründe, warum wir das Ganze hier überleben müssen. Ich möchte meine Eltern wiedersehen. Und nicht nur das. Ich will ihnen alles erzählen. Sie sollen sich nicht täglich bis an ihr Lebensende fragen müssen, warum ihre Tochter einfach eines Tages verschwunden ist. Ich möchte, dass sie sich nicht einen einzigen Tag darüber Gedanken machen müssen.“ Cedric nickte, ergriff ihre Hand und streichelte sanft über ihre Knöchel. „Wir werden das schaffen. Gemeinsam.“ „Ja“, murmelte sie und erwiderte den Druck seiner Finger. „Gemeinsam.“ Kapitel 94: Kleider machen Leute...oder so ähnlich -------------------------------------------------- Carina gab es nicht gerne zu, aber sie war ein Morgenmuffel. Eigentlich konnte sie diese Tatsache immer relativ gut überspielen, aber wenn sie – wie momentan – ohnehin schon nicht gut schlief, dann sollte man sie wenigstens früh am Morgen in Ruhe lassen. Jedenfalls die erste halbe Stunde. Cedric hatte das im Laufe ihres gemeinsamen Zusammenlebens relativ schnell bemerkt und konnte mittlerweile innerhalb weniger Sekunden nach ihrem Aufwachen abschätzen, ob sie einen guten oder eben einen schlechten Morgen erwischt hatte. Falls letzteres der Fall war, dann hielt er sich vorbehaltlich zurück und wartete darauf, dass sie von selbst das Gespräch suchte. So war es auch am heutigen Morgen. Die 19-Jährige hatte ewig gebraucht um einzuschlafen und war dementsprechend noch müde, von ihrer schlechten Laune ganz zu schweigen. Gerade saßen sie beide am Frühstückstisch und Carina genoss schweigend eine große Tasse schwarzen Tee, die der Bestatter ihr wortlos hingestellt hatte. Das koffeinhaltige Getränk sorgte dafür, dass ihre Lebensgeister langsam erwachten und vielleicht hätte es von da an sogar noch ein guter Tag werden können. Wenn nicht im nächsten Moment Elizabeth Midford in die Küche geplatzt wäre. Ohne jegliche Vorankündigung und mit einem glockenhellen „Guten Morgen“ auf den Lippen. Cedric ließ beinahe die Keksurne fallen und Carina erschrak so heftig, dass sie sich die Hälfte ihres Tees über die Hand schüttete. „Verflucht“, zischte sie und griff sogleich nach einem kühlen Tuch, um die verbrühte Haut zu beruhigen. Sie konnte dem Silberhaarigen ansehen, dass er sich ein Lachen verkneifen musste und das trug nicht gerade dazu bei, dass sie bessere Laune bekam. „Na, wenn das nicht die kleine Verlobte des Earls ist“, grinste der Todesgott und schob sich auf seine provokante Art und Weise einen weiteren Keks in den Mund. „Was verschafft uns denn die Ehre und das so früh am Morgen?“ Jeder Außenstehende hätte es nicht bemerkt, da seine Augen momentan von den langen, silbernen Strähnen verdeckt wurden, aber Carina spürte sofort, wie die gelbgrünen Pupillen über Elizabeths Erscheinungsbild huschten. Und sie wusste auch wieso. Das war das erste Mal, dass er das Mädchen sah, nachdem er von ihrer Verbindung zu Carina erfahren hatte. Natürlich suchte er jetzt nach körperlichen Ähnlichkeiten. Es war eine Art Reflex, dem Carina ebenfalls schon nachgegeben hatte. Wirklich ähnlich sahen sie sich auf den ersten Blick nicht. Aber wenn man genauer hinsah, nach bestimmten Auffälligkeiten suchte, dann konnte man gewisse Gemeinsamkeiten erkennen. Die Struktur und Dichte ihrer Haare. Die Länge ihrer Finger. Die kleinen Lachfalten, die sich um die Augen herum bildeten. Die geschwungene Form ihrer Oberlippen. Über die Jahrzehnte waren die Ähnlichkeiten mit jeder Generation weniger geworden, aber sie waren immer noch da, wenn auch leicht verwischt. „Na, wegen Ciels Einladung natürlich. Ihr habt sie doch auch schon bekommen, oder nicht?“, fragte sie, zum Ende hin verwundert klingend und Carina spürte, wie sich ihre Laune leicht besserte, als sie sah wie selbstverständlich natürlich Elizabeth mit ihr und Cedric sprach. Als würden sie sich schon seit Ewigkeiten kennen. Als hätte sie nicht erst vor kurzem erfahren, dass der seltsame Bestatter und Bekannter ihres Verlobten gar kein Mensch war. „Ja, haben wir. Gestern. Warum?“, fragte Carina misstrauisch und dieses Gefühl verstärkte sich nur, als ihre Vorfahrin begeistert in die Hände klatschte. „Na, warum wohl? Wir müssen shoppen gehen.“ Cedrics Augenbrauen schossen gegen seinen Willen in die Höhe. Er wandte den Kopf seiner Partnerin zu und zum zweiten Mal am heutigen Tag musste er sich das Lachen verkneifen. Hieß es nicht eigentlich immer, dass Begeisterung ansteckend sein konnte? Nun… In diesem Fall konnte davon jedenfalls keine Rede sein. Carina sah aus, als stünde ihr ihre persönliche Hölle bevor. Die Todesgöttin hatte große Mühe, nicht laut aufzustöhnen. „Muss das sein?“, fragte sie schließlich, obwohl es in ihren eigenen Ohren eher wie ein Flehen klang. „Natürlich. Aus meinem letzten Kleid bin ich rausgewachsen, ich brauche also auf jeden Fall ein neues. Und du möchtest doch bestimmt nicht einfach eines deiner alten Ballkleider tragen, Carina?“ „Unter der Berücksichtigung, dass sie ihr altes Ballkleid zerrissen hat, glaube ich das kaum“, amüsierte sich der Bestatter ganz königlich und kicherte mehrere Male hintereinander. Elizabeth runzelte irritiert die Stirn, während Carina die Augen verdrehte. „Ich kann mich nicht daran erinnern, dass dich diese Tatsache damals großartig gestört hat“, murmelte sie und beobachtete den Silberhaarigen ganz genau, während er ihr ein breites Grinsen schenkte. „Ich habe damals doch gesagt, dass es schade um das schöne Kleid ist.“ „Ja, aber ich kann mich auch noch ziemlich genau daran erinnern, was du danach getan hast und dabei hat dich das kaputte Kleid ganz gewiss nicht gestört“, gab sie zum Besten, woraufhin Elizabeth stark errötete und Cedric mit den Schultern zuckte, gleichzeitig die Arme hob und mit seinen Händen eine Bewegung machte, die wohl so viel heißen sollte wie „Erwischt, du hast gewonnen.“ Elizabeth räusperte sich verlegen. „Also, gehen wir zusammen einkaufen? Bitte, zu zweit macht so was einfach viel mehr Spaß. Außerdem hat Ciel gesagt, dass er sämtliche Kosten begleichen wird, die wir haben werden.“ Sie schaute sie mit ihren großen, bittenden Kinderaugen an und plötzlich konnte Carina einfach nicht mehr Nein sagen. Sie seufzte. „Das werde ich noch schwer bereuen“, murmelte sie kaum hörbar und nickte dann einmal. „Na schön, wenn es denn unbedingt sein muss.“ Elizabeths Gesicht begann zu strahlen und sie schaute Carina an, als ob diese gerade verkündet hätte, Weihnachten und Ostern würden dieses Jahr zur gleichen Zeit stattfinden. „Großartig“, rief sie enthusiastisch und klatschte einmal in die Hände. „Dann treffen wir uns in zwei Stunden vor dem Hopkins' Tailor Shop. Ich freu mich schon.“ Ohne Carina die wirkliche Gelegenheit zu einer Antwort zu geben, stürmte das junge Energiebündel sogleich wieder zur Tür hinaus und hinterließ zwei verdatternd blinzelnde Todesgötter. Cedric erholte sich schneller von dem „Überfall“ und warf der Mutter seines Kindes einen Blick zu, gepaart mit einem breiten Grinsen. „Die Kleine hat dich komplett um ihren kleinen Finger gewickelt.“ „Haha“, murmelte Carina. „Ich meine es ernst. Du hattest absolut keine Lust darauf und ich weiß, wie sehr du shoppen hasst. Dann? Ein Blick von ihr und du bist eingeknickt wie ein kaputter Baum bei einem Unwetter.“ Carina spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. „Tze, und wenn schon“, schnappte sie, weil ihr nichts Besseres einfiel. Mit dem Gelächter des Bestatters im Rücken, murmelte sie ein schnelles „Ich geh mich fertig machen“ und rannte dann beinahe die Treppe hoch. Eine gute halbe Stunde verging, ehe die Frau wieder nach unten kam und in den Empfangsraum ging, wo der Silberhaarige gerade mit seinem Notizbuch beschäftigt war. Überrascht hob er den Blick. „Wolltet ihr euch nicht erst in zwei Stunden treffen?“ „Ja, aber ich wollte vorher noch zu Charlie und Emma, um ihnen die Einladung vorbeizubringen. Und vielleicht bin ich ja nicht die Einzige, die noch ein neues Kleid braucht. Dann kann ich Emma direkt mitnehmen.“ „Bist du dir sicher, dass du alleine gehen möchtest?“, fragte er sie mit ernstem Blick. Wirklich begeistert schien er von dieser Idee nicht zu sein. „Cedric, ich bin in 10 Minuten da. Du kannst mich gerne bis vor die Haustür begleiten, aber das halte ich für unnötig. Ich werde meine Energiesignatur verbergen und sobald etwas sein sollte, lasse ich sie wieder aufflammen und du kannst zu meiner Rettung eilen, in Ordnung?“ Bei ihren letzten Worten verdrehte sie die Augen und brachte ihn dadurch kurz zum Schmunzeln. „Na gut, na gut, meine selbstständige Frau. Sei einfach vorsichtig und halt die Augen offen, ja?“ „In Ordnung“, murmelte sie und verwirrt stellte er fest, dass sie auf einmal ungewöhnlich rot im Gesicht geworden war. „Wir sehen uns dann später. Ich beeile mich.“ Schneller als sonst griff sie sich ihren Mantel und wenige Sekunden später fiel die Tür hinter ihr zu. Cedric blinzelte. Was hatte sie denn nun schon wieder…? Carina holte tief Luft, sobald sie einige Meter zwischen sich und das Bestattungsinstitut gebracht hatte. Immer noch schwirrten ihr seine Worte im Kopf umher. Meine selbstständige Frau… Das Herz pochte ihr auf einmal bis zum Hals und sie spürte immer noch das Blut in ihren Wangen pulsieren. „Warum bringt mich diese Wortwahl so durcheinander?“, dachte sie und schluckte einmal, um ihre trockene Kehle zu befeuchten. Cedric hatte es einfach so gesagt, vermutlich nicht einmal genauer darüber nachgedacht. Und sie taten für die Außenwelt ohnehin schon so, als wären sie verheiratet. Aber… „Aber wir sind es nicht. Ich weiß nicht einmal, ob er das überhaupt wollen würde.“ Die Hochzeit zwischen Claudia und ihrem damaligen Verlobten musste schwer für ihn gewesen sein. Zum einen, weil es ihm vor Augen geführt haben musste, dass sie niemals ein gemeinsames Leben haben würden, jedenfalls nicht offiziell. Zum anderen, weil er ab diesem Tag mit Sicherheit sagen konnte, dass er die Frau, die er liebte, nie wieder für sich alleine haben würde. Da würde immer noch ihr Ehemann sein. Derjenige, der mit ihr zusammenlebte. Derjenige, der ihre Kinder großzog. Derjenige, der mit ihr das Bett teilte… All das, was der Silberhaarige wollte, aber nicht haben konnte. Ja, Carina wusste, dass er Claudia hinter sich gelassen hatte. Aber in diesem Zusammenhang, im großen Ganzen, gab es doch noch so viele negative Gefühle, die er mit bestimmten Dingen verbinden musste und die er ganz sicherlich nicht einfach so abgehakt hatte. Und irgendwie bekam sie das Gefühl nicht los, dass das Wort „Hochzeit“ mit in diese Kategorie gehörte. Natürlich, es wäre schön ihn irgendwann einmal ihren Mann nennen zu können, ohne dabei lügen zu müssen. Aber sie wollte ihn zu nichts drängen und schon gar keine unangenehmen Erinnerungen wieder hervorrufen. Vielleicht würde er irgendwann dazu bereit sein und wenn er sie dann fragen würde, dann wusste sie bereits ihre Antwort. Bis dahin jedoch würde sie das Thema auf keinen Fall ansprechen. Das wäre für alle Beteiligten das Beste. „Schluss mit den bösen Gedanken. Ich hab heute schließlich noch einiges zu erledigen.“ Wie sie es Cedric bereits vorhergesagt hatte, stand sie innerhalb von 10 Minuten vor dem Haus der Sterlings. Sie holte einmal bewusst tief Luft, dann klopfte sie dreimal bestimmt gegen die Eingangstür. Es dauerte einige Sekunden, dann konnte sie mit ihren übernatürlichen Sinnen wahrnehmen, wie Schritte im Inneren des Hauses ertönten. Wenige weitere Sekunden später öffnete sich die Tür und Carina sah in zwei braune Augen, die um ein Vielfaches größer wurden, als sie sie erblickten. Die 19-Jährige erstarrte ebenfalls. „Scheiße.“ Warum hatte sie nicht einen Gedanken an die Möglichkeit verschwenden, dass sie ebenso gut auf Charlie anstatt nur auf Emma treffen könnte? „Ich, ähm…“, begann Carina, vollkommen aus dem Konzept gebracht, zu stottern und starrte den jungen Mann vor sich überfordert an. Aber auch er schien nicht besonders gut mit der Situation klar zu kommen. „Ich wollte eigentlich zu Emma“, beendete Carina ihren Satz schließlich kleinlaut, weil sie sich genau so auch vorkam. Klein und in die Enge getrieben. Was diesem Mann dank ihrer Taten angetan worden war… Charlie starrte sie einige Sekunden lang reglos an, sein Gesicht verriet nicht die geringste Gefühlsregung. Schließlich teilten sich seine Lippen und ein langes Seufzen entwich seinem Mund. „Sie ist gerade einkaufen. Aber… komm einfach rein“, meinte er, beinahe schon eine Spur genervt und die 19-Jährige schaute ihn verwundert an. Damit hatte sie jetzt nicht gerechnet. Eher damit, dass er ihr die Tür vor der Nase zuschlagen würde. Unsicher betrat sie zum nunmehr dritten Mal das Haus der Sterlings und folgte Charlie ins Wohnzimmer. Sie setzten sich einander gegenüber und eine wirklich unangenehme Stille erfüllte den Raum. Carina hasste es, wenn so etwas passierte. Keiner sagte etwas, doch jeder wollte, dass das Schweigen von dem jeweils anderen gebrochen wurde. In diesem Fall war es nach 5 langen Minuten schließlich Charlie, der mit einem langen Seufzer die Stille durchbrach und dann sagte: „Es tut mir leid.“ Carina starrte ihn wie vom Donner gerührt an. Hatte sie sich gerade verhört? „Wie bitte?“, fragte sie, vollkommen aus der Fassung gebracht, denn sie brauchte Gewissheit. Vielleicht spielten ihre Ohren ihr auch einfach einen Streich. Doch Charlie wiederholte seine Worte. „Es tut mir leid“, sagte er und schaute ihr dabei genau in die Augen. „Was ich bei unserer letzten Begegnung zu dir sagte… das war nicht fair. Ich habe mit meinen Worten impliziert, dass ich dich für die Schuldige an der ganzen Sache halte und das war nicht in Ordnung. Erst recht nicht, nachdem mir Emma erzählt hat, wie schuldig du dich deswegen fühlst.“ „Du standest unter Schock. Und außerdem hattest du jedes Recht dazu. Ich mag vielleicht nicht die Hauptschuldige an diesem ganzen Dilemma sein, aber unschuldig daran bin ich auch nicht. Ohne meine vorherigen Entscheidungen wäre es niemals so weit gekommen.“ Charlie schüttelte den Kopf. „Du bist nicht verantwortlich für die Taten eines anderen. All das war allein die Entscheidung dieses fürchterlichen Dämons. Ich mache dir keinen Vorwurf, wirklich nicht. Vor allem nicht, nachdem mir Emma erzählt hat, was mit mir passiert wäre, wenn der Selbstmordversuch erfolgreich gewesen wäre.“ Sein Blick fiel automatisch auf ihren Brustkorb und Carina wusste, dass er an die Narbe dachte, die sie ihm und seiner Frau gezeigt hatte. Die 19-Jährige lächelte und fühlte sich mit einem Mal furchtbar erleichtert. Es war eine Sache, wenn jeder ihr sagte, dass sie keine Schuld an der ganzen Sache trug, aber eine ganz andere, wenn es derjenige sagte, der unmittelbar davon betroffen gewesen war. „Ich bin froh, dass es dir wieder besser geht“, murmelte sie. Charlie nickte, immer noch ein wenig reserviert, aber das konnte sie ihm nicht verübeln. Sie selbst wäre auch erst einmal misstrauisch. „Nicht gut, aber besser“, bestätigte er. Carina wollte ihn gerade fragen, ob er noch irgendwelche körperlichen Beschwerden hatte, als hinter ihnen die Haustür aufgeschlossen wurde. Keine 10 Sekunden später betrat Emma das Wohnzimmer und schaute die unerwartete Besucherin verwundert an. „Carina“, sagte sie verblüfft. „Hallo Emma“, erwiderte die Blondine höflich und sah gleich darauf dabei zu, wie Charlie sich von seinem Platz erhob und Emma den Einkaufskorb abnahm. Er drückte ihr einen kleinen Kuss auf die Wange und seine Hand streift im Vorbeigehen ihren Babybauch, als er die Sachen in die Küche brachte. Emma sah ihm lächelnd nach und auch Carina musste unbewusst die Mundwinkel nach oben ziehen. Genau so etwas hätte sie sich während ihrer eigenen Schwangerschaft auch gewünscht. Tja, vielleicht würde Cedric doch noch irgendwann seine Gelegenheit bekommen… „Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns so schnell wiedersehen. Können wir dir irgendwie behilflich sein?“, fragte Emma freundlich, aber immer noch ein wenig verwirrt, während sie sich auf dem Platz niederließ, auf dem Charlie wenige Sekunden zuvor noch gesessen hatte. „Ich bin deswegen hier“, antwortete Carina und holte die Einladung hervor, um sie anschließend der 20-Jährigen entgegen zu halten. Mit gerunzelter Stirn nahm die Hebamme das förmliche Schreiben entgegen. Ihre Augen huschten flink über den Text und weiteten sich mit jedem weiteren Wort, das sie las, ein wenig mehr. Überfordert starrte sie Carina an. „Das… das ist eine Einladung zu einem Ball, der von Earl Phantomhive veranstaltet wird.“ Die Todesgöttin nickte. „Eine Einladung von Earl Phantomhive?“, erklang Charlies fragende Stimme, als er wieder zurück ins Wohnzimmer kam. Emma drückte ihrem Mann wortlos das offizielle Papier in die Hand und er überflog ebenfalls schnell jede einzelne Zeile. Im Gegensatz zu Emma wirkte er nicht nur verwundert, sondern schlichtweg entsetzt. „Warum werden wir zu einem Ball eingeladen, auf dem nur lauter Adelige anwesend sein werden? Und was ist überhaupt der Anlass?“ „Offiziell? Frühlingsbeginn. Inoffiziell? Wir zeigen Samael, dass wir trotz seiner ganzen Seitenhiebe eine nette Festlichkeit abhalten werden.“ Charlies Augen wurden groß. Seine Stimme schoss bei den nächsten Worten, die seinen Mund verließen, etwas in die Höhe. „Ihr wollt ihn provozieren?“ Carina nickte. „Ich weiß aus sicherer Quelle, dass er es nicht sonderlich mag ignoriert zu werden. Geschweige denn, dass man ihn nicht ernst nimmt.“ Charlie lachte trocken auf und verschränkte die Arme vor der Brust. „Nach dem zu urteilen, was ich in meinen Träumen von ihm gesehen habe, glaube ich nicht, dass es bei ihm so etwas wie nur „nicht mögen“ gibt. Entweder er liebt etwas oder er hasst es mit aller Inbrunst.“ Er schwieg kurz, dann flüsterte er: „Er hat es immer gehasst, wenn ich gestottert habe.“ Betretendes Schweigen folgte und jetzt sah auch Emma sie zweifelnd an. „Und das haltet ihr für eine gute Idee? Ihn zu provozieren, meine ich?“ „Dieses ewige Katz und Maus Spiel muss endlich ein Ende haben. Ich bin nicht gewillt ihm noch mehr Kontrolle über mein Leben zu geben, als er momentan ohnehin schon hat“, antwortete Carina. „Versteht mich bitte nicht falsch, mir ist auch nicht wirklich wohl bei dem Gedanken mich ihm wissentlich zu nähern. Aber es muss sein. Wir können ihn besiegen.“ Charlie hob skeptisch eine Augenbraue. „Könnt ihr?“, fragte er und wechselte einen zweifelnden Blick mit seiner Frau, die ebenfalls alles andere als beruhigt wirkte. „Er mag stärker sein als jeder einzelne von uns, aber gegen uns alle kann er unmöglich gleichzeitig ankommen. Ich will nicht sagen, dass es leicht wird. Ganz im Gegenteil, es wird trotzdem der härteste Kampf meines Lebens, aber wir werden gewinnen. Wir müssen einfach!“ „Okay, aber davon mal ganz abgesehen. Warum sollten wir beide auch zum Ball kommen? Wir werden nicht gerade eine große Hilfe sein, ganz im Gegenteil“, meinte Emma. „Um an dieser Stelle – und ich kann nicht glauben, dass ich das sage – Ciel Phantomhive zu zitieren: So geben wir Samael keinen Freifahrtsschein jemanden in seine Finger zu bekommen, während wir uns auf dem Ball befinden.“ Sie schnaubte. „Denn genau das würde er tun, feige wie er ist.“ Verständnis flackerte über das Gesicht der Schwangeren und sie sah Charlie zögerlich an. „Was meinst du?“, murmelte sie und fügte hinzu: „Ich überlasse die Entscheidung dir. Aber Carina hat nicht ganz unrecht. Was, wenn er hier auftaucht und…“ Sie beendete den Satz nicht, aber die Bedeutung ihrer Worte war klar. „Dieser Plan kann nur unter der Voraussetzung funktionieren, dass er dort wirklich auftaucht“, meinte Charlie nachdenklich und schaute Carina nun wieder direkt in die Augen. „Was macht ihr, wenn er einfach nicht kommt?“ Die Schnitterin zuckte mit den Schultern. „Dann werden wir eine andere Möglichkeit finden müssen, um das ganze Spektakel mit ihm hinter uns zu bringen. Und einige von uns werden dann wohl einfach einen schönen Abend auf diesem Ball haben.“ Das sie selbst kaum zu besagter Personengruppe zählen würde, ließ sie wissentlich außen vor. „Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er diese Provokation einfach ignorieren wird. Was für einen Grund sollte er haben?“ Ein schwaches Grinsen schlich sich auf ihr Gesicht. „Es sei denn, er hätte Angst vor uns. Sollte das der Fall sein, dann mache ich mir die ganze Zeit umsonst so viele Sorgen, aber dann kann er auch wirklich bleiben, wo der Pfeffer wächst.“ Charlies Mundwinkel zuckten kurz, doch zu einem wirklichen Lächeln konnte er sich scheinbar immer noch nicht durchringen. „Hoffentlich behältst du Recht, denn die möglichen Konsequenzen kann sich mit Sicherheit keiner von uns im vollen Maße vorstellen. Dieser Samael ist der Teufel in Person.“ „Du sagst es“, nuschelte Carina, woraufhin Charlie ihr erneut antwortete. „Gut, ich bin einverstanden. Unter einer Bedingung.“ „Ja?“ „Du lässt Emma zu keiner Sekunde aus den Augen. Ich will, dass sie den ganzen Abend lang vollkommen sicher ist und wenn eine Todesgöttin auf sie aufpasst, dann stehen die Chancen für ihr Wohlbefinden schon mal wesentlich besser.“ Emma lächelte sanft und drückte seine Hand kurz in ihrer. Carina nickte. „Einverstanden“, antwortete sie, denn auch sie selbst fühlte sich mit dieser Vereinbarung wesentlich wohler. Auf keinen Fall dürfte Emma oder ihrem Baby etwas geschehen, nicht unter ihrer Obhut. Der werdende Vater nickte, nun scheinbar ebenfalls zufrieden. „Sehr schön. Jetzt, wo wir das geklärt haben“, begann Carina und schaute Emma mit einem leicht leidenden Gesichtsausdruck an, „sag mir bitte, dass du ebenfalls ein Kleid für diesen Anlass brauchst.“ Emma wurde rot. „Ich… selbst, wenn ich ein Kleid hätte, das für solch einen festlichen Ball angemessen wäre, würde ich nicht mehr hineinpassen.“ „Perfekt. Dann kannst du gleich mit mir mitkommen. Die Verlobte des Earls hat nämlich darauf bestanden, dass wir uns heute neue Kleider kaufen und zu dritt wird die ganze Sache hoffentlich erträglicher sein.“ Die Schwangere rieb ihre Hände in einer nervösen Geste aneinander und schaute zu Boden. „Das… das geht nicht.“ Carinas Augenbrauen schoben sich enger zusammen. „Warum nicht? Ich meine, ich hasse shoppen auch, versteh mich nicht falsch. Aber du brauchst doch sowieso ein Kleid und-“ „Es ist zu teuer“, unterbrach Emma sie peinlich berührt. „Wir sparen momentan alles Geld, was wir können, um nach der Geburt gut aufgestellt zu sein und ein Ballkleid würde unsere Finanzen vielleicht nicht sprengen, aber ein tiefes Loch hineinreißen.“ „Mach dir darum mal keine Sorgen“, erwiderte Carina, die nun grinste. „Elizabeth meinte bereits, dass Ciel sämtliche Kosten übernimmt. Und nur, damit du es weißt, ich werde das Angebot annehmen und mich so richtig austoben. Der kleine Phantomhive hat nämlich sowieso viel zu viel Geld.“ Emma starrte sie aus großen Augen heraus an. „A-aber das kann ich unmöglich annehmen.“ „Natürlich kannst du. Ehrlich, Ciel wird es wahrscheinlich nicht einmal auffallen. Und es sind keine Almosen. Eher so etwas wie eine Aufwandsentschädigung. Denn glaub mir, dieser Abend wird ein Aufwand.“ Sie lächelte. „Na, komm schon.“ Die junge Frau starrte ihren Mann fragend und unsicher zugleich an, doch dieser nickte ihr aufmunternd zu. „Lass uns das Angebot annehmen, Emi. Ohne diese ganzen Umstände müssten wir überhaupt nicht auf diesen Ball gehen. Wenn Earl Phantomhive hier sein Geld sprechen lassen möchte, dann sollten wir darauf eingehen.“ „Meine Meinung“, bestätigte Carina und schaute die Hebamme grinsend an. „Also dann. Wie wäre es mit einem Tee und dann gehen wir los?“ „Was soll das heißen, sie ist nicht da? Wo ist sie denn?“, fragte Grell den Bestatter mit erhobenen Augenbrauen. Eigentlich hatte er Carina nur den neuen Schichtplan vorbeibringen wollen, aber jetzt hatte er sie doch schlichtweg verpasst. „Sie ist zu den Sterlings gegangen, um ihnen die Einladung zum Ball vorbeizubringen. Deine müsste im Übrigen auch irgendwo hier herumliegen. Aber Carina wollte deswegen ohnehin noch mit dir sprechen.“ Grells Augen leuchteten auf. „Na endlich, ich hab schon darauf gewartet. Bist du auch schon so aus dem Häuschen deswegen wie ich, Undy?“ Der Silberhaarige lachte schnaubend auf. „Es wird sicherlich ganz amüsant, aber ich werde mich ehrlich gesagt an diesem Abend eher darauf konzentrieren, meine Sense in Samael zu versenken. Und auf Carina aufzupassen. Gott allein weiß, dass man diese Frau keine Sekunde allein lassen kann, ohne dass eine Katastrophe passiert.“ Der Rothaarige grinste. „Das hast du dir immerhin selbst ausgesucht, mein Lieber. Und außerdem… Carina hat es mit dir auch nicht immer besonders leicht, das wirst du ja wohl kaum leugnen, oder?“ Cedric grinste nun ebenfalls. „Nun, hehe, das ist wohl oder übel wahr“, gab er zu und lehnte sich gegen einen seiner Särge. „Weißt du, wann Carina in etwa zurück sein wird?“ „Das wird noch länger dauern. Die Verlobte des Earls war heute Morgen hier und hat sozusagen darauf bestanden, dass die beiden heute zusammen Kleider einkaufen. Für den Ball.“ Grells Grinsen erlosch so schnell wie eine Kerze. „Wie bitte? Wie bitte? Ohne mich?“, beschwerte er sich lautstark und wirkte nun ganz und gar nicht mehr begeistert. „Das ist eine Unverschämtheit! Erst gestern noch hat sie zu mir gesagt, dass sie Ballkleider hasst und am liebsten gar nicht hingehen würde. Und jetzt? Sie hat gerade mal die Einladung und ist schon unterwegs shoppen. Ohne mich!“ Cedric begann zu lachen, er konnte einfach nicht anders. Er hatte diese Reaktion vorausgeahnt, beinahe darauf gehofft. Und siehe da, es war genauso lustig ausgefallen, wie er es sich ausgemalt hatte. „Elizabeth kann sehr überzeugend sein, wenn sie will. Und sie hat Carina um ihren kleinen Finger gewickelt. Wäre es anders, wäre sie niemals so schnell auf diesen Vorschlag eingegangen, das kannst du mir glauben.“ „Trotzdem“, grummelte Grell und verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust. „Ich hätte so gerne etwas für sie ausgesucht. Rot steht ihr mit Sicherheit großartig.“ „Blau steht ihr viel besser“, widersprach der Totengräber dem Reaper und erinnerte sich lebhaft daran, wie sehr Carinas Augen in ihrem letzten Kleid zur Geltung gekommen waren. Grell seufzte theatralisch. „Warum muss jedes einzelne Kompliment von dir immer so romantisch sein?“, fragte er und schüttelte mit dem Kopf. „Na ja, egal. Dann sehe ich das Kleid eben erst beim Ball. War sonst noch irgendetwas oder darf ich mich jetzt wieder in den Dispatch begeben, um dort weiter zu schmollen?“ „Nichts, dass ich wüsste. Ich schätze mal, Carina wird spätestens in drei Stunden zurück sein. Ich sage ihr, dass du da warst.“ Plötzlich kam ihm doch noch etwas in den Sinn. „Warte mal, da wäre vielleicht tatsächlich noch etwas.“ Grell horchte auf. „Ja?“ Der Silberhaarige zögerte kurz, dann sagte er: „Als Carina heute gegangen ist, hat sie sich irgendwie merkwürdig verhalten.“ „Merkwürdig? Inwiefern?“, fragte Grell, jetzt eine Spur besorgter. Wenn Carina sich anders als sonst verhielt, war das meist kein gutes Zeichen. „Sie ist über ihre Wörter gestolpert und rot geworden. Und ich habe keine Ahnung wieso.“ „So? Hast du irgendetwas Komisches zu ihr gesagt?“, riet der Todesgott ins Blaue hinein, woraufhin Cedric den Kopf leicht schief legte. „Nein, eben nicht. Jedenfalls nichts, was diese Reaktion hätte auslösen müssen.“ Grell, der mittlerweile wusste, dass der Bestatter nicht immer der Schlauste war, wenn es um das Deuten von Gefühlen ging, antwortete: „Worüber habt ihr denn gesprochen?“ „Darüber, ob sie allein zum Haus der Sterlings gehen sollte oder nicht“, begann er und beschrieb Grell jeden einzelnen Satz, den er gesagt hatte. Mit jedem Wort wurde das Grinsen des Todesgottes breiter und als der Bestatter schließlich endete, konnte er sich ein amüsiertes Auflachen einfach nicht verkneifen. „Mensch, Undy. Ich hab’s mit Sicherheit schon mal gesagt, aber mit Gefühlsdingen kennst du dich wirklich nicht aus.“ Cedric zog eine beleidigte Schnute. „Was denn? Was hab ich denn gesagt?“, meinte er und schüttelte innerlich über sich selbst den Kopf. Das er jetzt schon Grell um Rat fragen musste… „Du hast sie deine Frau genannt“, beantwortete der Rothaarige seine Frage amüsiert. Der Deserteur hob beide Augenbrauen, denn auch jetzt fiel bei ihm noch kein Groschen. „Und?“, fragte er und erneut musste Grell lachen. Scheinbar musste er dem Undertaker hier ein wenig auf die Sprünge helfen. Und dabei musste er mit Fingerspitzengefühl vorgehen, so viel war ihm klar. „Kapierst du es nicht? Das ist doch nur eine Maskerade für die Außenwelt. Ihr seid nicht wirklich verheiratet.“ „Ich weiß, na und-“ „und trotzdem hast du sie deine Frau genannt, obwohl sonst niemand dabei war. Einfach so?“ „Ist das verboten?“, fragte Cedric trocken, ließ sich aber gleichzeitig noch einmal Carinas Reaktion durch den Kopf gehen. Scheinbar musste es ja irgendwas in ihrem Inneren ausgelöst haben, sonst hätte sie wohl kaum so offensichtlich darauf reagiert. „Nein, ist es natürlich nicht. Aber warum hast du es überhaupt so gesagt? Hast du darüber schon mal nachgedacht?“ Der Silberhaarige rollte mit seinen gelbgrünen Augen und war jetzt beinahe schon eine Spur genervt. Als ob er darüber großartig nachdenken müsste… „Was glaubst du wohl, warum ich es gesagt habe? Weil ich es genau so gemeint habe, das ist ja wohl klar. Sehe ich für dich vielleicht wie jemand aus, der etwas sagt, wohinter er nicht wirklich steht?“ Grells Grinsen verwandelte sich in ein sanftes Lächeln. „Warum machst du es dann nicht offiziell?“ Cedric runzelte die Stirn und jetzt verdrehte Grell die Augen. „Frag sie, ob sie dich heiraten möchte, du Idiot“, sagte er trocken, aber todernst. Der Bestatter konnte nicht anders, er lachte ungläubig auf. Gleichzeitig aber spürte er, wie er unbewusst die Augen weitete. Einen Heiratsantrag? Er??? Der Silberhaarige begann darüber nachzudenken, während er Grell weiterhin lediglich schweigend anstarrte. Er hatte sich in seinem gesamten Leben niemals als jemanden gesehen, der tatsächlich heiratete. Bei Claudia war es nie eine Option gewesen und auch weit vor der Phantomhive hatte es nie eine Frau gegeben, bei der ihm dieser Gedanke gekommen war. Er hatte sich einfach nie als Ehemann gesehen, der für seine Ehefrau sorgte und die damit einhergehenden Pflichten einging. Jetzt, wo Grell es jedoch so selbstverständlich vorgeschlagen hatte, stellte er sich die Frage, was sich denn überhaupt großartig an seinem momentanen Leben ändern würde, sollte er Carina offiziell ehelichen. Sie lebten bereits zusammen, sie schliefen miteinander, sie hatten sogar ein gemeinsames Kind. Praktisch waren sie ja bereits miteinander verheiratet, nur in der Theorie noch nicht. Warum also sollte er es wirklich nicht einfach offiziell machen? Er zuckte mit den Schultern. „Na gut“, lautete seine Antwort und Grell blinzelte ungewöhnlich schnell, während der Bestatter jetzt wieder ganz entspannt wirkte. „Na gut? Was soll das heißen, „Na gut“?“ „Na gut, ich werde sie fragen“, antwortete der Undertaker und grinste, als Grell daraufhin der Mund aufklappte. „M-m-moment“, stammelte der Rothaarige und hielt seine offene Handfläche von sich weg, um den Totengräber zum Pausieren aufzurufen. „Du… du willst sie wirklich fragen, ob sie dich heiraten möchte?“ „Ja, will ich. Was ist schon dabei?“ Grells Augen verengten sich misstrauisch. „Was schon dabei ist? Ernsthaft?“ Er warf die Arme in die Höhe. „Nur die wichtigste Fragen im Leben einer jeden Frau und du fragst, was schon dabei ist?“ Jetzt wirkte Cedric wieder genervt. „Du warst doch derjenige, der mich darauf gebracht hat. Und jetzt, wo ich sie fragen will, ist es auch wieder nicht gut?“ „Es kommt ja nicht nur darauf an, ob du sie fragst, sondern auch wie.“ Irritiert hob der Shinigami eine Augenbraue. „Sobald sie wieder hier ist, werde ich sie einfach fragen.“ „Auf keinen Fall, Undy“, brüllte der Schnitter jetzt schon beinahe und schlug sich beide Hände vors Gesicht. „Das kannst du auf keinen Fall machen. Auf gar keinen Fall so.“ „Was soll ich denn deiner Meinung nach tun? Mich auf die Knie werfen und ihr einen Strauß roter Rosen überreichen?“, schnaubte der Silberhaarige, woraufhin Grell ihn böse anfunkelte. „Das wäre zumindest schon mal ein Anfang“, meinte er. „Das war ein Scherz“, erwiderte Cedric trocken. „Du weißt genauso gut wie ich, dass Carina nicht wie andere Frauen ist. Sie macht sich aus solchen Dingen wie Blumen nichts.“ „Das mag ja sein“, entgegnete Grell, obwohl er sich recht sicher war, dass auch Carina sich mal über Blumen freuen würde, „aber selbst Carina wird wie vor den Kopf geschlagen sein, wenn du sie einfach so aus heiterem Himmel und ohne irgendeine romantische Geste fragst, ob sie dich heiraten möchte. Und das meine ich nicht im positiven Sinne.“ Der Bestatter seufzte. Die ganze Angelegenheit schien doch reichlich komplizierter zu sein, als er ursprünglich angenommen hatte. „Na schön, was schlägst du also vor?“ „Ach du heilige Scheiße“, entfuhr es Carina unwillkürlich, als sie zusammen mit Emma den Hopkins' Tailor Shop betrat. Überall hingen Kleider und Anzüge verschiedenster Macharten und Größen, Stoffballen, Schnittmuster, Verzierungen und noch so viele andere – teilweise recht bunte – Materialien, dass es Carina kaum mit ihren Augen erfassen konnte. Zu sagen, dass sie sich auf der Stelle leicht überfordert fühlte, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts gewesen. Sie fühlte sich vollkommen überfordert. „Ah, da bist du ja“, hörte sie auf einmal Elizabeths Stimme aus dem vorderen Bereich des Geschäftes und keine zwei Sekunden später tauchte die Midford neben ihr auf, ein breites Lächeln auf ihrem Gesicht. „Und du hast sogar noch jemanden mitgebracht“, klatschte sie fröhlich in ihre Hände und blinzelte Emma aus leuchtenden Augen aus an. Emma wirkte nun ebenfalls leicht überfordert. „Hallo Lizzy. Das ist Emma“, stellte Carina die beiden Frauen einander vor und Emma wurde sofort – peinlich berührt – rot im Gesicht. Sie knickste. Eine Geste, die Carina als eine Frau aus dem 21. Jahrhundert nach wie vor unglaublich bescheuert fand. Elizabeth erwiderte die nette Geste jedoch sofort und lächelte nun noch breiter. „Sie und ihr Mann werden ebenfalls auf dem Ball sein“, erklärte die Schnitterin, ohne jedoch die genauen Umstände zu nennen. „Großartig“, verkündete die 15-Jährige und klatschte erneut in die Hände. „Wir werden sicherlich ein wunderbares Kleid für dich finden, Emma. Und du wirst hinreißend aussehen mit diesem süßen Babybauch.“ Die Blondine begann zu schwärmen und Emma wirkte plötzlich unglaublich erleichtert, als sie bemerkte, dass Elizabeth keinesfalls zu der Sorte der arroganten Adeligen gehörte. „Vielen Dank für Eure Großzügigkeit, Mylady“, erwiderte sie leise, aber dennoch mit gefasster Stimme. „Bringen wir es hinter uns“, sagte Carina im krassen Gegensatz dazu, wovon sich ihre Vorfahrin allerdings nicht wirklich beeindrucken ließ. Sie führte die beiden Frauen in den hinteren Teil des Ladens, wo bereits eine brünette Verkäuferin mit ebenso brauen Augen und einer dezenten Brille auf sie wartete. „Carina, Emma… das ist Miss Nina Hopkins, die Besitzerin des Hopkins' Tailor Shops. Sie wird uns heute einkleiden. Nina, das sind zwei Freundinnen von mir und Ciel.“ Während Emma erneut rot wurde und knickste, dachte Carina daran, dass sie sich selbst und Ciel eher nicht als Freunde bezeichnen würde, aber Lizzy würde das als Antwort wohl kaum akzeptieren. Irgendwoher musste sie ihren Dickkopf ja geerbt haben… Wahrscheinlich war es besser, an dieser Stelle ausnahmsweise einmal den Mund zu halten und das Ganze so hinzunehmen. Nina Hopkins Blick glitt wie ein Scanner über das Erscheinungsbild ihrer neuen Kundinnen und als sie mit ihrer ersten Inspektion fertig war, trat ein beinahe schon fanatisches Funkeln in ihre Augen, das selbst Carina dazu brachte sich unbehaglich zu fühlen. Und das wurde auch nicht besser, als die geschäftstüchtige Frau im nächsten Moment einen ganzen Schwall an Wörtern hervorbrachte. „Ich, Nina Hopkins, Besitzerin und Geschäftsführerin des Hopkins' Tailor Shop, werde Euch beide einkleiden und persönlich dafür sorgen, dass ihr im perfekt gekleideten Zustand den Ball des Earls besucht“, sprach sie mit einer so entschlossenen Miene, als würde sie gleich zu einer Mission aufbrechen. Carina hob beide Augenbrauen. „Äh, okay?“, meinte sie langgezogen und beugte sich – tatsächlich verunsichert – zu Elizabeth hinunter. „Sicher, dass das hier eine gute Idee ist?“ Die Blondine kicherte. „Ja, keine Sorge. So ist Nina immer, wenn es um Kleider für solch festliche Anlässe geht. Aber sie ist wirklich die Beste auf ihrem Gebiet, das kann ich dir versichern. Sie und ihre Familie arbeiten schon seit ich denken kann für die Familie Phantomhive. In ihrem Kopf ist sie sicherlich schon ganz mit dem Design unserer Kleider beschäftigt.“ Bevor die Todesgöttin darauf antworten konnte, stand die brünette Designerin plötzlich genau vor ihr und nahm ihr Gesicht in beide Hände. Carina zuckte reflexartig zurück, ließ sich dann aber widerwillig näher ziehen, sodass sich ihre Nasenspitzen nun beinahe berührten. Ninas braune Augen funkelten sie entzückt an. „Du hast unglaublich schöne blaue Augen. Wie wäre es mit einem Kleid in genau dieser Farbe, Schätzchen?“ Jetzt wurde auch Carina rot. Diese Frau hatte auf seltsame Art und Weise einfach etwas Einschüchterndes an sich. So mussten die meisten Menschen sich wohl fühlen, wenn sie den Undertaker das erste Mal trafen und er ihnen auf seine ganze eigene komische Art zu nahe kam. Und Schätzchen? Ernsthaft? Carina konnte sich nicht daran erinnern, jemals schon mal von einer Frau so angesprochen worden zu sein. „Nein, bitte kein Blau“, hörte sie sich im nächsten Augenblick urplötzlich selbst sagen und war darüber mehr überrascht, als sie zugeben wollte. „Das letzte Kleid, das ich getragen habe, war blau und… ehrlich gesagt…“, sprach sie stockend weiter und dachte an ihr erstes und gleichzeitig bisher einziges Ballkleid zurück. Sie hatte sich darin wohl gefühlt und schön, keine Frage. Aber in der Nacht, in der sie es getragen hatte, war einiges passiert. Sie hatte Cedric erzählt, was in der Nacht ihres Selbstmordes wirklich geschehen war und auch, was sie den drei Männern deswegen zu einem späteren Zeitpunkt angetan hatte. Und anschließend hatte sie mit ihm geschlafen, sich ihm hingegeben. Irgendetwas in ihr verband die Farbe Blau mit einer Unschuld, die sie längst nicht mehr besaß. Und das nicht nur im sexuellen Sinne. „… ich identifiziere mich nicht wirklich mehr mit der Farbe“, beendete sie schließlich ihren Satz, doch Nina schien die Ablehnung nichts auszumachen. Stattdessen bemerkte sie den stählernen Blick in den Augen der 19-Jährigen. Die Frau vor ihr wirkte zwar noch sehr jung, aber hatte scheinbar bereits einiges erlebt. Sie erinnerte sie ein wenig an Ciel. Der Wachhund der Königin war ebenfalls noch so jung und wirkte auf den ersten und manchmal auch auf den zweiten Blick zerbrechlich, aber in seinen Augen spiegelte sich das genaue Gegenteil von seinem Erscheinungsbild ab. Und plötzlich kam ihr eine ganz andere Idee für ein Kleid. Nichts Verspieltes oder Zauberhaftes. Sondern etwas, dass die junge Frau vor ihr in einem gänzlich anderen Licht erscheinen lassen würde. Ein keckes Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus. „So? Nun, wie wäre es denn dann hiermit…“ Kapitel 95: Sorgen und Versprechungen ------------------------------------- „Na, wie war das?“, fragte Elizabeth, als sie zu dritt den Hopkins Tailor Shop verließen. „Gar nicht so übel“, lautete Carinas Antwort und sie war überrascht, dass das tatsächlich stimmte. Nina hatte eine Art an sich, die zwar einschüchternd wirken konnte, aber wenn man sich daran erst einmal gewöhnt hatte, dann war sie wirklich einfach nur sehr gut in ihrem Job. Und sie hatte Carina genau das gegeben, was sie gewollt hatte. Ein Kleid, dass definitiv anders war als ihr vorheriges, aber in dem sie sich mit Sicherheit genauso wohl fühlen würde. Und sie war gespannt darauf, wie Cedric auf diesen Anblick reagieren würde… „Es war toll“, strahlte Emma, die in den letzten zwei Stunden merklich aufgetaut war. Und Carina war froh darum. Die werdende Mutter wirkte so viel gelöster und zutraulicher, jetzt, wo sie sich an Carinas und Elizabeths Anwesenheit gewöhnt hatte. Fast schon ein wenig wie ein verängstigter Welpe, der sich erst einmal an seine neue Umgebung gewöhnen musste, aber die Schnitterin fand, dass es eine liebenswerte Eigenschaft war. Sie war früher auch nicht anders gewesen. Als sie noch komplett menschlich gewesen war. Elizabeth strahlte. „Freut mich, dass es euch gefallen hat. So etwas sollten wir öfter mal machen. Also, nicht Kleider kaufen, aber etwas zusammen unternehmen.“ Jetzt wurde Emma doch wieder rot. Ein sicheres Anzeichen dafür, dass sie sich unwohl fühlte, wie Carina inzwischen bemerkt hatte. „Ich glaube kaum, dass Eure Eltern das gutheißen würden, Mylady“, erwiderte die Brünette und spielte damit auf den Stand von sich selbst und natürlich auch Carina an. Doch Elizabeth winkte ab. „Meine Eltern sind immer froh, wenn ich neue Freunde finde. Meine Zofe Paula ist auch meine Freundin und sie haben keinerlei Bedenken diesbezüglich.“ „Wo du gerade deine Zofe erwähnst“, erinnerte Carina sich abrupt und wandte sich der jungen Blondine wieder direkt zu, „wir brauchen noch jemanden, der in der Ballnacht auf Lily aufpassen würde und deine Zofe hat das ja schon einmal getan. Glaubst du, es wäre möglich, dass sie das noch einmal übernehmen könnte?“ „Paula konnte schon immer gut mit kleinen Kindern. Ich denke, dass das kein Problem sein wird. Sie kann sich ja in einem der Gästezimmer um sie kümmern.“ „Das wäre großartig“, seufzte Carina erleichtert. So wenig ihr der Gedanke auch behagte, dass sich ihre Tochter in der Reichweite von Samael befand, so behagte ihr der Gedanke, dass sie viel zu weit weg vom Geschehen war, noch weniger. So waren sowohl sie, als auch Cedric vor Ort und konnten im Notfall eingreifen. „Perfekt, dann sehen wir uns alle am Ballabend wieder. Ich freue mich“, sagte Elizabeth und die beiden anderen Frauen konnten ihr ansehen, dass sie es auch genau so meinte. Carina nickte. „Das werden wir wohl. Pass auf dich auf, Lizzy.“ Sie lachte, als ihr die 15-Jährige daraufhin ein Zwinkern zuwarf. „Du weißt ja, ich komme zurecht.“ „Ja, das stimmt wohl. Wer, wenn nicht du?“, grinste die Schnitterin und war nach wie vor von der Tatsache fasziniert, dass Elizabeth sich im Ernstfall wesentlich besser verteidigen konnte als Ciel Phantomhive. „Komm Emma, ich begleite dich noch nach Hause.“ Angesprochene nickte und knickste einmal vor der Midford. „Es war mir eine Ehre Eure Bekanntschaft zu machen, Mylady.“ „Ganz meinerseits“, antwortete Elizabeth lächelnd und erwiderte die Geste. Glücklicherweise war nicht viel los auf den Straßen, sodass es gerade einmal 10 Minuten dauerte Emma zu Hause abzusetzen. Die Schwangere bedankte sich noch mindestens dreimal überschwänglich bei ihr, doch Carina winkte ab. „Ist doch selbstverständlich, dass ich dich nicht alleine nach Hause gehen lasse. Gerade in Zeiten wie diesen.“ „Dennoch ist es nett, Carina“, belehrte Emma sie, lächelte aber dabei. „Aber eine Frage hätte ich dann doch noch. Was meinte Lady Elizabeth gerade eben damit, dass sie schon zurecht kommt? Hätten wir sie nicht am besten auch noch ein Stück weit begleiten sollen?“ Carina konnte nicht anders, sie lachte schallend auf. „Ich weiß, man sieht es ihr nicht an, aber ich habe in meinem ganzen Leben noch niemanden gesehen, der besser mit einem Degen umgehen kann, als Elizabeth Midford.“ Die Augen der werdenden Mutter weiteten sich. „Ehrlich?“, fragte sie verblüfft nach, da sie sich bei Carina manchmal nicht sicher war, ob sie das, was sie sagte, auch tatsächlich ernst meinte. „Ehrlich“, bestätigte die Blondine. „Lizzy hat mir erzählt, dass ihre Familie – insbesondere ihre Mutter – viel Wert darauf legt, dass die Töchter genauso ausgebildet werden wie die Söhne und dazu gehört auch eine angemessene Selbstverteidigung. Eine Einstellung, die ich definitiv unterstütze.“ „Aber… aber Kämpfen gehört sich nicht für eine Frau“, murmelte Emma unsicher. „Das mag die Gesellschaft so sehen. Es lässt sich allerdings nicht leugnen, dass es Lizzy in der Vergangenheit die Möglichkeit gegeben hat, sich selbst das Leben zu retten“, entgegnete Carina ganz neutral, obwohl sie innerlich aufgrund der altmodischen Einstellung gegenüber Frauen vor Wut kochte. Unwillkürlich rief sie sich die Situation auf der Campania wieder vor Augen. Hätte Elizabeth nicht gewusst, wie sie einen Degen – oder in diesem Fall sogar zwei – zu gebrauchen hatte, dann wäre sie auf dem Schiff gestorben. Denn weder Ciel, noch Sebastian hätten das Mädchen rechtzeitig erreicht, um die Bizarre Dolls aufzuhalten. „Wie auch immer“, fuhr sie fort, um jegliche mögliche Grundsatzdiskussion im Keim zu ersticken, „in der Einladung steht, dass euch eine Kutsche am Abend des Balls zu Hause abholen wird. Wir werden uns dann schätzungsweise erst im Phantomhive Anwesen wiedersehen.“ Sie warf Emma einen beruhigenden Blick zu. „Falls in der Zwischenzeit jedoch irgendetwas sein sollte… na ja, du weißt ja, wo du mich findest.“ „Vielen Dank“, bedankte sich Emma ein weiteres Mal und Carina war froh, dass sie anschließend mit einem Lächeln ins Haus ging. Sie würde das Versprechen, das sie Charlie gegeben hatte, nicht brechen. Sie würde Emma auf dem Ball zu keiner Sekunde aus den Augen lassen. Dieses Mal würde sie niemanden sterben lassen. Als sie ca. eine Viertelstunde später das Bestattungsinstitut betrat, saß Cedric hinter seinem Tresen und schien einige seiner Unterlagen durchzugehen. Neben ihm stand eine noch dampfende Tasse Tee. Er schaute auf und lächelte, als er sie entdeckte. Carina konnte sogar sehen, wie sich seine Schultern ein wenig senkten, als die Anspannung aus ihnen wich. Ein warmes Gefühl der Zuneigung breitete sich in ihrem Bauch aus und sie musste automatisch sein Lächeln erwidern. „Hey“, meinte sie, trat auf ihn zu und drückte ihm dann einen zärtlichen, aber tiefen Kuss auf die Lippen. Er beäugte sie. „Alles gut?“, wisperte er, als sie sich wieder von ihm löste und sich auf eines seiner Beine setzte. „Alles gut“, bestätigte sie und lehnte sich an ihn. „Ich bin froh, dass ich das hinter mir habe.“ Er grinste. „Und?“, meinte er und klang neugierig. „In was für einem Kleid darf ich dich denn dieses Mal ausführen?“ „So so, ausführen nennst du das also, ja?“, fragte sie, immer noch lächelnd, und erwiderte seinen Blick. Cedric hob eine Augenbraue. „Wie würdest du es denn nennen?“ „Och, ich weiß nicht. Dich als Direktor einer Schule auszugeben und mich als deine angebliche Ehefrau anzukündigen, ist mit wenigen Worten so schwer zu beschreiben.“ Der Silberhaarige lachte. „Hehe, ich bin mir keiner Schuld bewusst“, kicherte er und drückte ihr nun seinerseits einen Kuss auf die Lippen. „Natürlich, wie sollte es auch anders sein?“, murmelte sie zwischen zwei weiteren Küssen und genoss für den Moment einfach nur die traute Zweisamkeit. „Du hast meine Frage nicht beantwortet“, erinnerte er sie schließlich daran und schaute ihr aufmerksam ins Gesicht. „Wie wird das Kleid aussehen?“ Carina schmunzelte. „Da ich ja weiß, wie sehr du Überraschungen liebst, bekommst du es erst am Abend des Balls zu sehen. Aber keine Sorge, du bekommst ein passendes Hemd dazu.“ Kurz blitzte in ihren Augen eine Emotion auf, die der Bestatter so noch nie an ihr gesehen hatte. „Damit auch jeder weiß, dass du zu mir gehörst.“ Er kicherte. „Sooo besitzergreifend~“, schnurrte er und der 19-Jährigen wurde warm, als er sich erneut dicht an sie schmiegte. „Das sagt gerade der Richtige“, entgegnete sie trocken und erhob sich nun wieder von seinem Bein, um etwas Abstand zu ihm zu gewinnen. Wenn er nämlich so weiter machte, würde das nur wieder damit enden, dass sie den Rest des Tages im Bett verbrachten. Nicht, dass sie was dagegen hätte, aber irgendwann musste sie sich schließlich auch mal um das Haus und Lily kümmern. „Bevor ich es vergesse, Grell war in der Zwischenzeit hier.“ „Ach ja? Was wollte er?“, fragte die Blondine, während sie in die Küche ging, um mit den Vorbereitungen für das Abendessen anzufangen. „Er wollte mit dir den neuen Schichtplan durchgehen. Ursprünglich jedenfalls. Als ich sagte, dass du auf Kleidersuche bist, hatte sich das Thema allerdings schnell wieder erledigt.“ Carina stöhnte auf. „Na super“, murmelte sie zu sich selbst. „War er sehr sauer?“ „Ich würde es eher beleidigt nennen, aber nein. Am Ende unseres Gespräches hatte er sich wieder beruhigt.“ „Na, Gott sei Dank. Trotzdem, da werde ich mir sicherlich noch was anhören dürfen“, murmelte sie. „Habt ihr sonst noch über irgendetwas gesprochen?“, fragte sie und Cedric war froh, dass sie ihm in diesem Moment den Rücken zukehrte, denn ganz kurz entglitten ihm leicht die Gesichtszüge. „Nein, er war relativ schnell wieder weg“, flunkerte er und erinnerte sich an Grells letzte Worte an ihn. „Du wirst sie erst fragen, wenn ich mir etwas Romantisches für euch überlegt habe.“ „Na, das kann ja was werden“, hatte er gedacht, sich aber schlussendlich damit abgefunden. Der Rothaarige hatte in dieser Situation sicherlich den besseren Riecher. Und obwohl es sich für ihn nicht wie eine große Sache anfühlte – Grell war an dieser Stelle übrigens anderer Meinung gewesen – wollte er es nicht vermasseln. Er hatte in der Vergangenheit schon viel zu viel vermasselt, was seine Beziehung mit Carina betraf. „Elizabeth meinte im Übrigen, dass ihre Zofe sicherlich gern auf Lily aufpassen wird, da sie sowieso zusammen mit ihr anreisen wird.“ „Gut“, erwiderte Cedric. Ebenso wie Carina war ihm nicht wirklich wohl bei der ganzen Sache zumute, aber so war es ihm immerhin möglich schnellstmöglich einzugreifen, sollte Samael irgendetwas in der Hinsicht versuchen. Im nächsten Moment horchte er auf, als Carinas Stimme plötzlich einen ernsteren Ton anschlug. „Wir haben nicht mehr viel Zeit, Cedric“, murmelte sie und sah ihn mit einem Blick an, der dem Silberhaarigen ganz und gar nicht gefiel. Er konnte Zweifel darin sehen. „Was, wenn wir etwas übersehen haben? Was, wenn er gar nicht auf dem Ball auftaucht und stattdessen irgendetwas weitaus Schlimmeres in der Zwischenzeit anstellt? Das wäre die logischere Vorgehensweise.“ „Du hast Recht. Das wäre es. Aber – und ich kann nicht glauben, dass ich das tatsächlich sage – ich setze mein Vertrauen hier in Sebastian. Er kennt seinen Vater von uns allen am besten. Wenn er der Meinung ist, dass Samael darauf anspringen wird, dann sollten wir in diesem Einzelfall darauf vertrauen. Auch, wenn es uns schwer fällt.“ Carina schwieg für einen sehr langen Moment, dann drehte sie sich komplett zu ihm um und der Bestatter wusste sofort, dass ihm ihre nächsten Worte noch weniger gefallen würden als die vorherigen. „Cedric, ich möchte, dass du mir etwas versprichst.“ Sie atmete einmal tief ein. „Wenn diese ganze Sache nicht so ausgeht, wie wir uns das vorstellen…“, sie stockte und atmete ein weiteres Mal tief ein, „wenn… wenn mir etwas zustoßen sollte-“ „Nicht“, unterbrach der Undertaker sie. Er sagte es ganz leise und ruhig, aber Carina verstummte sofort. Sein Gesichtsausdruck verriet nicht das Geringste, aber Carina wusste, dass sein Herz heftig gegen seine Brust schlug. Der bloße Gedanke schmerzte ihn. Sie schluckte. Dachte er vielleicht, dass sie dieses Gespräch mit ihm führen wollte? Absolut nicht. Aber es war notwendig und sie würde es durchziehen! Sie legte ihm eine Hand auf die Brust und jetzt konnte sie seinen rasenden Herzschlag unter ihren Fingerkuppen ganz genau spüren. Ihre Kehle fühlte sich trocken an, als sie es nunmehr ein drittes Mal versuchte. „Wenn ich es nicht lebend aus diesem Kampf heraus schaffe, dann musst du dich um Lily kümmern. Verstehst du mich?“ Seine Augen weiteten sich, aber ehe er etwas darauf erwidern konnte, fuhr die 19-Jährige bereits fort. „Du darfst um mich trauern, aber du darfst Lily dabei nicht vergessen. Niemals darfst du unsere Tochter vergessen.“ Sie holte tief Luft. „Und bitte... bitte versuch niemals, mich zurückzuholen. Du weißt, dass ich das nicht will.“ „Carina…“, seine Stimme klang belegt, als er ihren Namen sagte und er sah sie so flehentlich an, dass sie ihre Worte am liebsten zurückgenommen hätte. Aber sie blieb hart. „Versprich es mir!“ Er schluckte und schloss kurz die Augen, ehe er sie wieder öffnete und sie mit einem Blick ansah, der seine verletzliche Seite so klar offenbarte, dass es Carina für einen Moment den Atem raubte. „Ich verspreche es“, wisperte er. Sie wusste, dass es nicht der erste Teil des Versprechens war, der ihm schwer fiel. Sondern die bloße Tatsache, dass er sie verlieren konnte und es dann auch noch akzeptieren musste. Vielleicht war sie selbstsüchtig. Vielleicht war es selbstsüchtig und egoistisch von ihr, ihn um so etwas zu bitten. Aber der Gedanke, dass er sich mehr um ihre Wiederbelebung bemühen würde als um ihre gemeinsame Tochter… den konnte sie nicht ertragen. Lily würde es ihm irgendwann nachtragen, ihn vielleicht sogar hassen. Das konnte sie nicht zulassen! „Danke“, flüsterte sie und umarmte ihn – fest. Beinahe sofort spürte sie, wie sich seine Arme um sie legten und sie ebenfalls fest umschlungen hielten. Ihr Kopf lag nun seitlich an seinem Brustkorb und erleichtert stellte sie fest, dass sein Herzschlag sich wieder etwas beruhigt hatte. Er drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel. „Ich habe es in der Vergangenheit zwar schon öfters gesagt, aber du machst mich wahnsinnig“, murmelte er und die Schnitterin spürte, wie sich ihr schlechtes Gewissen erneut regte. „Tut mir leid“, erwiderte sie kleinlaut gegen seine Brust, die sich leicht hob, als er seufzte. „Du weißt, wie ich das meine“, antwortete er. „Ja, ich weiß. Das macht es nur leider nicht besser“, sagte sie leise und hob jetzt ihren Kopf, um ihn direkt anzuschauen. „Ich wünschte, ich könnte dir versprechen, dass alles gut wird und mir nichts passiert. Aber das kann ich nicht. Ich gebe nun einmal grundsätzlich keine Versprechen, die ich möglicherweise nicht halten kann.“ „Und das ist auch gut so. Glaube mir, es gibt mitunter nichts Schlimmeres, als ein Versprechen zu brechen. Wenn man so viel Lebenserfahrung hat wie ich, dann kennt man sich da aus.“ „Wirst du es mir irgendwann erzählen?“, fragte Carina plötzlich, aber ohne jegliche Art von Druck. „Wirst du mir irgendwann erzählen, wie es… wie es dazu kam?“ Sie sprach es nicht direkt aus, aber man brauchte auch so nicht viel Phantasie, um zu verstehen was sie damit meinte. Das Thema, was für alle Todesgötter schwierig war. Cedric zögerte nicht, als er ihr ein liebevolles Lächeln schenkte. „Irgendwann“, sagte er und sie wusste, dass es ein weiteres Versprechen war. Und sie würde warten. Für ihn würde sie eine ganze Ewigkeit warten. „Es gibt allerdings eine Sache, die du mir versprechen kannst, Carina“, meinte er plötzlich und die Blondine horchte auf. „Ja?“ „Spiel nicht die Heldin. Ich weiß, ich habe es bei unserem gemeinsamen Training bereits gesagt, aber wenn es eng für dich wird, dann lauf lieber weg. Mir ist bewusst, dass du das anders siehst, aber im Ernstfall wegzulaufen ist keine Schwäche. Und-“ „Ich verspreche es“, unterbrach sie ihn. Das war das Mindeste, was sie für ihn tun konnte. Der Bestatter atmete erleichtert auf. „Gut“, entgegnete er leise und drückte ihr erneut einen sanften Kuss mittig auf den Kopf. „Ich verlasse mich drauf.“ „Du siehst müde aus, Ronald“, sagte die blonde Empfangsdame namens Olivia und wirkte aufrichtig besorgt, als sie die unübersehbaren Augenringe des jungen Schnitters betrachtete. Angesprochener brachte nur ein schwaches Lachen hervor. „Süße, das bin ich auch“, antwortete er und gähnte einmal herzhaft. „Ich schiebe momentan an einem Stück Überstunden. Und es nimmt einfach kein Ende.“ Logischerweise erwähnte er mit keinem Wort, dass das praktisch seine eigene Schuld war. Oder eher Williams, je nachdem, von welchem Standpunkt aus man das ganze betrachten wollte. „Du Armer“, meinte Olivia mitfühlend und legte ihm eine Hand auf den Unterarm. Und Ronald reagierte trotz seiner Müdigkeit wie gewohnt darauf. Seine Hand legte sich über ihre und er schenkte ihr ein charmantes Lächeln, während er sagte: „Weißt du, ich wüsste da etwas, was mir beim Einschlafen helfen könnte-“ Doch bevor er das Offensichtliche weiter ausführen konnte, unterbrach ihn eine laute Stimme. „Na endlich, da bist du ja.“ Der Schnitter drehte sich um und entdeckte Grell, der gerade das Verwaltungsgebäude betreten hatte und nun mit raschen Schritten auf ihn zukam. „Ah, liebster Grell, was verschafft mir denn die Ehre?“, meinte der junge Mann und klang dabei beinahe so, als würde er jedes einzelne Wort ernst meinen. Grell verdrehte die Augen, packte Ronald wortlos am Arm und zog ihn von der Rezeption – und einer ziemlich verdutzt dreinblickenden Olivia – weg. „Hey, was soll das?“, beschwerte dieser sich auch sogleich und stolperte hinter seinem älteren Kollegen her. „Wir müssen zu William. Es gibt Neuigkeiten und ich will nicht alles zweimal erklären müssen“, erwiderte der Rotschopf eine Spur genervt und ließ Carinas ehemaligen Mitschüler nun endlich los, der ihm widerstandslos folgte. „Was soll das heißen, es gibt Neuigkeiten? Ist etwas passiert? Geht es allen gut?“, fragte Ronald nervös und dachte dabei in allererster Linie an Carina, die sich immerhin einen ehemaligen Erzengel zum Feind gemacht hatte. „Natürlich geht es allen gut. Glaubst du wirklich, dass ich so ruhig bleiben würde, wenn es nicht so wäre?“, erwiderte Grell amüsiert und grinste. „Keine Sorge, es sind keine schlechten Neuigkeiten. Na ja, auch keine sonderlich guten, aber das kriegen wir schon irgendwie hin.“ Gemeinsam stiegen sie die Treppenstufen, die zu Williams Büro führten, hinauf und als Grell zweimal fest gegen die Tür klopfte, ertönte sogleich ein förmlich klingendes „Herein“. Die beiden Todesgötter traten ein und zeitgleich hob William den Kopf von seinen Unterlagen, eine Augenbraue irritiert in die Höhe gezogen. „Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir einen Termin hatten, Sutcliff“, meinte der Schwarzhaarige und Grell konnte sich nur mit größter Mühe ein Schnauben verkneifen. „Ah, jetzt bin ich wieder Sutcliff.“ „Da ich ja weiß, wie sehr du es schätzt immer direkt über alles informiert zu werden“, begann Grell, denn diesen kleinen Seitenhieb konnte er sich einfach nicht verkneifen, „bin ich direkt zu dir gekommen, William.“ Nicht nur Ronald fiel auf, dass Grells Stimmung merklich kühler war als sonst, wenn er mit ihrem gemeinsamen Vorgesetzten sprach. Ganz zu schweigen davon, dass er ihn nicht wie gewohnt Will nannte. Aber keiner sprach es an. Der rothaarige Reaper zog zwei Karten aus der Innentasche seines Mantels hervor. Die eine reichte er Ronald, die andere ließ er genau vor William auf den Schreibtisch fallen. „Das hier sind eure jeweiligen Einladungen für den Ball, den der junge Earl Phantomhive veranstalten wird. Ich hatte euch ja bereits erklärt, was wir damit bezwecken. Jetzt steht endlich das Datum fest und wir – Carina und ich – würden gerne wissen, ob ihr gedenkt ebenfalls dort zu erscheinen.“ „Oder uns mit dieser ganzen Misere allein lasst.“ Ronalds Kommentar dazu ließ natürlich nicht lange auf sich warten. „Wow, wie förmlich und schick“, meinte er und besah sich das teure Anschreiben ganz genau. Seine Augen leuchteten kurz auf. „Klar bin ich dabei“, antwortete er begeistert und Grell hätte ihn nicht besonders gut kennen müssen, um zu wissen, woher diese gute Laune plötzlich kam. Sicherlich stellte er sich bereits all die adeligen Damen vor, die er mit seiner bloßen Anwesenheit beglücken konnte. Oder vielleicht sogar mit mehr als nur seiner Anwesenheit… William hingegen blieb ihm erst einmal eine Antwort schuldig. Er besah sich das Einladungsschreiben ganz genau und erst, als er scheinbar jedes einzelne Wort auseinandergenommen und genauestens verinnerlicht hatte, sah er wieder auf. „Dieser Termin kommt früher als erwartet“, sagte er schließlich und Grell zog irritiert die Augenbrauen zusammen. „Nun… ja“, antwortete er. „Aber ehrlich gesagt heißt es in diesem Fall wohl: Je früher, desto besser. Umso schneller sind wir Samael los. Umso schneller kann alles wieder seinen gewohnten Lauf nehmen.“ Letzteres sagte er vor allem aus dem Grund, weil er wusste, wie sehr William Normalität und gewohnte Abläufe schätzte. Und tatsächlich blitzte bei diesen Worten so etwas wie Ehrgeiz in Williams Augen auf. „Nun gut. Ich werde ebenfalls anwesend sein.“ „Wunderbar“, seufzte Grell und meinte es in diesem Moment nicht einmal sarkastisch. Für jeden einzelnen kampffähigen Verbündeten konnten sie dankbar sein. „Ich sage Carina Bescheid. Falls euch noch irgendwelche Fragen einfallen, dann wendet euch einfach an mich“, sagte der Rotschopf und es war klar ersichtlich, dass er dieses Büro nun, wo er alles gesagt hatte, auf schnellstem Wege wieder verlassen wollte. William öffnete den Mund, aber Grell tat so, als hätte er es nicht gesehen. Beinahe rennend verließ er das Zimmer, dankbar dafür, dass es ihm gelungen war eine normale Fassade aufrechtzuerhalten; sein Gesicht zu wahren. Williams Anwesenheit allein machte ihm das nämlich bereits wirklich nicht leicht. Nicht nach den letzten Gesprächen, die sie miteinander geführt hatten. Sowohl William als auch Ronald schauten dem rothaarigen Reaper ein wenig fassungslos nach, aber der jüngere Schnitter war der Erste, der sich wieder fasste. Seine Augen huschten zu William und er räusperte sich. „Also…“, begann er und wartete darauf, dass sein Vorgesetzter ihn wieder ansah. „Ich weiß, es geht mich eigentlich nichts an, Mr. Spears“, fuhr er fort und zuckte einmal mit den Schultern, „aber was auch immer zwischen ihnen beiden vorgefallen ist, ich würde es schnellstmöglich klären. Bevor es wirklich hässlich wird.“ Ronald zuckte zusammen, als ihn daraufhin ein scharfer Blick seitens Williams traf. „Sie haben Recht, Knox. Es geht Sie nicht das Geringste an.“ Ronald hob beide Hände abwehrend hoch. „Schon gut, schon gut, ich halte mich raus“, sagte er und ließ William in seinem Büro alleine. Der Schwarzhaarige atmete tief durch die Nase aus und starrte in Gedanken versunken auf seinen Schreibtisch. Früher hatte er gedacht, dass Grells Anhänglichkeit und sein flirtendes Gehabe das Nervigste war, was ihm passieren konnte. Jetzt wusste er es besser. Grells vorheriges Verhalten mochte ihm auf die Nerven gegangen sein, aber seine jetzige abweisende Art und das Zeigen seiner kalten Schulter trieben ihn langsam aber sicher in den Wahnsinn! Ronald Knox hatte zwar absolut keine Ahnung, worum es hier ging, aber er hatte trotzdem Recht. Er musste diese Angelegenheit mit Grell schnellstmöglich klären, wenn er jemals wieder ein normales Arbeitsverhältnis zu ihm aufbauen wollte. Und das war schließlich das, worum es ihm hierbei ging und um nichts anderes! „Autsch“, entfuhr es Carinas Mund automatisch, als sie ein ausgestrecktes Bein hart im Rücken traf und sie dadurch ein paar Schritte nach vorne stolperte. Hinter ihr schnaubte Cedric belustigt auf. „Ich hab’s dir schon einmal gesagt, achte mehr auf deine Deckung.“ Carina konnte sich nur mit größter Mühe das Ziehen einer Schnute verkneifen, als sie sich über die schmerzende Stille direkt über dem Steißbein rieb. „Das hier macht dir richtig viel Spaß, was?“, fragte sie ihn genervt und der Bestatter grinste. „Es würde mir noch viel mehr Spaß machen, wenn du dich mehr anstrengen würdest und ich dich nicht ständig treten müsste.“ Jetzt zog die Schnitterin doch eine Schnute. „Ich strenge mich an“, erwiderte sie beleidigt. Was blieb ihr in einem Kampf mit Cedric auch anderes übrig? „Nicht genug“, erwiderte der Silberhaarige ernst und schwang im nächsten Moment seine Sense. Carina fluchte, als sie gezwungen war seine Klinge mit der ihren aufzuhalten. Der Druck ließ ihre Füße weiter im nassen Waldboden versinken und sie notierte sich gedanklich bereits, dass Cedric und sie die Stiefel ausziehen mussten, bevor sie das Bestattungsinstitut betraten. Ihr Partner schien mit Dreck im Haus zwar kein sonderlich großes Problem zu haben, aber Carina sah das ein wenig anders. Sie hatte keinen Reinlichkeitsfimmel, bei weitem nicht, aber zumindest schämen wollte sie sich für das Aussehen ihres Zuhauses nicht. „Ich will nicht unhöflich sein“, presste sie hervor und versuchte das Brennen ihrer Oberarmmuskulatur zu ignorieren, „aber könntest du deine Sense nicht einmal außen vor lassen? Ich glaube kaum, dass Samael mit einer kämpfen wird und wenn ich ganz ehrlich bin, geht sie mir einfach mächtig auf den Geist.“ Cedric schob als Antwort seine Unterlippe schmollend vor. „Keine Beleidigungen gegenüber meiner Death Scythe, ja? Sie und ich haben schon so einiges zusammen durchgemacht. Außerdem mag sie es gar nicht, wenn man sie ausschließen möchte.“ „Herrje“, murmelte Carina und verdrehte die Augen – was ein Fehler war, denn genau diesen Moment nutzte Cedric, um ihr mit einer simplen Bewegung das linke Bein wegzuziehen. Die 19-Jährige stolperte einen Schritt nach vorne und nur durch ein schnelles Ducken konnte sie verhindern, dass seine geliebte Sense ihr eine neue Frisur verpasste. In einer fließenden Bewegung konterte sie nun ihrerseits mit einem Tritt, der den Undertaker allerdings knapp verfehlte. Sein Grinsen wurde breiter. „Außerdem geht es hier gar nicht darum, dass Samael vermutlich gar keine Sense benutzen wird. Sondern um die Übung, sich jederzeit an verschiedene Kampfsituationen anpassen zu können.“ Er holte zu einem erneuten Schlag mit seiner Sense aus, dem Carina jedoch erneut rechtzeitig ausweichen konnte. „Du weißt, wie man gegen ein anderes Schwert kämpft. Wenn nicht durch deine Kämpfe gegen Crow, dann allein durch die Tatsache, dass du selbst eines benutzt. Aber in einem Kampf gegen eine Sense musst du anders vorgehen. Und das kann dir bei jeder anderen Waffe genauso gehen. Nimm William als Beispiel. Seine Death Scythe ist eine Gartenschere, also müsstest du dabei ebenfalls umdenken, nicht wahr?“ Carina nickte. „Ja, sie hat die Reichweite deiner Sense, aber ist durch ihre Form nicht so flexibel einsetzbar. In der Hinsicht ähnelt sie eher einem Schwert.“ „Richtig“, bestätigte er. „Je mehr Formen des Kampfes du trainierst, umso eher bist du auf andere Waffen in anderen Situationen eingestellt. Nicht, dass ich es dir nicht zutrauen würde, dass du im Notfall improvisieren könntest, denn den Verstand dazu hast du zweifelsohne. Aber es kann trotzdem nicht schaden jetzt schon einmal verschiedene Bewegungsabläufe zu üben.“ Carina grinste. „Weißt du, dass ich dieses Oberlehrerverhalten von dir echt scharf finde?“, meinte sie vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen und warf ihm einen leicht koketten Blick zu. Der Undertaker blinzelte und jetzt war es an Carina, die kleine Sekunde der Irritation auszunutzen. Blitzschnell wechselte sie ihre Schwerthand und zielte mit der Klinge auf seine rechte Schulter. Cedric wich rechtzeitig aus, um einer blutenden Wunde zu entgehen, doch der Stoff seines Mantels wies nach ihrem Angriff dennoch einen länglichen Riss auf. Mit erhobenen Augenbrauen sah er sie an, während sie ihn weiterhin lediglich angrinste. „Hast du gerade ernsthaft mit meiner Wenigkeit geflirtet, um mich abzulenken und anschließend einen Angriff zu starten?“ „Und warst du nicht derjenige, der mir erst letztens noch gesagt hat, dass man jede Schwäche seinen Gegners erkennen und ausnutzen muss?“, stellte Carina ihm die passende Gegenfrage und konnte sich ein kurzes Kichern nun wahrlich nicht mehr verkneifen. Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, als er sie lachen hörte. „Kleines, freches Ding“, entgegnete er und ehe die Todesgöttin sich versah, hatte er sie an sich herangezogen, wirbelte sie einmal wie bei einem Tanz im Kreis herum und küsste sie anschließend fest auf den Mund. Carina lachte erneut kurz auf, erwiderte dann aber den Druck seiner Lippen und legte ihm eine Hand in den Nacken. „Falls es dich beruhigt“, wisperte sie nahe seines Mundes, als sie sich wieder voneinander gelöst hatten, „ich habe das eben durchaus ernst gemeint.“ „Na, das will ich ja wohl auch schwer hoffen“, meinte er grinsend. „Heh heh… aber ich fürchte, dass das bei Samael eher weniger funktionieren wird.“ „Ich kann’s ja mal ausprobieren“, erwiderte sie provokant und handelte sich dafür sofort einen leichten Klaps auf den Hintern ein. „Untersteh dich“, raunte er zurück und küsste sie ein weiteres Mal. Zwei Tage waren seit ihrem Besuch des Hopkins Tailor Shops vergangen. Keiner sprach es aus, aber je näher der Abend des Balls rückte, desto angespannter wurde jeder einzelne von ihnen. Carina spürte diesen unterschwelligen Druck auf ihrem Magen, der sie jetzt den ganzen Tag über begleitete und auch zu keiner Zeit mehr nachließ. Nachts schreckte sie wesentlich schneller als normalerweise aus dem Schlaf und tat sich danach schwer wieder einzuschlafen. Die Symptome erinnerten sie beinahe schon ein wenig an die Zeit zurück, als ihre Abschlussprüfungen zur Schnitterin vor der Tür standen. Auch damals hatte sie sich komplett verrückt gemacht. Grundlos, zugegeben, aber das war mit Sicherheit jetzt nicht der Fall. Nur ein Vollidiot würde ohne Angst in solch einen Kampf gehen. „Tja gut, generell müssen wir alle Vollidioten sein, wenn wir sehenden Auges in einen Kampf mit einem ehemaligen Erzengel reinmarschieren.“ Sie hatte im Bunker am Tag von Crows Tod gesehen, wie mächtig ein Erzengel war. Während Sebastian, Grell und sogar Cedric an der unsichtbaren Wand gescheitert waren, hatte es Uriel lediglich mit einem Fingerschnippen geschafft die Barriere zu zerstören. Samael mochte zwar durch seinen Sturz den Großteil seiner Kräfte verloren haben, aber man durfte nicht außer Acht lassen, dass er nun die Kräfte eines Teufels besaß. Er war ganz offensichtlich stärker als Sebastian; auch, wenn dieser das niemals so offen zugegeben hatte. Und so wenig Carina den Butler auch mochte, seine Stärke erkannte sie an. Dementsprechend verspürte sie bei dem bloßen Gedanken an einen noch mächtigeren Teufel durchaus einiges an Respekt. Was ihr nebenbei bemerkt überhaupt nicht gefiel. Das Training mit Cedric war weiterhin hart. Obwohl Carina seinen Bewegungen mittlerweile wesentlich besser folgen konnte, hatte sie doch das Gefühl, dass sie keine nennenswerten Fortschritte machte. Dass der Silberhaarige das anders sah, interessierte sie dabei herzlich wenig. „Du wirst besser“, sagte er eindringlich, während sie sich auf den Rückweg zum Bestattungsinstitut machten. Carina schnaubte. „Sagt derjenige, der mich heute zum wiederholten Male in den Boden gestampft hat.“ Der Bestatter seufzte. „Du erwartest zu viel von dir. Niemand würde es innerhalb so kurzer Zeit schaffen einen Trainingsstand zu erreichen, für den ich mehrere Jahrhunderte gebraucht habe.“ Er stupste ihr mit dem langen Nagel seines Zeigefingers gegen die Nase. „Du hast es bereits von Grell und auch von mir gehört. Deine Fortschritte im Kampf sind bemerkenswert. Du hast Talent, daran besteht kein Zweifel. Reicht dir das nicht?“ „Wenn es hier nur um mein eigenes Empfinden gehen würde, dann würde ich gar nicht erst gegen dich kämpfen, weil mir meine bisherigen Fortschritte definitiv ausreichen. Das kann ich dir versichern“, antwortete sie. „Aber darum geht es hier doch nicht, oder? Es geht darum, dass ich irgendwie diesen Kampf mit Samael überstehen muss. Und zwar lebend, wenn es nach mir geht.“ Cedric warf ihr einen ernsten Blick zu. „Wenn es nach mir geht, dann wirst du in diese Situation erst gar nicht kommen, weil dieser Teufel viel zu sehr mit mir beschäftigt sein wird.“ „Tja, und wie wahrscheinlich ist das bitte?“, fragte sie mit einem ironischen Unterton und rieb sich genervt die Stirn. „Nichts gegen deine Kampfkraft, Cedric. Ich bin die Letzte, die dagegen etwas sagen würde. Aber wie oft kam es schon zu Situationen, die wir einfach nicht vorhersehen konnten?“ Sie seufzte. „Ich bin lieber für das Worst Case Szenario vorbereitet, als darauf zu hoffen, dass es nicht so weit kommt.“ „Ich fürchte, dass uns auch leider nichts anderes übrig bleiben wird“, murmelte Cedric und klang dabei seltsam frustriert. Seltsam deswegen, weil sie diesen Gefühlszustand von ihm so gar nicht kannte. „Wir werden es schon irgendwie schaukeln“, sagte sie und wollte jetzt ausnahmsweise einmal ihn beruhigen. „Grell, William und Ronald sind doch auch noch da. Herrgott, selbst auf Sebastian können wir dieses Mal zählen. Wir schaffen das. Als… als Team.“ „Heh heh… ist schon lange her, dass ich mich mal als Teil eines Teams bezeichnen konnte“, erwiderte der Silberhaarige sichtlich amüsiert. Er warf Carina einen Seitenblick zu. „Aber es fühlt sich gut an.“ Sie lächelte und kam nicht umhin ihn ein wenig zu necken. „Na ja, würdest du alle um dich herum nicht immer so verunsichern, hättest du das mit Sicherheit schon früher haben können.“ „Aber es macht einfach viel zu viel Spaß“, gackerte er laut, während nun endlich das Institut in Sichtweite rückte. „Die geschockten Gesichter sind einfach viel zu lustig, als das ich mich zurückhalten könnte.“ Carina seufzte. „Mein Fehler, warum sage ich überhaupt noch etwas dazu?“, fragte sie sich selbst und ließ es zu, dass Cedric ihr die Tür offen hielt. „Ganz der Gentleman, was?“, zwinkerte sie und lächelte geschmeichelt, als er daraufhin ein amüsiertes „Für dich doch immer“ erwiderte. Allerdings verging ihr das Lächeln relativ schnell wieder, als sie ihren Blick ins Innere des Instituts richtete. „Was ist denn hier los?“, fragte sie und blinzelte mehrere Male ob des Bildes, das sich ihr bot. Rechts von ihr saß Ronald auf einem Sarg, hatte den Rücken an einem weiteren Sarg angelehnt und den Kopf auf der Brust, tief und fest schlafend. Grell saß hinter dem Tresen auf einem Stuhl und schien ebenfalls ein Nickerchen zu halten. Sein rechter Arm hielt Lily auf seinem Schoß, die begann jauchzend zu lachen, als sie ihre Eltern sah und scheinbar überhaupt kein Problem damit hatte, dass ihre Aufpasser momentan nicht ansprechbar waren. „Herrje“, gluckste Cedric, doch Carina fand es eher weniger witzig. Mit schnellen Schritten war sie bei Grell und nahm ihm ihre Tochter ab, ehe sie die Stimme erhob. Und zwar laut. „Ey, ihr Helden!“ Beide Todesgötter schreckten so heftig zusammen, dass sie beinahe von ihrem jeweiligen Sitzplan herunterrutschten. „Ich weiß nicht, was du hier machst, Ronald, aber Grell, du solltest eigentlich auf Lily aufpassen“, meinte die junge Mutter sarkastisch und warf dem silberhaarigen Bestatter einen bösen Blick zu, als dieser leise kicherte. Grell wirkte über sich selbst erschrocken. „Verdammt“, stöhnte er und klatschte sich einmal mit beiden Händen ins Gesicht, um wieder richtig wach zu werden. „Entschuldige bitte, Carina. Ronald kam nach seiner Schicht kurz vorbei und ist eigentlich direkt eingeschlafen und ich… ich dann wohl auch“, seufzte er und rieb sich peinlich berührt über die Stirn. „Wundert dich das?“, gähnte Ronald in Grells Richtung und rieb sich die Augen. „Bei den ganzen Überstunden, die wir momentan machen müssen? Ich weiß echt nicht mehr, wo mir der Kopf steht.“ Unmittelbar erreichte Carina ihr schlechtes Gewissen. Dass die beiden zurzeit so viel arbeiten mussten, war streng genommen ihre Schuld. „Macht es einfach nicht wieder“, nahm Cedric ihr die Worte aus dem Mund und streckte die Hände nach seiner Tochter aus. Diese ließ sich widerstandslos in seine Arme sinken und griff wie so oft nach seinen langen Haarsträhnen. Der Undertaker grinste und verabschiedete sich nach oben, während Grell auf seine Taschenuhr sah. Seine Augen weiteten sich erschrocken. „Um Gottes Willen, ich muss los“, rief er und rappelte sich hoch. „Meine Schicht hat vor 5 Minuten angefangen. Oh, William bringt mich um, wenn ich schon wieder nicht alle Seelen schaffe.“ „Grell“, begann Carina, doch der Rothaarige ließ ihr absolut keine Zeit ihren Satz zu Ende zu führen, denn bereits im nächsten Augenblick rannte er zur Tür hinaus. Carina blinzelte. „Er hat mich einfach stehen lassen“, sagte sie fassungslos und schaute zu Ronald, der sein vom Schlafen zerzaustes Haar wieder in Ordnung brachte. „Nimm’s ihm nicht übel, wir haben im Moment einfach viel Stress. Ich bin nach jeder erledigten Schicht froh, das kannst du mir glauben.“ Die Deutsche seufzte. Sobald die Sache mit Samael ausgestanden war, würde sie Grell bei seinen Schichten mehr als bisher zur Hand gehen, so viel stand fest. Aber dazu konnte sie sich später noch Gedanken machen. „Dein Dienst ist aber für heute beendet, oder?“ „Jap“, grinste Ronald und rieb sich über seine deutlich sichtbaren Augenringe. Nicht, dass das etwas half. Carina lächelte schief. „Wie wär’s mit einem Kaffee?“ Kapitel 96: Die dritte Geschichte --------------------------------- „Danke sehr“, sagte Ronald höflich, als Carina eine dampfende Tasse Kaffee vor ihm abstellte. „Gerne“, erwiderte die Todesgöttin und setzte sich mit ihrer eigenen Tasse Tee ihm gegenüber auf einen Stuhl. „Und jetzt mal Hand aufs Herz“, fuhr Ronald fort und pustete einmal in die heiße Flüssigkeit, „du hast mich doch nicht einfach so auf eine Tasse Kaffee eingeladen, oder? Es gibt da irgendetwas, was du mit mir besprechen willst, hab ich recht?“ Angesprochene grinste. „Du müsstest mich doch inzwischen gut genug kennen, Ronald, um zu wissen, dass ich fast nie etwas ohne Hintergedanken mache.“ Der Shinigami besah sich ihr Grinsen und seufzte. „Dein Geliebter färbt auf dich ab, das ist dir schon klar, oder?“ „Nein, aber da du nicht der Erste bist, der mir das sagt, scheint es wohl zu stimmen. Was ich, wenn ich ehrlich bin, beinahe schon ein wenig beunruhigend finde.“ Er lachte. „Sobald es unerträglich wird, sage ich dir Bescheid.“ „Zu gütig“, murmelte sie und nahm einen kurzen Schluck ihres Früchtetees. „Also? Was möchtest du mit mir besprechen?“, fragte Ronald und hob nun ebenfalls die Tasse an seine Lippen. Carina zögerte. „Ich weiß, es ist ein delikates Thema und du bist mir definitiv keine Antwort schuldig, so viel sollte dir klar sein. Aber ich kam nicht umhin festzustellen, dass du in bestimmten Situationen merkwürdig reagierst.“ Der Todesgott runzelte die Stirn. „Inwiefern?“, fragte er. Carina zögerte erneut mehrere Sekunden lang, ehe sie vorsichtig antwortete: „Mal ganz abgesehen von der Tatsache, dass du von Anfang an sehr viel Verständnis für meine Situation gezeigt hast? Du bekommst manchmal diesen seltsamen Blick, wenn es um das Thema Liebe und Partnerschaft geht“, sagte sie und erinnerte sich an den Tag zurück, an dem Ronald die ganze Wahrheit über ihr plötzliches Verschwinden erfahren hatte. „Alles, was ich momentan will, ist hier in Frieden zu leben. Meine Tochter aufwachsen zu sehen und mit dem Mann zusammenzubleiben, den ich liebe. Kannst du das nicht verstehen?“ Die gelbgrünen Augen des jungen Mannes nahmen plötzlich einen seltsam bitteren Ausdruck an. „Doch“, sagte er und schaute zu Boden. „Das kann ich. Mehr, als du dir vielleicht vorstellen kannst.“ Ronald war anzusehen, dass er genau wusste, wovon sie sprach. Er wirkte ernster, als Carina ihn je zuvor gesehen hatte. „Bleib ruhig. Ich hatte nicht vor dich auszufragen“, sagte sie, nippte an ihrem Tee und stellte die Tasse wieder leise auf den Untersetzer. „Ich habe einmal den Fehler gemacht und einen Shinigami nach seinem menschlichen Leben gefragt, das passiert mir kein zweites Mal. Ich wollte dir nur sagen, dass du jederzeit mit mir reden kannst, wenn du etwas auf dem Herzen hast. Wir waren in unserer Ausbildungszeit nie die besten Freunde und ehrlich, manchmal benimmst du dich immer noch unmöglich, aber… du hast so viel für mich getan und inzwischen sehe ich dich als einen guten Freund, Ronald. Also, wenn irgendetwas ist oder du irgendetwas brauchst, dann zögere nicht mich zu fragen, ja?“ Der junge Mann starrte sie fassungslos an, während seine Kaffeetasse vergessen in der Luft schwebte. Sie lächelte zögerlich und diese Mimik riss ihn aus seiner Trance. Er räusperte sich und nahm nun doch einen weiteren Schluck. „Das … also, ich … danke“, murmelte er, besann sich einen Moment lang und sah sie dann wieder mit seinem altbekannten Grinsen an. „Ich wollte es dir ohnehin irgendwann erzählen“, sagte er locker und nun war es Carina, die ihn anstarrte. „Wie bitte?“, fragte sie verblüfft nach und Ronald lachte. „Ich kenne immerhin deine Geschichte. Da wäre es doch nur fair, wenn ich dir auch meine erzähle, oder nicht?“ „Wie gesagt“, stellte Carina noch einmal klar, „du bist mir nichts schuldig. Ich muss es nicht wissen, wenn du nicht-“ „Die meisten Shinigami machen immer so ein riesiges Fass auf, wenn es um ihre Vergangenheit geht. Dabei sitzen wir, was das angeht, doch nun wirklich alle im selben Boot, oder etwa nicht?“, unterbrach Ronald sie und zuckte einmal mit den Schultern. „Ich sollte dich allerdings vorwarnen. Meine Vergangenheit ist bestimmt bei weitem nicht so schlimm wie die von einigen anderen. Ehrlich gesagt ist sie eigentlich sogar recht unspektakulär.“ Carina hob eine Augenbraue. „Tatsächlich? Das kann ich mir bei deinem Charakter eigentlich kaum vorstellen, wenn ich ehrlich bin.“ Ronald grinste. „Glaub es oder glaub es nicht, aber ich war nicht immer so, wie ich jetzt bin. Ein Weiberheld, meine ich. Gutaussehend war ich tatsächlich schon immer.“ Die Schnitterin konnte nicht anders, sie verdrehte die Augen. Gott, selbst bei einem so ernsten Thema konnte Ronald seine lockere Art und Weise nicht ablegen. Aber vielleicht war das in diesem Fall auch nur reiner Selbstschutz, was wusste sie denn schon? „Hmm, wo fange ich denn am besten an?“, überlegte Ronald und runzelte nachdenklich die Stirn. „Von vorne?“, schlug Carina amüsiert vor und der junge Mann lachte. „Gute Idee. Lass mich mit der Tatsache anfangen, dass mein Vater Architekt war. Ja, ich glaube, dass das sozusagen der Anfang vom Ende für mich war.“ Er zuckte einmal mit den Schultern. „Meine Mutter brachte vier Söhne zur Welt und ich war der Erstgeborene. Wir waren nicht adelig, aber von dem Gehalt meines Vaters konnten wir wirklich gut leben und in meinen ersten paar Lebensjahren lief auch alles wunderbar.“ Er seufzte schwer. „Logischerweise blieb das nicht so, wie du dir vielleicht vorstellen kannst. Jedenfalls nicht für mich.“ Seine Augen schweiften, ohne wirklich etwas zu sehen, über die Mitte des Küchentischs und Carina wusste instinktiv, dass er sich seine Vergangenheit bildlich vor Augen führte. „Mein Vater war wirklich gut in seinem Beruf, musst du wissen. Sein Ruf wurde von Jahr zu Jahr bekannter und irgendwann entwarf er kaum noch Häuser für die Bürgerlichen, sondern nur noch riesige Villen für Adelsfamilien.“ Ronald hob seinen Blick und schaute Carina an. „Jetzt im Nachhinein weiß ich, was das mit seinem Charakter gemacht hat. Ich wünschte, er wäre auf dem Boden der Tatsachen geblieben. Aber damals… damals war ich so beeindruckt von den riesigen Gebäuden, an denen er mitgewirkt hatte. Mein Vater ist der Größte, dachte ich damals. Tja, und dementsprechend hoch war der Preis, den ich schlussendlich dafür bezahlen musste.“ Carina mochte Ronalds Vater von Wort zu Wort weniger. „Was hat er getan?“, fragte sie mit einer Spur Schärfe in der Stimme. Ronald seufzte erneut. „Es war nicht wirklich etwas, was er getan hat. Sondern vielmehr, was er nicht getan hat.“ Auf ihren verwirrten Gesichtsausdruck hin fuhr er fort: „Weißt du, das alles ist ihm irgendwann zu Kopf gestiegen. Er verbrachte immer mehr Zeit mit Adeligen und aufgrund seines Erfolges und Talent behandelten sie ihn wie einen der ihren. Das ging so weit, dass ich irgendwann der Tochter eines wohlhabenden Geschäftspartners von ihm vorgestellt wurde.“ „Die du heiraten solltest?“ Er nickte. „Da war ich fünf Jahre alt“, murmelte er und die Schnitterin schluckte. Arrangierte Ehen waren ihrer Meinung nach ein ganz dunkles Kapitel der menschlichen Geschichte. Im 21. Jahrhundert wurde kaum mehr darüber gesprochen. Niemand wusste in ihrer eigenen Zeit wirklich, wie viele Menschenleben dadurch zerstört worden waren. Niemandem war wirklich bewusst, wie viel die Bestimmung über den eigenen Körper wirklich wert war. „Lass mich raten. Sie war grauenvoll?“ Ronald lachte und entblößte dabei zwei Reihen blendend weißer Zähne. „Ich wünschte, sie wäre es gewesen, aber nein. Ganz im Gegenteil sogar. Sophia war… sie war wunderschön. Strahlend blondes Haar und ihren Augen erst… so hellblau wie ein wolkenloser Himmel im Hochsommer. Ich habe mich auf den ersten Blick in sie verliebt.“ Carina konnte nicht anders, sie hob eine Augenbraue. Verliebt? Ronald??? Das, befand sie, passte in ihrer eigenen Vorstellung so gar nicht zu ihrem Kollegen. Aber er hatte ja eben gesagt, dass er vor seinem Selbstmord kein Weiberheld gewesen war. „Ich war so glücklich, als mein Vater mir erklärte, dass ich Sophia einmal heiraten würde. Sie war so lieb und nett und so unglaublich verständnisvoll. Das änderte sich nicht einmal, als wir älter wurden. Sie war einfach perfekt für mich. Glaub mir, ich habe wirklich keine Sekunde lang an unserer Liebe gezweifelt.“ Carina lächelte sanft. „Das hört sich schön an“, sagte sie. Sie kannte dieses Gefühl ganz genau, was Ronald da beschrieb. „Ja, das war es auch. Ich hatte nur Augen für sie. Meine Brüder haben sich ständig darüber lustig gemacht. So Sprüche wie „Amüsier dich doch, so lange du noch nicht unter der Haube bist“ oder „Nur Frauen müssen jungfräulich in die Ehe gehen“ standen auf der Tagesordnung. Aber ich habe es ignoriert. Für mich gab es schlichtweg keine andere Frau. Während ich also der brave Mustersohn war, hatten meine drei jüngeren Brüder fast jeden Tag den Spaß ihres Lebens.“ Ein trauriger Ausdruck stahl sich in seine Augen. „Wie bereits gesagt, im Nachhinein gesehen hätte ich alles anders gemacht.“ Carina lachte trocken auf, woraufhin der Schnitter ihr einen fragenden Blick zuwarf. „Glaub mir, jeder würde in seinem Leben einige Dinge anders machen, wenn er im Vorhinein gewusst hätte, welche Auswirkungen seine Entscheidung hat. Das ist ganz normal. Menschen machen nun einmal Fehler. Aber ich denke, ohne jetzt philosophisch sein zu wollen, dass wir nur so aus ihnen lernen und es dann für die Zukunft besser machen können.“ Ronald verdrehte die Augen. „Ja ja, ich weiß, was du von Menschlichkeit und so weiter hältst, dieses Gespräch hatten wir schon auf der Campania. Aber trotzdem darf man sich doch wohl wünschen, dass man in der Vergangenheit klüger gehandelt hätte, oder etwa nicht?“ „Wem sagst du das?“, murmelte Carina. Bis zum heutigen Tage bereute sie ihre Entscheidung Cedric nichts von ihrer Schwangerschaft erzählt zu haben. „Jedenfalls…“, fuhr Ronald fort, „war alles gut bis zu meinem 18. Geburtstag. Wir waren mitten in den Hochzeitsvorbereitungen, als wir die Mitteilung bekamen, dass mein Vater bei einem Ausflug zu einer Baustelle vom Pferd gefallen war. Keine Sorge“, rollte Ronald mit den Augen, als er Mitleid im Gesicht seiner Kollegin aufflackern sah. „Er hat’s überlebt. Aber seine Hand war kompliziert gebrochen und trotz einer ziemlich kostspieligen OP konnte er seine Finger danach nie wieder so bewegen wie vorher. Du kannst dir sicherlich vorstellen, was das für seine Karriere als Architekt bedeutet hat.“ „Nichts Gutes, fürchte ich“, antwortete sie und er nickte. „Er konnte zwar noch arbeiten, aber seine Skizzen waren nie mehr das, was sie früher einmal waren. Natürlich hat sich das relativ schnell herumgesprochen. Es ist unglaublich, wie schnell man fallen gelassen wird, wenn man nicht mehr so funktioniert, wie die Gesellschaft das von einem erwartet.“ „Was glaubst du wohl, warum ich Adeligen nichts abgewinnen kann?“, entgegnete Carina trocken. „Gut, sie sind nicht alle so, aber der Großteil ist einfach unausstehlich. Ohne jegliche soziale Kompetenz.“ Ronald nickte. „Leider Gottes gehörte Sophias Familie zu besagtem Großteil“, seufzte er. Carina schluckte schwer und biss sich auf die Unterlippe. „Sie haben die Hochzeit abgesagt?“ „Und die Verlobung gelöst. Wo sie doch schon mal gerade dabei waren“, erwiderte er sarkastisch und stellte seine Tasse mit etwas mehr Wucht als nötig auf dem Unterteller ab. „Aber weißt du, was das Lustige an der ganzen Sache ist? Dass das nicht einmal das Schlimmste war.“ Er lachte spöttisch auf. „Ich dachte mir: Scheiß drauf. Sophia und ich lieben uns, uns kann doch egal sein, was ihre Eltern wollen.“ Seine gelbgrünen Augen verdunkelten sich. „Also habe ich sie gebeten sich mit mir zu treffen und sie hat zugestimmt. Als wir uns dann endlich wiedergesehen haben, habe ich ihr gesagt, dass mir all die Umstände nicht wichtig sind, sondern nur sie allein. Dass wir irgendwo hingehen sollen, wo uns niemand kennt und dann endlich heiraten können. So, wie es von Anfang an geplant war.“ „Aber das wollte sie nicht, oder?“, fragte Carina sanft und Ronald nickte, während er sich mit einer Hand durch die Haare fuhr. Er schwieg mehrere lange Sekunden, bis die Todesgöttin sich schließlich vorsichtig vortastete. „Hat sie dich nie geliebt?“ Der junge Mann lachte bitter auf. „Weißt du, Carina… ich glaube, das war tatsächlich der schlimmste Aspekt an der ganzen Sache. Sie hat mich geliebt. Ich habe es all in die Jahre in ihren Augen gesehen und auch an dem Tag, an dem ich sie darum bat mit mir durchzubrennen. Aber schlussendlich waren ihr das Geld und das Ansehen ihrer Familie dann doch wichtiger.“ Er sah ihr direkt in die Augen. „Beantworte mir eine Frage. Wie weit würdest du für deinen silberhaarigen Bestatter gehen? Was würdest du tun, um bei ihm zu bleiben?“ „Alles“, antwortete Carina, ohne eine Sekunde darüber nachzudenken. „Ich würde alles für ihn tun.“ Genau genommen hatte sie dies ja bereits. „Ganz genau“, nickte Ronald. „Scheinbar hat sie mich doch nie so sehr geliebt wie ich sie. Das wurde mir an diesem Tag schmerzhaft klar. Ich war mir bis zu diesem Zeitpunkt nie wirklich darüber bewusst, was das schlimmste Gefühl ist, das ein Mensch empfinden konnte. Aber dann wusste ich es. Nicht Hass oder Wut. Es ist die Enttäuschung.“ Er lachte erneut kurz auf, dieses Mal frustriert. „Aus Wut oder Hass kann man wenigstens noch etwas machen. Man kann sich an diesen Gefühlen festklammern. Aber wenn man von jemandem enttäuscht wird… dann ist dir plötzlich bewusst, dass das nur möglich war, weil du denjenigen einfach zu sehr in dein Herz gelassen hast. Denn jemand, der dir egal ist, kann dich nicht enttäuschen.“ Carina starrte ihn an, komplett sprachlos. Jedes einzelne Wort, das Ronald sagte, entsprach der Wahrheit. Der absoluten Wahrheit. Auch sie hatte in der Vergangenheit bereits Enttäuschungen erlebt. Und sie wusste auch, was Ronald unausgesprochen ließ. Nämlich, dass man bei besagten Enttäuschungen oft den Eindruck hatte, dass man es selbst schuld war. Sich selbst oft fragte: „Warum habe ich dieser Person so sehr vertraut?“ Wie Ronald es bereits gesagt hatte: Nur Menschen, die einem nicht gleichgültig waren, konnten einen wirklich richtig verletzen. Jedenfalls auf einer emotionalen Ebene. „Der Rest ist schnell erzählt“, sagte Ronald versucht beiläufig, aber die Deutsche spürte, dass es ihm immer noch schwer zusetzte. Und das würde es auch noch lange tun, keine Frage. „Ich kam mit meinem Leben nicht mehr klar. Ich konnte es schlicht und ergreifend nicht akzeptieren. Von meinen Brüdern konnte ich mir den lieben langen Tag anhören, was für ein Trottel ich all die Jahre war und meine Eltern waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als das sie sich großartig darum geschert hätten, wie es mir mit der ganzen Situation geht. Meine Kindheitsfreunde waren bereits alle verheiratet und hatten ihre eigenen Familien, um die sie sich kümmern mussten. Ich kam mir vor, als wäre ich… als wäre ich…“ „Der letzte Mensch auf Erden“, vollendete Carina seinen Satz, denn auch dieses Gefühl kannte sie nur allzu gut. Ronald nickte. „Ein Jahr lang habe ich so weiter gemacht. Gefangen zwischen „Ich akzeptiere es nicht“ und „Wie soll mein Leben überhaupt noch weitergehen?“ Tja und dann kam der Tag, an dem diese Frage mit einem ziemlich deutlichen „Gar nicht“ beantwortet wurde.“ „Was ist passiert?“, fragte Carina, obwohl sie die Antwort eigentlich kaum noch wissen wollte. Ronalds Schmerz setzte ihr mehr zu, als sie gedacht hatte. „Was passiert ist? Sophia hat geheiratet. Und zwar nicht mich“, zischte Ronald und in diesem Moment war es seltsamerweise erfrischend, eine andere Emotion als Schmerz in seinem Gesicht zu sehen. Nämlich blanke Wut. „Glaub mir, an dem Tag bekam das Sprichwort „Salz in eine offene Wunde streuen“ für mich eine vollständig neue Bedeutung.“ „Ich kann’s mir vorstellen“, murmelte Carina. Herrgott, sie selbst war eifersüchtig auf eine Frau, die bereits lange Zeit tot war. Gar nicht auszumalen, wie sie sich fühlen würde, wenn Claudia Phantomhive noch auf dieser Erde wandeln würde. „Ich bin mit meinen Brüdern in die nächstbeste Kneipe gegangen und habe das Einzige getan, dass mich in diesem Moment von dem alles umfassenden Schmerz ablenken konnte. Mich betrunken.“ Das, befand Carina, klang schon viel eher nach dem Ronald, den sie kannte. „Das ging so lange gut, bis meine ach so großartigen Geschwister mir wieder auf die Nerven gehen mussten. Also hab ich mir kurzerhand die noch halb volle Flasche Scotch geschnappt und bin gegangen. Ich muss wohl kaum erwähnen, dass die Flasche nicht sehr lange halb voll blieb.“ Die Mundwinkel der Blondine zuckten. „Nein, ich denke nicht“, erwiderte sie, trotz aller Umstände amüsiert. Auch Ronald musste grinsen. „Ich bin also so gegen Mitternacht ein wenig durch die Straßen getorkelt und schließlich an der kleinen, steinernen Brücke vorbeigekommen, auf der Sophia und ich unsere erste Verabredung hatten.“ Er seufzte. „Ich weiß noch ganz genau, wie sie an dem Tag aussah. Sie war gerade 10 Jahre alt geworden und hatte eins dieser sommerlichen Kleidchen an, die überall mit Spitze verziert waren. Es war so hellblau wie ihre Augen und sie hatte diesen niedlichen Blumenkranz in ihr Haar eingeflochten.“ Er schüttelte sacht den Kopf, um sich aus der Erinnerung zu befreien. „Na ja, jedenfalls hab ich auf der Brücke Halt gemacht, die leere Flasche auf dem Boden gestellt und mich mit den Ellbogen auf dem Rand abgestützt, um in das dunkle Wasser des Flusses zu sehen. Und Carina, was soll ich sagen? Noch nie in meinem gesamten Leben sah Wasser so einladend aus, wie in diesem einen Augenblick.“ Carina schwieg. Bereits bei den Erzählungen von Grell und Alice war es ihr schwer gefallen, dieses Gefühl nachvollziehen zu können. Einfach aus dem Grund, weil ihr eigener Selbstmord unter so ganz anderen Umständen geschehen war. Und doch war da diese eine, kaum benennbare Sekunde vor ihrem Tod gewesen, in denen all ihre Sorgen, all der Schmerz und vor allem die Angst einfach aufgehört hatten. In dieser Millisekunde hatte sie tatsächlich verstehen können, warum manche Menschen den Tod dem Leben vorzogen. „Du hast dich also ertränkt?“, fragte sie und es klang wie eine ganz sachlich gemeinte Feststellung. Ronald nickte. „Zuerst in Alkohol und dann tatsächlich wortwörtlich.“ Er lachte kurz über seinen eigenen Witz, aber beiden Todesgöttern war bewusst, dass an diesem Gespräch nicht das Geringste zum Lachen war. „War das nicht schmerzhaft?“ Sie konnte sich noch sehr gut an den Untergang der Campania erinnern und wie sie danach – dank Cedric – unter Wasser das Bewusstsein verloren hatte. Kein Umstand, an den sie sich gerne zurück erinnerte. Nun ja… bis auf den Kuss vielleicht. „Nicht wirklich. Ich schätze mal, dass ich einfach schon so betrunken war, dass es mir nicht mehr so viel ausgemacht hat wie jemandem, der noch im Vollbesitz seiner körperlichen und geistigen Kräfte ist. Selbst die Kälte des Flusses habe ich kaum gespürt. Stattdessen waren da nur noch die Schwerelosigkeit und diese angenehme Stille. Beinahe wie ein Moment des Friedens.“ Er dachte kurz über seine eigene Aussage nach und nickte dann selbstbestätigend. „Ja, ich glaube, ich habe mich noch nie in meinem Leben so friedlich gefühlt.“ Carina nickte. „Der Tod kann mit Sicherheit auch friedlich sein“, antwortete sie und musste dabei an das Gespräch mit Alice zurückdenken. Nach wie vor klammerte sie sich an die Worte Uriels, dass ihre beste Freundin nun an einem besseren Ort war. Und hoffentlich wieder mit ihrer Familie vereint. „Tja, jetzt weißt du es. Das war meine Geschichte. Nicht wirklich spektakulär, oder?“ „Du glaubst das wirklich, oder?“, stellte Carina ihm eine Gegenfrage und sah mit einem Mal verdammt ernst aus. „Ronald, jeder Mensch hat seine eigene Geschichte. Nur, weil es bei dir jetzt vielleicht keine Verschwörungen oder ungeklärte Mordfälle oder ein Kriegsdrama gegeben hat, heißt das doch noch lange nicht, dass es nichts wert ist. Es ist und bleibt deine Geschichte. Niemandem steht es zu darüber ein Urteil zu fällen. Aber wenn du unbedingt meine Meinung dazu hören willst, dann lass mich dir folgendes sagen: Deine Brüder sind Idioten. Sich für den einen Menschen aufzusparen, den man liebt, ist absolut nichts Verwerfliches. Und bezüglich Sophia gebe ich dir recht. Wenn sie dich so sehr geliebt hätte wie du sie, dann hätte sie alles getan; alles aufgegeben, um bei dir zu bleiben. Ihre Entscheidung sollte dir daher eine Sache klar machen. Sie war es nicht wert.“ Sie seufzte. „Ich weiß, es klingt leichter gesagt als getan. Aber auch ich hatte einige Dinge, mit denen ich erst lange nach meinem Selbstmord abschließen konnte. Und sobald du das getan hast, fällt eine Last von deinen Schultern, über die du dir jetzt noch nicht einmal im Klaren bist.“ Oh ja, da hatte es einige Sachen gegeben, die ihr lange schwer im Magen gelegen hatten. Der Mord an den Männern, die sie im übertragenen Sinne in den Selbstmord getrieben hatten. Ihr Selbstmord an sich. Die Frage, wer für ihre Zeitreise verantwortlich war. Die freie Entscheidung darüber, dass sie im 19. Jahrhundert verbleiben wollte. „Wenn du es so ausdrückst, klinge ich wie der letzte Vollidiot“, lachte Ronald, doch dieses Mal klang es nicht spöttisch. Es war ein warmes Lachen. Als würde er ihr stumm für ihre Worte danken. Auch Carina lachte. „Na ja, dass du ein Vollidiot bist, das war mir persönlich ja schon vom ersten Tag an klar. Als du dich in der Klasse neben mich gesetzt hast und deine ersten Worte „Wie wär’s mit einem Date?“ waren. Aber ehrlich gesagt wird mir jetzt einiges klar. Also… ich meine, warum du so ein Weiberheld geworden bist.“ Sie führte das Ganze nicht weiter aus, aber das musste sie auch nicht. Ronald wusste ebenso sehr wie sie, dass sein ganzes Verhalten gegenüber dem weiblichen Geschlecht ein reiner Schutzmechanismus war. Wenn er so viele Frauen in sein Leben ließ und immer nur für einen kurzen Zeitraum, dann bestand nicht die Gefahr, dass er noch einmal so verletzt werden konnte wie durch Sophia. „Klingt in der Theorie ja ganz schön“, dachte Carina. „Bis das dann doch die Eine kommt, die ihm vielleicht doch mehr bedeutete.“ Ob dieser Tag wirklich jemals kommen würde, konnte sie nicht sagen. Aber die Chancen dazu standen gut. „Will ich überhaupt wissen, was du gerade denkst?“, fragte Ronald mit hochgezogener Augenbraue, denn ihm war keineswegs der wissende Ausdruck auf Carinas Gesicht entgangen. „Nein, nein. Nicht weiter wichtig“, grinste seine Kollegin und zuckte mit den Schultern. „Aber eine Sache würde mich dann doch noch interessieren.“ Ronald zweite Augenbraue hob sich nun ebenfalls. „Ach ja? Was denn?“ „Dein Selbstmord ist nur ein paar Wochen länger her als meiner. Das heißt, dass all diejenigen, die du in deinem irdischen Leben kanntest, vermutlich noch am Leben sind. Nun ja, zumindest der Großteil. Hast du jemals geschaut, was aus ihnen geworden ist?“ Ronald schüttelte den Kopf. „Nein. Um ehrlich zu sein, habe ich mich das bisher nicht wirklich getraut“, gestand er. „Und im Übrigen ist uns das auch gar nicht erlaubt, wie du sicherlich bestens weißt.“ „Seit wann kümmern dich denn die Regeln?“ „Seit wann sind dir denn Regeln vollkommen egal?“, entgegnete Ronald amüsiert und jetzt war es an Carina eine Augenbraue zu heben. „Ich lebe mit einem, seit Ewigkeiten gesuchten, Deserteur zusammen und wir haben ein gemeinsames Kind, was glaubst du wohl?“ Er lachte. „Ich sagte es ja, dein silberhaariger Bestatter färbt auf dich ab.“ Sie verdrehte die Augen. „Um auf meine Frage von vorhin zurückzukommen“, sagte sie und er kicherte aufgrund ihres genervten Tonfalls, „vielleicht solltest du ja mal schauen, was aus deiner Familie und Sophia geworden ist. Vielleicht hilft dir das, um mit der Vergangenheit besser abschließen zu können.“ Ronald schnaubte. „Oder es macht die ganze Sache nur noch schlimmer“, meinte er und zum allerersten Mal konnte sie so etwas wie Unsicherheit in seinen Augen sehen. „Möglich“, gab sie ihm Recht. „Es ist deine Entscheidung, Ronald. Wenn du es nicht willst, dann tue es auch nicht. Und wenn du deine Meinung irgendwann änderst, dann tue es eben doch. Bedenke nur eines. Die Lebenszeit der Menschen ist begrenzt. Wenn du zu lange wartest, könntest du das womöglich irgendwann bereuen.“ Ronald nickte sehr langsam und wollte gerade den Mund zu einer Erwiderung öffnen, als eine Stimme die beiden jungen Schnitter unterbrach. „Wer könnte was irgendwann bereuen?“ Cedrics Kopf erschien im Türrahmen, während er sich zeitgleich mit einem Tuch die Hände abtrocknete. Zweifelsohne von den Überresten eines seiner Gäste. Weder Ronald, noch Carina störten sich großartig daran. Dazu hatten sie in ihrem Job einfach schon zu viel gesehen und erlebt. „Ich könnte irgendwann bereuen, dass ich mir so einen schrecklich neugierigen Bestatter ausgesucht habe“, entgegnete Carina gespielt theatralisch, woraufhin der Totengräber sogleich eine beleidigte Schnute zog. Allerdings begann er bereits im nächsten Moment zu kichern. „Wie gemein du immer zu mir bist“, meinte er und zeigte somit allen Anwesenden, dass er eigentlich nicht wirklich beleidigt war. Wenn sie genauer darüber nachdachte… wirklich beleidigt war er ja noch nie gewesen. Natürlich, er war mal traurig oder wütend und auch manchmal genervt, aber noch nie wirklich richtig beleidigt. Doch wenn sie bedachte, wie lange er bereits lebte… Vermutlich gab es in seinem Alter nur noch sehr wenig Dinge, die ihn beleidigen bzw. kränken konnten. Ronald räusperte sich plötzlich und stand auf. „Vielen Dank für den Kaffee und… das Gespräch“, meinte er und Carina konnte die versteckte Tiefe in seinen Worten deutlich hören. „Aber ich muss jetzt langsam los, sonst bekomme ich wieder Ärger mit Mr. Spears.“ „Eine nicht zu verleugnende Möglichkeit“, grinste der Bestatter. „Wie wahr“, stimmte Carina ihm zu und seufzte. „Gern geschehen, Ronald. Und das, was ich zu Anfang sagte, war ernst gemeint.“ Er lächelte. Wenn irgendetwas ist oder du irgendetwas brauchst, dann zögere nicht mich zu fragen. „Geht klar“, antwortete er und zwinkerte ihr einmal in alter Manier zu. Cedrics Augen huschten einmal zwischen ihm und seiner Partnerin hin und her, aber sagen tat er nichts. „Na dann. Wir sehen uns“, verabschiedete sich Ronald nun endgültig und demateralisierte sich bereits in der nächsten Sekunde. Der Mund des Silberhaarigen öffnete sich sogleich, aber Carina kam ihm zuvor. „Nein, ich werde dir nicht sagen, worüber wir gesprochen haben. Aber keine Sorge, es hatte nichts mit Samael oder irgendwelchen gefährlichen Aktionen zu tun. Nur eine Unterredung unter Freunden.“ Er hob eine Augenbraue. „Freunde, ja?“, entgegnete er und die Blondine konnte sich ein amüsiertes Auflachen nicht verkneifen. „Du wirst doch wohl jetzt nicht schon wieder eifersüchtig, oder etwa doch?“ „Hätte ich denn einen Grund dazu?“ Sie rollte mit den Augen. „Du kennst die Antwort auf diese Frage“, meinte sie genervt. Er grinste, jedoch mit etwas Besitzergreifendem im Ausdruck. „Allerdings“, sagte er selbstzufrieden und zeigte Carina damit, dass selbst jemand in seinem Alter und mit seiner Erfahrung noch genauso ein Ego hatte, wie alle anderen Männer auch. Sie erhob sich von ihrem Platz und bemerkte erst jetzt das unangenehme Ziehen in ihrer Arm- und Beinmuskulatur. Scheinbar hatte sie es beim heutigen Training doch wieder leicht übertrieben. „Ich brauche ein heißes Bad“, stöhnte sie und fügte gleich darauf ein „Allein“ hinzu, als sie das Aufblitzen in seinen Augen sah und sofort richtig deutete. Er grinste erneut. „Was denn, habe ich dich heute etwa so ausgepowert?“ Carina ließ sich nicht auf seine Provokation ein. Stattdessen grinste sie zurück und erwiderte: „Ja, vielleicht.“ „Hehe“, kicherte er sein altbekanntes Lachen und folgte ihr mit seinem Blick, als sie die beiden Tassen auf die Spüle stellte. „Tee?“, fragte sie ihn und er nickte bejahend, während er sich auf einen der Stühle setzte. „Weißt du, woran mich das erinnert?“, fragte er plötzlich, während sie ein paar Küchenschubladen öffnete. „Woran?“, erwiderte sie. „Als du dir vor ein paar Jahren in den Finger geschnitten hast und ich nach einem Pflaster gesucht habe.“ Carina lachte leise. „Um mich auf charmante Art und Weise zu verarzten“, fügte sie hinzu und dachte an den Augenblick zurück. „Ja, ich erinnere mich. An dem Tag habe ich Sebastian und Ciel kennengelernt.“ „Und fandest den Earl unheimlich“, gackerte Cedric amüsiert. Carina warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. „Ehrlich gesagt“, meinte sie und lächelte entschuldigend, „war das eine Lüge. Es war nicht Ciel, der mich so beunruhigt hat. Sondern Sebastian.“ „Weil du seine Stimme in deinem Traum gehört hast“, antwortete der Bestatter und erinnerte sich daran, wie Carina ihm damals im Weston College davon erzählt hatte. „Genau. Tja, mittlerweile wissen wir immerhin, was es damit auf sich hatte.“ Sie stellte ihm eine dampfende Tasse auf den Tisch und setzte sich auf den Stuhl neben ihm, während er ihr leise dankte und einen kurzen Schluck nahm. Gleich darauf ergriff er wieder das Wort. „Die Frage ist doch viel eher, warum Sebastian so handeln wird. Zum einen rettet er dir das Leben und dann, Jahre später, schickt er dich in die Vergangenheit. Uriel meinte, dass du ihn darum beten wirst. Aber warum reicht allein diese Tatsache aus?“ „Das gibt mir auch zu denken“, gab sie zu. „Teufel machen nie etwas aus reiner Nettigkeit. Vielleicht hat er im Gegenzug etwas dafür bekommen.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Nicht, dass ich mir zum jetzigen Zeitpunkt etwas vorstellen könnte, was für jemanden wie Sebastian von Interesse wäre. Aber es bringt nichts darüber zu rätseln. Wir werden es wohl einfach auf uns zukommen lassen müssen.“ Ein trockenes Lachen entfuhr ihr. „Wie so oft. Und jeden Mal gefällt es mir weniger.“ „Wie wahr“, murmelte der Todesgott. „Aber bisher ist es doch irgendwie immer gut ausgegangen.“ „Wenn man die ganzen Opfer mal außer Acht lässt“, entgegnete sie mit einem sarkastischen Unterton, „dann ja. Wir leben noch, das könnte man wohl als gut bezeichnen.“ „Du wirst schon sehen. In hundert Jahren schauen wir zurück und diese ganze vertrackte Situation ist nichts weiter als eine böse Erinnerung.“ Carinas Augen nahmen einen sanften Ausdruck an. „Ja, das wäre schön.“ Nähe suchend ergriff sie seine Hand und schmiegte sich an ihn. Er drückte ihr als Antwort einen Kuss auf den Schopf. Die Schnitterin lächelte. Wenn Cedric ihr so viel Geborgenheit gab, konnte sie einfach nicht anders, als seinen Worten Glauben zu schenken. Was kümmerte sie eine ungewisse Zukunft, wenn sie doch gerade im Hier und Jetzt mit ihm zusammen sein konnte? Hätte sie gewusst, dass genau in diesem Augenblick zwei rot glühende Augen von der gegenüberliegenden Straßenseite auf das Bestattungsinstitut starrten, wäre es ihr vielleicht anders gegangen. Hätte sie gewusst, dass ihre Aura gerade durch Wände hindurch beobachtet und aufs Schärfste analisiert wurde, wäre sie wohl kaum einfach so sitzen geblieben. Hätte sie gewusst, was für eine Gefahr außerhalb ihres schützenden Zuhauses lauerte und auf sie wartete, wäre sie womöglich einem anderen Glauben verfallen. Hätte sie Samaels kaltes Lächeln gesehen und das leise geflüsterte „Genießt die Zeit, die euch noch bleibt“ gehört, wäre sie mit ziemlicher Sicherheit nicht ein paar Minuten später hochgegangen, um sich ein Bad einzulassen. Aber all das wusste sie nicht. Kapitel 97: Der Stein kommt ins Rollen -------------------------------------- „Du liegst ja immer noch im Bett.“ Carina stöhnte, als sie Cedrics Stimme erneut über sich vernahm. Bereits zweimal hatte er sie aufgeweckt und war anschließend wieder runter gegangen, aber die Schnitterin war einfach liegen geblieben. Und das nicht ohne Grund. Morgen Abend würde endlich der Ball stattfinden, vor dem sie sich die ganze Zeit so fürchtete. Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, würden sie bereits heute im Laufe des Vormittags das Phantomhive Anwesen aufsuchen. Der Vorschlag war schlussendlich von Ciel gekommen und hatte den Hintergrund, dass die beiden Shinigami sich so schon einmal mit der Umgebung vertraut machen konnten. Zudem wäre es Samael so nicht möglich kurzfristig noch etwas zu unternehmen, was Carina allerdings für absolut schwachsinnig hielt. Hätte der Dämon sie in ihrem Zuhause ermorden wollen, hätte er es längst getan bzw. versucht. „Lass mich“, murmelte sie und zog sich die Decke über den Kopf. Solange sie hier im Bett war, konnte sie leugnen, dass heute vielleicht der letzte Tag sein würde, den sie in ihrem Zuhause verbringen würde. Solange sie liegen blieb, konnte sie so tun, als wäre alles in bester Ordnung. Der Bestatter lachte leise und drückte an der Stelle einen Kuss auf die Bettdecke, wo sich ihr Kopf befand. „Ich weiß genau, was du hier versuchst, aber ich befürchte, dass das an der ganzen Lage leider nichts ändern wird. Außer vielleicht, dass wir viel zu spät kommen und der Earl dementsprechend genervt sein wird.“ Carina stöhnte erneut. „Und das will natürlich keiner“, antwortete sie und setzte sich nun doch im Bett auf. Ihre Miene allerdings sagte deutlich aus, dass sie sich am liebsten weiterhin unter den Laken verkrochen hätte. Der Undertaker schaute sie mit weicher werdendem Gesichtsausdruck an. „Es ist in Ordnung Angst zu haben“, sagte er und ergriff ihre Hand; drückte sie leicht. „Ich spüre sie auch.“ Sie warf ihm einen schnellen Blick zu. „Das beunruhigt mich eher, als das es mich beruhigt. Tue mir einen Gefallen und wirke wenigstens so, als hätten wir alles im Griff.“ Er grinste und legte sich Daumen und Zeigefinger ans Kinn. „Ich kann mich nicht daran erinnern, wann wir mal alles im Griff hatten.“ Sie schnaubte und begann sich gemächlich anzukleiden. „Ach komm. Du hattest eigentlich immer alles recht gut im Griff. Die Campania, das Weston College, deine Reise nach Deutschland…“ „Bis auf die immer wieder auftauchenden, nicht eingeplanten Zwischenfälle, meinst du?“, fragte er und als Carina eine Augenbraue hob, begann er es an den Fingern abzuzählen. „Der Eisberg? Das Auftauchen vom Earl und seinem Butler im College? Unser Treffen in Deutschland?“ Sie verdrehte die Augen. „Kleinere Zwischenfälle, die dich aber nie wirklich groß gestört haben, oder? Du bist trotzdem immer davongekommen.“ „Du wärst überrascht zu hören, wie oft ich in der Vergangenheit nicht einfach so davongekommen bin“, erwiderte er grinsend. „Zum Beispiel, als ich vor 70 Jahren das erste Mal versucht habe den Dispatch zu verlassen.“ Carina runzelte die Stirn. „Das erste Mal?“, fragte sie perplex nach und der Silberhaarige nickte. „Lass es mich so ausdrücken: Ich hatte eine kleine Kurzschlussreaktion. Das Ergebnis war ein schlecht durchdachter Fluchtplan und daraus resultierend ein halb zerstörter Dispatch.“ Die Schnitterin blinzelte. „Du… du hast den halben Dispatch zerstört?“, fragte sie und wusste nicht so recht, ob sie beeindruckt oder doch eher verschreckt sein sollte. Der Undertaker lachte dunkel, ein Geräusch tief aus seiner Kehle. „Wenn es nach mir gegangen wäre, wäre es nicht bei einer halben Sache geblieben, aber ich wurde bedauerlicherweise frühzeitig gestoppt.“ Sein rechter Zeigefinger glitt über die Narbe in seinem Gesicht und Carina erschauderte. Okay, vielleicht sollte sie doch eher verschreckt sein. Und das war sie auch, das konnte sie spüren. Aber… sie war mindestens genau so sehr fasziniert. „Ich schätze mal, du hast nach diesem gescheiterten Versuch sehr lange kein Tageslicht mehr gesehen?“ Sie sagte es ganz sachlich, aber innerlich zerriss es ihr das Herz, als er nickte. „Ja, aber es hat mir geholfen meine Gedanken zu sortieren. Um es beim nächsten Versuch gescheiter anzustellen. Was mir auch gelungen ist.“ „Und das war dann vor 50 Jahren, richtig?“ Er hob eine Augenbraue. „Das ist korrekt. Und das weißt du woher?“ „Damals auf der Campania hast du – nachdem Grell dich als Shinigami identifiziert hat – gesagt, dass dich schon seit einem halben Jahrhundert keiner mehr so genannt hat. Ich dachte mir also, dass das ungefähr der Zeitpunkt war, an dem du den Dispatch verlassen hast. Und da lag ich ja anscheinend auch richtig.“ Er lächelte anerkennend. „Du hast ein Händchen dafür dir beiläufige Bemerkungen wieder in Erinnerung zu rufen.“ „Es ist zuweilen ganz nützlich“, gab sie zu. Cedric lachte kurz. „Ja, es stimmt. Kaum zu glauben, dass das jetzt schon 50 Jahre her ist. Obwohl ich mich doch noch daran erinnere, als wäre es erst gestern gewesen. Du weißt das jetzt vielleicht noch nicht, aber irgendwann erlebt man den Zeitfluss einfach anders als ein normaler Mensch.“ „Ich glaube es dir“, antwortete die Deutsche, denn auch sie hatte bereits unterschwellig gespürt, dass sich die vergangenen Jahre wesentlich kürzer angefühlt hatten, als es bei ihr normalerweise der Fall gewesen war. „Jedenfalls habe ich es geschafft, wenn auch erst beim zweiten Versuch. Ich lerne aus meinen Fehlern. Und weil das so ist, werden wir das Ganze hier überstehen. Denn du bist mir in dieser Hinsicht äußerst ähnlich.“ Carinas Mund verzog sich zu einem Lächeln. „Nett, dass du das sagst. Nur hatten weder du, noch ich es jemals mit einem Erzengel zu tun, der zum Teufel geworden ist.“ „Es gibt immer ein erstes Mal. Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht. Entweder reicht es oder nicht. Aber damit werden wir uns erst auseinandersetzen, wenn es soweit ist.“ Die Schnitterin nickte, aber wirklich anfreunden konnte sie sich mit dem Gedanken trotzdem nicht. Sie gehörte zu der Sorte Mensch, die es hassten zu improvisieren. Natürlich, auch in ganz normalen Alltagssituationen kam es schon einmal vor, dass man kurzfristig einfach ganz ohne Plan agieren musste. Aber grundsätzlich waren ihr gut durchgeplante Aktionen einfach lieber. „Also? Können wir dann?“, fragte der Bestatter. „Ja, ich hab alles. Unsere Kleidung für morgen Abend hat Nina bereits zum Anwesen liefern lassen und die restlichen Sachen haben wir ja schon vor 2 Tagen rüber gebracht. Falls dir also nicht noch etwas auf die Schnelle einfällt, können wir los.“ Sie seufzte. „Auch, wenn ich gar keine Lust darauf habe.“ „Hehe, mir fällt nichts mehr ein, aber ich weiß natürlich nicht, ob unser Töchterchen das auch so sieht. Ich war gerade eben noch bei ihr und da war sie hellwach.“ Carina stöhnte, konnte sich aber ein Grinsen nicht verkneifen. „Wie kommt es eigentlich, dass Babys immer genau dann wach sind, wenn es besser wäre zu schlafen und im Gegensatz schlafen, wenn sie wach sein sollen? Das kann doch wieder nur eine schlechte Laune der Natur sein.“ Und tatsächlich bestätigten sich Cedrics Worte. Als Carina sich wenige Minuten später über Lilys Wiege beugte, wurde sie von zwei kreisrunden blauen Augen angestarrt, deren Auffassungsgabe von Tag zu Tag intensiver wurde. „So Kleines, wir müssen los. Irgendwelche Einwände?“, fragte Carina amüsiert nach und nahm das Baby hoch. Lily jedoch schien das Ganze nicht wirklich zu kümmern und sie beschwerte sich auch nicht durch missbilligende Laute. Als die junge Mutter ihr jedoch einen Finger an den Mund hielt, begann sie sofort zu saugen. „Geh schon mal runter“, sagte die Deutsche an Cedric gewandt. „Ich füttere sie noch schnell und komme dann nach.“ Der Silberhaarige nickte kurz zum Zeichen, dass er sie gehört hatte und ging anschließend mit fast lautlosen Schritten die Treppe hinab. Er verschloss alle Türen, Fenster und schaute noch einmal in seinen Kalender, ob er auch ja keinen seiner „Gäste“ vergessen hatte. Wenn er als Bestatter eine Beerdigung vergaß… Bei dem bloßen Gedanken gluckste er. Herrje, die Familie wäre wohl nicht sehr begeistert. Kurze Zeit später erschien Carina im Erdgeschoss, mit Lily in der Tragetasche und einer weiteren Tasche in der anderen Hand, die Cedric ihr aber sogleich abnahm. „Los geht’s“, seufzte Carina und fand es selbst schrecklich, dass sie diese Worte nur mit so wenig Enthusiasmus hervorbrachte. Seite an Seite traten sie aus dem Bestattungsinstitut hinaus ins Freie und als Cedric die Tür hinter ihnen abschloss, fragte Carina sich erneut, ob das vielleicht das letzte Mal gewesen war, dass sie innerhalb dieser vier Wände gestanden hatte. Gleich darauf entfuhr ihr ein trockenes Lachen. Der Undertaker schaute sie fragend an, während sie nun nebeneinander hergingen. „Ich dachte nur gerade daran, dass ich damals nicht sehr von deinem Zuhause angetan war, als ich Hals über Kopf hineingestolpert bin.“ Sie lachte erneut, doch jetzt war es nicht mehr trocken, sondern eher verbittert. „Und jetzt würde ich fast alles dafür tun, um umdrehen zu können und es nie wieder zu verlassen.“ „Weil es jetzt nicht mehr mein Zuhause ist“, sagte Cedric und ging jetzt so dicht neben ihr, dass sich ihre Schultern bei jedem neuen Schritt berührten. „Sondern unseres.“ Sie lächelte. „Ja“, bestätigte sie seine Aussage und richtete ihre Augen auf Lily, die durch das leichte Hin- und Herschaukeln langsam wieder einschlief. „Außerdem kannst du es nicht mit damals vergleichen“, fuhr der Silberhaarige fort. „Es hat sich einiges verändert, seit du wieder hier bist. Jetzt ist es-“ „Sauber?“, unterbrach Carina ihn und gluckste leiste. Cedric grinste. „Ich wollte gemütlicher sagen, aber das von mir aus auch.“ „Es ist anders, ja“, gab sie zu. „Aber ich glaube nicht, dass es an den optischeren Veränderungen liegt. Ich sehe die Dinge jetzt einfach anders, als noch vor 3 Jahren. Ich habe mich verändert. Zum Guten, möchte ich betonen.“ „Ich weiß, dass du dich mit deinem 16-jährigen Ich nicht mehr wirklich identifizieren kannst. Aber wenn du meine Wenigkeit fragst, dann kann ich dir versichern, dass ich dich auch damals schon mochte. Du warst vielleicht unerfahren und auch naiv, aber deine Ahnungslosigkeit hatte etwas unglaublich Erfrischendes“, sagte er und kicherte kurz während des letzten Satzes. Carina runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht, ob ich mich jetzt geschmeichelt fühlen soll oder nicht“, antwortete sie, ehrlich irritiert, und Cedric lachte erneut. „Natürlich ersteres. Es gibt immerhin nur wenig Menschen, die mein Interesse ernsthaft wecken können. Nun ja… wenig Lebende jedenfalls“, brachte er gerade noch so hervor und verfiel jetzt in einen seiner heftigeren Lachanfälle, sodass sich manche Leute auf der Straße empört zu ihnen umdrehten. Nicht, dass Carina so etwas noch großartig störte. Wenn man sich auf Dauer auf jemanden wie den Undertaker einließ, musste man zwangsläufig mit den Blicken anderer Menschen klar kommen. Es dauerte jedoch nicht sehr lange bis sie die Hauptstraßen Londons hinter sich zurückließen und nun auf ungepflasterten Wegen zum Anwesen der Phantomhive Familie liefen. Cedric hatte zuerst vorgeschlagen den Leichenwagen zu nehmen, aber Carina war kein besonders großer Fan von Kutschen. Dazu hatte sie in ihrer Zeit als Schnitterin einfach schon zu viele Unfälle gesehen. Falls Samael also auf die glorreiche Idee kam und sie auf dem Weg überfallen wollte, dann hatte Carina keine Lust es ihm auch noch extra leicht zu machen. Außerdem konnte so ein Spaziergang auch dazu beitragen, dass sie sich noch ein wenig entspannte, bevor in einem Tag die Hölle über sie alle hereinbrechen würde. Und das vermutlich im wahrsten Sinne des Wortes! „Das wird ein anstrengender Tag heute. Das Anwesen ist riesig. Sich dort einen Überblick zu verschaffen wird nicht leicht.“ Cedric nickte. „Ja, selbst ich kann mir nicht mehr alles ins Gedächtnis rufen. Ich war aufgrund der Versammlungen der Aristokraten des Bösen zwar schon oft dort, aber in den letzten Jahren hat sich dort einiges verändert.“ „Habt ihr eure Treffen immer dort abgehalten?“ „Zumeist schon. Das ein oder andere Mal waren wir auch bei Diederich in Deutschland, aber da die meisten Mitglieder in England beheimatet sind, war das Anwesen der Phantomhives immer die erste Anlaufstelle.“ Er kicherte einmal kurz. „Hoffentlich wird Diederich morgen auch dabei sein. Es ist immer wieder amüsant, wenn wir beide aufeinandertreffen.“ „Aber nur für dich. Weil du dich auf seine Kosten amüsierst“, merkte Carina an, denn sie konnte sich noch recht gut an das Gespräch erinnern, das sie damals belauscht hatte. Sie seufzte und warf ihm einen tadelnden Blick zu. „Es ist nicht lustig, sich über das Gewicht von anderen lustig zu machen“, meinte sie ernst, da sie es leider aus eigener Erfahrung heraus wusste. „Diederich weiß, dass ich mich nicht wirklich über ihn lustig mache. Ich ziehe ihn nur ein klein wenig auf. Wenn du wüsstest, wie er früher als junger Mann ausgesehen hat, dann wäre dir klar, warum ich mich darüber so herrlich amüsieren kann.“ Er kicherte kurz. „Vielleicht finden wir ja im Anwesen ein altes Foto.“ „Als ich euch damals belauscht habe, habe ich doch ein altes Foto von ihm gesehen. Du hast es ihm praktisch vor die Nase gehalten“, erinnerte sie ihn und dachte selbst kurz an den Moment zurück. Oh ja, der Deutsche war in seiner Jugend attraktiv gewesen, das konnte sie nach wie vor nicht bestreiten. „Aber nur, weil jemand früher mal attraktiv war, heißt das ja wohl nicht, dass man ihn wegen seines neuen Aussehens beleidigen darf.“ „So, so. Attraktiv, ja?“, fragte er mit einem leicht provokanten Unterton und kicherte ein weiteres Mal. „Jetzt sag mir nicht, dass du auf so einen Typ Mann stehst.“ Carina verdrehte die Augen. Dann konterte sie. „Du solltest eigentlich am allerbesten wissen, auf welchen Typ Mann ich stehe“, antwortete sie und warf ihm einen eindeutigen Blick zu. „Und ja, er hatte ein attraktives Äußeres. Aber nein, er wäre sicherlich nicht mein Typ gewesen. So, wie ich ihn einschätze, gehört er zu der Sorte Mensch, der jedem erst einmal die kalte Schulter zeigt und selbst dann noch nicht auftaut, wenn man ihn näher kennenlernt. Ich hätte keine Lust gehabt, mich neben meinen eigenen Problemen auch noch mit so etwas herumzuschlagen.“ Cedric grinste immer noch. „Dafür hast du dich aber immer und immer wieder mit meinen Problemen rumgeschlagen.“ Carina schaute leicht zur Seite und spürte, wie sich eine schwache Röte auf ihre Wangen legte. „Das kann man nicht vergleichen. Du bist eben einfach… anders.“ „Jetzt bin ich wohl derjenige, der nicht weiß, ob er sich geschmeichelt fühlen soll oder nicht“, lachte er. Die Schnitterin schmunzelte. „Natürlich ersteres. Es gibt immerhin nur wenig Menschen, die mein Interesse ernsthaft wecken können“, ahmte sie seinen Tonfall vortrefflich nach und die beiden Shinigami grinsten vergnügt, als nun endlich das Anwesen der Phantomhives in Sichtweite kam. Innerhalb weniger Minuten hatten sie den Eingangsbereich erreicht, doch bevor sie die geschwungenen Treppen hinaufsteigen konnten, öffnete sich über ihnen bereits die große Tür und derselbe ältere Butler, der Carina bereits bei ihrem letzten Besuch im Empfang genommen hatte, trat ins Freie. Cedrics Lippen verzogen sich zu diesem einen zahnlosen Lächeln, das der 19-Jährigen sagte, dass er sich freute. „Aah, Tanaka. Lange nicht mehr gesehen“, sagte er nostalgisch und der Butler, der scheinbar Tanaka hieß, verneigte sich leicht. „In der Tat, Mister Undertaker“, erwiderte er und auch auf seinen Lippen zeigte sich ein angedeutetes Schmunzeln. Carina wunderte es nicht, dass die beiden sich kannten. Vermutlich war Tanaka bereits zu Zeiten Vincent Phantomhives Butler der Familie gewesen, wenn nicht sogar schon zu Zeiten Claudias, bedachte man sein fortgeschrittenes Alter. Die Deutsche dachte unwillkürlich an die anderen Angestellten, die Ciel neben Sebastian für sich arbeiten ließ. Jeder von ihnen war kampferfahren. Sie schaute den älteren Mann an und versuchte ihre Neugierde zu verbergen. „Was für Talente er wohl hat?“ Sie wurden hereingebeten und in dem Moment, als die schwere Tür hinter ihnen wieder ins Schloss fiel, ergriff der Dienstälteste erneut das Wort. „Lord Phantomhive bat mich Ihnen zuerst Ihre Räumlichkeiten zuzuweisen, um anschließend eine Ortsbegehung vorzunehmen.“ „Na, dann mal los“, murmelte Carina. Sie folgten ihm eine große Treppe hinauf, über mehrere lange Gänge und Abzweigungen entlang, ehe sie schließlich vor einer der vielen Türen stehen blieben. „Wenn es Ihnen recht ist, komme ich Sie in 20 Minuten wieder abholen.“ Die beiden Todesgötter nickten dankend und Cedric öffnete die Tür. „Darf ich bitten?“, grinste er Carina entgegen und machte eine hereinbetende Geste. Die Schnitterin konnte sich ein kurzes Augenrollen nicht verkneifen, kam seiner Aufforderung aber umgehend nach. Gleich darauf blieb sie jedoch wie vom Donner gerührt stehen. „Wow“, entfuhr es ihr gegen ihren Willen, während sie sich das Zimmer ansah. Wobei… Zimmer traf es wohl nicht ganz. Eher eine Suite. Nicht, dass sie etwas großartig Anderes erwartet hatte. Das ganze Anwesen strahlte puren Luxus aus, von vorne bis hinten, aber dennoch war es ein überwältigender Anblick. Es gab ein riesiges Bett, einen ganzen kompletten Wohnbereich, große Schränke und bis zum Boden hinabreichende Spiegel, einen abgetrennten Ankleidebereich und sogar noch eine weitere Tür, die mit Sicherheit in ein Badezimmer führte. Carina wusste nicht, ob sie wirklich wissen wollte, wie groß dieses denn sein würde. Hinter ihr kicherte der Undertaker. „Man kann über den Earl ja sagen, was man will, aber was Inneneinrichtungen angeht, hat er echt Stil.“ „Wohl wahr“, gab Carina zu und legte Lily in der Mitte des riesigen Bettes ab. Und obwohl ihre Tochter noch nicht dazu imstande war sich selbstständig zu drehen, platzierte sie links und rechts von ihr noch zwei der unzähligen Kissen. Das Baby ließ sich davon jedoch nicht stören und schlief seelenruhig weiter. „Ich werde mich noch um eine Wiege bemühen“, verabschiedete sich Tanaka und schloss leise die Tür hinter sich. „Was für ein Service“, murmelte Carina und meinte es in diesem Moment nicht einmal sarkastisch. Innerhalb weniger Minuten packten sie das wichtigste aus den Taschen aus und als sie damit fertig waren, kam Carina einfach nicht umhin doch einen kurzen Blick in das Badezimmer zu werfen. Natürlich blieb es nicht bei einem kurzen Blick. Dafür war der Anblick einfach viel zu überwältigend. Alles war aus Marmor. Von den zwei Waschbecken auf der einen Seite, über die Badewanne mittig im Raum, bis hin zu der Toilette auf der anderen Seite. Goldene Ornamente waren im ganzen Zimmer zu finden. An den Rändern der Spiegel, auf den Wänden und dem Wasserhahn der Badewanne, sowie in kompliziert geformten Mustern am Boden. Weiße, sehr weich aussende, Badetücher lagen auf einem kleinen Stapel bereit und auf einmal hatte Carina den unwiderstehlichen Drang sich ein Bad einzulassen und einfach in das warme Wasser zu hüpfen. „Vielleicht später“, dachte sie und schloss die Tür. „Wir sollten unsere Death Scythe von nun an ständig bei uns tragen“, sagte Cedric und Carina konnte einige seiner Sotoba aufblitzen sehen, als er sich den Mantel zurecht rückte. „Ja“, stimmte Carina zu und befestigte ihr Katana seitlich an der schwarzen, engen Hose, die sie derzeit trug. Morgen während des Balls würde sie es vor den Augen der Menschen verbergen müssen, aber das fiel ihr nach all der Zeit nicht mehr wirklich schwer. Viel schwerer würde es hingegen sein, am morgigen Tag schnell aus dem Ballkleid herauszukommen, wenn Samael sich zeigte. Aber auch hierfür hatte sie schon einen Plan… Pünktlich 20 Minuten später klopfte es erneut an der Tür und Tanaka betrat den Raum, sowie eine junge Frau mit langem, braunen Haar. Sie konnte noch keine 20 Jahre alt sein, wirkte aber bereits sehr erwachsen, als sich ihre dunkelbraunen Augen auf Carina richteten. Sie knickste einmal. „Lady Elizabeth schickt mich“, begann sie und plötzlich dämmerte Carina, wer da vor ihr stand. Sie lächelte. „Du musst Paula sein“, sagte sie und die Zofe ergriff – ein wenig verwundert – die Hand, die die Schnitterin ihr nun entgegen streckte. „Vielen Dank, dass du dich um meine Tochter gekümmert hast, als ich es nicht konnte. Und danke, dass du es auch morgen übernimmst, das ist uns allen eine große Hilfe.“ „Das war doch selbstverständlich“, erwiderte die junge Frau und lächelte nun ebenfalls. „Nach allem, was Ihr für Lady Elizabeth getan habt, ist das das Mindeste, was ich tun kann.“ Carina war es beinahe ein wenig unangenehm, wie sehr sie immer von Elizabeth in den Himmel gelobt wurde. Sie sah sich nicht als ihre Retterin. Es waren viele glückliche bzw. eigentlich eher unglückliche Zufälle nötig gewesen, damit ihre Flucht aus dem Bunker so verlaufen konnte, wie sie schlussendlich verlaufen war. Wären sie nicht in ein und demselben Raum gewesen, hätte Elizabeth nicht so meisterhaft kämpfen können, wären Cedric und Grell und Sebastian und Ciel nicht rechtzeitig aufgetaucht… Wer wusste schon, wie die ganze Sache ansonsten ausgegangen wäre. „Ist Lizzy bereits hier?“, fragte sie und die Zofe nickte, wobei sie ihre Überraschung über den Spitznamen nicht ganz verbergen konnte. „Wir sind bereits gestern angereist. Momentan befindet sie sich auf einem Reitausflug mit Lord Phantomhive.“ Cedric begann neben ihr amüsiert zu kichern. Während den beiden Bediensteten deutlich im Gesicht abzulesen war, dass sie die Intention dahinter nicht verstanden, war Carina das zumindest sofort klar. Zweifelsohne stellte er sich gerade einen jammernden Ciel auf einem viel zu großen Pferd vor, der jetzt viel lieber seiner Arbeit nachgehen würde, anstatt mit seiner Verlobten einen friedlichen Ausritt zu veranstalten. Der bloße Gedanke ließ auch die 19-Jährige schmunzeln. „Wollen wir dann?“, meinte Tanaka in diesem Moment und die beiden übernatürlichen Wesen im Raum nickten synchron. Carina zeigte Paula, wo sich die Babysachen befanden und versicherte ihr, dass Lily mit Sicherheit noch mindestens eine Stunde schlafen würde. Dann erwähnte sie noch ein paar Kleinigkeiten, die ihrer Meinung nach wichtig waren. Nur, dass es nicht wirklich bei „ein paar“ Kleinigkeiten blieb. Erst, als Cedric sie mit sanfter Gewalt an der Schulter packte und sie auf den Gang hinausführte, wurde Carina klar, dass sie es vermutlich ein wenig übertrieben hatte. „Wehe, du sagst jetzt was“, murmelte sie aus dem Mundwinkel heraus in Cedrics Richtung. Dieser grinste nur kurz und zuckte mit den Schultern. „Ich mag deinen Mutterinstinkt“, antwortete er lediglich darauf und die Schnitterin spürte, wie ihre Wangen daraufhin heiß wurden. Sie konnte einfach nicht aus ihrer Haut heraus. Seit sie Lily – unabsichtlich, aber das spielte in ihrem Hinterkopf keine große Rolle – mehrere Tage allein gelassen hatte, machte ihr der Gedanke das noch einmal zu tun zu schaffen. Sie hatte nichts für ihre Entführung gekonnt, das war ihr selbst auch klar, aber für Lily hatte das schlussendlich keinen Unterschied gemacht. Carina wollte gar nicht daran denken, wie es erst sein würde, wenn Lily irgendwann laufen konnte. Gott, sie würde wahnsinnig werden vor Sorge… „Sie haben da ein sehr schönes Katana“, riss der Butler sie aus ihren Gedanken und Carina schaute ihn daraufhin überrascht an. Seine sanften Augen ruhten auf ihrer Death Scythe und es schien ihm schwer zu fallen den Blick abzuwenden. „Darf ich mal?“, fragte er plötzlich und perplex starrte die Schnitterin ihn an, ehe sie Cedric einen schnellen Blick zuwarf, der aber lediglich einmal kurz nickte und somit ihr die schlussendliche Entscheidung überließ. Carina gefiel der Gedanke eigentlich nicht ihre Todessense jemand anderem in die Hand zu geben, aber wenn der ältere Mann schon so nett fragte... Wortlos hielt sie es ihm entgegen und mit geübtem Griff zog er die Klinge aus der Scheide, balancierte sie anschließend wissend auf beiden Händen. „Faszinierend“, murmelte er nach bereits wenigen Sekunden und ließ seine Augen noch einmal über den Wellenschliff gleiten, ehe er es an die Deutsche zurückreichte. „Wirklich ein sehr schönes Stück.“ Carina blinzelte verblüfft und steckte es sich wieder an die Hüfte. „Sie kennen sich mit dieser Art von Schwertern aus?“, fragte sie neugierig und der Butler lächelte kurz, bevor er sich wieder nach vorne abwandte. „Ein wenig“, meinte er schließlich, doch Carina brauchte keine Expertin zu sein um zu wissen, dass „ein wenig“ mit Sicherheit untertrieben war. Doch sie hinterfragte es nicht weiter. Stattdessen ließ sie das Kompliment auf sich wirken und strich einmal liebevoll über den Griff ihrer Waffe. Sie hatte es bisher keinen einzigen Tag bereut, dass sie sich für diese Death Scythe entschieden hatte. Es war ganz einfach mehr als nur ein Schwert. Mittlerweile war es viel mehr ein Teil von ihr. Das hatte sie ganz besonders damals gemerkt, als sie sie mehrere Wochen lang nicht bei sich gehabt hatte. Das wollte sie nie wieder erleben! „Scheinbar habe ich das zu früh gedacht“, ging es Carina jedoch bereits wenig später durch den Kopf. Die Besichtigung war im vollen Gange und es dauerte nicht besonders lange, da wünschte die Schnitterin sich, sie wäre tatsächlich wieder im Weston College und würde nach ihrer Death Scythe suchen. Das Phantomhive Anwesen war zwar wesentlich kleiner, aber im College hatte sie zumindest ein klares Ziel vor Augen gehabt. Das hier hingegen war pure Folter. Carina konnte von sich behaupten, dass sie schon immer ein äußerst gutes Gedächtnis gehabt hatte. Was nicht immer von Vorteil war, so viel stand fest. Aber nicht einmal sie konnte sich jeden einzelnen Gang merken, der durch dieses riesige Haus führte. Was erschwerend hinzu kam war die Tatsache, dass sie – was räumliches Vorstellungsvermögen betraf – das typische Frauenklischee bediente. So konnte sie sich nicht einmal gedanklich einen groben Umriss des Hausinnenlebens vorstellen. Sie warf einen kurzen Seitenblick zu Cedric, während Tanaka ihnen gerade den Salon zeigte. Der Bestatter schien entspannt zu sein wie immer und die Schnitterin nahm sich fest vor, während des Balls an seiner Seite zu bleiben. Sollte er sich doch an jedes kleine Detail zurückerinnern! Nach weiteren 16 Räumen – unter anderem die Bibliothek, die in Carinas Augen ganz klar das Herzstück des Hauses war – führte der Butler sie nach draußen in den Garten. Dieser war ohne jeden Zweifel das Werk von Sebastian. Niemand konnte jeden einzelnen Baum, jede einzelne Blume und jeden einzelnen verdammten Grashalm so akkurat zurechtschneiden. Jedenfalls kein menschliches Wesen. Sie beugte sich in Cedrics Richtung und flüsterte so leise, dass der Hausangestellte sie nicht hören konnte: „Glaubst du, wir haben es bald hinter uns oder gibt es da noch weitere hundert Zimmer, die man von außen nicht vermuten würde?“ „Hehe, das Schlimmste haben wir hinter uns, denke ich. Da ich nicht glaube, dass wir noch unbedingt die Küche oder die Ställe sehen müssen, dürften wir eigentlich fertig sein.“ „Gott sei Dank“, stöhnte sie dankbar. „Denn ich werde dieses Haus noch mindestens zweimal abgehen müssen, um mir das alles einzuprägen.“ „Dann kannst du mich ja mitnehmen“, ertönte es direkt hinter ihr und obwohl sie die Stimme direkt als Grells erkannte, zuckte sie überrascht zusammen. „Himmel“, sagte sie und drehte sich nach Luft schnappend um. „Musst du denn direkt hinter mir auftauchen? Irgendwann bekomme ich noch einen Herzinfarkt.“ Der Rothaarige grinste. „Schätzchen, wir Shinigami sind gar nicht mehr in der Lage dazu einen Herzinfarkt zu erleiden. Und selbst wenn, würde es uns vermutlich nichts ausmachen.“ Carina verdrehte die Augen. „Du weißt genau, wie ich das gemeint habe. Und wolltest du nicht eigentlich schon viel früher hier sein?“ Jetzt war es an Grell genervt mit den Augen zu rollen. „Ich wäre ja auch pünktlich hier gewesen. Wenn ich nicht noch auf die dämliche Idee gekommen wäre William und Ronald zu fragen, ob sie mitkommen möchten.“ „Aufgrund deiner Mimik und der Tatsache, dass ich die beiden nirgendwo entdecke, gehe ich mal davon aus, dass sie kein Interesse hatten?“, frage die 19-Jährige und ihr Freund und Mentor zuckte mit den Schultern, immer noch deutlich gestresst. „William hielt es für Zeitverschwendung und hat mir mit seiner üblich charmanten Art mitgeteilt, dass er sich schon längst die Pläne des Anwesens besorgt hat. Frag nicht woher, ich habe keine Ahnung. Und Ronald? Der ist einfach faul wie immer und meinte, es würde auch ohne genauere Ortskenntnisse seinerseits wunderbar laufen.“ „Wieso verwundert mich das nicht?“, sagte Carina trocken und bezog sich dabei nicht nur auf Ronald, sondern auch auf William. „Sollen sie doch machen, was sie wollen“, schnaubte Grell und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich habe es ja nur gut gemeint.“ „Weiß ich doch“, antwortete Carina und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Und ich bin froh, dass du mir beim weiteren Ablaufen dieses schrecklich großen Hauses Gesellschaft leistest.“ Sie wandte sich an Cedric. „Kommst du auch mit?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich denke, ich werde mir noch ein wenig den Garten ansehen und dann zurück auf unser Zimmer gehen. Und wer weiß, vielleicht treffe ich ja zwischendurch noch den Earl und kann ihn von seinem hohen Ross herunterholen?“ Er kicherte über seinen eigenen Witz und wandte sich dann wieder Tanaka zu, um über einige Dinge mit ihm zu plaudern. „Na, dann komm“, sagte Carina und gemeinsam mit Grell betrat sie erneut das Anwesen, um die einzelnen Zimmer abzulaufen. „Gott, das nimmt ja gar kein Ende mehr“, meinte der Rotschopf irgendwann und Carina lachte freudlos auf. „Meine Worte“, bestätigte sie. „Das hier ist der reinste Irrgarten. Vielleicht hätten wir uns für den Abend eine andere Location suchen sollen. Eine, die einfacher zu überblicken ist.“ „Und wie hätte der kleine Bursche erklären sollen, wieso er nicht sein eigenes Haus dafür nimmt?“, schnaubte Grell und sah sich um. „Ehrlich mal Carina, diese riesige Villa ist praktisch für solche Anlässe errichtet worden. Keine Ausrede der Welt wäre glaubhaft genug gewesen, um einen solchen Ball woanders abhalten zu können.“ „Auch wieder wahr“, murmelte sie. „Trotzdem, ich bin ohnehin schon so nervös. Gefühlt klopft mein Herz seit mindestens einer Woche doppelt so schnell wie sonst. Und mir ist ständig übel, wenn ich auch nur an morgen denke.“ „Das ist der Stress.“ „Nein, die Angst vor dem Unbekannten. Das macht mich noch wahnsinnig!“, entgegnete sie und fuhr sich mit der Hand einmal über das Gesicht, als könne sie dadurch die Besorgnis wegwischen. „Müsstest du dich nicht langsam daran gewöhnt haben?“, fragte Grell, unüberhörbar amüsiert, nach und Carina warf ihm einen genervten Blick zu. „Sowas ähnliches hat Cedric heute Morgen auch schon gesagt. Nach dem Motto: Uns passiert doch ständig so ein Mist und bisher haben wir es immer irgendwie hingekriegt.“ „Womit er ja auch nicht ganz Unrecht hat“, lachte Grell und zeigte dabei seine spitzen Zähne. „Ja, mag sein“, antwortete sie und als sie so an das Gespräch zurückdachte, fiel ihr plötzlich noch etwas ein. „Sag mal, Grell“ sprach sie ihren Freund an und war jetzt schon gespannt auf seine Antwort: „Wusstest du, dass vor ca. 70 Jahren mal der halbe Dispatch zerstört wurde?“ Angesprochener hob eine Augenbraue. „Ja, natürlich. Jeder, der damals Shinigami war, kann sich an diese Geschichte erinnern. Bedauerlicherweise war ich zu der Zeit zusammen mit William auf einer Mission in Italien und wir waren daher nicht direkt vor Ort, aber als wir zurückkamen… Herrgott, der Anblick war wirklich übel. Ich dachte, William bekäme jeden Augenblick einen Schlaganfall.“ Er gluckste leise, als er sich an den mehr als nur entsetzten Gesichtsausdruck des Schwarzhaarigen zurückerinnerte. „Aber viel wichtiger ist doch die Frage, woher du davon weißt. Und wie du jetzt plötzlich darauf kommst.“ Carina räusperte sich einmal. „Cedric hat mir heute davon erzählt.“ „Ah“, machte Grell, „war er damals anwesend?“ Carina schluckte und nickte zögerlich. „Anwesend… verantwortlich…“, sagte sie betont beiläufig, aber Grell war gerade letzteres Wort nicht entgangen. Und man musste ihm zu Gute halten, dass er nicht lange brauchte, um zu begreifen worauf sie anspielt. Seine Augen wurden sofort groß wie Untertassen. „Was, er ist das gewesen?“, schrie er über den halben Flur und als Carina nur schwach mit den Schultern zuckte, stöhnte er fassungslos auf. „Das darf doch wohl nicht wahr sein“, sagte er und fasste sich an die Stirn. „Ich meine… jetzt, wo ich so darüber nachdenke, gibt es wohl wirklich nur einen, der so komplett irre sein konnte, um im Alleingang gegen den Dispatch zu kämpfen.“ „Ich würde ja jetzt gerne so etwas sagen wie „Hey, das ist mein Gefährte, von dem du da sprichst“, aber bedauerlicherweise hast du recht“, seufzte sie. Grell schüttelte den Kopf. „Weißt du eigentlich, dass er eine lebende Legende ist? Ehrlich mal, hätten wir Kinder vor Ort im Dispatch, dann wäre Undys Fluchtversuch eine der Gruselgeschichten, die man ihnen vorliest, damit sie abends pünktlich ins Bett gehen.“ „Jetzt übertreib mal nicht, Grell“, sagte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen und störrischem Blick. Der Rothaarige brachte sie mit einem einzigen starren Blick seinerseits zum Verstummen. „Ich übertreibe ganz und gar nicht, Carina. Das ist mein voller Ernst. Ich habe damals Othello gefragt, was passiert ist. Du weißt schon, der irre Kerl aus der Forensik, von dem ich dir schon mal erzählt habe. Er war ein wenig gesprächiger als alle anderen und das nicht ohne Grund. Der Rat hat verboten, dass diejenigen, die den Vorfall miterlebt haben, je wieder darüber sprechen.“ Carina spürte, wie ihre Kehle trocken wurde. Einerseits wollte sie mit jedem weiteren Wort weniger wissen, was damals genau passiert war. Andererseits jedoch… „Und? Was hat er gesagt?“ Grell nahm sich die Brille von der Nase und begann sie an seinem roten Mantel sauber zu wischen. „Nicht besonders viel. Er kannte Undy scheinbar, weil sie zur etwa gleichen Zeit zu Shinigami wurden. Nur ging er selbst zur Forensik, während Undy ein Schnitter wurde.“ Grell dachte kurz nach und setzte sich dabei die Brille wieder auf. „Wenn ich mich richtig erinnere, dann sagte er: „Während ich es in meiner Anfangszeit in der Forensik etwas lockerer anging, hatte er in seiner Branche immer die besten Noten und stand an der Spitze. Er sammelte jede einzelne Seele auf seiner Liste ein, ohne jemals Gnade zu zeigen oder auch nur zu zögern. Er war der Inbegriff eines Todesgottes.“ Das hat er mir genau so gesagt. Und ich muss sagen, dass sich das ziemlich genau nach Undy anhört. Jedenfalls nach seinem früheren Ich.“ Carina schwieg. Sie sehnte sich danach, diese Geschichte und noch so viel mehr aus Cedrics Mund zu hören, aber sie wollte ihn nicht drängen. Er würde es ihr vermutlich irgendwann erzählen, aber sie war dennoch neugierig. „Nun ja, schlussendlich nannte man diesen Vorfall im Allgemeinen einfach nur „Fluchtversuch Nummer 136649“ und damit wurde das ganze Thema fallengelassen.“ Carina hob eine Augenbraue. „Nummer 136649? Was soll das bedeuten?“ „Du weißt doch sicherlich, dass jeder Shinigami eine Registrationsnummer bekommt, oder?“ „Ja, kann mich dunkel daran erinnern“, meinte Carina. „Aber ist das nicht nur etwas für förmliche Dokumente in der Verwaltung?“ „Streng genommen schon. Es gibt ein paar Ausnahmen. Du weißt doch, dass laut den Richtlinien mit unserem Selbstmord auch unser menschliches Leben endet, richtig? Alles, was uns bis dahin ausgemacht hat, ist zumindest gesetzlich ab dann unwichtig. Es zählt nur noch der Dienst im Namen des Dispatchs.“ Carina schloss die Augen und kniff sich in den Nasenrücken. „Ja, das weiß ich. Und ich bin nach wie vor der Überzeugung, dass es dann wohl besser gewesen wäre, wenn wir mit unserem Tod auch unser Gedächtnis verloren hätten. Ist nämlich schwer alles hinter sich zu lassen, wenn man noch genau weiß, wie das vorherige Leben ablief.“ Grell tätschelte ihr die Schulter. „Bin ganz deiner Meinung, Liebes. Und berücksichtigt man, dass beinahe alle Shinigami ihren menschlichen Namen behalten, dann spricht das ganz klar für deine Auffassung. Aber ganz offiziell, wenn man die Verwaltung und die Registratur fragt, dann sind unsere Registrationsnummern unsere neuen Namen.“ Carina klappte gegen ihren Willen leicht der Mund auf. „Wie bitte?“, fragte sie, eine Mischung aus Verblüffung und zornigem Unglauben in der Stimme. „Das ist ja wohl der größte Schwachsinn, den ich jemals-“ „Du bringst es auf den Punkt. Natürlich ist es Schwachsinn“, unterbrach Grell sie. „Aber wie ich schon sagte, es gibt Ausnahmen. Und Undy ist eine davon.“ „Ich verstehe nicht, worauf du hinaus willst“, erwiderte die Schnitterin verwirrt. „Ich will darauf hinaus, dass Undy seinen richtigen Namen abgelegt und während seiner gesamten Zeit im Dispatch immer nur unter dem Namen „Nummer 136649“ bekannt war.“ Carina starrte ihn an. Versuchte, seinen Worten einen Sinn zu geben. Aber alles, was sie gedanklich hörte, war ein schrilles Piepen, ähnlich einem Störgeräusch. Weil sie es nicht verstand. Egal, wie sehr sie auch darüber nachdachte, sie verstand es einfach nicht. Grell konnte an ihrer Miene ablesen, was sie dachte. „Ich weiß“, murmelte er sanft und war nun derjenige, der ihr eine Hand auf die Schulter legte und beruhigend zudrückte. „Das ist schwer zu verdauen.“ „Es ist nur…“, begann sie zögerlich und schluckte einmal, um ihre trockene Kehle zu befeuchten, „Jedes Mal, wenn ich solche Dinge über seine Vergangenheit höre, dann werde ich traurig. Einerseits, weil es immer noch so vieles gibt, was ich nicht über ihn weiß. Aber vor allem andererseits, weil ich genau weiß, dass ihm wehgetan worden ist. Ich meine… welcher Mensch, welches fühlende Wesen, würde sich gerne als Nummer betiteln lassen?“ Sie spürte, wie ihre Augen feucht wurden. „Irgendetwas muss unmittelbar vor seinem Selbstmord passiert sein, dass er selbst nach seinem Tod seinen Namen nicht mehr wollte.“ „Du willst ihn nicht bedrängen, das ist mir klar. Aber vielleicht solltest du ihn endlich danach fragen, gerade in unserer jetzigen Situation. Ich meine… wir könnten morgen schon alle tot sein, wirklich tot diesmal, und dann hättest du nie die Wahrheit erfahren.“ „Ich will ihm nicht wehtun. Das habe ich in der Vergangenheit schon viel zu oft getan.“ Grell schnaubte. „Schätzchen, mach dir nichts vor, er hat dich auch schon so einige Male verletzt. Wenn das ein Wettkampf wäre, läge er meilenweit in Führung.“ Carina lachte und wischte sich flüchtig über die Augen. „Ja, das mag sein“, murmelte sie und zuckte mit den Schultern. „Ich muss erst einmal darüber nachdenken.“ „Mach dir nicht so viel Stress deswegen. Denk dran, ihr seid im Hier und Jetzt. Und Tatsache ist, dass er jetzt ganz anders ist, als er es damals gewesen sein muss. Du hast die bessere Version von ihm abbekommen.“ „Hey“, sagte Carina ernst, weil ihr die Aussage nicht wirklich gefiel. Jedenfalls nicht so, wie Grell es ausgedrückt hatte. „Es gibt keine bessere oder schlechtere Version von ihm. Er ist, wer er ist und ich hätte ihn mit Sicherheit auch damals lieben gelernt. Vielleicht wäre es schwieriger geworden und noch tausend Mal komplizierter, als es jetzt ohnehin schon war, aber tief innen drin war er immer der Mann, den ich jetzt kenne.“ Grell quietschte einmal kurz auf. „Hach, junge Liebe kann einfach so poetisch sein“, seufzte er verzückt, woraufhin seine ehemalige Schülerin stark mit den Augen rollte. „Herrje, geht das wieder los…“ Kapitel 98: Seine Geschichte ---------------------------- Als Carina und Grell endlich mit der zweiten Besichtigungsrunde fertig waren, verfärbte sich der Himmel draußen bereits in ein zartes Orange. „Ich muss los“, sagte Grell und schaute auf seine Uhr. „Meine Schicht endet in einer Stunde und ich muss noch 8 Seelen einsammeln.“ „Dann sehen wir uns morgen“, erwiderte Carina und klang dabei nicht gerade begeistert. Grell nahm es ihr nicht übel, auch er würde den morgigen Tag am liebsten überspringen. Und das, obwohl es ein Ball war! Er klopfte ihr zweimal auf die Schulter. „Wir kriegen das hin. Du wirst schon sehen.“ „Dein Wort in Gottes Ohr“, sagte sie, musste aber jetzt gegen ihren Willen lächeln. Mit Grell an ihrer Seite fühlte sie sich unbestreitbar sicherer. „Sorg einfach dafür, dass William und Ronald keinen Mist anstellen und auch wirklich hier auftauchen. Wir können jeden Kämpfer gebrauchen.“ „Keine Sorge, im Notfall mache ich ihnen einfach die Hölle heiß“, flötete er und ehe Carina darauf etwas erwidern konnte, schnippte er einmal spielerisch mit den Fingern und löste sich im nächsten Moment in Luft auf. Sie verdrehte die Augen. Grell und seine dramatischen Abgänge… Die Schnitterin schaute sich kurz im Eingangsbereich der Villa um, ehe sie kehrt machte und den Weg zu ihrem Zimmer einschlug. Besonders weit kam sie jedoch nicht. In der einen Sekunde herrschte noch vollkommene Stille um sie herum, in der zweiten Sekunde jedoch schlugen all ihre Sinne plötzlich lautstark Alarm. Sie wirbelte herum und musste im nächsten Moment einen Aufschrei unterdrücken, als plötzlich Sebastian vor ihr stand. Der Butler lächelte, doch Carina konnte die kurz aufflackernde Schadenfreude dahinter sehen. Sie schnaubte. „Mach das nie wieder“, sagte sie ernst und nahm ihre Hand vom Griff ihrer Death Scythe herunter, den sie aus purem Reflex heraus gepackt hatte. Sebastians Grinsen wurde breiter. „Ganz wie Ihr wünscht“, sagte er mit einer kurzen Verbeugung und Carina konnte nicht anders, als mit den Augen zu rollen. „Kann ich dir irgendwie behilflich sein, Butler?“, entgegnete sie genervt und verschränkte die Arme vor der Brust. „Das Abendessen ist fertig“, teilt er ihr mit und deutete ihr gleichzeitig an ihm zu folgen, „und da ich mir sicher war, dass ihr Probleme haben würdet den Weg zu finden-“ „Schon verstanden“, unterbrach die Schnitterin ihn und wurde prompt rot im Gesicht. Großartig, jetzt hatten sich ihre navigatorischen Fähigkeiten schon herumgesprochen… Als der Esstisch wenige Minuten später in Sichtweite kam, erfassten ihre Augen sofort Cedric, der sich direkt neben Ciel gesetzt hatte und diesem nun gut gelaunt mit seiner üblichen Gestik unterhielt. Der junge Earl wirkte alles andere als begeistert, beinahe schon eine Spur genervt. „Kein Wunder“, dachte Carina. Der Silberhaarige hatte wirklich ein Händchen dafür Leute an ihre Grenzen zu bringen, wenn er es darauf anlegte. Und scheinbar tat er genau das, denn obwohl der Tisch mindestens 5 Meter lang war hatte er sich genau neben den 14-Jährigen gesetzt. Umso weniger überraschte sie es daher, dass Ciel erleichtert aufatmete, als Sebastian und sie endlich eintraten. Der Butler führte sie zu dem anderen Stuhl neben seinem Meister, sodass sie Cedric direkt gegenüber saß. „Earl“, sagte sie ruhig, aber nicht unhöflich. „Carina“, antwortete er im gleichen Tonfall und Angesprochene konnte nicht leugnen, dass es ihr auf eine gewisse Art und Weise gefiel, dass er sie nun bei ihrem Vornamen nannte. Das machte es persönlicher. Als würden sie sich gut kennen. Was zwar nicht wirklich der Fall war, aber dennoch schien es ihr ein gutes Zeichen für die Zukunft zu sein. „Und? Konntest du Mr. Sutcliff das Anwesen ein wenig näher bringen?“, fragte der Phantomhive, während Sebastian in Richtung Küche verschwand. „Grell ist gut darin sich Räumlichkeiten einzuprägen“, sagte sie. Das „Im Gegensatz zu mir“ blieb unausgesprochen. Dennoch warf Cedric ihr einen Blick zu, der klar und deutlich zum Ausdruck brachte, dass er die nicht gesagten Worte von ihrem Gesicht ablesen konnte. „Dann dürfte für morgen ja soweit alles erledigt sein“, meinte der 14-Jährige. Carina seufzte. „Ja, zumindest was die Planung angeht. Allerdings wäre mir die Wortwahl „Dann kann ja morgen eigentlich nichts mehr schief gehen“ lieben gewesen.“ Ciel schaute sie wissend an. „Es kann immer etwas schief gehen“, erwiderte er. „Bedauerlicherweise ist das korrekt“, antwortete sie und schaute zu Cedric, als dieser einmal leise kicherte. „Gerade bei unseren Plänen“, gluckste er vergnügt und sorgte dafür, dass Ciel genervt den Blick abwandte und zu Carina schielte. Ganz so, als wollte er sie fragen, wie sie es nur mit dem Bestatter aushielt; seine gute Erziehung ihn allerdings davon abhielt so etwas laut auszusprechen. Carina musste schwer an sich halten, um nicht zu grinsen. Wenn der Junge nur wüsste, dass Cedric und er miteinander verwandt waren… „Vermutlich würde ihn das eher ins Grab bringen als sein Deal mit dem Teufel.“ Ihre Augen wanderten zu Sebastian, der in diesem Moment das Essen auftischte. Er warf den beiden Todesgöttern ein Lächeln zu, doch seine Augen blitzten kurz hämisch auf. „Ich war mir nicht ganz sicher, ob Shinigami Nahrung zu sich nehmen oder nicht, aber war bereit das Risiko einzugehen.“ „Hehe~ Wir sind nicht tot, Butler“, sagte der Undertaker grinsend und die 19-jährige Schnitterin deutete auf ihren Partner. „Habt ihr ihn denn noch nie seine Kekse essen sehen?“, fragte sie amüsiert, woraufhin Ciel und Sebastian zeitgleich laut ausatmeten und ein synchrones „Bedauerlicherweise doch“ hervorbrachten. Der Bestatter lachte herzlich, als er in all die genervten Gesichter sah. Über nichts konnte er sich so gut amüsieren wie der Kleingeist von manchen Menschen. Carina würde es vor Sebastian niemals zugeben, aber das Essen war in jeglicher Hinsicht vorzüglich. Hatte sie nicht irgendwo mal gelesen, dass Dämonen einen gänzlich anderen Geschmackssinn besaßen als Menschen? Wie hatte er dann bitteschön gelernt Speisen so gut zuzubereiten? Neugierig, wie sie nun einmal war, konnte sie sich die Frage nach Ende des Hauptgangs nicht verkneifen. „Ich habe einmal gelesen, dass Dämonen normales Essen nicht so schmecken können, wie menschliche Wesen das tun. Wie hast du es also geschafft kochen zu lernen, Teufel?“ Ciel verschluckte sich neben ihr kurz an seinem Wasser und an der nicht gerade amüsierten Miene Sebastians konnte sie sehen, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. „Übung, Erfahrung und Präzision“, antwortete er kühl. Ciel räusperte sich einmal und tupfte sich mit einer Serviette den Mund ab, um sein schadenfrohes Lächeln zu verbergen. „Glaube mir, wenn ich sage, dass es viel Übung gebraucht hat“, sagte er trocken, aber gleichzeitig amüsiert. Sebastian schenkte ihm einen unbeeindruckten, starren Blick. Carina war das nicht neu. Scheinbar konnten die beiden nicht anders, als hier und da einen Seitenhieb untereinander auszutauschen. „Wie dem auch sei“, wechselte der Butler geschickt das Thema, „alle uns möglichen Vorkehrungen wurden für morgen getroffen. Alles Restliche hängt jetzt lediglich von uns ab. Und da mein Vater sich der Tatsache, dass wir ihn bekämpfen werden, bestens bewusst ist, müssen wir auf die schlimmstmöglichen Wendungen gewappnet sein.“ „Da würden mir so einige einfallen“, murmelte Carina und legte die Gabel weg. Wäre sie nicht schon mit dem Essen fertig, wäre ihr jetzt glatt der Appetit vergangen. Sebastian warf ihr einen angespannten Blick zu. „Dann solltest du diese Gedanken schnellstmöglich aus deinem Kopf vertreiben, denn mein Vater hat ein Händchen dafür zu sehen, was in den Köpfen seiner Opfer vor sich geht. Etwas, dass ihm aus seiner Zeit als Erzengel erhalten geblieben ist.“ „Großartig“, stöhnte sie und musste unweigerlich an die Legilimentik aus den Harry Potter Büchern denken. Sie wusste noch sehr genau, welchen Schaden Voldemort mit dieser Art von Macht angerichtet hatte. Ciel schien die Vorstellung, jemand könnte in seinen Gedanken herumwühlen, ebenfalls ganz und gar nicht zu gefallen. Er schaute den einzig anderen anwesenden Aristokraten des Bösen an und sagte mit einer Spur Sarkasmus in der Stimme: „Vielleicht sollten wir dann hoffen, dass er sich zuerst mit deinem Kopf beschäftigt, Undertaker. Möglicherweise haben wir Glück und er fällt anschließend dem Wahnsinn anheim.“ „Hehe, gut möglich, Earl“, grinste Cedric und ließ den kleinen Witz sang- und klanglos über sich ergehen. „Er kann es gerne versuchen. In meinem Alter ist man zumeist auf alles vorbereitet. Und es wäre nicht das erste Mal, dass jemand versucht die Geheimnisse in meinem Kopf zu ergründen.“ Carina runzelte bei seinem letzten Satz automatisch die Stirn. Was hatte das denn nun wieder zu bedeuten? „Jeder der hier Anwesenden weiß, dass ich nur äußerst ungern Dinge dem Zufall überlasse“, ergriff Ciel erneut das Wort. „Es gehört zu den Aufgaben eines Earls für alle möglichen Gegebenheiten einen Plan zu haben. Aber hier haben wir es nun einmal mit dem Übernatürlichen zu tun. Und selbst ich habe durch die letzten Jahre begriffen, dass es in solchen Situationen nun einmal nicht immer möglich ist alles bis ins letzte Detail zu planen.“ „Und trotzdem seid Ihr noch hier, Earl“, grinste der Undertaker. Ciels Mundwinkel zuckten leicht, als er ein Lächeln unterdrückte. „Und trotzdem bin ich noch hier“, bestätigte er und schaute in die Runde. „Dieser Teufel, Erzengel oder als was auch immer er sich selbst bezeichnet wird gar nicht wissen, wie ihm geschieht. Wenn wir mit ihm fertig sind, wird ihm klar werden, dass man sich niemals ungestraft mit einem Earl Phantomhive anlegt.“ Carina wusste selbst nicht wieso, aber die Worte dieses Jungen lösten die Anspannung in ihrem Inneren ein wenig. Beinahe fühlte sie sogar so etwas wie neue Zuversicht in sich aufsteigen. „Und mit Todesgöttern ebenso wenig“, sagte sie bestimmt und stellte Blickkontakt zu Cedric her, der ihr aufmunternd zunickte. „Wir werden ihm zeigen, dass man sich den Tod nicht einfach so zu Eigen machen kann. Und ich werde ihm zeigen, dass man mit mir keine Spielchen spielt; ganz besonders dann nicht, wenn es um die Menschen geht, die ich liebe“, beendete sie ihre kleine Ansprache und dachte, wie so häufig, an Alice. Dafür würde er bezahlen. Egal, wie das Ganze auch ausgehen würde, dafür würde sie ihn bluten lassen. Cedric verzog die Lippen zu einem geschlossenen Lächeln und warf ihr diesen einen Blick zu, der jedes Mal dafür sorgte, dass sie mit ihm am liebsten sofort im Schlafzimmer verschwunden wäre. Diese besitzergreifende, stolze Miene. „Apropos Menschen, die man liebt“, sagte er und wechselte mit seinen nachfolgenden Worten so geschickt das Thema, dass es kaum jemandem am Tisch auffiel, „warum leistet uns Eure liebreizende Verlobte eigentlich keine Gesellschaft?“ Ciel wurde purpurrot im Gesicht. Carina fand es herzallerliebst, dass der junge Adelige tatsächlich immer noch glaubte, dass seine Liebe für Elizabeth nicht für jeden mehr als offensichtlich war. „Sie war nach unserem Ausflug erschöpft und wollte sich ein wenig ausruhen.“ „Die junge Miss Midford schlief, als ich sie abholen wollte. Mein Herr befand, dass es besser wäre sie schlafen zu lassen“, ergänzte Sebastian. Carina grinste, als Ciels Gesicht nun einen noch tieferen Rotton annahm. „Was für ein Gentleman“, neckte sie ihn, woraufhin sogar Sebastian ein spöttisches Lächeln unterdrücken musste. „Ich habe mich geirrt. Undertaker und du passt doch perfekt zusammen“, erwiderte der 14-Jährige trocken; spielte damit auf die Tatsache an, dass sie ihn beide wohl gerne vorführten. „Vielen Dank, Earl“ gackerte der Silberhaarige. „Das war kein Kompli-“, begann Ciel genervt, belehrte sich dann allerdings eines Besseren, „ach, nicht so wichtig.“ „Das war doch wirklich mal ein interessanter Abend, findest du nicht?“, lachte der Bestatter eine Stunde später, als Carina und er endlich wieder auf ihrem Zimmer waren. „Ich bezweifle, dass Ciel das genauso sieht“, erwiderte sie schmunzelnd, während sie gleichzeitig Lilys Köpfchen hielt, die gerade an ihrer Brust lag und friedlich trank. „Der Earl hat für sein Alter viel zu wenig Spaß. Er muss das Leben mehr genießen.“ „Solange er es noch kann“, beendete Carina in Gedanken Cedrics Satz, denn beiden war klar, dass die Uhr für den Jungen laut tickte. „Ich schätze mal, er genießt die kleinen Dinge des Lebens. Auf seine ganz eigene Art und Weise“, antwortete sie ihm und legte sich ein Tuch über die Schulter, um anschließend Lily sanft in eine ähnliche Position zu bringen. „Stimmt. Hast du mal seinen Gesichtsausdruck gesehen, wenn einer von seinen Plänen funktioniert hat und der Gegner ihm hilflos gegenübersteht? Dieses überlegene, zufriedene Lächeln? Zum Totlachen“, kicherte der Bestatter erfreut. Die Schnitterin rollte leicht mit den Augen. Kurz dachte sie darüber nach ihm zu sagen, dass sie dieses Lächeln auch schon auf seinen Lippen gesehen hatte – nämlich auf der Campania – aber dann unterließ sie es doch. Cedric wurde immer melancholisch, wenn sie ihn daran erinnerte, dass ein paar Merkmale des Phantomhives aus seinem Erbe entsprangen. Carina schaute auf die Uhr und seufzte. Es war schon spät genug, dass sie unter normalen Umständen vielleicht ins Bett gegangen wäre, aber irgendwie glaubte sie nicht, dass sie in der nächsten Stunde Schlaf finden würde. Ihre Augen glitten zur Badezimmertür und plötzlich kam ihr wieder der Gedanke in den Sinn, den sie beim ersten Anblick des Zimmers gehabt hatte. Sie linste zum Vater ihrer Tochter hinüber. „Lust auf ein Bad?“ „Endlich“, stöhnte Grell und ließ mit einem lauten Scheppern seinen Bericht in das entsprechende Fach fallen, was ihm einen tadelnden Blick von der Shinigami an der Rezeption einbrachte. Er war komplett erledigt. Eine Doppelschicht an sich war schon anstrengend genug, aber wenn man in der Zwischenzeit auch noch eine pompöse Villa besichtigen und sich einprägen musste, war das definitiv zu viel des Guten. Und obwohl sich seine Augenlider schwer anfühlten und das Bett in seinem Zimmer quasi schon nach ihm rief, schlug er genau die gegenteilige Richtung ein und schleppte sich mit schweren Schritten die Treppe in Richtung Büros hoch. Williams Büro, um ganz genau zu sein. Obwohl er wusste, dass es nun einmal notwendig war vor dem morgigen Tag noch einmal mit William zu reden, hielt sich seine Lust dazu arg in Grenzen. Die letzten Gespräche, die sie in den vergangenen Wochen zwischen Tür und Angel miteinander geführt hatten, waren allesamt kühl und distanziert gewesen. Nicht, dass ihn das großartig gewundert hatte. Immerhin war er dieses Mal derjenige, der dafür sorgte, dass es genau so zwischen ihnen ablief. Zwischen ihnen war einfach zu viel falsch gelaufen. Zuerst hatte Grell William hintergangen, indem er Carina zur Flucht verholfen und ihn deswegen beinahe ein ganzes Jahr belogen hatte. Dann hatte William ihn daraufhin wie den letzten Dreck behandelt, nur um ihm anschließend unverblümt vor den Latz zu knallen, dass er durch Carina wusste, dass Grell in ihn verliebt war. Was die ganze Sache zwischen ihnen nur noch weiter verkompliziert hatte. Grell kannte sich selbst gut genug um zu wissen, dass er sensibel war, wenn es um seine eigenen Gefühle ging. Daher wusste er auch, dass er so wie bisher einfach nicht weitermachen konnte. Es war besser, wenn er William auf Abstand hielt und sei es auch nur, um sich selbst vor weiteren Enttäuschungen zu schützen. Er hielt vor der Tür an und holte noch einmal tief Luft, um sie anschließend ebenso langsam aus seinem Mund entweichen zu lassen. Dann klopfte er zweimal bestimmt gegen das Holz und trat nach dem üblichen „Herein“ ein. „Guten Abend, William“, sagte er müde und schloss die Tür leise hinter sich. „Grell“, erwiderte der Aufsichtsbeamte und nickte ihm kurz zu. Noch etwas, über das sich der Rothaarige innerlich aufregte. Zwei Jahrhunderte lang hatte William ihn immer stur mit „Sutcliff“ angesprochen, egal wie sehr er ihn auch darum angebettelt hatte ihn beim Vornamen zu nennen. Und jetzt, wo dem Schnitter genau diese unfreundliche Anrede am allerliebsten gewesen wäre, nannte er ihn plötzlich „Grell“? Was sollte der Blödsinn? „Ich wollte dich lediglich darüber informieren, dass sich an dem Plan für morgen nichts geändert hat. Carina und Undy befinden sich bereits auf dem Anwesen und wir sollen zusammen mit Ronald morgen zur vereinbarten Zeit zum Ball erscheinen. Unsere Garderobe habe ich wie gewünscht säubern lassen und auf unsere Zimmer gebracht, sodass jetzt eigentlich nichts mehr zu erledigen ist. Kann ich sonst noch etwas für dich tun? Falls nicht, würde ich mich jetzt gerne zum Schlafen zurückziehen. Für den morgigen Tag werden wir bestimmt alle Kräfte brauchen.“ Er glaubte kaum, dass der Schwarzhaarige seine stumme Anspielung verstand, dass auch er sich so langsam mal von seinem Schreibtisch lösen sollte. Aber es konnte ihm ja auch eigentlich egal sein. William bedachte Grell mit einem prüfenden Blick. Er zeigte es nicht, aber diese Distanz zwischen ihnen ging ihm nach wie vor mehr auf die Nerven, als es Grells ursprüngliches Verhalten getan hatte. Und das wiederum nervte ihn noch mehr! „Es scheint ja alles vorbereitet zu sein. Gibt es ansonsten noch etwas, was ich wissen müsste? Neuigkeiten über den Dämon?“ Der rothaarige Reaper schüttelte den Kopf. „Bisher nichts. Ob das jetzt gut oder schlecht ist, werden wir wohl erst morgen herausfinden.“ Er zögerte kurz. „Carina meinte noch, ich solle aufpassen, dass du und Ronald auch tatsächlich auftauchen werdet. Und dass ihr keinen Mist baut.“ William schnaubte. „Charmant“, entgegnete er und einen Moment lang glaubte er Grells Mundwinkel daraufhin in die Höhe zucken zu sehen. Oder hatte er sich das nur eingebildet? Unangenehmes Schweigen machte sich in dem Büro breit. „Dann sehen wir uns morgen“, sagte Grell schließlich und wandte sich zur Tür. Aus einem Impuls heraus wollte William ihn davon abhalten. Ronalds Worte schwirrten nach wie vor in seinem Kopf umher. „Ich weiß, es geht mich eigentlich nichts an, Mr. Spears. Aber was auch immer zwischen ihnen beiden vorgefallen ist, ich würde es schnellstmöglich klären. Bevor es wirklich hässlich wird.“ William konnte sich ehrlich gesagt kaum vorstellen, wie es denn noch hässlicher werden sollte. Vielleicht, wenn Grell gar nicht mehr mit ihm sprach? Wenn er ihn plötzlich hasste? Letzteres sorgte dafür, dass sich ein komischer Druck auf seinen Magen legte, der ihm ganz und gar nicht gefiel. Warum also schaffte er es einfach nicht den Mund aufzukriegen? Das Zufallen der Tür riss ihn abrupt aus seinen Gedanken heraus. Innerlich verfluchte der Beamte sich tausendfach. Erneut hatte er eine Chance vertan diese Sache mit Grell endlich aus der Welt zu schaffen. Und morgen hatten sie weitaus andere Sorgen, als sich mit diesem Thema zu befassen. „Nächstes Mal“, sagte er sich. „Das nächste Mal, wenn er in mein Büro kommt, werde ich das klären.“ Der Gedanke, dass es vielleicht gar kein nächstes Mal geben könnte, kam ihm in diesem Moment nicht. „Ah“, stieß Carina wohlig hervor und ließ sich noch ein wenig tiefer in das heiße Wasser sinken. „Das war die beste Idee des heutigen Tages.“ Cedric, der ihr in der Wanne genau gegenüber saß, band sich seine langen, nassen Haare mit einem Band zurück und grinste. „Jetzt weißt du, warum sich die Aristokraten des Bösen überwiegend hier getroffen haben. Die Gastfreundlichkeit eines Earls nimmt man doch immer wieder gerne an, wenn sie sich einem bietet.“ „Wie geht das Sprichwort noch? Wenn das Leben einem Zitronen gibt, mach Limonade daraus?“, fragte Carina amüsiert und ließ ihre Schultern kreisen, um den letzten Rest Anspannung von dort herauszuholen. „Nie davon gehört. Muss wohl eins sein, was noch erfunden wird.“ Carina lachte leise auf. „Tja, wenn du es nicht kennst, wird es wohl so sein. Immerhin lebst du jetzt schon so lange, dass es sicherlich nicht vieles gibt, worüber du keine Kenntnisse hast, oder?“ Der Bestatter zuckte mit den Schultern, sodass das Badewasser mehrere kleine Wellen schlug. „Hier und da gibt es immer mal wieder Wissen, das man sich neu aneignet, aber du hast Recht. Vieles habe ich bereits kennengelernt.“ Carina betrachtete ihn schweigend. Oft vergaß sie einfach, wie viel älter er im Gegensatz zu ihr war. Wie viele Menschen er bereits getroffen, wie viele Generationen er bereits durchlebt und überlebt hatte. Unweigerlich erinnerte sie sich an das Gespräch, das sie am heutigen Nachmittag mit Grell geführt hatte. „Du willst ihn nicht bedrängen, das ist mir klar. Aber vielleicht solltest du ihn endlich danach fragen, gerade in unserer jetzigen Situation. Ich meine… wir könnten morgen schon alle tot sein, wirklich tot diesmal, und dann hättest du nie die Wahrheit erfahren.“ Carina biss sich auf die Unterlippe. Grell hatte mit seinen Worten Recht, das musste sie zugeben. Und dass sie von Natur aus neugierig war, half bei dieser ganzen Angelegenheit nicht wirklich. Aber es war nun einmal ein hochsensibles Thema, für jeden von ihnen. Cedrics menschliches Leben mochte wesentlich länger zurückliegen, aber das bedeutete schließlich nicht, dass er unbedingt besser damit klar kam. Alles in ihr sträubte sich dagegen ihn an etwas zu erinnern, was er vermutlich am liebsten vergessen würde. „Worüber denkst du nach?“, fragte der Silberhaarige sie plötzlich und riss die Schnitterin wieder in die Gegenwart zurück. „Nichts“, sagte sie – offensichtlich zu schnell, denn Cedric sah nicht so aus, als würde er ihr auch nur eine Sekunde lang glauben. Er hob eine Augenbraue. „Und jetzt noch einmal die Wahrheit?“, fragte er erneut und sah sie auffordernd an. Ein weiteres Mal biss sie sich auf die Lippe, überlegte stillschweigend hin und her. Schließlich antwortete sie: „Ich will dir nicht zu nahe treten.“ Er blinzelte einmal verwirrt, dann stupste er mit seinem nackten, ausgestreckten Bein gegen ihres. „Ich glaube kaum, dass du mir in irgendeiner Art und Weise zu nah treten kannst, Carina“, gluckste er leise. „Sei dir da mal nicht allzu sicher“, dachte Angesprochene und zögerte immer noch merklich. Dann sagte sie: „Ich hab Grell heute gefragt, ob er die Zerstörung des Dispatchs bei deiner Flucht miterlebt hat.“ Der Bestatter hob nun auch noch die andere Augenbraue. „Und?“, fragte er neugierig, da er immer noch nicht so recht wusste, wieso die Mutter seines Kindes sich plötzlich so zurückhaltend benahm. „Er war nicht vor Ort, aber er hat die Auswirkungen zu Gesicht bekommen. Als ich ihm sagte, dass du derjenige warst, der dafür verantwortlich war, war er ziemlich überrascht. Nun ja… zugegebenermaßen nicht besonders lange“, fuhr sie fort und lächelte leicht, als Cedric amüsiert auflachte. „Aber worauf ich eigentlich hinaus will… also… er hat damals jemanden aus der Forensik dazu befragt. Einen Shinigami namens Othello. Du müsstest ihn kennen.“ Carina spürte, wie der Todesgott sich abrupt versteifte, als er den Namen des Wissenschaftlers hörte. Scheinbar bekam er langsam eine Ahnung, in welche Richtung dieses Gespräch ging. „Was hat er dir erzählt?“ Sein Ton war wachsam, vorsichtig. Carina bereute bereits jetzt, dass sie das Thema überhaupt angeschnitten hatte. „Dass du eine lebende Legende im Dispatch bist. Dass du der Inbegriff eines Todesgottes warst. „Und…“, sie zögerte ein weiteres Mal, zwang sich jedoch dann weiterzusprechen, „und, dass du unter der Nummer 136649 bekannt warst.“ Es hatte nur sehr wenige Augenblicke in ihrem bisherigen Leben gegeben, in denen sie Cedric so aufgewühlt gesehen hatte. Dieser hier war einer davon. Der Silberhaarige saß da wie in Stein gemeißelt und sein Gesichtsausdruck war genauso. Versteinert. Vollkommen still. Er bewegte sich keinen Millimeter. Sofort ruderte Carina zurück. „Vergiss es, ich hätte es nicht ansprechen sollen. Lass uns über etwas anderes reden.“ Jetzt bewegte der Undertaker sich doch, indem er ihr in die Augen schaute. „Aber es interessiert dich“, stellte er ganz neutral fest, woraufhin Carina schluckte. „Es geht um dich“, antwortete sie sanft. „Natürlich interessiert es mich. Aber ich möchte dich nicht bedrängen. Und das Thema geht dir ganz offensichtlich nah, also-“ „Warum hast du dann eben so intensiv darüber nachgedacht?“, unterbrach er sie; nicht unhöflich, aber in einem doch sehr bestimmten Ton. „Großartig“, dachte Carina und seufzte. Natürlich konnte er das jetzt nicht auf sich beruhen lassen. „Weil wir morgen schon alle tot sein könnten. Und ich will ehrlich sein: Mich würde es irgendwie stören, wenn ich vor meinem möglichen endgültigen Tod nicht wenigstens den Großteil über dich wüsste.“ Sie schaute ihn verständnisvoll an. „Aber wie bereits gesagt, ich will dich nicht bedrängen. Ich weiß noch, wie schwer es mir damals im Weston College gefallen ist, dir alles über die vergangenen Jahre zu erzählen. Ich kann warten. Hoffentlich werden wir morgen also nicht alle sterben und es wird der Zeitpunkt kommen, an dem du mir alles erzählen kannst. Und auch möchtest.“ Cedric lachte trocken auf, ohne jegliche Form von Humor. „Glaub mir, von möchten wird niemals wirklich die Rede sein. Aber… du hast Recht. Wir könnten morgen tatsächlich alle schon tot sein.“ Wenige Sekunden lang herrschte erneut Stille, dann setzte der Totengräber sich etwas aufrechter in der Badewanne hin. „Wenn ich mit einer Person darüber sprechen kann, dann bist du es, Carina. Ich befürchte nur, dass du mich danach vielleicht mit anderen Augen sehen könntest.“ Die Blondine hob eine Augenbraue und suchte unter der Wasseroberfläche nach seiner Hand, um sie anschließend fest in die ihre zu nehmen. „Tief in deinem Inneren weißt du selbst, dass das nicht passieren wird.“ Ihre Mundwinkel zuckten kurz in die Höhe. „Ich meine… nach all dem, was du dir bisher geleistet hast, bist du mich trotzdem nicht los geworden, oder? Das ist doch ein gutes Zeichen.“ Jetzt formten auch seine Lippen wieder ein Lächeln. „Ich schätze, dass das wohl stimmt“, antwortete er und erwiderte den Druck ihrer Hand. „Es wird jedoch vielleicht etwas schwierig für dich werden, es dir vorzustellen.“ „Stell mich auf die Probe“, entgegnete sie, obwohl sie nicht wirklich wusste, worauf er mit seiner Aussage hinaus wollte. „Du weißt doch noch, in welchem Jahrhundert ich gelebt habe, oder?“ Sie nickte. „Geboren am 25. März 1035, gestorben am 28. Januar 1064.“ Er hob eine Augenbraue. Ihre Wangen wurden rot. „Was denn? Ich habe halt ein gutes Gedächtnis“, verteidigte die Schnitterin sich. Er musste ja nicht unbedingt wissen, dass sich dieser verdammte Stammbaum wie ein Brandmal in ihr Gehirn geätzt hatte. „Die wenigsten Menschen oder sogar Todesgötter können sich jetzt noch vorstellen, wie es vor all diesen Jahrhunderten auf der Erde ausgesehen hat.“ Sein Blick schweifte in die Ferne und Carina wusste, dass er die damalige Welt vor seinen Augen Revue passieren ließ. „Kilometerlange Landschaften. Wiesen, Flüsse, Wälder und das alles vollkommen unberührt von den Menschen. Keine Fabriken, keine Straßen, keine Aneinanderreihungen von Häusern… Manchmal konntest du stundenlang reiten und bist trotzdem keiner einzigen Menschenseele begegnet.“ Gegen ihren Willen ploppte in Carinas Gedanken sofort ein Bild von Cedric in altertümlicher Kleidung auf einem Pferd auf. Sie konnte es sich erschreckend gut vorstellen. „Wie du dir vielleicht denken kannst, war ich nicht immer so–“ „Albern? Verrückt? Wahnsinnig?“, unterbrach die Deutsche ihn grinsend und der Bestatter rollte gespielt beleidigt mit den Augen. „Ich wollte stark und klug sagen, du freches Ding, aber gut, von mir aus. Trotzdem, ein wenig albern war ich auch damals schon. Eine meiner besten Eigenschaften, wenn du mich fragst. Die Leute hatten auch damals schon viel zu wenig Humor.“ „Waren es damals nicht härtere Zeiten als heute?“ „Schon, aber im Großen und Ganzen hielt es sich in meiner Familie die Waage. Was allerdings auch an unserem Adelsstatus lag.“ Carina konnte nicht anders, sie lachte ungläubig auf. „Wie bitte? Du warst ein–“ „Adeliger? Allerdings“, grinste Cedric, denn er hatte mit so einer Reaktion von ihr durchaus gerechnet. „Nun“, begann sie und konnte sich einen kleinen Seitenhieb nicht verkneifen, „soll ich dich dann zukünftig mit Lord anreden?“ Er lachte leise. „Nun“, begann er – den gleichen Satzanfang verwendend – und ließ seine andere Hand einmal sanft an ihrem Oberschenkel entlangfahren, „in bestimmten Situationen würde mir das sicherlich gefallen.“ „Du lenkst vom Thema ab“, neckte sie ihn, genoss aber dennoch die kurze Berührung seiner Finger. „Ich weiß, ich weiß. Gut, keine Ausflüchte mehr.“ Er nahm einen tiefen Atemzug. „Wie bereits gesagt, meiner Familie ging es nicht gerade schlecht. Das lag vor allem an den Verdiensten meines Großvaters väterlicherseits. Er gründete damals ein kleines Dorf, das sich aber durch seine günstige Lage über die Jahre hinweg zu einer kleinen Handelsstadt entwickelte. Mein Vater war der erstgeborene Sohn und erbte somit nach dem Tod meines Großvaters selbstverständlich den Titel und den beachtlichsten Teil seines Vermögens. Tja… und ich war ebenfalls der erstgeborene Sohn meines Vaters.“ „Du klingst nicht besonders glücklich darüber“, stellte Carina bekümmert fest, woraufhin Cedric nickte. „Kannst du dir mich als Kaufmann vorstellen?“, fragte er und erhielt postwendend eine Antwort. „Ich kann mich dir als vieles vorstellen, Cedric. Aber als Kaufmann? Nein, absolut nicht.“ „Eben“, erwiderte der Bestatter und fuhr sich mit einer Hand durchs Gesicht. „Ich habe es gehasst, Carina. Ich habe es schlicht und ergreifend gehasst.“ Er tat einen tiefen Seufzer. „Das ganze Gerede über Geld und Geld und noch mehr Geld… Tagein, tagaus. Das war nicht das, was ich für mein Leben wollte. Aber ich war nun einmal sein Erbe, sein Erstgeborener. Es wurde von mir erwartet, dass ich in die Fußstapfen meines Vaters trete. Und ich habe mich dem gefügt.“ Carina hob überrascht beide Augenbrauen. „Hast du?“, fragte sie verblüfft und der Silberhaarige lachte trocken auf. „Ich sagte dir ja bereits, ich war nicht immer so willensstark wie jetzt. Und für dich mag es sowieso schwer vorstellbar sein, weil du aus dem 21. Jahrhundert stammst, aber damals war das Wort des Familienoberhauptes Gesetz. Und glaube mir, ich habe nicht eine Sekunde darüber nachgedacht mich dem zu widersetzen.“ Sein Gesicht verzog sich zu einer verbitterten Miene. „Keiner hat das. Meiner Mutter nicht, die ohne Wenn und Aber immer alles getan hat, was mein Vater von ihr erwartete. Meine beiden jüngeren Schwestern nicht, die bereits mit 13 Jahren verheiratet wurden. Und auch mein jüngerer Bruder nicht, der ebenso wie ich recht früh zu einem Kaufmann erzogen wurde. Versteh mich nicht falsch, wir waren eine glückliche Familie. Ich war das Problem.“ Der Mund der 19-Jährigen verzog sich zu einer unheilvollen Linie, sie spürte ein Knurren in ihrer Kehle aufsteigen. „Was soll das heißen, das Problem?“ Sie mochte nicht, wie Cedric das betont hatte. Als würde er sich tatsächlich selbst als genau das betrachten. Ein Problem. „Meine Mutter hat meinen Vater wirklich geliebt und er sie ebenfalls. Sie passten perfekt zusammen, was zu damaligen Zeiten schon eine Seltenheit an sich war, wenn man die ganzen früh geschlossenen und arrangierten Ehen bedenkt. Meine Schwestern – zweieiige Zwillinge übrigens – konnten sich ebenfalls nicht beschweren. Mein Vater hat dafür gesorgt, dass sie in gute Familien eingeheiratet haben. Er hat sie nicht an die erstbesten Handelspartner verschachert, sondern wirklich mit dem Hintergedanken vermählt, dass es seinen Töchtern gut gehen wird. Und was meinen Bruder angeht… er war das komplette Gegenteil von mir. Er liebte unser Vermächtnis und er liebte seinen Beruf. In seinen Augen konnte mein Vater einfach nichts falsch machen.“ Er schaute sie an. „Siehst du es jetzt, Carina? Siehst du jetzt, was ich meine, wenn ich sage, dass allein ich das Problem war?“ Sie zögerte kurz, weil sie mit der Formulierung ihrer nächsten Worte haderte. „Du siehst dich als schwarzes Schaf, nicht wahr?“ „Damals tat ich das“, bestätigte er ihre Worte. Er lehnte sich mehr gegen den Rand der Wanne und schaute kurz zur Zimmerdecke herauf. „Ich glaube, es wäre leichter für mich gewesen, wenn ich eine schreckliche Familie gehabt hätte. Wenn mein Vater ein grauenhafter Mann gewesen wäre. Aber das war er nicht. Ich habe ihn geliebt. Ich habe sie alle geliebt.“ Er lächelte und schaute sie jetzt doch wieder an, als er an seine Familie dachte. „Meine Mutter. Flordelis. Sie war wunderschön. Entschieden und bestimmt in der Erziehung ihrer Kinder, aber niemals unfair. Und sie hatte diese kleine Eigenart… sie hat immer vor sich hin gesummt, wenn sie sich unbeobachtet gefühlt hat.“ Carina musste lächeln. Ob Cedric sich darüber im Klaren war, dass auch er genau das manchmal tat? „Meine Schwestern, Aleidis und Audrina. Immer zu einer Schandtat bereit, wenn sie sich sicher waren nicht dabei erwischt zu werden. Sie teilten meine Vorliebe für Süßigkeiten.“ Er lächelte, während er weiter in Erinnerungen schwelgte. „Und meinen Humor. Wir haben so viel gespielt und gelacht, als die beiden noch Kleinkinder waren.“ In Carinas Kopf entstand ein Bild. Zwei kleine Mädchen, an Cedrics Beinen hängend, während alle drei zusammen lachten. „Dann war da mein Vater. Godric. Stolz und hochgewachsen und mit so viel Intelligenz gesegnet, wie es früher selten der Fall war. Sein einziger Schwachpunkt war, dass er eine ganz genaue Vorstellung von seinem Leben hatte und sich davon nicht abbringen ließ, nicht mal um einen einzigen Zentimeter. Allerdings würden wohl viele sagen, dass genau das auch eine Stärke sein kann. Er wusste immer, was er wollte.“ „Vielleicht. Aber ohne je etwas Neues auszuprobieren, schränkt man sich auch in gewisser Weise ein. Es ist kein Raum da für Wachstum“, warf Carina sanft ein. Cedric warf ihr einen dankbaren Blick zu und sie drückte seine Hand ein weiteres Mal. Immer noch konnte sie spüren, dass dieses Gespräch ihm einiges abverlangte und sie befanden sich gerade erst einmal am Anfang. Zu seinem Selbstmord waren sie noch gar nicht gekommen. Er holte erneut Luft und fuhr dann fort. „Und mein Bruder. Magnus. Ein kleines Genie und ausgestattet mit einer Mischung der besten Eigenschaften unserer Eltern. Schön wie unsere Mutter und begabt wie unser Vater. Sein ganzer Stolz.“ Der Silberhaarige verbarg es gut, aber Carina konnte dennoch die Verbitterung in seinen Worten hören. Das stumme Ich hätte derjenige sein sollen. Carina konnte nicht anders, sie fühlte Wut gegen Cedrics Vater in sich aufsteigen. Kein Elternteil sollte seinem Kind jemals das Gefühl geben nur zweite Wahl zu sein. Oder gar die Geschwister bevorzugen. „Ich war eifersüchtig“, gab Cedric nun ganz offen zu. „Ich fragte mich ständig, warum alle in meiner Familie genau das bekamen, was sie wollten, während ich leer ausging.“ „Was wolltest du?“, fragte sie interessiert nach und der Bestatter lachte, beinahe ein wenig peinlich berührt. „Ich wollte dem Ritterorden beitreten.“ Carina blinzelte. „Du wolltest ein Ritter werden?“, fragte sie nach, als ob sie ihn nicht richtig verstanden hätte. Als er nickte, schwieg sie einen Moment. Dann breitete sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht aus und sie presste sich die Handfläche gegen den Mund, um ein Lachen zu unterdrücken. „Was?“, neckte der Todesgott sie. „Ich weiß nicht“, gab sie zurück. „Irgendwie… irgendwie finde ich, das passt zu dir.“ Sie konnte es sich jedenfalls tausendmal eher vorstellen als die Kaufmann Geschichte. Wenn man von einigen der ritterlichen Tugenden mal absah. Wie beispielsweise Mäßig- und Frömmigkeit. „Es war damals eine Ehre dem Orden beizutreten. Ritter wurden im ganzen Land geachtet und bewundert. Ich konnte zudem gut mit einem Schwert umgehen, was meinem Wunsch nur zugutekam, aber vor allen Dingen wollte ich reisen. Ich wollte die Welt sehen. Menschen helfen. Ich wollte Gutes tun. Und seien wir ehrlich, ein Kaufmann zu sein ist das genaue Gegenteil davon.“ Er seufzte. „Wie ich bereits sagte, mein Vater hatte feste Vorstellungen und ich habe mich dem gefügt. Aber glaube nicht, dass ich das gerne getan habe. Ich habe mich nicht wie der Vorzeigesohn verhalten.“ „Das klingt doch schon viel eher nach dir“, sagte Carina, woraufhin er ihr einen belustigten Blick zuwarf. „Und, was hast du getan?“ Der Bestatter kicherte. „Sagen wir, ich hatte eine rebellische Phase. Eine sehr lange rebellische Phase.“ „Ja?“, blieb Carina dran, der nicht entgangen war, dass er sich vor der Antwort drückte. „Zuerst waren es kleinere Dinge. Hier und da zu spät zu einer Ratsbesprechung erscheinen, Zahlenfehler in den Aufstellungen, unschöne Formulierungen in Briefen und Verträgen… Insgeheim hatte ich die Hoffnung, dass mein Vater irgendwann nachgeben und einfach Magnus zu seinem Nachfolger bestimmen würde, während ich dann endlich mehr Freiheiten bekäme. Als das nicht passierte… nun ja… sagen wir, ich wurde ein wenig dreister in meinem Tun.“ Carina hob lediglich fragend eine Augenbraue. Cedrics Lächeln verrutschte ein wenig und wirkte nun beinahe eine Spur… verlegen? „Weißt du, ich war jung… und wir hatten ein großes Anwesen… und wirklich viele Kammerzofen und Hausmädchen in meinem Alter…“ Cedric beendete seinen Satz nicht, aber bei Carina fiel der Groschen dennoch. Und zwar laut. Natürlich, sie hatte nicht erwartet, dass er sein menschliches Leben lang keuch geblieben war. Aber dass er seine – und Carina fiel an dieser Stelle wirklich kein besseres Wort ein – Gespielinnen scheinbar nicht mal mehr an zwei Händen abzählen konnte, das überraschte sie dann doch. Sie war nicht wirklich eifersüchtig, immerhin lag das alles mehrere Jahrhunderte zurück, aber ein Anflug von Missbilligung verspürte sie dennoch. Mit weiterhin erhobenen Augenbrauen sah sie ihn an. „Du hast eure weibliche Dienerschaft beglückt, um deinem Vater eins auszuwischen?“, fragte sie trocken und der Silberhaarige kannte sie mittlerweile gut genug, um den verurteilenden Unterton in ihrer Stimme wahrzunehmen. Er spürte, wie sich seine Wangen leicht röteten. Etwas, was ihm seit Jahrzehnten nicht mehr passiert war. „Ich will nicht bestreiten, dass das eine schöne Nebenerscheinung des Ganzen war, aber das war nicht der Hauptgrund. Also, ich meine… ich sagte doch bereits, ich war jung!“ Das ihm das Thema so ganz offensichtlich unangenehm war, schien Carinas Laune beträchtlich zu heben, denn jetzt lächelte sie wieder. „Mit anderen Worten: Du warst ein typischer Junge, der seine Hormone nicht im Griff hatte und wolltest dir die Hörner abstoßen, ja?“ „Schon möglich“, meinte er und stellte just in diesem Moment fest, dass er mit seinem jugendlichen Ich nicht mehr wirklich viel gemein hatte. „Was glaubst du wohl, warum ich nicht verheiratet war? Solche Eskapaden sprachen sich damals noch schneller rum als heutzutage und nicht mal der gute Einfluss meines Vaters konnte daran etwas ändern. Nicht, dass mir das etwas ausgemacht hätte. Damals hatte ich vieles vor, aber eine feste Beziehung gehörte ganz eindeutig nicht dazu.“ Carina grinste verschmitzt. „Dann kann ich ja froh sein, dass sich das mittlerweile geändert hat, nicht wahr?“ „Hehe“, grinste nun auch der Undertaker wieder. „Meine Eltern hätten dich vergöttert. Ich kann sie beinahe reden hören. Endlich mal eine Frau, die unseren aufmüpfigen Sohn in den Griff bekommt.“ Die Schnitterin versuchte ihre Überraschung und das damit einhergehende Glücksgefühl zu verbergen, das bei diesen Worten in ihr aufstieg. Er dachte wirklich, dass sie ihn in den Griff bekam? So empfand er das? Oft hatte sie nämlich selbst überhaupt nicht das Gefühl. Umso mehr freute es sie daher, dass er das jetzt so deutlich sagte. Dennoch versuchte sie wieder zum eigentlichen Thema zurückzukommen. „Okay, du hast alles versucht, um deinen Vater von deiner Unfähigkeit zu überzeugen. Und dann?“ „Er war natürlich zornig. Und enttäuscht. Aber er ist nicht von seiner Meinung abgewichen. Es war nun einmal Tradition, dass der Erstgeborene in seine Fußstapfen tritt und er würde garantiert nicht der Erste in unserer Familie sein, der das änderte.“ Er lachte trocken auf. „Jetzt weißt du, woher ich meinen Dickkopf habe. Meine ganze Familie hat ständig auf mich eingeredet, ganz besonders Magnus. Siehst du nicht, was für eine unglaublich große Chance dir in die Wiege gelegt wurde, Bruder? Ich würde alles tun, um mit dir zu tauschen. Tja, es war unser typisches Streitthema. Denn genauso sehr hätte ich alles getan, um mit ihm zu tauschen. Der zweite Sohn zu sein und die Freiheit zu haben, über mich selbst zu bestimmen. Ich wollte nicht nachgeben.“ Er seufzte bekümmert. „Aber Carina… die Jahre vergingen und dennoch blieb alles beim Alten. Ich tat, was mein Vater von mir verlangte und tat gleichzeitig auch nicht das, was er von mir verlangte. Es war ein elender Teufelskreis.“ Der Bestatter schwieg einige Sekunden lang und sagte dann schließlich: „Ich war kurz davor nachzugeben, weißt du? Es einfach zu akzeptieren. Irgendwann geht auch dem stärksten Kämpfer die Kraft aus. Und ich wollte nicht mehr kämpfen, Carina. Ich hatte es so satt.“ Er strich mit seinem Daumen an der langen Narbe entlang, die sich über seine Kehle erstreckte. „Aber bevor ich einlenken konnte, war er auch schon gekommen. Mein Todestag.“ „Der Tag, an dem du zu einem Todesgott wurdest“, korrigierte Carina ihn sanft. Cedric war nicht tot und sie wollte ihn sich auch nicht tot vorstellen. Ihn nur von seinem Tod erzählen zu hören, bescherte ihr bereits ein unangenehm flaues Gefühl in der Magengegend. „Ja“, gab er zurück und nickte. „Der Tag, an dem ich mich selbst ins Unglück stürzte.“ „Was ist passiert?“, fragte die Schnitterin leise und umfasste seine Hand jetzt wieder fester. „Weißt du noch, als ich zu Anfang unseres Gespräches sagte, dass damals noch vieles unberührt von den Menschen war? Das war auch gleichzeitig etwas, was viele Konflikte hervorgerufen hat. Von den Kreuzzügen des Ritterordens mal abgesehen, gab es zahllose Streitigkeiten mit benachbarten Adelshäusern um ganze Ländereien, die noch nicht besiedelt oder bebaut waren. Nicht zu vergessen die Banditen, die umherzogen und den Sklavenhandel, der damals in England weit verbreitet war. Mit anderen Worten: Es war damals nicht ganz ungefährlich die Stadt zu verlassen.“ „Aber das hast du scheinbar getan?“, fragte Carina, die zwischen den Zeilen las. „Ja, weil ich musste“, seufzte der Undertaker. „In einer kleinen Stadt, nicht weit von meiner Heimat entfernt, gab es ein jährliches Treffen der hochrangigeren Kaufmänner in der Gegend. Dort wurden Entwicklungen besprochen, neue Kontakte geknüpft, Geschäfte ausgehandelt und noch vieles andere, was ich nach wie vor furchtbar langweilig und ermüdend finde. Normalerweise nahm mein Vater immer daran teil, aber er wurde nun einmal auch nicht jünger und es waren immerhin drei Tagesritte, die man auf sich nehmen musste. Daher hat er dieses Mal mich geschickt. Sicherlich auch, weil er die Hoffnung hatte, dass ich mich für so ein großes Ereignis endlich mal zusammenreißen würde.“ Carina spürte, wie sich ihr Pulsschlag beschleunigte. Sie wusste, dass sie nun langsam zu dem Teil der Geschichte kamen, der jedem Todesgott besonders schwer fiel. „Ich muss gestehen, dass ich mich selbst auch ein wenig über diese Reise gefreut habe. Endlich mal was anderes sehen als immer nur die gleiche Stadt, die gleichen Menschen, die gleichen langweiligen Vorschriften. Also folgte ich seinem Befehl ohne mich zu beschweren. Ich kleidete mich in meine besten Sachen, stieg auf mein Pferd und verließ ohne zu murren mit einem Teil der Stadtwache die sicheren Mauern meiner Heimat. Und ab dann…“, er stieß einen schweren Atemzug aus, „ab dann ging einfach alles schief.“ Es brauchte nicht viel Vorstellungsvermögen, um darauf zu kommen was wohl als nächstes passiert war. Immerhin hatte Cedric gerade eben erst erwähnt, wie gefährlich es zu damaligen Zeiten gewesen war. „Ihr wurdet überfallen?“ Er nickte. „Richtig. Eine kleine Gruppe von Banditen, die damals recht bekannt dafür war ihre Opfer entweder zu töten oder an Sklavenhändler zu verkaufen, kreuzte unseren Weg. Wir waren noch keinen ganzen Tag unterwegs.“ Obwohl das Wasser noch relativ warm war, bildete sich auf seinen Armen eine Gänsehaut, als er sich an das Geschehene von damals zurückerinnerte. „Das einzig Positive an der ganzen Sache war, dass es schnell ging. Ehe ich mich versah, waren meine Wachen tot und ich wurde verschnürt wie ein Paket davongetragen.“ Carina gefiel weder der Gedanke, noch die Vorstellung. Für sie war der Silberhaarige beinahe unantastbar. Ihn sich so hilflos vorzustellen, überstieg ihren Horizont. „Wie ich jedoch sehr bald feststellen sollte, steckte hinter diesem Überfall weitaus mehr, als nur eine einfache Entführung.“ Der Deutschen ging ein Licht auf. „Stimmt. Warum sollten sie alle töten, aber ausgerechnet dich am Leben lassen?“, murmelte sie und verstand es noch im gleichen Moment. „Dein Vater…“ Er nickte erneut. „Jeder in der Gegend wusste, wer mein Vater war. Vor allen Dingen aber wusste jeder, wie reich er war. Natürlich wollten sie Geld. Und zwar eine stattliche Menge. Sie schnitten mir eine Haarsträhne ab, legten sie einem Brief bei und schickten diesen, zusammen mit einem der Köpfe meiner Leibgarde, in die Stadt zurück. Sollte das Geld nicht bis zum Sonnenuntergang des nächsten Tages an einer bestimmten Stelle deponiert worden sein, würde mein Kopf der nächste sein, den sie in Händen halten würden.“ Der Blick der Schnitterin glitt zu der Narbe an seinem Hals. Hätte sie es nicht besser gewusst, wäre sie glatt davon ausgegangen, dass die Banditen ihre Drohung wahrgemacht hatten. Aber Cedric war nun einmal unbestreitbar ein Todesgott. Es konnte faktisch nur auf eine Todesursache hinauslaufen und das war nun einmal Selbstmord. Ein furchtbarer Verdacht keimte in ihr auf. Hatte er… Hatte sein Vater etwa… Nein! Das konnte er nicht getan haben! Cedric lächelte das traurigste Lächeln, das Carina jemals an ihm gesehen hatte. „Du weißt es“, bestätigte er das, was in ihrem Gesicht klar und deutlich zu lesen war. „Du weißt, wie die ganze Sache ausgegangen ist.“ Sie schluckte einmal hart, um sich die Kehle zu befeuchten. Dennoch klang ihre Stimme kratzig, als sie endlich den Mund öffnete und ihre Vermutung in den Raum warf. Oder eher die grausame Feststellung. „Dein Vater hat dich im Stich gelassen?“ Sie hätte es anders sagen können. Dein Vater hat das Geld nicht bezahlt oder Dein Vater hat sich nicht auf der Erpressung eingelassen oder Dein Vater hat dich zum Sterben verdammt. Aber unterm Strich kam es immer auf das Gleiche hinaus. Er hatte ihn im Stich gelassen. Seinen eigenen Sohn. Als Cedric bestätigend nickte, fügte es Carina beinahe körperliche Schmerzen zu. Wie? Wie konnte ein Elternteil nur so etwas tun? Sie selbst hatte Lily ab der Sekunde an geliebt, in der sie ihre Schwangerschaft wirklich richtig realisiert hatte. Und als sie dann endlich auf der Welt gewesen war… nichts konnte die Liebe beschreiben, die man für sein eigenes Kind empfand. Wie also, zum Teufel, hatte Godric Rosewell seinen erstgeborenen Sohn einfach so den Wölfen zum Fraß vorwerfen können? „Weißt du, was das Schlimmste war?“, fuhr Cedric fort, klare Verbitterung in seinen Worten. „Ich hatte keine Zweifel. Die ganze Nacht und den ganzen darauffolgenden Tag in Gefangenschaft habe ich keine einzige Sekunde daran gezweifelt, dass das Geld kommen würde. Ich war sein erstgeborener Sohn, sein Erbe. Natürlich würde er alles in Bewegung setzen, um mich sicher und heil wieder zurück nach Hause zu bringen.“ Sein Blick wurde dunkel. „Aber dann vergingen die Stunden. Es wurde Mittag, dann Nachmittag, früher Abend und immer noch kein einziges Anzeichen von jemandem aus meiner Heimat. Als die Sonne schon halb untergegangen war, da erst kamen bei mir die ersten Zweifel.“ Er schüttelte über sich selbst den Kopf, als könnte er bis heute nicht glauben, wie dumm er damals gewesen war. „Plötzlich waren da ganz andere Gedanken in meinem Kopf. Es war wie eine Stimme, die mir leise ins Ohr flüsterte. Was, wenn das die perfekte Gelegenheit für ihn ist dich endlich loszuwerden? Du bist ein Nichtsnutz; warst nie der Erbe, den er sich für sein Imperium gewünscht hat. Warum sollte er für so jemanden wie dich einen Großteil seines heiß geliebten Vermögens opfern, wenn er stattdessen endlich mit dir abschließen und Magnus zum neuen Erben ernennen kann?“ Carina schluckte und spürte gegen ihren Willen brennende Tränen in ihren Augenwinkeln aufsteigen. Dieser Schmerz saß tief. So tief, dass sie instinktiv wusste, dass Cedric ihn noch genauso intensiv wie am allerersten Tag spüren konnte. Erneut wünschte sie sich ihn niemals darauf angesprochen zu haben, denn dann musste er seine Vergangenheit jetzt nicht noch einmal durchleben. Es gab nun einmal manche Dinge, die am besten nie wieder angesprochen werden sollten und das war mit hundertprozentiger Sicherheit eines davon. „An diesem Tag fand ich heraus, wie stark Hoffnung sein kann. Denn als der letzte Sonnenstrahl verschwand und ich eben diese Hoffnung verlor, da passierte weitaus mehr in mir, als sich so manch einer vorstellen kann. Es veränderte mich. Es offenbarte eine Seite in mir, die ich bisher nicht kannte. Und von der ich bis zum heutigen Tag nicht weiß, ob ich sie überhaupt mag.“ Die 19-Jährige wusste, wovon er sprach. Von der Seite, die Menschen in Frage stellte. Die Seite, die sich hinter dem ganzen Kichern und Lachen und kindlichen Scherzen verbarg. Die Gefahr; das Dunkle, das unter der Oberfläche lauerte. „Sie diskutierten lange untereinander, was sie mit mir machen würden“, fuhr er fort. „Einige wollten ihre Drohung wahr machen und mir aus Wut den Kopf abschlagen. Andere meinten, dass sie trotzdem noch versuchen wollten durch mich an Geld zu kommen, indem sie mich verkauften. Ich konnte lesen und schreiben, war jung und gesund… so etwas bekam man damals nicht häufig. Mit Sicherheit würden sie schnell jemanden finden, der mich ihnen abnehmen würde.“ Er sagte das so neutral, als würde er nicht über sich selbst, sondern über irgendein Tier sprechen, das zum Verkauf stand. Carina wurde übel. „Aber das hast du nicht zugelassen“, flüsterte sie und verstand endlich, endlich den Zusammenhang. „Nein“, antwortete er und lächelte selbstzufrieden. „Habe ich nicht.“ Er ließ ihre Hand los und fuhr sich mit den Fingern einmal über die Stirn, um sich ein paar lästige Haarsträhnen wegzustreichen. „Da es schon dunkel war, wollten sie erst am nächsten Morgen aufbrechen. Ich lag die ganze Nacht gefesselt vor einem ihrer Zelte und malte mir die schlimmsten Horrorszenarien aus. Mein Zuhause war zwar ein goldener Käfig gewesen, aber das alles würde verblassen im Vergleich zu dem, was mir bevorstand. Wenn man erst einmal ein Sklave war, kam man da nie wieder raus. Meine Freiheit wäre für immer Geschichte gewesen und dabei war es doch genau das, wonach ich mich immer so sehr gesehnt hatte.“ Er pausierte kurz, um tief Luft zu holen. „Und gleichzeitig wusste ich, dass ich meine Familie nie wieder sehen würde. Obwohl sie mich verraten hatten, wollte ich nichts anderes, als sie noch ein letztes Mal zu sehen. Und sei es auch nur, um nach dem Warum zu fragen. Warum hatten sie mich bei der erstbesten Gelegenheit aufgegeben? Warum war ihnen das Geld schlussendlich wichtiger als ich?“ Er schwieg erneut für einige Sekunden. „Und dann wurde es mir bewusst. Ich war allein. Es gab niemanden mehr, der sich um mich scherte. Was machte es schon für einen Unterschied, ob ich lebte oder eben nicht?“ Jetzt grinste er und da war sie. Seine dunkle Seite. „Ich wollte verdammt sein, wenn ich diesen Männern gab, was sie wollten. Wenn ich schon nicht im Leben frei sein konnte, dann wollte ich es zumindest im Tod sein. Also wartete ich ab, leistete keinen Widerstand und hoffte auf eine Gelegenheit, die auch schon recht bald kam. Während sie auf Pferden unterwegs waren, musste ich an den Handgelenken gefesselt hinter ihnen her stolpern. Aber der Reiter vor mir trug an seinem Gürtel ein Messer.“ Er kicherte kurz. „Niemand konnte behaupten, dass diese Idioten schlau waren. Hätte ich den Mann töten wollen, hätte ich es tun können. Stattdessen aber nutzte ich meine Chance. Ich sprintete am Pferd vorbei, riss das Messer aus seiner Scheide und umklammerte es mit beiden Händen, um es nicht versehentlich fallen zu lassen. Bevor auch nur einer dieser Schwachköpfe irgendetwas unternehmen konnte, trieb ich mir die Klinge einmal quer über die Kehle. Und mehr hat es auch nicht gebraucht.“ Das war Carina mehr als klar. Die Haut am Hals war dünn, wenn man den Kopf nach hinten lehnte und außerdem äußerst empfindlich. Vermutlich hatte er nicht einmal großartig Kraft aufbringen müssen, um das Blut fließen zu lassen. Wobei fließen hier vielleicht das falsche Wort war. Die Schnitterin hatte dank ihres Berufs bereits gesehen, wie es aussah, wenn jemandem die Kehle aufgeschlitzt wurde. Eine Sekunde lag passierte gefühlt gar nichts. Doch wenn sich der Schnitt dann bildete, sprudelte die lebensnotwendige Flüssigkeit geradezu nur so über. Es war weitaus weniger blutig, wenn man den Kopf direkt im Ganzen abtrennte. „Gerade dir muss ich wohl nicht erklären, wie sich die letzten paar Sekunden meines menschlichen Lebens angefühlt haben“, sagte Cedric neutral und Carina schüttelte den Kopf. Nein, das musste er nicht. Wie sie es bereits Emma erzählt hatte, konnte sie sich noch sehr genau an den schnellen Blutverlust und die entsprechenden Nebenwirkungen ihres eigenen Selbstmords erinnern. Die Kälte. Die Kraftlosigkeit. Die kleinen, wild flackernden Punkte in ihrem Sichtfeld. Die erlösende Dunkelheit. Cedric lachte urplötzlich schallend auf. Die 19-Jährige starrte ihn irritiert an. Hatte sie was verpasst? Der Todesgott bekam sich eine ganze halbe Minute lang gar nicht mehr ein, ehe er schließlich doch endlich die Worte fand, die so für seine Belustigung sorgten. „Stell dir meinen Gesichtsausdruck vor, als ich nach meinem Selbstmord erfuhr, dass ich mich gerade in den nächsten Käfig hinein katapultiert hatte und zwar für alle Ewigkeit. Das war vielleicht ein Spaß.“ Er lachte fröhlich weiter, aber Carina war klar, dass er es damals wohl alles andere als witzig gefunden hatte. Dieses Lachen hier war seine Art darüber hinwegzutäuschen. Aber jetzt verstand sie es. Alles ergab nun endlich einen Sinn, das Puzzle war vollständig. Warum er im Dispatch lieber unter einer Nummer gelebt hatte, als unter seinem richtigen Namen. Den Namen, dem seine Familie ihm gegeben hatte. Warum er sich immer so zurückgezogen hatte, sich für niemand anderen interessiert hatte. Die furchtbare Angst davor, erneut verletzt zu werden. Warum er sich in seine Arbeit als Schnitter gestürzt hatte, als würde sein Leben davon abhängen. Um all das zu vergessen, was ihm passiert war. Um nicht daran denken zu müssen. Und schlussendlich natürlich, warum er alles dafür getan hatte dem Dispatch zu entfliehen. Um auch endlich den letzten Käfig hinter sich zu lassen, der ihn hatte fesseln wollen. Carina hätte nicht gedacht, dass sie ihn noch mehr lieben könnte, aber genau das tat sie. Unendliche Zuneigung durchströmte in diesem Moment jede Faser ihres Körpers, als sie daran dachte, dass dieser Mann zu ihr gehörte. Dieser unglaubliche, faszinierende Mann. „Wir sind uns so ähnlich, was unser selbstbestimmtes Ende angeht“, meinte sie plötzlich und zuckte einmal sachte mit beiden Schultern, als der Silberhaarige ihr einen fragenden Blick zuwarf. „Beide haben wir den Tod gewählt, um etwas zu entkommen, was wir für schlimmer gehalten haben. Nicht, weil wir sterben wollten, sondern weil uns die Umstände dazu gebracht haben.“ „Ja“, nickte Cedric und lächelte melancholisch. „Vielleicht verstehst du jetzt, warum es mir damals am Weston College so wichtig war dir zu zeigen, dass du dich nicht schämen musst für das, was dir passiert ist.“ „Ich erinnere mich“, erwiderte sie und spürte, wie ihr Herz schneller pochte, als sie an die Anfänge ihrer Beziehung dachte. Cedric mochte damals viele Fehler gemacht haben, aber er hatte ihr nie das Gefühl gegeben in der Hinsicht auf ihren Tod etwas falsch gemacht zu haben. Im Gegenteil, er hatte ihr dabei geholfen diese Seite an sich zu akzeptieren. Das würde sie ihm nie vergessen. „Du hast vorhin gesagt, dass du damals gedacht hast, dass du das Problem in deiner Familie warst“, sagte sie vorsichtig, schaute ihn aber gleichzeitig bittend an. „Aber heute nicht mehr, oder? Sag mir, dass du das heute nicht mehr so siehst.“ „Nein, jetzt nicht mehr“, gab er zu. „Aber es hat mich viel Zeit gekostet. Jahrhunderte.“ „Es tut mir so leid“, murmelte sie. „Es tut mir so leid, dass dir das passiert ist.“ Cedric lächelte erneut, doch dieses Mal erreichte es endlich seine gelbgrünen Augen. „Das ist inzwischen so lange her, Carina. Versteh mich nicht falsch, es wird immer ein Teil von mir sein, aber… ich habe das alles hinter mir gelassen. Und jetzt bin ich nicht mehr allein. Ich habe dich und Lily. Das ist alles, was jetzt noch für mich wichtig ist.“ Carina schluckte, als sie unwillkürlich spürte, wie ihre Augenwinkel anfingen zu brennen. In einer fließenden Bewegung rutschte sie zu ihm herüber, neigte ihr Gesicht dem seinen entgegen und küsste ihn mit all der Hingabe, die sie in diesem Moment für ihn aufbringen konnte. „Gott, ich liebe dich, Cedric“, wisperte sie gegen seine Lippen und küsste ihn gleich darauf erneut, während er sie nun komplett auf seinen Schoß zog. Seine Hände legten sich um ihre Hüfte und behielten sie an Ort und Stelle, während beide Todesgötter noch nicht dazu bereit waren sich wieder voneinander zu lösen. Der Silberhaarige stöhnte sachte gegen ihre Lippen, als sich ihr nackter Oberkörper gegen seinen schmiegte und gleich darauf spürte Carina, wie sich unter ihr etwas regte. Mit einem schelmischen Grinsen ließ sie nun doch von seinem Mund ab. „Na, was meinst du?“, fragte sie und hob herausfordernd eine Augenbraue. „Lust auf eine kleine Eskapade?“ Der Bestatter grinste nun ebenfalls und musste sich das Lachen verkneifen, als er ihre Anspielung verstand. „Das lässt du mich nicht mehr vergessen, oder? Dass ich mir „die Hörner abstoßen wollte“, oder wie hast du es noch mal genannt?“ Carinas Augen funkelten vergnügt. „Apropos stoßen“, sagte sie und jetzt konnte Cedric nicht anders. Er prustete lauthals los, was aber dann relativ zügig in ein Keuchen überging, als die 19-Jährige ihr Becken senkte und gegen seine Erektion stieß. „Du bist unglaublich“, japste er und vergrub sein Gesicht in ihrer Halsbeuge, um in die dort empfindliche Haut zu beißen. Die junge Frau schloss genießend die Augen. „Sagt gerade der Richtige“, murmelte sie zurück und konzentrierte sich jetzt voll und ganz auf das köstliche Ziehen in ihrem Unterleib, das durch die einfache Reibung ihrer beiden Körper verursacht wurde. Und dieses Ziehen wurde nur noch stärker, als seine rechte Hand von ihrer Hüfte verschwand und im nächsten Augenblick zwischen ihren Schenkeln wieder auftauchte. „Hng“, entfloh es ihr gepresst, als seine langen, schlanken Finger problemlos in sie eintauchten. Automatisch drückte die Blondine den Rücken durch, sodass das Badewasser gefährlich nahe an den Rand der Wanne schwappte. „Du weißt aber schon, wo wir uns hier befinden, hmm?“, murmelte er dicht an ihrem Ohr und bewegte seine Hand in einem quälend langsamen Rhythmus vor und zurück. „Er wird uns hören können.“ Carina warf ihm einen Blick zu und zog sich gleich darauf enger um seine Finger zusammen, was nun ihn eine Augenbraue heben ließ. Erregte sie die Vorstellung etwa? „Na und?“, keuchte sie genau in diesem Moment und drückte sich enger an ihn heran, um ihre Brüste aufreizend gegen seine Brustwarzen zu reiben. Er unterdrückte ein Stöhnen. „Müsste es dem Teufel nicht gefallen uns beim Sündigen zuzuhören?“ Sie küsste ihn erneut. „Halt dich bloß nicht zurück, Cedric. Solange er nicht hier reingestürmt kommt, ist mir alles andere egal“, hauchte sie und biss ihm in die Unterlippe. Das hier war vielleicht ihre letzte gemeinsame Nacht. Und das würde sie sich von keinem nehmen lassen, nicht einmal von Sebastian. Seine phosphoreszierenden Augen verdunkelten sich und keine Sekunde später zog er bereits seine Finger zurück, um sie gleich darauf durch seine Erektion zu ersetzen. Carina entfuhr ein heiserer Laut, als er ohne Pause in sie eindrang, sie direkt ausfüllte und nahe an die Grenze zwischen Schmerz und Lust brachte. Er stieß nach oben, tiefer in sie hinein und dieses Mal schwappte tatsächlich eine großzügige Menge des Wassers über den Rand. Aber keiner der beiden schenkte diesem Umstand große Beachtung, waren sie doch zurzeit viel mehr mit sich selbst beschäftigt. Wie von selbst begann die Schnitterin ihr Becken zu bewegen und musste sich auf die Unterlippe beißen, um nicht die Aufmerksamkeit des gesamten Haushaltes auf sich zu ziehen. Egal, wie oft sie mit Cedric schlief und ganz egal, wo sie es taten und wie sie es taten… Sie fühlte in diesen Momenten immer genau das, was sie auch gefühlt hatte, als sie das erste Mal miteinander geschlafen hatten; damals in dieser Ballnacht am Weston College. Seine Nähe, diese Intimität, das Vertrauen zwischen ihnen veränderte sich nicht. Ihre Blicke kreuzten sich, als er einen besonders empfindlichen Punkt in ihrem Inneren traf. Ein Wimmern trat über ihre Lippen. „Da?“, murmelte er sanft und wartete ihr Nicken gar nicht erst ab, ehe er genau im gleichen Winkel erneut zustieß. Ihre Fingernägel gruben sich in seine nassen Schultern und sie kam ihm entgegen, dachte gar nicht daran diesen Akt unnötig in die Länge zu ziehen. Cedric scheinbar auch nicht. Carina zuckte am ganzen Körper zusammen, als sich sein Mund wie aus heiterem Himmel um ihre Brustwarze schloss. Fest, aber nicht schmerzhaft. „Wenn wir so weiter machen, ist gleich kein Wasser mehr in der Wanne“, keuchte sie und wie auf Kommando hörten sie erneut das Aufklatschen besagter Flüssigkeit auf dem Badezimmerboden. „Und wenn schon“, raunte er ihr entgegen und zwang sie weiter nach unten auf sein Glied, das mittlerweile im Takt seiner Stöße in ihr pulsierte. „Hier liegen doch genug Badetücher herum.“ Carina lachte atemlos auf, zog seinen Kopf zu sich hoch und drückte ihre Lippen ein weiteres Mal auf seine, während ihre linke Hand sich nun haltesuchend an den Badewannenrand festklammerte. Inzwischen spürte sie das anstrengende Ziehen in ihren Oberschenkel bei jeder Bewegung, was vor allem daran lag, dass sie in diesem Behältnis nun einmal nicht unendlich viel Platz hatten. So ein Bett bot da schon ganz andere Möglichkeiten… „Cedric“, ächzte sie und ließ es sogleich zu, dass er nun vollkommen die Kontrolle übernahm. Sein Rhythmus wurde schneller; gleichzeitig spürte sie, wie sich seine rechte Hand von ihrer Hüfte löste und es dauerte maximal einen Wimpernschlag, da spürte die Schnitterin seinen Daumen an ihrer Klitoris. Reflexartig klammerte sie ihre Beine enger um seinen Unterkörper und stöhnte nun doch lauter, als sie es ursprünglich beabsichtigt hatte. Doch es hätte sie in diesem Augenblick nicht weniger kümmern können. Stattdessen ließ sie sich auf das intensive Zucken ihrer Muskeln ein, lehnte ihre Stirn gegen seine und versuchte die Augen offen zu halten, während der Orgasmus sie überrollte. Der Bestatter knurrte, als sie sich beinahe schon schmerzhaft eng um ihn zusammenzog, sein Glied massierte und ihre Hitze sich um ihn schloss. Aber was ihn wirklich über die Klippe stürzen ließ, waren ihre geweiteten Pupillen, die ihn während ihres ganzen Höhepunktes hinweg anstarrten. Er stöhnte rau und gab dem Druck in seinen Lenden endlich nach. Carina spürte, wie seine Erektion tief in ihr zuckte und dann die Wärme, als er in ihr kam. Sie keuchte und schloss nun doch die Augen, um sich mehr auf das Gefühl zu konzentrieren, das er ihr schenkte. Doch auch lange, nachdem sie beide wieder ihre Sinne vollkommen beisammen hatten, machten sie keine Anstalten sich zu bewegen. Wenn es nach ihr gegangen wäre, dann hätte Carina das auch weiterhin nicht getan, aber langsam wurde sie sich der Kälte des Wassers unangenehm bewusst. Na ja… von dem Rest Wasser, der sich noch in der Wanne befand. „Ich liebe dich übrigens auch“, räusperte sich Cedric plötzlich und die 19-Jährige brauchte einige Sekunden, um sich daran zu erinnern was sie vor dieser kleinen Eskapade zu ihm gesagt hatte. „Ich weiß“, murmelte sie vergnügt und drückte ihm einen langen Kuss auf die Wange. „Dass du mir deine Geschichte erzählt hast… ich glaube, das war der größte Liebesbeweis, den du mir je gemacht hast.“ Er grinste und zuckte einmal mit den Schultern, tat es als kleine Geste ab. Aber Carina wusste genau, wie viel es ihn gekostet hatte seine Vergangenheit noch einmal Revue passieren zu lassen. „Ich mag sie“, sagte sie einige Sekunden später plötzlich, nachdem sie beide die Badewanne verlassen und sich in warme Badetücher gewickelt hatten. Der Silberhaarige kräuselte irritiert die Stirn, doch da fuhr sie bereits fort. „Diese besagte Seite an dir.“ Ungläubig starrte er sie an. Meinte sie das ernst? „Sie gehört nun einmal zu dir. Und sie hat dich zu dem Mann gemacht, der du heute bist. Wir alle haben Seiten an uns, die wir nicht besonders mögen. Aber sie machen uns aus.“ Ihr Lächeln wurde breiter und sie legte ihm sanft eine Hand auf die Brust. „Und das ist genau der Mann, in den ich mich verliebt habe.“ Der Todesgott musste auf einmal schwer schlucken, seine Kehle fühlte sich wie ausgetrocknet an. Er schaute sie an, diese wunderschöne Frau, die Mutter seiner Tochter, seine Carina. Und er hörte Grells Worte in seinem Kopf. „Du wirst sie erst fragen, wenn ich mir etwas Romantisches für euch überlegt habe.“ „Tut mir leid, Grell“, ging es ihm noch durch den Kopf, ehe er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Bis auf einen. Carina blinzelte irritiert, als der Undertaker mit einer raschen Bewegung ihre Hand ergriff und sie fest drückte. Sein Blick wirkte entschlossen, als würde er sich auf etwas wappnen wollen und die Blondine wollte schon beinahe fragen, ob es ihm gut ging. Doch angesichts seiner nächsten Worte, vergaß sie alles um sich herum. Vielleicht hatte sie plötzlich einen Schlag auf den Kopf bekommen? Oder – was viel wahrscheinlicher war – vielleicht war sie auf dem nassen Badezimmerboden ausgerutscht und hatte jetzt eine Gehirnerschütterung? Denn das, was sie da gerade aus seinem Mund gehört hatte, konnte er unmöglich gesagt haben. „Kannst… kannst du das nochmal sagen?“, fragte sie matt und Cedric lächelte verlegen, als er die Worte für sie noch einmal wiederholte. „Werde meine Frau. Heirate mich, Carina.“ Kapitel 99: Seine Geschichte *zensiert* --------------------------------------- Als Carina und Grell endlich mit der zweiten Besichtigungsrunde fertig waren, verfärbte sich der Himmel draußen bereits in ein zartes Orange. „Ich muss los“, sagte Grell und schaute auf seine Uhr. „Meine Schicht endet in einer Stunde und ich muss noch 8 Seelen einsammeln.“ „Dann sehen wir uns morgen“, erwiderte Carina und klang dabei nicht gerade begeistert. Grell nahm es ihr nicht übel, auch er würde den morgigen Tag am liebsten überspringen. Und das, obwohl es ein Ball war! Er klopfte ihr zweimal auf die Schulter. „Wir kriegen das hin. Du wirst schon sehen.“ „Dein Wort in Gottes Ohr“, sagte sie, musste aber jetzt gegen ihren Willen lächeln. Mit Grell an ihrer Seite fühlte sie sich unbestreitbar sicherer. „Sorg einfach dafür, dass William und Ronald keinen Mist anstellen und auch wirklich hier auftauchen. Wir können jeden Kämpfer gebrauchen.“ „Keine Sorge, im Notfall mache ich ihnen einfach die Hölle heiß“, flötete er und ehe Carina darauf etwas erwidern konnte, schnippte er einmal spielerisch mit den Fingern und löste sich im nächsten Moment in Luft auf. Sie verdrehte die Augen. Grell und seine dramatischen Abgänge… Die Schnitterin schaute sich kurz im Eingangsbereich der Villa um, ehe sie kehrt machte und den Weg zu ihrem Zimmer einschlug. Besonders weit kam sie jedoch nicht. In der einen Sekunde herrschte noch vollkommene Stille um sie herum, in der zweiten Sekunde jedoch schlugen all ihre Sinne plötzlich lautstark Alarm. Sie wirbelte herum und musste im nächsten Moment einen Aufschrei unterdrücken, als plötzlich Sebastian vor ihr stand. Der Butler lächelte, doch Carina konnte die kurz aufflackernde Schadenfreude dahinter sehen. Sie schnaubte. „Mach das nie wieder“, sagte sie ernst und nahm ihre Hand vom Griff ihrer Death Scythe herunter, den sie aus purem Reflex heraus gepackt hatte. Sebastians Grinsen wurde breiter. „Ganz wie Ihr wünscht“, sagte er mit einer kurzen Verbeugung und Carina konnte nicht anders, als mit den Augen zu rollen. „Kann ich dir irgendwie behilflich sein, Butler?“, entgegnete sie genervt und verschränkte die Arme vor der Brust. „Das Abendessen ist fertig“, teilt er ihr mit und deutete ihr gleichzeitig an ihm zu folgen, „und da ich mir sicher war, dass ihr Probleme haben würdet den Weg zu finden-“ „Schon verstanden“, unterbrach die Schnitterin ihn und wurde prompt rot im Gesicht. Großartig, jetzt hatten sich ihre navigatorischen Fähigkeiten schon herumgesprochen… Als der Esstisch wenige Minuten später in Sichtweite kam, erfassten ihre Augen sofort Cedric, der sich direkt neben Ciel gesetzt hatte und diesem nun gut gelaunt mit seiner üblichen Gestik unterhielt. Der junge Earl wirkte alles andere als begeistert, beinahe schon eine Spur genervt. „Kein Wunder“, dachte Carina. Der Silberhaarige hatte wirklich ein Händchen dafür Leute an ihre Grenzen zu bringen, wenn er es darauf anlegte. Und scheinbar tat er genau das, denn obwohl der Tisch mindestens 5 Meter lang war hatte er sich genau neben den 14-Jährigen gesetzt. Umso weniger überraschte sie es daher, dass Ciel erleichtert aufatmete, als Sebastian und sie endlich eintraten. Der Butler führte sie zu dem anderen Stuhl neben seinem Meister, sodass sie Cedric direkt gegenüber saß. „Earl“, sagte sie ruhig, aber nicht unhöflich. „Carina“, antwortete er im gleichen Tonfall und Angesprochene konnte nicht leugnen, dass es ihr auf eine gewisse Art und Weise gefiel, dass er sie nun bei ihrem Vornamen nannte. Das machte es persönlicher. Als würden sie sich gut kennen. Was zwar nicht wirklich der Fall war, aber dennoch schien es ihr ein gutes Zeichen für die Zukunft zu sein. „Und? Konntest du Mr. Sutcliff das Anwesen ein wenig näher bringen?“, fragte der Phantomhive, während Sebastian in Richtung Küche verschwand. „Grell ist gut darin sich Räumlichkeiten einzuprägen“, sagte sie. Das „Im Gegensatz zu mir“ blieb unausgesprochen. Dennoch warf Cedric ihr einen Blick zu, der klar und deutlich zum Ausdruck brachte, dass er die nicht gesagten Worte von ihrem Gesicht ablesen konnte. „Dann dürfte für morgen ja soweit alles erledigt sein“, meinte der 14-Jährige. Carina seufzte. „Ja, zumindest was die Planung angeht. Allerdings wäre mir die Wortwahl „Dann kann ja morgen eigentlich nichts mehr schief gehen“ lieben gewesen.“ Ciel schaute sie wissend an. „Es kann immer etwas schief gehen“, erwiderte er. „Bedauerlicherweise ist das korrekt“, antwortete sie und schaute zu Cedric, als dieser einmal leise kicherte. „Gerade bei unseren Plänen“, gluckste er vergnügt und sorgte dafür, dass Ciel genervt den Blick abwandte und zu Carina schielte. Ganz so, als wollte er sie fragen, wie sie es nur mit dem Bestatter aushielt; seine gute Erziehung ihn allerdings davon abhielt so etwas laut auszusprechen. Carina musste schwer an sich halten, um nicht zu grinsen. Wenn der Junge nur wüsste, dass Cedric und er miteinander verwandt waren… „Vermutlich würde ihn das eher ins Grab bringen als sein Deal mit dem Teufel.“ Ihre Augen wanderten zu Sebastian, der in diesem Moment das Essen auftischte. Er warf den beiden Todesgöttern ein Lächeln zu, doch seine Augen blitzten kurz hämisch auf. „Ich war mir nicht ganz sicher, ob Shinigami Nahrung zu sich nehmen oder nicht, aber war bereit das Risiko einzugehen.“ „Hehe~ Wir sind nicht tot, Butler“, sagte der Undertaker grinsend und die 19-jährige Schnitterin deutete auf ihren Partner. „Habt ihr ihn denn noch nie seine Kekse essen sehen?“, fragte sie amüsiert, woraufhin Ciel und Sebastian zeitgleich laut ausatmeten und ein synchrones „Bedauerlicherweise doch“ hervorbrachten. Der Bestatter lachte herzlich, als er in all die genervten Gesichter sah. Über nichts konnte er sich so gut amüsieren wie der Kleingeist von manchen Menschen. Carina würde es vor Sebastian niemals zugeben, aber das Essen war in jeglicher Hinsicht vorzüglich. Hatte sie nicht irgendwo mal gelesen, dass Dämonen einen gänzlich anderen Geschmackssinn besaßen als Menschen? Wie hatte er dann bitteschön gelernt Speisen so gut zuzubereiten? Neugierig, wie sie nun einmal war, konnte sie sich die Frage nach Ende des Hauptgangs nicht verkneifen. „Ich habe einmal gelesen, dass Dämonen normales Essen nicht so schmecken können, wie menschliche Wesen das tun. Wie hast du es also geschafft kochen zu lernen, Teufel?“ Ciel verschluckte sich neben ihr kurz an seinem Wasser und an der nicht gerade amüsierten Miene Sebastians konnte sie sehen, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. „Übung, Erfahrung und Präzision“, antwortete er kühl. Ciel räusperte sich einmal und tupfte sich mit einer Serviette den Mund ab, um sein schadenfrohes Lächeln zu verbergen. „Glaube mir, wenn ich sage, dass es viel Übung gebraucht hat“, sagte er trocken, aber gleichzeitig amüsiert. Sebastian schenkte ihm einen unbeeindruckten, starren Blick. Carina war das nicht neu. Scheinbar konnten die beiden nicht anders, als hier und da einen Seitenhieb untereinander auszutauschen. „Wie dem auch sei“, wechselte der Butler geschickt das Thema, „alle uns möglichen Vorkehrungen wurden für morgen getroffen. Alles Restliche hängt jetzt lediglich von uns ab. Und da mein Vater sich der Tatsache, dass wir ihn bekämpfen werden, bestens bewusst ist, müssen wir auf die schlimmstmöglichen Wendungen gewappnet sein.“ „Da würden mir so einige einfallen“, murmelte Carina und legte die Gabel weg. Wäre sie nicht schon mit dem Essen fertig, wäre ihr jetzt glatt der Appetit vergangen. Sebastian warf ihr einen angespannten Blick zu. „Dann solltest du diese Gedanken schnellstmöglich aus deinem Kopf vertreiben, denn mein Vater hat ein Händchen dafür zu sehen, was in den Köpfen seiner Opfer vor sich geht. Etwas, dass ihm aus seiner Zeit als Erzengel erhalten geblieben ist.“ „Großartig“, stöhnte sie und musste unweigerlich an die Legilimentik aus den Harry Potter Büchern denken. Sie wusste noch sehr genau, welchen Schaden Voldemort mit dieser Art von Macht angerichtet hatte. Ciel schien die Vorstellung, jemand könnte in seinen Gedanken herumwühlen, ebenfalls ganz und gar nicht zu gefallen. Er schaute den einzig anderen anwesenden Aristokraten des Bösen an und sagte mit einer Spur Sarkasmus in der Stimme: „Vielleicht sollten wir dann hoffen, dass er sich zuerst mit deinem Kopf beschäftigt, Undertaker. Möglicherweise haben wir Glück und er fällt anschließend dem Wahnsinn anheim.“ „Hehe, gut möglich, Earl“, grinste Cedric und ließ den kleinen Witz sang- und klanglos über sich ergehen. „Er kann es gerne versuchen. In meinem Alter ist man zumeist auf alles vorbereitet. Und es wäre nicht das erste Mal, dass jemand versucht die Geheimnisse in meinem Kopf zu ergründen.“ Carina runzelte bei seinem letzten Satz automatisch die Stirn. Was hatte das denn nun wieder zu bedeuten? „Jeder der hier Anwesenden weiß, dass ich nur äußerst ungern Dinge dem Zufall überlasse“, ergriff Ciel erneut das Wort. „Es gehört zu den Aufgaben eines Earls für alle möglichen Gegebenheiten einen Plan zu haben. Aber hier haben wir es nun einmal mit dem Übernatürlichen zu tun. Und selbst ich habe durch die letzten Jahre begriffen, dass es in solchen Situationen nun einmal nicht immer möglich ist alles bis ins letzte Detail zu planen.“ „Und trotzdem seid Ihr noch hier, Earl“, grinste der Undertaker. Ciels Mundwinkel zuckten leicht, als er ein Lächeln unterdrückte. „Und trotzdem bin ich noch hier“, bestätigte er und schaute in die Runde. „Dieser Teufel, Erzengel oder als was auch immer er sich selbst bezeichnet wird gar nicht wissen, wie ihm geschieht. Wenn wir mit ihm fertig sind, wird ihm klar werden, dass man sich niemals ungestraft mit einem Earl Phantomhive anlegt.“ Carina wusste selbst nicht wieso, aber die Worte dieses Jungen lösten die Anspannung in ihrem Inneren ein wenig. Beinahe fühlte sie sogar so etwas wie neue Zuversicht in sich aufsteigen. „Und mit Todesgöttern ebenso wenig“, sagte sie bestimmt und stellte Blickkontakt zu Cedric her, der ihr aufmunternd zunickte. „Wir werden ihm zeigen, dass man sich den Tod nicht einfach so zu Eigen machen kann. Und ich werde ihm zeigen, dass man mit mir keine Spielchen spielt; ganz besonders dann nicht, wenn es um die Menschen geht, die ich liebe“, beendete sie ihre kleine Ansprache und dachte, wie so häufig, an Alice. Dafür würde er bezahlen. Egal, wie das Ganze auch ausgehen würde, dafür würde sie ihn bluten lassen. Cedric verzog die Lippen zu einem geschlossenen Lächeln und warf ihr diesen einen Blick zu, der jedes Mal dafür sorgte, dass sie mit ihm am liebsten sofort im Schlafzimmer verschwunden wäre. Diese besitzergreifende, stolze Miene. „Apropos Menschen, die man liebt“, sagte er und wechselte mit seinen nachfolgenden Worten so geschickt das Thema, dass es kaum jemandem am Tisch auffiel, „warum leistet uns Eure liebreizende Verlobte eigentlich keine Gesellschaft?“ Ciel wurde purpurrot im Gesicht. Carina fand es herzallerliebst, dass der junge Adelige tatsächlich immer noch glaubte, dass seine Liebe für Elizabeth nicht für jeden mehr als offensichtlich war. „Sie war nach unserem Ausflug erschöpft und wollte sich ein wenig ausruhen.“ „Die junge Miss Midford schlief, als ich sie abholen wollte. Mein Herr befand, dass es besser wäre sie schlafen zu lassen“, ergänzte Sebastian. Carina grinste, als Ciels Gesicht nun einen noch tieferen Rotton annahm. „Was für ein Gentleman“, neckte sie ihn, woraufhin sogar Sebastian ein spöttisches Lächeln unterdrücken musste. „Ich habe mich geirrt. Undertaker und du passt doch perfekt zusammen“, erwiderte der 14-Jährige trocken; spielte damit auf die Tatsache an, dass sie ihn beide wohl gerne vorführten. „Vielen Dank, Earl“ gackerte der Silberhaarige. „Das war kein Kompli-“, begann Ciel genervt, belehrte sich dann allerdings eines Besseren, „ach, nicht so wichtig.“ „Das war doch wirklich mal ein interessanter Abend, findest du nicht?“, lachte der Bestatter eine Stunde später, als Carina und er endlich wieder auf ihrem Zimmer waren. „Ich bezweifle, dass Ciel das genauso sieht“, erwiderte sie schmunzelnd, während sie gleichzeitig Lilys Köpfchen hielt, die gerade an ihrer Brust lag und friedlich trank. „Der Earl hat für sein Alter viel zu wenig Spaß. Er muss das Leben mehr genießen.“ „Solange er es noch kann“, beendete Carina in Gedanken Cedrics Satz, denn beiden war klar, dass die Uhr für den Jungen laut tickte. „Ich schätze mal, er genießt die kleinen Dinge des Lebens. Auf seine ganz eigene Art und Weise“, antwortete sie ihm und legte sich ein Tuch über die Schulter, um anschließend Lily sanft in eine ähnliche Position zu bringen. „Stimmt. Hast du mal seinen Gesichtsausdruck gesehen, wenn einer von seinen Plänen funktioniert hat und der Gegner ihm hilflos gegenübersteht? Dieses überlegene, zufriedene Lächeln? Zum Totlachen“, kicherte der Bestatter erfreut. Die Schnitterin rollte leicht mit den Augen. Kurz dachte sie darüber nach ihm zu sagen, dass sie dieses Lächeln auch schon auf seinen Lippen gesehen hatte – nämlich auf der Campania – aber dann unterließ sie es doch. Cedric wurde immer melancholisch, wenn sie ihn daran erinnerte, dass ein paar Merkmale des Phantomhives aus seinem Erbe entsprangen. Carina schaute auf die Uhr und seufzte. Es war schon spät genug, dass sie unter normalen Umständen vielleicht ins Bett gegangen wäre, aber irgendwie glaubte sie nicht, dass sie in der nächsten Stunde Schlaf finden würde. Ihre Augen glitten zur Badezimmertür und plötzlich kam ihr wieder der Gedanke in den Sinn, den sie beim ersten Anblick des Zimmers gehabt hatte. Sie linste zum Vater ihrer Tochter hinüber. „Lust auf ein Bad?“ „Endlich“, stöhnte Grell und ließ mit einem lauten Scheppern seinen Bericht in das entsprechende Fach fallen, was ihm einen tadelnden Blick von der Shinigami an der Rezeption einbrachte. Er war komplett erledigt. Eine Doppelschicht an sich war schon anstrengend genug, aber wenn man in der Zwischenzeit auch noch eine pompöse Villa besichtigen und sich einprägen musste, war das definitiv zu viel des Guten. Und obwohl sich seine Augenlider schwer anfühlten und das Bett in seinem Zimmer quasi schon nach ihm rief, schlug er genau die gegenteilige Richtung ein und schleppte sich mit schweren Schritten die Treppe in Richtung Büros hoch. Williams Büro, um ganz genau zu sein. Obwohl er wusste, dass es nun einmal notwendig war vor dem morgigen Tag noch einmal mit William zu reden, hielt sich seine Lust dazu arg in Grenzen. Die letzten Gespräche, die sie in den vergangenen Wochen zwischen Tür und Angel miteinander geführt hatten, waren allesamt kühl und distanziert gewesen. Nicht, dass ihn das großartig gewundert hatte. Immerhin war er dieses Mal derjenige, der dafür sorgte, dass es genau so zwischen ihnen ablief. Zwischen ihnen war einfach zu viel falsch gelaufen. Zuerst hatte Grell William hintergangen, indem er Carina zur Flucht verholfen und ihn deswegen beinahe ein ganzes Jahr belogen hatte. Dann hatte William ihn daraufhin wie den letzten Dreck behandelt, nur um ihm anschließend unverblümt vor den Latz zu knallen, dass er durch Carina wusste, dass Grell in ihn verliebt war. Was die ganze Sache zwischen ihnen nur noch weiter verkompliziert hatte. Grell kannte sich selbst gut genug um zu wissen, dass er sensibel war, wenn es um seine eigenen Gefühle ging. Daher wusste er auch, dass er so wie bisher einfach nicht weitermachen konnte. Es war besser, wenn er William auf Abstand hielt und sei es auch nur, um sich selbst vor weiteren Enttäuschungen zu schützen. Er hielt vor der Tür an und holte noch einmal tief Luft, um sie anschließend ebenso langsam aus seinem Mund entweichen zu lassen. Dann klopfte er zweimal bestimmt gegen das Holz und trat nach dem üblichen „Herein“ ein. „Guten Abend, William“, sagte er müde und schloss die Tür leise hinter sich. „Grell“, erwiderte der Aufsichtsbeamte und nickte ihm kurz zu. Noch etwas, über das sich der Rothaarige innerlich aufregte. Zwei Jahrhunderte lang hatte William ihn immer stur mit „Sutcliff“ angesprochen, egal wie sehr er ihn auch darum angebettelt hatte ihn beim Vornamen zu nennen. Und jetzt, wo dem Schnitter genau diese unfreundliche Anrede am allerliebsten gewesen wäre, nannte er ihn plötzlich „Grell“? Was sollte der Blödsinn? „Ich wollte dich lediglich darüber informieren, dass sich an dem Plan für morgen nichts geändert hat. Carina und Undy befinden sich bereits auf dem Anwesen und wir sollen zusammen mit Ronald morgen zur vereinbarten Zeit zum Ball erscheinen. Unsere Garderobe habe ich wie gewünscht säubern lassen und auf unsere Zimmer gebracht, sodass jetzt eigentlich nichts mehr zu erledigen ist. Kann ich sonst noch etwas für dich tun? Falls nicht, würde ich mich jetzt gerne zum Schlafen zurückziehen. Für den morgigen Tag werden wir bestimmt alle Kräfte brauchen.“ Er glaubte kaum, dass der Schwarzhaarige seine stumme Anspielung verstand, dass auch er sich so langsam mal von seinem Schreibtisch lösen sollte. Aber es konnte ihm ja auch eigentlich egal sein. William bedachte Grell mit einem prüfenden Blick. Er zeigte es nicht, aber diese Distanz zwischen ihnen ging ihm nach wie vor mehr auf die Nerven, als es Grells ursprüngliches Verhalten getan hatte. Und das wiederum nervte ihn noch mehr! „Es scheint ja alles vorbereitet zu sein. Gibt es ansonsten noch etwas, was ich wissen müsste? Neuigkeiten über den Dämon?“ Der rothaarige Reaper schüttelte den Kopf. „Bisher nichts. Ob das jetzt gut oder schlecht ist, werden wir wohl erst morgen herausfinden.“ Er zögerte kurz. „Carina meinte noch, ich solle aufpassen, dass du und Ronald auch tatsächlich auftauchen werdet. Und dass ihr keinen Mist baut.“ William schnaubte. „Charmant“, entgegnete er und einen Moment lang glaubte er Grells Mundwinkel daraufhin in die Höhe zucken zu sehen. Oder hatte er sich das nur eingebildet? Unangenehmes Schweigen machte sich in dem Büro breit. „Dann sehen wir uns morgen“, sagte Grell schließlich und wandte sich zur Tür. Aus einem Impuls heraus wollte William ihn davon abhalten. Ronalds Worte schwirrten nach wie vor in seinem Kopf umher. „Ich weiß, es geht mich eigentlich nichts an, Mr. Spears. Aber was auch immer zwischen ihnen beiden vorgefallen ist, ich würde es schnellstmöglich klären. Bevor es wirklich hässlich wird.“ William konnte sich ehrlich gesagt kaum vorstellen, wie es denn noch hässlicher werden sollte. Vielleicht, wenn Grell gar nicht mehr mit ihm sprach? Wenn er ihn plötzlich hasste? Letzteres sorgte dafür, dass sich ein komischer Druck auf seinen Magen legte, der ihm ganz und gar nicht gefiel. Warum also schaffte er es einfach nicht den Mund aufzukriegen? Das Zufallen der Tür riss ihn abrupt aus seinen Gedanken heraus. Innerlich verfluchte der Beamte sich tausendfach. Erneut hatte er eine Chance vertan diese Sache mit Grell endlich aus der Welt zu schaffen. Und morgen hatten sie weitaus andere Sorgen, als sich mit diesem Thema zu befassen. „Nächstes Mal“, sagte er sich. „Das nächste Mal, wenn er in mein Büro kommt, werde ich das klären.“ Der Gedanke, dass es vielleicht gar kein nächstes Mal geben könnte, kam ihm in diesem Moment nicht. „Ah“, stieß Carina wohlig hervor und ließ sich noch ein wenig tiefer in das heiße Wasser sinken. „Das war die beste Idee des heutigen Tages.“ Cedric, der ihr in der Wanne genau gegenüber saß, band sich seine langen, nassen Haare mit einem Band zurück und grinste. „Jetzt weißt du, warum sich die Aristokraten des Bösen überwiegend hier getroffen haben. Die Gastfreundlichkeit eines Earls nimmt man doch immer wieder gerne an, wenn sie sich einem bietet.“ „Wie geht das Sprichwort noch? Wenn das Leben einem Zitronen gibt, mach Limonade daraus?“, fragte Carina amüsiert und ließ ihre Schultern kreisen, um den letzten Rest Anspannung von dort herauszuholen. „Nie davon gehört. Muss wohl eins sein, was noch erfunden wird.“ Carina lachte leise auf. „Tja, wenn du es nicht kennst, wird es wohl so sein. Immerhin lebst du jetzt schon so lange, dass es sicherlich nicht vieles gibt, worüber du keine Kenntnisse hast, oder?“ Der Bestatter zuckte mit den Schultern, sodass das Badewasser mehrere kleine Wellen schlug. „Hier und da gibt es immer mal wieder Wissen, das man sich neu aneignet, aber du hast Recht. Vieles habe ich bereits kennengelernt.“ Carina betrachtete ihn schweigend. Oft vergaß sie einfach, wie viel älter er im Gegensatz zu ihr war. Wie viele Menschen er bereits getroffen, wie viele Generationen er bereits durchlebt und überlebt hatte. Unweigerlich erinnerte sie sich an das Gespräch, das sie am heutigen Nachmittag mit Grell geführt hatte. „Du willst ihn nicht bedrängen, das ist mir klar. Aber vielleicht solltest du ihn endlich danach fragen, gerade in unserer jetzigen Situation. Ich meine… wir könnten morgen schon alle tot sein, wirklich tot diesmal, und dann hättest du nie die Wahrheit erfahren.“ Carina biss sich auf die Unterlippe. Grell hatte mit seinen Worten Recht, das musste sie zugeben. Und dass sie von Natur aus neugierig war, half bei dieser ganzen Angelegenheit nicht wirklich. Aber es war nun einmal ein hochsensibles Thema, für jeden von ihnen. Cedrics menschliches Leben mochte wesentlich länger zurückliegen, aber das bedeutete schließlich nicht, dass er unbedingt besser damit klar kam. Alles in ihr sträubte sich dagegen ihn an etwas zu erinnern, was er vermutlich am liebsten vergessen würde. „Worüber denkst du nach?“, fragte der Silberhaarige sie plötzlich und riss die Schnitterin wieder in die Gegenwart zurück. „Nichts“, sagte sie – offensichtlich zu schnell, denn Cedric sah nicht so aus, als würde er ihr auch nur eine Sekunde lang glauben. Er hob eine Augenbraue. „Und jetzt noch einmal die Wahrheit?“, fragte er erneut und sah sie auffordernd an. Ein weiteres Mal biss sie sich auf die Lippe, überlegte stillschweigend hin und her. Schließlich antwortete sie: „Ich will dir nicht zu nahe treten.“ Er blinzelte einmal verwirrt, dann stupste er mit seinem nackten, ausgestreckten Bein gegen ihres. „Ich glaube kaum, dass du mir in irgendeiner Art und Weise zu nah treten kannst, Carina“, gluckste er leise. „Sei dir da mal nicht allzu sicher“, dachte Angesprochene und zögerte immer noch merklich. Dann sagte sie: „Ich hab Grell heute gefragt, ob er die Zerstörung des Dispatchs bei deiner Flucht miterlebt hat.“ Der Bestatter hob nun auch noch die andere Augenbraue. „Und?“, fragte er neugierig, da er immer noch nicht so recht wusste, wieso die Mutter seines Kindes sich plötzlich so zurückhaltend benahm. „Er war nicht vor Ort, aber er hat die Auswirkungen zu Gesicht bekommen. Als ich ihm sagte, dass du derjenige warst, der dafür verantwortlich war, war er ziemlich überrascht. Nun ja… zugegebenermaßen nicht besonders lange“, fuhr sie fort und lächelte leicht, als Cedric amüsiert auflachte. „Aber worauf ich eigentlich hinaus will… also… er hat damals jemanden aus der Forensik dazu befragt. Einen Shinigami namens Othello. Du müsstest ihn kennen.“ Carina spürte, wie der Todesgott sich abrupt versteifte, als er den Namen des Wissenschaftlers hörte. Scheinbar bekam er langsam eine Ahnung, in welche Richtung dieses Gespräch ging. „Was hat er dir erzählt?“ Sein Ton war wachsam, vorsichtig. Carina bereute bereits jetzt, dass sie das Thema überhaupt angeschnitten hatte. „Dass du eine lebende Legende im Dispatch bist. Dass du der Inbegriff eines Todesgottes warst. „Und…“, sie zögerte ein weiteres Mal, zwang sich jedoch dann weiterzusprechen, „und, dass du unter der Nummer 136649 bekannt warst.“ Es hatte nur sehr wenige Augenblicke in ihrem bisherigen Leben gegeben, in denen sie Cedric so aufgewühlt gesehen hatte. Dieser hier war einer davon. Der Silberhaarige saß da wie in Stein gemeißelt und sein Gesichtsausdruck war genauso. Versteinert. Vollkommen still. Er bewegte sich keinen Millimeter. Sofort ruderte Carina zurück. „Vergiss es, ich hätte es nicht ansprechen sollen. Lass uns über etwas anderes reden.“ Jetzt bewegte der Undertaker sich doch, indem er ihr in die Augen schaute. „Aber es interessiert dich“, stellte er ganz neutral fest, woraufhin Carina schluckte. „Es geht um dich“, antwortete sie sanft. „Natürlich interessiert es mich. Aber ich möchte dich nicht bedrängen. Und das Thema geht dir ganz offensichtlich nah, also-“ „Warum hast du dann eben so intensiv darüber nachgedacht?“, unterbrach er sie; nicht unhöflich, aber in einem doch sehr bestimmten Ton. „Großartig“, dachte Carina und seufzte. Natürlich konnte er das jetzt nicht auf sich beruhen lassen. „Weil wir morgen schon alle tot sein könnten. Und ich will ehrlich sein: Mich würde es irgendwie stören, wenn ich vor meinem möglichen endgültigen Tod nicht wenigstens den Großteil über dich wüsste.“ Sie schaute ihn verständnisvoll an. „Aber wie bereits gesagt, ich will dich nicht bedrängen. Ich weiß noch, wie schwer es mir damals im Weston College gefallen ist, dir alles über die vergangenen Jahre zu erzählen. Ich kann warten. Hoffentlich werden wir morgen also nicht alle sterben und es wird der Zeitpunkt kommen, an dem du mir alles erzählen kannst. Und auch möchtest.“ Cedric lachte trocken auf, ohne jegliche Form von Humor. „Glaub mir, von möchten wird niemals wirklich die Rede sein. Aber… du hast Recht. Wir könnten morgen tatsächlich alle schon tot sein.“ Wenige Sekunden lang herrschte erneut Stille, dann setzte der Totengräber sich etwas aufrechter in der Badewanne hin. „Wenn ich mit einer Person darüber sprechen kann, dann bist du es, Carina. Ich befürchte nur, dass du mich danach vielleicht mit anderen Augen sehen könntest.“ Die Blondine hob eine Augenbraue und suchte unter der Wasseroberfläche nach seiner Hand, um sie anschließend fest in die ihre zu nehmen. „Tief in deinem Inneren weißt du selbst, dass das nicht passieren wird.“ Ihre Mundwinkel zuckten kurz in die Höhe. „Ich meine… nach all dem, was du dir bisher geleistet hast, bist du mich trotzdem nicht los geworden, oder? Das ist doch ein gutes Zeichen.“ Jetzt formten auch seine Lippen wieder ein Lächeln. „Ich schätze, dass das wohl stimmt“, antwortete er und erwiderte den Druck ihrer Hand. „Es wird jedoch vielleicht etwas schwierig für dich werden, es dir vorzustellen.“ „Stell mich auf die Probe“, entgegnete sie, obwohl sie nicht wirklich wusste, worauf er mit seiner Aussage hinaus wollte. „Du weißt doch noch, in welchem Jahrhundert ich gelebt habe, oder?“ Sie nickte. „Geboren am 25. März 1035, gestorben am 28. Januar 1064.“ Er hob eine Augenbraue. Ihre Wangen wurden rot. „Was denn? Ich habe halt ein gutes Gedächtnis“, verteidigte die Schnitterin sich. Er musste ja nicht unbedingt wissen, dass sich dieser verdammte Stammbaum wie ein Brandmal in ihr Gehirn geätzt hatte. „Die wenigsten Menschen oder sogar Todesgötter können sich jetzt noch vorstellen, wie es vor all diesen Jahrhunderten auf der Erde ausgesehen hat.“ Sein Blick schweifte in die Ferne und Carina wusste, dass er die damalige Welt vor seinen Augen Revue passieren ließ. „Kilometerlange Landschaften. Wiesen, Flüsse, Wälder und das alles vollkommen unberührt von den Menschen. Keine Fabriken, keine Straßen, keine Aneinanderreihungen von Häusern… Manchmal konntest du stundenlang reiten und bist trotzdem keiner einzigen Menschenseele begegnet.“ Gegen ihren Willen ploppte in Carinas Gedanken sofort ein Bild von Cedric in altertümlicher Kleidung auf einem Pferd auf. Sie konnte es sich erschreckend gut vorstellen. „Wie du dir vielleicht denken kannst, war ich nicht immer so–“ „Albern? Verrückt? Wahnsinnig?“, unterbrach die Deutsche ihn grinsend und der Bestatter rollte gespielt beleidigt mit den Augen. „Ich wollte stark und klug sagen, du freches Ding, aber gut, von mir aus. Trotzdem, ein wenig albern war ich auch damals schon. Eine meiner besten Eigenschaften, wenn du mich fragst. Die Leute hatten auch damals schon viel zu wenig Humor.“ „Waren es damals nicht härtere Zeiten als heute?“ „Schon, aber im Großen und Ganzen hielt es sich in meiner Familie die Waage. Was allerdings auch an unserem Adelsstatus lag.“ Carina konnte nicht anders, sie lachte ungläubig auf. „Wie bitte? Du warst ein–“ „Adeliger? Allerdings“, grinste Cedric, denn er hatte mit so einer Reaktion von ihr durchaus gerechnet. „Nun“, begann sie und konnte sich einen kleinen Seitenhieb nicht verkneifen, „soll ich dich dann zukünftig mit Lord anreden?“ Er lachte leise. „Nun“, begann er – den gleichen Satzanfang verwendend – und ließ seine andere Hand einmal sanft an ihrem Oberschenkel entlangfahren, „in bestimmten Situationen würde mir das sicherlich gefallen.“ „Du lenkst vom Thema ab“, neckte sie ihn, genoss aber dennoch die kurze Berührung seiner Finger. „Ich weiß, ich weiß. Gut, keine Ausflüchte mehr.“ Er nahm einen tiefen Atemzug. „Wie bereits gesagt, meiner Familie ging es nicht gerade schlecht. Das lag vor allem an den Verdiensten meines Großvaters väterlicherseits. Er gründete damals ein kleines Dorf, das sich aber durch seine günstige Lage über die Jahre hinweg zu einer kleinen Handelsstadt entwickelte. Mein Vater war der erstgeborene Sohn und erbte somit nach dem Tod meines Großvaters selbstverständlich den Titel und den beachtlichsten Teil seines Vermögens. Tja… und ich war ebenfalls der erstgeborene Sohn meines Vaters.“ „Du klingst nicht besonders glücklich darüber“, stellte Carina bekümmert fest, woraufhin Cedric nickte. „Kannst du dir mich als Kaufmann vorstellen?“, fragte er und erhielt postwendend eine Antwort. „Ich kann mich dir als vieles vorstellen, Cedric. Aber als Kaufmann? Nein, absolut nicht.“ „Eben“, erwiderte der Bestatter und fuhr sich mit einer Hand durchs Gesicht. „Ich habe es gehasst, Carina. Ich habe es schlicht und ergreifend gehasst.“ Er tat einen tiefen Seufzer. „Das ganze Gerede über Geld und Geld und noch mehr Geld… Tagein, tagaus. Das war nicht das, was ich für mein Leben wollte. Aber ich war nun einmal sein Erbe, sein Erstgeborener. Es wurde von mir erwartet, dass ich in die Fußstapfen meines Vaters trete. Und ich habe mich dem gefügt.“ Carina hob überrascht beide Augenbrauen. „Hast du?“, fragte sie verblüfft und der Silberhaarige lachte trocken auf. „Ich sagte dir ja bereits, ich war nicht immer so willensstark wie jetzt. Und für dich mag es sowieso schwer vorstellbar sein, weil du aus dem 21. Jahrhundert stammst, aber damals war das Wort des Familienoberhauptes Gesetz. Und glaube mir, ich habe nicht eine Sekunde darüber nachgedacht mich dem zu widersetzen.“ Sein Gesicht verzog sich zu einer verbitterten Miene. „Keiner hat das. Meiner Mutter nicht, die ohne Wenn und Aber immer alles getan hat, was mein Vater von ihr erwartete. Meine beiden jüngeren Schwestern nicht, die bereits mit 13 Jahren verheiratet wurden. Und auch mein jüngerer Bruder nicht, der ebenso wie ich recht früh zu einem Kaufmann erzogen wurde. Versteh mich nicht falsch, wir waren eine glückliche Familie. Ich war das Problem.“ Der Mund der 19-Jährigen verzog sich zu einer unheilvollen Linie, sie spürte ein Knurren in ihrer Kehle aufsteigen. „Was soll das heißen, das Problem?“ Sie mochte nicht, wie Cedric das betont hatte. Als würde er sich tatsächlich selbst als genau das betrachten. Ein Problem. „Meine Mutter hat meinen Vater wirklich geliebt und er sie ebenfalls. Sie passten perfekt zusammen, was zu damaligen Zeiten schon eine Seltenheit an sich war, wenn man die ganzen früh geschlossenen und arrangierten Ehen bedenkt. Meine Schwestern – zweieiige Zwillinge übrigens – konnten sich ebenfalls nicht beschweren. Mein Vater hat dafür gesorgt, dass sie in gute Familien eingeheiratet haben. Er hat sie nicht an die erstbesten Handelspartner verschachert, sondern wirklich mit dem Hintergedanken vermählt, dass es seinen Töchtern gut gehen wird. Und was meinen Bruder angeht… er war das komplette Gegenteil von mir. Er liebte unser Vermächtnis und er liebte seinen Beruf. In seinen Augen konnte mein Vater einfach nichts falsch machen.“ Er schaute sie an. „Siehst du es jetzt, Carina? Siehst du jetzt, was ich meine, wenn ich sage, dass allein ich das Problem war?“ Sie zögerte kurz, weil sie mit der Formulierung ihrer nächsten Worte haderte. „Du siehst dich als schwarzes Schaf, nicht wahr?“ „Damals tat ich das“, bestätigte er ihre Worte. Er lehnte sich mehr gegen den Rand der Wanne und schaute kurz zur Zimmerdecke herauf. „Ich glaube, es wäre leichter für mich gewesen, wenn ich eine schreckliche Familie gehabt hätte. Wenn mein Vater ein grauenhafter Mann gewesen wäre. Aber das war er nicht. Ich habe ihn geliebt. Ich habe sie alle geliebt.“ Er lächelte und schaute sie jetzt doch wieder an, als er an seine Familie dachte. „Meine Mutter. Flordelis. Sie war wunderschön. Entschieden und bestimmt in der Erziehung ihrer Kinder, aber niemals unfair. Und sie hatte diese kleine Eigenart… sie hat immer vor sich hin gesummt, wenn sie sich unbeobachtet gefühlt hat.“ Carina musste lächeln. Ob Cedric sich darüber im Klaren war, dass auch er genau das manchmal tat? „Meine Schwestern, Aleidis und Audrina. Immer zu einer Schandtat bereit, wenn sie sich sicher waren nicht dabei erwischt zu werden. Sie teilten meine Vorliebe für Süßigkeiten.“ Er lächelte, während er weiter in Erinnerungen schwelgte. „Und meinen Humor. Wir haben so viel gespielt und gelacht, als die beiden noch Kleinkinder waren.“ In Carinas Kopf entstand ein Bild. Zwei kleine Mädchen, an Cedrics Beinen hängend, während alle drei zusammen lachten. „Dann war da mein Vater. Godric. Stolz und hochgewachsen und mit so viel Intelligenz gesegnet, wie es früher selten der Fall war. Sein einziger Schwachpunkt war, dass er eine ganz genaue Vorstellung von seinem Leben hatte und sich davon nicht abbringen ließ, nicht mal um einen einzigen Zentimeter. Allerdings würden wohl viele sagen, dass genau das auch eine Stärke sein kann. Er wusste immer, was er wollte.“ „Vielleicht. Aber ohne je etwas Neues auszuprobieren, schränkt man sich auch in gewisser Weise ein. Es ist kein Raum da für Wachstum“, warf Carina sanft ein. Cedric warf ihr einen dankbaren Blick zu und sie drückte seine Hand ein weiteres Mal. Immer noch konnte sie spüren, dass dieses Gespräch ihm einiges abverlangte und sie befanden sich gerade erst einmal am Anfang. Zu seinem Selbstmord waren sie noch gar nicht gekommen. Er holte erneut Luft und fuhr dann fort. „Und mein Bruder. Magnus. Ein kleines Genie und ausgestattet mit einer Mischung der besten Eigenschaften unserer Eltern. Schön wie unsere Mutter und begabt wie unser Vater. Sein ganzer Stolz.“ Der Silberhaarige verbarg es gut, aber Carina konnte dennoch die Verbitterung in seinen Worten hören. Das stumme Ich hätte derjenige sein sollen. Carina konnte nicht anders, sie fühlte Wut gegen Cedrics Vater in sich aufsteigen. Kein Elternteil sollte seinem Kind jemals das Gefühl geben nur zweite Wahl zu sein. Oder gar die Geschwister bevorzugen. „Ich war eifersüchtig“, gab Cedric nun ganz offen zu. „Ich fragte mich ständig, warum alle in meiner Familie genau das bekamen, was sie wollten, während ich leer ausging.“ „Was wolltest du?“, fragte sie interessiert nach und der Bestatter lachte, beinahe ein wenig peinlich berührt. „Ich wollte dem Ritterorden beitreten.“ Carina blinzelte. „Du wolltest ein Ritter werden?“, fragte sie nach, als ob sie ihn nicht richtig verstanden hätte. Als er nickte, schwieg sie einen Moment. Dann breitete sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht aus und sie presste sich die Handfläche gegen den Mund, um ein Lachen zu unterdrücken. „Was?“, neckte der Todesgott sie. „Ich weiß nicht“, gab sie zurück. „Irgendwie… irgendwie finde ich, das passt zu dir.“ Sie konnte es sich jedenfalls tausendmal eher vorstellen als die Kaufmann Geschichte. Wenn man von einigen der ritterlichen Tugenden mal absah. Wie beispielsweise Mäßig- und Frömmigkeit. „Es war damals eine Ehre dem Orden beizutreten. Ritter wurden im ganzen Land geachtet und bewundert. Ich konnte zudem gut mit einem Schwert umgehen, was meinem Wunsch nur zugutekam, aber vor allen Dingen wollte ich reisen. Ich wollte die Welt sehen. Menschen helfen. Ich wollte Gutes tun. Und seien wir ehrlich, ein Kaufmann zu sein ist das genaue Gegenteil davon.“ Er seufzte. „Wie ich bereits sagte, mein Vater hatte feste Vorstellungen und ich habe mich dem gefügt. Aber glaube nicht, dass ich das gerne getan habe. Ich habe mich nicht wie der Vorzeigesohn verhalten.“ „Das klingt doch schon viel eher nach dir“, sagte Carina, woraufhin er ihr einen belustigten Blick zuwarf. „Und, was hast du getan?“ Der Bestatter kicherte. „Sagen wir, ich hatte eine rebellische Phase. Eine sehr lange rebellische Phase.“ „Ja?“, blieb Carina dran, der nicht entgangen war, dass er sich vor der Antwort drückte. „Zuerst waren es kleinere Dinge. Hier und da zu spät zu einer Ratsbesprechung erscheinen, Zahlenfehler in den Aufstellungen, unschöne Formulierungen in Briefen und Verträgen… Insgeheim hatte ich die Hoffnung, dass mein Vater irgendwann nachgeben und einfach Magnus zu seinem Nachfolger bestimmen würde, während ich dann endlich mehr Freiheiten bekäme. Als das nicht passierte… nun ja… sagen wir, ich wurde ein wenig dreister in meinem Tun.“ Carina hob lediglich fragend eine Augenbraue. Cedrics Lächeln verrutschte ein wenig und wirkte nun beinahe eine Spur… verlegen? „Weißt du, ich war jung… und wir hatten ein großes Anwesen… und wirklich viele Kammerzofen und Hausmädchen in meinem Alter…“ Cedric beendete seinen Satz nicht, aber bei Carina fiel der Groschen dennoch. Und zwar laut. Natürlich, sie hatte nicht erwartet, dass er sein menschliches Leben lang keuch geblieben war. Aber dass er seine – und Carina fiel an dieser Stelle wirklich kein besseres Wort ein – Gespielinnen scheinbar nicht mal mehr an zwei Händen abzählen konnte, das überraschte sie dann doch. Sie war nicht wirklich eifersüchtig, immerhin lag das alles mehrere Jahrhunderte zurück, aber ein Anflug von Missbilligung verspürte sie dennoch. Mit weiterhin erhobenen Augenbrauen sah sie ihn an. „Du hast eure weibliche Dienerschaft beglückt, um deinem Vater eins auszuwischen?“, fragte sie trocken und der Silberhaarige kannte sie mittlerweile gut genug, um den verurteilenden Unterton in ihrer Stimme wahrzunehmen. Er spürte, wie sich seine Wangen leicht röteten. Etwas, was ihm seit Jahrzehnten nicht mehr passiert war. „Ich will nicht bestreiten, dass das eine schöne Nebenerscheinung des Ganzen war, aber das war nicht der Hauptgrund. Also, ich meine… ich sagte doch bereits, ich war jung!“ Das ihm das Thema so ganz offensichtlich unangenehm war, schien Carinas Laune beträchtlich zu heben, denn jetzt lächelte sie wieder. „Mit anderen Worten: Du warst ein typischer Junge, der seine Hormone nicht im Griff hatte und wolltest dir die Hörner abstoßen, ja?“ „Schon möglich“, meinte er und stellte just in diesem Moment fest, dass er mit seinem jugendlichen Ich nicht mehr wirklich viel gemein hatte. „Was glaubst du wohl, warum ich nicht verheiratet war? Solche Eskapaden sprachen sich damals noch schneller rum als heutzutage und nicht mal der gute Einfluss meines Vaters konnte daran etwas ändern. Nicht, dass mir das etwas ausgemacht hätte. Damals hatte ich vieles vor, aber eine feste Beziehung gehörte ganz eindeutig nicht dazu.“ Carina grinste verschmitzt. „Dann kann ich ja froh sein, dass sich das mittlerweile geändert hat, nicht wahr?“ „Hehe“, grinste nun auch der Undertaker wieder. „Meine Eltern hätten dich vergöttert. Ich kann sie beinahe reden hören. Endlich mal eine Frau, die unseren aufmüpfigen Sohn in den Griff bekommt.“ Die Schnitterin versuchte ihre Überraschung und das damit einhergehende Glücksgefühl zu verbergen, das bei diesen Worten in ihr aufstieg. Er dachte wirklich, dass sie ihn in den Griff bekam? So empfand er das? Oft hatte sie nämlich selbst überhaupt nicht das Gefühl. Umso mehr freute es sie daher, dass er das jetzt so deutlich sagte. Dennoch versuchte sie wieder zum eigentlichen Thema zurückzukommen. „Okay, du hast alles versucht, um deinen Vater von deiner Unfähigkeit zu überzeugen. Und dann?“ „Er war natürlich zornig. Und enttäuscht. Aber er ist nicht von seiner Meinung abgewichen. Es war nun einmal Tradition, dass der Erstgeborene in seine Fußstapfen tritt und er würde garantiert nicht der Erste in unserer Familie sein, der das änderte.“ Er lachte trocken auf. „Jetzt weißt du, woher ich meinen Dickkopf habe. Meine ganze Familie hat ständig auf mich eingeredet, ganz besonders Magnus. Siehst du nicht, was für eine unglaublich große Chance dir in die Wiege gelegt wurde, Bruder? Ich würde alles tun, um mit dir zu tauschen. Tja, es war unser typisches Streitthema. Denn genauso sehr hätte ich alles getan, um mit ihm zu tauschen. Der zweite Sohn zu sein und die Freiheit zu haben, über mich selbst zu bestimmen. Ich wollte nicht nachgeben.“ Er seufzte bekümmert. „Aber Carina… die Jahre vergingen und dennoch blieb alles beim Alten. Ich tat, was mein Vater von mir verlangte und tat gleichzeitig auch nicht das, was er von mir verlangte. Es war ein elender Teufelskreis.“ Der Bestatter schwieg einige Sekunden lang und sagte dann schließlich: „Ich war kurz davor nachzugeben, weißt du? Es einfach zu akzeptieren. Irgendwann geht auch dem stärksten Kämpfer die Kraft aus. Und ich wollte nicht mehr kämpfen, Carina. Ich hatte es so satt.“ Er strich mit seinem Daumen an der langen Narbe entlang, die sich über seine Kehle erstreckte. „Aber bevor ich einlenken konnte, war er auch schon gekommen. Mein Todestag.“ „Der Tag, an dem du zu einem Todesgott wurdest“, korrigierte Carina ihn sanft. Cedric war nicht tot und sie wollte ihn sich auch nicht tot vorstellen. Ihn nur von seinem Tod erzählen zu hören, bescherte ihr bereits ein unangenehm flaues Gefühl in der Magengegend. „Ja“, gab er zurück und nickte. „Der Tag, an dem ich mich selbst ins Unglück stürzte.“ „Was ist passiert?“, fragte die Schnitterin leise und umfasste seine Hand jetzt wieder fester. „Weißt du noch, als ich zu Anfang unseres Gespräches sagte, dass damals noch vieles unberührt von den Menschen war? Das war auch gleichzeitig etwas, was viele Konflikte hervorgerufen hat. Von den Kreuzzügen des Ritterordens mal abgesehen, gab es zahllose Streitigkeiten mit benachbarten Adelshäusern um ganze Ländereien, die noch nicht besiedelt oder bebaut waren. Nicht zu vergessen die Banditen, die umherzogen und den Sklavenhandel, der damals in England weit verbreitet war. Mit anderen Worten: Es war damals nicht ganz ungefährlich die Stadt zu verlassen.“ „Aber das hast du scheinbar getan?“, fragte Carina, die zwischen den Zeilen las. „Ja, weil ich musste“, seufzte der Undertaker. „In einer kleinen Stadt, nicht weit von meiner Heimat entfernt, gab es ein jährliches Treffen der hochrangigeren Kaufmänner in der Gegend. Dort wurden Entwicklungen besprochen, neue Kontakte geknüpft, Geschäfte ausgehandelt und noch vieles andere, was ich nach wie vor furchtbar langweilig und ermüdend finde. Normalerweise nahm mein Vater immer daran teil, aber er wurde nun einmal auch nicht jünger und es waren immerhin drei Tagesritte, die man auf sich nehmen musste. Daher hat er dieses Mal mich geschickt. Sicherlich auch, weil er die Hoffnung hatte, dass ich mich für so ein großes Ereignis endlich mal zusammenreißen würde.“ Carina spürte, wie sich ihr Pulsschlag beschleunigte. Sie wusste, dass sie nun langsam zu dem Teil der Geschichte kamen, der jedem Todesgott besonders schwer fiel. „Ich muss gestehen, dass ich mich selbst auch ein wenig über diese Reise gefreut habe. Endlich mal was anderes sehen als immer nur die gleiche Stadt, die gleichen Menschen, die gleichen langweiligen Vorschriften. Also folgte ich seinem Befehl ohne mich zu beschweren. Ich kleidete mich in meine besten Sachen, stieg auf mein Pferd und verließ ohne zu murren mit einem Teil der Stadtwache die sicheren Mauern meiner Heimat. Und ab dann…“, er stieß einen schweren Atemzug aus, „ab dann ging einfach alles schief.“ Es brauchte nicht viel Vorstellungsvermögen, um darauf zu kommen was wohl als nächstes passiert war. Immerhin hatte Cedric gerade eben erst erwähnt, wie gefährlich es zu damaligen Zeiten gewesen war. „Ihr wurdet überfallen?“ Er nickte. „Richtig. Eine kleine Gruppe von Banditen, die damals recht bekannt dafür war ihre Opfer entweder zu töten oder an Sklavenhändler zu verkaufen, kreuzte unseren Weg. Wir waren noch keinen ganzen Tag unterwegs.“ Obwohl das Wasser noch relativ warm war, bildete sich auf seinen Armen eine Gänsehaut, als er sich an das Geschehene von damals zurückerinnerte. „Das einzig Positive an der ganzen Sache war, dass es schnell ging. Ehe ich mich versah, waren meine Wachen tot und ich wurde verschnürt wie ein Paket davongetragen.“ Carina gefiel weder der Gedanke, noch die Vorstellung. Für sie war der Silberhaarige beinahe unantastbar. Ihn sich so hilflos vorzustellen, überstieg ihren Horizont. „Wie ich jedoch sehr bald feststellen sollte, steckte hinter diesem Überfall weitaus mehr, als nur eine einfache Entführung.“ Der Deutschen ging ein Licht auf. „Stimmt. Warum sollten sie alle töten, aber ausgerechnet dich am Leben lassen?“, murmelte sie und verstand es noch im gleichen Moment. „Dein Vater…“ Er nickte erneut. „Jeder in der Gegend wusste, wer mein Vater war. Vor allen Dingen aber wusste jeder, wie reich er war. Natürlich wollten sie Geld. Und zwar eine stattliche Menge. Sie schnitten mir eine Haarsträhne ab, legten sie einem Brief bei und schickten diesen, zusammen mit einem der Köpfe meiner Leibgarde, in die Stadt zurück. Sollte das Geld nicht bis zum Sonnenuntergang des nächsten Tages an einer bestimmten Stelle deponiert worden sein, würde mein Kopf der nächste sein, den sie in Händen halten würden.“ Der Blick der Schnitterin glitt zu der Narbe an seinem Hals. Hätte sie es nicht besser gewusst, wäre sie glatt davon ausgegangen, dass die Banditen ihre Drohung wahrgemacht hatten. Aber Cedric war nun einmal unbestreitbar ein Todesgott. Es konnte faktisch nur auf eine Todesursache hinauslaufen und das war nun einmal Selbstmord. Ein furchtbarer Verdacht keimte in ihr auf. Hatte er… Hatte sein Vater etwa… Nein! Das konnte er nicht getan haben! Cedric lächelte das traurigste Lächeln, das Carina jemals an ihm gesehen hatte. „Du weißt es“, bestätigte er das, was in ihrem Gesicht klar und deutlich zu lesen war. „Du weißt, wie die ganze Sache ausgegangen ist.“ Sie schluckte einmal hart, um sich die Kehle zu befeuchten. Dennoch klang ihre Stimme kratzig, als sie endlich den Mund öffnete und ihre Vermutung in den Raum warf. Oder eher die grausame Feststellung. „Dein Vater hat dich im Stich gelassen?“ Sie hätte es anders sagen können. Dein Vater hat das Geld nicht bezahlt oder Dein Vater hat sich nicht auf der Erpressung eingelassen oder Dein Vater hat dich zum Sterben verdammt. Aber unterm Strich kam es immer auf das Gleiche hinaus. Er hatte ihn im Stich gelassen. Seinen eigenen Sohn. Als Cedric bestätigend nickte, fügte es Carina beinahe körperliche Schmerzen zu. Wie? Wie konnte ein Elternteil nur so etwas tun? Sie selbst hatte Lily ab der Sekunde an geliebt, in der sie ihre Schwangerschaft wirklich richtig realisiert hatte. Und als sie dann endlich auf der Welt gewesen war… nichts konnte die Liebe beschreiben, die man für sein eigenes Kind empfand. Wie also, zum Teufel, hatte Godric Rosewell seinen erstgeborenen Sohn einfach so den Wölfen zum Fraß vorwerfen können? „Weißt du, was das Schlimmste war?“, fuhr Cedric fort, klare Verbitterung in seinen Worten. „Ich hatte keine Zweifel. Die ganze Nacht und den ganzen darauffolgenden Tag in Gefangenschaft habe ich keine einzige Sekunde daran gezweifelt, dass das Geld kommen würde. Ich war sein erstgeborener Sohn, sein Erbe. Natürlich würde er alles in Bewegung setzen, um mich sicher und heil wieder zurück nach Hause zu bringen.“ Sein Blick wurde dunkel. „Aber dann vergingen die Stunden. Es wurde Mittag, dann Nachmittag, früher Abend und immer noch kein einziges Anzeichen von jemandem aus meiner Heimat. Als die Sonne schon halb untergegangen war, da erst kamen bei mir die ersten Zweifel.“ Er schüttelte über sich selbst den Kopf, als könnte er bis heute nicht glauben, wie dumm er damals gewesen war. „Plötzlich waren da ganz andere Gedanken in meinem Kopf. Es war wie eine Stimme, die mir leise ins Ohr flüsterte. Was, wenn das die perfekte Gelegenheit für ihn ist dich endlich loszuwerden? Du bist ein Nichtsnutz; warst nie der Erbe, den er sich für sein Imperium gewünscht hat. Warum sollte er für so jemanden wie dich einen Großteil seines heiß geliebten Vermögens opfern, wenn er stattdessen endlich mit dir abschließen und Magnus zum neuen Erben ernennen kann?“ Carina schluckte und spürte gegen ihren Willen brennende Tränen in ihren Augenwinkeln aufsteigen. Dieser Schmerz saß tief. So tief, dass sie instinktiv wusste, dass Cedric ihn noch genauso intensiv wie am allerersten Tag spüren konnte. Erneut wünschte sie sich ihn niemals darauf angesprochen zu haben, denn dann musste er seine Vergangenheit jetzt nicht noch einmal durchleben. Es gab nun einmal manche Dinge, die am besten nie wieder angesprochen werden sollten und das war mit hundertprozentiger Sicherheit eines davon. „An diesem Tag fand ich heraus, wie stark Hoffnung sein kann. Denn als der letzte Sonnenstrahl verschwand und ich eben diese Hoffnung verlor, da passierte weitaus mehr in mir, als sich so manch einer vorstellen kann. Es veränderte mich. Es offenbarte eine Seite in mir, die ich bisher nicht kannte. Und von der ich bis zum heutigen Tag nicht weiß, ob ich sie überhaupt mag.“ Die 19-Jährige wusste, wovon er sprach. Von der Seite, die Menschen in Frage stellte. Die Seite, die sich hinter dem ganzen Kichern und Lachen und kindlichen Scherzen verbarg. Die Gefahr; das Dunkle, das unter der Oberfläche lauerte. „Sie diskutierten lange untereinander, was sie mit mir machen würden“, fuhr er fort. „Einige wollten ihre Drohung wahr machen und mir aus Wut den Kopf abschlagen. Andere meinten, dass sie trotzdem noch versuchen wollten durch mich an Geld zu kommen, indem sie mich verkauften. Ich konnte lesen und schreiben, war jung und gesund… so etwas bekam man damals nicht häufig. Mit Sicherheit würden sie schnell jemanden finden, der mich ihnen abnehmen würde.“ Er sagte das so neutral, als würde er nicht über sich selbst, sondern über irgendein Tier sprechen, das zum Verkauf stand. Carina wurde übel. „Aber das hast du nicht zugelassen“, flüsterte sie und verstand endlich, endlich den Zusammenhang. „Nein“, antwortete er und lächelte selbstzufrieden. „Habe ich nicht.“ Er ließ ihre Hand los und fuhr sich mit den Fingern einmal über die Stirn, um sich ein paar lästige Haarsträhnen wegzustreichen. „Da es schon dunkel war, wollten sie erst am nächsten Morgen aufbrechen. Ich lag die ganze Nacht gefesselt vor einem ihrer Zelte und malte mir die schlimmsten Horrorszenarien aus. Mein Zuhause war zwar ein goldener Käfig gewesen, aber das alles würde verblassen im Vergleich zu dem, was mir bevorstand. Wenn man erst einmal ein Sklave war, kam man da nie wieder raus. Meine Freiheit wäre für immer Geschichte gewesen und dabei war es doch genau das, wonach ich mich immer so sehr gesehnt hatte.“ Er pausierte kurz, um tief Luft zu holen. „Und gleichzeitig wusste ich, dass ich meine Familie nie wieder sehen würde. Obwohl sie mich verraten hatten, wollte ich nichts anderes, als sie noch ein letztes Mal zu sehen. Und sei es auch nur, um nach dem Warum zu fragen. Warum hatten sie mich bei der erstbesten Gelegenheit aufgegeben? Warum war ihnen das Geld schlussendlich wichtiger als ich?“ Er schwieg erneut für einige Sekunden. „Und dann wurde es mir bewusst. Ich war allein. Es gab niemanden mehr, der sich um mich scherte. Was machte es schon für einen Unterschied, ob ich lebte oder eben nicht?“ Jetzt grinste er und da war sie. Seine dunkle Seite. „Ich wollte verdammt sein, wenn ich diesen Männern gab, was sie wollten. Wenn ich schon nicht im Leben frei sein konnte, dann wollte ich es zumindest im Tod sein. Also wartete ich ab, leistete keinen Widerstand und hoffte auf eine Gelegenheit, die auch schon recht bald kam. Während sie auf Pferden unterwegs waren, musste ich an den Handgelenken gefesselt hinter ihnen her stolpern. Aber der Reiter vor mir trug an seinem Gürtel ein Messer.“ Er kicherte kurz. „Niemand konnte behaupten, dass diese Idioten schlau waren. Hätte ich den Mann töten wollen, hätte ich es tun können. Stattdessen aber nutzte ich meine Chance. Ich sprintete am Pferd vorbei, riss das Messer aus seiner Scheide und umklammerte es mit beiden Händen, um es nicht versehentlich fallen zu lassen. Bevor auch nur einer dieser Schwachköpfe irgendetwas unternehmen konnte, trieb ich mir die Klinge einmal quer über die Kehle. Und mehr hat es auch nicht gebraucht.“ Das war Carina mehr als klar. Die Haut am Hals war dünn, wenn man den Kopf nach hinten lehnte und außerdem äußerst empfindlich. Vermutlich hatte er nicht einmal großartig Kraft aufbringen müssen, um das Blut fließen zu lassen. Wobei fließen hier vielleicht das falsche Wort war. Die Schnitterin hatte dank ihres Berufs bereits gesehen, wie es aussah, wenn jemandem die Kehle aufgeschlitzt wurde. Eine Sekunde lag passierte gefühlt gar nichts. Doch wenn sich der Schnitt dann bildete, sprudelte die lebensnotwendige Flüssigkeit geradezu nur so über. Es war weitaus weniger blutig, wenn man den Kopf direkt im Ganzen abtrennte. „Gerade dir muss ich wohl nicht erklären, wie sich die letzten paar Sekunden meines menschlichen Lebens angefühlt haben“, sagte Cedric neutral und Carina schüttelte den Kopf. Nein, das musste er nicht. Wie sie es bereits Emma erzählt hatte, konnte sie sich noch sehr genau an den schnellen Blutverlust und die entsprechenden Nebenwirkungen ihres eigenen Selbstmords erinnern. Die Kälte. Die Kraftlosigkeit. Die kleinen, wild flackernden Punkte in ihrem Sichtfeld. Die erlösende Dunkelheit. Cedric lachte urplötzlich schallend auf. Die 19-Jährige starrte ihn irritiert an. Hatte sie was verpasst? Der Todesgott bekam sich eine ganze halbe Minute lang gar nicht mehr ein, ehe er schließlich doch endlich die Worte fand, die so für seine Belustigung sorgten. „Stell dir meinen Gesichtsausdruck vor, als ich nach meinem Selbstmord erfuhr, dass ich mich gerade in den nächsten Käfig hinein katapultiert hatte und zwar für alle Ewigkeit. Das war vielleicht ein Spaß.“ Er lachte fröhlich weiter, aber Carina war klar, dass er es damals wohl alles andere als witzig gefunden hatte. Dieses Lachen hier war seine Art darüber hinwegzutäuschen. Aber jetzt verstand sie es. Alles ergab nun endlich einen Sinn, das Puzzle war vollständig. Warum er im Dispatch lieber unter einer Nummer gelebt hatte, als unter seinem richtigen Namen. Den Namen, dem seine Familie ihm gegeben hatte. Warum er sich immer so zurückgezogen hatte, sich für niemand anderen interessiert hatte. Die furchtbare Angst davor, erneut verletzt zu werden. Warum er sich in seine Arbeit als Schnitter gestürzt hatte, als würde sein Leben davon abhängen. Um all das zu vergessen, was ihm passiert war. Um nicht daran denken zu müssen. Und schlussendlich natürlich, warum er alles dafür getan hatte dem Dispatch zu entfliehen. Um auch endlich den letzten Käfig hinter sich zu lassen, der ihn hatte fesseln wollen. Carina hätte nicht gedacht, dass sie ihn noch mehr lieben könnte, aber genau das tat sie. Unendliche Zuneigung durchströmte in diesem Moment jede Faser ihres Körpers, als sie daran dachte, dass dieser Mann zu ihr gehörte. Dieser unglaubliche, faszinierende Mann. „Wir sind uns so ähnlich, was unser selbstbestimmtes Ende angeht“, meinte sie plötzlich und zuckte einmal sachte mit beiden Schultern, als der Silberhaarige ihr einen fragenden Blick zuwarf. „Beide haben wir den Tod gewählt, um etwas zu entkommen, was wir für schlimmer gehalten haben. Nicht, weil wir sterben wollten, sondern weil uns die Umstände dazu gebracht haben.“ „Ja“, nickte Cedric und lächelte melancholisch. „Vielleicht verstehst du jetzt, warum es mir damals am Weston College so wichtig war dir zu zeigen, dass du dich nicht schämen musst für das, was dir passiert ist.“ „Ich erinnere mich“, erwiderte sie und spürte, wie ihr Herz schneller pochte, als sie an die Anfänge ihrer Beziehung dachte. Cedric mochte damals viele Fehler gemacht haben, aber er hatte ihr nie das Gefühl gegeben in der Hinsicht auf ihren Tod etwas falsch gemacht zu haben. Im Gegenteil, er hatte ihr dabei geholfen diese Seite an sich zu akzeptieren. Das würde sie ihm nie vergessen. „Du hast vorhin gesagt, dass du damals gedacht hast, dass du das Problem in deiner Familie warst“, sagte sie vorsichtig, schaute ihn aber gleichzeitig bittend an. „Aber heute nicht mehr, oder? Sag mir, dass du das heute nicht mehr so siehst.“ „Nein, jetzt nicht mehr“, gab er zu. „Aber es hat mich viel Zeit gekostet. Jahrhunderte.“ „Es tut mir so leid“, murmelte sie. „Es tut mir so leid, dass dir das passiert ist.“ Cedric lächelte erneut, doch dieses Mal erreichte es endlich seine gelbgrünen Augen. „Das ist inzwischen so lange her, Carina. Versteh mich nicht falsch, es wird immer ein Teil von mir sein, aber… ich habe das alles hinter mir gelassen. Und jetzt bin ich nicht mehr allein. Ich habe dich und Lily. Das ist alles, was jetzt noch für mich wichtig ist.“ Carina schluckte, als sie unwillkürlich spürte, wie ihre Augenwinkel anfingen zu brennen. In einer fließenden Bewegung rutschte sie zu ihm herüber, neigte ihr Gesicht dem seinen entgegen und küsste ihn mit all der Hingabe, die sie in diesem Moment für ihn aufbringen konnte. „Gott, ich liebe dich, Cedric“, wisperte sie gegen seine Lippen und küsste ihn gleich darauf erneut, während er sie nun komplett auf seinen Schoß zog. [...] Auch lange, nachdem sie beide wieder ihre Sinne vollkommen beisammen hatten, machten sie keine Anstalten sich zu bewegen. Wenn es nach ihr gegangen wäre, dann hätte Carina das auch weiterhin nicht getan, aber langsam wurde sie sich der Kälte des Wassers unangenehm bewusst. Na ja… von dem Rest Wasser, der sich noch in der Wanne befand. „Ich liebe dich übrigens auch“, räusperte sich Cedric plötzlich und die 19-Jährige brauchte einige Sekunden, um sich daran zu erinnern was sie vor dieser kleinen Eskapade zu ihm gesagt hatte. „Ich weiß“, murmelte sie vergnügt und drückte ihm einen langen Kuss auf die Wange. „Dass du mir deine Geschichte erzählt hast… ich glaube, das war der größte Liebesbeweis, den du mir je gemacht hast.“ Er grinste und zuckte einmal mit den Schultern, tat es als kleine Geste ab. Aber Carina wusste genau, wie viel es ihn gekostet hatte seine Vergangenheit noch einmal Revue passieren zu lassen. „Ich mag sie“, sagte sie einige Sekunden später plötzlich, nachdem sie beide die Badewanne verlassen und sich in warme Badetücher gewickelt hatten. Der Silberhaarige kräuselte irritiert die Stirn, doch da fuhr sie bereits fort. „Diese besagte Seite an dir.“ Ungläubig starrte er sie an. Meinte sie das ernst? „Sie gehört nun einmal zu dir. Und sie hat dich zu dem Mann gemacht, der du heute bist. Wir alle haben Seiten an uns, die wir nicht besonders mögen. Aber sie machen uns aus.“ Ihr Lächeln wurde breiter und sie legte ihm sanft eine Hand auf die Brust. „Und das ist genau der Mann, in den ich mich verliebt habe.“ Der Todesgott musste auf einmal schwer schlucken, seine Kehle fühlte sich wie ausgetrocknet an. Er schaute sie an, diese wunderschöne Frau, die Mutter seiner Tochter, seine Carina. Und er hörte Grells Worte in seinem Kopf. „Du wirst sie erst fragen, wenn ich mir etwas Romantisches für euch überlegt habe.“ „Tut mir leid, Grell“, ging es ihm noch durch den Kopf, ehe er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Bis auf einen. Carina blinzelte irritiert, als der Undertaker mit einer raschen Bewegung ihre Hand ergriff und sie fest drückte. Sein Blick wirkte entschlossen, als würde er sich auf etwas wappnen wollen und die Blondine wollte schon beinahe fragen, ob es ihm gut ging. Doch angesichts seiner nächsten Worte, vergaß sie alles um sich herum. Vielleicht hatte sie plötzlich einen Schlag auf den Kopf bekommen? Oder – was viel wahrscheinlicher war – vielleicht war sie auf dem nassen Badezimmerboden ausgerutscht und hatte jetzt eine Gehirnerschütterung? Denn das, was sie da gerade aus seinem Mund gehört hatte, konnte er unmöglich gesagt haben. „Kannst… kannst du das nochmal sagen?“, fragte sie matt und Cedric lächelte verlegen, als er die Worte für sie noch einmal wiederholte. „Werde meine Frau. Heirate mich, Carina.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)