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Selbstmord ist keine Lösung......oder?

von

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Die erste Geschichte

Carina blinzelte mehrere Male hintereinander und starrte ihren besten Freund lange an, während sie versuchte seine Worte zu verarbeiten. „Dein was?“, fragte sie vorsichtshalber noch einmal nach, möglicherweise hatte sie sich ja nur verhört? Grell räusperte sich. „Mein Zuhause“, sagte er ein zweites Mal und nun weiteten sich Carinas Augen. „Z-zuhause? Du…du bringst mich in dein Zuhause?“ Ein riesiger Kloß bildete sich beinahe sofort in ihrer Kehle. Die 19-Jährige konnte sich noch ganz genau daran erinnern, wie Grell damals auf ihre Frage nach seinem Selbstmord reagiert hatte.
 

„Diese Frage ist auf Platz 1 der Fragen, die du niemals stellen solltest. Es ist nicht nur anmaßend, sondern auch noch äußerst unverschämt einen Shinigami so etwas zu fragen. Oder würdest du gerne an deinen Tod erinnert werden? Abgesehen davon, dass dich die Antwort auf diese Frage überhaupt nichts angeht. Weder bei mir, noch bei sonst irgendjemandem.“
 

Dass er ihr nun sein Zuhause zeigte… Dass er sie in den Ort hineinließ, der unmittelbar mit seinem früheren menschlichen Leben verbunden war… Das war der größte Vertrauensbeweis, den Carina sich überhaupt vorstellen konnte.
 

Grell zuckte erschrocken zusammen, als plötzlich Tränen über die Wangen seiner selbsternannten Schwester kullerten. „Was ist denn jetzt los?“, rief er verwirrt und schaute sie beunruhigt an. „Warum weinst du?“ „W-weil ich nicht weiß, was ich sagen soll. Und wegen den bescheuerten Hormonen“, beklagte sie sich und wischte sich einmal mit der Hand quer über das Gesicht. Mit immer noch feuchten Augen schaute sie ihn direkt an. „Das kann ich doch nicht annehmen. Das ist dein Zuhause. Ich… ich will doch nicht in deine Privatsphäre eindringen.“
 

Passend zu seinen Haaren wurde Grell nun auch noch im Gesicht rot. „Red keinen Stuss“, antwortete er - ganz offensichtlich peinlich berührt - und schob sie in Richtung Tür. „In diesem Haus wohnt seit über 200 Jahren keiner mehr, ich schenke es dir! Oder noch besser: Sieh es als erstes Geschenk für mein Patenkind an.“ „S-seit 200 Jahren?“, stammelte die Blondine verwundert und schaute noch einmal zu der Blockhütte, die alles andere als alt aussah. „Dafür sieht sie aber recht gut aus.“ „Was glaubst du wohl, warum ich dir so lange nichts von diesem Ort erzählt habe? Ich musste das Ding doch erstmal wieder in Schuss bringen. Gott, das Haus war doch bis vor einem Monat kaum bewohnbar.“ Er stöhnte. „Und warum heulst du jetzt?“ Carina haute ihm gegen die Brust. „Frag doch nicht so blöd“, zischte sie und zog ein Taschentuch hervor, um sich erneut das Gesicht abzutrocknen. „So etwas… so etwas hat noch nie jemand für mich gemacht. Ich werde ja wohl noch gerührt sein dürfen, oder?“
 

Jetzt konnte Grell nicht anders, als laut aufzulachen. „Weißt du, ich glaube ich mag die hormongesteuerte Carina. Die lässt viel mehr Emotionen zu.“ „Ach, halt doch die Klappe“, nuschelte die junge Frau beleidigt und ließ sich nun endlich von dem Shinigami ins Haus ziehen. Sofort vergas sie jedes weitere Wort, was sie noch hatte sagen wollen. Wenn sie schon gedacht hatte, dass die Hütte von draußen gut aussah, dann war das nichts im Vergleich zu der Inneneinrichtung.
 

Sobald man durch die Eingangstür hindurch trat, befand man sich in einem riesigen Wohnzimmer. Es war bereits komplett eingerichtet. Eine gemütliche Couch samt Couchtisch, weich aussehende Sessel mit beigem Polsterbezug und zwei Bücherregale, die bis zur Decke hin reichten, schmückten den hinteren Teil des Zimmers. Im vorderen Abschnitt des Raumes befand sich ein hölzerner Esstisch mit mehreren Stühlen, ein breitgebauter Kamin, gleich daneben eine Truhe mit aufgestapeltem Brennholz und schlussendlich noch einige kleinere Schränke, in denen anscheinend allerhand Krimskrams verstaut war.
 

Auf den ersten Blick konnte Carina erkenne, dass fünf Türen in andere Räumlichkeiten führten. Neugierig bewegte sie sich auf die erste Tür auf der linken Seite zu und öffnete sie, um festzustellen, dass sich dahinter eine voll ausgestattete Küche plus Vorratsraum verbarg. Die zweite Tür auf der linken Seite beherbergte ein Badezimmer und eine große Badewanne, die halbkreisförmig an der Wand entlang verlief. Die Augenbraue der Schwangeren wanderte immer höher. In der Neuzeit mochte dies ja vielleicht normaler Standard sein, aber im 19. Jahrhundert ganz sicherlich nicht.
 

„Deine Eltern scheinen ja nicht gerade arm gewesen zu sein“, meinte sie an Grell gewandt und schlug sich gleich darauf innerlich gegen die Stirn. „Entschuldige, ich hab wieder zuerst gesprochen und dann nachgedacht“, seufzte sie, denn ihr Einfühlungsvermögen hatte mal wieder zu wünschen übrig gelassen. „Mein Gott, jetzt behandele mich doch nicht wie ein rohes Ei. Meine Eltern sind schon seit 206 Jahren tot, ich bin drüber weg“, meckerte der Rotschopf und verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust. Carina zögerte. War es überhaupt möglich jemals über den Verlust seiner Eltern hinwegzukommen? Sie selbst würde es niemals wirklich beurteilen können.
 

Dennoch war sie neugierig auf seine Vergangenheit. Aber sie konnte ihn unmöglich danach fragen. Seit Cedric sie damals nach ihrem Selbstmord gefragt hatte, wusste Carina ganz genau, warum der Reaper ihrer Frage partout aus dem Weg gegangen war.
 

Grell jedenfalls schien ganz genau zu wissen, was in Carinas Kopf vorging. Er seufzte. „Wenn ich dir meine Geschichte erzähle, hörst du dann endlich auf dir so viele Gedanken darüber zu machen und fängst stattdessen mal damit an dich ein wenig mehr auf dich zu konzentrieren? Ehrlich mal, dein Baby wird sonst ein pures Stressbündel.“ Angesprochene biss sich auf die Unterlippe. „Aber damals hast du gesagt-“ „Damals ist damals und heute ist heute“, unterbrach Grell sie schnippisch und setzte sich auf einen der Stühle am Esstisch. Als er weitersprach, wurde seine Stimme sanfter. „Ich hab meine Vergangenheit noch nie jemandem erzählt, aber ich denke wenn ich es schon tue, dann sollte es bei jemandem sein, dem ich bedingungslos vertraue.“ Er fixierte ihren Blick und plötzlich breitete sich ein zahnloses Lächeln auf seinen Lippen aus. „Und du bist so jemand für mich geworden, Carina. Ich würde dir mein Leben anvertrauen. Ich wüsste niemanden, der jemals so für mich da gewesen ist, wie du es immer warst und hoffentlich auch noch sehr lange Zeit sein wirst.“
 

Vor lauter Rührung wusste Carina im ersten Moment gar nicht, was sie sagen sollte. Sie räusperte sich. „Das Gleiche gilt auch für dich, Grell“, murmelte sie und der Rothaarige grinste ein wenig verlegen. „Aber deine ganze Geschichte kenne ich bereits. Also sind wir quitt, wenn ich dir jetzt diesen Gefallen erwidere.“ Er signalisierte der 19-Jährigen sich neben ihn zu setzen und sobald Carina auf dem Stuhl neben ihm Platz genommen hatte, begann er stockend zu erzählen.
 

„Na ja, mein Leben vor meinem Tod war nicht wirklich spektakulär, falls du das gedacht hast“, sagte er und bereits jetzt konnte Carina spüren, dass es ihren besten Freund einiges an Überwindung kostete über seine Vergangenheit zu sprechen. „Wie du schon bemerkt hast, waren meine Eltern alles andere als arm. Mein Vater war Arzt in einem renommierten Londoner Krankenhaus und die Eltern meiner Mutter waren Unternehmer, sodass sie eine gute Mitgift mit in die Ehe bringen konnte.“ Er seufzte. „Du musst wissen, dass meine Mutter eher von kränklicher Natur war. Sie musste in ihrer Kindheit oft das Bett hüten und war auch einige Male im Krankenhaus, wodurch sie schlussendlich meinen Vater kennengelernt hat. Es dauerte gar nicht mal so lange, da waren die beiden auch schon verheiratet.“ Carina nickte. Selbst in der jetzigen Zeit war es noch üblich, dass Ehen schnell geschlossen wurden.
 

„Meine Eltern wollten unbedingt Kinder und nach nicht mal einem Jahr war meine Mutter dann auch das erste Mal schwanger.“ Ein weiterer tiefer Seufzer folgte, währenddessen runzelte Carina irritiert die Stirn. Grell hatte nie erzählt, dass er Geschwister gehabt hatte. Doch diese Frage sollte sie schneller beantwortet bekommen, als ihr lieb war. „Wie ich schon sagte, ihr Körper war nicht sonderlich stark. Sie hatte drei Fehlgeburten, bevor die vierte Schwangerschaft dann schließlich zum Erfolg führte und ich am 17. April 1632 zur Welt kam.“
 

„Um Gottes Willen“, wisperte Carina und bei der bloßen Vorstellung wurde ihr schlecht. Sie selbst wollte sich kaum vorstellen wie es war eine Fehlgeburt zu haben, geschweige denn drei!
 

„Ich schätze, das Leben meiner Eltern hätte von da an gut verlaufen können. Sie hatten alles, was man sich nur wünschen konnte. Geld, ein großes Haus in London – was sie dann allerdings an meinem fünften Geburtstag verkauften, um für die Verbesserung der Gesundheit meiner Mutter hierhin zu ziehen – und endlich ein eigenes Kind.“ Ein bitteres Lächeln umspielte seine Lippen. „Aber ich habe alles zunichte gemacht.“
 

„Was ist passiert?“, flüsterte Carina vorsichtig, die sich einfach nicht vorstellen konnte, wie Grell dieses Glück hatte zunichtemachen können. Er zuckte mit den Schultern. „Ich war von Anfang an anders, als die anderen Jungs in meinem Alter. Sie spielten lieber mit Eisenbahnen, ich mit Puppen. Sie trugen stolz ihre Hosen und schicken kleinen Anzugsjacken, ich habe es gehasst und wollte viel lieber Schmuck und hübsche Kleider tragen. Während die Jungs immer draußen herumgetobt und sich dreckig gemacht haben, habe ich stattdessen zu Hause gesessen und mir meine Haare gekämmt, um sie anschließend mit den Haarbändern meiner Mutter zu dekorieren oder sie zu hübschen Frisuren zurecht zu machen. Ich…ich war nie normal.“
 

Sein Tonfall wurde nun so gequält, dass es Carina in der Seele wehtat. Sanft legte sie ihre Hand auf die seine. „Du wurdest einfach im falschen Körper geboren, Grell. Das… das heißt doch überhaupt nicht, dass du nicht normal bist. Ganz im Gegenteil, du bist der liebste Mensch, den ich kenne.“ Er lächelte, kurz aufgemuntert von ihren Worten. „Ich wünschte meine Eltern hätten das genauso gesehen“, antwortete er und fuhr sich einmal durch seine langen, roten Haare.
 

„Je älter ich wurde, desto größer wurden die Probleme. Meine Eltern haben während meiner Kindheit immer darauf gehofft, dass ich mich noch ändere; dass das nur eine Phase wäre, aus der ich herauswachsen müsste. Aber als ich mich mit 19 immer noch für Kleider, Schmuck und Bälle interessierte, da fingen die Streitereien an. Ich kann mich noch ganz genau daran erinnern, wie mein Vater mich angeschrien hat. ´Du bist mein einziger Sohn, du hast dafür zu sorgen, dass unsere Familie weiterbesteht und ihren angesehenen Ruf behält. Stattdessen beschmutzt du unsere Ehre, machst dich selbst lächerlich und sorgst auch noch dafür, dass ich vor meinen Kollegen vollkommen lächerlich dastehe. Du bist eine Schande für diese Familie!` So ging das Tag für Tag weiter.“
 

Carina starrte ihn vollkommen entsetzt an und entwickelte plötzlich eine irrsinnig große Wut auf Grells Vater, den sie nicht einmal kannte. Natürlich wusste sie, dass in dieser Zeit – und vor 238 Jahren erst recht – solche Dinge wie Homosexualität oder gar Transsexualität absolut nicht toleriert wurden. Das allein machte sie schon wütend genug, denn in ihren Augen war es nichts Verwerfliches. Aber sie hatte zumindest angenommen, dass Eltern hinter ihrem Kind stehen würden, egal, was auch kam. Zu wissen, dass Grells Eltern ihn mit dieser Last alleine gelassen hatten, war eine schreckliche Vorstellung.
 

„Da ich mich nie für Frauen interessiert habe, jedenfalls nicht in dieser Weise, habe ich natürlich versucht eine Heirat so lange es geht vor mir herzuschieben. Aber irgendwann ging meinem Vater schließlich die Geduld aus. An meinem 25. Geburtstag verkündete er mir, dass ich die Tochter seines Vorgesetzten zu heiraten hätte. Um, ich zitiere, wenigstens noch ein wenig der Familienehre wieder herzustellen.“ „Aber das hast du nicht getan“, warf Carina leise ein und schaute ihn versucht gefasst an. „Du hast sie nicht geheiratet, oder?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, habe ich nicht. Dazu kam es gar nicht mehr. Die…die bloße Vorstellung eine Frau heiraten zu müssen, war für mich unerträglich. Dass sie all die Kleider und den Schmuck und vielleicht sogar ein Kind austragen dürfte… All das, was ich niemals haben konnte… Ich wollte das nicht mehr.“
 

Sein Blick wurde leicht trüb und Carina wusste instinktiv, dass er an den Tag zurückdachte, an dem er seinem Leben ein Ende gesetzt hatte. Sie wusste selbst noch ziemlich genau, wie schwer es ihr gefallen war Cedric davon zu erzählen.
 

„Ich habe sie eine Woche vor der Hochzeit kennengelernt, weißt du? Langes blondes Haar, große braune Knopfaugen, eine schmale Figur und gute Oberweite“, bei seinen letzten Worten verdrehte er die Augen. „Sie war wunderschön, perfekt. Jeder Mann hätte mich um so eine Frau beneidet. Aber ich wollte sie nicht und das hat mir wieder einmal vor Augen geführt, dass ich alles andere als perfekt bin. Ich konnte es nicht ertragen, es hat mich innerlich krank gemacht. Und neben all dem Kummer und der Verletzlichkeit war da diese ungeheure Wut auf meinen Vater, dem ich es nie, aber auch nie recht machen konnte. Ich wusste zwar, dass meine Mutter mich über alles liebte, aber nie hat sie Partei für mich ergriffen. Immer hieß es nur ´Mach deinen Vater nicht wütend` oder ´Er will doch nur das Beste für dich`. Was ich wollte, war ihnen einfach scheißegal.“
 

Er schluckte und räusperte sich anschließend. „Also hab ich angefangen das Ganze zu planen.“ Carina erschauderte. Er…er hatte seinen Selbstmord tatsächlich geplant??? Seltsamerweise hatte sie damit überhaupt nicht gerechnet. Irgendwie hatte sie gedacht, dass es spontan passiert war, aus einer bestimmen Situation heraus. So wie bei ihr. „Aber die meisten Selbstmörder sind ganz und gar nicht so wie ich“, gestand sie sich ein. Die meisten Selbstmörder planten diesen Akt tatsächlich. Und allein dieser Gedanke schickte einen schweren Stein in ihren Magen.
 

Irgendwie stellte sie es sich wie eine gradlinige Straße vor, dir nur in eine Richtung führte. Nämlich geradewegs in den Tod hinein. Als würde man auf ein Schafott zugehen…
 

Carina wurde aus ihren finsteren Gedanken herausgerissen, als nun Grell derjenige war, der ihre Hand drückte. „Mach nicht so ein trauriges Gesicht“, sagte er mit einem Lächeln und zuckte einmal kurz mit den Schultern. „Es war überhaupt nicht schlimm, ehrlich! Schau mal“, erwiderte er und zeigte auf die mittlere der drei Türen auf der rechten Seite. „Das war das Arbeitszimmer meines Vaters. Er hatte dort immer einige Medikamente und Utensilien verstaut, sollte es einen Notfall in der Nähe geben und er es mit dem Patienten nicht mehr rechtzeitig ins Krankenhaus schaffen.“ Er seufzte. „Es war beinahe schon zu leicht. Am Abend vor der Hochzeit, als meine Eltern schon schliefen, habe ich mich in das Arbeitszimmer geschlichen und eines seiner Skalpelle genommen. Er hat sie nie verschlossen, ich musste mir noch nicht mal einen Schlüssel besorgen.“
 

Seine Augen wanderten zurück zu der Badezimmertür. „Dann hab ich mir ein Bad einlaufen lassen, die Tür abgeschlossen und mich umgezogen. Ich hatte mir einige Tage zuvor ein Ballkleid besorgt, angeblich als Geschenk für meine Verlobte. Es hatte alles, was ich schon immer mal tragen wollte. Schleifen, Rüschen, Verzierungen von oben bis unten und vor allem war es rot. Hach, ich habe die Farbe Rot einfach schon immer geliebt.“ Schwärmerisch schlang er seine Arme um seinen roten Mantel und Carina konnte nicht anders, als die Augen zu verdrehen. Wie konnte er in so einer Situation nur mit seinem Divenmodus anfangen?
 

„Grell“, brachte sie ihn mit ernstem Ton wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Er sah sie an und sie schaute mit einem traurigen Ausdruck in den Augen zurück. „Du hast dir die Pulsadern aufgeschnitten, hab ich recht?“ Der Rothaarige nickte langsam und erst jetzt, als sie es aussprach, wich ihm jegliche Farbe aus dem Gesicht. Vorsichtig schob er sich die schwarzen Handschuhe von den Fingern und die Ärmel seines Hemdes ein wenig nach oben. Die zwei Narben an seinen Handgelenken waren kaum zu erkennen, so präzise und schmal waren sie. Hätte Carina nicht extra darauf geachtet, wären sie ihr gar nicht aufgefallen. „Faszinierend, was so ein dünnes Skalpell und zwei kleine Schnitte anrichten können“, murmelte Grell und bedeckte seine Hände wieder.
 

„Es hat länger gedauert, als ich zu Anfang dachte. Sobald ich in der Badewanne gelegen habe und die beiden Schnitte gesetzt hatte, brauchte es erst einmal ein paar Minuten, bis sich der Blutverlust überhaupt bemerkbar machte. Mir wurde ein wenig schwindelig, aber es war eigentlich eher angenehm. Doch dann kam trotz des warmen Wassers-“ „Die Kälte“, unterbrach Carina ihn flüsternd und er stimmte ihr stumm zu. Oh ja, daran konnte sie sich auch noch sehr gut erinnern. Diese grässliche Eiseskälte…
 

„Das Badewasser hat sich sehr schnell blutrot gefärbt und sah genauso ästhetisch aus, wie ich es mir vorstellt hatte. Allerdings konnte ich es nicht lange genießen, weil ich immer müder und müder wurde. Viele glauben ja, dass man den Tod kommen spürt, aber es war nicht schwerer als Einschlafen. Ich hab einfach irgendwann die Augen zugemacht und bin…“, er suchte kurz nach dem richtigen Wort, „weggeglitten.“ „Sterben ist nicht schwer“, sagte Carina und strich seufzend über ihren gewölbten Bauch, „Überleben, das ist das wirklich schwierige.“
 

Grell nickte. „Das stimmt wohl oder übel. Wer weiß wie ich mich entschieden hätte, hätte ich damals gewusst, was mich nach meinem Selbstmord erwartet.“ Für einige lange Sekunden schwiegen beide Todesgötter und ließen die vorangegangenen Worte Revue passieren. Dann fragte Carina: „Weißt du, was aus deinen Eltern geworden ist?“ Grell nickte erneut. Er antwortete nun seltsam nüchtern, fast so, als würde ihn das Ganze nicht sonderlich berühren.
 

„Sie haben mich am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe gefunden, jedenfalls hat mir das der Shinigami berichtet, der mich zum Dispatch gebracht hat. Mein Vater brach die Badezimmertür auf, nachdem er 10 Minuten erfolglos versucht hat mich zum Aufschließen zu überreden. Nun, du kannst dir vorstellen, dass der Anblick für sie nicht sonderlich schön war. Meine Mutter ist sofort völlig apathisch zusammengebrochen, selbst mein Vater schien komplett fassungslos zu sein. Nachdem er meiner Mutter ein starkes Beruhigungsmittel verabreicht und sie zurück ins Bett gebracht hatte, hat er meinen Körper aus der Badewanne gehoben. Und dann…“ Er schluckte, bemüht darum Ruhe zu bewahren. „Dann hat er angefangen die Umstände meines Todes zu vertuschen.“
 

„Was?“, entfloh es Carina entsetzt, ihre Augen weiteten sich ungläubig. „Was… aber… warum?“ „Warum wohl? Wie immer ging es ihm nur um seinen guten Ruf, nicht um mich. Wie wäre das denn bei der Außenwelt angekommen? Der Sohn des angesehenen Arztes bringt sich um und dieser konnte das nicht einmal verhindern? Nein, solche Gerüchte wollte er auf jeden Fall verhindern. Also hat er den Bestatter bestochen und überall herum erzählt, dass ich auf der Treppe unglücklich gefallen bin und mir das Genick gebrochen habe.“ Der Rotschopf lachte trocken auf. „Weißt du, ich war bei meiner eigenen Beerdigung dabei. Habe die vielen Beileidsbekundungen gehört, habe gesehen wie meine Mutter weinend über meinem Grab gelegen hat, meine Verlobte – die mich kaum kannte – in ein Taschentuch geschluchzt hat und wie mein Vater allen immer wieder von dem schrecklichen Unglück berichtete und wie grausam das Schicksal doch zu ihm wäre, das es ihm seinen einzigen Sohn genommen hat. Was für eine Farce…“
 

Er atmete einmal tief ein. „Tja, nach einem halben Jahr hat bereits niemand mehr über den Vorfall gesprochen. Meine Mutter war die Einzige, die sich von meinem Ableben nie erholt hat. Ihre Krankheit wurde von Tag zu Tag schlimmer und egal, was mein Vater auch versuchte, er konnte sie nicht mehr retten. Sie starb nicht einmal 2 Jahre nach mir.“
 

Geschockt starrte die Schnitterin ihren besten Freund an. „Das ist schrecklich“, flüsterte sie. „Ja, das war es“, gab Grell zu. „Aber es liegt schon so lange in der Vergangenheit. Ich habe gelernt damit umzugehen. Meine Ausbildung und die Arbeit haben mir dabei geholfen. Die Zeit verging schnell und als ich nach ungefähr 40 Jahren hörte, dass mein Vater im Alter von 63 Jahren verstorben war, da machte es mir gar nichts aus. Wirklich nicht“, fügte er hinzu, als er Carinas ungläubige Miene sah. „Es tat mir nicht leid um ihn. Wenn ich jemanden außer mir für meinen Selbstmord hätte verantwortlich machen müssen, dann wäre es mein Vater gewesen. Du glaubst gar nicht, wie gerne ich mich auf meiner Beerdigung sichtbar gemacht und allen Anwesenden die Wahrheit ins Gesicht geworfen hätte. Er soll froh sein, dass ich ihn nicht heimgesucht habe.“
 

Er schnaubte einmal laut und schien seine eigene Geschichte nun wieder in den Tiefen seines Gedächtnisses wegzuschließen. Was wahrscheinlich auch besser so war, befand Carina. Sie selbst versuchte ja auch immer nicht an ihren eigenen Selbstmord und ihre daraus resultierenden Taten zu denken.
 

„Auf jeden Fall hat sich nach dem Tod meines Vaters niemand mehr um dieses Haus bemüht. Es ist nach und nach verfallen und na ja, als die Nervensäge, du und ich auf einmal vor der Aufgabe standen eine mögliche Bleibe für dich und das Baby zu suchen, da kam mir gleich dieser Ort in den Sinn. Es hat zwar etwas gedauert, aber jetzt ist es doch wirklich wieder gemütlich hier, oder?“, zwinkerte er und sein altbekanntes Grinsen erschien wieder auf seinen Lippen. „Und wer weiß, vielleicht werde ich in einigen Jahren nicht mehr mit einem flauen Gefühl im Bauch dieses Haus betreten, weil du und das Kind dann dafür gesorgt habt, dass es einige positive Erinnerungen an diesen Ort gibt.“
 

Carina lächelte und schon wieder spürte sie ein leichtes Brennen in ihren Augenwinkeln. „Danke, Grell“, sagte sie und umarmte ihn. „Danke für alles, was du für uns getan hast.“ Er schlang nun ebenfalls die Arme um sie. „Keine Ursache, ich mache das doch alles aus purem Eigennutz. Seit du da bist, ist mein Leben um einiges spannender geworden.“
 

Als sie sich voneinander lösten, musste der Shinigami kurz auflachen. „Wenn ich daran zurückdenke, wie genervt ich am Anfang davon war auf einmal eine Schülerin zu haben und wie sehr ich diese Verantwortung nicht haben wollte… Eigentlich ist es das Beste, was mir passieren konnte.“ „Ich fand dich am Anfang auch nicht gerade nett“, grinste sie zurück. „Ich hab mich kaum getraut dich um Hilfe zu bitten, so eingeschüchtert war ich. Und jetzt sieh mal an, was aus mir geworden ist. Eine schwangere Shinigami auf der Flucht.“ Sie mussten beide losprusten und es tat unendlich gut, einfach mal ohne jegliche Hintergedanken lachen zu können.
 

Es war tatsächlich unglaublich, wie schnell doch die Zeit verging. Manchmal konnte die junge Frau kaum glauben, was seit ihrer Ankunft in dieser Welt alles passiert war. Wie sehr sich alles verändert hatte, wie sehr sie sich verändert hatte. Ab und zu dachte die Blondine immer noch an ihr 16-jähriges Ich, das über die Türschwelle des Undertakers gestolpert war und sich plötzlich in einer Welt befand, die sie zu ihren Zeiten als Mensch nie hatte erfassen können. Das 16-jährige Ich, das sich gegen Kleider gewehrt und bei dem Anblick einer Leiche beinahe ohnmächtig geworden war. All diese Eigenschaften steckten nach wie vor noch in ihr, worum die Shinigami mehr als nur froh war. Aber sie merkte selbst, dass sich ihre Sichtweise in Bezug auf manche Dinge verändert hatte; dass sie reifer geworden war. Und darüber war die 19-Jährige mindestens genauso froh.
 

„Also“, riss Grell sie aus ihren Gedanken, „da wir diesen etwas unangenehmen Teil nun auch hinter uns gebracht haben: Soll ich dir den Rest deines neuen Hauses zeigen?“ Carina lächelte breit und nickte. Hier würde ein erneuter Lebensabschnitt für sie beginnen und sie war neugierig darauf, wie sehr die Zukunft und die kommenden Ereignisse sie weiter beeinflussen würden. Aber eins war sicher, solange Alice und Grell für sie da waren, konnte es nur gut werden.
 

„Liebend gern.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  lula-chan
2017-11-18T08:56:54+00:00 18.11.2017 09:56
Schönes Kapitel.
Das ist also Grells Geschichte. Richtig berührend.
Endlich kann Carina mal durchatmen.
Ich bin schon gespannt, wie der Rest des Hauses aussieht, und freue mich auf das nächste Kapitel.

LG


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